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Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 15. November 2018.#Tempus Energy Ltd und Tempus Energy Technology Ltd gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Kapazitätsmarkt im Vereinigten Königreich – Beihilferegelung – Art.108 Abs. 2 und 3 AEUV – Begriff der Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 3 oder 4 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014 – 2020 – Entscheidung, keine Einwände zu erheben – Keine Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Verfahrensrechte der Beteiligten.#Rechtssache T-793/14.
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62014TJ0793
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ECLI:EU:T:2018:790
| 2018-11-15T00:00:00 |
Gericht
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62014TJ0793
URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
15. November 2018 (*1)
„Staatliche Beihilfen – Kapazitätsmarkt im Vereinigten Königreich – Beihilferegelung – Art.108 Abs. 2 und 3 AEUV – Begriff der Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 3 oder 4 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014–2020 – Entscheidung, keine Einwände zu erheben – Keine Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Verfahrensrechte der Beteiligten“
In der Rechtssache T‑793/14
Tempus Energy Ltd mit Sitz in Worcester (Vereinigtes Königreich),
Tempus Energy Technology Ltd mit Sitz in Cheltenham (Vereinigtes Königreich),
Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte J. Derenne, J. Blockx, C. Ziegler und M. Kinsella, dann J. Derenne, J. Blockx und C. Ziegler und schließlich J. Derenne und C. Ziegler,
Klägerinnen,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier, R. Sauer, K. Herrmann und P. Němečková als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten zunächst durch C. Brodie und L. Christie als Bevollmächtigte im Beistand von G. Facenna, QC, dann S. Simmons, M. Holt, C. Brodie und S. Brandon als Bevollmächtigte im Beistand von G. Facenna, QC, dann M. Holt, C. Brodie, S. Brandon und D. Robertson als Bevollmächtigte im Beistand von G. Facenna, QC, und schließlich S. Brandon als Bevollmächtigtem,
Streithelfer,
betreffend einen Antrag gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2014) 5083 final der Kommission vom 23. Juli 2014, keine Einwände gegen die Beihilferegelung zum Kapazitätsmarkt im Vereinigten Königreich zu erheben, da die Regelung gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei (staatliche Beihilfe 2014/N-2) (ABl. 2014, C 348, S. 5),
erlässt
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen, der Richter V. Kreuschitz und I. S. Forrester, der Richterin N. Półtorak (Berichterstatterin) und des Richters E. Perillo,
Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2017
folgendes
Urteil
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Zu den Klägerinnen und zum Streitgegenstand
1 Die Klägerinnen, die Tempus Energy Ltd als Rechtsnachfolgerin der Alectrona Grid Services Ltd und die Tempus Energy Technology Ltd (im Folgenden zusammen: Tempus), vertreiben eine Technologie zur Steuerung des Stromverbrauchs, die sogenannte Demand-Side Response (DSR), bei Privatpersonen und Gewerbetreibenden und besitzen eine Stromversorgerlizenz für das Vereinigte Königreich.
2 Das Angebot, das Tempus ihren Kunden unterbreitet, ist darauf gerichtet, die Kosten in der Stromangebotskette durch Verbindung der DSR-Technologie mit den Dienstleistungsangeboten eines Stromversorgers zu senken. Tempus verkauft Strom und hilft ihren Kunden dabei, den Stromverbrauch, der keinen zeitlichen Zwängen unterliegt, in Zeiträume zu verschieben, in denen die Großhandelspreise niedrig sind, entweder weil die Nachfrage gering ist oder weil sehr viel Strom aus erneuerbaren Energien vorhanden ist und somit preiswerter angeboten wird.
3 Den Akten zufolge schließen DSR-Anbieter üblicherweise Verträge mit Stromverbrauchern, bei denen es sich im Allgemeinen um Industrie- und Gewerbekunden oder um kleine und mittlere Unternehmen handelt, die sich im Rahmen dieser Verträge verpflichten, während eines bestimmten Zeitraums beim Stromverbrauch flexibel zu sein. Der DSR-Anbieter berechnet die Gesamtkapazität, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bei allen flexiblen Kunden verfügbar ist, und kann diese Kapazität anschließend dem Stromnetzbetreiber – vorliegend National Grid – anbieten, wobei er im Gegenzug eine Zahlung erhält, die er dem flexiblen Kunden unter Einbehalt einer Gewinnmarge weiterleitet.
4 Mit ihrer Klage beantragt Tempus die Nichtigerklärung des Beschlusses C(2014) 5083 final der Kommission vom 23. Juli 2014, keine Einwände gegen die Beihilferegelung zum Kapazitätsmarkt im Vereinigten Königreich zu erheben, da die Regelung gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei (staatliche Beihilfe 2014/N-2) (ABl. 2014, C 348, S. 5, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
B. Zur beanstandeten Maßnahme
5 Mit der Beihilferegelung, die Gegenstand des angefochtenen Beschlusses ist (im Folgenden: beanstandete Maßnahme), richtet das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland einen Kapazitätsmarkt ein, der aus zentralen Auktionen besteht, die der Beschaffung der zur Bedarfsdeckung erforderlichen Kapazitäten dienen. Es handelt sich um eine Beihilferegelung in Form einer Vergütung der Anbieter von Stromkapazität als Gegenleistung für ihre Verpflichtung zur Stromerzeugung oder zur Senkung bzw. Verschiebung des Stromverbrauchs in Zeiten hoher Netzbelastung (vierter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
6 Rechtsgrundlagen der beanstandeten Maßnahme sind der UK Energy Act 2013 (Energiegesetz des Vereinigten Königreichs von 2013) und die auf dessen Grundlage erlassenen Verordnungen, insbesondere die Electricity Capacity Regulations 2014 (Verordnung über die Stromkapazität von 2014) und die Capacity Market Rules 2014 (Regelung zum Kapazitätsmarkt von 2014).
7 Der Kapazitätsmarkt funktioniert folgendermaßen: Die benötigte Kapazität wird zentral festgelegt, und der Markt bestimmt durch Auktionen den angemessenen Preis für die Bereitstellung dieser Kapazität, wobei die zugelassenen Kapazitätsanbieter im Rahmen der gleichen Auktion alle miteinander konkurrieren (145. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die benötigte Kapazität wird von der Regierung des Vereinigten Königreichs festgelegt, wobei sie u. a. die Empfehlungen des Stromnetzbetreibers National Grid berücksichtigt (elfter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
8 Die Auktionen sind in der beanstandeten Maßnahme wie folgt geregelt: Jedes Jahr wird die benötigte Kapazität im Rahmen der Hauptauktionen für eine Lieferung vier Jahre später beschafft (im Folgenden: T‑4-Auktionen); beispielsweise sollte die Kapazität, die Gegenstand der Auktionen im Jahr 2014 war, 2018/2019 geliefert werden, wobei der Lieferzeitraum vom 1. Oktober 2018 bis zum 30. September 2019 bemessen war (43. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Eine weitere Auktion wird in dem Jahr durchgeführt, das dem Jahr der Lieferung der Hauptauktionen vorausgeht (im Folgenden: T‑1-Auktionen).
9 Auf der Grundlage einer Schätzung der „rentablen“ DSR-Kapazität, die an den T‑1-Auktionen teilnehmen könnte, wird eine bestimmte Kapazitätsmenge von den T‑4-Auktionen systematisch zurückbehalten, für die T‑1-Auktionen „reserviert“ und veröffentlicht, wenn die Nachfragekurve für die T‑4-Auktionen veröffentlicht wird (45. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Geht die Nachfrage zwischen den T‑4-Auktionen und den T‑1-Auktionen zurück, wird die auf den T‑1-Auktionen zu versteigernde Kapazitätsmenge reduziert. Aus dem angefochtenen Beschluss geht jedoch hervor, dass sich die Regierung des Vereinigten Königreichs verpflichtet, mindestens 50 % der vier Jahre zuvor „reservierten“ Kapazität auf den T‑1-Auktionen zu versteigern, da die T‑1-Auktionen den DSR-Anbietern einen besseren Zugang zum Markt eröffnen. Weiter heißt es im angefochtenen Beschluss, dass eine gewisse Flexibilität und die Entbindung von dieser Verpflichtung für den Fall vorbehalten werde, dass sich DSR als langfristig nicht rentabel erweise oder der DSR-Sektor als genügend ausgereift angesehen werde (46. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die T‑4- und T‑1-Auktionen bilden die dauerhafte Regelung.
10 Mit der vorübergehenden Ausnahme von Verbindungsleitungen und ausländischen Kapazitätsanbietern stehen die dauerhaften Auktionen bestehenden und neuen Erzeugern, DSR-Anbietern und Speicherbetreibern offen (Erwägungsgründe 4 und 149 des angefochtenen Beschlusses).
11 Neben der dauerhaften Regelung gibt es eine Übergangsregelung. Demnach sind vor dem Lieferzeitraum 2018/2019 „Übergangsauktionen“ vorgesehen, die hauptsächlich DSR-Anbietern offenstehen. Die ersten Übergangsauktionen waren eigentlich für 2015 (mit einem Lieferzeitraum von Oktober 2016 bis September 2017) vorgesehen; die zweiten Übergangsauktionen waren für 2016 (mit einem Lieferzeitraum von Oktober 2017 bis September 2018) vorgesehen (51. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
12 Die Stromerzeugungs- und DSR-Einheiten, die am Kapazitätsmarkt teilnehmen, werden „Capacity Market Units“ (Kapazitätsmarkteinheiten, im Folgenden: CMU) genannt. Die Erzeuger-CMU können individuell als CMU oder kollektiv als Zusammenschluss mehrerer zugelassener Erzeugereinheiten teilnehmen, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen zählt u. a., dass die Gesamtkapazität aller Einheiten mindestens 2 Megawatt (MW) und höchstens 50 MW beträgt (16. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
13 Die DSR-CMU werden anhand einer Verpflichtung zur Senkung der Nachfrage definiert. Diese Verpflichtung setzt voraus, dass der DSR-Anbieter seinen Kunden veranlasst, den Import von Strom (gemessen anhand eines Zählers, der den Stromverbrauch halbstündlich misst) zu reduzieren oder den Strom zu exportieren, den er mit Hilfe seiner Produktionseinheiten vor Ort produziert. Jede Komponente einer DSR-CMU muss mit einem halbstündlich messenden Zähler verbunden werden, und die Gesamtkapazität des DSR-Anbieters muss zwischen 2 MW und 50 MW liegen (17. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
14 Die zugelassenen Kapazitäten müssen sich einem Vorauswahlverfahren unterziehen, das neben der Erstellung eines grundlegenden Dossiers spezielle Anforderungen beinhaltet, je nachdem, ob es sich bei dem etwaigen Teilnehmer um einen bestehenden oder um einen potenziellen Anbieter handelt (26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Für neue Produktionskapazitäten und nicht bestätigte DSR-Kapazitäten (im Gegensatz zu bestätigten DSR-Kapazitäten, bei denen die vom Anbieter deklarierte Kapazität durch einen Test nachgewiesen wurde) wird eine Bietungsgarantie in Höhe von 5000 Pfund Sterling (GBP) (etwa 5650 Euro) je MW für die T‑4- und T‑1-Auktionen und 500 GBP (etwa 565 Euro) je MW für die Übergangsauktionen verlangt.
15 Der Stromnetzbetreiber National Grid ist mit der Durchführung der Auktionen zur Sicherstellung des für die Bedarfsdeckung erforderlichen Kapazitätsvolumens beauftragt.
16 Alle Auktionen sind mehrstufige absteigende Auktionen nach dem Einheitspreissystem, bei dem alle erfolgreichen Teilnehmer, die einen Zuschlag erhalten, nach dem letzten angenommenen Gebot vergütet werden. Zu Beginn der Auktion wird ein hoher Preis genannt; anschließend geben die Teilnehmer Gebote ab, mit denen sie die Kapazitätsmenge benennen, die sie zu diesem Preis liefern können. Dieses Vorgehen wird mehrfach nach einem festgelegten Stufenplan wiederholt, bis der niedrigste Preis festgestellt wird, zu dem die Nachfrage dem Angebot entspricht, der sogenannte Schlusspreis. Allen Bietern, die einen Zuschlag erhalten, wird der gleiche Schlusspreis gezahlt („pay-as-clear model“) (49. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
17 Somit erhalten erfolgreiche Kapazitätsanbieter einen Kapazitätsvertrag zum Schlusspreis. Die Laufzeit der Kapazitätsverträge, für die die Teilnehmer ihre Gebote abgeben, ist unterschiedlich geregelt. Die Mehrzahl der bestehenden Kapazitätsanbieter hat Zugang zu Verträgen von einem Jahr. Kapazitätsanbieter mit Kapitalkosten über 125 GBP (etwa 141 Euro) je Kilowatt (kW) (Instandsetzung von Kraftwerken) haben Zugang zu Verträgen mit einer maximalen Laufzeit von drei Jahren. Kapazitätsanbieter mit Kapitalkosten über 250 GBP (etwa 282 Euro) je kW (neue Kraftwerke) haben Zugang zu Verträgen mit einer maximalen Laufzeit von 15 Jahren (57. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Verträge mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr werden nur bei den T‑4-Auktionen vergeben. In jedem Fall gelten die Bedingungen des Kapazitätsvertrags einschließlich des Kapazitätspreises für die gesamte Vertragslaufzeit.
18 Die erfolgreichen Bieter erhalten während der Vertragslaufzeit eine regelmäßige Vergütung, die durch eine Abgabe der Stromversorger finanziert wird. Im Gegenzug verpflichten sich die erfolgreichen Bieter, in Zeiten hoher Netzbelastung Kapazitäten bereitzustellen. Der Vertrag sieht Vertragsstrafen für den Fall vor, dass ein Zuschlagsempfänger das vertragsgemäße Stromkapazitätsvolumen nicht liefert (vierter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Zudem wird der Kapazitätsmarkt regelmäßig überprüft (sechster Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
19 Die Kosten der Finanzierung der Kapazitätsvergütung werden von allen zugelassenen Stromversorgern gemeinsam übernommen (im Folgenden: Methode zur Kostendeckung). Die von den Stromversorgern zu zahlende Abgabe wird auf der Grundlage ihres Marktanteils festgelegt und anhand der Nachfrage berechnet, die zwischen 16 und 19 Uhr an Wochentagen von November bis Februar verzeichnet wird, was einen Anreiz schaffen soll, die Stromnachfrage ihrer Kunden in Zeiträumen zu senken, in denen sie üblicherweise am höchsten ist. Dem angefochtenen Beschluss zufolge sollte dies zu einer Verringerung des Kapazitätsbedarfs und somit zu einer Senkung der Kosten des Kapazitätsmarkts führen (69. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
20 Die den Kapazitätsanbietern gezahlten Bruttoeinnahmen wurden modelliert und müssten zwischen 0,9 Mrd. GBP und 2,6 Mrd. GBP (etwa zwischen 1,02 Mrd. Euro und 2,94 Mrd. Euro) pro Jahr betragen, d. h. zwischen 8,1 Mrd. GBP und 23,4 Mrd. GBP (etwa zwischen 9,14 Mrd. Euro und 26,4 Mrd. Euro) für den Zeitraum 2018 bis 2024, wobei dieser Betrag je nach dem erforderlichen Umfang von „neu erbauten Kapazitäten“ variiert (siebter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
C. Zu den maßgeblichen Bestimmungen der Leitlinien
21 Speziell im Bereich der staatlichen Beihilfen kann sich die Europäische Kommission für die Ausübung ihres Ermessens Leitlinien setzen, und diese sind, soweit die darin enthaltenen Orientierungsregeln nicht von den Bestimmungen des Vertrags abweichen, für das Organ bindend (vgl. Urteil vom 13. Juni 2002, Niederlande/Kommission, C‑382/99, EU:C:2002:363, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Zudem hat Tempus bei der Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts und erneut in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt, dass sie die Einrichtung eines Kapazitätsmarkts als solche nicht beanstande, sondern nur zum einen der Beurteilung der vom Vereinigten Königreich vorgetragenen Gesichtspunkte in Bezug auf die Auswirkung von DSR und zum anderen den verschiedenen geplanten Modalitäten widerspreche, die DSR-Anbietern die Teilnahme am Kapazitätsmarkt ermöglichen sollten.
23 Unter den verschiedenen Bestimmungen der Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014–2020 (ABl. 2014, C 200, S. 1, im Folgenden: Leitlinien), die von der Kommission am 9. April 2014 angenommen wurden und am 1. Juli 2014 in Kraft getreten sind, und angesichts eines Sachverhalts, in dem der Grundsatz einer Beihilfe zugunsten der Deckung des Kapazitätsbedarfs akzeptiert wird (vgl. oben, Rn. 22), sind die folgenden Bestimmungen für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits relevant.
24 Erstens sehen die Leitlinien unter Ziff. 3.9.2 („Erforderlichkeit staatlicher Maßnahmen“) in Rn. 224 Buchst. b vor, dass die Kommission bei der Würdigung unter anderem die „Bewertung der Auswirkungen einer nachfrageseitigen Marktteilnahme, einschließlich der Beschreibung von Maßnahmen, um das Nachfragemanagement zu fördern“ berücksichtigt.
25 Zweitens heißt es in den Leitlinien unter Ziff. 3.9.3 („Geeignetheit“) in Rn. 226:
„Die Maßnahme sollte sich sowohl an etablierte als auch künftige Erzeuger sowie an Betreiber, die substituierbare Technologien (z. B. Laststeuerung oder Speicherlösungen) einsetzen, richten und für diese angemessene Anreize vorsehen. Die Beihilfe sollte deshalb über einen Mechanismus gewährt werden, der potenziell unterschiedliche Vorlaufzeiten zulässt, die der Zeit entsprechen, die neue Erzeuger, die unterschiedliche Technologien einsetzen, benötigen, um neue Investitionen zu tätigen. Bei der Maßnahme sollte berücksichtigt werden, in welchem Umfang Verbindungskapazitäten genutzt werden könnten, um ein etwaiges Kapazitätsproblem zu beheben.“
26 Drittens bestimmen die Leitlinien unter Ziff. 3.9.5 („Angemessenheit“) in Rn. 229: „Nach Auffassung der Kommission führt eine klar auf das definierte Ziel zugeschnittene Ausschreibung mit eindeutigen, transparenten und diskriminierungsfreien Kriterien unter normalen Umständen zu angemessenen Renditen.“
27 Viertens sollte gemäß Rn. 232 Buchst. a unter Ziff. 3.9.6 („Vermeidung übermäßiger negativer Auswirkungen auf Wettbewerb und Handel“) der Leitlinien „[d]ie Maßnahme … so ausgestaltet werden, dass alle Kapazitäten, die konkret zur Behebung des Erzeugungsdefizits beitragen können, an der Maßnahme teilnehmen können; dabei [sollte] insbesondere [die] Beteiligung von Stromerzeugern, die unterschiedliche Technologien einsetzen, und von Betreibern, die Maßnahmen mit vergleichbarer technischer Leistung anbieten, zum Beispiel Nachfragesteuerung, Verbindungsleitungen und Speicherung [berücksichtigt werden]“. Die Bestimmung sieht außerdem vor, dass „die Einschränkung der Beteiligung [dieser verschiedenen Akteure] nur mit der für die Behebung des Kapazitätsproblems unzulänglichen technischen Leistung gerechtfertigt werden“ kann.
D. Zum angefochtenen Beschluss
28 Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission die Auffassung vertreten, dass es sich bei der fraglichen Maßnahme um eine staatliche Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV handle (Erwägungsgründe 109 bis 115 des angefochtenen Beschlusses).
29 Zur Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt hat die Kommission erklärt, dass sie ihre Beurteilung auf die in Ziff. 3.9 der Leitlinien genannten Voraussetzungen gestützt habe, die die besonderen Bedingungen für die Förderung einer angemessenen Stromerzeugung festlegten.
30 In Ziff. 3.3.1 („Ziel von gemeinsamem Interesse und Erforderlichkeit der Beihilfe“) des angefochtenen Beschlusses stellt die Kommission fest:
„(118)
Die Kommission ist der Auffassung, dass die Maßnahme im Einklang mit den Ziff. 3.9.1 und 3.9.2 der Leitlinien zur Verwirklichung eines Ziels von gemeinsamem Interesse beiträgt und erforderlich ist …
(119) Erstens hat das Vereinigte Königreich eine Methode zur Ermittlung des Problems der angemessenen Stromerzeugung eingeführt. Die vom Vereinigten Königreich durchgeführten Modellierungen zeigen, dass der „enduring reliability adequacy standard“ – der für die Messung der Angemessenheit der Produktionskapazitäten verwendete Indikator – ab 2018-2019 ein kritisches Niveau erreichen könnte. Die Ergebnisse stimmen insgesamt mit den Ergebnissen überein, die ENTSO-E [European Network of Transmission System Operators for Electricity, Europäisches Netz der Übertragungsnetzbetreiber (Strom)] in seinem letzten Bericht veröffentlich hat. …
(120) Der Bericht zur Kapazität von National Grid ist von einem Team unabhängiger technischer Sachverständiger (Panel of Technical Experts, im Folgenden: PTE) geprüft worden, das vom Department of Energy and Climate Change [Ministerium für Energie und Klimawandel des Vereinigten Königreichs] einberufen wurde. Am 30. Juni 2014 veröffentlichte das Ministerium für Energie und Klimawandel den Bericht des PTE im Hinblick auf die Analyse, die den Empfehlungen von National Grid zu dem für die erste Auktion erforderlichen Kapazitätsvolumen zugrunde lag. Das PTE stellte fest, dass das allgemeine Szenario und der modellbasierte Ansatz von National Grid grundsätzlich korrekt seien und National Grid versucht habe, die Beweise und die Auffassungen der Beteiligten zu berücksichtigen. Innerhalb des PTE herrsche jedoch Einigkeit darüber, dass National Grid dazu tendiert habe, einige wichtige Annahmen zu konservativ zu beurteilen, insbesondere Verbindungsleitungen, was zu einer Überbewertung der benötigten Kapazität geführt habe. Das PTE hat außerdem darauf hingewiesen, dass weniger konservative Annahmen ausgereicht hätten, um keine neuen Produktionskapazitäten beschaffen zu müssen.
(121) Die Behörden des Vereinigten Königreichs haben erklärt, dass sie die Empfehlungen von National Grid und den PTE‑Bericht berücksichtigt hätten und die Unterschiede zwischen den beiden Analysen sorgfältig geprüft hätten. … Angesichts der vorgelegten Beweise hat die Regierung des Vereinigten Königreichs beschlossen, den Empfehlungen von National Grid als System Operator zu folgen.
(122) Zum Beitrag von DSR stellte das Vereinigte Königreich fest, dass die erste Auktion im Dezember 2014 ausschlaggebend sei, um Informationen über DSR und sein Potenzial zu erhalten. Mit Bezug auf den PTE‑Bericht schlug National Grid ein gemeinsames Projekt mit Energy Networks Association [Verband der Energienetzbetreiber] (einschließlich Distribution Network Operators [Verteilernetzbetreiber]) vor, das dem besseren Verständnis der von DSR aktuell bzw. potenziell lieferbaren Kapazität dienen solle. Außerdem hat das Vereinigte Königreich Bestimmungen zu den Übergangsauktionen erarbeitet, die das Wachstum von DSR zwischen 2015 und 2016 unterstützen sollen, und ein Pilotprojekt in Höhe von 20 Mio. GBP im Bereich Energieeffizienz [Electricity Demand Reduction Pilot] ins Leben gerufen. Schließlich hat das Vereinigte Königreich darauf hingewiesen, dass es die aus der ersten Auktion resultierenden Daten prüfen und sicherstellen werde, dass die Nachfragekurven angemessen angepasst würden, was im Verfahren Future Energy Scenario von National Grid für die Berichte zur Stromkapazität im Hinblick auf künftige Auktionen berücksichtigt werde.
…
(124) Die Kommission begrüßt die Initiativen, die das Vereinigte Königreich mit Bezug auf den PTE‑Bericht ergriffen hat, und ist der Auffassung, dass einige der vom PTE festgestellten Probleme schwerwiegend sind, insbesondere die zu konservativen Schätzungen, denen zufolge sich der Nettobeitrag von Verbindungsleitungen in Zeiten hoher Netzbelastung auf null belaufe. …
(125) Nach Ansicht der Kommission sind [die vom Vereinigten Königreich eingegangenen Verpflichtungen] ausreichend, um den methodologischen Bedenken in Bezug auf den Beitrag der Verbindungsleitungen und dessen Schätzung entgegenzutreten.
…
(128) Viertens kann die angemeldete Maßnahme dazu führen, dass die Erzeugung von Strom durch fossile Brennstoffe gefördert wird. Wie oben in den Erwägungsgründen 88 bis 94 festgestellt, erwägt oder implementiert das Vereinigte Königreich Zusatzmaßnahmen, die die identifizierten Schwächen des Markts beheben sollen. Die Maßnahmen sind darauf gerichtet, DSR zu fördern, ‚cash-out arrangements‘ zu reformieren und einen höheren Verbundgrad zu erreichen. Die Kommission ist der Auffassung, dass diese alternativen Maßnahmen zu einer Verringerung der im Rahmen der angemeldeten Maßnahme benötigten Kapazitäten führen müssten. Außerdem nimmt die Kommission zur Kenntnis, dass das Vereinigte Königreich Ad-hoc-Maßnahmen zur Förderung CO2-armer Stromerzeugung vorschlägt (z. B. Contracts for Differences) und strenge Emissionsvorschriften erlassen hat. Folglich ist die Kommission der Auffassung, dass das Vereinigte Königreich ausreichend geprüft hat, welche Möglichkeiten bestehen, um negative Auswirkungen abzumildern, die die angemeldete Maßnahme im Hinblick auf das Ziel der fortschreitenden Abschaffung umweltschädlicher Subventionen haben könnte. Außerdem nimmt die Kommission zur Kenntnis, dass die jährliche Evaluierung der Angemessenheit der Produktionskapazitäten das Produktionsvolumen und den Beitrag von Verbindungsleitungen berücksichtigt und für alle Arten von Kapazitätsanbietern offen ist, einschließlich DSR-Anbietern.
(129) Was das Schreiben der DSR-Anbieter betrifft, schließt sich die Kommission der Auffassung des Vereinigten Königreichs an, der zufolge Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von 15 Jahren für neue Kraftwerke gerechtfertigt sein können, während bestehende Kraftwerke und DSR-Anbieter aufgrund ihres geringeren Kapitalbedarfs (der auf einen geringeren Bedarf an finanzieller Absicherung hindeutet) keinen nennenswerten Nutzen aus langfristigen Verträgen ziehen würden … Insoweit ist die Kommission nicht der Ansicht, dass Verträge mit kürzerer Laufzeit bestehende Kraftwerke und DSR-Anbieter gegenüber neuen Kraftwerken eindeutig benachteiligen. Die Maßnahme ist technologieneutral und führt daher nicht zu einer Stärkung der Stellung von Stromerzeugern, die fossile Brennstoffe verwenden. Die Kommission stellt außerdem fest, dass die Methode zur Kostendeckung einen Anreiz zur Senkung der Nachfrage in Spitzenzeiten aufrechterhält und für Stromversorger berechenbar ist.“
31 In Ziff. 3.3.2 („Geeignetheit der Beihilfe“) des angefochtenen Beschlusses stellt die Kommission fest:
„(130)
Die Kommission ist der Auffassung, dass die Maßnahme … im Einklang mit Ziff. 3.9.3 der Leitlinien geeignet ist. …
(131) Erstens trägt die Maßnahme den identifizierten Schwächen des Markts Rechnung, wie sie aus Tabelle 1 hervorgehen. Zudem ist die Maßnahme so gestaltet, dass sie die laufenden Entwicklungen auf dem Markt unterstützt und ergänzt und mit dem Energiebinnenmarkt und der Energiepolitik der Europäischen Union im Einklang steht, d. h. Entwicklung einer aktiven Steuerung der Stromnachfrage, Zunahme des Wettbewerbs und verstärkte Investitionen in Verbindungskapazitäten. …
–
Der Kapazitätsmarkt wird die Entwicklung einer aktiven Steuerung der Stromnachfrage fördern. DSR-Ressourcen werden Kapazitätsvergütungen erhalten können, und es wird besondere Maßnahmen geben, die diese Branche, die sich noch in ihren Anfängen befindet, bei der Entwicklung von Kapazitäten unterstützen. Der Kapazitätsmarkt wird die Liquidität und den Wettbewerb fördern (sowohl auf dem Kapazitäts- als auch auf dem Strommarkt).
…
(134) Drittens steht die Maßnahme bestehenden und neuen Erzeugern, Speicherbetreibern und DSR-Anbietern offen. Das Auktionsverfahren wurde so gestaltet, dass den unterschiedlichen Vorlaufzeiten, die für die Bereitstellung von Kapazitäten erforderlich sind, Rechnung getragen wird. Die Kapazitätsanbieter können für Vorlaufzeiten von einem Jahr oder vier Jahren Gebote abgeben, was dem Bedarf an neuen Kraftwerken und der Instandsetzung bestehender Kraftwerke entsprechen dürfte.
…
(140) Was das Schreiben der DSR-Anbieter betrifft, stellt die Kommission fest, dass der Ausschluss der DSR-Anbieter, mit denen ein Kapazitätsvertrag im Sinne der dauerhaften Regelung geschlossen wurde, von der Teilnahme an Übergangsauktionen darauf gerichtet ist, die Entwicklung des DSR-Sektors zu fördern. Angesichts des mit der Maßnahme verfolgten Ziels hält die Kommission außerdem das Fehlen einer zusätzlichen Vergütung für die Einsparungen im Bereich Übertragungs- und Verteilungsverluste aufgrund von DSR für gerechtfertigt.“
32 In Ziff. 3.3.5 („Begrenzung negativer Auswirkungen auf Wettbewerb und Handel“) des angefochtenen Beschlusses stellt die Kommission fest:
„(149)
[V]orbehaltlich der in den Erwägungsgründen 15 bis 18 genannten Zulassungsvoraussetzungen steht die Maßnahme allen bestehenden und neuen Erzeugern, DSR-Anbietern und Speicherbetreibern offen.“
II. Verfahren und Anträge der Parteien
33 Mit Klageschrift, die am 4. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Tempus die vorliegende Klage erhoben.
34 Das Vereinigte Königreich hat mit Schriftsatz, der am 15. April 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt, im vorliegenden Verfahren zur Unterstützung der Anträge der Kommission als Streithelfer zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 30. Juni 2015 hat der Präsident der Achten Kammer des Gerichts das Vereinigte Königreich als Streithelfer zugelassen. Das Vereinigte Königreich hat seinen Schriftsatz und die Hauptparteien haben ihre Stellungnahmen hierzu innerhalb der ihnen gesetzten Fristen eingereicht.
35 Im Zuge einer Änderung der Besetzung des Gerichts ist die Rechtssache am 27. April 2016 einer neuen Berichterstatterin zugeteilt worden.
36 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist die Berichterstatterin der Dritten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.
37 Mit prozessleitender Maßnahme vom 20. Dezember 2016 hat das Gericht die Kommission aufgefordert, die ihr vom Vereinigten Königreich übermittelte Anmeldung der fraglichen Maßnahme vorzulegen.
38 Mit am 13. Februar 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat die Kommission dem Gericht eine nicht vertrauliche Fassung der ihr vom Vereinigten Königreich übermittelten Anmeldung vorgelegt. Sie hat erklärt, dass es sich bei der fraglichen Anmeldung um ein vertrauliches Dokument handle, das durch Art. 339 AEUV geschützt sei und Tempus nicht übermittelt werden könne. Sie sei nicht in der Lage, dem Gericht das Dokument im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme nach Art. 90 der Verfahrensordnung des Gerichts zu übermitteln. Falls das Gericht anordne, das Dokument nach Art. 91 der Verfahrensordnung vorzulegen, werde sie einer solchen Beweiserhebungsmaßnahme umgehend Folge leisten.
39 Mit Beweisbeschluss vom 9. März 2017 in Bezug auf die Vorlage von Dokumenten hat das Gericht die Kommission gemäß Art. 91 Buchst. b, Art. 92 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 der Verfahrensordnung aufgefordert, die ihr vom Vereinigten Königreich übermittelte Anmeldung der fraglichen Maßnahme vorzulegen. Dieser Aufforderung ist die Kommission am 16. März 2017 nachgekommen.
40 Mit prozessleitender Maßnahme vom 3. April 2017 hat das Gericht der Kommission und dem Vereinigten Königreich mitgeteilt, dass es beabsichtige, der Akte mehrere Auszüge der Anmeldung beizufügen. Das Gericht forderte sie auf, zur Offenlegung der Auszüge Stellung zu nehmen. Das Vereinigte Königreich und die Kommission haben ihre Stellungnahmen zur Offenlegung der Auszüge am 19. bzw. 24. April 2017 übermittelt.
41 Am 5. Mai 2017 sind einige Auszüge der Anmeldung, die für maßgeblich und nicht vertraulich angesehen wurden, der Akte hinzugefügt und Tempus übermittelt worden (im Folgenden: Anmeldung).
42 Mit prozessleitender Maßnahme vom 5. Mai 2017 hat das Gericht alle Parteien aufgefordert, mehrere Fragen zu beantworten. Das Gericht hat die Parteien im Wesentlichen zu bestimmten Absätzen der Leitlinien und einigen darin enthaltenen Begriffen befragt. Die Parteien wurden u. a. zu den Informationen befragt, die bei Erlass des angefochtenen Beschlusses in Bezug auf die Beurteilung von DSR und der potenziellen technologischen Entwicklungen im Bereich DSR hinsichtlich der Sicherheit der Versorgung im Vereinigten Königreich zur Verfügung standen. Zudem ist die Kommission ersucht worden, ihren Standpunkt zu einigen im angefochtenen Beschluss enthaltenen Feststellungen und die Nachweise, die ihr bei der Beurteilung der fraglichen Maßnahme zur Verfügung standen, genauer zu benennen. Zudem hat das Gericht Tempus aufgefordert, zu den Ausführungen Stellung zu nehmen, die die Kommission in der Gegenerwiderung hinsichtlich der Methode zur Kostendeckung gemacht hat. Die Kommission ist außerdem ersucht worden, die Umstände darzulegen, auf die sie ihre Beurteilung des Finanzbedarfs der DSR-Anbieter gestützt hat, und Tempus ist aufgefordert worden, die Beweise anzugeben, die sie dem Vereinigten Königreich und der Kommission zum Nachweis des Finanzbedarfs vorgelegt hat.
43 Die Parteien sind dieser Maßnahme am 22. Mai 2017 nachgekommen.
44 Mit Schriftsätzen, die am 17. Mai und 9. Juni 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, hat Tempus zum Sitzungsbericht Stellung genommen.
45 Mit am 29. Juni 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat Tempus im Namen der Waffengleichheit beantragt, dass das Gericht Anhang B der Anmeldung, auf den sich die Kommission und das Vereinigte Königreich in ihrer Antwort auf die prozessleitende Maßnahme vom 5. Mai 2017 gestützt hatten, erneut prüfe und feststelle, ob ihr andere Teile dieses Anhangs, die ihr noch nicht offengelegt worden seien, mitgeteilt werden müssten.
46 Mit Beweisbeschluss vom 3. Juli 2017 in Bezug auf die Vorlage von Dokumenten hat das Gericht die Kommission gemäß Art. 91 Buchst. b, Art. 92 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 der Verfahrensordnung aufgefordert, Anhang B der Anmeldung vorzulegen. Dieser Aufforderung ist die Kommission am 4. Juli 2017 nachgekommen. Am 6. Juli 2017 ist der Anhang, den das Gericht für maßgeblich und nicht vertraulich angesehen hat, der Akte hinzugefügt und Tempus übermittelt worden.
47 Tempus beantragt,
–
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
48 Die Kommission beantragt,
–
die Klage als unzulässig oder zumindest als unbegründet abzuweisen;
–
Tempus die Kosten aufzuerlegen.
49 Das Vereinigte Königreich unterstützt die Anträge der Kommission und beantragt, die Klage abzuweisen.
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
50 In ihrer Klagebeantwortung stellt die Kommission fest, es sei für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, dass die Klage darauf gerichtet sei, den Schutz der Verfahrensrechte des Klägers nach Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) zu gewährleisten. Folglich sei das Vorbringen von Tempus zum ersten Klagegrund nur insoweit zu berücksichtigen, als es tatsächlich darauf gerichtet sei, nachzuweisen, dass die Kommission die Zweifel, mit denen sie sich im Stadium der vorläufigen Prüfung befasst habe, nicht habe ausräumen können und dies die Verfahrensrechte von Tempus beeinträchtigt habe.
51 Hierzu ist festzustellen, dass das Vorbringen der Kommission nicht darauf gerichtet ist, die Zulässigkeit der Klage insgesamt zu bestreiten, sondern nur der Teil der Klageschrift beanstandet wird, der sich nicht auf die Verteidigung der Verfahrensrechte von Tempus bezieht. Zudem hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass sich die Parteien über die Zulässigkeit des Vorbringens von Tempus zur Verteidigung ihrer Verfahrensrechte einig seien. Im Übrigen hat die Kommission nicht näher dargelegt, welche Argumente ihrer Meinung nach nicht zu berücksichtigen sind, da sie sich nicht auf die Verfahrensrechte von Tempus bezögen.
52 Nach alledem kann dem Vorbringen der Kommission zur Zulässigkeit des ersten Klagegrundes nicht gefolgt werden.
B. Zur Begründetheit
53 Als Beteiligte und zur Gewährleistung des Schutzes ihrer Verfahrensrechte nach Art. 108 Abs. 2 AEUV und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 macht Tempus zwei Klagegründe geltend, mit denen sie erstens einen Verstoß gegen Art. 108 Abs. 2 AEUV sowie mehrere weitere Rechtsvorschriften und zweitens einen Begründungsmangel beanstandet.
1. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 108 Abs. 2 AEUV, Verletzung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes und fehlerhafte Beurteilung des Sachverhalts
a)
Vorbemerkungen
54 Den Ausführungen des Vereinigten Königreichs und der Kommission in der Anmeldung bzw. dem angefochtenen Beschluss zufolge besteht die Gefahr, dass der im Vereinigten Königreich verfügbare Strom in naher Zukunft nicht mehr ausreiche, um den Bedarf in Spitzennachfragezeiten zu decken. Die ältesten Produktionsanlagen würden demnächst geschlossen, und der Strommarkt laufe Gefahr, nicht genügend Anreize zu bieten, um die Erzeuger dazu zu bringen, neue Produktionskapazitäten zu entwickeln, die die Schließungen der alten Anlagen kompensieren könnten. Ebenso wenig biete der Strommarkt den Verbrauchern ausreichend Anreize, um die Nachfrage zu senken und damit die Lage zu verbessern. Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs ist die Einrichtung eines Kapazitätsmarkts erforderlich, um die Sicherheit der Versorgung zu gewährleisten.
55 Hauptziel des Kapazitätsmarkts war es, die Kapazitätsanbieter, d. h. grundsätzlich sowohl die Stromerzeuger (Kraftwerke einschließlich Anlagen, die fossile Brennstoffe verwenden) als auch die DSR-Anbieter, die eine Verschiebung oder Senkung des Verbrauchs anbieten, dazu anzuregen, die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die in Zeiten der Spitzennachfrage auftreten können. Auch wenn sie auf verschiedenen Ebenen – Produktionsangebot und Konsumnachfrage – eingreifen, bilden Erzeuger und DSR-Anbieter somit unverzichtbare Bestandteile der Struktur und Funktionsweise des vom Vereinigten Königreich geplanten Kapazitätsmarkts.
56 Tempus ist jedoch der Auffassung, dass die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung und angesichts der zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses verfügbaren Informationen nicht die Ansicht habe vertreten können, dass der geplante Kapazitätsmarkt keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gebe. Als DSR-Anbieterin stellt Tempus hierzu sieben Gesichtspunkte des Kapazitätsmarkts heraus, die ihrer Meinung nach ebenso viele Bedenken im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 hervorrufen. Sie macht geltend, der Kapazitätsmarkt bevorzuge die Erzeugung vor der Nachfragesteuerung (DSR) auf eine diskriminierende und unverhältnismäßige Weise, die über das Maß hinausgehe, das zur Erreichung der Ziele der Beihilferegelung und zur Erfüllung der anwendbaren Vorschriften der Europäischen Union erforderlich sei.
b)
Zum Begriff der Bedenken und zur Entscheidung der Kommission über die Eröffnung oder Nichteröffnung des förmlichen Prüfverfahrens
57 Nach Art. 108 Abs. 3 AEUV leitet die Kommission, nachdem sie von einer beabsichtigten Einführung von Beihilfen unterrichtet wurde, unverzüglich das in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehene Verfahren ein, wenn sie der Auffassung ist, dass das Vorhaben mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist. Im Rahmen des in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Verfahrens ist die Kommission verpflichtet, den Beteiligten eine Frist zur Äußerung zu setzen.
58 Soweit das vom betreffenden Mitgliedstaat angemeldete Vorhaben tatsächlich eine Beihilfe darstellt, hängt die Entscheidung der Kommission über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens nach der vorläufigen Prüfung vom Bestehen oder Nichtvorhandensein von „Bedenken“ hinsichtlich der Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem Binnenmarkt der Kommission ab, wie sich aus den folgenden Bestimmungen von Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 ergibt:
„(1) Die Kommission prüft die Anmeldung unmittelbar nach deren Eingang. …
(2) Gelangt die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung zu dem Schluss, dass die angemeldete Maßnahme keine Beihilfe darstellt, so stellt sie dies durch Entscheidung fest.
(3) Stellt die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung fest, dass die angemeldete Maßnahme, insoweit sie in den Anwendungsbereich des Artikels [107] Absatz 1 [AEUV] fällt, keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem [Binnenmarkt] gibt, so entscheidet sie, dass die Maßnahme mit dem [Binnenmarkt] vereinbar ist ([die] ‚Entscheidung, keine Einwände zu erheben‘ …). In der Entscheidung wird angeführt, welche Ausnahmevorschrift des Vertrags zur Anwendung gelangt ist.
(4) Stellt die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung fest, dass die angemeldete Maßnahme Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem [Binnenmarkt] gibt, so entscheidet sie, das Verfahren nach Artikel [108] Absatz 2 [AEUV] zu eröffnen ([die] ‚Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens‘ …). …“
59 Art. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 regelt die Modalitäten des förmlichen Prüfverfahrens:
„(1) Die Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens enthält eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der geplanten Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem [Binnenmarkt]. Der betreffende Mitgliedstaat und die anderen Beteiligten werden in dieser Entscheidung zu einer Stellungnahme innerhalb einer Frist von normalerweise höchstens einem Monat aufgefordert. …
(2) Die von der Kommission erhaltenen Stellungnahmen werden dem betreffenden Mitgliedstaat mitgeteilt. … Der betreffende Mitgliedstaat kann sich … zu den Stellungnahmen äußern.“
60 Im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle staatlicher Beihilfen ist zu unterscheiden zwischen der Vorprüfungsphase nach Art. 108 Abs. 3 AEUV, die durch Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 geregelt wird und nur dazu dient, der Kommission eine erste Meinungsbildung über die teilweise oder völlige Vereinbarkeit der fraglichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt zu ermöglichen, und der in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehenen und durch Art. 6 der Verordnung Nr. 659/1999 geregelten Prüfungsphase, die es der Kommission ermöglichen soll, umfassend Kenntnis von allen Gesichtspunkten eines Falls zu erhalten (vgl. Urteil vom 15. April 2008, Nuova Agricast, C‑390/06, EU:C:2008:224, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Die Kommission kann sich für den Erlass einer positiven Entscheidung über eine Beihilfe auf die Vorprüfungsphase nach Art. 108 Abs. 3 AEUV beschränken, wenn sie nach einer ersten Prüfung die Überzeugung gewinnt, dass das betreffende Vorhaben vertragskonform ist. Erst dann, wenn die Kommission aufgrund dieser ersten Prüfung zu der gegenteiligen Überzeugung gelangt oder sie nicht alle Schwierigkeiten hinsichtlich der Beurteilung der Vereinbarkeit dieses Vorhabens mit dem Binnenmarkt ausräumen konnte, ist sie verpflichtet, alle erforderlichen Stellungnahmen einzuholen und zu diesem Zweck das Verfahren des Art. 108 Abs. 2 AEUV einzuleiten (vgl. Urteil vom 15. April 2008, Nuova Agricast, C‑390/06, EU:C:2008:224, Rn. 58 und 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Was den Begriff der „Bedenken“ hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt betrifft, wie er in Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 659/1999 genannt wird, hat die Rechtsprechung drei Anforderungen festgelegt, die den Rahmen für die Beurteilung durch die Kommission bilden.
63 Erstens hat der Begriff ausschließlichen Charakter. Die Kommission darf also die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens nicht wegen anderer Umstände wie Interessen Dritter oder Erwägungen der Verfahrensökonomie oder der administrativen oder politischen Zweckmäßigkeit ablehnen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 2009, Deutsche Post und DHL International/Kommission, T‑388/03, EU:T:2009:30, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 10. Juli 2012, Smurfit Kappa Group/Kommission, T‑304/08, EU:T:2012:351, Rn. 78).
64 Zweitens geht insbesondere aus Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 hervor, dass die Kommission, wenn sie nicht alle Bedenken im Sinne dieser Bestimmung ausräumen kann, zur Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens verpflichtet ist. Sie verfügt insoweit über keinerlei Ermessensspielraum (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, British Aggregates/Kommission, C‑487/06 P, EU:C:2008:757, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 10. Juli 2012, Smurfit Kappa Group/Kommission, T‑304/08, EU:T:2012:351, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Drittens ist der Begriff der Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 659/1999 seinem Wesen nach objektiv. Ob solche Bedenken vorliegen, ist anhand der Umstände des Erlasses des angefochtenen Rechtsakts sowie seines Inhalts in objektiver Weise zu beurteilen, wobei die Gründe der Entscheidung zu den Angaben in Beziehung zu setzen sind, über die die Kommission verfügt, wenn sie sich zur Vereinbarkeit der streitigen Beihilfen mit dem Binnenmarkt äußert. Folglich geht die Rechtmäßigkeitskontrolle des Gerichts hinsichtlich der Frage, ob Bedenken vorgelegen haben, ihrem Wesen nach über die Prüfung offensichtlicher Beurteilungsfehler hinaus (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. April 2009, Bouygues und Bouygues Télécom/Kommission, C‑431/07 P, EU:C:2009:223, Rn. 63, und vom 10. Juli 2012, Smurfit Kappa Group/Kommission, T‑304/08, EU:T:2012:351, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Insoweit hat das Gericht im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission, keine Einwände zu erheben, die Argumente zu prüfen, auf die sich Tempus zum Nachweis der Behauptung stützt, dass die angemeldete Maßnahme nach einer vorläufigen Prüfung Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt im Sinne von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 659/1999 gebe, was zum Erlass einer Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens hätte führen müssen. Eine solche Prüfung dieser Argumente ist für Tempus umso wichtiger, als sich die Argumente im Wesentlichen mit den Argumenten decken, die sie als Beteiligte im Rahmen ihrer Verfahrensrechte, deren Verletzung sie im vorliegenden Fall rügt, im förmlichen Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV hätte geltend machen können, wenn dieses Verfahren eröffnet worden wäre.
67 Insoweit trägt Tempus die Beweislast, der sie durch ein Bündel übereinstimmender Anhaltspunkte nachkommen kann, die sich zum einen aus den Umständen und der Dauer des Vorprüfungsverfahrens und zum anderen aus dem Inhalt des angefochtenen Beschlusses ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2009, Deutsche Post und DHL International/Kommission, T‑388/03, EU:T:2009:30, Rn. 93). Insbesondere stellt es einen Anhaltspunkt für das Bestehen von Bedenken im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 dar, wenn die Prüfung durch die Kommission im Vorprüfungsverfahren unzureichend oder unvollständig war (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012, Smurfit Kappa Group/Kommission, T‑304/08, EU:T:2012:351, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). Als Beteiligte verfügt Tempus jedoch weder über die Untersuchungsbefugnisse noch grundsätzlich über Ermittlungskapazitäten, die denen der Kommission vergleichbar sind, zumal die Kommission bei Bedarf die Kooperation des betreffenden Mitgliedstaats anfordern kann, um die Prüfung der angemeldeten Maßnahme durchzuführen.
68 Somit ist es im vorliegenden Fall, wie oben in den Rn. 79 bis 82 dargelegt, in einem Verfahrensstadium, in dem den Beteiligten noch keine Frist zur Äußerung durch eine Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens gesetzt worden ist, ausreichend, dass Tempus darlegt, warum sie in Bezug auf den angefochtenen Beschluss der Auffassung ist, dass die Kommission Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt hätte haben müssen. Sie ist daher nicht verpflichtet, alle Gesichtspunkte darzutun, die geeignet sind, die Unvereinbarkeit der angemeldeten Beihilferegelung nachzuweisen.
69 Hierzu ist festzustellen, dass die Kommission, um eine hinreichende Prüfung im Hinblick auf die Bestimmungen über staatliche Beihilfen durchführen zu können, ihre Prüfung nicht auf die Gesichtspunkte beschränken muss, die in der Anmeldung der fraglichen Maßnahme aufgeführt sind. Sie kann und muss sich gegebenenfalls die maßgeblichen Informationen beschaffen, um beim Erlass des angefochtenen Beschlusses über Bewertungskriterien zu verfügen, die vernünftigerweise als für ihre Beurteilung ausreichend und einleuchtend eingestuft werden können. Zur Veranschaulichung sei darauf verwiesen, dass bereits entschieden worden ist, dass die Kommission eine Vereinbarkeitsprüfung einer Beihilfe „aktiv und sorgfältig“ betrieben hat, weil sie die Stichhaltigkeit des Vorbringens des Mitgliedstaats hinterfragt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Dezember 2008, Kronoply und Kronotex/Kommission, T‑388/02, nicht veröffentlicht, EU:T:2008:556, Rn. 127), während festgestellt worden ist, dass die Prüfung „unzureichend“ war, weil die Kommission keine Informationen erhalten hatte, die ihr eine Beurteilung der Maßnahme erlaubt hätten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2009, Deutsche Post und DHL International/Kommission, T‑388/03, EU:T:2009:30, Rn. 109 und 110).
70 Somit reicht es für den Beweis von Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 aus, dass Tempus nachweist, dass die Kommission nicht alle Gesichtspunkte, die für diese Prüfung maßgeblich sind, zusammengetragen und sorgfältig und unparteiisch geprüft hat oder dass sie diese Gesichtspunkte nicht angemessen in einer Weise berücksichtigt hat, die jegliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt beseitigt.
71 Zudem ist nach ständiger Rechtsprechung die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung im Bereich staatlicher Beihilfen aufgrund der Informationen zu beurteilen, über die die Kommission bei Erlass der Entscheidung verfügen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2008, Nuova Agricast, C‑390/06, EU:C:2008:224, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zu den Informationen, über die die Kommission „verfügen konnte“, zählen die Informationen, die für die von ihr nach Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 659/1999 vorzunehmende Beurteilung maßgeblich erscheinen.
72 Für den Nachweis von Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt kann sich Tempus somit auf alle maßgeblichen Informationen berufen, über die die Kommission bei Erlass des angefochtenen Beschlusses verfügte oder verfügen konnte. Ebenso kann das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Rechtmäßigkeitskontrolle jede Information berücksichtigen, die im angefochtenen Beschluss zur Stützung der von der Kommission vorgenommenen Beurteilung genannt wird.
73 Im vorliegenden Fall ist daher zu überprüfen, ob die von Tempus beim Gericht vorgetragenen Gesichtspunkte angesichts der bei Erlass des angefochtenen Beschlusses verfügbaren Informationen geeignet waren, Anlass zu Bedenken hinsichtlich der teilweisen oder völligen Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt zu geben und somit die Kommission zur Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens zu verpflichten, unbeschadet der späteren Ausübung der Befugnis der Kommission, die Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem Binnenmarkt nach der Eröffnung des genannten Verfahrens zu beurteilen.
c)
Zur Dauer der Gespräche zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission und zu den Umständen, die den Erlass des angefochtenen Beschlusses begleiten
74 Tempus betont, dass die Fragen, die die Kommission in dieser Rechtssache zu entscheiden habe, bedeutend seien, da es sich um das erste Prüfungsverfahren gehandelt habe, das einen Kapazitätsmarkt und die Anwendung der Leitlinien betreffe. Vorliegend gehe die Dauer der Gespräche zwischen dem Vereinigten Königreich und der Kommission vor Anmeldung der Maßnahme über das Maß hinaus, das für die Entscheidung, keine Einwände zu erheben, erforderlich sei, und stelle einen Anhaltspunkt dar, der das Bestehen von Bedenken beweisen könne. Zudem sei es paradox, dass die Kommission zum einen der Auffassung sei, die Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens zum ersten angemeldeten Kapazitätsmarkt sei nicht erforderlich, und zum anderen die Meinung vertrete, es sei später angezeigt, zu diesem Thema die erste, jemals im Bereich staatlicher Beihilfen eingeleitete Sektoruntersuchung durchzuführen, um „diese Maßnahmen besser zu verstehen und die Einhaltung der Unionsvorschriften zu gewährleisten“ und „die Beteiligten, die im Rahmen der regulären Verfahren im Bereich staatlicher Beihilfen nicht angehört werden“ zu erreichen (vgl. Beschluss C(2015) 2814 final der Kommission vom 29. April 2015 zur Einleitung einer Untersuchung zu Kapazitätsmechanismen im Stromsektor nach Artikel 20a der Verordnung Nr. 659/1999 und begleitende Pressemitteilung).
75 Die Kommission erwidert, da keine Beschwerde vorliege, sei allein der Zeitpunkt der Anmeldung für die Frage entscheidend, ob die Dauer des Vorprüfungsverfahrens geeignet sei, Bedenken zu offenbaren. Da das Verfahren weniger als zwei Monate beansprucht habe, sei es nicht geeignet, das Bestehen von Bedenken zu beweisen. Vielmehr ergebe sich hieraus das Nichtvorliegen von Bedenken. Ein etwaiger Kontakt zwischen dem Vereinigten Königreich und der Kommission während der Voranmeldung sei jedenfalls, da die Ausgestaltung des Kapazitätsmarkts das Ergebnis einer nationalen öffentlichen Konsultation darstelle, die kurz vor der Anmeldung abgeschlossen worden sei, zwangsläufig irrelevant für die Frage, ob die Kommission Bedenken zur letztlich angemeldeten Maßnahme gehabt habe. Was das von Tempus behauptete paradoxe Verhalten betreffe, sei die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses im Licht der Informationen zu beurteilen, die bei Erlass des Beschlusses verfügbar gewesen seien, ohne dass Beschlüsse, die im Anschluss an den angefochtenen Beschluss erlassen worden seien, im Hinblick auf ihre „psychologische Wirkung“ berücksichtigt werden könnten. Jedenfalls sei mit der späteren Entscheidung, eine Sektoruntersuchung zu den Kapazitätsmechanismen in anderen Mitgliedstaaten als dem Vereinigten Königreich einzuleiten, das Ziel verfolgt worden, „mehr über eingeführte Kapazitätsmechanismen und ihre Funktionsweise zu erfahren“. In Bezug auf den Kapazitätsmarkt des Vereinigten Königreichs sei ein solches Verständnis bereits nach der individuellen Prüfung der angemeldeten Maßnahme vorhanden gewesen.
76 Das Vereinigte Königreich macht geltend, die Dauer der vor der Anmeldung geführten Gespräche sei nicht geeignet, das Bestehen von Bedenken zu offenbaren.
77 Gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV wird „[d]ie Kommission … von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann“. Aufgrund dieser Pflicht zur Anmeldung kann die Kommission bei jedem Beihilfevorhaben eine Vorabkontrolle durchführen. Wie nämlich aus Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 hervorgeht, „prüft [die Kommission] die Anmeldung unmittelbar nach deren Eingang“. Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 659/1999 setzt der Kommission eine Frist „von zwei Monaten“, die „am Tag nach dem Eingang der vollständigen Anmeldung“ beginnt und innerhalb deren sie im Rahmen der vorläufigen Prüfung der Anmeldung eine Entscheidung gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV zu treffen hat, um gegebenenfalls das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen, wenn die angemeldete Maßnahme Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gibt.
78 Dazu ist festzustellen, dass der Umfang des Bereichs, den die Kommission bei der Vorprüfung untersucht, und die Komplexität des betreffenden Vorgangs darauf hindeuten können, dass das fragliche Verfahren beträchtlich über das für eine erste Prüfung im Rahmen von Art. 108 Abs. 3 AEUV Übliche hinausging. Dieser Umstand bildet einen stichhaltigen Anhaltspunkt für das Bestehen von Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 3 oder 4 der Verordnung Nr. 659/1999 (vgl. Urteil vom 7. November 2012, CBI/Kommission, T‑137/10, EU:T:2012:584, Rn. 285 und die dort angeführte Rechtsprechung).
79 In der vorliegenden Rechtssache ist die angemeldete Maßnahme erheblich, komplex und neu.
80 Erstens hat nämlich die Kommission im angefochtenen Beschluss die Einführung einer mehrjährigen Beihilferegelung für einen Zeitraum von zehn Jahren bewilligt (vgl. Erwägungsgründe 6 und 162 des angefochtenen Beschlusses). Die von der Beihilferegelung betroffenen Beträge sind besonders hoch, da sie zwischen 0,9 Mrd. GBP und 2,6 Mrd. GBP pro Jahr (vgl. siebter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses) bzw. zwischen 8,1 Mrd. GBP und 23,4 Mrd. GBP während eines Zeitraums von zehn Jahren schwanken, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Für 2018–2019, das erste geplante Lieferjahr im Rahmen des Kapazitätsmarkts, hatte das Vereinigte Königreich angekündigt, Kapazitäten von insgesamt 53,3 Gigawatt (GW) versteigern zu lassen.
81 Zweitens erweisen sich sowohl die Definition als auch die Durchführung dieser Beihilferegelung als komplex. Die dargelegten Annahmen, die das Bestehen der Beihilferegelung rechtfertigen sollen, sind zahlreich und stützen sich auf Wahrscheinlichkeiten (Erwägungsgründe 79 bis 82 des angefochtenen Beschlusses). Es werden mehrere Kategorien von Marktteilnehmern erfasst, die Modalitäten unterliegen, welche je nach Kategorie unterschiedlich ausgestaltet sein können, und bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen müssen (vgl. Erwägungsgründe 15 bis 27 des angefochtenen Beschlusses). Verschiedene Auktionsmechanismen werden festgelegt, die aus mehreren Verfahrensphasen bestehen (vgl. u. a. Erwägungsgründe 28 bis 51 des angefochtenen Beschlusses). Die Maßnahme ist geeignet, im Lauf der Zeit erhebliche und dauerhafte Wirkungen zu entfalten, die möglicherweise weit über den Zeitraum von zehn Jahren, für den sie bewilligt wurde, hinausgehen, da bestimmte Kapazitätsanbieter bei jeder jährlichen T‑4-Auktion einen Vertrag mit einer Laufzeit von bis zu 15 Jahren abschließen können (vgl. 57. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Die Wirkungen betreffen – sowohl unmittelbar als auch mittelbar und langfristig – bestehende und neue Erzeuger sowie DSR-Anbieter.
82 Drittens ist es das erste Mal, dass die Kommission einen Kapazitätsmarkt im Licht der Leitlinien beurteilt, wie Tempus geltend macht und der für Wettbewerbspolitik zuständige Vizepräsident der Kommission in einer Pressemitteilung feststellte, in der er den Inhalt des angefochtenen Beschlusses zusammenfasste. Die fragliche Maßnahme ist somit sowohl in Bezug auf ihren Gegenstand als auch im Hinblick auf ihre künftigen Auswirkungen neu.
83 Überdies kann – wie von Tempus geltend gemacht und nur zur Veranschaulichung der Komplexität und Neuheit der Fragen, mit denen die Kommission in der vorliegenden Rechtssache befasst ist – auf die Eröffnung einer Sektoruntersuchung zu Kapazitätsmärkten und auf die anschließend in bestimmten Fällen und aus jeweils fallspezifischen Gründen erfolgte Eröffnung förmlicher Prüfverfahren zu den von anderen Mitgliedstaaten geplanten Kapazitätsmärkten verwiesen werden. Da diese Ereignisse jedoch nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses stattgefunden haben, sind sie für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses durch das Gericht nicht relevant.
84 Im vorliegenden Fall war die Kommission am 23. Juli 2014 nach einer vorläufigen Prüfung von einem Monat der Auffassung, dass die vom Vereinigten Königreich am 23. Juni 2014 angemeldete Maßnahme keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gebe und Gegenstand einer Entscheidung, keine Einwände zu erheben, sein könne. Die verschiedenen Kapazitätsanbieter sind im Rahmen dieses Verfahrens nicht zur Stellungnahme aufgefordert worden, da die Kommission dies nicht für notwendig hielt.
85 Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann die Tatsache, dass die vorläufige Prüfung nur einen Monat gedauert hat, angesichts der Umstände des vorliegenden Falls nicht als stichhaltiger Anhaltspunkt für das Fehlen von Bedenken nach Abschluss der ersten Prüfung der fraglichen Maßnahme angesehen werden. Wie Tempus nämlich zu Recht geltend macht, sind auch die Dauer und der Inhalt der Kontakte zu berücksichtigen, die vor der Anmeldung der Maßnahme zwischen dem Vereinigten Königreich und der Kommission stattgefunden haben. Zwar sind solche Kontakte keine Neuheit, sondern werden von der Kommission gefördert, doch weisen sie im vorliegenden Fall bestimmte Merkmale auf, die die Komplexität und Neuheit der fraglichen Maßnahme verdeutlichen.
86 Zunächst ist festzustellen, dass die Vorabkontakte, die aus den Erfahrungen, die die Kommission bei der Durchführung der Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen gewonnen hat, hervorgegangen sind, in dem von der Kommission am 16. Juni 2009 verabschiedeten Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren (ABl. 2009, C 136, S. 13, im Folgenden: Verhaltenskodex) förmlich festgelegt sind. Zwar ändert der Verhaltenskodex, wie dies in seinem Abs. 8 hervorgehoben wird, keine Rechte oder Verpflichtungen, die aufgrund des AEU-Vertrags und der verschiedenen, den Rahmen für die Beihilfeverfahren bildenden Verordnungen bestehen, doch ermöglicht er die nähere Bestimmung von Gegenstand, Dauer und Modalitäten solcher informellen Kontakte.
87 Nach Abs. 10 des Verhaltenskodex geben Vorabkontakte den Kommissionsdienststellen und dem anmeldenden Mitgliedstaat die Möglichkeit, die rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte eines geplanten Beihilfevorhabens im Vorfeld der Anmeldung informell zu erörtern, was sich auf Qualität und Vollständigkeit der förmlichen Anmeldungen positiv auswirkt. Die Vorabkontakte schaffen somit die Voraussetzungen für eine beschleunigte Prüfung der Anmeldungen nach ihrer förmlichen Übermittlung an die Kommission.
88 Wie aus dem Verhaltenskodex hervorgeht, sollen die Vorabkontakte die Anmeldung des geplanten Vorhabens erleichtern, damit die Kommission die vorläufige Prüfung ab dem Zugang der Anmeldung optimal durchführen kann. Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 muss die Anmeldung nämlich alle sachdienlichen Auskünfte enthalten, damit die Kommission eine Entscheidung nach den Art. 4 (Entscheidungen über die vorläufige Prüfung der Anmeldung) und 7 (Entscheidungen über den Abschluss des förmlichen Prüfverfahrens) der Verordnung erlassen kann.
89 Das wesentliche Ziel der Vorabkontakte besteht somit darin, die Gefahr zu verringern, dass die Anmeldung als unvollständig angesehen werden könnte, was zu einer entsprechenden Verzögerung des Verfahrens zur Prüfung des angemeldeten Vorhabens führen würde. Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 kann die Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass die vorgelegten Informationen unvollständig sind, alle ergänzenden Auskünfte anfordern, die sie im Rahmen der vorläufigen Prüfung benötigt.
90 Dagegen ist die Beurteilung der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt nicht Gegenstand der Vorabkontakte, vor allem wenn es sich um einen besonders neuartigen oder komplexen Fall handelt. Überdies weist die Kommission in Abs. 16 des Verhaltenskodex darauf hin, dass ihre Dienststellen in einem solchen Fall am Ende der Vorabkontakte grundsätzlich keine informelle erste Einschätzung der Vollständigkeit des Anmeldungsentwurfs und der Vereinbarkeit des geplanten Vorhabens mit dem Binnenmarkt auf Prima-facie-Grundlage vornehmen. Jedenfalls kann eine solche Orientierungshilfe der Kommission im Rahmen der informellen Vorabkontakte nicht als offizieller, von der Kommission im Rahmen der Prüfung der Anmeldung abgegebener Standpunkt angesehen werden.
91 Wie nämlich aus Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 hervorgeht, prüft die Kommission die Anmeldung erst nach deren Eingang. Eine frühere Aussage zur Vollständigkeit oder Unvollständigkeit der Anmeldung des geplanten Vorhabens im Hinblick auf die geltenden Vorschriften kann daher nicht mit einer Beurteilung gleichgesetzt werden, die im Rahmen der Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen gemäß dem AEU-Vertrag und der Verordnung Nr. 659/1999 erfolgt. Die Kommission darf die – eventuell vorangehende – Phase der Vorbereitung der Anmeldung nicht mit der Phase der Prüfung der Anmeldung verwechseln, die zuerst als vorläufige Prüfung und gegebenenfalls anschließend als förmliche Prüfung durchgeführt wird, falls dies erforderlich ist, damit die Kommission alle Informationen, die sie für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe benötigt, und Stellungnahmen der Beteiligten hierzu anfordern kann.
92 Als Erstes ist insoweit der Anmeldung zu entnehmen, dass die Phase der Vorabkontakte, zu der die Kontakte zählen, die vor der Anmeldung zwischen dem betroffenen Mitgliedstaat und der Kommission stattfinden, erheblich länger war als der Zeitraum von zwei Monaten, den der Verhaltenskodex im Allgemeinen vorsieht.
93 Die Aktivitäten der Regierung des Vereinigten Königreichs für die Einrichtung eines Kapazitätsmarkts begannen nämlich schon im Jahr 2010. Bereits im Dezember 2012, d. h. etwa 18 Monate vor Beginn der vorläufigen Prüfung der Anmeldung gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 durch die Kommission, hatte das Vereinigte Königreich der Kommission den Inhalt der geplanten Maßnahme mitgeteilt.
94 Im Rahmen dieser informellen Kontakte übersandte die Kommission dem Vereinigten Königreich eine erste Reihe von Fragen zu dieser Maßnahme. Das Vereinigte Königreich beantwortete die Fragen im Juli 2013.
95 Aus der Anmeldung geht ebenfalls hervor, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich am 25. März 2014 eine zweite Reihe von Fragen übersandte. In diesen 47 Fragen ersuchte die Kommission das Vereinigte Königreich unter anderem, nähere Angaben zur Funktion von Verbindungsleitungen, zur Möglichkeit der Teilnahme von DSR-Anbietern am Kapazitätsmarkt und zu den unterschiedlichen Laufzeiten der den Erzeugern angebotenen Verträge zu machen. Beispielsweise erkundigte sich die Kommission (Frage 32) beim Vereinigten Königreich, ob die DSR-Anbieter berechtigt sein würden, am Kapazitätsmarkt teilzunehmen, und wie mit ihnen umgegangen würde. Ebenso wollte die Kommission wissen, inwieweit Verbundkapazität Berücksichtigung finden werde (Frage 33). Am 31. März 2014 beantwortete das Vereinigte Königreich diese Fragen, und es übersandte der Kommission eine aktualisierte Fassung der geplanten Maßnahme.
96 Aus einem Schreiben des Vereinigten Königreichs vom 27. Juni 2014, das die Kommission dem Gericht vorgelegt hat, geht hervor, dass die Kommission dem Vereinigten Königreich am 17. Juni 2014„nach einer ersten Einschätzung“ – außerhalb des in Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 festgelegten formellen Rahmens, wonach die vorläufige Prüfung erst nach Eingang der Anmeldung beginnt – mitteilte, dass der Kapazitätsmarkt ihrer Meinung nach prima facie mit Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV im Licht der Leitlinien vereinbar sei.
97 Ebenfalls am 17. Juni 2014 übersandte die Kommission dem Vereinigten Königreich eine dritte Reihe von Fragen, die u. a. den Anreizeffekt der geplanten Maßnahme, ihre Angemessenheit und etwaige Ungleichbehandlungen der Kapazitätsanbieter betrafen. Das Vereinigte Königreich beantwortete diese Fragen unmittelbar in der Anmeldung, insbesondere in deren Anhang H, und übersandte im genannten Schreiben vom 27. Juni 2014 eine Zusammenfassung seiner Antworten.
98 Den Leitlinien (insbesondere den Ziff. 3.9.4, 3.9.5 und 3.9.6) zufolge zählen nämlich die Fragen nach dem Anreizeffekt, der Angemessenheit und des Vorliegens etwaiger Ungleichbehandlungen zu den Gesichtspunkten, die unbedingt im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfemaßnahme – wie der streitigen – zugunsten der Deckung des Kapazitätsbedarfs beurteilt werden müssen. Mit anderen Worten war die Kommission im Widerspruch zum Verhaltenskodex und obwohl eine solche nicht bindende und „informell [vorzunehmende] erste Einschätzung“ gemäß Abs. 16 des Verhaltenskodex in Fällen, die wesentliche Neuerungen beinhalten oder besonders komplex sind, nicht vorgesehen war, bereits zu jenem Zeitpunkt, d. h. vor ihrer vorläufigen Prüfung im Sinne der Verordnung Nr. 659/1999, der Auffassung, dass die geplante Maßnahme prima facie mit den anwendbaren Vorschriften vereinbar sei, obwohl sie es für erforderlich hielt, gleichzeitig Informationen zu entscheidenden Gesichtspunkten einer solchen Prüfung anzufordern.
99 Als Zweites führte das Vereinigte Königreich vom 10. Oktober bis zum 24. Dezember 2013 eine nationale öffentliche Konsultation zum geplanten Kapazitätsmarkt durch, die parallel zu den erwähnten Gesprächen zwischen ihm und der Kommission stattfand. Die Konsultation betraf jedoch nicht die Frage der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit den Vorschriften über staatliche Beihilfen. Sie beschränkte sich auf den Hinweis, dass die Durchführung der geplanten Maßnahme zunächst von der Kommission bewilligt werden müsse.
100 In diesem Zusammenhang kann nicht die Auffassung vertreten werden, wie dies bisweilen vom Vereinigten Königreich und der Kommission in ihrem Vorbringen geltend gemacht wird, dass eine solche nationale Konsultation mit einem Verfahren gleichgesetzt werden könne, in dem die Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung erhielten, wie dies der Fall gewesen wäre, wenn die Kommission das förmliche Prüfverfahren eröffnet hätte. Im Rahmen der Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen kann sich nämlich der betroffene Mitgliedstaat, der die Beihilfe gewährt, nicht an die Stelle der Kommission setzen, die als Hüterin der Verträge und im Einklang mit Art. 108 AEUV alle Vorhaben zur Gewährung neuer Beihilfen prüfen muss. Es ist Aufgabe der Kommission und nicht des betroffenen Mitgliedstaats, gegebenenfalls und im Rahmen des hierfür vorgesehenen Verfahrens alle Informationen anzufordern, die sie für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe benötigt. Ebenso haben die Beteiligten ihre Stellungnahmen der Kommission und nicht dem die Beihilfe gewährenden Mitgliedstaat zu übermitteln, falls sie der Auffassung sind, dass dies erforderlich ist, damit die Kommission in Kenntnis des Sachverhalts über die Vereinbarkeit der Beihilfe entscheiden kann.
101 Als Drittes ist, auch wenn die Kommission geltend macht, es sei keine Beschwerde erhoben worden (vgl. oben, Rn. 75), der Anmeldung und dem angefochtenen Beschluss zu entnehmen, dass sich drei Arten von Anbietern angesichts der Informationen, die ihnen zum Zeitpunkt ihrer Intervention vorlagen, gegenüber der Kommission unmittelbar und spontan zur Vereinbarkeit der Beihilfe äußern wollten.
102 So erhielt die Kommission am 30. Mai und am 26. Juni 2014 Stellungnahmen eines Regelreserveanbieters, der die Unvereinbarkeit der Beihilfe mit den Leitlinien geltend machte (vgl. Erwägungsgründe 96 und 97 des angefochtenen Beschlusses).
103 Am 9. Juni 2014 empfing die Kommission die Stellungnahme der UK Demand Response Association (UKDRA, DSR-Verband des Vereinigten Königreichs), in der ebenfalls geltend gemacht wurde, dass die geplante Maßnahme gegen die Leitlinien verstoße. Die UKDRA bezog sich insbesondere auf die unterschiedlichen Laufzeiten der Verträge von DSR-Anbietern und Erzeugern, den wechselseitigen Ausschluss der Teilnahme an a) Übergangsauktionen und b) dauerhaften Auktionen, die Methode zur Deckung der Kosten des Kapazitätsmarkts und die fehlende Berücksichtigung der Auswirkung von DSR auf die Kosten von Stromübertragung und ‑verteilung. Ferner wies die UKDRA darauf hin, dass seit der vom Vereinigten Königreich durchgeführten nationalen Konsultation wesentliche Änderungen am geplanten Vorhaben vorgenommen worden seien, u. a. um die Erzeugung von Strom aus fossilen Brennstoffen zu fördern (vgl. Erwägungsgründe 101 und 102 des angefochtenen Beschlusses).
104 Am 25. Juni und am 3. Juli 2014 erhielt die Kommission mehrere Schreiben eines Marktteilnehmers, der bestehende Kraftwerke erworben hatte. Der Marktteilnehmer machte geltend, dass die unterschiedliche Behandlung bestehender und neuer Kraftwerke (u. a. konnten bestehende Kraftwerke – im Gegensatz zu neuen Kraftwerken – nur Verträge mit einer Laufzeit von einem Jahr abschließen) nicht mit Unionsrecht vereinbar sei (vgl. Erwägungsgründe 98 bis 100 des angefochtenen Beschlusses).
105 Die Stellungnahme des Vereinigten Königreichs zu diesen Äußerungen wurde der Kommission in Anhang I der Anmeldung übermittelt. Das Vereinigte Königreich machte in diesem Zusammenhang geltend, es antworte auf das Vorbringen, das in den zwei „Beschwerden“ vorgetragen worden sei, die die Kommission der dritten Reihe von Fragen am 17. Juni 2014 beigefügt habe, d. h. den „Beschwerden“ vom 30. Mai und vom 9. Juni 2014, sowie das Vorbringen, das in einer „anderen Beschwerde“ vorgetragen worden sei, die der Kommission – dem Vereinigten Königreich zufolge – bald von einem Marktteilnehmer übermittelt werde, der bestehende Kraftwerke erworben habe (vgl. Erwägungsgründe 103 bis 107 des angefochtenen Beschlusses mit der Überschrift „Stellungnahme des Vereinigten Königreichs“). Zudem übermittelte das Vereinigte Königreich in einer an die Kommission gerichteten E‑Mail vom 28. Juni 2014 im Rahmen der Angaben zur Dauer der Verträge, zum Betrieb einer Speicheranlage und zur Kernenergie eine Tabelle, in der die unterschiedliche Behandlung von Kapazitätsanbietern dargestellt war, und es stellte fest, dass „die Anmeldung für jede der Beschwerden zusätzliche Angaben enthält, vor allem in Anhang I“.
106 Aus alledem ergibt sich, dass die Dauer der Phase der Vorabkontakte erheblich länger war als der Zeitraum von zwei Monaten, den der Verhaltenskodex im Allgemeinen vorsieht.
107 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die geplante Maßnahme nicht nur bereits zu Anfang mehrere Probleme aufwarf, auf die die Kommission im Rahmen der Vorabkontakte aufmerksam machte, sondern auch noch am Ende der Vorabkontakte diese Schwierigkeiten aufwies. Die Kommission befragte das Vereinigte Königreich nämlich nach einer über ein Jahr andauernden Phase der informellen Vorabkontakte zur Funktion von Verbindungsleitungen, zum Stand von DSR und zur unterschiedlichen Behandlung von Erzeugern. Ebenso forderte die Kommission das Vereinigte Königreich am Ende dieses informellen Verfahrens auf, nähere Angaben zu mehreren in den Leitlinien genannten Gesichtspunkten zu machen, welche den Prüfungsrahmen der geplanten Maßnahme darstellten, die in Kraft treten sollte.
108 Dennoch war die Kommission zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens – obwohl sie kurz davor war, mit der vorläufigen Prüfung der Anmeldung zu beginnen, und drei Arten von Anbietern bei ihr interveniert waren, um ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der geplanten Maßnahme mitzuteilen – der Auffassung, dass sie keine Bedenken habe und es folglich nicht erforderlich sei, Stellungnahmen der Beteiligten zu den verschiedenen Entscheidungen des Vereinigten Königreichs in der Anmeldung einzuholen.
109 Insoweit lassen die Dauer und Umstände der Vorabkontakte, die die Schwierigkeiten belegen, die dadurch entstanden, dass die relevanten Informationen zusammengetragen werden mussten, damit die Kommission die Anmeldung der Beihilferegelung im Hinblick auf die maßgeblichen Bestimmungen des AEU-Vertrags, der Verordnung Nr. 659/1999 und der Leitlinien prüfen konnte, sowie die vielfältigen Stellungnahmen, die von drei verschiedenen Arten von Betreibern zu der Beihilferegelung eingereicht wurden, nicht den Schluss zu, dass die kurze Dauer der vorläufigen Prüfung ein Anhaltspunkt für das Fehlen von Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt ist. Vielmehr können diese Umstände ein Anhaltspunkt dafür sein, dass sehr wohl Bedenken bestanden.
110 Zudem geht aus der Akte nicht hervor, dass die Kommission in dem Monat, in dem die vorläufige Prüfung der Anmeldung durchgeführt wurde, eine besondere Untersuchung des Vorgangs insbesondere im Hinblick auf die Rolle von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts vorgenommen hat. Das einzige Dokument, das die Kommission dem Gericht zu diesem Gesichtspunkt vorgelegt hat, ist die E‑Mail des Vereinigten Königreichs vom 28. Juni 2014 (vgl. oben, Rn. 105). Das Vereinigte Königreich übermittelte mit dieser E‑Mail u. a. eine Darstellung der unterschiedlichen Behandlung von Kapazitätsanbietern in Form einer Tabelle und trug somit Bedenken Rechnung, die hierzu wahrscheinlich von dem Marktteilnehmer geäußert worden waren, der bestehende Kraftwerke erworben hatte. Der angefochtene Beschluss bezieht sich nicht ausdrücklich auf diesen Austausch, und ebenso wenig lässt er den Schluss zu, dass die Kommission nach Erhalt der Tabelle oder anderer Bestandteile der E‑Mail ihren Inhalt im Hinblick auf die Rolle von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts entweder erneut aus der Sicht des Vereinigten Königreichs oder aus der Sicht der Beteiligten prüfte. Jedenfalls sind in der Tabelle nur die Unterschiede zusammengefasst, die innerhalb des in der Anmeldung dargelegten Kapazitätsmarkts zwischen den folgenden drei Arten von Betreibern bestehen: erstens bestehende und instand gesetzte Kraftwerke, zweitens neue Kraftwerke und drittens DSR-Anbieter. Das Dokument enthält keine Gesichtspunkte, die eine eigenständige Würdigung der Kommission im Hinblick auf die in den Leitlinien festgelegten Kriterien belegen (vgl. hierzu unten, Rn. 117 ff.).
111 Was die Dauer der Gespräche zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission sowie die Umstände des Erlasses des angefochtenen Beschlusses betrifft, so geht aus den vorstehenden Erwägungen hervor, dass die angemeldete Maßnahme erheblich, komplex und neu ist und Anlass zu einer langen Phase der Vorabkontakte gab, in der die Kommission dem Vereinigten Königreich zahlreiche Fragen gestellt hat, um wichtige präzisierte Angaben zu erhalten, insbesondere für die Beurteilung der Maßnahme im Hinblick auf die Leitlinien. Ferner ist den vorstehenden Erwägungen zu entnehmen, dass die Maßnahme von mehreren Marktteilnehmern, die von ihr profitieren sollten, in dreierlei Hinsicht beanstandet wurde.
112 Zudem geht aus der Akte nicht hervor, dass die Kommission in dieser Situation im Rahmen der vorläufigen Prüfung eine besondere Untersuchung der Angaben des Vereinigten Königreichs im Hinblick auf die Rolle von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts vorgenommen hat.
113 Angesichts der besonderen Merkmale der fraglichen Beihilferegelung und der Besonderheiten der Phase der Vorabkontakte befand sich die Kommission jedoch nicht in einer Situation, in der sie sich damit zufriedengeben konnte, sich auf die Informationen, die der betroffene Mitgliedstaat übermittelt hatte, zu verlassen, ohne eine eigene Untersuchung vorzunehmen, um die für ihre Würdigung maßgeblichen Informationen zu prüfen und, soweit erforderlich, gegebenenfalls bei anderen Beteiligten anzufordern (vgl. oben, Rn. 69).
114 Da die Kommission keine Angaben gemacht hat, die eine solche Prüfung belegen, kann davon ausgegangen werden, dass sie sich im vorliegenden Fall darauf beschränkt hat, die Informationen, die vom betreffenden Mitgliedstaat übermittelt wurden, anzufordern und zu übernehmen, ohne hierzu eine eigene Untersuchung durchzuführen.
115 Wie Tempus zu Recht geltend macht, sind diese Umstände ein Anhaltspunkt, der das Bestehen von Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt beweisen kann.
116 Folglich ist zu prüfen, ob auch Gesichtspunkte, die sich auf den Inhalt des angefochtenen Beschlusses beziehen, angesichts der Stellungnahme, die Tempus hierzu in der vorliegenden Rechtssache eingereicht hat, darauf hindeuten, dass die Kommission nach der vorläufigen Prüfung der angemeldeten Maßnahme Bedenken hätte haben müssen.
d)
Zu der von der Kommission vorgenommenen Würdigung der Rolle von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts zum Zeitpunkt der vorläufigen Prüfung und unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen
117 Tempus macht geltend, die Kommission habe die Rolle von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts unzutreffend beurteilt, insbesondere im Hinblick auf die Leitlinien, deren Ziel es sei, DSR zu „ermöglichen“ und zu „fördern“. Tempus bezieht sich auch auf Dokumente der Kommission, in denen darauf hingewiesen werde, dass „die potenzielle Beteiligung von DSR-Akteuren im System“ anerkannt werden müsse, um „hinfällige Investitionen in die Erzeugung“ zu vermeiden. Folglich habe die Kommission, statt sich darauf zu beschränken, der Position des Vereinigten Königreichs zuzustimmen, wonach „die erste Auktion im Dezember 2014 ausschlaggebend ist, um Informationen über DSR und sein Potenzial zu erhalten“ und die Übergangsauktionen ausreichen müssten (vgl. 122. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), eine angemessene Beurteilung des Potenzials von DSR verlangen oder selbst vornehmen müssen. Diese Analyse hätte eine Reduzierung der seit den ersten T‑4-Auktionen verfügbaren „Erzeugungskapazität“ bewirkt und somit wäre vermieden worden, öffentliche Ressourcen zum Nachteil des Verbrauchers zu verschwenden. Die Teilnahme der DSR-Anbieter an den T‑1-Auktionen könne diese Situation nicht ausgleichen, da für diese Auktionen nur eine geringe Kapazitätsmenge reserviert sei und sich das Vereinigte Königreich verpflichtet habe, „das Kapazitätsvolumen, das bei der ein Jahr im Voraus geplanten Auktion 2017 zu beschaffen ist“ zu reduzieren, falls dies möglich sei. Unter diesen Umständen werde die Erzeugung aus fossilen Brennstoffen von Anfang an durch einen „Riegel“ begünstigt, so dass die Gefahr bestehe, dass die Kapazität, die durch DSR hätte geliefert werden können, jahrelang blockiert werde.
118 Zudem könnten die anderen Maßnahmen, auf die sich die Kommission in ihrer Klagebeantwortung beziehe, nicht mit Maßnahmen zur Unterstützung von DSR im Rahmen der Beihilferegelung oder mit speziell zur Behebung des Kapazitätsdefizits entwickelten Maßnahmen gleichgesetzt werden. Entgegen dem Vorbringen der Kommission in der Klagebeantwortung sei die Eingangsschwelle von 2 MW, die DSR-Anbieter erreichen müssten, um an Auktionen der dauerhaften Regelung teilnehmen zu können, nicht „niedrig“. Dies gehe aus anderen beispielhaften Systemen hervor, etwa dem Kapazitätsmarkt Pennsylvania Jersey Maryland (PJM) und dem New York Independent System Operator (NYISO), wo die Eingangsschwelle 20‑mal niedriger sei und sich auf 100 kW belaufe.
119 Die Kommission weist darauf hin, dass DSR für sich genommen nicht ausreiche, um die Gefahr von Kapazitätsengpässen zu beseitigen. Außerdem habe Tempus nicht nachgewiesen, dass die Kommission die potenzielle Rolle von DSR unzutreffend beurteilt habe und deshalb Bedenken hätte haben müssen, die sie zur Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens verpflichtet hätten. Insoweit habe Tempus es versäumt, auf die allgemeinen Maßnahmen zur Unterstützung von DSR hinzuweisen, die das Vereinigte Königreich unabhängig vom Kapazitätsmarkt durchgeführt habe. Ebenso wenig habe Tempus die Eigenschaften des Kapazitätsmarkts berücksichtigt, die eine Begünstigung von DSR zum Ziel hätten, wie die „niedrige Schwelle von 2 MW“, die für eine Teilnahme an den dauerhaften Auktionen erreicht werden müsse, und die Aggregierungsmodalitäten für Anbieter, deren CMU unterhalb der Schwelle lägen. DSR sei von T‑4-Auktionen nicht ausgeschlossen, und DSR-Anbieter könnten für die gleiche Vertragslaufzeit Gebote abgeben wie bestehende Erzeuger. Die Gefahr der „Verriegelung“ von Kapazitäten sei auf ein Minimum beschränkt worden, und ein etwaiges Restrisiko werde durch die positiven Auswirkungen der Stimulierung neuer Investitionen zur Deckung des Kapazitätsbedarfs ausgeglichen.
120 Das Vereinigte Königreich macht geltend, Tempus werfe ihm vor, nicht mehr zur Unterstützung und Förderung von DSR unternommen zu haben, doch habe Tempus nicht nachgewiesen, dass Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Kapazitätsmarkts mit dem Binnenmarkt bestanden hätten. DSR als solches reiche nicht aus, um die Sicherheit der Versorgung zu gewährleisten. Daher sei der Kapazitätsmarkt, auch wenn es wichtig sei, dass DSR-Anbieter vollumfänglich an ihm teilnehmen könnten, nicht mit dem Ziel konzipiert worden, vor allem DSR-Anbieter zu fördern. Die Vergabe von Kapazitätsverträgen an bestehende oder neue Erzeuger sei angesichts der Bedeutung dieser Verträge für das Ziel, die Sicherheit der Versorgung zu gewährleisten, keine Verschwendung von Ressourcen.
1) Gleichwertigkeit und Vorteile von Stromerzeugung und DSR
121 Aus der Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts vom 5. Mai 2017 geht hervor, dass die Kommission anerkennt, dass sowohl die von den Erzeugern angebotene Kapazität als auch die von den DSR-Anbietern angebotene Kapazität für die Zwecke u. a. der Umsetzung von Rn. 232 Buchst. a der Leitlinien zur Behebung des vom Vereinigten Königreich festgestellten Erzeugungsdefizits beitragen können. Hierzu befragt hat die Kommission nämlich hervorgehoben, dass „grundsätzlich zwei Arten von Kapazitäten in der Lage sind, aufgrund ihrer technischen Eigenschaften dazu beizutragen, dem vom Vereinigten Königreich festgestellten verbleibenden Marktversagen zu begegnen“ (darunter das im 85. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses genannte „missing money“-Problem).
122 Die Kommission stimmt außerdem Tempus darin zu, dass der Begriff der technischen Gleichwertigkeit nicht bedeutet, dass beide identisch sind.
123 In ihrer Antwort stellt die Kommission fest:
„Es ist jedoch zu beachten, dass die zwei Arten von Kapazität über jeweils eigene Möglichkeiten und Vorzüge verfügen. Es werden (neue) Produktionskapazitäten (insbesondere erneuerbare Energien) als Grundlage für die Einspeisung von Strom in das Netz benötigt, während der Ausgleich und die Änderung der Nachfrage in Spitzenzeiten durch DSR den Bedarf an Produktionskapazitäten reduzieren können, die nur noch für eine begrenzte Zahl von Stunden im Jahr benötigt würden (und dafür wäre der Bau neuer Produktionskapazitäten somit zu teuer).“
124 Tempus hat hierzu erklärt:
„DSR hat unter Beweis gestellt, dass es die minimalen Anforderungen an die technische Leistung bei der Bereitstellung von Kapazität übertreffen kann, insbesondere wenn die Gesetzgeber sich die Zeit nehmen, sein Wesen zu erfassen und einen regulatorischen Rahmen zu entwickeln, der DSR bestmöglich unterstützt und fördert. DSR ist nicht das Gleiche wie Stromerzeugung und sollte auch nicht das Gleiche sein. ‚Maßnahmen mit vergleichbarer technischer Leistung‘ bedeutet nicht gleiche Leistungen, sondern nur die technische Möglichkeit, zu gleichen Ergebnissen/Produkten zu kommen … Ein sicheres und verlässliches Energiesystem benötigt diversifizierte Quellen mit unterschiedlichen Vorzügen. Abgesehen davon, dass DSR eine flexible und rentable Kapazitätsquelle ist, führt es zu Kosteneinsparungen, da es die Verteilungs- und Übertragungsinfrastrukturen entlastet und insofern weniger Bedarf besteht, kostspielige Verbesserungen der Infrastrukturen vorzunehmen; DSR erhöht die Zuverlässigkeit des Netzes, fördert die Einbindung und Aufklärung der Verbraucher, steigert die Innovationsfähigkeit und den Wettbewerb auf dem Versorgungsmarkt, erhöht den Wert und die Rentabilität der Produktion fluktuierender erneuerbarer Energien, indem die Versorgungsmodelle aufeinander abgestimmt werden, ohne dass die Produktion durch Rückgriff auf ein mit fossilen Brennstoffen betriebenes Kraftwerk verdoppelt werden muss, und spielt insgesamt eine herausragende und bedeutende Rolle, da es die Sicherheit der Versorgung zu minimalen Kosten für die Verbraucher gewährleistet.“
125 Nach alledem steht fest, dass sowohl die Stromerzeugung als auch DSR dazu beitragen können, das vom Vereinigten Königreich festgestellte Problem des Erzeugungsdefizits zu beheben, und jeweils spezifische Vorzüge aufweisen. Die Produktionskapazitäten speisen Strom in das Netz ein, während die DSR-Kapazitäten den Ausgleich und die Änderung der Nachfrage in Spitzenzeiten ermöglichen, was zu einer Verringerung des Bedarfs an Produktionskapazitäten führt, da diese nur noch für eine begrenzte Zahl von Stunden im Jahr benötigt würden, wodurch sich der Bau neuer Produktionskapazitäten vermeiden ließe, da sie unter diesen Umständen zu kostspielig wären.
126 Somit musste die Kommission nach Rn. 232 Buchst. a der Leitlinien sicherstellen, dass die Beihilferegelung so ausgestaltet war, dass DSR ebenso wie die Stromerzeugung an ihr teilnehmen konnte, da die entsprechenden Kapazitäten konkret zur Behebung des Erzeugungsdefizits beitragen konnten.
127 Insoweit geht insbesondere aus Rn. 226 der Leitlinien hervor, dass sich die Beihilfemaßnahmen an die betreffenden Betreiber richten und für diese angemessene Anreize vorsehen sollten.
128 Die entscheidende Frage der vorliegenden Rechtssache lautet somit nicht, ob DSR für die Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Kapazitätsmarkts eine Rolle spielen kann, was eindeutig der Fall ist, und auch nicht, wie die Kommission und das Vereinigte Königreich geltend machen, ob DSR als solches und kurzfristig das Problem des Erzeugungsdefizits beheben kann, was Tempus nicht behauptet. Vielmehr geht es um die Frage, ob die Rolle, die DSR einnehmen kann, im Hinblick auf die in den Leitlinien festgelegten Grundsätze ausreichend geprüft wurde.
129 Anhand der vorstehenden Erwägungen ist das Vorbringen zu prüfen, mit dem Tempus der Kommission vorwirft, die fragliche Maßnahme nach einer vorläufigen Prüfung von einem Monat bewilligt zu haben, ohne dass sie das förmliche Prüfverfahren eröffnet habe, das vorgesehen sei, damit die Kommission alle Informationen anfordern könne, die sie für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe benötige, und die Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung erhielten.
2) Positive Rolle von DSR
130 Im Dokument „Commission Staff Working Document, Generation Adequacy in the internal electricity market – guidance on public interventions“ (SWD[2013] 438 final) der Kommission vom 5. November 2013, welches das Vereinigte Königreich in Rn. 219 der Anmeldung anführt, heißt es: „Bei der Ausgestaltung der Kapazitätsmechanismen sind die spezifischen Merkmale von DSR umfassend zu berücksichtigen und keine Erzeugnisse festzulegen, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie durch Neuerzeugung erfüllt werden.“
131 Vor diesem Hintergrund hat das Vereinigte Königreich in Rn. 220 der Anmeldung festgestellt, dass „DSR das Potenzial hat, zuverlässig Kapazitäten anzubieten und die Sicherheit der Versorgung auf eine rentablere Weise zu gewährleisten“. Ebenfalls in Rn. 220 hat das Vereinigte Königreich DSR als eine für Verbraucher kostengünstigere Alternative zu Investitionen in Produktionskapazitäten dargestellt. Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs ist eine stärkere Entwicklung von DSR ein bedeutender Schritt auf dem Weg zu einem wirksameren Strommarkt, bei dem die Teilnehmer besser auf Preissignale reagieren, indem sie die Nachfrage senken, wenn Strom knapp ist und die Strompreise hoch sind, und Strom verbrauchen, wenn die Produktion die Nachfrage übersteigt.
132 Zudem hat das Vereinigte Königreich in den Rn. 61 und 188 der Anmeldung festgestellt, dass die Teilnahme der DSR-Anbieter am Kapazitätsmarkt nicht nur dem Wettbewerb innerhalb des Kapazitätsmarkts, sondern auch – auf einer übergeordneten Ebene – dem Wettbewerb auf dem Strommarkt zugutekomme.
133 Ferner hat das Vereinigte Königreich in der Anmeldung darauf hingewiesen, dass der Kapazitätsmarkt umso entbehrlicher werde, je mehr DSR an Bedeutung gewinne. Das Vereinigte Königreich hat nämlich erklärt, dass der Kapazitätsmarkt abgeschafft werde, wenn er nicht mehr notwendig sei, wovon bei einer zunehmenden Entwicklung von DSR ausgegangen werden könne (vgl. S. 7, 8, 45 und 46 der Anmeldung).
134 Diese Analyse deckt sich im Wesentlichen mit der Analyse, die Tempus in der Klageschrift vornimmt, wonach die DSR-Technologie es den Kunden ermögliche, den Strombedarf zu verschieben, der keinen zeitlichen Zwängen unterliege, und insofern Zeiten der Spitzennachfrage zu entlasten. Auf diese Weise wird ein gewohnheitsmäßiger Verbrauch durch einen optimierten Verbrauch mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit ersetzt. Insoweit ist DSR, das eine Reduzierung der Spitzennachfrage bzw. eine Reduzierung der Nachfrage in Zeiten begrenzter Produktion ermöglicht, eine Alternative zur Produktion, insbesondere zu der Art von Produktion, die mit den höchsten Umweltkosten verbunden ist.
135 Diese sowohl vom Vereinigten Königreich als auch von Tempus getätigten Aussagen unterstreichen das reale Potenzial, das DSR im Kapazitätsmarkt zukommt. Je schneller und präziser die Berücksichtigung dieser Komponente der Kombination von Technologien erfolgt, desto weniger besteht für das Vereinigte Königreich die Notwendigkeit, auf den Kapazitätsmarkt zurückzugreifen, um das Problem des Erzeugungsdefizits zu beheben.
3) Verfügbare Informationen zum Potenzial von DSR
136 In Anhang B der Anmeldung mit der Überschrift „UK Checklist against the Commission Staff Working Document on Generation Adequacy in the internal electricity market – guidance on public interventions“ beantwortete das Vereinigte Königreich die Frage, ob „das Potenzial von DSR sowie ein realistischer Zeitpunkt für seine Realisierung bei der Prüfung [des Kapazitätsbedarfs] berücksichtigt wurden“ wie folgt:
„DSR dürfte von einer direkten Teilnahme am Kapazitätsmarkt sowie einer Teilnahme an der Übergangsregelung profitieren. … Jedes Jahr wird National Grid das tatsächlich verfügbare DSR-Volumen prüfen und eine Schätzung des im Lauf des jeweiligen Zeitraums möglicherweise in Erscheinung tretenden potenziellen DSR-Volumens abgeben, und zwar im Rahmen der Prüfung, auf die sich die Entscheidung über die bei den Auktionen zu beschaffende Kapazitätsmenge stützt. In den Vereinigten Staaten konnte DSR auf dem Kapazitätsmarkt PJM in 10 Jahren etwa 15 GW liefern [der Tabelle zufolge wurde diese Zahl im Lieferzeitraum 2015/2016 erreicht]. Die Nachfrage auf dem Kapazitätsmarkt PJM ist allerdings etwa dreimal so hoch wie die Nachfrage auf dem Kapazitätsmarkt des Vereinigten Königreichs. Den Schätzungen von National Grid zufolge könnte DSR 2018/2019 etwa 3 GW liefern. Schätzungen in Bezug auf die Entwicklung von DSR sind sehr ungewiss und schwer zu erhalten. Die Übergangsregelung wird die Entwicklung dieses Sektors jedoch unterstützen und eine stärkere Beteiligung von DSR am wichtigsten Kapazitätsmarkt fördern.“
137 In Rn. 221 der Anmeldung bezieht sich das Vereinigte Königreich ebenfalls auf die in den Vereinigten Staaten erzielten Ergebnisse und stellt fest, dass „die Daten aus den Vereinigten Staaten gezeigt haben, dass den Kapazitätsmärkten mit zentralen Auktionen die Förderung von DSR außerordentlich gut gelungen ist“. Das Vereinigte Königreich hat der Anmeldung nämlich eine Grafik beigefügt, der zufolge die Kapazität, die DSR im Rahmen der jährlichen Auktionen des Kapazitätsmarkts PJM lieferte, über 5 GW betrug und für die 2015/2016 vergebenen Verträge 15 GW erreichte.
138 Zudem hat Tempus auf die Frage nach den verschiedenen verfügbaren Informationen zur Bewertung des Potenzials von DSR u. a. auf Berichte verwiesen, die Sustainability First im Auftrag wichtiger Akteure des Strommarkts, darunter National Grid, im September 2012 und Januar 2014 erstellt hat, und hervorgehoben, dass diesen Berichten zufolge 4 GW bis 5 GW der von DSR gelieferten Kapazität bereits heute von Kunden aus dem industriellen Sektor verlagert werden könnten. Weitere von Tempus vorgelegte Daten, die einem Bericht von Element Energy – De Montfort University Leicester mit dem Titel „Demand side response in the non-domestic sector“ vom Juli 2012 entstammen, identifizierten 1,2 GW bis 4,4 GW, die an einem Wintertag mit Spitzennachfrage im Jahr 2012 von Gebäuden verlagert werden konnten, die weder industriellen noch Wohnzwecken dienten. Tempus schließt hieraus, dass DSR-Kapazitäten in Höhe von mindestens – wenn nicht mehr – 5 GW im Rahmen des Kapazitätsmarkts hätten verfügbar sein und berücksichtigt werden können.
139 Aus dem angefochtenen Beschluss ergibt sich, dass die Kommission zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung über die angemeldete Beihilferegelung den Bericht kannte, den der Sachverständigenausschuss (Panel of Technical Experts, PTE) verfasst hatte, nachdem er von den Behörden des Vereinigten Königreichs den Auftrag erhalten hatte, die Empfehlungen von National Grid im Hinblick auf die im Dezember 2014 auf dem Kapazitätsmarkt zu versteigernden Kapazitäten zu prüfen, und der am 30. Juni 2014 vom Ministerium für Energie und Klimaschutz (Department of Energy and Climate Change, DECC) des Vereinigten Königreichs veröffentlicht worden war. Die Kommission zitiert zudem die Schlussfolgerungen des PTE‑Berichts im 120. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses.
140 Laut diesem Bericht, der die Arbeiten der Sachverständigen seit Februar 2014 darlegt, können mehrere Feststellungen zur geplanten Durchführung der ersten T‑4-Auktion im Dezember 2014 für den Zeitraum 2018/2019 getroffen werden.
141 Erstens macht der PTE bei der Darlegung seiner Vorgehensweise für die Prüfung der Schätzungen von National Grid in Rn. 19 seines Berichts die folgenden Ausführungen, um u. a. hervorzuheben, wie hilfreich die Erfahrungen anderer Kapazitätsmärkte, insbesondere des PJM-Markts, für die praktische Integration von DSR sind:
„Der Ausschuss hat sich auch auf die Erfahrung seiner Mitglieder auf anderen Märkten mit Kapazitätsmechanismen, wie PJM und Neuengland, sowie seine Erfahrung in anderen wichtigen Bereichen gestützt, in denen der Bedarf an Kapazitäten der Nachfrage Rechnung trägt. Der Ausschuss ist relativ zuversichtlich, da sich das DECC auf die Erfahrung des PJM gestützt hat. Allerdings ist er weiterhin darüber beunruhigt, dass keine Beweise hinsichtlich des potenziellen Beitrags von DSR vorliegen, insbesondere in Bezug auf das Ausmaß, in dem die integrierte Stromerzeugung nach einer gewissen Umrüstung und Aggregierung verfügbar werden könnte, und das Ausmaß, in dem die [kombinierte Erzeugung von Wärme und Strom] das System bei Engpässen mit zusätzlichem Strom beliefern könnte, der über den eigenen Bedarf hinausgeht.“
142 Zweitens stellt der PTE bei der Prüfung des Beitrags, den DSR zum Kapazitätsmarkt leisten könnte, in den Rn. 96 bis 106 des Berichts fest:
„96.
Wir bevorzugen den Begriff der ‚dezentralen Energieressourcen‘ (DER) im Rahmen der Prüfung des Beitrags, der zur Bewältigung von Situationen erbracht werden kann, in denen die an das Übertragungssystem angeschlossenen Erzeuger den Strombedarf nicht decken können. Wir ziehen diesen Begriff der gängigen Bezeichnung ‚DSR‘ [Demand-Side Response] vor, da Letztere möglicherweise auf der Vorstellung beruht, dass der einzige (oder vorrangige) Beitrag von DSR in einer vorübergehenden Reduzierung der Nachfrage [demand] besteht. Der Begriff ‚DER‘ beinhaltet jedoch – mit Ausnahme des Baus neuer Kraftwerke – das gesamte Spektrum an Instrumenten, die zur notwendigen Behebung von Kapazitätsdefiziten beitragen können. Es müssen dringend mehr Informationen in diesem Bereich zusammengetragen werden, um die künftig zu treffenden Entscheidungen auf eine solide Grundlage stellen zu können, insbesondere da es keine allgemeine Organisation gibt, die die Gesamtheit des Stromversorgungssystems untersucht. Es handelt sich um die folgenden Instrumente: a) direkte Lastkontrolle, b) integrierte Stromerzeugung, c) Notstromerzeugung, d) DSR, e) Energieeffizienz, f) Brennstoffsubstitution (z. B. Gasverbrennung statt Stromverbrauch), g) regelbare Versorgung, h) integriertes DSR-Projekt (z. B. Verwendung der Batterien geparkter Elektrofahrzeuge als Reserveleistung), i) Lastverschiebung, j) intelligente Verbrauchserfassung, k) Leistungsfaktorkorrektur.
97. Um die Grundlage des Modells beurteilen zu können, ist zu beachten, dass die Liste der Kandidaten, die DSR anbieten könnten, ziemlich lang ist. Außerdem ist zu bedenken, dass zwischen diesen Instrumenten qualitative Unterschiede bestehen.
98. Beispielsweise kann die Lastverschiebung darin bestehen, dass ein Nutzer, der zu Kühlungszwecken Strom verbraucht, einen Anreiz erhält, für einige Stunden seinen Bedarf zu drosseln und sich zur Schadensvermeidung auf die thermische Trägheit zu verlassen. Ein solcher Nutzer kann durchaus einen Liefervertrag mit einer Laufzeit von (z. B.) zwei Jahren abgeschlossen haben, der jedes Jahr oder alle zwei Jahre neu verhandelt wird; in diesem Fall wird der Nutzer kurzfristigen Auktionssignalen Beachtung schenken.
99. Zudem kann ein anderes potenzielles Instrument in Betracht gezogen werden, das aus dem Bau einer Kraft-Wärme-Kopplungsanlage oder eines Gebäudeenergiemanagementsystems besteht und dem Ziel der Optimierung von DSR dient. Allerdings hängt die Finanzierung von der Absicherung durch einen langfristigen Kapazitätsvertrag ab. Entscheidend ist der folgende Aspekt: Um das Potenzial von DSR einschätzen zu können, müssen die potenziellen Instrumente ermittelt werden, die wahrscheinlich auf die Signale des Kapazitätsmarkts reagieren werden, und diejenigen, die nicht reagieren werden, weil die Anreize nicht den Bedürfnissen der betreffenden Akteure entsprechen.
100. Wir stellen fest, dass die Methode, die das DECC verwendet, um festzustellen, in welchem Ausmaß DSR zum Kapazitätsvolumen beigetragen hat, in völligem Einklang mit den Herangehensweisen steht, die in Neuengland und beim PJM verwendet wurden (mit Ausnahme der Auswirkungen auf Verluste). Insoweit ergibt sich die Gelegenheit, die Hypothesen zu bestätigen, indem die Systeme verglichen und voneinander abgegrenzt werden.
101. In Gesprächen mit dem DECC und N[ational] G[rid] ist uns bewusst geworden, dass das Verständnis von DSR noch nicht so ausgereift ist wie das Verständnis der traditionellen Stromerzeugung. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, denn dies ist nicht Aufgabe von N[ational] G[rid], da N[ational] G[rid] von den Betreibern des Verteilernetzes und den zugelassenen Stromlieferanten klar getrennt ist und niemand über ein umfassendes und detailliertes Verständnis nachfragebezogener Daten verfügt und gleichzeitig ein Interesse daran hat, diese Daten zu erheben. Beispielsweise sind die Antworten auf Fragen wie diejenige nach der ‚durchschnittlichen Verfügbarkeit von Kraft-Wärme-Kopplung im Fall von Engpässen‘ nicht bekannt, obwohl die jährlichen Durchschnittswerte vorliegen.
102. Aus all diesen Gründen verstehen wir vollkommen, dass N[ational] G[rid] nicht in der Lage war, DSR so gründlich und differenziert zu prüfen, wie dies bisher bei einem großen Teil seiner anderen Tätigkeiten der Fall war. Dennoch sollte dringend ein systematisches Verfahren eingeführt werden, mit dem sich gewährleisten lässt, dass DSR-Ressourcen nicht verschwendet werden und die Behebung des Defizits, das aus einer schlechten Nutzung dieser Ressourcen resultiert, nicht durch neue Produktionskapazitäten erfolgt.
…
104. Obwohl der Ausschuss nicht behauptet, alle Ressourcen zu kennen, die potenziell durch DSR verfügbar wären, ist er der Auffassung, dass die Struktur in ihrer jetzigen Ausgestaltung auf relativ moderaten Annahmen hinsichtlich der potenziell verfügbaren Kapazität beruhen sollte. Insoweit ist zu beachten, dass der Kapazitätsmechanismus für einige Verhaltensweisen, Methoden und Technologien besser geeignet ist als für andere.
105. Auch wenn die internationalen Erfahrungen im Bereich DER, insbesondere in den Vereinigten Staaten, zu denen der Ausschuss Informationen verbreitet hat, darauf hindeuten, dass DER potenziell einen erheblichen und sinnvollen Beitrag zu Kapazitätsmärkten liefern können (was zu einem reduzierten Bedarf an zusätzlichen Produktionskapazitäten geführt hat), müssen die Erwartungen im Rahmen der aktuellen für das Vereinigte Königreich konzipierten Struktur moderater sein. Als zusätzliche Begründung für die moderaten Erwartungen weisen wir z. B. darauf hin, dass traditionelle Erzeuger Einnahmen erzielen, die mit der Benutzung des Übertragungsnetzes innerhalb des Kapazitätsmechanismus verbunden sind, während dezentrale Erzeuger weniger Anreize haben könnten als traditionelle Erzeuger, wenn sie nicht gleichzeitig Zugang zu den mit der Triadenvermeidung verbundenen Vorteilen und den Einnahmen aus dem Kapazitätsmechanismus haben.
106. Auf der Grundlage unserer Auslegung des geplanten Kapazitätsmarkts für DER sind wir der Auffassung, dass die Nutzung des Potenzials, das in anderen Märkten, die Kapazitätsauktionen durchführen, u. a. in den Vereinigten Staaten, nachgewiesen wurde, begrenzt sein wird und ein Verständnis dieses Umstands viel genauere Kenntnisse des Spektrums an verfügbaren DSR‑Instrumenten voraussetzt. Die wichtigste Schlussfolgerung für die Modellierung lautet: Die Auswirkung auf das angenommene Ausmaß der Nachfrage in Spitzenzeiten, das den Hauptfaktor für die Ermittlung des zu beschaffenden Kapazitätsvolumens darstellt, ist nicht so anfechtbar, wie man erwarten könnte.“
143 Ebenso wie Tempus im Rahmen ihrer Klage betont diese Analyse die dringende Notwendigkeit, angemessene Anreize zu definieren, damit DSR unter Berücksichtigung seines gesamten Potenzials wirksam am Kapazitätsmarkt teilnehmen kann. Mit einer solchen Analyse ließe sich vermeiden, dass die vom Kapazitätsmarkt festgelegten Modalitäten zu einer „Verschwendung“ des DSR-Potenzials und seiner Ersetzung durch neue Produktionskapazitäten führen. Insoweit bedauert der PTE, dass es derzeit keine Organisation gebe, die in der Lage sei, die Daten zu erheben, die benötigt würden, um Informationen zum Potenzial von DSR in seinen verschiedenen Facetten zu verstehen und zu sammeln, obwohl einige Informationen bereits verfügbar seien.
144 Zwar kritisiert der PTE in dieser Hinsicht National Grid und das Ministerium für Energie und Klimaschutz des Vereinigten Königreichs, doch kann man davon ausgehen, dass die Kommission im Rahmen eines förmlichen Prüfverfahrens über genügend Möglichkeiten verfügt, um die Informationen anzufordern und zu erhalten, die für die Beurteilung des Sachverhalts relevant sind, um u. a. den etwaigen Bedarf sowie gegebenenfalls das Ausmaß an Anreizen festzulegen, die erforderlich sind, um das tatsächliche Potenzial von DSR auszuschöpfen und das im Vereinigten Königreich festgestellte Erzeugungsdefizit zu beheben.
145 Drittens macht der PTE im Rahmen seiner Schlussfolgerungen und Empfehlungen in Rn. 6 Buchst. c und in den Rn. 119 und 132 seines Berichts zur Untermauerung seiner Besorgnis in Bezug auf die fehlenden Informationen und das unzureichende Verständnis von DSR im Vereinigten Königreich die folgenden Ausführungen:
„Der Ausschuss hat seine Befürchtungen im Hinblick auf das Fehlen von Informationen und Kenntnissen zur Reduzierung der Nachfrage (DSR) zum Ausdruck gebracht. Er bevorzugt den Begriff der ‚dezentralen Energieressourcen‘ (DER), der das komplette Spektrum der Beiträge erfasst, die von anderen Quellen als traditionellen Erzeugern stammen können, während der Begriff ‚DSR‘ die Berücksichtigung der Nachfrage auf eine bloße Nachfragesenkung und integrierte Stromerzeugung zu reduzieren scheint. Der Ausschuss hält es für wichtig, dass innerhalb von DECC und N[ational] G[rid] solide Kenntnisse im Bereich von DER aufgebaut werden, und er hat ein Programm zur weiteren Erforschung dieses Bereichs empfohlen, damit das Potenzial von DER künftig genutzt werden kann.
… Das allgemeine Szenario und der modellbasierte Ansatz von NG sind grundsätzlich korrekt und NG hat versucht, die Beweise und die Auffassungen der Beteiligten zu berücksichtigen. Der Ausschuss ist jedoch einhellig der Auffassung, dass NG dazu tendiert hat, mehrere wichtige Annahmen, insbesondere in Bezug auf Energieströme von Verbindungsleitungen, zu konservativ zu beurteilen, und das zu beschaffende Kapazitätsvolumen überbewertet hat, da die Energieströme von Verbindungsleitungen (und die meteorologischen Bedingungen) als Variablen betrachtet wurden und die Verbindungskapazitäten nicht unter Zugrundelegung ihrer geschätzten wahrscheinlichen Verfügbarkeit einbezogen wurden (wie im Fall eines Kraftwerks). Wenn sich dagegen die zu erwartenden Energieströme von Verbindungsleitungen auf 2,25 GW (beschrieben als zu 75 % aus Importen stammend) belaufen, führt dies zu einer Reduzierung des zu beschaffenden Kapazitätsvolumens, und mit Hilfe moderater zusätzlicher Bemühungen zugunsten der Nutzung von DSR und der beschleunigten Einrichtung von Verbindungskapazitäten sowie in der Annahme, dass das von Kohlekraftwerken stammende Angebot im Rahmen der Auktion steigen wird, könnte dieser Betrag ausreichen, um neue CCGT [Combined Cycle Gas Turbines, kombinierte Gasturbinen-Dampfturbinen-Anlagen] zu vermeiden.
… Empfehlung 9: … Ein Forschungsprogramm zum Potenzial von DER ist baldmöglichst einzurichten, um hilfreiche Informationen für künftige Auktionen zusammenzutragen; der Fokus sollte vor allem auf den Instrumenten liegen, die im vorliegenden Bericht genannt sind und eine Senkung der Nachfrage in Spitzenzeiten ermöglichen.“
146 In diesem Stadium der Prüfung durch das Gericht ist festzustellen, dass die Kommission zum Zeitpunkt ihrer vorläufigen Prüfung in der Lage war, Gesichtspunkte zu analysieren, die nicht nur eine Vorstellung der aktuellen Rolle von DSR, einer von den Behörden des Vereinigten Königreichs für zuverlässig und rentabel erachteten Technologie, deren Nutzen und Effizienz bereits durch die amerikanischen Beispiele nachgewiesen war, sondern auch eine Vorstellung des tatsächlichen Potenzials von DSR vermittelten, wie es u. a. aus einer Schätzung von National Grid hervorgeht, die das Vereinigte Königreich in der Anmeldung anführt und wonach DSR im Zeitraum 2018/2019 Kapazitäten in Höhe von etwa 3 GW liefern könne.
147 Ebenso waren der Kommission die vom PTE benannten Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung des Potenzials von DSR im Rahmen des Kapazitätsmarkts bekannt. Wie im Fall der Berücksichtigung des Potenzials von Verbindungsleitungen, den die Kommission aufgrund der vom PTE festgestellten Probleme im 124. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses als „schwerwiegend“ eingestuft hat, und wie oben aus den Rn. 141 bis 145 hervorgeht, bestand die Gefahr, dass der geplante Kapazitätsmarkt das Potenzial von DSR oder – in einem weiteren Sinne – das gesamte Potenzial, das zu einer Verringerung des Bedarfs an Produktionskapazitäten zur Beseitigung des Erzeugungsdefizits beitragen kann, nicht ausreichend berücksichtigt.
148 Gemäß Rn. 224 der Leitlinien ist die Bewertung der Auswirkungen einer Marktteilnahme von DSR-Anbietern eines der Elemente der Prüfung, die die Kommission bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer staatlichen Maßnahme vornehmen muss.
149 Insoweit geht jedoch aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass die Kommission es für die Beurteilung der tatsächlichen Berücksichtigung von DSR – und die Beendigung einer Situation, in der sie Zweifel an der Vereinbarkeit der Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt haben könnte – für ausreichend hielt, die hierzu vom Vereinigten Königreich vorgesehenen Modalitäten anzuerkennen.
150 Laut den Ausführungen der Kommission im 122. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses im Rahmen ihrer Beurteilung der Vereinbarkeit der Beihilfe und der Notwendigkeit einer staatlichen Maßnahme und in Bezug auf den Beitrag von DSR reichen nämlich die folgenden Feststellungen:
–
„das Vereinigte Königreich hat geltend gemacht, dass die erste Auktion im Dezember 2014 entscheidend sei, um Informationen zu DSR und seinem Potenzial zu erhalten“ und hat „erklärt, dass es die Informationen, die sich aus der ersten T‑4-Auktion ergeben, untersuchen werde und sicherstellen werde, dass die Nachfragekurven angemessen angepasst würden, was im Verfahren Future Energy Scenario der National Grid für die Berichte zur Stromkapazität im Hinblick auf künftige Verfahren berücksichtigt werde“;
–
„als Reaktion auf den PTE‑Bericht hat National Grid ein gemeinsames Projekt mit der Energy Networks Association [Verband der Energienetzbetreiber] (einschließlich Distribution Network Operators [Verteilernetzbetreiber]) vorgeschlagen“;
–
„ferner hat das Vereinigte Königreich Vorschriften zu den Übergangsauktionen erarbeitet, um das Wachstum des DSR-Sektors von 2015 bis 2016 und ein Pilotprojekt mit einem Budget von 20 Mio. GBP im Bereich der Energieeffizienz [Electricity Demand Reduction pilot] zu fördern“.
151 Die Kommission hat außerdem im 128. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass sie, selbst wenn die Beihilferegelung „dazu führen [kann], dass die Erzeugung von Strom durch fossile Brennstoffe gefördert wird“, feststellen könne, dass die jährliche Evaluierung der Angemessenheit der Kapazitäten alle Arten von Anbietern berücksichtige, einschließlich DSR-Anbietern (vgl. auch Erwägungsgründe 134 und 149 des angefochtenen Beschlusses in anderen Stadien der Analyse). Im 129. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses stellt die Kommission fest, die Maßnahme sei „technologieneutral“ und führe daher nicht zu einer Stärkung der Stellung von Stromerzeugern, die fossile Brennstoffe verwendeten.
152 Berücksichtigt man die verfügbaren und genannten Informationen sowie die Informationen, die der Kommission bei Anwendung der ihr nach der Verordnung Nr. 659/1999 zur Verfügung stehenden Mittel zugänglich gewesen wären, und die Bedeutung der Rolle, die DSR in einem Kapazitätsmarkt einnehmen könnte, im Hinblick auf die bestmögliche Definition der Notwendigkeit einer staatlichen Maßnahme und die Begrenzung der Beihilfe für die Erzeugung von Strom durch fossile Brennstoffe auf einen angemessenen Betrag, ermöglichen diese Würdigungen der Kommission nicht, sich über die Zweifel hinwegzusetzen, die sich aus den Informationen ergaben, die sie bereits besaß oder die sie zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses hätte besitzen können.
153 Wie insbesondere aus Rn. 226 und Rn. 232 Buchst. a der Leitlinien hervorgeht, wonach die Beihilfemaßnahmen offen ausgestaltet sein sollten und „sich sowohl an etablierte als auch künftige Erzeuger sowie an Betreiber, die substituierbare Technologien (z. B. Laststeuerung …) einsetzen, richten und für diese angemessene Anreize vorsehen“ sollten und „[d]ie Maßnahme … so ausgestaltet werden [sollte], dass alle Kapazitäten, die konkret zur Behebung des Erzeugungsdefizits beitragen können, an der Maßnahme teilnehmen können“, ist es von besonderer Bedeutung, dass die Kommission allen Lösungsangeboten – mit ihren jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen – die tatsächliche und wirksame Teilnahme am fraglichen Kapazitätsmarkt ermöglicht, damit das Erzeugungsdefizit behoben werden kann.
154 Im vorliegenden Fall konnte sich die Kommission – entgegen ihren Ausführungen im angefochtenen Beschluss – angesichts der verfügbaren Informationen und der Rolle von DSR nicht mit dem „offenen Charakter“ der Maßnahme begnügen und daraus auf ihre technologische Neutralität schließen, ohne die tatsächliche und wirksame Berücksichtigung von DSR im Kapazitätsmarkt genauer zu prüfen.
155 Zwar geht nämlich aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass die Kommission die Gesichtspunkte, die das Vereinigte Königreich zur Berücksichtigung der Produktionskapazität im Rahmen des Kapazitätsmarkts vorgetragen hatte, und die – u. a. wegen der vom PTE in seinem Bericht ausgedrückten Besorgnis – anschließend zur Berücksichtigung der Verbindungskapazität übermittelten Informationen geprüft hat, doch lässt keiner der im angefochtenen Beschluss genannten Gesichtspunkte den Schluss zu, dass die Kommission eine eigene Prüfung im Hinblick auf die tatsächliche Berücksichtigung von DSR, dessen Potenzial anerkannt und von Nutzen war, im Rahmen des Kapazitätsmarkts durchgeführt hat. Beispielsweise bezieht sich der angefochtene Beschluss an keiner Stelle auf die von National Grid vorgenommene Schätzung von 3 GW. Indem die Kommission die potenzielle Rolle von DSR und die durch DSR im Kapazitätsmarkt potenziell bereitgestellte Kapazität nicht geprüft hat, hat sie die vom Vereinigten Königreich vorgetragenen Informationen und Annahmen anerkannt (vgl. oben, Rn. 149 bis 151), obwohl sie sich auf die zu versteigernde Kapazitätsmenge und den Betrag der für den Kapazitätsmarkt benötigten Beihilfe auswirken.
156 Was insoweit das Ergebnis der ersten T‑4-Auktion im Dezember 2014 betrifft, besteht die – u. a. im PTE‑Bericht genannte – Gefahr, dass der Produktionskapazität eine wichtigere Rolle zugeschrieben wird, als erforderlich wäre, da diese Auktion unter Berücksichtigung von Modalitäten durchgeführt wurde, die dem Potenzial von DSR nicht ausreichend Rechnung zu tragen scheinen. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Bedingungen für die Teilnahme von DSR-Anbietern anders ausgefallen wären, wenn die Kommission das Potenzial von DSR selbst geprüft hätte, u. a. um die Modalitäten einer Berücksichtigung der Schätzungen von National Grid oder anderer Quellen oder die Gründe für den Erfolg der amerikanischen Beispiele zu untersuchen.
157 Was die T‑1-Auktionen betrifft, ist zudem festzustellen, dass nach den Erwägungsgründen 45 bis 47 des angefochtenen Beschlusses auf der Grundlage einer Schätzung der „rentablen“ DSR-Kapazität, die an den T‑1-Auktionen teilnehmen könnte, eine bestimmte Kapazitätsmenge von den T‑4-Auktionen systematisch zurückbehalten und für die T‑1-Auktionen „reserviert“ wird. Geht die Nachfrage zwischen den T‑4-Auktionen und den T‑1-Auktionen zurück, wird die Kapazitätsmenge reduziert. Wie jedoch bereits in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurde, geht aus diesen Erwägungsgründen hervor, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs verpflichtet ist, mindestens 50 % der „reservierten“ Kapazität in den T‑1-Auktionen zu versteigern, wobei sie sich die Möglichkeit vorbehält, dieser Verpflichtung nicht nachzukommen, wenn sich DSR als „langfristig nicht rentabel“ erweist oder der DSR-Sektor als genügend ausgereift erachtet wird. Regulation 10 („Entscheidung über die Durchführung einer Auktion“) der Electricity Capacity Regulations 2014 sieht z. B. in Abs. 3 vor, dass der zuständige Minister beschließen kann, dass eine T‑1-Auktion nicht durchgeführt wird, wenn den Prognosen zufolge kein DSR-Anbieter ein Angebot für eine solche Auktion einreichen würde. Da die T‑1-Auktionen somit u. a. davon abhingen, dass die DSR-Kapazität als „rentabel“ und bereit für eine Teilnahme an der Auktion eingeschätzt wurde, war es notwendig, dass die Kommission die potenzielle DSR-Kapazität und ihre Evaluierung im angefochtenen Beschluss prüfte.
158 Unter diesen Umständen sind die Gesichtspunkte, die zum Potenzial von DSR verfügbar sind, insbesondere angesichts der bedeutenden Rolle, die diese Technologie im Kapazitätsmarkt einnehmen könnte, geeignet, einen Anhaltspunkt für das Bestehen von Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Regelung mit dem Binnenmarkt darzustellen, und dem angefochtenen Beschluss ist nicht zu entnehmen, dass diese Bedenken nach der vorläufigen Prüfung der Kommission aufgelöst wurden.
e)
Zum Vorwurf der Ungleichbehandlung bzw. Benachteiligung von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts
159 Tempus macht im Wesentlichen geltend, dass die Beurteilung der fraglichen Maßnahme Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt hätte geben müssen, da gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden sei und u. a. DSR-Anbieter benachteiligt worden seien. Tempus rügt insbesondere die Behandlung von DSR-Anbietern im Hinblick auf die Laufzeit der Kapazitätsverträge, die Methode zur Deckung der Kosten des Kapazitätsmarkts, die Bedingungen der Teilnahme am Kapazitätsmarkt sowie das Fehlen einer zusätzlichen Vergütung von DSR-Anbietern im Fall der Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten.
1) Zur Laufzeit der Kapazitätsverträge
160 Tempus macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe insoweit Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt haben müssen, als die Maßnahme die Möglichkeit, Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr abzuschließen, Erzeugern vorbehalten habe, deren Kapitalausgaben eine bestimmte Schwelle überschritten, was einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu Ungunsten der DSR-Anbieter darstelle. Diese Ungleichbehandlung sei nicht mit dem Ziel der technologischen Neutralität der fraglichen Maßnahme vereinbar, verschaffe den Erzeugern einen Wettbewerbsvorteil und führe zur Abriegelung eines Großteils der Nachfrage, was durch DSR hätte verhindert werden können.
161 Die Ungleichbehandlung sei nicht durch die höheren Investitionskosten der Erzeuger im Zusammenhang mit der Sanierung eines bestehenden Kraftwerks oder dem Bau neuer Kraftwerke gerechtfertigt. Die DSR-Anbieter und ihre Kunden hätten nämlich ebenfalls Investitionskosten. Zudem verlangten die Kunden der DSR-Anbieter eine Garantie über die in den nächsten Jahren zu erzielenden Einnahmen, bevor sie Investitionen tätigten. Dem Vereinigten Königreich seien Informationen übermittelt worden, und daher könne es sich in der Anmeldung nicht auf die Behauptung beschränken, der DSR-Sektor habe keinen „quantitativen“ Beweis dafür erbracht, dass für eine Auktionsteilnahme von DSR-Anbietern längerfristige Verträge erforderlich seien.
162 Die Kommission erwidert, sie habe die fragliche Maßnahme pflichtgemäß hinsichtlich der Behandlung von DSR-Anbietern im Vergleich zu anderen Kapazitätsanbietern geprüft und festgestellt, dass die Maßnahme ihnen angesichts ihrer spezifischen Merkmale den Wettbewerb ermögliche. Die unterschiedliche Laufzeit der angebotenen Verträge sei durch das zentrale Ziel der fraglichen Maßnahme gerechtfertigt, das nämlich darin bestehe, zu gewährleisten, dass künftig ausreichend Kapazitäten verfügbar seien, einschließlich durch Förderung von Investitionen in neue Kraftwerke. DSR-Anbietern könnten keine Vertragslaufzeiten von mehr als einem Jahr gewährt werden, da sie nicht den gleichen Finanzierungsbedarf wie Erzeuger hätten, die ein bestehendes Kraftwerk sanierten oder ein neues Kraftwerk errichteten. Im Lauf des Verwaltungsverfahrens hätten weder Tempus noch UKDRA substantiierte Argumente vorgetragen, aus denen sich ergebe, dass DSR-Anbieter einen Investitionsbedarf hätten, der mit den Projekten zur Sanierung und Neuerrichtung von Kraftwerken vergleichbar sei, und sie hätten hierzu auch keinerlei quantitative Nachweise erbracht.
163 In Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts erklärt die Kommission, sanierungsbedürftige Kraftwerke und neu zu errichtende Kraftwerke würden, wenn sie nur Vertragsangebote über Laufzeiten von einem Jahr erhielten, angesichts der Höhe ihrer Investitionskosten wahrscheinlich überhaupt nicht an den Auktionen teilnehmen oder von ihnen ausgeschlossen, da ihr Gebot oberhalb der Preisgrenze liegen würde; falls es ihnen dennoch gelänge, ein Gebot einzureichen, werde dieses wahrscheinlich einen sehr hohen Preis haben und den Schlusspreis der Auktion darstellen. Dies wäre nicht nur mit außerordentlichen Vorteilen für die bestehenden Erzeuger und die DSR-Anbieter verbunden, sondern auch mit erhöhten Kosten für alle Endkunden und somit einer unverhältnismäßigen Höhe der Beihilfe.
164 Nach ständiger Rechtsprechung besagt der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Die Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte ist in Anbetracht aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, dem die in Rede stehende Maßnahme unterfällt (vgl. Urteil vom 12. Dezember 2014, Banco Privado Português und Massa Insolvente do Banco Privado Português/Kommission, T‑487/11, EU:T:2014:1077, Rn. 139 und die dort angeführte Rechtsprechung).
165 In der vorliegenden Rechtssache ist vorab festzustellen, dass die fragliche Maßnahme DSR-Anbietern keine Möglichkeit eröffnet, Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr abzuschließen.
166 Dem angefochtenen Beschluss zufolge sind nur Kapazitätsanbieter mit Kapitalkosten über 125 GBP je kW (sanierungsbedürftige Kraftwerke) für Verträge mit einer maximalen Laufzeit von bis zu drei Jahren qualifiziert, und nur Kapazitätsanbieter mit Kapitalkosten über 250 GBP je kW (neue Kraftwerke) sind für Verträge mit einer maximalen Laufzeit von bis zu 15 Jahren qualifiziert (57. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
167 Obwohl jedoch im 57. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses der technologieneutrale Begriff „Kapazitätsanbieter“ verwendet wird, geht aus der Anmeldung und Regulation 2(1) in Verbindung mit den Regulations 4, 5 und 11(3) der Electricity Capacity Regulations 2014 hervor, dass Kapazitätsverträge mit einer maximalen Laufzeit von drei und 15 Jahren ausdrücklich und ausschließlich den Erzeuger-CMU vorbehalten sind, deren Kapitalkosten die vom Minister festgelegten Schwellenwerte überschreiten, und DSR-CMU ausgeschlossen sind.
168 Folglich sind zum einen DSR-Anbieter nicht für Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von bis zu drei oder 15 Jahren qualifiziert, selbst wenn sie nachweisen, dass ihre Kapitalkosten die Schwellenwerte überschreiten, die in der fraglichen Maßnahme für Erzeuger-CMU festgelegt sind. Zum anderen enthält die fragliche Maßnahme keinen eigenständigen Schwellenwert für Kapitalausgaben von DSR-CMU, der diesen Anbietern die Möglichkeit eröffnen würde, Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr abzuschließen.
169 Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission den Standpunkt des Vereinigten Königreichs bestätigt, wonach es angemessen sei, Erzeuger-CMU, deren Kapitalausgaben einen bestimmten, vom Minister festgelegten Schwellenwert überschritten, Kapazitätsverträge mit einer maximalen Laufzeit von bis zu drei oder 15 Jahren anzubieten, und gerechtfertigt sei, DSR-CMU nur Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von einem Jahr anzubieten (Erwägungsgründe 106, 129 und 145 des angefochtenen Beschlusses). Sie war der Auffassung, dass DSR-Anbieter geringere Kapitalkosten hätten als Erzeuger, die Kraftwerke errichteten oder sanierten. Auf dieser Grundlage hat die Kommission anerkannt, dass neue oder zu sanierende Produktionskapazitäten, die erhöhte Investitionskosten implizierten, für längere Kapazitätsverträge qualifiziert seien, damit die Betreiber die notwendigen Finanzmittel auftreiben könnten, und sie war der Auffassung, dass DSR-Anbieter gegenüber Betreibern von sanierungsbedürftigen oder neuen Kraftwerken nicht dadurch benachteiligt würden, dass ihnen Kapazitätsverträge mit kürzerer Laufzeit angeboten würden. Insofern kam sie zu dem Schluss, dass die fragliche Maßnahme technologieneutral sei und nicht dazu führe, dass die Stellung der fossile Brennstoffe verwendenden Stromerzeuger gestärkt werde.
170 Somit ist zu prüfen, ob die Kommission akzeptieren konnte, dass DSR-Anbieter anders als Stromerzeuger behandelt werden, ohne das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen, oder ob der Umstand, dass DSR-Anbieter keine Möglichkeit haben, Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr abzuschließen, bei der Kommission Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt hätte hervorrufen müssen.
171 Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass die fragliche Maßnahme gemäß den Bestimmungen in Rn. 226 der Leitlinien technologieneutral sein soll.
172 Insoweit geht aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass die fragliche Maßnahme die Stromversorgung im Vereinigten Königreich sicherstellen soll (Erwägungsgründe 4 und 126 des angefochtenen Beschlusses).
173 Im Einzelnen ist der Anmeldung zu entnehmen, dass das Hauptziel der fraglichen Maßnahme darin besteht, auf dem Strommarkt im Vereinigten Königreich die Lieferung einer zuverlässigen und angemessenen Kapazität zu Minimalkosten für die Verbraucher dergestalt zu ermöglichen, dass unbeabsichtigte Folgen und unerwartete Risiken minimiert werden und die Realisierung der übergeordneten Ziele der Regierung gefördert wird, nämlich Dekarbonisierung des Strommarkts, Entwicklung einer flexibleren Nachfrage und verstärkte Integration des Energiebinnenmarkts (Rn. 139 der Anmeldung). Um das Ziel der Sicherstellung der Stromversorgung im Vereinigten Königreich zu erreichen, soll die fragliche Maßnahme der Anmeldung zufolge Anreize setzen, damit ausreichende Investitionen in Produktionskapazitäten und andere Kapazitäten getätigt werden, einschließlich einer besonderen Förderung nachfrageseitiger Lösungen (Rn. 140 der Anmeldung). Diese Ziele entsprechen den Zielen, die in den Rn. 216 bis 221 der Leitlinien als legitime Ziele für Beihilfen zur Gewährleistung einer angemessenen Stromerzeugung genannt sind.
174 Wie jedoch bereits oben in Rn. 121 dargelegt wurde und wie die Kommission in ihrer Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts vom 5. Mai 2017 ausdrücklich anerkannt hat, ist zwischen den Parteien in Bezug auf das Hauptziel der Gewährleistung der Stromversorgung unstreitig, dass sowohl die von den Erzeugern angebotene Kapazität als auch die von den DSR-Anbietern angebotene Kapazität grundsätzlich zur Behebung des Erzeugungsdefizits beitragen können.
175 Ebenso ist zum abgeleiteten Ziel des Anschiebens ausreichender Investitionen in neue Kapazitäten festzustellen, dass das Ziel der fraglichen Maßnahme ausdrücklich sowohl auf Produktionskapazitäten als auch auf andere Kapazitäten – wie DSR – gerichtet ist. Zudem betont die Anmeldung ausdrücklich in Rn. 355, dass der Kapazitätsmarkt nicht darauf gerichtet ist, im Voraus – je nach Technologieart – festgelegte Kapazitätsvolumen zu erreichen. Vielmehr überlässt die fragliche Maßnahme dem Markt die Entscheidung darüber, welche Menge für jede Kapazitätsart (neue Produktionskapazitäten, sanierungsbedürftige Produktionskapazitäten, bestehende Produktionskapazitäten, bestehende DSR-Kapazitäten, nicht bestätigte DSR-Kapazitäten) optimal ist, damit das vom Vereinigten Königreich festgelegte Niveau der Versorgungssicherheit erreicht wird.
176 Folglich ist davon auszugehen, dass sich die DSR-Anbieter im Hinblick auf die mit der fraglichen Maßnahme verfolgten technologieneutralen Ziele der Sicherstellung der Stromversorgung in der gleichen Lage wie die Erzeuger befinden. Dies gilt umso mehr, als die Leitlinien vorsehen, dass sich Beihilfemaßnahmen zur Einrichtung eines Kapazitätsmarkts sowohl an etablierte als auch künftige Erzeuger sowie an Betreiber, die substituierbare Technologien (z. B. Laststeuerung oder Speicherlösungen) einsetzen, richten und für diese angemessene Anreize vorsehen (Rn. 226 der Leitlinien). Folglich musste die Kommission prüfen, ob der Kapazitätsmarkt trotz des Umstands, dass Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr auf Produktionskapazitäten beschränkt waren, technologieneutral sein konnte und der Wettbewerb zwischen Erzeugern und DSR-Anbietern dadurch nicht verfälscht wurde.
177 Als Zweites ist dem angefochtenen Beschluss zufolge der Umstand, dass Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr bestimmten Kapazitätslieferanten angeboten werden, durch deren erhöhte Kapitalkosten und Finanzierungsschwierigkeiten gerechtfertigt.
178 Insoweit heißt es im angefochtenen Beschluss, es sei gerechtfertigt, dass neuen Marktteilnehmern Kapazitätsverträge mit längerer Laufzeit angeboten würden, da der Markteintritt neuer Wettbewerber gefördert werden solle. Indem neuen Marktteilnehmern Verträge mit längerer Laufzeit gewährt würden, hätten diese die Möglichkeit, ihre Investitionen kostengünstiger zu finanzieren. Dadurch werde die Eintrittsschwelle für unabhängige Unternehmen gesenkt, da diese ihre Investitionen in neue Kapazitäten nicht mit Einkünften aus anderen Kraftwerken ihres Portfolios finanzieren könnten. Durch Förderung des Wettbewerbs auf dem Kapazitätsmarkt könnten längerfristige Verträge somit die vom Verbraucher zu tragenden Kosten auf dem Strom- und Kapazitätsmarkt senken. Das Angebot längerfristiger Verträge dürfe auch die Gefahr verringern, dass Teilnehmer mit sehr hohen Investitions- oder Sanierungskosten versuchten, sämtliche Kosten durch einen Vertrag mit einer Laufzeit von nur einem Jahr auszugleichen (59. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
179 Somit geht aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass das Angebot von Verträgen mit längerer Laufzeit der Realisierung der oben in Rn. 173 genannten technologieneutralen Ziele dient, die darin bestehen, die Stromversorgung sicherzustellen, indem Anreize für ausreichende Investitionen in Kapazitäten gesetzt werden. Zudem ist festzustellen, dass, auch wenn im angefochtenen Beschluss hervorgehoben wird, dass der Eintritt neuer Marktteilnehmer gefördert werden müsse, das Angebot von Kapazitätsverträgen mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr einem allgemeineren Ziel dient, da Anbieter, die bestehende Kraftwerke sanieren, ebenfalls für Kapazitätsverträge mit einer maximalen Laufzeit von drei Jahren qualifiziert sind. Folglich dient das Angebot von Kapazitätsverträgen mit einer längeren Laufzeit dem Hauptzweck, die Schwierigkeiten bestimmter Anbieter bei der Finanzierung ihrer Kapitalkosten abzumildern, indem ihnen über mehrere Jahre Einnahmen gewährleistet werden, und ihnen zu ermöglichen, bei den Auktionen ein konkurrenzfähiges Angebot zu machen, da sie den Ausgleich ihrer Kosten auf mehrere Jahre verteilen können.
180 Entscheidende Kriterien für die Bestimmung der Anbieter, die für Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr in Frage kommen, sind der streitigen Maßnahme zufolge die Höhe der Kapitalkosten und die Finanzierungsschwierigkeiten, die Anbieter an einer Teilnahme am Kapazitätsmarkt hindern könnten.
181 Da Verträge mit längerer Laufzeit als notwendig angesehen wurden, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, war zu prüfen, wie lange die Vertragslaufzeit sein musste, um jeder Kategorie der Kapazitätsanbieter im Hinblick auf ihre Investitionskosten und Finanzierungsschwierigkeiten die vollumfängliche Teilnahme am Kapazitätsmarkt zu ermöglichen und insofern der Verpflichtung nachzukommen, angemessene Anreize für alle Anbieter zu schaffen. Folglich musste die Kommission prüfen, ob der Umstand, dass Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr bestimmten Technologien vorbehalten waren, eine Diskriminierung darstellte und dem Ziel der Einführung eines technologieneutralen Kapazitätsmarkts entgegenstand, was mit den Anforderungen der Leitlinien unvereinbar wäre.
182 Als Drittes ist festzustellen, dass die Kommission den Standpunkt des Vereinigten Königreichs bestätigt hat, wonach es nicht notwendig sei, DSR-Anbietern Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr anzubieten, ohne dass sie geprüft hat, ob deren Kapitalkosten und Finanzierungsschwierigkeiten es erfordern könnten, ihnen den Abschluss solcher Verträge anzubieten, um ihnen eine Teilnahme an den Auktionen zu ermöglichen und gleichzeitig einen zu hohen Schlusspreis zu verhindern.
183 Dem angefochtenen Beschluss zufolge hat die Kommission den Finanzierungsbedarf von Kapazitätsanbietern, die neue Kraftwerke errichten oder bestehende Kraftwerke sanieren, genau geprüft. Insoweit hat die Kommission das Vereinigte Königreich ausdrücklich aufgefordert, zusätzliche Informationen zu übermitteln, die seine Entscheidungen hinsichtlich der Laufzeiten der Kapazitätsverträge stützten, da Verträge mit längerer Laufzeit grundsätzlich problematischer seien und genau begründet werden müssten (Tabelle 16, S. 161 der Anmeldung). Somit konnte sich die Kommission auf detaillierte Informationen stützen, die das Vereinigte Königreich in Bezug auf Kapitalkosten und Finanzierungsschwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Bau neuer Kraftwerke übermittelt hatte, um die optimale Laufzeit der Kapazitätsverträge zu ermitteln und die Kapitalkostengrenzwerte festzulegen, an die eine Vergabe der Verträge geknüpft werden musste. Dabei ging es darum, den Anbietern bei der notwendigen Finanzierung zu helfen und zu vermeiden, dass ihre Teilnahme am Kapazitätsmarkt den Schlusspreis zu sehr in die Höhe treibt und es ihnen gleichzeitig nicht möglich ist, ihre gesamten fixen Investitionskosten allein auf der Grundlage der Einnahmen aus dem Kapazitätsmarkt zu decken. Zu den vom Vereinigten Königreich übermittelten Informationen zählten u. a. mehrere detaillierte Fallstudien, in denen verschiedene Szenarien sowie Modellgeschäftspläne verschiedener Anbieter und Kraftwerke untersucht wurden (Ziff. 4.3.1, 4.6.5, C.4.3 der Anmeldung).
184 Im Gegensatz dazu geht aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass die Kommission nicht versucht hat, die Kapitalkosten und den Finanzierungsbedarf von DSR-Anbietern detailliert zu prüfen. Zwar hat die Kommission im Anschluss an das Schreiben der UKDRA vom 9. Juni 2014, in dem die UKDRA die Kommission auf die unterschiedliche Behandlung von Erzeugern und DSR-Anbietern hinwies, das Vereinigte Königreich um eine Reaktion gebeten. Die Kommission hat sich anschließend jedoch damit zufriedengegeben, die Antwort des Vereinigten Königreichs zur Kenntnis zu nehmen, die sich auf das Vorbringen beschränkte, DSR-Anbieter hätten nicht den gleichen Kapitalbedarf wie die Betreiber neuer Kraftwerke und die UKDRA habe für ihre Behauptung, dass Kapazitätsverträge mit einer längeren Laufzeit erforderlich seien, um die Teilnahme der DSR-Anbieter an den Auktionen zu fördern, keinen quantitativen Nachweis erbracht (Rn. 511 der Anmeldung).
185 Es ist jedoch erstens festzustellen, dass das Vereinigte Königreich – ganz im Gegensatz zu den von ihm übermittelten Informationen zum Finanzbedarf der Stromerzeuger – keine detaillierte Analyse zur Stützung seines Standpunkts vorgelegt hat. Zudem hat der PTE in seinem Bericht darauf hingewiesen, dass es an Daten zu DSR in Bezug auf das Vereinigte Königreich fehle (vgl. u. a. die oben in den Rn. 141 und 142 zitierten Rn. 19, 96 und 101 des PTE‑Berichts). Obwohl die Kommission die Schlussfolgerungen des PTE‑Berichts im 120. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zum Teil zitiert, hat sie es nicht für zweckmäßig erachtet, selbst mehr Informationen zu DSR einzuholen, um die Lückenhaftigkeit der vom Vereinigten Königreich übermittelten Informationen abzumildern. Somit enthalten weder der angefochtene Beschluss noch die Anmeldung eine detaillierte Prüfung des Kapitalbedarfs von DSR-Anbietern.
186 Zweitens ist festzustellen, dass die Gleichbehandlung in Bezug auf die Laufzeit der Kapazitätsverträge, für die die verschiedenen Kapazitätsanbieter Gebote einreichen konnten, die Hauptforderung darstellte, die DSR-Anbieter gegenüber der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission geltend machten. Insoweit ist dem Beitrag der UKDRA zur öffentlichen Konsultation, zu dem die Kommission bei Erlass des angefochtenen Beschlusses Zugang hatte, zu entnehmen, dass die UKDRA nicht nur beanstandete, dass Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr Erzeuger-CMU vorbehalten waren, deren Kapitalkosten bestimmte Grenzwerte überschritten, sondern auch die festgelegten Grenzwerte der Kapitalkosten anfocht. Insbesondere forderte die UKDRA das Vereinigte Königreich ausdrücklich dazu auf, eine Modellierung der Finanzierungsbedürfnisse der verschiedenen Arten von Technologien durchzuführen und die Grenzwerte auf dieser Grundlage zu überprüfen. Zudem hatte die UKDRA mit Schreiben vom 9. Juni 2014 der Kommission ihre Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der Laufzeiten von 15 Jahren mit den Leitlinien mitgeteilt, und sie hatte unabhängig von der Frage der angebotenen Vertragslaufzeiten erneut den Wunsch der DSR-Anbieter geäußert, Gebote für Kapazitätsverträge mit den gleichen Laufzeiten wie die den Erzeugern angebotenen Verträge einreichen zu dürfen.
187 Drittens erkennen sowohl die UKDRA als auch Tempus an, dass neue DSR-Betreiber nicht zwangsläufig die gleichen Kapitalkosten haben wie Erzeuger, die neue Kraftwerke errichten. Sie machen jedoch geltend, dass neue DSR-CMU genau wie neue Erzeuger-CMU Kapitalkosten und Finanzierungsschwierigkeiten hätten, die eine Vergabe von Kapazitätsverträgen mit einer Laufzeit von über einem Jahr rechtfertigten, um ihnen die vollumfängliche Teilnahme am Kapazitätsmarkt zu ermöglichen. Tempus erklärt insbesondere, dass DSR-Anbieter ein Kundenportfolio entwickeln müssten, das groß genug sei, um unbefristete Kapazitätsereignisse abdecken zu können. Zudem könnten die Investitionen, die erforderlich seien, um den Stromverbrauch jedes Kunden mit der Zeit flexibel zu gestalten, und zu deren Finanzierung DSR-Anbieter möglicherweise beitragen müssten, erheblich sein und längerfristige Kapazitätsverträge erfordern. Ebenso weist der PTE in Rn. 99 seines Berichts ausdrücklich darauf hin, dass die Finanzierung einiger Investitionen betreffend DSR „von der Absicherung durch einen langfristigen Kapazitätsvertrag ab[hängt]“ und die potenziellen Ressourcen im Bereich DSR, die nicht auf die Signale des Kapazitätsmarkts reagieren würden, weil die bestehenden Anreize ihren Bedürfnissen nicht entsprächen, ermittelt werden müssten. Die DSR-Anbieter waren außerdem nicht die einzigen, die forderten, dass alle Kapazitätsanbieter, unabhängig von der verwendeten Technologie, für die gleichen Vertragslaufzeiten Gebote einreichen könnten, damit faire Wettbewerbsbedingungen gewährleistet seien. Insoweit geht aus der Anmeldung hervor, dass mehrere vertikal integrierte Stromunternehmen erklärt hatten, es sei für einen fairen Vergleich der Kapazitätspreise erforderlich, dass alle Kapazitäten Zugang zu den gleichen Vertragslaufzeiten hätten und jeder Kapazitätsanbieter die Möglichkeit habe, die Vertragslaufzeit zu wählen, die ihm ermögliche, ein konkurrenzfähiges Gebot bei den Auktionen einzureichen (S. 79 der Anmeldung).
188 Viertens kann Tempus und UKDRA entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht entgegengehalten werden, dass sie im Lauf des Verwaltungsverfahrens keine detaillierteren Informationen eingereicht hätten. Nach der Rechtsprechung kann und muss sich die Kommission nämlich gegebenenfalls die maßgeblichen Informationen beschaffen (vgl. oben, Rn. 69), um beim Erlass des angefochtenen Beschlusses über Bewertungskriterien zu verfügen, die vernünftigerweise als für ihre Beurteilung ausreichend und einleuchtend eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Dezember 2008, Kronoply und Kronotex/Kommission, T‑388/02, nicht veröffentlicht, EU:T:2008:556, Rn. 127, und vom 10. Februar 2009, Deutsche Post und DHL International/Kommission, T‑388/03, EU:T:2009:30, Rn. 109). Somit reicht es für den Beweis von Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 aus, dass Tempus nachweist, dass die Kommission nicht alle Gesichtspunkte, die für diese Prüfung maßgeblich sind, zusammengetragen und sorgfältig und unparteiisch geprüft hat oder dass sie diese Gesichtspunkte nicht angemessen in einer Weise berücksichtigt hat, die jegliche Zweifel an der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt beseitigt.
189 Angesichts der oben in den Rn. 171 bis 176 dargelegten Erwägungen war die Kommission im vorliegenden Fall verpflichtet, aufgrund der fehlenden Informationen zum Kapitalbedarf von DSR-Anbietern nähere Erkundungen zu diesem Thema anzustellen, z. B. durch Aufgreifen des Angebots der UKDRA, die in ihrem Schreiben vom 9. Juni 2014 vorgeschlagen hatte, der Kommission weitere Informationen zu übermitteln, damit sich feststellen lasse, ob es mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sei, dass DSR-Anbietern und anderen Kapazitätslieferanten unterschiedliche Vertragslaufzeiten angeboten würden. Dies gilt umso mehr, als der DSR-Sektor sehr diversifiziert ist und feststeht, dass er den Behörden des Vereinigten Königreichs viel weniger vertraut war als der Produktionssektor (vgl. oben, Rn. 141 bis 145).
190 Schließlich wirkt es sich während der gesamten Vertragslaufzeit auf den Wettbewerb aus, wenn mit bestimmten Erzeugern Verträge mit Laufzeiten von bis zu drei bzw. 15 Jahren abgeschlossen werden. Da die Kommission im 131. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses feststellte, dass sich die DSR-Branche im Vereinigten Königreich noch in ihren Anfängen befinde, musste sie prüfen, ob der Umstand, dass DSR-Anbieter nicht für die gleichen Vertragslaufzeiten wie Stromerzeuger Gebote einreichen konnten, nicht die Gefahr barg, dass für DSR-Anbieter die Chancen sanken, zu einem Zeitpunkt, in dem ihr Sektor weiter entwickelt sein würde, zur Behebung des Erzeugungsdefizits im Vereinigten Königreich beizutragen. Die Vergabe von Verträgen mit Laufzeiten von drei oder 15 Jahren reduziert nämlich die Kapazitätsmenge, die bei künftigen Auktionen im Rahmen des Kapazitätsmarkts versteigert wird.
191 Fünftens hat der PTE in Rn. 102 seines Berichts die Gefahr im Zusammenhang mit der Einführung des Kapazitätsmarkts im Vereinigten Königreich bei unzureichender Informationslage zu DSR wie folgt beschrieben:
„Aus all diesen Gründen verstehen wir vollkommen, dass National Grid nicht in der Lage war, DSR so gründlich und differenziert zu prüfen, wie dies bisher bei einem großen Teil seiner anderen Tätigkeiten der Fall war. Dennoch sollte dringend ein systematisches Verfahren eingeführt werden, mit dem sich gewährleisten lässt, dass DSR-Ressourcen nicht verschwendet werden und die Behebung des Defizits, das aus einer schlechten Nutzung dieser Ressourcen resultiert, nicht durch neue Produktionskapazitäten erfolgt.“
192 Somit ist festzustellen, dass die Kommission den Standpunkt des Vereinigten Königreichs bestätigt hat, wonach es nicht notwendig sei, DSR-Anbietern Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von über einem Jahr anzubieten, ohne dass sie untersucht hat, wie hoch die Kapitalkosten für neue DSR-CMU waren, und ohne dass sie überprüft hat, ob es notwendig war, spezifische Grenzwerte für DSR-CMU im Hinblick auf deren Finanzierungsbedürfnisse und die mit der Maßnahme verfolgten Ziele festzulegen.
193 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass der Unterschied zwischen den Laufzeiten von Kapazitätsverträgen, die an DSR-Anbieter vergeben wurden, und den Laufzeiten der Verträge, die den Erzeugern angeboten wurden, einen Anhaltspunkt für das Bestehen von Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt darstellt. Die Kommission war nämlich verpflichtet, die Höhe der Kapitalkosten und des Finanzierungsbedarfs von DSR-Anbietern zu prüfen, um nachzuweisen, dass trotz des Umstands, dass DSR-Anbieter keine Kapazitätsverträge mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr abschließen konnten, zwischen den Erzeuger-CMU und den DSR-CMU kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung vorlag. Angesichts der technologieneutralen Ziele der fraglichen Maßnahme und der in ihr festgelegten Kriterien war eine solche Prüfung obligatorisch, bevor die Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem Binnenmarkt festgestellt werden konnte. Somit ist der Umstand, dass die Kommission bezogen auf die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, DSR-Anbietern nicht die gleichen Vertragslaufzeiten wie den Anbietern anderer Technologien zu gewähren, bei der vorläufigen Prüfung nicht über vollständige Informationen verfügte, ein Anhaltspunkt für das Bestehen von Bedenken.
2) Zur Methode zur Kostendeckung
194 Tempus macht im Wesentlichen geltend, die Kommission hätte Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahme und somit ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt haben müssen, da die gewählte Methode zur Kostendeckung den Verbrauchern keine ausreichenden Anreize biete, ihren Verbrauch in Spitzenzeiten zu senken, und es daher nicht möglich sei, den Gesamtbetrag der Beihilfe auf das erforderliche Mindestmaß zu beschränken.
195 Die gewählte Methode zur Kostendeckung, d. h. eine Deckung der Kosten auf der Grundlage des Stromverbrauchs zwischen 16 und 19 Uhr an jedem Wochentag im Winter statt auf der Grundlage des Stromverbrauchs in den drei höchsten Spitzennachfragezeiten des Jahres, der „Triade“, benachteilige DSR-Anbieter und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da sich der Betrag der gewährten Beihilfe bei dieser Methode erhöhe. Eine solche Methode erschwere es nämlich den Verbrauchern, durch eine Reduzierung ihres Verbrauchs, also der Nachfrage, zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht zu den Kosten des Kapazitätsmarkts beizutragen, da dieser Verbrauch für Unternehmen und Familien unvermeidlich sei. Dies gelte umso mehr, als kleine Unternehmen und Privatverbraucher die Kosten des Kapazitätsmarkts nicht durch DSR vermeiden könnten, da sie im Vereinigten Königreich nach ihrem Profil und nicht nach der halbstündlichen Abrechnung ihres Verbrauchs klassifiziert würden.
196 Zudem treibe die gewählte Methode den Betrag der Beihilfe in die Höhe, da das Vereinigte Königreich gezwungen sei, mehr Kapazitäten als erforderlich zu beschaffen, weil den Verbrauchern nicht genügend Anreize gesetzt würden, um den Stromverbrauch genau dann zu senken, wenn die Nachfrage am höchsten und die Kapazität am schwächsten sei. Das Vereinigte Königreich bestreite nicht, dass ein eindeutigeres Preissignal zu einer Senkung des Betrags der Beihilfe führen könne, denn es habe sich zunächst für die auf der Triade beruhende Methode entschieden und erst nach dem Abschluss der nationalen öffentlichen Konsultation seine Meinung geändert.
197 Die Änderung der Methode zur Kostendeckung sei von den vertikal integrierten Anbietern, die von der Änderung profitiert hätten, ausdrücklich gewünscht worden. Einen Monat vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, und zwar am 26. Juni 2014, habe das Office of Gas and Electricity Management (Ofgem, Amt für Gas- und Stromverwaltung, Vereinigtes Königreich) entschieden, die Competition and Markets Authority (Wettbewerbs- und Marktbehörde, Vereinigtes Königreich) förmlich zu ersuchen, eine Studie zur Marktsituation bei der Versorgung von Privatpersonen und kleinen Unternehmen mit Strom und Gas durchzuführen, u. a. wegen der Besorgnis angesichts der starken Stellung vertikal integrierter Anbieter, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu einem Markt, auf dem der Wettbewerb bereits schwach ist (Anhang E3 der Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz, Abs. 3.16 bis 3.18, und Anhang E4 der Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz, Abs. 1.39).
198 Die Kommission macht geltend, die Methode zur Kostendeckung sei dem finanziellen Teil des Kapazitätsmarkts zuzurechnen, der für die Beurteilung der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme nicht, zumindest nicht unmittelbar, maßgeblich sei. Die vorliegend verwendete Methode zur Kostendeckung sei ein Kompromiss zwischen dem Interesse an der Beibehaltung von Anreizen zur Verbrauchssenkung und dem Interesse an der Verringerung der Unsicherheit von Stromlieferanten im Hinblick auf die von ihnen zu tragenden Kosten, und die im angefochtenen Beschluss enthaltene Analyse stütze sich auf die in Beantwortung des Schreibens von UKDRA abgegebenen Erläuterungen der Regierung des Vereinigten Königreichs in der Anmeldung. Diese Methode zur Kostendeckung komme DSR-Anbietern zugute und enthalte jedenfalls eine zusätzliche Ebene der Abrechnung von Spitzennachfragezeiten, was bei anderen Methoden wie z. B. der Pauschalabrechnung oder allgemeinen Besteuerung nicht der Fall sei. Das Vereinigte Königreich erklärt, es habe die Teilnehmer im Rahmen der nationalen öffentlichen Konsultation ausdrücklich nach Alternativen zu der auf der Triade beruhenden Methode zur Kostendeckung befragt.
199 Insoweit sehen die Leitlinien vor, dass eine Beihilfemaßnahme nur dann als angemessen betrachtet wird, wenn ihr Betrag auf das zur Verwirklichung des festgelegten Ziels erforderliche Minimum beschränkt ist (Rn. 27 Buchst. e und Rn. 69 der Leitlinien). Darüber hinaus sollten Beihilfemaßnahmen zur Gewährleistung einer angemessenen Stromerzeugung durch ihre Ausgestaltung sicherstellen, dass der Preis für die Verfügbarkeit von Erzeugungskapazität automatisch gegen Null geht, wenn davon auszugehen ist, dass die bereitgestellte Kapazität den Kapazitätsbedarf decken kann (Rn. 231 der Leitlinien).
200 Vorliegend besteht die in der fraglichen Maßnahme festgelegte Methode zur Deckung der mit der Finanzierung der Kapazitätsverträge verbundenen Kosten in einer Abgabe, die auf alle zugelassenen Stromversorger angewandt wird und deren Betrag sich auf der Grundlage ihres Marktanteils an der Stromnachfrage errechnet, die zwischen 16 und 19 Uhr an Wochentagen von November bis Februar verzeichnet wird (69. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
201 Die Kommission hat die in der fraglichen Maßnahme festgelegte Methode zur Kostendeckung im angefochtenen Beschluss bestätigt. Sie stellte insoweit fest, dass diese Methode einen Anreiz zur Senkung der Stromnachfrage in Spitzenzeiten darstelle und für Stromversorger berechenbar sei (129. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
202 Folglich ist zu prüfen, ob die Kommission die in der fraglichen Maßnahme festgelegte Methode zur Kostendeckung bestätigen konnte, ohne ein förmliches Prüfverfahren zu eröffnen, oder ob die Methode der Kommission Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt hätte geben sollen.
203 Insoweit ist als Erstes entgegen dem Vorbringen der Kommission festzustellen, dass die Methode zur Kostendeckung relevant ist, um die Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem Binnenmarkt und insbesondere ihre Angemessenheit zu beurteilen.
204 Erstens hängt nämlich der Betrag der Beihilfe von dem Kapazitätsvolumen, das über den Kapazitätsmarkt eingekauft wird, und vom Schlusspreis der Auktionen ab. Zum einen wird jedoch das vom Vereinigten Königreich zu versteigernde Kapazitätsvolumen durch eine Schätzung der Stromnachfrage sowie der verfügbaren Kapazitäten und durch Anwendung eines Zuverlässigkeitsstandards festgelegt, mit dem die gewünschte Deckung des Kapazitätsbedarfs in Spitzenzeiten erreicht werden soll (32. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Das notwendige Kapazitätsvolumen ist somit unmittelbar an die Strommenge geknüpft, die in Spitzenzeiten verbraucht wird. Je niedriger die Spitzennachfrage ist, desto weniger besteht für das Vereinigte Königreich die Notwendigkeit, Kapazitäten einzukaufen, um das zur Sicherstellung der Stromversorgung gewünschte Niveau zu erreichen. Zum anderen kann eine Reduzierung des zu versteigernden Kapazitätsvolumens auch zu einer Senkung des Schlusspreises führen, soweit dies zur Folge hat, dass eine größere Anzahl von Kapazitätsanbietern um das gleiche Kapazitätsvolumen konkurriert. Wie das Vereinigte Königreich nämlich in seiner Anmeldung anerkennt, führt ein stärkerer Wettbewerb zu einer Senkung des Schlusspreises (Nr. 2, „Box 2 – When will it be possible to withdraw the Capacity Market?“ der Anmeldung). Zudem wird in der Anmeldung anerkannt, dass eine Senkung des Stromverbrauchs in Spitzennachfragezeiten zu gegebener Zeit zu einem Ausstieg aus dem Kapazitätsmarkt führt (vgl. Abb. 8 und 9 auf S. 47 der Anmeldung, denen zufolge das „missing money“-Problem mit zunehmender Entwicklung von DSR in den Hintergrund tritt).
205 Zweitens hat das Vereinigte Königreich anerkannt, dass die Methode zur Deckung der Kosten des Kapazitätsmarkts die Menge der zu versteigernden Kapazitäten beeinflusst. Insoweit macht das Vereinigte Königreich geltend, dass die Verknüpfung der Abgabe zur Finanzierung der Kosten des Kapazitätsmarkts mit dem Stromverbrauch während Spitzennachfragezeiten einen eindeutigen Anreiz für die Beteiligten darstelle, ihren Verbrauch in den Spitzenzeiten zu senken, wodurch sich das Kapazitätsvolumen verringere, das zum Erreichen des gewünschten Niveaus der Versorgungssicherheit erforderlich sei, und somit auch die Kosten der Verbraucher gesenkt würden (Rn. 624 des in der öffentlichen Konsultation vorgelegten Entwurfs eines Kapazitätsmarkts).
206 Als Zweites geht aus der Anmeldung hervor, dass das Vereinigte Königreich die Methode zur Deckung der Kosten nach der öffentlichen Konsultation geändert hat. Es war nämlich zuerst geplant, den Betrag der Abgabe auf der Grundlage des Marktanteils zu berechnen, den die Stromanbieter an der in den „Triade“ genannten Zeiträumen verzeichneten Stromnachfrage haben, d. h. auf der Grundlage der drei Halbstundenzeiträume, in denen im Vereinigten Königreich im Zeitraum November bis Februar der höchste Stromverbrauch des Jahres registriert wird (Rn. 521 und 522 der Anmeldung). Erst nach der öffentlichen Konsultation hat das Vereinigte Königreich die Methode zur Kostendeckung geändert und die oben in Rn. 200 beschriebene Methode festgelegt, d. h. eine Methode zur Kostendeckung, die auf dem Stromverbrauch zwischen 16 und 19 Uhr an jedem Wochentag im Winter beruht.
207 Als Drittes ist festzustellen, dass die Kommission den Standpunkt des Vereinigten Königreichs bestätigt hat, ohne die Auswirkungen zu prüfen, die diese Änderung auf den Gesamtbetrag der Beihilfe und somit auf die Angemessenheit der fraglichen Maßnahme hatte.
208 In ihrem Schreiben vom 9. Juni 2014 hat die UKDRA der Kommission ihre Besorgnis im Hinblick auf die Änderung der Methode zur Kostendeckung mitgeteilt. Zum einen machte UKDRA geltend, die Methode führe zu einer Aufweichung des Preissignals, das den Verbrauchern in Spitzennachfragezeiten übermittelt werden müsse, damit sie ihren Verbrauch senkten. Zum anderen wurde die Kommission auch darauf aufmerksam gemacht, dass Privatverbraucher nach vorab festgelegten Profilen klassifiziert würden und die Kosten des Kapazitätsmarkts nicht durch eine Änderung ihres Verbrauchs zwischen 16 und 19 Uhr vermeiden könnten.
209 Zwar hat die Kommission das Vereinigte Königreich nach Erhalt des Schreibens der UKDRA vom 9. Juni 2014 um eine Reaktion gebeten. Die Kommission hat sich jedoch damit zufriedengegeben, die Antwort des Vereinigten Königreichs zur Kenntnis zu nehmen, die sich auf das Vorbringen beschränkte, die letztlich festgelegte Methode zur Kostendeckung enthalte weiterhin einen Anreiz zur Senkung des Stromverbrauchs in Spitzenzeiten und sei für Stromversorger berechenbarer (129. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Das Vereinigte Königreich erklärte insbesondere, da die Triadenzeiträume im Nachhinein bestimmt würden, entstehe, wenn man sie als Referenzzeiträume für die Berechnung der Abgabe verwende, eine Unsicherheit bei den Anbietern im Hinblick auf die Höhe des von ihnen zu leistenden Beitrags zur Finanzierung des Systems, was sie dazu verleiten könne, von den Verbrauchern höhere Preise zu verlangen. Die Festlegung eines im Voraus bestimmten und vorhersehbaren Zeitraums als Referenz für die Berechnung der Abgabe solle auch die Entwicklung eines Tarifsystems auf der Grundlage nutzungszeitspezifischer Tarife fördern, was Privatverbrauchern zugutekommen müsse, da sie dadurch handlungsfähig würden und ihren Verbrauch zwischen 16 und 19 Uhr an Wochentagen in den Wintermonaten senken könnten (Rn. 522 der Anmeldung).
210 Trotz Anerkennung des Umstands, dass sich die Methode zur Kostendeckung auf das Volumen der auf dem Kapazitätsmarkt zu beschaffenden Kapazitäten auswirkt, geht jedoch aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass die Kommission nicht geprüft hat, ob die neue Methode zur Kostendeckung tatsächlich einen gleichwertigen Anreiz zur Senkung des Stromverbrauchs in Spitzennachfragezeiten aufrechterhielt, u. a. durch Förderung der Entwicklung von DSR.
211 Die Kommission hat auch nicht geprüft, ob die festgelegte Methode zur Kostendeckung den Zugang zum Markt beeinträchtigte, u. a. für DSR-Anbieter, insbesondere indem die Hürden für den Eintritt und die Expansion auf dem Markt angehoben wurden, die auf der starken Stellung der vertikal integrierten Anbieter beruhten. Eine Beihilfemaßnahme kann auch zu Wettbewerbsverzerrungen führen, indem eine signifikante Marktmacht des Begünstigten gestärkt oder aufrechterhalten wird. Selbst wenn Beihilfen eine erhebliche Marktmacht nicht direkt stärken, kann dies indirekt erfolgen, indem die Expansion eines Wettbewerbers erschwert, ein Wettbewerber vom Markt verdrängt oder der Markteintritt eines potenziellen neuen Wettbewerbers blockiert wird (Rn. 92 der Leitlinien).
212 Was das Vorbringen des Vereinigten Königreichs betrifft, die zunächst vorgeschlagene Methode könne die Stromanbieter dazu verleiten, eine höhere Prämie von den Endverbrauchern zu verlangen, hat die Kommission nicht dargelegt, inwieweit sich diese Gefahr auf den Gesamtbetrag der Beihilfe auswirken könnte. Zudem hat die Kommission nicht geprüft, ob eine solche Prämie für die Verbraucher durch die Möglichkeit ausgeglichen werden könnte, das auf dem Kapazitätsmarkt zu beschaffende Kapazitätsvolumen und sogar den Schlusspreis aus den oben in den Rn. 204 und 205 dargelegten Gründen zu senken.
213 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission verpflichtet war, die etwaige Auswirkung der Änderung der Methode zur Kostendeckung auf die Angemessenheit der fraglichen Maßnahme und somit ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt zu prüfen. Somit war der Umstand, dass die Kommission im Hinblick auf die Auswirkungen der Änderung der Methode zur Kostendeckung im Rahmen der vorläufigen Prüfung nicht über vollständige Informationen verfügte, ein zusätzlicher Anhaltspunkt für das Bestehen von Bedenken.
3) Zu den Bedingungen der Teilnahme am Kapazitätsmarkt
214 Tempus macht im Wesentlichen geltend, die Kommission habe insoweit Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt haben müssen, als die Maßnahme aufgrund der für DSR-Anbieter geltenden Teilnahmebedingungen des Kapazitätsmarkts, die ihre Teilnahme erschwerten, gegen die Leitlinien und insbesondere die Verpflichtung verstoße, DSR-Teilnehmer zu fördern und ihnen angemessene Anreize zu geben.
215 Erstens verleite das Zusammenspiel zwischen den Übergangsauktionen und den dauerhaften Auktionen die DSR-Anbieter zur Teilnahme an den Übergangsauktionen, da ihre Teilnahmebedingungen günstiger seien, was de facto zu einem Ausschluss der DSR-Anbieter von den ersten T‑4-Auktionen führe. Statt die Teilnahme der DSR-Anbieter am Kapazitätsmarkt zu fördern, indem ihnen eine zusätzliche Gelegenheit zur Einreichung von Geboten eingeräumt werde, hätten die Übergangsauktionen in Wirklichkeit zur Folge, dass die Teilnahme der DSR-Anbieter an den dauerhaften Auktionen beschränkt werde.
216 Zweitens benachteilige die fragliche Maßnahme die DSR-Anbieter, da alle Teilnehmer des Kapazitätsmarkts verpflichtet seien, unbefristete Kapazitätsereignisse zu garantieren, obwohl die Mehrzahl der Kapazitätsereignisse zeitlich begrenzt sei. Insoweit trage die fragliche Maßnahme den Besonderheiten der DSR-Anbieter nicht ausreichend Rechnung und schrecke sie davon ab, am Kapazitätsmarkt teilzunehmen.
217 Drittens könne es, da der DSR-Sektor noch in seinen Kinderschuhen stecke, für den Markteintritt von DSR-Anbietern problematisch sein, wenn alle Teilnehmer des Kapazitätsmarkts die gleiche Bietungsgarantie erbringen müssten. Das Problem verschlimmere sich durch die Verpflichtung, ein Angebot für die Deckung unbefristeter Kapazitätsereignisse einzureichen. Zudem habe das Vereinigte Königreich ursprünglich vorgesehen, von neuen DSR-Anbietern eine Bietungsgarantie zu verlangen, die unter der Bietungsgarantie neuer Erzeuger liege. Folglich schrecke die fragliche Maßnahme DSR-Anbieter von einer Teilnahme am Kapazitätsmarkt ab.
218 In Erwiderung auf das Vorbringen der Kommission in der Klagebeantwortung, wonach die Festlegung der Mindestgrenze von 2 MW für die Teilnahme an den dauerhaften Auktionen niedrig sei und die Förderung der Teilnahme von DSR-Anbietern ermögliche, macht Tempus viertens geltend, dieser Grenzwert sei in Wirklichkeit ziemlich hoch, u. a. im Hinblick auf den Grenzwert, der in den amerikanischen Beispielen für Kapazitätsmärkte festgelegt worden sei, und er verstärke die Probleme, die mit dem Betrag der Bietungsgarantie verbunden seien.
219 Die Kommission, unterstützt durch das Vereinigte Königreich, macht erstens geltend, die fragliche Maßnahme verlange von DSR-Anbietern nicht, sich zwischen Übergangsauktionen und dauerhaften Auktionen zu entscheiden, sondern eröffne vielmehr DSR-Anbietern, die nicht an den ersten T‑4-Auktionen hätten teilnehmen können oder erfolglos an ihnen teilgenommen hätten, eine zusätzliche Chance, um das Wachstum des DSR-Sektors zu fördern. Da die Übergangsauktionen nicht dazu dienten, DSR-Anbieter, die erfolgreich aus den dauerhaften Auktionen hervorgehen könnten, zusätzlich zu fördern, sei es gerechtfertigt, DSR-Anbieter, die erfolgreich an den dauerhaften Auktionen teilgenommen hätten, von den Übergangsauktionen auszuschließen.
220 Die Kommission macht zweitens geltend, im Licht des Ziels der fraglichen Maßnahme, d. h. der Sicherstellung der Versorgung unabhängig von der tatsächlichen Dauer eines einzelnen Stressereignisses im Netz, sei der Umstand, dass keine Gebote für befristete Kapazitätsereignisse eingereicht werden könnten, nicht als Diskriminierung von DSR-Anbietern anzusehen, da andernfalls, wenn eine solche Möglichkeit bestünde, die Zuverlässigkeit von DSR-Anbietern gegenüber anderen Kapazitätsanbietern begrenzt wäre, die Komplexität der Auktionen zunähme und das Vereinigte Königreich gezwungen sein könnte, mehr Kapazitäten zu beschaffen. Das Vereinigte Königreich erklärt, dass die Möglichkeit, Gebote für befristete Kapazitätsereignisse einzureichen, zwar für den DSR-Sektor hilfreich sein könne, da sie ihm besser vertraut sei und DSR-Anbieter dazu genauere Angebote erstellen könnten, doch sei sie für die dauerhaften Auktionen nicht gerechtfertigt, da die Gefahr bestehe, das angestrebte Ziel zu verfehlen oder höhere Kosten zu verursachen.
221 Die Kommission macht drittens geltend, dass die Bedingungen der Bietungsgarantie angemessen seien. Die Bietungsgarantie solle die Seriosität der Teilnahme neuer Anbieter beweisen und sie dazu anregen, die Kapazitäten bereitzustellen, die für das Ziel der Versorgungssicherheit notwendig seien. Im Lauf des Verwaltungsverfahrens sei in diesem Zusammenhang keine Diskriminierung beanstandet worden. Der Unterschied zwischen den Beträgen der Bietungsgarantie für a) die dauerhafte Regelung und b) die Übergangsregelung sei dem Umstand geschuldet, dass die Übergangsregelung speziell im Hinblick auf die Förderung neuer DSR-Anbieter ausgestaltet worden sei. Das Vereinigte Königreich weist darauf hin, dass die Mehrzahl der Rückmeldungen im Rahmen der öffentlichen Konsultation die Aufnahme des Erfordernisses einer Bietungsgarantie für DSR-Anbieter befürwortet habe und die vorgeschlagene Höhe für angemessen gehalten habe.
222 In ihrer Gegenerwiderung macht die Kommission geltend, das Vorbringen von Tempus zur Mindestgrenze von 2 MW sei unzulässig, da es erst im Stadium der Erwiderung erhoben worden sei. Außerdem sei die Mindestgrenze von 2 MW niedrig.
223 Insoweit sehen die Leitlinien in Rn. 226 vor, dass sich die Maßnahme sowohl an etablierte als auch künftige Erzeuger sowie an Betreiber, die substituierbare Technologien (z. B. Laststeuerung oder Speicherlösungen) einsetzen, richten und für diese angemessene Anreize vorsehen sollte.
224 In der vorliegenden Rechtssache ist zunächst festzustellen, dass die fragliche Maßnahme der Anmeldung zufolge mehrere Maßnahmen enthält, die die Entwicklung von DSR fördern sollen
225 In der Anmeldung wird erstens darauf hingewiesen, dass die Durchführung der Übergangsauktionen ausdrücklich darauf gerichtet sei, das Wachstum von DSR zu fördern und DSR-Anbietern die bestmögliche Chance einzuräumen, im Anschluss erfolgreich an der dauerhaften Regelung teilzunehmen. Abgesehen von ihrer Existenz verfügen die Übergangsauktionen über bestimmte Merkmale, die die Entwicklung von DSR fördern sollen. So ist die Bietungsgarantie für die Teilnahme an den Übergangsauktionen auf 10 % des Betrags begrenzt, der für die Teilnahme an den dauerhaften Auktionen verlangt wird. Zudem besteht bei den Übergangsauktionen die Möglichkeit, Gebote zur Deckung befristeter Kapazitätsereignisse einzureichen, während die dauerhaften Auktionen von den Teilnehmern verlangen, dass sie sich verpflichten, unbefristete Kapazitätsereignisse zu decken (Rn. 222 und 223 der Anmeldung).
226 Zweitens geht aus der Anmeldung hervor, dass die Entwicklung von DSR durch das Abhalten von T‑1-Auktionen und insbesondere durch die Garantie gefördert wird, dass sich das Vereinigte Königreich auf diesem Weg mindestens 50 % des ursprünglich für diese Auktionen reservierten Kapazitätsvolumens beschaffen werde, unabhängig davon, wie sich der Kapazitätsbedarf zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die T‑4-Auktionen durchgeführt werden, und dem Zeitpunkt der Durchführung der T‑1-Auktionen entwickelt (Rn. 224 bis 226 der Anmeldung).
227 Drittens ist der Anmeldung zu entnehmen, dass die Entwicklung von DSR auch durch bestimmte Bedingungen der Teilnahme an den dauerhaften Auktionen gefördert wird. Es handelt sich dabei insbesondere um die Festsetzung der Mindestgrenze von 2 MW, die Aggregierungsmodalitäten und die Möglichkeit für DSR-Anbieter, den Schlusspreis zu beeinflussen (Rn. 224 der Anmeldung).
228 Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission den Standpunkt des Vereinigten Königreichs bestätigt. Sie hat insoweit im 131. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausdrücklich festgestellt, dass die fragliche Maßnahme die Entwicklung von DSR fördere und Maßnahmen beinhalte, die speziell dazu bestimmt seien, diesen noch in den Kinderschuhen steckenden Sektor in seiner Entwicklung zu unterstützen. Dem angefochtenen Beschluss zufolge zählt dazu u. a. der Umstand, dass die Übergangsauktionen den DSR-Anbietern „vorbehalten“ sind und speziell so ausgestaltet wurden, dass sie die Entwicklung von DSR fördern, indem sie DSR-Anbieter unterstützen, die noch nicht so weit entwickelt sind, dass sie im Rahmen der dauerhaften Auktionen konkurrenzfähig sein können (Erwägungsgründe 51 und 107 des angefochtenen Beschlusses). Ebenso zählt dazu die Garantie, dass die T‑1-Auktionen, die für DSR-Anbieter „einen besseren Zugang zum Markt“ als T‑4-Auktionen eröffnen, durchgeführt werden und sich das Vereinigte Königreich „verpflichtet“, mindestens 50 % des für diese Auktionen reservierten Volumens zu versteigern, wobei es langfristig eine gewisse Flexibilität beibehält (46. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
229 Folglich ist zu prüfen, ob die Kommission die fragliche Maßnahme als Maßnahme, die angemessene Anreize für DSR enthält, bestätigen konnte, ohne ein förmliches Prüfverfahren zu eröffnen, oder ob die Methode der Kommission Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt hätte geben sollen.
i) Übergangsauktionen
230 Tempus macht im Wesentlichen geltend, aufgrund der günstigeren Teilnahmebedingungen würden DSR-Anbieter die Teilnahme an den Übergangsauktionen bevorzugen. Dies führe de facto dazu, dass DSR-Anbieter von den ersten T‑4-Auktionen ausgeschlossen würden. Die Folge sei eine Abriegelung des Markts, da bei diesen Auktionen langfristige Kapazitätsverträge mit den Erzeugern abgeschlossen würden.
231 Insoweit ist erstens festzustellen, dass die fragliche Maßnahme DSR-Anbieter nicht von den dauerhaften T‑4- und T‑1-Auktionen ausschließt, sofern sie die festgelegten Teilnahmebedingungen erfüllen.
232 Zweitens ist entgegen dem Vorbringen von Tempus festzustellen, dass sich die Teilnahme an den Übergangsauktionen und die Teilnahme an den dauerhaften Auktionen nicht wirklich gegenseitig ausschließen. Zum einen ist DSR-Anbietern, deren Gebote bei den ersten T‑4-Auktionen nicht berücksichtigt wurden, eine Teilnahme an den Übergangsauktionen weiterhin möglich. Zum anderen haben DSR-Anbieter, die bei den Übergangsauktionen ein erfolgreiches Gebot abgegeben haben, weiterhin die Möglichkeit, anschließend an den dauerhaften T‑4- und T‑1-Auktionen teilzunehmen. Die fragliche Maßnahme zwingt DSR-Anbieter somit nicht dazu, sich zwischen einer Teilnahme an den Übergangsauktionen und einer Teilnahme an den dauerhaften Auktionen zu entscheiden.
233 Zwar sind DSR-Anbieter, die bei den ersten T‑4-Auktionen einen Kapazitätsvertrag erhalten haben, nicht für eine Teilnahme an den Übergangsauktionen zugelassen. Entgegen dem Vorbringen von Tempus führt diese Einschränkung jedoch nicht dazu, dass DSR-Anbieter von den ersten T‑4-Auktionen ausgeschlossen sind. Die Übergangsauktionen dienen nämlich nur dazu, die Weiterentwicklung von DSR-Anbietern zu unterstützen, die noch nicht genügend ausgereift sind, um erfolgreich an den ersten dauerhaften Auktionen teilzunehmen, und ihnen die zusätzliche Möglichkeit einzuräumen, Kapazitätszahlungen schon ab 2015 und 2016 zu erhalten, um bei den anschließenden dauerhaften Auktionen wettbewerbsfähiger zu sein. Wie die Kommission insoweit zu Recht geltend macht, schließt der Umstand, dass sich der DSR-Sektor noch in seinen Anfängen befindet, nicht aus, dass bestimmte DSR-Anbieter bereits genügend ausgereift sind, um bei den dauerhaften Auktionen im Rahmen der ersten T‑4-Auktionen ein konkurrenzfähiges Angebot einzureichen.
234 Was drittens die Gefahr der Marktabriegelung aufgrund der geringeren Teilnahme von DSR-Anbietern an den ersten T‑4-Auktionen und der zu hohen Anzahl anschließend abgeschlossener langfristiger Kapazitätsverträge mit Erzeugern betrifft, wird dieses Vorbringen gemeinsam mit dem Vorbringen zum Zusammenspiel zwischen den T‑4- und den T‑1-Auktionen geprüft werden. Die von Tempus geltend gemachte Gefahr einer Marktabriegelung setzt nämlich voraus, dass das Volumen der für die T‑1-Auktionen reservierten Kapazitäten keine Entwicklung des DSR-Sektors ermöglicht.
235 Das Zusammenspiel zwischen den Übergangsauktionen und den dauerhaften Auktionen führt nicht dazu, dass DSR-Anbieter von den dauerhaften Auktionen ausgeschlossen sind.
236 Die Übergangsauktionen sind jedoch – per definitionem – nicht Teil der dauerhaften Regelung. Zudem ist, entgegen den Feststellungen der Kommission in Rn. 51 des angefochtenen Beschlusses, der Akte zu entnehmen, dass die Übergangsauktionen nicht nur DSR-Anbietern vorbehalten sind, sondern auch kleinen Erzeugereinheiten offenstehen, wie dies aus Regulation 29 der Electricity Capacity Regulations 2014 hervorgeht. Unter diesen Umständen ist auch zu prüfen, ob die dauerhaften Auktionen angemessene Anreize für DSR-Anbieter enthalten.
ii) T‑1-Auktionen und ihr Zusammenspiel mit T‑4-Auktionen
237 Tempus macht im Wesentlichen geltend, die dauerhaften Auktionen enthielten keine angemessenen Anreize für DSR-Anbieter, da sich T‑4-Auktionen nicht an den Vorlaufzeiten von DSR-Anbietern orientierten und das für T‑1-Auktionen reservierte Kapazitätsvolumen begrenzt sei.
238 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass T‑1-Auktionen für DSR-Anbieter besonders wichtig sind.
239 Zwischen den Parteien steht nämlich fest, dass T‑1-Auktionen aufgrund der Vorlaufzeiten von DSR-Anbietern besser an Letzteren ausgerichtet werden können als T‑4-Auktionen. Dem angefochtenen Beschluss zufolge eröffnen T‑1-Auktionen DSR-Anbietern „einen besseren Zugang zum Markt“ (46. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). In der Klageschrift vertritt Tempus die Auffassung, es könne für DSR-Anbieter schwierig sein, an T‑4-Auktionen teilzunehmen, da diese Auktionen erforderten, sofort Gebote abzugeben und Investitionen zu tätigen, um vier Jahre später Kapazitäten zu liefern und auch erst vier Jahre später Zahlungen zu erhalten.
240 Die Berechnung des Volumens der für die T‑1-Auktionen reservierten Kapazitäten erfolgt in der fraglichen Maßnahme auf der Grundlage einer Schätzung der rentablen DSR, die an den Auktionen teilnehmen könnte (45. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
241 Erstens ist jedoch festzustellen, dass das für die T‑1-Auktionen reservierte Kapazitätsvolumen gegenüber dem bei den T‑4-Auktionen zu versteigernden Kapazitätsvolumen beschränkt ist. Zudem sind die T‑1-Auktionen keineswegs nur den DSR-Anbietern vorbehalten, und daher kann ein Teil des bei T‑1-Auktionen zu versteigernden Kapazitätsvolumens anderen Kapazitätslieferanten als DSR-Anbietern zugeteilt werden.
242 Zweitens gibt es, entgegen den Feststellungen der Kommission in Rn. 46 des angefochtenen Beschlusses, der Akte zufolge keine Garantie dafür, dass das Vereinigte Königreich T‑1-Auktionen organisiert, wenn T‑4-Auktionen durchgeführt werden, oder dass es sich auf diesem Weg mindestens 50 % des ursprünglich für die T‑1-Auktionen reservierten Volumens beschafft. Insoweit sehen die Regulation 7(4)(b) in Verbindung mit den Regulations 10 und 26 der Electricity Capacity Regulations 2014 zwar vor, dass der Minister beschließen kann, dass eine T‑1-Auktion nicht durchgeführt wird, doch enthalten die Vorschriften keine Regelung zur Verpflichtung, mindestens 50 % des ursprünglich für die T‑1-Auktionen reservierten Volumens zu versteigern. In der mündlichen Verhandlung waren die Vertreter der Kommission und des Vereinigten Königreichs auf Fragen des Gerichts ebenfalls nicht in der Lage, die Rechtsvorschrift zu benennen, die das Bestehen einer solchen Garantie jenseits politischer Absichtserklärungen des Vereinigten Königreichs bestätigt.
243 Nach alledem ist festzustellen, dass die Durchführung der T‑1-Auktionen zwar tatsächlich die Entwicklung von DSR fördern kann, die Kommission vorliegend jedoch Bedenken hinsichtlich des Ausmaßes dieser Anreizwirkung hätte haben müssen, da das Volumen der für die T‑1-Auktionen reservierten Kapazität begrenzt war und es an einer ausdrücklichen rechtlichen Bestimmung fehlte, die die Garantie des Vereinigten Königreichs bestätigte, sich mindestens 50 % des für diese Auktionen reservierten Volumens zu beschaffen.
iii) Teilnahmebedingungen für die dauerhaften Auktionen
244 Tempus macht im Wesentlichen geltend, die Teilnahmebedingungen der dauerhaften Auktionen ließen keine angemessenen Anreize für DSR-Anbieter zu. In der Praxis sei es angesichts bestimmter Teilnahmebedingungen wenig wahrscheinlich, dass DSR-Anbieter an T‑4-Auktionen teilnehmen könnten. Tempus stützt sich u. a. darauf, dass DSR-Anbieter keine Gebote zur Deckung zeitlich befristeter Kapazitätsereignisse einreichen könnten, sowie auf die Höhe der Bietungsgarantie.
245 Was als Erstes die Dauer der Kapazitätsereignisse betrifft, macht Tempus geltend, die fragliche Maßnahme diskriminiere DSR-Anbieter, da alle Teilnehmer an den dauerhaften Auktionen gleichbehandelt würden und alle, einschließlich DSR-Anbietern, verpflichtet seien, Gebote für unbefristete Kapazitätsereignisse einzureichen.
246 Insoweit hat das Vereinigte Königreich, wie Tempus hervorhebt, für die dauerhafte Regelung die Entscheidung getroffen, dass von allen Anbietern verlangt wird, auf unbefristete Kapazitätsereignisse reagieren zu können. Was dagegen Übergangsauktionen betrifft, sieht Regulation 29(3) der Electricity Capacity Regulations 2014 vor, dass DSR-Anbieter die Wahl haben, entweder ein Gebot für befristete oder ein Gebot für unbefristete Kapazitätsereignisse einzureichen. Wie zudem das Vereinigte Königreich in seinen Schriftsätzen vor dem Gericht anerkennt, sind befristete Verpflichtungen den DSR-Anbietern vertrauter und hilfreich bei der genauen Quantifizierung ihrer Risikoexposition, so dass im Rahmen der dauerhaften Regelung präzisere Gebote erstellt werden können.
247 Die Kommission macht jedoch zu Recht geltend, dass Gebote, die auf die Abdeckung befristeter Kapazitätsereignisse beschränkt sind, im Gegensatz zu Geboten, die unbefristete Kapazitätsereignisse abdecken, ein geringeres Ausmaß an Versorgungssicherheit gewährleisten und es somit schwieriger ist, mit ihnen das erwünschte Ausmaß an Versorgungssicherheit zu erreichen. Der Umstand, dass alle Kapazitätsanbieter verpflichtet sind, unbefristete Kapazitätsereignisse abzudecken, wodurch DSR-Anbietern das Ausfallrisiko im Fall anhaltender Kapazitätsereignisse auferlegt wird, ist somit nicht geeignet, Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme zu geben, soweit die Maßnahme die für jede Technologie spezifischen Finanzbedürfnisse berücksichtigt, um allen Kapazitätsanbietern eine tatsächliche Teilnahme am Kapazitätsmarkt zu ermöglichen. Wie oben in den Rn. 182 bis 192 dargelegt, scheint die Kommission jedoch nicht geprüft zu haben, ob die fragliche Maßnahme den Finanzierungsbedarf von DSR-Anbietern berücksichtigt.
248 Was als Zweites die Bietungsgarantie betrifft, macht Tempus geltend, es könne, da der DSR-Sektor noch in seinen Kinderschuhen stecke, für den Markteintritt von DSR-Anbietern problematisch sein, wenn alle Teilnehmer des Kapazitätsmarkts die gleiche Bietungsgarantie erbringen müssten.
249 Insoweit ist erstens festzustellen, dass das Vereinigte Königreich anerkannt hat, dass die Bietungsgarantie ein Hindernis für den Markteintritt neuer DSR-Anbieter darstellen kann. Der Akte ist nämlich zu entnehmen, dass das Vereinigte Königreich ursprünglich geplant hatte, den Betrag der Bietungsgarantie für nicht bestätigte DSR-CMU zu senken, damit die Bietungsgarantie kein Hindernis für den Markteintritt neuer DSR-Anbieter darstellt (Rn. 565 des in der öffentlichen Konsultation vorgelegten Entwurfs eines Kapazitätsmarkts). Ebenso hatten einige DSR-Anbieter im Rahmen der öffentlichen Konsultation erklärt, dass der Betrag der Bietungsgarantie ein Hindernis für den Markteintritt neuer DSR-Anbieter darstelle. Der Betrag der Bietungsgarantie konnte insbesondere deshalb ein Hindernis für den Markteintritt neuer DSR-Anbieter darstellen, weil sich alle Teilnehmer am Kapazitätsmarkt verpflichten mussten, unbefristete Kapazitätsereignisse abzudecken, obwohl es für DSR-Anbieter schwieriger als für Erzeuger sein konnte, ein anhaltendes Kapazitätsereignis abzudecken. Da für DSR-Anbieter das potenzielle Risiko besteht, dass sie als ausfallgefährdeter angesehen werden, könnten sie größere Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Betrags der Bietungsgarantie haben.
250 Zweitens ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich nach den Stellungnahmen der Erzeuger und Verteilernetzbetreiber im Rahmen der öffentlichen Konsultation beschlossen hat, in der fraglichen Maßnahme die Bietungsgarantie, die den nicht bestätigten DSR‑CMU auferlegt wurde, an die Bietungsgarantie anzupassen, die von neuen, noch nicht einsatzfähigen Erzeuger-CMU verlangt wurde. Somit ist die fragliche Maßnahme für DSR-Anbieter weniger günstig als das System, das ursprünglich geplant war, um den Finanzierungsschwierigkeiten von DSR-Anbietern Rechnung zu tragen.
251 Wie die Kommission jedoch in der Klagebeantwortung geltend macht, sieht die fragliche Maßnahme vor, dass die Bietungsgarantie künftig nur im Verhältnis zu dem von den DSR-Anbietern tatsächlich nicht gelieferten Kapazitätsvolumen verfällt, sofern die DSR-Anbieter mindestens 90 % des Kapazitätsvolumens liefern, zu dem sie sich verpflichtet haben. Dagegen hatte das Vereinigte Königreich ursprünglich geplant, dass die Bietungsgarantie im Fall eines Lieferausfalls vollständig verfällt. Die fragliche Maßnahme enthält somit eine Maßnahme, die speziell darauf ausgerichtet ist, DSR-Anbietern den Verlust des Vorteils auszugleichen, der aus der Senkung des Betrags der Bietungsgarantie infolge der Anpassung des Bietungsgarantiebetrags der nicht bestätigten DSR-CMU an den Bietungsgarantiebetrag der neuen Erzeuger-CMU besteht.
252 Angesichts des Ziels, das mit der Verpflichtung zur Abgabe einer Bietungsgarantie verfolgt wird, reicht die Anpassung des Bietungsgarantiebetrags nicht bestätigter DSR-CMU an den Bietungsgarantiebetrag neuer Erzeuger-CMU für sich genommen nicht aus, um Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme zu geben, soweit die Maßnahme die für jede Technologie spezifischen Finanzbedürfnisse berücksichtigt, um allen Kapazitätsanbietern eine tatsächliche Teilnahme am Kapazitätsmarkt zu ermöglichen. Wie oben in den Rn. 182 bis 192 dargelegt, scheint die Kommission jedoch nicht geprüft zu haben, ob die fragliche Maßnahme den Finanzierungsbedarf von DSR-Anbietern berücksichtigt.
253 Als Drittes macht Tempus zum Vorbringen der Kommission in der Klagebeantwortung geltend, die Festsetzung der Mindestgrenze von 2 MW für die Teilnahme sei ein Hindernis für die Teilnahme der DSR-Anbieter am Kapazitätsmarkt.
254 Vorab ist festzustellen, dass das von Tempus zur Mindestgrenze vorgetragene Argument an das Vorbringen in der Klageschrift zur Diskriminierung oder Benachteiligung von DSR-Anbietern auf dem Kapazitätsmarkt anknüpft, wie Tempus in der mündlichen Verhandlung erklärt hat. Das Argument wurde zudem in Erwiderung auf das Vorbringen der Kommission in der Klagebeantwortung geltend gemacht, in der die Kommission die Auffassung vertreten hat, die Mindestgrenze sei niedrig und für DSR vorteilhaft. Insoweit weist das fragliche Argument im vorliegenden Fall nicht nur einen engen Zusammenhang mit der Klageschrift auf, sondern es ist auch Bestandteil der üblichen sich in einem streitigen Verfahren entwickelnden Erörterung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 2013, Groupe Gascogne/Kommission, C‑58/12 P, EU:C:2013:770, Rn. 31). Entgegen dem Vorbringen der Kommission ist das Argument daher als Erweiterung einer in der Klageschrift geltend gemachten Rüge anzusehen.
255 In der Anmeldung wird die Mindestteilnahmegrenze von 2 MW gegenüber der Teilnahmegrenze, die National Grid in anderen Maßnahmen festgelegt hat, als niedrig erachtet und somit als eine der Maßnahmen angesehen, die DSR-Anbieter zur Teilnahme am Kapazitätsmarkt ermutigen könnten (Rn. 224 der Anmeldung).
256 Erstens betrug jedoch die Teilnahmeschwelle des Kapazitätsmarkts PJM nur 100 kW, d. h. ein Zwanzigstel der Schwelle, die in der fraglichen Maßnahme festgelegt ist. Das Vereinigte Königreich verweist in der Anmeldung ausdrücklich auf den Kapazitätsmarkt PJM zur Stützung seiner Behauptung, die fragliche Maßnahme erlaube die Entwicklung des DSR-Sektors (Rn. 221 der Anmeldung).
257 Zweitens trifft es zwar zu, dass DSR-Anbieter tatsächlich die Möglichkeit haben, mehrere Standorte zu verbinden, um die Mindestgrenze von 2 MW zu erreichen, doch müssen sie die Bietungsgarantie für die gesamten 2 MW erbringen, sobald auch nur ein kleiner – selbst minimaler – Teil des Volumens aus nicht bestätigten DSR-Kapazitäten besteht. Aus den oben in den Rn. 249 bis 252 dargelegten Gründen kann die Bietungsgarantie jedoch ein Hindernis für den Markteintritt neuer DSR-Anbieter darstellen.
258 Folglich hätte die Kommission Bedenken hinsichtlich des Vorbringens haben müssen, die Festsetzung der Mindestteilnahmegrenze von 2 MW sei eine Maßnahme, die eine Entwicklung von DSR begünstige.
iv) Ergebnis
259 Nach alledem hätten das Zusammenspiel zwischen den T‑4- und den T‑1-Auktionen sowie bestimmte Bedingungen für die Teilnahme von DSR-Anbietern am Kapazitätsmarkt der Kommission Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Geeignetheit der fraglichen Maßnahme, die vom Vereinigten Königreich bekannt gegebenen Ziele im Bereich der Förderung der Entwicklung von DSR zu erreichen, und hinsichtlich der Vereinbarkeit der Maßnahme mit den Anforderungen der Leitlinien im Hinblick auf angemessene Anreize für DSR-Anbieter und somit der Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahme mit dem Binnenmarkt geben müssen.
f)
Zum Fehlen einer zusätzlichen Vergütung von DSR-Anbietern im Fall der Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten
260 Tempus macht geltend, die fragliche Maßnahme gebe Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt, da DSR-Anbieter nicht für die Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten vergütet würden. Die von den DSR-Anbietern gelieferte Kapazität senke nämlich nicht nur den Gesamtbetrag der benötigten und auf dem Kapazitätsmarkt zirkulierenden Kapazität, sondern auch die Übertragungs- und Verteilungsverluste um etwa 7 % bis 8 %. Die insoweit erzielten Einsparungen sollten nach Auffassung von Tempus in die Vergütung von DSR-Anbietern einfließen und auf diese Weise einen Anreiz für die Verbesserung der Netzeffizienz setzen.
261 Die Kommission, unterstützt durch das Vereinigte Königreich, macht geltend, die Frage des Fehlens einer zusätzlichen Vergütung für die Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten sei in der Anmeldung analysiert und im angefochtenen Beschluss geprüft worden. Die Kommission macht sich insoweit die Erklärung des Vereinigten Königreichs zu eigen, wonach das Ziel des Kapazitätsmarkts nur darin bestehe, die Verfügbarkeit einer ausreichenden Kapazität im Netz zu gewährleisten, und nicht darin, alle anderen Vorteile zu vergüten, die mit den jeweiligen Technologien verbunden seien.
262 Tempus macht geltend, die fragliche Maßnahme gebe Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt, da DSR-Anbieter nicht für die Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten vergütet würden.
263 Im angefochtenen Beschluss hat die Kommission festgestellt, die fragliche Maßnahme vergüte nur die Bereitstellung eines bestimmten Kapazitätsvolumens unter Ausschluss jeglicher sonstiger Dienstleistung wie z. B. der Stromlieferung (132. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Im Licht des mit der fraglichen Maßnahme verfolgten Ziels, d. h. Gewährleistung der Deckung des Kapazitätsbedarfs zwecks Sicherstellung des gewünschten Stromversorgungsniveaus, sei das Fehlen einer zusätzlichen Vergütung für die Begrenzung der Übertragungs- und Verteilungsverluste gerechtfertigt (140. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
264 Hierzu ist festzustellen, dass die fragliche Maßnahme darin besteht, einen Kapazitätsmarkt einzuführen, der das Erzeugungsdefizit im Vereinigten Königreich behebt.
265 Die Leitlinien sehen ausdrücklich vor, dass die Geeignetheit von Beihilfemaßnahmen wie der in Rede stehenden den folgenden Voraussetzungen unterliegt: „Die Beihilfe sollte ausschließlich für die Bereitstellung der Erzeugungskapazität durch den Stromerzeuger gewährt werden, d. h., der Betreiber sagt zu, für Stromlieferungen zur Verfügung zu stehen, und erhält dafür einen Ausgleich, z. B. in Form einer Vergütung pro MW, die an Kapazität zur Verfügung gestellt wird. Die Beihilfe sollte keine Vergütung für den Verkauf von Strom vorsehen, d. h. keine Vergütung pro verkaufte Megawattstunde (MWh).“
266 Angesichts dieser Erwägungen gab das Fehlen einer zusätzlichen Vergütung für die Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten keinen Anlass zu Bedenken im Sinne von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 659/1999, aufgrund derer die Kommission verpflichtet gewesen wäre, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen. Die hierzu von Tempus vorgebrachten Argumente sind folglich zurückzuweisen.
g)
Ergebnis
267 Aus der Prüfung des ersten Klagegrundes ergibt sich, dass es eine Gesamtheit objektiver und übereinstimmender Indizien – die zum einen auf die Dauer und die Umstände der Vorabkontakte und zum anderen darauf gegründet sind, dass der Inhalt des angefochtenen Beschlusses unvollständig und unzureichend war, weil die Kommission im Stadium der vorläufigen Prüfung keine angemessene Untersuchung bestimmter Aspekte des Kapazitätsmarkts vorgenommen hatte – gibt, die belegt, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss trotz bestehender Bedenken erlassen hat. Ohne dass über das sonstige Vorbringen von Tempus zu entscheiden wäre, ist festzustellen, dass die Beurteilung der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt Anlass zu Bedenken im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 659/1999 gab, aufgrund derer die Kommission verpflichtet war, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen.
268 Der angefochtene Beschluss ist daher für nichtig zu erklären.
2. Zum zweiten Klagegrund: Begründungsmangel
269 Da der angefochtene Beschluss aufgrund des ersten Klagegrundes für nichtig erklärt wird, erübrigt sich eine Prüfung des zweiten Klagegrundes.
Kosten
270 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag von Tempus Energy Ltd und Tempus Energy Technology Ltd ihre eigenen Kosten und die Kosten, die Tempus Energy Ltd und Tempus Energy Technology Ltd entstanden sind, aufzuerlegen.
271 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Demzufolge hat das Vereinigte Königreich seine eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Beschluss C(2014) 5083 final der Kommission vom 23. Juli 2014, keine Einwände gegen die Beihilferegelung betreffend den Kapazitätsmarkt im Vereinigten Königreich zu erheben, weil sie gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (staatliche Beihilfe 2014/N‑2), wird für nichtig erklärt.
2. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Tempus Energy Ltd und der Tempus Energy Technology Ltd.
3. Das Vereinigte Königreich trägt seine eigenen Kosten.
Frimodt Nielsen
Kreuschitz
Forrester
Półtorak
Perillo
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. November 2018.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
I. Vorgeschichte des Rechtsstreits
A. Zu den Klägerinnen und zum Streitgegenstand
B. Zur beanstandeten Maßnahme
C. Zu den maßgeblichen Bestimmungen der Leitlinien
D. Zum angefochtenen Beschluss
II. Verfahren und Anträge der Parteien
III. Rechtliche Würdigung
A. Zur Zulässigkeit
B. Zur Begründetheit
1. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 108 Abs. 2 AEUV, Verletzung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes und fehlerhafte Beurteilung des Sachverhalts
a) Vorbemerkungen
b) Zum Begriff der Bedenken und zur Entscheidung der Kommission über die Eröffnung oder Nichteröffnung des förmlichen Prüfverfahrens
c) Zur Dauer der Gespräche zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission und zu den Umständen, die den Erlass des angefochtenen Beschlusses begleiten
d) Zu der von der Kommission vorgenommenen Würdigung der Rolle von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts zum Zeitpunkt der vorläufigen Prüfung und unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen
1) Gleichwertigkeit und Vorteile von Stromerzeugung und DSR
2) Positive Rolle von DSR
3) Verfügbare Informationen zum Potenzial von DSR
e) Zum Vorwurf der Ungleichbehandlung bzw. Benachteiligung von DSR innerhalb des Kapazitätsmarkts
1) Zur Laufzeit der Kapazitätsverträge
2) Zur Methode zur Kostendeckung
3) Zu den Bedingungen der Teilnahme am Kapazitätsmarkt
i) Übergangsauktionen
ii) T‑1-Auktionen und ihr Zusammenspiel mit T‑4-Auktionen
iii) Teilnahmebedingungen für die dauerhaften Auktionen
iv) Ergebnis
f) Zum Fehlen einer zusätzlichen Vergütung von DSR-Anbietern im Fall der Begrenzung von Übertragungs- und Verteilungsverlusten
g) Ergebnis
2. Zum zweiten Klagegrund: Begründungsmangel
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
|
||||||||||||
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 8. November 2018.#Republik Litauen gegen Europäische Kommission.#EGFL – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Besondere Stützung der Sektoren Rindfleisch und Schaffleisch – Vor-Ort-Kontrollen – Körperliche Überprüfung der Tiere – Qualität der Kontrollen – Kontrollbericht – Pauschale Berichtigung – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Punktuelle Berichtigung.#Rechtssache T-34/16.
|
62016TJ0034
|
ECLI:EU:T:2018:753
| 2018-11-08T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0034 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 4. Oktober 2018.#Richard Hugh Blackmore gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.#Unionsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Unionswortmarke DEEP PURPLE – Nicht eingetragene ältere Marke DEEP PURPLE – Relatives Eintragungshindernis – Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 (jetzt Art. 8 Abs. 4 der Verordnung [EU] 2017/1001) – Regeln des Common Law für die Klage wegen Kennzeichenverletzung (action for passing off) – ‚Goodwill‘ – Missachtung von Formvorschriften – Art. 177 Abs. 1 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-345/16.
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62016TJ0345
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ECLI:EU:T:2018:652
| 2018-10-04T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0345 - EN - EUR-Lex
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0345 - EN
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 18. Oktober 2018.#Terna – Rete elettrica nazionale SpA gegen Europäische Kommission.#Zuschuss – Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Bereich der transeuropäischen Energienetze – Bestimmung des endgültigen Zuschussbetrags – Prüfungsbericht, in dem Unregelmäßigkeiten aufgezeigt werden – Nicht zuschussfähige Kosten – Begründungspflicht – Vertrauensschutz – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-387/16.
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62016TJ0387
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ECLI:EU:T:2018:699
| 2018-10-18T00:00:00 |
Gericht
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62016TJ0387
URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
18. Oktober 2018 (*1)
„Zuschuss – Vorhaben von gemeinsamem Interesse im Bereich der transeuropäischen Energienetze – Bestimmung des endgültigen Zuschussbetrags – Prüfungsbericht, in dem Unregelmäßigkeiten aufgezeigt werden – Nicht zuschussfähige Kosten – Begründungspflicht – Vertrauensschutz – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache T‑387/16
Terna – Rete elettrica nazionale SpA mit Sitz in Rom (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte A. Police, L. Di Via, F. Degni, F. Covone und D. Carria,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch O. Beynet, L. Di Paolo, A. Tokár und G. Gattinara als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung der Schreiben der Kommission vom 6. Juli 2015, 23. Mai 2016 und 14. Juni 2016 bezüglich bestimmter Kosten, die im Rahmen zweier Vorhaben im Bereich der transeuropäischen Energienetze (Vorhaben 209‑E255/09-ENER/09/TEN‑E‑S 12.564583 und 2007‑E221/07/2007-TREN/07TEN‑E‑S 07.91403) entstanden sind, nachdem die Kommission der Klägerin einen Zuschuss gewährt hatte,
erlässt
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten D. Gratsias, der Richterin I. Labucka und des Richters I. Ulloa Rubio (Berichterstatter),
Kanzler: E. Coulon,
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, die Terna – Rete Elettrica Nazionale SpA, ist eine in Italien niedergelassene Gesellschaft, die im Bereich der Hochspannungsübertragung und ‑verteilung elektrischer Energie tätig ist.
2 Die Klägerin hält 42,68 % der Aktien der CESI SpA, einer Gesellschaft, die im Bereich der Prüfung und Zertifizierung elektromechanischer Geräte und der Elektroanlagenberatung tätig ist.
3 Gemäß der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 zur Festlegung von Leitlinien für die transeuropäischen Energienetze und zur Aufhebung der Entscheidung 96/391/EG und der Entscheidung Nr. 1229/2003/EG (ABl. 2006, L 262, S. 1) veröffentlichte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 15. Juni 2007 eine Aufforderung zur Einreichung von Vorschlägen zur Vergabe von Finanzhilfen im Rahmen des Jahresarbeitsprogramms C(2007) 3945 vom 14. August 2007 für Finanzhilfen für transeuropäische Energienetze.
4 Gemäß Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 680/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Grundregeln für die Gewährung von Gemeinschaftszuschüssen für transeuropäische Verkehrs- und Energienetze (ABl. 2007, L 162 S. 1) entscheidet die Kommission nach jedem Aufruf zur Einreichung von Vorschlägen auf der Grundlage des Mehrjahres- oder Jahresarbeitsprogramms nach Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung über die Höhe des Zuschusses, der für die ausgewählten Vorhaben oder Teilvorhaben gewährt wird, und legt die Durchführungsbedingungen und ‑modalitäten fest.
5 Mit der Entscheidung C(2008) 7941 vom 2. Dezember 2008 (im Folgenden: Entscheidung vom 2. Dezember 2008) wählte die Kommission aus den Programmen, die für den Zuschuss in Betracht kamen, das Vorhaben von gemeinsamem Interesse „Übertragung von Gleichstrom zwischen Italien und Frankreich mittels der Straßenverkehrsinfrastruktur“ (im Folgenden: Vorhaben E 221) aus. Mit dieser Entscheidung wurde der Klägerin ein Zuschuss von höchstens 1542600 Euro gewährt.
6 Mit der Entscheidung C(2010) 3360 vom 21. Mai 2010 (im Folgenden: Entscheidung vom 21. Mai 2010) wählte die Kommission aus den Programmen, die für den Zuschuss in Betracht kamen, das Vorhaben von gemeinsamem Interesse „Durchführbarkeitsstudie über eine neue grenzüberschreitende südliche Stromverbindung Italien – Frankreich mittels der Autobahninfrastruktur“ (im Folgenden: Vorhaben E 255) aus. Mit dieser Entscheidung wurde der Klägerin ein Zuschuss von höchstens 500000 Euro gewährt.
7 Die Durchführung der Vorhaben E 221 und E 255 machte es erforderlich, Dienstleistungen in Bezug auf Tätigkeiten zu erwerben, die die Klägerin nicht mit eigenen Mitteln erbringen konnte. Die Klägerin beauftragte daher CESI, diese Dienstleistungen zu erbringen. Genauer gesagt erteilte die Klägerin im Rahmen der Vorhaben E 221 und E 255 CESI unmittelbar auf der Grundlage eines Verhandlungsverfahrens den Auftrag, sieben Aufgaben zu erfüllen, die Dienstleistungen auf dem Gebiet der Forschung, Entwicklung und spezialisierten Unterstützung umfassten und Gegenstand der Rahmenvereinbarungen Nr. 3000029140, Nr. 3000034279 und Nr. 6000001506 waren, die sie – im Wege einer auf technische Gründe gestützten Ausnahme von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge – am 17. April 2009, 27. Mai 2010 bzw. 8. April 2011 mit CESI schloss (im Folgenden: die in Rede stehenden Aufgaben).
8 Nach Abschluss der Vorhaben E 221 und E 255 teilte die Kommission der Klägerin mit Schreiben vom 5. November 2012 mit, dass eine externe Rechnungsprüfungsgesellschaft (im Folgenden: Rechnungsprüfungsgesellschaft) die von der Klägerin im Rahmen dieser Projekte angegebenen Kosten prüfen werde. Die Kommission stellte klar, dass die Ergebnisse der Rechnungsprüfung durch die zuständigen Dienststellen beurteilt würden, um die von der Klägerin geltend gemachten Kosten zu berichtigen, und dass diese Berichtigungen, sofern sie zugunsten der Kommission ausfallen sollten, Auswirkungen auf die künftigen Zahlungen haben oder zur Ausstellung von Einziehungsanordnungen in Höhe des zu viel gezahlten Betrages führen könnten.
9 Mit Schreiben vom 13. Juni 2013 übersandte die Rechnungsprüfungsgesellschaft der Klägerin den Entwurf des Prüfberichts. Der Entwurf des Prüfberichts informierte die Klägerin, dass bestimmte Kosten, die bei der Verwirklichung der Vorhaben E 221 und E 255 angefallen waren, nicht als zuschussfähig angesehen werden könnten. Konkret stellte der Entwurf des Prüfberichts fest, dass die auf die in Rede stehenden Aufgaben entfallenden externen Kosten nicht zuschussfähig seien, weil die Vergabe von Aufträgen an zur selben Gruppe gehörende Unternehmen nach den von der Kommission erteilten Informationen nur zulässig sei, wenn der vom ausführenden Unternehmen erzielte Gewinn von den angefallenen Kosten abgezogen werde. CESI habe der Klägerin die Dienstleistungen zu Marktbedingungen erbracht und somit eine Gewinnspanne erzielt. Die Klägerin wurde aufgefordert, ihr Einverständnis zu erteilen oder gegebenenfalls Stellung zu nehmen.
10 Die Klägerin gab ihre Stellungnahme mit Schreiben vom 5. Juli 2013 ab. In diesem Zusammenhang machte die Klägerin geltend, sie habe keinerlei Kontrolle über CESI und die Übertragung der in Rede stehenden Aufgaben an diese Gesellschaft stehe mit den durch die europäischen und nationalen Vorschriften aufgestellten Grundsätzen völlig im Einklang. Im Einzelnen machte die Klägerin geltend, die Übertragung dieser Aufgaben an CESI ohne ein vorheriges Ausschreibungsverfahren sei aufgrund der in Art. 40 Abs. 3 Buchst. c, e und i der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1) vorgesehenen Ausnahmen erfolgt, nämlich wegen des Vorliegens technischer Gründe, aufgrund deren der Auftrag nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer habe erfüllt werden können, weil die sich aus einem möglichen Erwerb neuer Leistungen ergebenden technischen Schwierigkeiten einen übermäßigen und unverhältnismäßigen Kostenanstieg ausgelöst hätten, und wegen einer mit CESI bestehenden Rahmenvereinbarung.
11 Mit Schreiben vom 18. Juni 2014 übermittelte die Kommission der Klägerin den von der Rechnungsprüfungsgesellschaft erstellten endgültigen Prüfbericht (im Folgenden: Prüfbericht). Im Prüfbericht wurden fast alle ursprünglichen Schlussfolgerungen des Entwurfs des Prüfberichts übernommen, einige der von der Klägerin geltend gemachten Kosten anerkannt und Erwägungen im Licht der Stellungnahme der Klägerin formuliert. Die Klägerin wurde aufgefordert, eine eventuelle Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Schreibens abzugeben; andernfalls werde die Kommission zwei Belastungsanzeigen zur Wiedereinziehung eines Betrags von 414101,72 Euro für das Vorhaben E 221 und eines Betrags von 80769,67 Euro für das Vorhaben E 255 ausstellen.
12 Mit Schreiben vom 15. Juli 2014 antwortete die Klägerin auf das Schreiben der Kommission und gab neue Erklärungen ab. Die Klägerin nahm zwar zur Kenntnis, dass einem großen Teil ihrer früheren Stellungnahme stattgegeben worden war, widersprach aber den Feststellungen des Prüfberichts hinsichtlich der direkten externen Kosten, die auf die in Rede stehenden Aufgaben entfielen. Die Klägerin betonte, dass sie keinerlei Kontrolle über CESI habe, die lediglich eine mit ihr verbundene Gesellschaft sei, bei der sie aber keine Leitungs- oder Koordinierungsbefugnis im Sinne von Art. 2497 des italienischen Zivilgesetzbuchs ausübe. Darüber hinaus erläuterte die Klägerin die Gründe, die sie veranlasst hatten, auf ein Verfahren ohne vorherige Ausschreibung zurückzugreifen, um CESI die in Rede stehenden Aufgaben auf der Grundlage der in Art. 40 Abs. 3 Buchst. c, e und i der Richtlinie 2004/17 vorgesehenen Ausnahmen zu übertragen.
13 Im Anschluss an die mit Schreiben vom 15. Juli 2014 eingereichte Antwort der Klägerin ordnete die Kommission eine ergänzende Untersuchung an. Mit E‑Mail vom 13. Februar 2015 forderte sie die Klägerin auf, ihr zusätzliche Erläuterungen zu den Verfahren zu geben, die dazu geführt hatten, dass die Rahmenvereinbarungen Nr. 3000034279 und Nr. 6000001506 mit CESI ohne vorherige Ausschreibung geschlossen wurden. Konkret bat die Kommission um eine Erläuterung zu dem Verweis auf Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17, um darzutun, dass CESI wegen der technischen Besonderheiten des Auftrags der einzige in Betracht kommende Wirtschaftsteilnehmer gewesen sei. Ferner wies die Kommission darauf hin, dass die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2004/17 vorgesehene Ausnahme im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, weil es sich bei dem in Rede stehenden Auftrag um einen Dienstleistungsauftrag und nicht um einen Lieferauftrag handele.
14 Mit E‑Mail vom 23. März 2015 kam die Klägerin der Aufforderung der Kommission nach. Die Klägerin betonte, dass sie keinerlei Kontrolle, Leitungs- oder Koordinierungsbefugnis über CESI habe, und machte geltend, der Kommission bereits in ihrem Schreiben vom 5. Juli 2013 den Rechtsrahmen mitgeteilt zu haben, innerhalb dessen sie die in Rede stehenden Aufgaben ohne vorherige Ausschreibung direkt an CESI habe vergeben können, nämlich Art. 40 der Richtlinie 2004/17, der es in bestimmten Fällen gestatte, auf ein Verfahren ohne vorherige Ausschreibung zurückzugreifen. Die Klägerin erklärte, dass CESI wegen der Verwendung von speziellen, gemeinsam mit ihr selbst entwickelten Instrumenten oder Softwareprogrammen der einzige Wirtschaftsteilnehmer sei, der die für die in Rede stehenden Aufgaben erforderlichen Dienstleistungen habe erbringen können, weil die Heranziehung anderer Wirtschaftsteilnehmer zu zusätzlichen Kosten, längeren Ausführungsfristen und zur Gefahr von Informationsverlusten bei der Erbringung dieser Dienstleistungen geführt hätte.
15 Mit Schreiben vom 6. Juli 2015 nahm die Kommission die im Rahmen der ergänzenden Untersuchung erteilten Informationen zur Kenntnis und stellte fest, dass CESI keine von der Klägerin kontrollierte Gesellschaft sei, sondern ein verbundenes Unternehmen, bei dem die Klägerin keine Leitungs- oder Koordinierungsbefugnis ausübe, änderte aber ihren Standpunkt und teilte der Klägerin mit, dass die Kosten der in Rede stehenden und CESI direkt übertragenen Aufgaben nicht wegen Verstoßes gegen die Vorgaben der Kommission für die Vergabe von Aufträgen an Unternehmen, die zum selben Konzern gehörten, sondern wegen Verstoßes gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge als nicht zuschussfähig anzusehen seien. Insoweit stellte die Kommission fest, dass die Klägerin die in Rede stehenden Aufgaben nach Art. 40 Abs. 3 Buchst. i der Richtlinie 2004/17 nur dann direkt und ohne zuvor ein Ausschreibungsverfahren einzuleiten an CESI hätte vergeben können, wenn die Rahmenvereinbarungen, unter die diese Aufgaben fielen, im Einklang mit dieser Richtlinie geschlossen worden wären. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Klägerin ihrer Beweislast nach Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 nicht genügt habe, weil sie nicht nachgewiesen habe, dass CESI wegen der technischen Fähigkeiten, die für die mit ihr abgeschlossenen Rahmenvereinbarungen erforderlich gewesen seien, das einzige Unternehmen sei, mit dem die Klägerin diese Rahmenvereinbarungen habe schließen können. Schließlich wies die Kommission darauf hin, dass die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2004/17 vorgesehene Ausnahme im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, weil sie ausschließlich Lieferaufträge betreffe. Die Kommission kündigte an, dass sie innerhalb eines Monats zwei Belastungsanzeigen ausstellen werde, die eine in Höhe von 414101,72 Euro für das Vorhaben E 221 und die andere in Höhe von 80769,67 Euro für das Vorhaben E 255.
16 Am 21. September 2015 erhob die Klägerin beim Gericht eine Klage auf Nichtigerklärung des Schreibens vom 6. Juli 2015. Diese Klage wurde unter dem Aktenzeichen T‑544/15 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen.
17 Mit Schreiben vom 23. Mai 2016 teilte die Generaldirektion (GD) „Energie“ der Kommission im Verfahren der Rückforderung der ihr geschuldeten Beträge der Klägerin mit, dass deren Argumente in Zusammenarbeit mit Bediensteten der zuständigen Stellen anderer Generaldirektionen erneut geprüft worden seien. Mit diesem Schreiben bestätigte die Kommission die Feststellungen im Schreiben vom6. Juli 2015 und kündigte an, dass sie innerhalb eines Monats zwei Belastungsanzeigen zur Wiedereinziehung eines Betrages von 414101,72 Euro in Bezug auf das Vorhaben E 221 und eines Betrages von 80769,67 Euro in Bezug auf das Vorhaben E 255 ausstellen werde.
18 Mit Schreiben vom 14. Juni 2016 übersandte die Kommission der Klägerin zwei Belastungsanzeigen über einen Betrag von 414101,72 Euro für das Vorhaben E 221 und einen Betrag von 80769,67 Euro für das Vorhaben E 255.
19 Mit Beschluss vom 13. September 2016, Terna/Kommission (T‑544/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:513), wies das Gericht die Klage in der betreffenden Rechtssache als offensichtlich unzulässig ab.
Verfahren und Anträge der Parteien
20 Mit Klageschrift, die am 20. Juli 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
21 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 4. Oktober 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts erhoben.
22 Die Klägerin hat zu dieser Einrede am 16. November 2016 Stellung genommen.
23 Mit Beschluss vom 17. Februar 2017 hat der Präsident der Fünften Kammer des Gerichts die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorbehalten.
24 Nach Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung kann das Gericht, wenn keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach der Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, beschließen, über die Klage ohne mündliches Verfahren zu entscheiden. Da sich das Gericht im vorliegenden Fall aufgrund der Aktenlage für ausreichend unterrichtet hält und ein solcher Antrag nicht gestellt worden ist, hat es beschlossen, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden.
25 Die Klägerin beantragt,
–
die Schreiben vom 6. Juli 2015, 23. Mai 2016 und 14. Juni 2016 (im Folgenden: angefochtene Handlungen) für nichtig zu erklären;
–
das vorliegende Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 der Verfahrensordnung mit der Rechtssache T‑544/15 zu verbinden;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
26 Die Kommission beantragt,
–
die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
27 Der Antrag auf Verbindung der vorliegenden Rechtssache mit der Rechtssache T‑544/15 ist gegenstandslos geworden, weil das Gericht die in jener Rechtssache erhobene Klage durch Beschluss vom 13. September 2016, Terna/Kommission (T‑544/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:513), als offensichtlich unzulässig abgewiesen hat, so dass es einer Entscheidung über den zweiten Klageantrag der Klägerin nicht mehr bedarf.
Rechtliche Würdigung
Zur Einrede der Unzulässigkeit
28 Die Kommission hält die Klage für unzulässig, weil die angefochtenen Handlungen keine Handlungen seien, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 263 AEUV sein könnten. Die Kommission macht insoweit geltend, die angefochtenen Handlungen seien weder Handlungen, die ihren Standpunkt endgültig festlegten, noch endgültige Handlungen, sondern vorbereitende Akte, die einem eventuellen Einziehungsverfahren vorausgingen. Die Kommission ist der Ansicht, dass nur eine eventuelle Entscheidung, die der Ausstellung der Belastungsanzeige nachfolge, Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein könne.
29 Die Klägerin tritt den Argumenten der Kommission entgegen und macht geltend, dass die angefochtenen Handlungen endgültige Handlungen seien, die verbindliche Rechtswirkungen – wie etwa die Rückzahlung der Beträge – entfalteten, die geeignet seien, ihre Interessen durch eine erhebliche Änderung ihrer Rechtsstellung zu beeinträchtigen. Insoweit trägt sie zunächst vor, die Kommission lasse außer Acht, dass sie die von der Kommission verlangten Beträge am 12. August 2016 unter Vorbehalt gezahlt habe, um zu vermeiden, dass Verzugszinsen anfielen, und dass die Kommission daher in dieser Situation keine weitere – nach ihrer eigenen Ansicht allein anfechtbare – Entscheidung treffen werde. Sodann macht die Klägerin geltend, wenn die angefochtenen Handlungen nicht nach Art. 263 AEUV anfechtbar seien, könnte allein die Handlung angefochten werden, die die Kommission nach Ablauf der für die Begleichung der Belastungsanzeige festgesetzten Frist vornehme, d. h. wenn die Sanktion für den Verzug bereits verwirkt sei, und das stehe im Widerspruch zu den elementarsten Grundsätzen des Rechts. Schließlich macht die Klägerin geltend, im Fall der Abweisung der Klage als unzulässig nähme ihr das Gericht das Recht auf effektiven Rechtsschutz.
30 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung Handlungen oder Entscheidungen, gegen die die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV gegeben ist, nur Maßnahmen sind, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, die die Interessen der klagenden Partei beeinträchtigen, indem sie ihre Rechtslage erheblich verändern (Urteile vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264‚ Rn. 9, vom 5. Oktober 1999, Niederlande/Kommission, C‑308/95, EU:C:1999:477‚ Rn. 26, und vom 29. Januar 2002, Van Parys und Pacific Fruit Company/Kommission, T‑160/98, EU:T:2002:18‚ Rn. 60).
31 Speziell im Fall von Handlungen, die in einem mehrphasigen Verfahren ergehen, insbesondere zum Abschluss eines internen Verfahrens, liegt nach dieser Rechtsprechung eine anfechtbare Handlung grundsätzlich nur bei Maßnahmen vor, die den Standpunkt des Organs zum Abschluss dieses Verfahrens endgültig festlegen, nicht aber bei Zwischenmaßnahmen, die die abschließende Entscheidung vorbereiten sollen (Urteile vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264‚ Rn. 10, und vom 14. Dezember 2006, Deutschland/Kommission, T‑314/04 und T‑414/04, nicht veröffentlicht, EU:T:2006:399‚ Rn. 38).
32 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission, wie oben in Rn. 4 ausgeführt worden ist, gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 680/2007 nach jedem Aufruf zur Einreichung von Vorschlägen für die Gewährung eines Zuschusses über die Höhe der Zuschüsse entscheidet, die für die ausgewählten Vorhaben oder Teilvorhaben gewährt werden, und deren Durchführungsbedingungen und ‑modalitäten festsetzt.
33 Somit fügen sich die angefochtenen Handlungen in den Kontext der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 ein, die für die Kommission und die Klägerin bindend sind. Diese Entscheidungen der Kommission implizieren eine Annahme der eingereichten Vorschläge, d. h. eine Willensübereinstimmung zwischen denen, die die Vorschläge eingereicht haben, einerseits und der Kommission andererseits, ohne dass die Verordnung Nr. 680/2007 bestimmt, dass diese Willensübereinstimmung die Form einer Vereinbarung annehmen muss.
34 In einem solchen Zusammenhang müssen die Schreiben vom 23. Mai 2016 und 14. Juni 2016, in denen die Kommission auf der Grundlage der Entscheidung über die Gewährung des Zuschusses gegenüber dem Begünstigten der Beihilfe endgültig Ansprüche geltend macht, als anfechtbare Handlungen angesehen werden, wenn darin die Beträge festgesetzt werden, die die Kommission vom Zuschussempfänger zurückfordern zu müssen glaubt, und wenn dieser sie unter dem Vorbehalt der Klageerhebung erstattet und sich so dem Willen der Kommission beugt.
35 Außerdem wird die Kommission, da die Rückzahlung erfolgt ist, keine der Ausstellung der Belastungsanzeige möglicherweise nachfolgende Entscheidung treffen. Der Klägerin zu verwehren, die erstatteten Beträge in Frage zu stellen, könnte daher ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzen. Somit widerspräche es dem Recht auf eine gute Verwaltung, die Klägerin zu veranlassen, die gemäß der Belastungsanzeige geschuldeten Beträge nicht zu zahlen, um damit zu erreichen, dass eine der Ausstellung der Belastungsanzeige nachfolgende und auf der Grundlage von Art. 263 AEUV anfechtbare Entscheidung getroffen wird.
36 Aus alledem folgt, dass die Unzulässigkeitseinrede der Kommission zurückzuweisen ist, soweit sie das Schreiben vom 14. Juni 2016, das als Begleitschreiben zu den oben in Rn. 18 erwähnten Belastungsanzeigen dient, und das Schreiben vom 23. Mai 2016 betrifft, mit dem die GD „Energie“ der Kommission die endgültige Haltung dieses Organs hinsichtlich der Begründetheit der Rückforderung festgelegt hat, nachdem sie die Argumente der Klägerin in Absprache mit Bediensteten der zuständigen Stellen anderer Generaldirektionen ein letztes Mal geprüft hatte. Demgegenüber ist die Klage als unzulässig abzuweisen, soweit sie sich gegen das Schreiben vom 6. Juli 2015 richtet, das bereits Gegenstand einer Klage war, die mit rechtskräftig gewordenem Beschluss vom 13. September 2016, Terna/Kommission (T‑544/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:513), abgewiesen wurde (siehe oben, Rn. 16 und 19).
Zur Begründetheit
37 Zur Stützung ihrer Klage macht die Klägerin vier Klagegründe geltend: Mit dem ersten rügt sie im Wesentlichen einen Ermittlungs- und Begründungsmangel der angefochtenen Handlungen, eine fehlerhafte Anwendung der Art. 14 und 37 der Richtlinie 2004/17 und eine fehlerhafte Anwendung des Art. III.3.7 Abs. 1, 4 und 6 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010, mit dem zweiten eine fehlerhafte Anwendung von Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17, mit dem dritten einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und mit dem vierten, hilfsweise geltend gemachten Klagegrund einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
38 Vorab ist festzustellen, dass die Klägerin in der Klageschrift wiederholt vorgetragen hat, dass die in Rede stehenden Aufgaben unabhängig von den zwischen 2009 und 2011 mit CESI geschlossenen Rahmenvereinbarungen, unter die sie fielen, hätten geprüft werden müssen. Die Klägerin ist der Auffassung, dass dieser materielle Fehler sich auf die spätere Beurteilung durch die Kommission ausgewirkt habe, weil wirtschaftliche Erwägungen zwar sicherlich für den Abschluss der Rahmenvereinbarungen von Bedeutung gewesen seien, nicht aber hinsichtlich der in Rede stehenden Aufgaben, was dazu geführt habe, dass die mit diesen Aufgaben verbundenen Kosten als nicht zuschussfähig angesehen worden seien.
39 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die Klägerin sich insoweit in der Klageschrift widerspricht. Während sie einen Zusammenhang zwischen den in Rede stehenden Aufgaben und den Rahmenvereinbarungen wiederholt bestreitet, macht sie an anderer Stelle mehrfach geltend, dass diese Aufgaben mit den Rahmenvereinbarungen verbunden seien und unter diese fielen. In der Klageschrift präzisiert die Klägerin diesen Zusammenhang nämlich selbst, indem sie geltend macht, dass die in Rede stehenden Aufgaben im breiteren Kontext der zwischen ihr und CESI bestehenden Beziehungen zu beurteilen seien, die sich nach den zwischen 2009 und 2011 mit CESI geschlossenen Rahmenvereinbarungen richteten. Außerdem macht die Klägerin im Rahmen ihres dritten Klagegrundes geltend, die Rechtmäßigkeit der direkten Übertragung dieser Aufgaben ergebe sich gerade daraus, dass die Kommission der ohne vorherige Ausschreibung erfolgten Vergabe der Rahmenvereinbarung Nr. 3000034279, unter die diese Aufgaben fielen, nicht widersprochen habe. Demgegenüber trägt die Klägerin ebenfalls in der Klageschrift vor, dass die Rahmenvereinbarungen für die Vorhaben E 221 und E 255 ohne Belang seien, so dass die Kommission sich darauf hätte beschränken müssen, allein die Direktvergaben der in Rede stehenden Aufgaben an CESI zu prüfen und die Rahmenvereinbarungen außer Acht zu lassen. Somit ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass die Klägerin der Kommission nicht vorwerfen kann, einerseits ihr Augenmerk nur auf die Rechtmäßigkeit der Rahmenvereinbarungen gerichtet und andererseits die Rechtmäßigkeit jeder Direktvergabe der in Rede stehenden Aufgaben anhand der vorgreiflichen Frage der Rechtmäßigkeit der Rahmenvereinbarungen beurteilt zu haben.
40 Zweitens ist festzustellen, dass die Definition der Rahmenvereinbarung in Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 festlegt, dass eine Rahmenvereinbarung eine Vereinbarung ist, durch die der Auftraggeber zusammen mit einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern die Bedingungen für die Aufträge festlegt, die im Laufe eines bestimmten Zeitraums vergeben werden sollen, insbesondere in Bezug auf den Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommenen Mengen. Aus dieser Definition geht hervor, dass Aufträge auf der Grundlage von Rahmenvereinbarungen gemäß den darin festgelegten Bedingungen vergeben werden und dass alle während der gesamten Laufzeit der Rahmenvereinbarung vergebenen Aufträge untrennbar mit der Rahmenvereinbarung verbunden sind, nach der sich die Preise, die Mengen und die Bedingungen richten.
41 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die Auftraggeber nach Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 die Anwendung dieser Richtlinie nicht dadurch umgehen dürfen, dass sie Bauvorhaben oder Beschaffungsvorhaben einer bestimmten Menge aufteilen.
42 Im Licht der Richtlinie 2004/17 und in Anbetracht der engen Verbindung zwischen den Rahmenvereinbarungen und den auf der Grundlage dieser Vereinbarungen CESI direkt übertragenen Aufgaben würde es daher dieser Richtlinie eindeutig zuwiderlaufen, die Rechtmäßigkeit der Übertragung der in Rede stehenden Aufgaben unabhängig von der Vergabe der Rahmenvereinbarungen zu beurteilen, mit denen diese Aufgaben zwangsläufig und untrennbar verbunden sind.
43 Folglich hat die Kommission die Rechtmäßigkeit der Direktvergabe der in Rede stehenden Aufgaben an CESI zutreffend in engem Zusammenhang mit der Vergabe der Rahmenvereinbarungen beurteilt, unter die diese Aufgaben fielen.
44 Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen sind die zur Stützung der Klage vorgebrachten Klagegründe zu prüfen.
Erster Klagegrund, mit dem im Wesentlichen ein Ermittlungs- und Begründungsmangel der angefochtenen Handlungen, eine fehlerhafte Anwendung der Art. 14 und 37 der Richtlinie 2004/17 und eine fehlerhafte Anwendung des Art. III.3.7 Abs. 1, 4 und 6 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 gerügt werden
45 Dieser Klagegrund besteht im Wesentlichen aus drei Teilen, mit denen erstens ein Ermittlungs- und Begründungsmangel der angefochtenen Handlungen, zweitens eine fehlerhafte Anwendung der Art. 14 und 37 der Richtlinie 2004/17 und drittens eine fehlerhafte Anwendung des Art. III.3.7 Abs. 1, 4 und 6 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 wegen einer zu formalistischen Anwendung der Richtlinie 2004/17 gerügt werden.
– Erster Teil des ersten Klagegrundes: Ermittlungs- und Begründungsmangel der angefochtenen Handlungen
46 Die Klägerin ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die angefochtenen Handlungen mit einem Ermittlungsmangel behaftet und unzureichend begründet seien, weil die Kommission sich auf eine falsche Auslegung der anwendbaren Vorschriften und auf eine unzutreffende Sicht des Verhältnisses zwischen den in Rede stehenden Aufgaben und den Rahmenvereinbarungen gestützt habe.
47 Insoweit macht die Klägerin geltend, dass sie sich auf die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 vorgesehene Ausnahme, die allein die in Rede stehenden Aufgaben betreffe, und auf die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. i dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme, die die Rahmenvereinbarungen betreffe, stets alternativ und nicht etwa kumulativ berufen habe. Die Klägerin ist der Ansicht, die Kommission hätte das Vorliegen einer technischen Besonderheit im Sinne von Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17, die eine Vergabe ohne vorherige Ausschreibung rechtfertige, im Hinblick auf diese Aufgaben und nicht im Hinblick auf die Rahmenvereinbarungen prüfen müssen.
48 Außerdem macht die Klägerin geltend, die knappe Begründung der Kommission sei offenkundig fehlerhaft, denn die Kommission habe zu keinem Zeitpunkt auf die Erklärungen geantwortet, die sie bezüglich des Vorliegens technischer Besonderheiten abgegeben habe und die es gerechtfertigt hätten, die in Rede stehenden Aufgaben ohne vorherige Ausschreibung auf CESI zu übertragen.
49 Schließlich trägt die Klägerin vor, die Kommission habe die Kosten, die auf die CESI direkt übertragenen Aufgaben entfielen, zu Unrecht von der Erstattung ausgeschlossen, die die Klägerin beantragt habe, indem sie sich auf die Annahme gestützt habe, dass die Rahmenvereinbarungen, unter die diese Aufgaben fielen, unter Verstoß gegen die Vorschriften der Europäischen Union für die Vergabe öffentlicher Aufträge ohne vorheriges Ausschreibungsverfahren geschlossen worden seien.
50 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
51 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, die aus dem Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte folgt, dem Zweck dient, zum einen den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsrichter zulässt, und zum anderen dem Unionsrichter die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, EU:C:2012:718, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Die nach Art. 296 AEUV erforderliche Begründung muss die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass der Betroffene ihr die Gründe für die erlassenen Maßnahmen entnehmen und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, EU:C:2012:718, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Die Begründung muss allerdings der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen worden ist, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt ist und ihm gestattet, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba, C‑417/11 P, EU:C:2012:718, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission – wie oben in den Rn. 39 bis 43 dargelegt – die Rechtmäßigkeit der Direktvergabe der in Rede stehenden Aufgaben an CESI zutreffend in enger Verbindung mit der Vergabe der Rahmenvereinbarungen beurteilt hat, unter die sie fielen. Daraus folgt, dass die Rügen der Klägerin in Bezug auf eine unzutreffende Sicht des Verhältnisses zwischen den in Rede stehenden Aufgaben und den Rahmenvereinbarungen unbegründet sind.
55 Zweitens ergibt sich aus den angefochtenen Handlungen, dass die Kommission dargelegt hat, aus welchen Gründen sie die Kosten, die auf die CESI im Rahmen der Vorhaben E 221 und E 255 direkt übertragenen Aufgaben entfielen, als nicht zuschussfähig erachtete und warum die von der Klägerin angeführten Gründe für eine Abweichung von den Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge weder technisch noch rechtlich vertretbar seien. So hat die Kommission mit Schreiben vom 6. Juli 2015 darauf hingewiesen, dass diese Aufgaben bei ihrer Übertragung nicht Gegenstand eines Ausschreibungsverfahrens gewesen seien und die Möglichkeit der Klägerin, sie direkt auf CESI zu übertragen, somit davon abhängig gewesen sei, dass das beim Abschluss der Rahmenvereinbarungen, unter die die in Rede stehenden Aufgaben fielen, angewandte Verfahren gemäß Art. 14 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/17 mit dieser Richtlinie vereinbar sei. Die Kommission macht insoweit geltend, dass die Erläuterungen der Klägerin, die sich auf den technischen Charakter der zu erbringenden Leistungen stützten, nicht geeignet seien, die Direktvergabe der Rahmenvereinbarungen zu rechtfertigen. Außerdem hat die Kommission der Klägerin mit Schreiben vom 23. Mai 2016 mitgeteilt, dass die eingereichten Erläuterungen nicht geeignet seien, die Beurteilungen im Schreiben vom 6. Juli 2015 zu ändern, die als endgültig anzusehen seien, und angekündigt, dass sie innerhalb eines Monats zwei Belastungsanzeigen zur Wiedereinziehung eines Betrags von 414101,72 Euro für das Vorhaben E 221 und eines Betrags von 80769,67 Euro für das Vorhaben E 255 ausstellen werde. Schließlich hat die Kommission der Klägerin zwei Belastungsanzeigen vom 14. Juni 2016 übermittelt.
56 Aus alledem folgt, dass die angefochtenen Handlungen das Ergebnis eines Briefwechsels sind, in dessen Verlauf die Kommission die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sie ihre Entscheidungen stützte, in rechtlich hinreichender Weise dargelegt und auf sämtliche Anmerkungen der Klägerin geantwortet hat. Daher sind die angefochtenen Handlungen in einem Zusammenhang erfolgt, der es der Klägerin ermöglichte, die Tragweite der ihr gegenüber getroffenen Maßnahmen zu verstehen, und erweisen sich folglich als hinreichend begründet.
57 Schließlich gehört die Frage, ob der Abschluss einer Rahmenvereinbarung unter Verstoß gegen die Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge zur Folge haben kann, dass Kosten im Zusammenhang mit den unter diese Rahmenvereinbarung fallenden Aufgaben auszuschließen sind, zur Prüfung der Begründetheit der Klage und nicht zur Form der angefochtenen Handlungen. Derartige Erwägungen gehen daher, selbst wenn sie präzise genug wären, im Rahmen der Rüge eines Begründungsmangels ins Leere und sind zurückzuweisen.
58 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen ist.
– Zweiter Teil des ersten Klagegrundes: fehlerhafte Anwendung der Art. 14 und 37 der Richtlinie 2004/17
59 Die Klägerin macht geltend, die Kommission sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass sich aus dem Rückgriff auf den Einsatz von Unterauftragnehmern Anhaltspunkte für den Ausschluss des Vorliegens technischer Gründe ergäben, die nach Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 die Vergabe von Aufträgen ohne Durchführung einer Ausschreibung rechtfertigen könnten. Die Klägerin ist insoweit der Auffassung, dass die für Unteraufträge geltende Bestimmung, nämlich Art. 37 der Richtlinie 2004/17, ohne vorherige Ausschreibung vergebene Aufträge nicht von ihrem Anwendungsbereich ausschließe und dass Art. 40 der Richtlinie 2004/17 in analoger Weise nicht vorschreibe, dass der im Fall einer Direktvergabe ohne Durchführung einer Ausschreibung beauftragte Wirtschaftsteilnehmer sämtliche zum Gegenstand des Auftrags gehörenden Leistungen persönlich erbringen müsse.
60 Die Klägerin fügt hinzu, dass sie jedenfalls nur für eine einzige der in Rede stehenden Aufgaben Unteraufträge erteilt habe und diese auch nur zugunsten einer begrenzten Zahl von Wirtschaftsteilnehmern sowie für rein marginale Nebentätigkeiten vorgesehen gewesen sei, deren Auswirkungen unerheblich gewesen seien und denen keine besondere Bedeutung für die Erfüllung dieser Aufgabe zugekommen sei. Außerdem macht die Klägerin geltend, die vom Unterauftragnehmer erbrachten Leistungen hätten sich von denen unterschieden, die eine technische Besonderheit aufwiesen.
61 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
62 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 37 der Richtlinie 2004/17 den Auftraggebern zwar erlaubt, einen Teil des betreffenden Auftrags im Wege von Unteraufträgen an Dritte zu vergeben, Art. 40 Abs. 2 dieser Richtlinie aber bestimmt, dass die Auftraggeber bei der Vergabe ihrer Aufträge zwischen einem offenen, nicht offenen oder Verhandlungsverfahren wählen können, vorausgesetzt, dass ein Aufruf zum Wettbewerb durchgeführt worden ist. Darüber hinaus sieht Art. 40 Abs. 3 Buchst. c dieser Richtlinie vor, dass die Auftraggeber auf ein Verfahren ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb zurückgreifen können, wenn der Auftrag wegen seiner technischen Besonderheiten nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer ausgeführt werden kann.
63 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass schon der bloße Rückgriff auf andere Wirtschaftsteilnehmer zum Zweck der Erbringung einer Dienstleistung ausschließt, dass diese Leistung unter die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 vorgesehene Ausnahme fallen kann. Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, unterliegt die Anwendung von Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 nämlich zwei Voraussetzungen, die kumulativ zu erfüllen sind: Zum einen müssen die Arbeiten, die Gegenstand des Auftrags sind, eine technische Besonderheit aufweisen, und zum anderen muss es aufgrund dieser technischen Besonderheit unbedingt erforderlich sein, den Auftrag an einen bestimmten Wirtschaftsteilnehmer zu vergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland, C‑394/02, EU:C:2005:336, Rn. 34).
64 Die mit CESI geschlossenen Rahmenvereinbarungen, unter die die in Rede stehenden Aufgaben fallen, gestatten den Einsatz von Unterauftragnehmern, wobei die Tätigkeiten zusammen mit den betreffenden Unterauftragnehmern in den Rahmenvereinbarungen aufgeführt sind. Daher ist die Klägerin so zu behandeln, als sei sie der Auffassung gewesen, dass andere Wirtschaftsteilnehmer grundsätzlich in der Lage seien, diese Tätigkeiten auszuüben (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland, C‑394/02, EU:C:2005:336, Rn. 37). Somit ist festzustellen, dass es nicht unbedingt notwendig war, diese Rahmenvereinbarungen an CESI zu vergeben, da diese nicht der einzige Wirtschaftsteilnehmer war, der über das Know-how verfügte, um die in Rede stehenden Leistungen zu erbringen.
65 Folglich kann nicht geltend gemacht werden, der Rückgriff auf andere Wirtschaftsteilnehmer – auch wenn es sich um einen marginalen Fall, eine begrenzte Zahl von Wirtschaftsteilnehmern oder um Nebentätigkeiten handelt – schließe nicht aus, dass die Leistung unter die Ausnahme des Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 fallen könne.
66 Daher ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
– Dritter Teil des ersten Klagegrundes: fehlerhafte Anwendung des Art. III.3.7 Abs. 1, 4 und 6 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010
67 Die Klägerin rügt eine fehlerhafte Anwendung des Art. III.3.7 Abs. 1, 4 und 6 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 wegen einer zu formalistischen Anwendung der Richtlinie 2004/17.
68 Insoweit macht die Klägerin geltend, dass Art. III.3.7 Abs. 1 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 keine Verpflichtung vorsehe, zur Auftragsvergabe von vorherigen offenen oder nicht offenen Verfahren Gebrauch zu machen, sondern lediglich die Erfüllung der allgemeineren Pflicht verlange, Kosten aufzuwenden, die „angemessen und gerechtfertigt sind, unter Beachtung der Anforderungen wirtschaftlicher Haushaltsführung, insbesondere im Hinblick auf Sparsamkeit und Effizienz“. Die Klägerin macht geltend, obwohl sie rechtmäßig davon abgesehen habe, zur Vergabe der Vereinbarungen an CESI ein Ausschreibungsverfahren im eigentlichen Sinne einzuleiten, sei es ihr dank intensiver Verhandlungen mit CESI gelungen, von diesem Wirtschaftsteilnehmer beachtliche Preisnachlässe zu erhalten. Daher wirft die Klägerin der Kommission vor, die Richtlinie 2004/17 zu formalistisch angewandt zu haben, indem sie sich auf die Feststellung beschränkt habe, dass die mit den an CESI direkt vergebenen Vereinbarungen verbundenen Kosten allein deswegen nicht zuschussfähig seien, weil diese Vereinbarungen ohne vorherige Ausschreibung vergeben worden seien, ohne in der Sache zu prüfen, ob diese Vereinbarungen aus wirtschaftlicher Sicht vorteilhaft und die Kosten angemessen und gerechtfertigt gewesen seien oder nicht.
69 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
70 Dazu ist festzustellen, dass der Grundsatz des Aufrufs zum Bieterwettbewerb ebenso Grundlage aller ganz oder teilweise aus dem Haushalt der Union finanzierten Aufträge ist wie die Grundsätze der Transparenz, der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, wie Art. 102 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates (ABl. 2012, L 298, S. 1) dies vorschreibt.
71 Es ist darauf hinzuweisen, dass die in Rede stehenden Aufträge, die teilweise von der Union finanziert wurden, die geltenden Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge einhalten müssen. Zu diesen Vorschriften gehört Art. III.2.5 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010, der den Grundsatz aufstellt, dass der Begünstigte verpflichtet ist, im Fall der Vergabe von Tätigkeiten, die Gegenstand der Finanzierung sind, an Dritte die in der Unionsrechtsordnung vorgesehenen Bestimmungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge zu beachten. Gemäß Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 können die Auftraggeber bei der Vergabe ihrer Aufträge offene oder nicht offene Verfahren sowie Verhandlungsverfahren anwenden, vorausgesetzt, dass vorbehaltlich der in Abs. 3 dieses Artikels vorgesehenen Ausnahmen ein Aufruf zum Wettbewerb durchgeführt wird.
72 Im vorliegenden Fall befreit die Kosteneffizienz der Vergabe von Tätigkeiten an externe Wirtschaftsteilnehmer nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen von Art. III.2.5 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010. Die Klägerin stützt sich auf Art. III.3.7 Buchst. f des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 und trägt vor, dass die Kosten, um zuschussfähig zu sein, angemessen und vertretbar sein und den Grundsätzen einer wirtschaftlichen Haushaltsführung entsprechen müssten. Sie macht geltend, dass diese Grundsätze bei der Vergabe der Rahmenvereinbarungen an CESI ohne vorherige Ausschreibung keinesfalls verletzt worden seien, weil CESI ihr erhebliche Nachlässe gewährt habe. Dieser Aspekt kann es jedoch, so wichtig er bei der Auftragsvergabe auch sein mag, keinesfalls rechtfertigen, von den vergaberechtlichen Vorschriften abzuweichen, und er bietet keine Gewähr, dass die Maßnahme im Einklang mit den Politiken der Union, insbesondere den Vorschriften für öffentliche Aufträge, durchgeführt wurde.
73 In diesem Zusammenhang hat die Kommission in ihren Schreiben vom 6. Juli 2015 und 23. Mai 2016 darauf hingewiesen, dass die Direktvergabe der Rahmenvereinbarungen, unter die die in Rede stehenden Aufgaben fielen, nicht durch Argumente gerechtfertigt werde, die sich darauf stützten, dass der Auftrag wegen seiner technischen Besonderheit nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer habe ausgeführt werden können. Wegen der Nichteinhaltung der in der Unionsrechtsordnung vorgesehenen anwendbaren Vorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens bei der Direktvergabe dieser Rahmenvereinbarungen ohne vorherige Ausschreibung können die mit den in Rede stehenden Aufgaben verbundenen Kosten daher auch dann nicht als zuschussfähig angesehen werden, wenn sie angemessen und gerechtfertigt sind.
74 Nach alledem ist der dritte Teil des ersten Klagegrundes und somit der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zweiter Klagegrund: fehlerhafte Anwendung von Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 2004/17
75 Die Klägerin trägt vor, der Umstand, dass sie die Dienstleistungen, die sie nicht mit eigenen Mitteln habe ausführen können, ohne vorherige Ausschreibung CESI anvertraut habe, stelle in Wirklichkeit eine unumgängliche Entscheidung dar, weil CESI der einzige Wirtschaftsteilnehmer gewesen sei, der diese Dienstleistungen habe erbringen können. Somit trägt die Klägerin vor, dass die Wahl der CESI unter die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 vorgesehene Ausnahme falle.
76 Die Klägerin ist der Ansicht, präzise Angaben und Nachweise zur Tragweite der technischen Spezifikationen der direkt an CESI vergebenen Dienstleistungen vorgebracht zu haben, aus denen hervorgehe, warum die Vergabe an CESI notwendig und jedenfalls wirtschaftlich günstiger gewesen sei. Insoweit macht die Klägerin geltend, dass CESI dank ihrer Fähigkeiten bezüglich der Verwaltung oder des Einsatzes der Softwareanwendungen Spira, Promed, Sicre und Wcreso sowie des Werkzeugs Grare, die im Rahmen der Rahmenvereinbarung Nr. 3000034279 für das Vorhaben E 255 und der Rahmenvereinbarung Nr. 3000029140 für das Vorhaben E 221 benutzt worden seien, der einzige Wirtschaftsteilnehmer sei, der die nötige Unterstützung habe leisten können. Genauer gesagt macht die Klägerin geltend, dass eine Vereinbarung mit einem anderen in Betracht kommenden Wirtschaftsteilnehmer zu weniger günstigen Bedingungen zustande gekommen wäre, längere Ausführungsfristen bedeutet und möglicherweise dazu geführt hätte, dass bestimmte Fehler begangen worden oder Informationen verloren gegangen wären.
77 Außerdem trägt die Klägerin vor, dass die Kontinuität komplexer Vorhaben nach der Rechtsprechung ein stichhaltiger technischer Grund für eine Direktvergabe an einen bestimmten Wirtschaftsteilnehmer sei. In diesem Zusammenhang macht sie geltend, dargetan zu haben, dass es keine vernünftige Alternative zur Direktvergabe der in Rede stehenden Aufgaben an CESI gegeben habe, so dass sie CESI diese Aufgaben wegen des Zusammenhangs dieser Aufgaben mit den zuvor im Rahmen der Rahmenvereinbarungen durchgeführten Tätigkeiten ohne ein vorheriges Ausschreibungsverfahren übertragen habe.
78 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
79 Aus Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 geht hervor, dass die Auftraggeber auf ein Verfahren ohne vorherigen Aufruf zum Wettbewerb u. a. dann zurückgreifen können, wenn der Auftrag wegen seiner technischen oder künstlerischen Besonderheiten oder aufgrund des Schutzes von ausschließlichen Rechten nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer ausgeführt werden kann.
80 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung von Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 nach der Rechtsprechung zwei kumulativen Voraussetzungen unterliegt, nämlich dass zum einen die Arbeiten, die Gegenstand des Auftrags sind, eine technische Besonderheit aufweisen und es zum anderen aufgrund dieser technischen Besonderheit unbedingt erforderlich ist, den Auftrag an ein bestimmtes Unternehmen zu vergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland, C‑394/02, EU:C:2005:336, Rn. 34).
81 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des Art. 20 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 93/38/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. 1993, L 199, S. 84), der ähnliche Regelungen wie die in Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 enthielt, als Ausnahmen von den Vorschriften über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge eng auszulegen sind. Außerdem obliegt die Beweislast derjenigen Partei, die sich auf diese Bestimmungen beruft (Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland, C‑394/02, EU:C:2005:336‚ Rn. 33).
82 Im vorliegenden Fall macht die Klägerin geltend, dass die Leistungen, die Bestandteil der Dienstleistungen seien, die sie nicht mit eigenen Mitteln habe erbringen können, unter die Ausnahme des Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 fielen, weil CESI der einzige Wirtschaftsteilnehmer sei, der diese Leistungen habe erbringen können.
83 Es ist festzustellen, dass die Klägerin, der die Beweislast obliegt, weder irgendeine technische Besonderheit noch einen Grund anführt, aus dem ersichtlich wäre, dass eine solche Besonderheit – sofern sie tatsächlich vorliegen sollte – es unbedingt erforderlich gemacht hätte, mit der Durchführung dieser Leistungen CESI zu betrauen. Insoweit beruft sich die Klägerin allein auf den Umstand, dass die Aktivitäten, die Gegenstand dieser Leistungen gewesen seien, den Einsatz einer Software oder eines Programms vorausgesetzt hätten, das sie selbst und CESI bereits gemeinsam verwendet hätten. Es ist festzustellen, dass – wie die Kommission vorträgt – der Umstand, dass CESI Software verwendet, deren Inhaberin die Klägerin ist, zwar einen Beurteilungsfaktor im Rahmen eines Vergleichs mit anderen konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmern darstellt, es aber in Anbetracht der oben in Rn. 80 angeführten Rechtsprechung nicht rechtfertigen kann, alle anderen Wirtschaftsteilnehmer wegen der angeblich nur bei CESI vorhandenen Kompetenz von vornherein auszuschließen. Im Fall eines günstigeren Angebots als desjenigen von CESI wäre die Klägerin nämlich in keiner Weise gehindert gewesen, dem neuen Wirtschaftsteilnehmer eine Lizenz für die Nutzung der betreffenden Software oder des betreffenden Programms zu gewähren. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Lizenz für die Programme oder die Software kein ausschließliches Recht ist, das es unmöglich gemacht hätte, für die Durchführung der in Rede stehenden Tätigkeiten auf andere Wirtschaftsteilnehmer zurückzugreifen. Dies kann auch nicht anders sein, denn wenn man sich auf frühere geschäftliche Beziehungen zum Auftraggeber berufen könnte, um jedes Ausschreibungsverfahren bei der Vergabe neuer Aufträge auszuschließen, würde das von der Richtlinie 2004/17 verfolgte Ziel der Marktöffnung zwangsläufig beeinträchtigt und das paradoxe Ergebnis wäre eine Behinderung des Wettbewerbs zum Vorteil des ausführenden Unternehmens.
84 Zu den Erläuterungen, mit denen die Klägerin die Direktvergabe der streitigen Leistungen an CESI mit der Begründung zu rechtfertigen sucht, dass ein Vertrag mit jedem anderen Unternehmen zu weniger günstigen Bedingungen geschlossen worden wäre, dass die Ausführungsfristen länger gewesen wären oder dass bestimmte Fehler hätten begangen werden oder Informationen hätten verloren gehen können, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die behaupteten Anpassungsschwierigkeiten beim Wechsel von einem Dienstleister zu einem anderen und die durch diese Anpassung möglicherweise verursachten zusätzlichen Kosten, auf die die Klägerin sich beruft, logischerweise voraussetzen, dass ein Wechsel des Wirtschaftsteilnehmers von CESI zu einem anderen Bieter technisch möglich war. Die Klägerin führt nämlich kein einziges Mal einen Grund technischer Inkompatibilität an, der einen anderen Wirtschaftsteilnehmer objektiv hindern würde, dieselben Dienstleistungen zu erbringen, so dass es – wie oben in Rn. 80 dargelegt – unbedingt notwendig gewesen wäre, einen einzigen Wirtschaftsteilnehmer zu wählen. Jedenfalls ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Klägerin zu keinem Zeitpunkt Zahlen oder Daten vorgelegt hat, die aufzeigen könnten, dass jeder Vertrag mit einem anderen Unternehmen mit höheren Kosten und längeren Ausführungsfristen verbunden gewesen wäre.
85 Was schließlich die Kontinuität der Arbeiten betrifft, ist festzustellen, dass das Ziel, die Kontinuität von Arbeiten sicherzustellen, die zu komplexen Vorhaben gehören, zwar auf einer technischen Überlegung von Belang beruht. Die bloße Behauptung, dass eine Gesamtheit von Arbeiten komplex und schwierig sei, genügt jedoch nicht als Beweis dafür, dass sie nur ein und demselben Unternehmen anvertraut werden könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2004, Kommission/Italien, C‑385/02, EU:C:2004:522, Rn. 21). Im vorliegenden Fall hat sich die Klägerin darauf beschränkt, allgemein geltend zu machen, dass der Rückgriff auf jeden anderen Wirtschaftsteilnehmer die Kosten erhöht und die Fristen verlängert hätte, ohne Erläuterungen vorzutragen, die die Notwendigkeit des Rückgriffs auf einen einzigen Wirtschaftsteilnehmer dartun könnten. Das Fehlen vernünftiger Alternativen ist nicht der Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Direktvergabe an einen bestimmten Wirtschaftsteilnehmer; diese setzt vielmehr, wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, die absolute Notwendigkeit einer solchen Vergabe voraus. Daher kann der Zusammenhang zwischen den früheren Tätigkeiten, die CESI für die Klägerin im Rahmen der Rahmenvereinbarungen ausgeführt hat, und den in Rede stehenden Aufgaben kein Grund in diesem Sinne sein.
86 Da die Klägerin nicht hat beweisen können, dass die Rahmenvereinbarungen, unter die die in Rede stehenden Aufgaben fielen, aus technischen Gründen im Sinne von Art. 40 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/17 nur an CESI vergeben werden konnten, ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes
87 Als Erstes macht die Klägerin geltend, die angefochtenen Handlungen verstießen gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, weil die Kommission die Zuschussfähigkeit der Kosten verneint habe, die mit den Aufgaben verbunden gewesen seien, die unter die Rahmenvereinbarung Nr. 3000034279 fielen, welche die Kommission trotz der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Vergabe dieser Rahmenvereinbarung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 7. Juli 2010 niemals beanstandet habe. Insoweit macht die Klägerin geltend, dass die Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union, mit der die Vergabe eines Auftrags an einen bestimmten Wirtschaftsteilnehmer im Anschluss an ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Ausschreibung bekannt gegeben worden sei, ohne dass die Kommission oder ein anderer Wirtschaftsteilnehmer dieser Vergabe innerhalb der Frist des Art. 2f der Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinien 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge (ABl. 2007, L 335, S. 31) widersprochen oder Stellungnahmen eingereicht hätte, ein Umstand sei, der bei der Klägerin ein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit des angewandten Verfahrens habe entstehen lassen können.
88 Als Zweites bestreitet die Klägerin die Anwendbarkeit der Bestimmungen der Richtlinie 2004/17 auf den vorliegenden Fall, weil der Wert eines großen Teils der in Rede stehenden Aufgaben unter dem in Art. 16 Buchst. a dieser Richtlinie festgelegten Schwellenwert liege.
89 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
90 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass sich nach ständiger Rechtsprechung jeder auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann, bei dem ein Unionsorgan begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. Urteil vom 11. März 1987, Van den Bergh en Jurgens und Van Dijk Food Products [Lopik]/Kommission, 265/85, EU:C:1987:121, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Das Recht, sich auf diesen Grundsatz zu berufen, ist jedoch an drei kumulative Voraussetzungen gebunden. Erstens muss die Unionsverwaltung dem Betroffenen präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Zusicherungen von zuständiger und zuverlässiger Seite gegeben haben. Zweitens müssen diese Zusicherungen geeignet sein, bei dem Adressaten begründete Erwartungen zu wecken. Drittens müssen die gegebenen Zusicherungen den geltenden Vorschriften entsprechen (vgl. Urteile vom 30. Juni 2005, Branco/Kommission, T‑347/03, EU:T:2005:265, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 23. Februar 2006, Cementbouw Handel & Industrie/Kommission, T‑282/02, EU:T:2006:64, Rn. 77, und vom 30. Juni 2009, CPEM/Kommission, T‑444/07, EU:T:2009:227, Rn. 126).
92 Was die erste Voraussetzung angeht, stellen nach ständiger Rechtsprechung präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite unabhängig von der Form ihrer Mitteilung solche Zusicherungen dar. Dagegen kann niemand eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes geltend machen, dem die Verwaltung keine bestimmten Zusicherungen gegeben hat (vgl. Urteil vom 19. März 2003, Innova Privat-Akademie/Kommission, T‑273/01, EU:T:2003:78, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
93 Im vorliegenden Fall ist den Akten nicht zu entnehmen, dass die Kommission der Klägerin eine präzise Zusicherung gegeben hätte, dass sie die Art und Weise, in der diese die zu den Vorhaben E 221 und E 255 gehörenden Aufträge vergeben hat, akzeptieren werde. Die Überprüfung der Zuschussfähigkeit der Ausgaben erfolgt nämlich erst nach Vorlage der endgültigen Finanzberichte, während die vorhergehenden Phasen nur die technische Überwachung des Fortschritts der Projekte betreffen. Somit wird diese Überprüfung, wie sich insbesondere aus Art. III.3.5 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 ergibt, erst zu dem Zeitpunkt vorgenommen, zu dem der Antrag auf Restzahlung gestellt wird, der zusammen mit dem technischen Abschlussbericht und der Abrechnung der tatsächlich entstandenen zuschussfähigen Kosten eingereicht wird.
94 Daher stellt der Umstand, dass die Kommission die Vergabe der Rahmenvereinbarung Nr. 3000034279 an CESI trotz der ordnungsgemäßen Veröffentlichung der Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union nicht beanstandet hat, keine Zusicherung dar, die bei der Klägerin die begründete Erwartung wecken konnte, dass die Ausgaben zuschussfähig seien. Insoweit kann das Schweigen der Kommission zur Direktvergabe der Rahmenvereinbarung nicht als eine präzise Zusicherung der Verwaltung gewertet werden, die geeignet war, ein berechtigtes Vertrauen zu erwecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2006, Regione Marche/Kommission, T‑107/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2006:20, Rn. 134).
95 Als Zweites ist zum Vorbringen der Klägerin, dass die Richtlinie 2004/17 im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, insbesondere in Bezug auf die Berechnung des geschätzten Wertes eines öffentlichen Auftrags darauf hinzuweisen, dass Art. 17 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie zum einen vorsieht, dass der zu berücksichtigende Wert einer Rahmenvereinbarung gleich dem Gesamtwert ohne Mehrwertsteuer aller für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung geplanten Aufträge ist, und zum anderen, dass die Auftraggeber die Anwendung dieser Richtlinie nicht dadurch umgehen dürfen, dass sie Bauvorhaben oder Beschaffungsvorhaben einer bestimmten Menge von Waren oder Dienstleistungen aufteilen oder für die Berechnung des geschätzten Auftragswertes besondere Verfahren anwenden. Wie oben in den Rn. 39 bis 43 ausgeführt, konnten die CESI direkt übertragenen streitigen Aufgaben nicht gesondert von den Rahmenvereinbarungen betrachtet werden, weil sie gerade in Erfüllung dieser Vereinbarungen durchgeführt wurden.
96 Daher ist die Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/17 im Sinne ihres Art. 17 Abs. 3 anhand des Wertes der Rahmenvereinbarungen zu beurteilen. Hierzu ist festzustellen, dass der Wert der Rahmenvereinbarungen den Schwellenwert weit überschreitet, weil die Rahmenvereinbarung Nr. 3000029140 über einen Betrag von 16039700 Euro, die Rahmenvereinbarung Nr. 3000034279 über einen Betrag von 19200000 Euro und die Rahmenvereinbarung Nr. 6000001506 über einen Betrag von 24925000 Euro geschlossen wurden, während der Schwellenwert für Liefer- und Dienstleistungsaufträge nach Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2004/17 499000 Euro beträgt.
97 Nach alledem ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
Vierter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
98 Die Klägerin macht hilfsweise geltend, dass die angefochtenen Handlungen rechtswidrig seien, soweit die Kommission festgestellt habe, dass sämtliche auf die in Rede stehenden Aufgaben entfallenden Kosten nicht zuschussfähig seien. Die Klägerin trägt vor, die Kommission habe erklärt, dass diese Kosten nicht zuschussfähig seien, weil der Grundsatz der Kosteneffizienz bei der Vergabe von Aufträgen an Unternehmen, die zum selben Konzern gehörten, nicht beachtet worden sei, da CESI die Dienstleistungen zu Marktbedingungen erbracht und somit einen Gewinn erzielt habe. Die Klägerin ist insoweit der Ansicht, dass das Verhalten der Kommission gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, weil Art. III.3.8 Abs. 4 und 6 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 der Kommission nicht erlaube, sämtliche angefallenen Kosten auszuschließen, wenn ein Gewinn erzielt worden sei, sondern in diesem Fall lediglich vorschreibe, den Zuschussbetrag um den als nicht zuschussfähig erachteten Gewinnanteil zu kürzen.
99 Die Klägerin macht daher geltend, dass die Kommission bei richtiger Anwendung dieses Artikels zunächst den Anteil der Gewinnspanne hätte feststellen müssen, der auf die in Rede stehenden Aufgaben entfalle, um anschließend zu erklären, dass die Kosten nur in Höhe des als nicht zuschussfähig erachteten Gewinnanteils nicht zuschussfähig seien. Die Klägerin ist daher der Ansicht, dass die Kommission eine Sanktionsbefugnis ausgeübt habe, die ihre lediglich auf die Aufsicht und Kontrolle beschränkten Befugnisse überschreite.
100 Außerdem macht die Klägerin geltend, dass die Kommission die streitigen Kosten für nicht zuschussfähig erklärt habe, obwohl sie anerkannt habe, dass CESI keine von der Klägerin kontrollierte, sondern lediglich mit ihr verbundene Gesellschaft gewesen sei. Sie ist der Ansicht, in folgerichtiger Anwendung dieser Feststellung hätte die Kommission zu der Erkenntnis gelangen müssen, dass es für die Klägerin unmöglich gewesen sei, von CESI eine detaillierte Aufschlüsselung der Kosten zu erhalten, die auf die von dieser Gesellschaft erbrachten Dienstleistungen entfielen.
101 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.
102 Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser Klagegrund ins Leere geht, weil die Kommission, wie oben in Rn. 15 festgestellt, nach der von ihr angeordneten ergänzenden Untersuchung ihren Standpunkt geändert hat und zu der Schlussfolgerung gelangt ist, dass die Zuschussfähigkeit der Kosten an einem Verstoß gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge scheitere und nicht an einem Verstoß gegen den Grundsatz der Kosteneffizienz bei der Vergabe von Aufträgen an Unternehmen, die derselben Unternehmensgruppe angehörten. In ihrem Schreiben vom 6. Juli 2015 hat die Kommission der Klägerin nämlich mitgeteilt, dass die mit den in Rede stehenden, direkt auf CESI übertragenen Aufgaben verbundenen Kosten nicht zuschussfähig seien, weil die Rahmenvereinbarungen ohne ein Ausschreibungsverfahren vergeben worden seien und die Klägerin ihrer Darlegungslast nach Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2004/17 nicht nachgekommen sei.
103 Im vorliegenden Fall hat die Kommission keine Sanktionsbefugnis ausgeübt, sondern sich auf die Feststellung beschränkt, dass Art. III.2.5.3 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 verletzt worden sei, der die Klägerin verpflichte, bei der Vergabe ihrer Aufträge die Vorschriften des Unionsrechts über öffentliche Aufträge zu beachten. Nachdem die Kommission diesen Verstoß festgestellt hatte, konnte sie zu keinem anderen Ergebnis gelangen, weil allein diejenigen Kosten der Maßnahme, die Aufträge betrafen, die im Einklang mit der Regelung der Union über öffentliche Aufträge vergeben worden waren, als für eine Kofinanzierung in Betracht kommende Kosten angesehen werden konnten, wie dies in den Art. III.2.5.3 und III.3.7 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010 vorgesehen ist. Folglich musste die Kommission, als sie feststellte, dass die Unionsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge bei einigen Vereinbarungen nicht eingehalten waren, die damit verbundenen Kosten für nicht zuschussfähig erklären, demgemäß den Betrag des Zuschusses errechnen und das Verfahren zur Rückforderung der Differenz zwischen den Beträgen der zuschussfähigen Kosten und den bereits gezahlten Beträgen einleiten. Somit erweisen sich die Beträge, die den nicht zuschussfähigen Kosten entsprechen, soweit diese auf rechtswidrig an CESI vergebene Aufträge entfallen, als rechtsgrundlos gezahlt und unterliegen als solche der Rückzahlungspflicht nach Art. III.3.9 Abs. 1 des Anhangs III der Entscheidungen vom 2. Dezember 2008 und vom 21. Mai 2010.
104 Außerdem kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, eine Sanktion verhängt zu haben, weil die zur Rückforderung eines Teils der gezahlten Vorschüsse ergriffenen Maßnahmen den Begünstigten weniger belasten als die völlige Streichung des Zuschusses. Nach Art. 116 Abs. 3 der Verordnung Nr. 966/2012 kann der öffentliche Auftraggeber nämlich die Ausführung des Vertrags aussetzen oder ihn gegebenenfalls kündigen, wenn sich nach der Zuschlagserteilung herausstellt, dass das Vergabeverfahren oder die Ausführung des Vertrags mit gravierenden Fehlern oder Unregelmäßigkeiten behaftet ist oder dass Betrug vorliegt. Wurden die gravierenden Fehler oder Unregelmäßigkeiten vom Auftragnehmer begangen, kann der öffentliche Auftraggeber außerdem je nach Schwere der Fehler oder Unregelmäßigkeiten oder des Betrugs die Zahlungen ablehnen oder rechtsgrundlos gezahlte Beträge einziehen.
105 Unter diesen Umständen ist der vierte Klagegrund zurückzuweisen und damit die vorliegende Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
106 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Terna – Rete elettrica nazionale SpA trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
Gratsias
Labucka
Ulloa Rubio
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Oktober 2018.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 26. September 2018.#Republik Portugal gegen Europäische Kommission.#EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Flächenbezogene Beihilfen – Kürzungen und Ausschlüsse bei Nichteinhaltung anderweitiger Verpflichtungen – Verordnung (EG) Nr. 73/2009 – Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 – Verordnung (EG) Nr. 885/2006 – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-463/16.
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62016TJ0463
|
ECLI:EU:T:2018:606
| 2018-09-26T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0463 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 20. September 2018.#Ghost – Corporate Management SA gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.#Unionsmarke – Anmeldung der Unionswortmarke Dry Zone – Rechtsmittelfrist – Verspätung – Unzulässigkeit der Beschwerde an die Beschwerdekammer – Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 (jetzt Art. 68 der Verordnung [EU] 2017/1001) – Kein zufälliger Untergang oder höhere Gewalt – Pflicht zu Wachsamkeit und Sorgfalt – Berechtigtes Vertrauen.#Rechtssache T-488/17.
|
62017TJ0488
|
ECLI:EU:T:2018:571
| 2018-09-20T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62017TJ0488 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 9. Oktober 2018.#1&1 Telecom GmbH gegen Europäische Kommission.#Nichtigkeitsklage – Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Endkundenmarkt für mobile Telekommunikationsdienste und Vorleistungsmarkt für Zugang und Verbindungsaufbau in Deutschland – Erwerb von E‑Plus durch Telefónica Deutschland – Beschluss zur Feststellung der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen – Durchführung der Nicht-MNO-Komponente der endgültigen Verpflichtungszusagen – Nicht anfechtbare Handlungen – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-43/16.
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62016TJ0043
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ECLI:EU:T:2018:660
| 2018-10-09T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016TJ0043
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
9. Oktober 2018 (*1)
„Nichtigkeitsklage – Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Endkundenmarkt für mobile Telekommunikationsdienste und Vorleistungsmarkt für Zugang und Verbindungsaufbau in Deutschland – Erwerb von E‑Plus durch Telefónica Deutschland – Beschluss zur Feststellung der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen – Durchführung der Nicht-MNO-Komponente der endgültigen Verpflichtungszusagen – Nicht anfechtbare Handlungen – Unzulässigkeit“
In der Rechtssache T‑43/16
1&1 Telecom GmbH mit Sitz in Montabaur (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt J.‑O. Murach und M. P. Alexiadis, Solicitor,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch N. Khan, M. Farley und C. Vollrath als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Telefónica Deutschland Holding AG mit Sitz in München (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte M. Bauer, H.‑J. Freund, B. Herbers und K. Baubkus,
Streithelferin,
betreffend eine auf Art. 263 AEUV gestützte Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission, der im Schreiben vom 19. November 2015 enthalten sein soll, das die Umsetzung der Nicht-MNO-Abhilfemaßnahmen in den durch den Beschluss C(2014) 4443 final der Kommission vom 2. Juli 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen, vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter Verpflichtungszusagen (Sache M.7018 – Telefónica Deutschland/E‑Plus), für verbindlich erklärten endgültigen Verpflichtungszusagen betrifft,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen sowie der Richter I. S. Forrester (Berichterstatter) und E. Perillo,
Kanzler: C. Heeren, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2017
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Mit dem Beschluss C(2014) 4443 final vom 2. Juli 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt und dem EWR-Abkommen (Sache M.7018 – Telefónica Deutschland/E‑Plus) erklärte die Europäische Kommission den Erwerb (im Folgenden: Zusammenschluss) der E‑Plus Mobilfunk GmbH & Co. KG (im Folgenden: E‑Plus) durch die Telefónica Deutschland Holding AG (im Folgenden: Telefónica Deutschland) vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter in den Anhängen dieses Beschlusses aufgeführter endgültiger Verpflichtungszusagen (im Folgenden: endgültige Verpflichtungszusagen) durch Telefónica Deutschland für mit dem Binnenmarkt und mit Art. 57 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vereinbar. Die endgültigen Verpflichtungszusagen bestehen aus drei Komponenten: einer als „Mobilfunknetzbetreiber“ bezeichneten Komponente (im Folgenden: MNO-Komponente), einer als „virtuelle Mobilfunknetzbetreiber – Mobiles-Bitstromzugangs-Angebot“ bezeichneten Komponente (im Folgenden: MVNO-MBA-Komponente) und einer als „Betreiber ohne eigenes Netz“ bezeichneten Komponente (im Folgenden: Nicht-MNO-Komponente).
2 Mit der MNO-Komponente verpflichtet sich Telefónica Deutschland im Wesentlichen, ein Frequenzspektrum an einen neuen MNO zu vermieten und ihm bestimmte Vermögenswerte und Dienste, die für den Eintritt als neuer MNO in den deutschen Markt erforderlich sind, zu verkaufen (Veräußerung von Sendestationen, Verkauf von Läden, Vereinbarung über nationales Roaming und eine passive Netzteilungsvereinbarung).
3 Mit der MVNO-MBA-Komponente verpflichtet sich Telefónica Deutschland im Wesentlichen zum Abschluss einer Vereinbarung über den Verkauf von 20 % der gesamten Netzwerkkapazität des aus dem Zusammenschluss hervorgehenden Unternehmens an einen oder mehrere (bis zu drei) Nicht-MNO-Betreiber. Die besonderen Geschäftsbedingungen dieser Vereinbarung sind verhandelbar, müssen aber folgenden Rahmen einhalten: Die Erwerber müssen sich verpflichten, für die gesamte ursprüngliche Vertragsdauer von fünf Jahren eine bestimmte Menge an Netzwerkkapazität und die entsprechende Menge an Sprach-, Daten- und Kurzmitteilungsverkehr zu einem vorbestimmten Preis, der nicht vom tatsächlich genutzten Volumen abhängt, zu erwerben; Telefónica Deutschland muss eine solche Vereinbarung mit mindestens einem Erwerber abschließen, bevor sie den Zusammenschluss durchführen kann; Telefónica Deutschland verpflichtet sich, den Erwerbern zusätzliche 10 % der gesamten Netzwerkkapazität des aus dem Zusammenschluss hervorgehenden Unternehmens zu im Voraus festgelegten Bedingungen anzubieten.
4 Mit der Nicht-MNO-Komponente geht Telefónica Deutschland insbesondere folgende Verpflichtungen ein (Rn. 77 und 78 der endgültigen Verpflichtungszusagen):
„a)
2G/3G/4G-Zugang für bestehende Großhändler
[Telefónica Deutschland] verpflichtet sich, allen MVNO oder Diensteanbietern, die sich derzeit bei [Telefónica Deutschland] und/oder E‑Plus mit 2G/3G/4G‑Produkten versorgen, anzubieten, ihre zum Zeitpunkt des Vollzugs [des Zusammenschlusses] bestehenden Verträge bis Ende 2025 (oder einem früheren Zeitpunkt, zu dem [Telefónica Deutschland] ihr Angebot von 2G-, 3G- oder 4G-Produkten an ihre Abnehmer beenden kann) zu verlängern.
[Telefónica Deutschland] wird allen bestehenden MVNO oder Diensteanbietern, die mit [Telefónica Deutschland] und/oder E‑Plus einen zum Vollzugszeitpunkt geltenden Vertrag über den Zugang zum 2G-, 3G- oder 4G-Netz abgeschlossen haben, proaktiv eine Selbstverpflichtungserklärung übersenden, mit der sie bis Ende 2025 (oder einem früheren Zeitpunkt, zu dem [Telefónica Deutschland] ihr Angebot von 2G-, 3G- oder 4G-Produkten gegenüber ihren Abnehmern beenden kann) auf ihr im betreffenden Vorleistungsvertrag festgelegtes Recht zur ordentlichen Kündigung verzichtet. Das (gesetzlich vorgesehene) Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund bleibt unberührt.“
5 Eine Zusammenfassung des Beschlusses C(2014) 4443 final wurde am 13. März 2015 im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2015, C 86, S. 10) veröffentlicht, und eine nicht vertrauliche Fassung des Beschlusses wurde am 15. Dezember 2015 auf der Website der Kommission veröffentlicht.
6 Am 12. Dezember 2013 schloss die Klägerin, die 1&1 Telecom GmbH (im Folgenden: Klägerin oder 1&1), einen MVNO-Vertrag mit E‑Plus, wonach E‑Plus ihr Zugang zu ihren 2G/3G/4G-Netzen gewährte (im Folgenden: MVNO-Vertrag mit E‑Plus).
7 Nach seiner Ziff. 10 wird der MVNO-Vertrag mit E‑Plus für eine Mindestlaufzeit von vier Jahren geschlossen. Nach Ablauf der Mindestlaufzeit verlängert sich der Vertrag automatisch auf unbestimmte Zeit, wenn nicht eine der Parteien ihn vor Ablauf der Mindestlaufzeit oder danach mit einer Frist von zwölf Monaten zum Ende eines jeden Kalenderquartals schriftlich kündigt.
8 Zudem bestimmt Ziff. 5.1 Abs. 1 des MVNO-Vertrags mit E‑Plus:
„Soweit [1&1] auch MVNO-Dienste oder vergleichbare Dienste von Dritten bezieht, verpflichtet sich [1&1], im ersten Jahr nach Vermarktungsstart im Jahresdurchschnitt 37 % und ab Beginn des 13. Monats nach Vermarktungsstart bis zum 24. Monat im Jahresdurchschnitt 43 % sowie ab Beginn des 25. Monats bis zum 48. Monat (Ende der Mindestvertragslaufzeit) jeweils im jährlichen Durchschnitt mindestens 46 % (‚Mindestanteile‘) seiner erfolgreich aktivierten Mobilfunkneukunden in Endkundentarifen mit einer Mindestvertragslaufzeit von 24 Monaten und einem monatlichen Grundpreis, die auf Basis von Leistungen geschaltet werden, die von E‑Plus tatsächlich erbracht werden und für die die Preise gemäß Anlage 2 Ziff. 2 dieses Vertrags gelten, im Netz von E‑Plus oder einem anderen Mobilfunknetz, welches mit E‑Plus gesellschaftsrechtlich gemäß §§ 15 ff. AktG [(deutsches Aktiengesetz)] verbunden ist, unter Nutzung der MVNO-Dienste als [1&1]-Kunden zu aktivieren (‚Gross Add Share‘ oder ‚Einlastquote‘). Im Rahmen der Zusammenarbeit beabsichtigt [1&1], einen Mindestanteil in der Einlastquote von 50 % zu erreichen …“
9 Ziff. 5.1 Abs. 4 und 5 des MVNO-Vertrags mit E‑Plus bestimmt auch, dass 1&1 bei Nichterfüllung der vertraglichen Pflicht, einen bestimmten Prozentsatz an Neukunden im Netz von E‑Plus zu aktivieren, verpflichtet ist, einen kommerziellen Ausgleich an E‑Plus zu zahlen.
10 Ziff. 15.7 des MVNO-Vertrags mit E-Plus bestimmt schließlich, dass Gerichtsstand für alle Streitigkeiten aufgrund des Vertrags Düsseldorf (Deutschland) ist.
11 Am 27. Februar 2015 richtete Telefónica Deutschland gemäß den Rn. 77 und 78 der endgültigen Verpflichtungszusagen eine Selbstverpflichtungserklärung an die Klägerin (im Folgenden: Selbstverpflichtungserklärung). Am 17. August 2015 richtete Telefónica Deutschland ein Schreiben zur Erläuterung bestimmter Bedingungen der Selbstverpflichtungserklärung (im Folgenden: Erläuterungsschreiben) an die Klägerin. Sowohl die Selbstverpflichtungserklärung als auch das Erläuterungsschreiben wurden auf der Grundlage eines Standardschreibens verfasst, das an alle MVNO und alle Diensteanbieter gesandt werden sollte, die bei Telefónica Deutschland einen Vertrag über den Zugang auf Vorleistungsebene abgeschlossen hatten.
12 Ziff. 2 („Verzicht auf ordentliches Kündigungsrecht“) der Selbstverpflichtungserklärung bestimmt:
„(1)
Soweit der [MVNO-Vertrag mit E‑Plus] E‑Plus zu einer ordentlichen Kündigung des Vertrages mit Wirkung vor dem 31.12.2025, 24.00 Uhr, berechtigen würde, verzichtet E‑Plus hiermit nach Maßgabe dieser Ziffer 2 auf dieses ordentliche Kündigungsrecht (‚Verzichtserklärung‘). Hierdurch ist eine ordentliche Kündigung durch E‑Plus mit Wirkung auf einen Zeitpunkt vor dem 31.12.2025, 24.00 Uhr, nach Maßgabe dieser Ziffer 2 ausgeschlossen und ist nach weiterer Maßgabe des [MVNO-Vertrags mit E‑Plus] frühestens zum 31.12.2025, 24.00 Uhr, möglich. Ziffer 1(2) gilt entsprechend.
…
(3) Sofern sich der [MVNO-Vertrag mit E‑Plus] bis zum 31.12.2025, 24.00 Uhr, oder einem Zeitpunkt danach verlängern würde, weil er durch E‑Plus infolge der Verzichtserklärung nicht mehr auf einen Zeitpunkt vor dem 31.12.2025, 24.00 Uhr, gekündigt werden kann, erfolgt die Verzichtserklärung mit der Maßgabe, dass sich auch Verpflichtungen [von 1&1], die bei der Vereinbarung der Gegenleistung [von 1&1] durch die Vertragsparteien berücksichtigt wurden (z. B. die Abnahme bestimmter Mindestmengen) und ohne die es zu einer Störung des Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung käme, auch dann mit den übrigen Bestimmungen des [MVNO-Vertrags mit E‑Plus] fortgelten, wenn die Dauer dieser Verpflichtungen im [MVNO-Vertrag mit E‑Plus] datumsmäßig bestimmt ist und es sich bei diesem Datum um das Datum handelt, zu dem der [MVNO-Vertrag mit E‑Plus] durch E‑Plus hätte gekündigt werden können.“
13 Am 18. August 2015 teilte die Klägerin der Kommission mit, dass sie „grundsätzlich mit dem Inhalt der Selbstverpflichtungserklärung einverstanden [ist]“.
14 Ab 3. September 2015 teilte die Klägerin der Kommission jedoch mehrfach mit, dass sie an der Rechtmäßigkeit von Ziff. 2 Abs. 3 der Selbstverpflichtungserklärung zweifele, weil ihrer Ansicht nach die endgültigen Verpflichtungszusagen Telefónica Deutschland verpflichteten, ein Schreiben zu versenden, mit dem sie bis Ende 2025 auf ihr Recht zur ordentlichen Kündigung des MVNO-Vertrags mit E‑Plus bedingungslos verzichte.
15 Mit E‑Mail vom 28. September 2015 vertrat das mit der Sache betraute Referat der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission im Wesentlichen die Ansicht, dass Telefónica Deutschland nicht gegen die endgültigen Verpflichtungszusagen verstoßen habe, als sie Ziff. 2 Abs. 3 in die Selbstverpflichtungserklärung eingefügt habe (im Folgenden: E‑Mail vom 28. September 2015). In der E‑Mail vom 28. September 2015 wurde darauf hingewiesen, dass es sich nur um eine Ansicht der Dienststellen der Kommission und nicht um einen Beschluss der Kommission handele.
16 Im Anschluss an die E‑Mail vom 28. September 2015 wiederholte die Klägerin ihre Rügen u. a. in einem Schreiben vom 9. Oktober 2015 an den Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission. Darin ersuchte die Klägerin die Kommission, einen förmlichen Beschluss darüber zu erlassen, ob die Selbstverpflichtungserklärung die endgültigen Verpflichtungszusagen einhalte.
17 Mit Schreiben vom 19. November 2015, das die Unterschrift des Generaldirektors der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission trägt, vertrat dieser die Ansicht, dass „die endgültigen Verpflichtungszusagen Telefónica nicht daran hindern, [Ziff. 2 Abs. 3] in den Text der Selbstverpflichtungserklärung einzufügen“, und dass dies „die Tatsache widerspiegelt, dass diese Bedingung nur den Zweck hat, sicherzustellen, dass der durch den (ursprünglich verhandelten und abgeschlossenen) [MVNO-Vertrag mit E‑Plus] erreichte Ausgleich der Geschäftsinteressen nicht infolge der gemäß den endgültigen Verpflichtungszusagen vorgenommenen Verlängerung beseitigt wird“. Daher kam der Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb zu dem Ergebnis, dass ihm „[im] Licht des Vorstehenden … in diesem Stadium nichts vorgelegt worden ist, was dafür spräche, dass die von Telefónica am 4. März 2015 übersandte und am 17. August durch das Erläuterungsschreiben ergänzte Selbstverpflichtungserklärung nicht mit den endgültigen Verpflichtungszusagen im Einklang steht“, und dass er daher „in diesem Stadium keinen Grund sieht, weitere Schritte gegen Telefónica zu unternehmen und/oder einen Beschluss in Bezug auf ihre Einhaltung der endgültigen Verpflichtungszusagen zu erlassen“.
18 Die vorliegende Klage richtet sich gegen den Beschluss der Kommission, der in dem oben in Rn. 17 angeführten Schreiben vom 19. November 2015 enthalten sein soll (im Folgenden: Schreiben vom 19. November 2015).
Verfahren und Anträge der Parteien
19 Mit Klageschrift, die am 29. Januar 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
20 Mit Schriftsatz, der am 25. Februar 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, mit der sie bestreitet, dass die Klageschrift ordnungsgemäß eingereicht worden sei. Mit Beschluss vom 22. Juni 2016, 1&1 Telecom/Kommission (T‑43/16, EU:T:2016:402), hat das Gericht die Einrede der Unzulässigkeit zurückgewiesen.
21 Mit Schriftsatz, der am 16. März 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Telefónica Deutschland beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 14. September 2016 hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts sie als Streithelferin zugelassen. Der Schriftsatz von Telefónica Deutschland und die Stellungnahmen der Hauptparteien zu ihm sind fristgerecht eingereicht worden.
22 Parallel zur vorliegenden Rechtssache hatte die Klägerin mit Klageschrift, die am 5. Juni 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen und unter dem Aktenzeichen T‑307/15 in das Register eingetragen worden ist, auch eine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2014) 4443 final erhoben. Mit Schriftsatz, der am 11. September 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin diese Klage jedoch zurückgenommen, und die Rechtssache T‑307/15 ist mit Beschluss vom 23. Oktober 2017, 1&1 Telecom/Kommission (T‑307/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:773), im Register gestrichen worden.
23 Die Klägerin beantragt,
–
den im Schreiben der Kommission vom 19. November 2015 enthaltenen Beschluss für nichtig zu erklären;
–
der Kommission aufzuerlegen, Telefónica Deutschland zur Übermittlung einer neuen Selbstverpflichtungserklärung zu verpflichten, die strikt auf ihre in Nr. 78 der endgültigen Verpflichtungszusagen dargelegte Verpflichtung beschränkt ist;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
24 Die Kommission beantragt,
–
die Klage insgesamt abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
25 Telefónica Deutschland beantragt,
–
die Klage insgesamt abzuweisen;
–
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit
26 Ohne förmlich eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 130 der Verfahrensordnung zu erheben, macht die Kommission geltend, die Klage sei insgesamt unzulässig.
Zum ersten, auf die Nichtigerklärung des Schreibens vom 19. November 2015 gerichteten Antrag
27 Die Kommission, unterstützt durch Telefónica Deutschland, macht geltend, der erste Antrag der Klägerin sei unzulässig, weil das Schreiben vom 19. November 2015 keine Handlung sei, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV sein könne.
28 Im Einzelnen trägt die Kommission zunächst vor, das Schreiben vom 19. November 2015 äußere nur eine Meinung zu der Frage, ob die Selbstverpflichtungserklärung mit den endgültigen Verpflichtungszusagen zu vereinbaren sei. Eine Meinungsäußerung sei jedoch keine anfechtbare Handlung. Ferner sei das Schreiben vom 19. November 2015 nicht erforderlich gewesen, weil es das in den endgültigen Verpflichtungszusagen vorgesehene beschleunigte Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten und die Vereinbarung des Gerichtsstands Düsseldorf für alle Streitigkeiten im Rahmen des MVNO-Vertrags mit E‑Plus gebe. Schließlich entfalte das Schreiben vom 19. November 2015 keine Rechtswirkungen gegenüber der Klägerin, weil das Rechtsverhältnis zwischen Telefónica Deutschland und ihr ausschließlich durch die endgültigen Verpflichtungszusagen und den MVNO-Vertrag mit E‑Plus geregelt sei.
29 Die Klägerin tritt dem Vorbringen der Kommission entgegen und trägt vor, das Schreiben vom 19. November 2015 stelle sehr wohl eine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV dar.
30 Erstens sei es für die Prüfung der Frage, ob das Schreiben vom 19. November 2015 eine anfechtbare Handlung darstelle, unerheblich, welche Form es habe. Das Schreiben lege den Standpunkt der Kommission zur Frage der Rechtmäßigkeit von Ziff. 2 Abs. 3 der Selbstverpflichtungserklärung endgültig fest. Zudem erzeuge es Rechtswirkungen für die Klägerin, da sich Telefónica Deutschland darauf berufen könne und da es eine der nach Ablauf der Mindestlaufzeit des MVNO-Vertrags mit E‑Plus bestehenden Möglichkeiten, nämlich dessen Verlängerung ohne Mindestabnahmepflicht, unmöglich mache. Damit erlege das Schreiben vom 19. November 2015 der Klägerin eine Belastung auf.
31 Zweitens seien die Kommission und der Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb für die Entscheidung über die Auslegung und die Umsetzung der endgültigen Verpflichtungszusagen zuständig. Daher müsse der Unionsrichter dafür zuständig sein, die Rechtmäßigkeit der von der Kommission vorgenommenen Auslegung zu überprüfen, da andernfalls der Klägerin ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz genommen würde.
32 Drittens sei es unerheblich, ob das Schreiben vom 19. November 2015 erforderlich gewesen sei oder eine Rechtsfrage betroffen habe. Ebenso wenig sei es erheblich, dass die Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1) keinen Rahmen für die Zurückweisung von Beschwerden wegen Nichteinhaltung der Verpflichtungszusagen durch Beschluss vorsehe.
33 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach einer gefestigten Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen für die Feststellung, ob eine Handlung Gegenstand einer solchen Klage sein kann, auf ihr Wesen abzustellen ist, da die Form ihres Erlasses insoweit grundsätzlich ohne Bedeutung ist (Urteile vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 9, vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, EU:C:2008:422, Rn. 42 und 43, und vom 19. Januar 2017, Kommission/Total und Elf Aquitaine, C‑351/15 P, EU:C:2017:27, Rn. 35).
34 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung stellen nur Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, die die Interessen des Klägers durch eine qualifizierte Änderung seiner Rechtsstellung beeinträchtigen können, Handlungen oder Beschlüsse dar, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können (Urteile vom 11. November 1981, IBM/Kommission, 60/81, EU:C:1981:264, Rn. 9, vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, EU:C:2008:422, Rn. 29, und vom 19. Januar 2017, Kommission/Total und Elf Aquitaine, C‑351/15 P, EU:C:2017:27, Rn. 36).
35 Somit ist die Nichtigkeitsklage grundsätzlich nur gegen eine Maßnahme eröffnet, mit der das betreffende Organ am Ende eines Verwaltungsverfahrens seinen Standpunkt endgültig festlegt. Hingegen können Zwischenhandlungen, die der Vorbereitung des endgültigen Beschlusses dienen, sowie bestätigende oder reine Durchführungshandlungen nicht als anfechtbar qualifiziert werden, da solche Handlungen nicht darauf gerichtet sind, in Bezug auf die Handlung des Unionsorgans, die vorbereitet, bestätigt oder durchgeführt wird, selbständige verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C‑131/03 P, EU:C:2006:541, Rn. 55, vom 6. Dezember 2007, Kommission/Ferriere Nord, C‑516/06 P, EU:C:2007:763, Rn. 29, und vom 19. Januar 2017, Kommission/Total und Elf Aquitaine, C‑351/15 P, EU:C:2017:27, Rn. 37).
36 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die Kommission mit dem Schreiben vom 19. November 2015 eine Handlung vorgenommen hat, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, die die Interessen der Klägerin durch eine qualifizierte Änderung ihrer Rechtsstellung im Sinne von Art. 263 AEUV beeinträchtigen können.
37 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Kommission mit dem Schreiben vom 19. November 2015, dessen Inhalt oben in Rn. 17 wiedergegeben worden ist, im Wesentlichen zum einen die endgültigen Verpflichtungszusagen im vorliegenden Zusammenhang ausgelegt hat und zum anderen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass kein Anlass bestehe, gegenüber Telefónica Deutschland Maßnahmen zu ergreifen oder einen Beschluss über die Einhaltung der endgültigen Verpflichtungszusagen zu erlassen.
38 Erstens ist, soweit im Schreiben vom 19. November 2015 in Verbindung mit der E‑Mail vom 28. September 2015 die endgültigen Verpflichtungszusagen dahin ausgelegt werden, dass sie Telefónica Deutschland nicht daran hinderten, Ziff. 2 Abs. 3 in den Text der Selbstverpflichtungserklärung einzufügen, darauf hinzuweisen, dass eine schriftliche Meinungsäußerung oder eine bloße Absichtserklärung nach ständiger Rechtsprechung keinen Beschluss darstellen kann, der mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden kann, da sie keine Rechtswirkungen erzeugen kann oder nicht darauf gerichtet ist, solche Wirkungen zu erzeugen (Beschlüsse vom 2. September 2009, E.ON Ruhrgas und E.ON Földgáz Trade/Kommission, T‑57/07, nicht veröffentlicht, EU:T:2009:297, Rn. 31, und vom 12. Februar 2010, Kommission/CdT, T‑456/07, EU:T:2010:39, Rn. 55, sowie Urteil vom 15. Juli 2015, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission, T‑393/10, EU:T:2015:515, Rn. 96).
39 Zwar stellt die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung einer Rechtsvorschrift keine anfechtbare Handlung dar, doch trifft es – wie die Klägerin geltend macht – zu, dass ihre Anwendung auf einen bestimmten Sachverhalt grundsätzlich rechtliche Wirkungen erzeugen kann (vgl. Beschluss vom 2. September 2009, E.ON Ruhrgas und E.ON Földgáz Trade/Kommission, T‑57/07, nicht veröffentlicht, EU:T:2009:297, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Gleichwohl ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin festzustellen, dass im vorliegenden Fall das Schreiben vom 19. November 2015 die endgültigen Verpflichtungszusagen nur bestätigt, ohne die Rechtsstellung der Klägerin zu verändern. Auch wenn im Schreiben vom 19. November 2015 Tatsachen berücksichtigt werden, die nach dem Erlass des Beschlusses C(2014) 4443 final zutage getreten sind – und zwar die Selbstverpflichtungserklärung –, beschränkt es sich im Wesentlichen darauf, den Inhalt der endgültigen Verpflichtungszusagen zu wiederholen, ohne im Verhältnis zu ihnen neue Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte zu enthalten (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 7. Dezember 2004, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, C‑521/03 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2004:778, Rn. 47, und vom 17. Februar 2011, RapidEye/Kommission, T‑330/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:48, Rn. 28 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Weder die Selbstverpflichtungserklärung noch das Schreiben vom 19. November 2015 können die Rechtsstellung der Klägerin nämlich wesentlich verändern, da die Rechte und Pflichten von Telefónica Deutschland und der Nicht-MNO-Betreiber, die die Nicht-MNO-Komponente der endgültigen Verpflichtungszusagen in Anspruch nehmen möchten, ausschließlich durch die endgültigen Verpflichtungszusagen geregelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Februar 2001, Inpesca/Kommission, T‑186/98, EU:T:2001:42, Rn. 51).
41 Das Schreiben vom 19. November 2015 stellt auch keine Überprüfung der Pflichten von Telefónica Deutschland im Licht neuer und wesentlicher Tatsachen dar, sondern nur eine Wiederholung ihrer in den endgültigen Verpflichtungszusagen festgelegten und nach einer Überprüfung durch die Kommission mit dem Beschluss C(2014) 4443 final für verbindlich erklärten Pflichten. Folglich ist das Schreiben vom 19. November 2015 eine rein bestätigende Handlung. Daher ist die vorliegende Rechtssache von den Rechtssachen zu unterscheiden, in denen festgestellt wurde, dass die angefochtene Handlung keine bloße Bestätigung einer früheren Entscheidung war, weil sie auf der Grundlage anderer tatsächlicher und rechtlicher Gesichtspunkte als der zuvor geprüften und aus anderen als den der früheren Entscheidung zugrunde liegenden Gründen ergangen war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2015, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission, T‑393/10, EU:T:2015:515, Rn. 107).
42 Dies gilt umso mehr, als Telefónica Deutschland nicht die Adressatin des Schreibens vom 19. November 2015 war und es nicht gemäß Art. 8 Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 139/2004 erging. Das Schreiben kann somit nicht geeignet sein, die aus den endgültigen Verpflichtungszusagen hervorgehenden Pflichten von Telefónica Deutschland in irgendeiner Weise zu ändern, und dies gilt folglich auch für die Rechtsstellung Dritter, wie der Klägerin, im Allgemeinen oder gegenüber Telefónica Deutschland.
43 Des Weiteren ändert der Umstand, dass Telefónica Deutschland versuchen könnte, das Schreiben vom 19. November 2015 zu verwenden, um geltend zu machen, dass Ziff. 2 Abs. 3 der Selbstverpflichtungserklärung die Klägerin verpflichte, die in Ziff. 5.1 des MVNO-Vertrags mit E‑Plus vereinbarten Mindestabnahmepflichten bis Ende 2025 einzuhalten, falls der Vertrag gemäß den endgültigen Verpflichtungszusagen bis dahin verlängert werde, entgegen dem Vorbringen der Klägerin nichts an der Rechtsnatur des Schreibens (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2005, Italien/Kommission, C‑301/03, EU:C:2005:727, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 2. September 2009, E.ON Ruhrgas und E.ON Földgáz Trade/Kommission, T‑57/07, nicht veröffentlicht, EU:T:2009:297, Rn. 49). Wie oben in den Rn. 40 bis 42 dargelegt, beschränkt sich das Schreiben vom 19. November 2015 nämlich auf eine Wiederholung des Inhalts der endgültigen Verpflichtungszusagen, ohne dass es eigene Rechtswirkungen erzeugen soll. Die in dem Schreiben von der Kommission vorgenommene Auslegung der endgültigen Verpflichtungszusagen fügt den daraus zu entnehmenden Rechten und Pflichten nichts hinzu und bindet in keiner Weise ein nationales Gericht, das über einen Rechtsstreit zwischen den Parteien mit diesem Gegenstand zu entscheiden hätte.
44 Folglich stellt das Schreiben vom 19. November 2015, soweit darin die Tragweite der endgültigen Verpflichtungszusagen ausgelegt wird, keinen Beschluss dar, sondern eine bloße rechtlich unverbindliche Erklärung, zu der die Kommission im Rahmen der nachträglichen Überwachung der ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Beschlüsse im Bereich der Kontrolle von Zusammenschlüssen befugt ist (vgl. entsprechend Beschluss vom 17. Februar 2011, RapidEye/Kommission, T‑330/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:48, Rn. 44).
45 Zweitens ist insoweit, als im Schreiben vom 19. November 2015 in Beantwortung der entsprechenden Anträge der Klägerin ausgeführt wird, dass kein Anlass bestehe, gegenüber Telefónica Deutschland Maßnahmen zu ergreifen oder einen Beschluss über die Einhaltung der endgültigen Verpflichtungszusagen zu erlassen, darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die schriftliche Beantwortung eines Antrags durch ein Unionsorgan nicht ausreicht, um das entsprechende Schreiben als Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV anzusehen, gegen die Nichtigkeitsklage erhoben werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 1993, Zunis Holding u. a./Kommission, T‑83/92, EU:T:1993:93, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klägerin über kein individuelles Recht verfügt, die Kommission zum Erlass eines Beschlusses zu verpflichten, mit dem sie einen Verstoß von Telefónica Deutschland gegen die endgültigen Verpflichtungszusagen feststellen und Maßnahmen ergreifen würde, um nach Art. 8 Abs. 4 oder 5 der Verordnung Nr. 139/2004 die Bedingungen eines wirksamen Wettbewerbs wiederherzustellen, und zwar auch dann nicht, wenn die einen solchen Beschluss rechtfertigenden Bedingungen erfüllt wären (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 27. Januar 2015, UNIC/Kommission, T‑338/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:59, Rn. 29, und vom 24. November 2015, Delta Group agroalimentare/Kommission, T‑163/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:911, Rn. 29 und 39). Das Schreiben vom 19. November 2015 kann daher kein Beschluss sein, der Rechtswirkungen gegenüber der Klägerin zu erzeugen vermag, die ihre Rechtsstellung ändern können.
47 Weder die Verordnung Nr. 139/2004 noch die Verordnung (EG) Nr. 802/2004 der Kommission vom 7. April 2004 zur Durchführung der Verordnung Nr. 139/2004 (ABl. 2004, L 133, S. 1) sieht nämlich ein Verfahren vor, das es den an einem Zusammenschluss unbeteiligten Dritten gestatten würde, bei der Kommission eine förmliche Beschwerde gegen die Parteien des Zusammenschlusses wegen Verstoßes gegen die Bedingungen des Beschlusses, mit dem der Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird, einzulegen, auch wenn die Dritten durch diese Bedingungen potenziell begünstigt werden. Selbst wenn es sich um eine Lücke im Bereich der Kontrolle von Zusammenschlüssen handeln sollte, wäre es gegebenenfalls Aufgabe des Gesetzgebers und nicht des Unionsrichters, sie zu schließen.
48 Infolgedessen ist die Kommission, anders als nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101 und 102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) und Art. 12 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9), nicht verpflichtet, etwaige wegen der Nichtbefolgung von Beschlüssen über die Kontrolle von Zusammenschlüssen eingelegte Beschwerden mit einem Beschluss zu beantworten, der mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden kann. Die Rechtsprechung über die Zurückweisung einer Beschwerde im Bereich staatlicher Beihilfen ist daher für die vorliegende Rechtssache nicht relevant.
49 Somit erzeugt das Schreiben vom 19. November 2015, mit dem die Kommission der Klägerin im Wesentlichen mitteilt, dass sie keine Maßnahmen gegenüber Telefónica Deutschland ergreifen werde, keine verbindlichen Rechtswirkungen, die die Interessen der Klägerin beeinträchtigen können (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 27. Januar 2015, UNIC/Kommission, T‑338/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:59, Rn. 29, und vom 24. November 2015, Delta Group agroalimentare/Kommission, T‑163/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:911, Rn. 29 und 39).
50 Da das Schreiben vom 19. November 2015 keinen Beschluss darstellt (siehe oben, Rn. 44) und keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt, die die Interessen der Klägerin beeinträchtigen können (siehe oben, Rn. 49), ist zudem festzustellen, dass das Vorbringen der Klägerin, mit dem dargetan werden soll, dass sie von dem Schreiben unmittelbar und individuell betroffen sei, ins Leere geht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2005, Kommission/max.mobil, C‑141/02 P, EU:C:2005:98, Rn. 70, und Beschluss vom 23. September 2011, Vivendi/Kommission, T‑567/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:528, Rn. 16 und 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Der oben in den Rn. 44 und 49 gezogene Schluss wird durch das Vorbringen der Klägerin, dass die Zurückweisung ihres ersten Antrags wegen Unzulässigkeit ihr Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzen könne, nicht in Frage gestellt.
52 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Einzelne die Möglichkeit haben muss, einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch zu nehmen, die er aus der Rechtsordnung der Union herleitet. Der Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz wurde förmlich anerkannt in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der bestimmt: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“
53 Ferner heißt es in Art. 19 EUV: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
54 Infolgedessen hat der AEU-Vertrag in Art. 263 einerseits und in Art. 267 andererseits ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe gewährleisten soll, mit der der Unionsrichter betraut wird. Nach diesem System haben natürliche oder juristische Personen, die wegen der in Art. 263 AEUV aufgestellten Zulässigkeitsvoraussetzungen Unionshandlungen nicht unmittelbar anfechten können, die Möglichkeit, die Ungültigkeit solcher Handlungen vor den nationalen Gerichten geltend zu machen und diese Gerichte, die nicht befugt sind, die Ungültigkeit der Handlungen selbst festzustellen, zu veranlassen, dem Gerichtshof insoweit Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
55 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Kontrolle von Zusammenschlüssen dazu dient, den betroffenen Unternehmen die erforderliche vorherige Genehmigung für den Vollzug eines Zusammenschlusses von unionsweiter Bedeutung zu verschaffen. Im Rahmen dieser Kontrolle können die Unternehmen der Kommission Verpflichtungszusagen vorschlagen, um eine Entscheidung zu erwirken, mit der die Vereinbarkeit ihres Vorhabens mit dem Binnenmarkt festgestellt wird (Urteil vom 6. Juli 2010, Ryanair/Kommission, T‑342/07, EU:T:2010:280, Rn. 448).
56 Die vorgeschlagenen Verpflichtungen sollen es der Kommission je nach dem Stand des Verwaltungsverfahrens ermöglichen, zu dem Schluss zu gelangen, dass das angemeldete Vorhaben im Stadium der Voruntersuchung keinen Anlass mehr zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gibt (Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004), oder den im Rahmen der eingehenden Prüfung berücksichtigten Einwänden Rechnung zu tragen (Art. 18 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004). Die Verpflichtungszusagen ermöglichen es also, schon die Einleitung einer Phase der eingehenden Prüfung zu vermeiden oder später den Erlass einer Entscheidung zu vermeiden, mit der der Zusammenschluss für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird (Urteil vom 6. Juli 2010, Ryanair/Kommission, T‑342/07, EU:T:2010:280, Rn. 449).
57 Nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 kann die Kommission nämlich eine Entscheidung, mit der ein Zusammenschluss nach dem in Art. 2 Abs. 2 der Verordnung aufgestellten Kriterium für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird, mit Bedingungen und Auflagen verbinden, um sicherzustellen, dass die beteiligten Unternehmen den Verpflichtungen nachkommen, die sie ihr gegenüber hinsichtlich einer mit dem Binnenmarkt zu vereinbarenden Gestaltung des Zusammenschlusses eingegangen sind (Urteil vom 6. Juli 2010, Ryanair/Kommission, T‑342/07, EU:T:2010:280, Rn. 450).
58 Schon aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 geht somit hervor, dass die Kommission Verpflichtungserklärungen, die von den betreffenden Unternehmen angeboten werden, durch Beschluss für verbindlich erklären kann, wenn sie das angemeldete Vorhaben mit dem Binnenmarkt vereinbar machen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2010, Ryanair/Kommission, T‑342/07, EU:T:2010:280, Rn. 452).
59 Dadurch kann ein Beschluss nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004, indem ein bestimmtes Verhalten eines Wirtschaftsteilnehmers gegenüber Dritten für verbindlich erklärt wird, mittelbar Rechtswirkungen erga omnes aufweisen, die das betreffende Unternehmen für sich allein nicht hätte erzeugen können.
60 Im vorliegenden Fall hat sich Telefónica Deutschland mit den endgültigen Verpflichtungszusagen in rechtlich verbindlicher Weise verpflichtet, allen bestehenden MVNO und Diensteanbietern, die mit ihr oder mit E‑Plus einen Vertrag über den Zugang zum 2G-, 3G- oder 4G-Netz abgeschlossen hatten, „proaktiv“ eine Selbstverpflichtungserklärung zu übersenden, in der sie bis Ende 2025 auf ihr in dem betreffenden Vorleistungsvertrag festgelegtes Recht zur ordentlichen Kündigung verzichtet (Nr. 78 der endgültigen Verpflichtungszusagen). Unter diesen Umständen haben die endgültigen Verpflichtungszusagen mittelbar Rechtswirkungen zugunsten der von den Bestimmungen der Nicht-MNO-Komponente betroffenen Dritten erzeugt, deren Einhaltung von den zuständigen nationalen Gerichten, unbeschadet der der Kommission in diesem Bereich nach dem Unionsrecht zustehenden Vorrechte, kontrolliert wird. Unbeschadet der Möglichkeit für die Kommission, einen Verstoß gegen die endgültigen Verpflichtungszusagen festzustellen und mittels eines Beschlusses nach Art. 8 Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 139/2004 die von ihr für angemessen gehaltenen Maßnahmen zu ergreifen, steht es folglich den von den Bestimmungen der Nicht-MNO-Komponente betroffenen Dritten, zu denen die Klägerin gehören kann, frei, sich darauf vor den zuständigen nationalen Gerichten zu berufen. Diese Gerichte haben dann in solchen Rechtsstreitigkeiten über die Umsetzung der endgültigen Verpflichtungszusagen zu entscheiden. In diesem Zusammenhang stellt eine Meinungsäußerung der Kommission zur Auslegung der endgültigen Verpflichtungszusagen nur eine mögliche Auslegung dar, die im Gegensatz zu Beschlüssen im Sinne von Art. 288 AEUV nur zur Bildung einer Überzeugung dienen kann und die zuständigen nationalen Gerichte nicht bindet. Außerdem können oder müssen diese Gerichte nach Art. 267 AEUV dem Gerichtshof eine die Gültigkeit oder die Auslegung der endgültigen Verpflichtungszusagen oder des Beschlusses C(2014) 4443 final betreffende Frage zur Vorabentscheidung vorlegen.
61 Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als es in dem Rechtsstreit zwischen der Klägerin und Telefónica Deutschland darum geht, wie Telefónica Deutschland ihre durch die endgültigen Verpflichtungszusagen geänderten vertraglichen Pflichten aus dem MVNO-Vertrag mit E‑Plus umsetzt. Aus Ziff. 15.7 des MVNO-Vertrags mit E‑Plus geht jedoch ausdrücklich hervor, dass der Gerichtsstand für alle Streitigkeiten aufgrund dieses Vertrags Düsseldorf ist.
62 Nach alledem ist festzustellen, dass das Schreiben vom 19. November 2015 keine Handlung mit Beschlusscharakter darstellt, gegen die nach Art. 263 AEUV eine Nichtigkeitsklage erhoben werden kann. Deshalb ist der erste Antrag der Klägerin als unzulässig zurückzuweisen.
Zum zweiten Antrag, der darauf gerichtet ist, der Kommission aufzugeben, Telefónica Deutschland zur Übersendung einer neuen Selbstverpflichtungserklärung zu verpflichten
63 Die Kommission, unterstützt durch Telefónica Deutschland, trägt vor, der zweite Antrag sei unzulässig, da er einen Versuch darstelle, eine Anordnung zu erwirken.
64 Wie die Kommission zu Recht vorträgt, geht insoweit aus einer ständigen Rechtsprechung hervor, dass das Gericht nicht befugt ist, den Unionsorganen Anordnungen zu erteilen (Urteile vom 24. Juni 1986, AKZO Chemie und AKZO Chemie UK/Kommission, 53/85, EU:C:1986:256, Rn. 23, und vom 24. Januar 1995, Ladbroke Racing/Kommission, T‑74/92, EU:T:1995:10, Rn. 75).
65 Infolgedessen ist der zweite Antrag als unzulässig zurückzuweisen, so dass die Klage insgesamt abzuweisen ist.
Kosten
66 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da im vorliegenden Fall die Klägerin unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission und von Telefónica Deutschland ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission und von Telefónica Deutschland aufzuerlegen, mit Ausnahme der Kosten, die der Kommission im Rahmen der mit Beschluss vom 22. Juni 2016, 1&1 Telecom/Kommission (T‑43/16, EU:T:2016:402), zurückgewiesenen Einrede der Unzulässigkeit entstanden sind.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die 1&1 Telecom GmbH trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission und der Telefónica Deutschland Holding AG, mit Ausnahme der Kosten, die der Kommission im Rahmen der mit Beschluss vom 22. Juni 2016, 1&1 Telecom/Kommission (T‑43/16, EU:T:2016:402), zurückgewiesenen Einrede der Unzulässigkeit entstanden sind.
Frimodt Nielsen
Forrester
Perillo
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. Oktober 2018.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 4. Oktober 2018.#Legatoria Editoriale Giovanni Olivotto (L.E.G.O.) SpA gegen Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Für ein Wärmekraftwerk verwendete flüssige Biobrennstoffe – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 17 – Kriterien für die Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen – Art. 18 – Nationale Systeme zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit – Durchführungsbeschluss 2011/438/EU – Freiwillige, von der Europäischen Kommission genehmigte Systeme zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen – Nationale Regelung, die Zwischenhändler zur Vorlage von Nachhaltigkeitszertifikaten verpflichtet – Art. 34 AEUV – Freier Warenverkehr.#Rechtssache C-242/17.
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62017CJ0242
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ECLI:EU:C:2018:804
| 2018-10-04T00:00:00 |
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62017CJ0242
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
4. Oktober 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Für ein Wärmekraftwerk verwendete flüssige Biobrennstoffe – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 17 – Kriterien für die Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen – Art. 18 Nationale Systeme zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit – Durchführungsbeschluss 2011/438/EU – Freiwillige, von der Europäischen Kommission genehmigte Systeme zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen – Nationale Regelung, die Zwischenhändler zur Vorlage von Nachhaltigkeitszertifikaten verpflichtet – Art. 34 AEUV – Freier Warenverkehr“
In der Rechtssache C‑242/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 26. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2017, in dem Verfahren
Legatoria Editoriale Giovanni Olivotto (L.E.G.O.) SpA
gegen
Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA,
Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare,
Ministero dello Sviluppo Economico,
Ministero delle Politiche Agricole e Forestali,
Beteiligte:
ED & F Man Liquid Products Italia Srl,
Unigrà Srl,
Movendi Srl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Legatoria Editoriale Giovanni Olivotto (L.E.G.O.) SpA, vertreten durch A. Fantini und G. Scaccia, avvocati,
–
der Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA, vertreten durch S. Fidanzia und A. Gigliola, avvocati,
–
der ED & F Man Liquid Products Italia Srl, vertreten durch C. E. Rossi und F. P. Francica, avvocati,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Mai 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 16) in Verbindung mit dem Durchführungsbeschluss 2011/438/EU der Kommission vom 19. Juli 2011 über die Anerkennung des Zertifizierungssystems „International Sustainability and Carbon Certification“ zum Nachweis der Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien der Richtlinien 2009/28/EG und 2009/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 190, S. 79).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Legatoria Editoriale Giovanni Olivotto SpA (L.E.G.O.) SpA auf der einen und der Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA, dem Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Mare e del Territorio (Ministerium für Umwelt, Landschafts- und Meeresschutz, Italien), dem Ministero dello Sviluppo Economico (Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Italien) sowie dem Ministero delle Politiche Agricole e Forestali (Ministerium für Landwirtschafts- und Forstpolitik, Italien) auf der anderen Seite wegen der Nichtvorlage von Nachhaltigkeitszertifikaten bezüglich der für den Betrieb des Wärmekraftwerks von L.E.G.O. verwendeten flüssigen Biobrennstoffe, da diese Nichtvorlage den Ausschluss von der Anreizregelung der grünen Zertifikate zur Folge hatte, die für dieses Kraftwerk erteilt worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2009/28
3 Die Erwägungsgründe 65, 67, 76 und 79 der Richtlinie 2009/28 lauten:
„(65)
Die Herstellung von Biokraftstoffen sollte auf nachhaltige Weise erfolgen. Biokraftstoffe, die dafür verwendet werden, die Ziele dieser Richtlinie zu erreichen, und Biokraftstoffe, denen nationale Förderregelungen zugutekommen, sollten daher Nachhaltigkeitskriterien erfüllen müssen.
…
(67) Die Einführung von Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe wird ihr Ziel verfehlen, wenn sie Produkte hervorbringt, die die Kriterien nicht erfüllen und die statt als Biokraftstoffe als flüssige Biobrennstoffe im Wärme- oder im Elektrizitätssektor verwendet werden. Aus diesem Grund sollten die Nachhaltigkeitskriterien auch für flüssige Biobrennstoffe im Allgemeinen gelten.
…
(76) Die Nachhaltigkeitskriterien werden nur wirksam sein, wenn sie zu einem veränderten Verhalten der Marktteilnehmer führen. Diese Änderungen werden nur erfolgen, wenn Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe, die die Kriterien erfüllen, gegenüber jenen, die die Kriterien nicht erfüllen, einen Preisaufschlag rechtfertigen. Nach der Massenbilanzmethode zur Überprüfung der Einhaltung der Kriterien gibt es eine konkrete Verbindung zwischen der Herstellung von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen, die die Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, und dem Verbrauch von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen in der [Union], wodurch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage geschaffen und ein Preisaufschlag gewährleistet wird, der höher ist als in Systemen ohne eine solche Verbindung. Zur Überprüfung der Einhaltung der Kriterien sollte daher die Massenbilanzmethode verwendet werden, damit sichergestellt wird, dass Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe, die die Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, zu einem höheren Preis verkauft werden können. Dies sollte die Integrität des Systems wahren und gleichzeitig vermeiden, dass der Industrie ein unvertretbarer Aufwand abverlangt wird. Andere Überprüfungsmethoden sollten jedoch geprüft werden.
…
(79) Die Förderung multilateraler und bilateraler Übereinkünfte sowie freiwilliger internationaler oder nationaler Systeme, in denen Standards für die nachhaltige Herstellung von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen festgelegt sind und die bescheinigen, dass die Herstellung von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen diese Standards erfüll[t], ist im Interesse der Gemeinschaft. Daher sollte vorgesehen werden, dass solche Übereinkünfte oder Systeme zuverlässige Erkenntnisse und Daten hervorbringen, sofern sie angemessene Standards der Zuverlässigkeit, Transparenz und unabhängiger Audits erfüllen.“
4 Die Begriffe „Biomasse“, „flüssige Biobrennstoffe“ und „Biokraftstoffe“ bezeichnen nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2009/28:
„…
e)
‚Biomasse‘ den biologisch abbaubaren Teil von Erzeugnissen, Abfällen und Reststoffen der Landwirtschaft mit biologischem Ursprung (einschließlich pflanzlicher und tierischer Stoffe), der Forstwirtschaft und damit verbundener Wirtschaftszweige einschließlich der Fischerei und der Aquakultur sowie den biologisch abbaubaren Teil von Abfällen aus Industrie und Haushalten;
…
h)
‚flüssige Biobrennstoffe‘ flüssige Brennstoffe, die aus Biomasse hergestellt werden und für den Einsatz zu energetischen Zwecken, mit Ausnahme des Transports, einschließlich Elektrizität, Wärme und Kälte, bestimmt sind;
i)
‚Biokraftstoffe‘ flüssige oder gasförmige Kraftstoffe für den Verkehr, die aus Biomasse hergestellt werden“.
5 Art. 17 („Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe und flüssige Brennstoffe“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1:
„Ungeachtet der Frage, ob Rohstoffe innerhalb oder außerhalb der [Union] angebaut wurden, wird Energie in Form von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen für die in den Buchstaben a, b und c genannten Zwecke nur dann berücksichtigt, wenn sie die in den Absätzen 2 bis 6 dieses Artikels festgelegten Nachhaltigkeitskriterien erfüllen:
a)
Bewertung der Einhaltung der die nationalen Ziele betreffenden Anforderungen der Richtlinie,
b)
Bewertung der Einhaltung der Verpflichtungen zur Nutzung erneuerbarer Energie,
c)
Möglichkeit der finanziellen Förderung für den Verbrauch von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen.
…“
6 Art. 17 Abs. 2 bis 6 der Richtlinie legt die Nachhaltigkeitskriterien bezüglich der Herstellung von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen fest.
7 Art. 17 Abs. 8 der Richtlinie sieht vor:
„Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstaben a, b und c dürfen die Mitgliedstaaten Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe, die in Übereinstimmung mit diesem Artikel gewonnen werden, nicht aus sonstigen Nachhaltigkeitsgründen außer Acht lassen.“
8 Art. 18 („Überprüfung der Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien für Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe“) der Richtlinie 2009/28 bestimmt:
„(1) Werden Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe für die in Artikel 17 Absatz 1 Buchstaben a, b und c genannten Zwecke berücksichtigt, verpflichten die Mitgliedstaaten die Wirtschaftsteilnehmer nachzuweisen, dass die in Artikel 17 Absätze 2 bis 5 festgelegten Nachhaltigkeitskriterien erfüllt sind. Zu diesem Zweck verpflichten sie die Wirtschaftsteilnehmer zur Verwendung eines Massenbilanzsystems, das
a)
es erlaubt, Lieferungen von Rohstoffen oder Biokraftstoffen mit unterschiedlichen Nachhaltigkeitseigenschaften zu mischen,
b)
vorschreibt, dass Angaben über die Nachhaltigkeitseigenschaften und den jeweiligen Umfang der unter Buchstabe a genannten Lieferungen weiterhin dem Gemisch zugeordnet sind, und
c)
vorsieht, dass die Summe sämtlicher Lieferungen, die dem Gemisch entnommen werden, dieselben Nachhaltigkeitseigenschaften in denselben Mengen hat wie die Summe sämtlicher Lieferungen, die dem Gemisch zugefügt werden.
…
(3) Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer dazu verlässliche Informationen vorlegen und dem Mitgliedstaat auf Anfrage die Daten zur Verfügung … stellen, die zur Zusammenstellung der Informationen verwendet wurden. Die Mitgliedstaaten verpflichten die Wirtschaftsteilnehmer, für ein angemessenes unabhängiges Audit der von ihnen vorgelegten Informationen zu sorgen und nachzuweisen, dass ein solches Audit erfolgt ist. Das Audit erstreckt sich auf die Frage, ob die von den Wirtschaftsteilnehmern verwendeten Systeme genau, verlässlich und vor Betrug geschützt sind. Ferner werden die Häufigkeit und Methodik der Probenahme sowie die Zuverlässigkeit der Daten bewertet.
Die in Unterabsatz 1 genannten Informationen erstrecken sich insbesondere auf die Einhaltung der in Artikel 17 Absätze 2 bis 5 genannten Nachhaltigkeitskriterien, auf sachdienliche und aussagekräftige Informationen über die Maßnahmen, die zum Schutz von Boden, Wasser und Luft, zur Sanierung von degradierten Flächen und zur Vermeidung eines übermäßigen Wasserverbrauchs in Gebieten mit Wasserknappheit getroffen wurden, und auf sachdienliche und aussagekräftige Informationen über die Maßnahmen, die zur Berücksichtigung der in Artikel 17 Absatz 7 Unterabsatz 2 genannten Aspekte getroffen wurden.
…
Die Verpflichtungen nach diesem Absatz gelten sowohl für in der [Union] erzeugte als auch für importierte Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe.
(4) …
Die Kommission kann beschließen, dass freiwillige nationale oder internationale Systeme, in denen Normen für die Herstellung von Biomasseerzeugnissen vorgegeben werden, genaue Daten für die Zwecke des Artikels 17 Absatz 2 enthalten oder als Nachweis dafür herangezogen werden dürfen, dass Lieferungen von Biokraftstoff mit den in Artikel 17 Absätze 3 bis 5 aufgeführten Nachhaltigkeitskriterien übereinstimmen. Die Kommission kann beschließen, dass diese Systeme genaue Daten im Hinblick auf die Angaben zu Maßnahmen, die zur Erhaltung von Flächen, die in kritischen Situationen grundlegende Schutzfunktionen von Ökosystemen erfüllen (wie etwa Schutz von Wassereinzugsgebieten und Erosionsschutz), zum Schutz von Boden, Wasser und Luft, zur Sanierung von degradierten Flächen und zur Vermeidung eines übermäßigen Wasserverbrauchs in Gebieten mit Wasserknappheit getroffen wurden, und im Hinblick auf die in Artikel 17 Absatz 7 Unterabsatz 2 erwähnten Aspekte enthalten. …
…
(5) Die Kommission kann nur dann Beschlüsse im Sinne von Absatz 4 fassen, wenn die betreffende Übereinkunft oder das betreffende System angemessenen Standards der Zuverlässigkeit, Transparenz und unabhängiger Audits entspricht. Bei Systemen, mit denen die Treibhausgasemissionseinsparung gemessen wird, müssen zudem die methodischen Anforderungen des Anhangs V eingehalten werden. …
…
(7) Wenn ein Wirtschaftsteilnehmer Nachweise oder Daten vorlegt, die gemäß einer Übereinkunft oder einem System eingeholt wurden, die bzw. das Gegenstand eines Beschlusses im Sinne von Absatz 4 ist, darf ein Mitgliedstaat, soweit dieser Beschluss dies vorsieht, von dem Lieferanten keine weiteren Nachweise für die Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien gemäß Artikel 17 Absätze 2 bis 5 oder Angaben zu den in Absatz 3 Unterabsatz 2 genannten Maßnahmen verlangen.
…“
Durchführungsbeschluss 2011/438
9 Der Durchführungsbeschluss 2011/438 galt nach seinem Art. 2 für einen Zeitraum von fünf Jahren nach seinem Inkrafttreten, d. h. bis zum 9. August 2016. Gleichwohl ist er in Anbetracht des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraums zu beachten.
10 In den Erwägungsgründen 4 und 6 bis 8 dieses Durchführungsbeschlusses heißt es:
„(4)
Die Kommission kann beschließen, dass eine freiwillige nationale oder internationale Regelung als Nachweis dafür herangezogen werden darf, dass Lieferungen von Biokraftstoff mit den in Artikel 17 Absätze 3 bis 5 der Richtlinie [2009/28] aufgeführten Nachhaltigkeitskriterien übereinstimmen, oder dass eine freiwillige nationale oder internationale Regelung, mit der die Treibhausgasemissionseinsparung gemessen wird, für präzise Daten für die Zwecke des Artikels 17 Absatz 2 der genannten Richtlinie herangezogen werden darf.
…
(6) Wenn ein Wirtschaftsteilnehmer Nachweise oder Daten vorlegt, die gemäß einer von der Kommission anerkannten Regelung eingeholt wurden, darf ein Mitgliedstaat, soweit es den Gegenstandsbereich dieses Anerkennungsbeschlusses betrifft, von dem Lieferanten keine weiteren Nachweise für die Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien verlangen.
(7) Für das Zertifizierungssystem ‚International Sustainability and Carbon Certification‘ (im Folgenden ‚ISCC‘) wurde am 18. März 2011 bei der Kommission ein Antrag auf Anerkennung gestellt. Die Regelung hat einen globalen Anwendungsbereich und kann eine breite Palette unterschiedlicher Biokraftstoffe umfassen. Die anerkannte Regelung wird auf der gemäß der Richtlinie [2009/28] eingerichteten Transparenzplattform bekannt gemacht. Die Kommission berücksichtigt dabei Erwägungen hinsichtlich der Vertraulichkeit von Geschäftsdaten und kann beschließen, die Regelung nur in Teilen zu veröffentlichen.
(8) Die Prüfung der ISCC‑Regelung hat ergeben, dass sie die Nachhaltigkeitskriterien der Richtlinie [2009/28] angemessen erfasst und ein Massenbilanzsystem anwendet, das den Anforderungen des Artikels 18 Absatz 1 der genannten Richtlinie entspricht.“
11 Art. 1 des Durchführungsbeschlusses sieht vor:
„Mit der freiwilligen [ISCC‑]Regelung …, für die am 18. März 2011 bei der Kommission ein Antrag auf Anerkennung gestellt wurde, lässt sich nachweisen, dass Lieferungen von Biokraftstoff mit den in Artikel 17 Absatz 3 Buchstaben a, b und c sowie Absätze 4 und 5 der Richtlinie [2009/28] … aufgeführten Nachhaltigkeitskriterien übereinstimmen. Die Regelung enthält zudem präzise Daten, die für die Zwecke des Artikels 17 Absatz 2 der Richtlinie [2009/28] und Artikel 7b Absatz 2 der Richtlinie 98/70/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über die Qualität von Otto- und Dieselkraftstoffen und zur Änderung der Richtlinie 93/12/EWG des Rates (ABl. 1998, L 350, S. 58)] herangezogen werden können.
Darüber hinaus kann die Regelung herangezogen werden, um die Einhaltung des Artikels 18 Absatz 1 der Richtlinie [2009/28] und des Artikels 7c Absatz 1 der Richtlinie [98/70] nachzuweisen.“
Italienisches Recht
12 Art. 2 Abs. 2 Buchst. i und p sowie Abs. 3 des Decreto interministeriale che istituisce il „Sistema di certificazione nazionale della sostenibilità dei biocarburanti e dei bioliquidi“ (Ministerialdekret über das „Nationale System zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen“) vom 23. Januar 2012 (GURI Nr. 31 vom 7. Februar 2012, im Folgenden: Ministerialdekret vom 23. Januar 2012) enthält folgende Definitionen:
„2. …
i)
Nachhaltigkeitszertifikat: Erklärung des letzten Unternehmens der Lieferkette als Eigenbescheinigung … mit späteren Änderungen, die die Informationen enthält, anhand deren sichergestellt werden kann, dass die gelieferten Biokraftstoffe und flüssigen Biobrennstoffe nachhaltig sind;
…
p)
Lieferkette oder Gewahrsamskette: Methode, anhand deren eine Verknüpfung zwischen den Informationen oder Erklärungen betreffend die Rohstoffe oder die Zwischenerzeugnisse und den Erklärungen betreffend die Endprodukte hergestellt werden kann. Diese Methode erfasst alle Schritte von der Erzeugung der Rohstoffe bis zur Lieferung der zum Verbrauch bestimmten Biokraftstoffe oder flüssigen Biobrennstoffe;
…
3. Der Begriff des Wirtschaftsteilnehmers … umfasst:
a)
jede in der [Union] oder in einem Drittland ansässige natürliche oder juristische Person, die gegen Entgelt oder unentgeltlich Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe, die für den [Binnen]markt bestimmt sind, anbietet oder Dritten zur Verfügung stellt, und jede in der … Union ansässige natürliche oder juristische Person, die Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe herstellt und anschließend für eigene Rechnung im Inland verwendet, sowie
b)
jede in der … Union oder in einem Drittland ansässige natürliche oder juristische Person, die gegen Entgelt oder unentgeltlich Rohstoffe, Zwischenerzeugnisse, Abfälle, Nebenprodukte oder ein Gemisch derselben für die Herstellung von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen, die für den [Binnen]markt bestimmt sind, anbietet oder Dritten zur Verfügung stellt“.
13 Art. 8 dieses Ministerialdekrets trägt der Stellung der Wirtschaftsteilnehmer Rechnung, die nicht am nationalen Zertifizierungssystem teilnehmen, und sieht vor:
„1. Beschränkt auf die Aspekte, die von einem freiwilligen System, das Gegenstand eines Beschlusses im Sinne von Art. 7c Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie [98/70] … ist, abgedeckt sind, belegen die Wirtschaftsteilnehmer, die an solchen freiwilligen Systemen teilnehmen, die Zuverlässigkeit der Informationen oder Erklärungen, die dem in der Lieferkette nachfolgenden Wirtschaftsteilnehmer oder dem Lieferanten oder dem Nutzer übermittelt werden, dadurch, dass sie den Nachweis oder die Daten, die die Lieferung begleiten und die von den genannten Systemen vorgesehen sind, ausstellen bzw. angeben. Diese Nachweise oder Daten werden im Wege der Eigenbescheinigung erbracht bzw. angegeben …
…
(4) Soweit die freiwilligen Systeme nach Abs. 1 und die Übereinkünfte nach Abs. 2 nicht die Überprüfung aller Nachhaltigkeitskriterien und der Anwendung der Massenbilanz erfassen, sind die Wirtschaftsteilnehmer der Lieferkette, die an ihnen teilnehmen, jedenfalls verpflichtet, die Überprüfung, soweit sie nicht von den genannten freiwilligen Systemen oder Übereinkünften erfasst ist, durch das nationale Zertifizierungssystem zu ergänzen.
…“
14 In Art. 12 des Ministerialdekrets vom 23. Januar 2012 heißt es:
„1. Für die Zwecke des vorliegenden Dekrets können die Wirtschaftsteilnehmer, die Teil der Lieferkette von flüssigen Biobrennstoffen sind, in Abweichung von Art. 8 Abs. 1 an freiwilligen Systemen, die Gegenstand eines auf Biokraftstoffe anwendbaren Beschlusses nach Art. 7c Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie [98/70] sind, teilnehmen, sofern sie die Bedingungen des Abs. 2 erfüllen.
2. Die in Abs. 1 genannten Wirtschaftsteilnehmer, die Teil der Lieferkette von flüssigen Biobrennstoffen sind, sind verpflichtet, in der Erklärung oder Zertifizierung, die die Lieferung entlang der gesamten Lieferkette begleitet, die Angaben nach Art. 7 Abs. 5, 6, 7 und 8 zu machen, mit folgenden Ausnahmen …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
15 L.E.G.O. ist eine Gesellschaft italienischen Rechts, die im Besitz einer Druckerei ist. In dieser Druckerei errichtete sie ein Wärmekraftwerk mit einer durchschnittlichen jährlichen Nennleistung von 0,840 Megawatt, das mit nicht raffiniertem Palmöl, einem flüssigen Biobrennstoff, betrieben wird.
16 Am 20. Mai 2011 wurde das Kraftwerk von GSE – einem staatlichen Unternehmen italienischen Rechts, das mit der Auszahlung von Beihilfen für die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Energiequellen beauftragt ist – als aus erneuerbaren Energiequellen versorgte Anlage anerkannt. Dies gewährte L.E.G.O. für den Zeitraum 2012 bis 2014 Zugang zur Anreizregelung der grünen Zertifikate im Umfang von 14698 Zertifikaten im Gegenwert von 1610421,58 Euro.
17 Mit Entscheidung vom 29. September 2014 stellte GSE auf der Grundlage der von L.E.G.O. eingereichten Unterlagen fest, dass diese die Förderkriterien nach der Beihilferegelung nicht erfülle und forderte sämtliche für den Zeitraum 2012 bis 2014 gewährten Beträge zurück.
18 GSE stützte ihre Entscheidung insbesondere auf die angebliche Nichtvorlage von Nachhaltigkeitszertifikaten durch die Gesellschaft, die das Wärmekraftwerk errichtet hat, d. h. die Movendi Srl. Diese Gesellschaft agiert auch als Zwischenhändler für den Einkauf des für den Betrieb des Kraftwerks verwendeten flüssigen Biobrennstoffs bei der ED & F Man Liquid Products Italia Srl und der Unigrà Srl. Obwohl dieses Erzeugnis unmittelbar an L.E.G.O. verkauft und geliefert wird, ist Movendi nach Ansicht von GSE als „Wirtschaftsteilnehmer“ im Sinne des Ministerialdekrets vom 23. Januar 2012 anzusehen und somit zur Vorlage der Nachhaltigkeitszertifikate verpflichtet, auch wenn diese bereits von ED & F Man Liquid Products Italia und Unigrà eingereicht worden seien. Zudem seien die von diesen beiden Lieferanten ausgestellten Nachhaltigkeitszertifikate mit einem Datum versehen, das nach dem tatsächlichen Zeitpunkt des Transports liege, obwohl sie nach Ansicht von GSE begleitend zu jeder Lieferung flüssiger Biobrennstoffe hätten ausgestellt werden müssen.
19 L.E.G.O. erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale regionale amministrativo per il Lazio (regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien), das mit Urteil vom 29. Januar 2016 entschieden hat, dass Movendi von GSE zutreffend als Wirtschaftsteilnehmer im Sinne der italienischen Rechtsvorschriften eingestuft worden sei, weshalb sie selbst verpflichtet sei, die Nachhaltigkeitszertifikate für den in Rede stehenden flüssigen Biobrennstoff einzureichen.
20 Dieses Gericht hat insoweit ausgeführt, dass zwar aus der Richtlinie 2009/28 nicht klar hervorgehe, wer als Wirtschaftsteilnehmer angesehen werden könne, diese Richtlinie den Mitgliedstaaten aber gestatte, festzulegen, welche Informationen erforderlich seien und welche Personen für die Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien verantwortlich seien. Daher sei jede Person als „Wirtschaftsteilnehmer“ anzusehen, der an der Lieferkette beteiligt sei, einschließlich der Zwischenhändler wie Movendi, die den betreffenden flüssigen Biobrennstoff nicht physisch in Besitz nähmen.
21 Am 13. Mai 2016 legte L.E.G.O. gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), ein Rechtsmittel ein.
22 Nach Ansicht dieses Gerichts ist es zwingend erforderlich, die Tragweite des Unionsrechts zu klären, um feststellen zu können, ob es der nationalen Regelung – insbesondere den Art. 8 und 12 des Ministerialdekrets vom 23. Januar 2012, wonach die Wirtschaftsteilnehmer, die sich an einem freiwilligen Zertifizierungssystem beteiligen, verpflichtet sind, gegebenenfalls die nach diesem System erfolgende Kontrolle mittels des nationalen Zertifizierungssystems zu ergänzen und in die Erklärung oder die Zertifikate, die die Lieferungen auf der gesamten Lieferkette begleiten, die Informationen nach Art. 17 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2009/28 aufzunehmen – entgegensteht.
23 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass L.E.G.O. im Rahmen ihres Rechtsmittels geltend mache, dass die Versorgungsunternehmen ED & F Man Liquid Products Italia und Unigrà dem nach dem Durchführungsbeschluss 2011/438 anerkannten freiwilligen ISCC‑Kontrollsystem beigetreten seien und das nationale System somit keine über das genannte freiwillige System hinausgehenden Pflichten wie die Pflicht für Zwischenhändler zur Vorlage von Nachhaltigkeitszertifikaten vorsehen dürfe.
24 Das vorlegende Gericht führt daher aus, dass sein Vorabentscheidungsersuchen zum einen die Möglichkeit betreffe, den Wirtschaftsteilnehmern, die an freiwilligen Systemen teilnähmen, die Gegenstand eines Beschlusses der Kommission seien, weitere Überprüfungen aufzuerlegen, die das nationale Zertifizierungssystem vorschreibe, und zum anderen die Möglichkeit, den Wirtschaftsteilnehmern, die Teil der Lieferkette seien, die Verpflichtung aufzuerlegen, die begleitenden Erklärungen oder Zertifikate mit den vorgeschriebenen Informationen zu ergänzen. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass, da das Ziel der nationalen Regelung darin bestehe, die Nachverfolgbarkeit des Erzeugnisses und seiner Nachhaltigkeit entlang der gesamten Lieferkette zu gewährleisten, Zwischenhändler wie Movendi von dieser Pflicht nicht ausgenommen werden könnten.
25 Vor diesem Hintergrund hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
26 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 18 Abs. 7 der Richtlinie 2009/28 in Verbindung mit dem Durchführungsbeschluss 2011/438 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, durch die den Wirtschaftsteilnehmern spezielle Voraussetzungen auferlegt werden, die von den Voraussetzungen, die nach einem freiwilligen System zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit wie dem ISCC‑System vorgesehen sind, das nach dem genannten, gemäß Art. 18 Abs. 4 der genannten Richtlinie von der Kommission erlassenen Durchführungsbeschluss anerkannt ist, abweichen und über diese Voraussetzungen hinausgehen.
27 Einleitend ist festzustellen, dass Art. 17 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2009/28 Nachhaltigkeitskriterien festlegt, die zu beachten sind, damit Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe als erneuerbare Energiequellen berücksichtigt werden können.
28 Der Unionsgesetzgeber wollte – wie aus Art. 17 der Richtlinie 2009/28 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 65 und 67 hervorgeht –, gestützt u. a. auf Art. 114 AEUV, die Nachhaltigkeitskriterien harmonisieren, die Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe zwingend erfüllen müssen, damit die aus ihnen erzeugte Energie in jedem Mitgliedstaat für die in Art. 17 Abs. 1 Buchst. a, b und c der Richtlinie genannten Zwecke berücksichtigt werden kann. Bei diesen Zwecken handelt es sich um die Überprüfung, inwieweit die Mitgliedstaaten zum einen ihre in Art. 3 der Richtlinie 2009/28 genannten nationalen Ziele und zum anderen ihre Verpflichtungen zur Nutzung erneuerbarer Energie einhalten, sowie um die Möglichkeit der finanziellen Förderung für den Verbrauch von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 28).
29 Die Harmonisierung der genannten Nachhaltigkeitskriterien ist abschließend, denn Art. 17 Abs. 8 der Richtlinie 2009/28 stellt klar, dass die Mitgliedstaaten Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe, die die in diesem Artikel genannten Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, für diese drei Zwecke nicht aus sonstigen Nachhaltigkeitsgründen außer Acht lassen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 32).
30 Hinsichtlich der Überprüfung der Einhaltung der Kriterien für die Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen ergibt sich aus Art. 18 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2009/28, dass die Mitgliedstaaten, wenn Biokraftstoffe und flüssige Biobrennstoffe für die in Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie genannten drei Zwecke berücksichtigt werden, die Wirtschaftsteilnehmer verpflichten, nachzuweisen, dass die in Art. 17 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie festgelegten Nachhaltigkeitskriterien erfüllt sind.
31 Zu diesem Zweck haben die Mitgliedstaaten u. a., wie aus Art. 18 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2009/28 hervorgeht, die Wirtschaftsteilnehmer zur Verwendung eines Massenbilanzsystems zu verpflichten, das, wie in den Buchst. a, b und c der Vorschrift angegeben, es erstens erlaubt, Lieferungen von Rohstoffen oder Biokraftstoffen mit unterschiedlichen Nachhaltigkeitseigenschaften zu mischen, zweitens vorschreibt, dass Angaben über die Nachhaltigkeitseigenschaften und den jeweiligen Umfang der genannten Lieferungen weiterhin dem Gemisch zugeordnet sind, und drittens vorsieht, dass die Summe sämtlicher Lieferungen, die dem Gemisch entnommen werden, dieselben Nachhaltigkeitseigenschaften in denselben Mengen hat wie die Summe sämtlicher Lieferungen, die dem Gemisch zugefügt werden.
32 In diesem Zusammenhang kann das Massenbilanzsystem insbesondere, wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, durch ein von der zuständigen Behörde des jeweiligen Mitgliedstaats gemäß Art. 18 Abs. 3 der Richtlinie 2009/28 vorgesehenes nationales System oder durch von der Kommission anerkannte freiwillige nationale oder internationale Systeme wie das ISCC‑System gemäß Art. 18 Abs. 4 und 5 dieser Richtlinie durchgeführt werden.
33 Insoweit ergibt sich aus Art. 18 Abs. 7 der Richtlinie 2009/28, dass, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer Nachweise oder Daten vorlegt, die gemäß einer Übereinkunft oder einem System, die bzw. das Gegenstand eines von der Kommission nach Art. 18 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 erlassenen Beschlusses ist, nach Maßgabe dieses Beschlusses eingeholt wurden, ein Mitgliedstaat von dem Lieferanten keine weiteren Nachweise für die Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien gemäß Art. 17 Abs. 2 bis 5 dieser Richtlinie verlangen darf.
34 Hingegen steht es den Mitgliedstaaten, wenn die Kommission keinen Beschluss bezüglich eines bestimmten Zertifizierungssystems erlassen hat oder wenn in einem solchen Beschluss klargestellt wird, dass dieses System nicht alle in Art. 17 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2009/28 festgelegten Nachhaltigkeitskriterien erfasst, weiterhin frei, die Wirtschaftsteilnehmer insoweit zur Beachtung der nationalen Regelung zu verpflichten, die die Überprüfung der Beachtung dieser Kriterien gewährleisten soll.
35 Daher ist zur Beantwortung der ersten Frage der Anwendungsbereich des von der Kommission auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28 erlassenen Durchführungsbeschlusses 2011/438 zu bestimmen, was das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zertifizierungssystem anbelangt.
36 Hierzu ist festzustellen, dass die Anerkennung des ISCC‑Systems für einen Zeitraum von fünf Jahren durch den Durchführungsbeschluss 2011/438, wie aus dessen Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, nur zum Nachweis der Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen, nicht aber von flüssigen Biobrennstoffen gilt. Daraus folgt, dass der Durchführungsbeschluss 2011/438 insoweit, als das ISCC‑System, das seinen Gegenstand bildet, die Massenbilanzmethode zum Nachweis der Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen verwendet, die den Mitgliedstaaten nach Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28 zustehende Befugnis zur Festlegung der Modalitäten der Überprüfung der Einhaltung der in Art. 17 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2009/28 festgelegten Nachhaltigkeitskriterien, was flüssige Biobrennstoffe anbelangt, offenkundig nicht beschränken kann.
37 Art. 18 Abs. 4 der Richtlinie 2009/28, der es der Kommission erlaubt, zu beschließen, dass ein freiwilliges nationales oder internationales System zum Nachweis der Einhaltung der in Art. 17 Abs. 2 bis 5 dieser Richtlinie festgelegten Nachhaltigkeitskriterien dient, war nämlich bis zum Erlass der Richtlinie (EU) 2015/1513 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 zur Änderung der Richtlinie 98/70 und zur Änderung der Richtlinie 2009/28 (ABl. 2015, L 239, S. 1), die am 15. Oktober 2015 in Kraft trat und mit der die Möglichkeit geschaffen wurde, die Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen durch freiwillige System zu zertifizieren, nur auf Biokraftstoffe anwendbar.
38 Insoweit ist klarzustellen, dass es sich bei flüssigen Biobrennstoffen und bei Biokraftstoffen, wie aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. h und i der Richtlinie 2009/28 hervorgeht, insoweit um zwei verschiedene Begriffe handelt, als Letztere nur flüssige oder gasförmige Kraftstoffe für den Verkehr umfassen, während Erstere flüssige Brennstoffe bezeichnen, die für den Einsatz zu energetischen Zwecken, mit Ausnahme des Transports, bestimmt sind.
39 Im vorliegenden Fall nahm L.E.G.O. die Anreizregelung der grünen Zertifikate für den Zeitraum von 2012 bis 2014 für ein mit erneuerbaren Energiequellen unter Verwendung eines flüssigen Biobrennstoffs, nämlich Palmöl, betriebenes Wärmekraftwerk in Anspruch. Mit Entscheidung vom 29. September 2014 verlangte die zuständige Behörde u. a. wegen Nichteinhaltung der Verpflichtungen zum Nachweis der Nachhaltigkeit der flüssigen Biobrennstoffe nach dem nationalen Zertifizierungssystem die Rückzahlung der insoweit gewährten Beträge.
40 Unter diesen Umständen fallen in Anbetracht dessen, dass das ISCC‑System mit dem Durchführungsbeschluss 2011/438 nur für Biokraftstoffe anerkannt wurde, die zusätzlichen Voraussetzungen, die die italienische Regelung hinsichtlich der Überprüfung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorschreibt, nicht unter das Verbot nach Art. 18 Abs. 7 der Richtlinie 2009/28.
41 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 18 Abs. 7 der Richtlinie 2009/28 in Verbindung mit dem Durchführungsbeschluss 2011/438 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, durch die den Wirtschaftsteilnehmern spezielle Voraussetzungen für die Zertifizierung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorgeschrieben werden, die von den Voraussetzungen, die nach einem freiwilligen System zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit wie dem ISCC‑System vorgesehen sind, das nach dem genannten, gemäß Art. 18 Abs. 4 der genannten Richtlinie von der Kommission erlassenen Durchführungsbeschluss anerkannt ist, abweichen und über diese Voraussetzungen hinausgehen, da dieses System nur für Biokraftstoffe anerkannt wurde und die genannten Voraussetzungen nur flüssige Biobrennstoffe betreffen.
Zur zweiten Frage
42 Mit seiner zweiten Frage, die für den Fall gestellt worden ist, dass die erste Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28, dahin auszulegen ist, dass es dem entgegensteht, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein nationales System zur Überprüfung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorschreibt, das vorsieht, dass alle Wirtschaftsteilnehmer, die in die Lieferkette der betreffenden Ware eingebunden sind, selbst wenn es sich um Zwischenhändler handelt, die die Lieferungen von flüssigen Biobrennstoffen nicht physisch in Besitz nehmen, bestimmten, sich aus diesem System ergebenden Zertifizierungs-, Mitteilungs- und Informationspflichten unterliegen.
43 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hindert der Umstand, dass ein nationales Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen seiner Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Im vorliegenden Fall ist – obwohl das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht formal zur Auslegung der den freien Warenverkehr betreffenden Vorschriften des Vertrags befragt hat –, wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge empfohlen hat, auch zu prüfen, ob Art. 34 AEUV einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht.
Zur Auslegung der Richtlinie 2009/28
45 Erstens ist festzustellen, dass die Richtlinie 2009/28 den Begriff „Wirtschaftsteilnehmer“ verwendet, ohne ihn jedoch zu definieren. Der Gerichtshof hat in Anbetracht der allgemeinen Formulierung der in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a bis c dieser Richtlinie genannten Kriterien bereits für Recht erkannt, dass mit dieser Vorschrift die mit dem Massenbilanzsystem zusammenhängende Überprüfungsmethode nicht vollständig harmonisiert worden ist. Die Mitgliedstaaten behalten somit vorbehaltlich dessen, dass sie die in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie genannten allgemeinen Anforderungen einzuhalten haben, einen bedeutenden Gestaltungsspielraum, wenn sie die konkreten Bedingungen, unter denen die Wirtschaftsteilnehmer ein solches System verwenden sollen, genauer bestimmen sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 40 und 77).
46 Zweitens stützt sich die Massenbilanzmethode nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2009/28, wie aus dem 76. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, auf eine konkrete Verbindung zwischen der Herstellung und dem Verbrauch von flüssigen Biobrennstoffen in der Union zum Zweck der Überprüfung der Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien und soll gleichzeitig vermeiden, dass der Industrie ein unvertretbarer Aufwand abverlangt wird.
47 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 des Ministerialdekrets vom 23. Januar 2012 im Licht von Art. 2 Abs. 1 Buchst. i septies des Gesetzesdekrets Nr. 66/2005 und Art. 2 Abs. 3 Buchst. a des genannten Ministerialdekrets betrachtet, dass diese Regelung allen Wirtschaftsteilnehmern, die in die Lieferkette der flüssigen Biobrennstoffe eingebunden sind, einschließlich der Zwischenhändler, die die genannte Ware nicht physisch in Besitz nehmen, die Pflicht auferlegt, in der Erklärung oder Zertifizierung, die die Lieferungen flüssiger Biobrennstoffe begleitet, die Informationen anzugeben, die den Nachweis von deren Nachhaltigkeit ermöglichen.
48 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Umstand, dass die Zwischenhändler als Wirtschaftsteilnehmer eingestuft werden, gemäß den Anforderungen von Art. 18 Abs. 3 der Richtlinie 2009/28 die Rückverfolgbarkeit der Lieferungen flüssiger Biobrennstoffe entlang der gesamten Lieferkette gewährleisten soll, wodurch eine bessere Kontrolle der Herstellung und Vermarktung dieser Waren zur Verringerung des Betrugsrisikos ermöglicht wird.
49 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 18 Abs. 3 der Richtlinie 2009/28 Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer verlässliche Informationen vorlegen und dem betreffenden Mitgliedstaat auf Anfrage die Daten zur Verfügung stellen, die zur Zusammenstellung der Informationen zu den Nachhaltigkeitseigenschaften des betreffenden Erzeugnisses verwendet wurden. Die Mitgliedstaaten verpflichten die Wirtschaftsteilnehmer auch, für ein angemessenes unabhängiges Audit der von ihnen vorgelegten Informationen zu sorgen und nachzuweisen, dass ein solches Audit – das sich auf die Frage erstreckt, ob die von den Wirtschaftsteilnehmern verwendeten Systeme genau, verlässlich und vor Betrug geschützt sind – erfolgt ist.
50 Da der Begriff „Wirtschaftsteilnehmer“ durch die Richtlinie 2009/28 nicht definiert wird, ist in Anbetracht des derzeitigen Standes der Harmonisierung durch den Unionsgesetzgeber, was die Modalitäten der mit dem Massenbilanzsystem zusammenhängende Überprüfungsmethode anbelangt, davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten über einen Wertungsspielraum verfügen, um unter Beachtung des Unionsrechts festzulegen, welche Wirtschaftsteilnehmer zum Nachweis der Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien nach Art. 17 Abs. 2 bis 5 der genannten Richtlinie verpflichtet sind.
51 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28 dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein nationales System zur Überprüfung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorschreibt, das vorsieht, dass alle Wirtschaftsteilnehmer, die in die Lieferkette der Ware eingebunden sind, selbst wenn es sich um Zwischenhändler handelt, die die Lieferungen von flüssigen Biobrennstoffen nicht physisch in Besitz nehmen, bestimmten, sich aus diesem System ergebenden Zertifizierungs-, Mitteilungs- und Informationspflichten unterliegen.
Zur Auslegung von Art. 34 AEUV
52 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Maßnahme in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht des Primärrechts zu beurteilen ist (Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 57).
53 Der Unionsgesetzgeber wollte keineswegs eine abschließende Harmonisierung der nationalen Regelungen zur Förderung der Erzeugung grüner Energie vornehmen, sondern ging, wie u. a. aus dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/28 hervorgeht, zum einen davon aus, dass die Mitgliedstaaten verschiedene Förderregelungen anwenden, und zum anderen von dem Grundsatz, dass das ungestörte Funktionieren dieser Förderregelungen zu gewährleisten ist, damit das Vertrauen der Investoren erhalten bleibt und die Mitgliedstaaten wirksame nationale Maßnahmen im Hinblick auf die Erfüllung der verbindlichen nationalen Gesamtziele, die ihnen die Richtlinie vorschreibt, konzipieren können (Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 59).
54 Des Weiteren ist – wie aus Rn. 45 des vorliegenden Urteils hervorgeht – durch Art. 18 der Richtlinie 2009/28, was die mit dem Massenbilanzsystem zusammenhängende Überprüfungsmethode anbelangt, keine abschließende Harmonisierung erfolgt, so dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Vorschrift weiterhin über einen bedeutenden Gestaltungsspielraum verfügen. Allerdings haben sie dabei Art. 34 AEUV zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 78).
55 Somit sind die den freien Warenverkehr betreffenden Vorschriften des Vertrags auszulegen, um zu bestimmen, ob Art. 34 AEUV einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die vorsieht, dass alle Wirtschaftsteilnehmer, die in die Lieferkette der Ware eingebunden sind, selbst wenn es sich um Zwischenhändler handelt, die die flüssigen Biobrennstoffe nicht physisch in Besitz nehmen, bestimmten, sich aus einem nationalen System zur Überprüfung der Nachhaltigkeit ergebenden Zertifizierungs-, Mitteilungs- und Informationspflichten unterliegen.
56 Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten und den von ED & F Man Liquid Products Italia in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben ergibt, wird der im Ausgangsverfahren in Rede stehende flüssige Biobrennstoff, das Palmöl, in Indonesien hergestellt, in die Union eingeführt, in Frankreich in den freien Verkehr überführt und gelagert sowie anschließend zum Verkauf an L.E.G.O. nach Italien befördert.
57 Nach Art. 28 Abs. 2 AEUV gilt das in den Art. 34 bis 37 AEUV enthaltene Verbot mengenmäßiger Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten sowohl für Waren, die aus den Mitgliedstaaten stammen, als auch für Waren aus dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden.
58 Nach ständiger Rechtsprechung ist Art. 34 AEUV, der Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten verbietet, auf alle nationalen Maßnahmen anwendbar, die geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 34 AEUV sind Hemmnisse für den freien Warenverkehr anzusehen, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass von einem Mitgliedstaat auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden sind, Vorschriften über die Voraussetzungen, denen diese Waren entsprechen müssen, angewandt werden, auch wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2016, Kommission/Tschechische Republik, C‑525/14, EU:C:2016:714, Rn. 35).
60 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Nachhaltigkeitszertifikaten, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung den Zwischenhändlern auferlegt, die die flüssigen Biobrennstoffe, die den Gegenstand der Transaktion bilden, an der sie beteiligt sind, nicht physisch in Besitz nehmen, die Einfuhr solcher Waren aus anderen Mitgliedstaaten zumindest mittelbar und potenziell behindern kann.
61 Diese Verpflichtung führt nämlich dazu, dass die Einfuhr von flüssigen Biobrennstoffen erschwert wird, da einfache Zwischenhändler, die der Zertifizierungspflicht nach Art. 18 der Richtlinie 2009/28 nicht unterliegen, diese Zertifizierung gleichwohl vorweisen müssen, wenn sie flüssige Biobrennstoffe nach Italien einführen, und damit administrativen Pflichten unterworfen sind und die damit verbundenen Kosten zu tragen haben.
62 Folglich stellt eine solche nationale Regelung eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen dar, die grundsätzlich mit Art. 34 AEUV unvereinbar ist, sofern sie nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 75).
Zur etwaigen Rechtfertigung
63 Eine nationale Regelung oder Praxis, die eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen darstellt, kann durch einen der in Art. 36 AEUV genannten Gründe des Allgemeininteresses oder durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt sein. Im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss in beiden Fällen die nationale Maßnahme geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 76).
64 Insoweit können nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nationale Maßnahmen, die geeignet sind, den Handel innerhalb der Union zu behindern, u. a. durch zwingende Erfordernisse des Umweltschutzes gerechtfertigt sein. Die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zur Stromerzeugung, die durch eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gefördert werden soll, dient aber dem Umweltschutz, da sie zur Verringerung der Emissionen von Treibhausgasen beiträgt, die zu den Hauptursachen der Klimaänderungen zählen, zu deren Bekämpfung sich die Union und ihre Mitgliedstaaten verpflichtet haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C‑379/98, EU:C:2001:160, Rn. 73, vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 77, 78 und 82, sowie vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 85 bis 88).
65 Eine solche nationale Regelung trägt daher, indem sie die Nutzung erneuerbarer Energiequellen begünstigt, auch zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen bei, der in Art. 36 AEUV unter den Gründen des Allgemeininteresses aufgeführt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, E.ON Biofor Sverige, C‑549/15, EU:C:2017:490, Rn. 89).
66 Darüber hinaus trägt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wie der Generalanwalt in Nr. 97 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dadurch, dass sie alle an der Produktion und dem Vertrieb der nachhaltigen flüssigen Biobrennstoffe beteiligten Wirtschaftsteilnehmer, einschließlich der Zwischenhändler, verpflichtet, Nachhaltigkeitszertifikate einzureichen, dazu bei, der Betrugsgefahr bei der Lieferkette von flüssigen Biobrennstoffen vorzubeugen.
67 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können die Ziele des Umweltschutzes und der Betrugsbekämpfung aber nationale Maßnahmen rechtfertigen, die geeignet sind, den Handel innerhalb der Union zu behindern, sofern diese Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen (Urteil vom 6. Oktober 2011, Bonnarde, C‑443/10, EU:C:2011:641, Rn. 34).
68 Daher ist, wie sich aus Rn. 63 des vorliegenden Urteils ergibt, nachzuprüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entspricht, d. h., ob sie zur Erreichung des mit ihr verfolgten legitimen Ziels geeignet und erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 83).
69 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Vorschrift wie Art. 12 Abs. 2 des Ministerialdekrets vom 23. Januar 2012 die Rückverfolgbarkeit der Ware auf dem Herstellungs- und Transportweg sowie ihre Nachhaltigkeit gewährleistet, um eine mögliche Umwandlung oder Fälschung von Palmöl zu verhindern. Ein Zwischenhändler wie Movendi, der den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden flüssigen Biobrennstoff – unter Erwerb des rechtlichen Eigentums daran – einschließlich der gesamten zugehörigen Dokumentation einkauft, wäre nämlich in der Lage, vor dem Verkauf an den Endverbraucher die Eigenschaften dieses flüssigen Biobrennstoffs zu ändern, ihn Dritten zur Verfügung zu stellen und mit anderen Flüssigkeiten oder nicht zertifizierten flüssigen Biobrennstoffen zu mischen. Indem die genannte nationale Vorschrift alle Wirtschaftsteilnehmer in der Lieferkette der flüssigen Biobrennstoffe betrifft, trägt sie somit dazu bei, dem Betrugsrisiko bezüglich der Nachhaltigkeit dieser flüssigen Biobrennstoffe vorzubeugen. Folglich stellt sie eine geeignete Maßnahme dar, um das mit ihr verfolgte legitime Ziel zu erreichen.
70 Auf diese Weise kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Vorschrift auch zur Erreichung der in den Rn. 63 bis 66 des vorliegenden Urteils angeführten Ziele des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen beitragen.
71 Was die Erforderlichkeit einer solchen Regelung anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass ein Zwischenhändler wie Movendi im Ausgangsverfahren zwar keinen physischen Besitz an den flüssigen Biobrennstoffen erlangt, die Gegenstand der Transaktion sind, an der er beteiligt ist, er jedoch vorübergehend das rechtliche Eigentum daran und daher grundsätzlich die Möglichkeit hat, sie an einen anderen Ort zu verbringen, ihre Substanz zu verändern oder die zugehörigen Dokumente zu fälschen. Somit ist festzustellen, dass die Italienische Republik berechtigterweise davon ausgehen durfte, dass die genannte Maßnahme, indem sie diesen Gefahren vorbeugt, zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich war.
72 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 34 AEUV und Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28, dahin auszulegen ist, dass es dem nicht entgegensteht, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein nationales System zur Überprüfung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorschreibt, das vorsieht, dass alle Wirtschaftsteilnehmer, die in die Lieferkette der Ware eingebunden sind, selbst wenn es sich um Zwischenhändler handelt, die die flüssigen Biobrennstoffe nicht physisch in Besitz nehmen, bestimmten, sich aus diesem System ergebenden Zertifizierungs-, Mitteilungs- und Informationspflichten unterliegen.
Kosten
73 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 18 Abs. 7 der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG in Verbindung mit dem Durchführungsbeschluss 2011/438/EU der Kommission vom 19. Juli 2011 über die Anerkennung des Zertifizierungssystems „International Sustainability and Carbon Certification“ zum Nachweis der Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien der Richtlinien 2009/28 und 2009/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, durch die den Wirtschaftsteilnehmern spezielle Voraussetzungen für die Zertifizierung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorgeschrieben werden, die von den Voraussetzungen, die nach einem freiwilligen System zur Zertifizierung der Nachhaltigkeit wie dem ISCC‑System vorgesehen sind, das nach dem genannten, gemäß Art. 18 Abs. 4 der genannten Richtlinie von der Europäischen Kommission erlassenen Durchführungsbeschluss anerkannt ist, abweichen und über diese Voraussetzungen hinausgehen, da dieses System nur für Biokraftstoffe anerkannt wurde und die genannten Voraussetzungen nur flüssige Biobrennstoffe betreffen.
2. Das Unionsrecht, insbesondere Art. 34 AEUV und Art. 18 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28, ist dahin auszulegen, dass es dem nicht entgegensteht, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein nationales System zur Überprüfung der Nachhaltigkeit von flüssigen Biobrennstoffen vorschreibt, das vorsieht, dass alle Wirtschaftsteilnehmer, die in die Lieferkette der Ware eingebunden sind, selbst wenn es sich um Zwischenhändler handelt, die die Lieferungen von flüssigen Biobrennstoffen nicht physisch in Besitz nehmen, bestimmten, sich aus diesem System ergebenden Zertifizierungs-, Mitteilungs- und Informationspflichten unterliegen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 19. September 2018.#RO.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Art. 50 EUV – Haftbefehl, der von den Justizbehörden eines Mitgliedstaats ausgestellt wird, der das Verfahren zum Austritt aus der Europäischen Union in Gang gesetzt hat – Ungewissheit hinsichtlich der für die Beziehungen zwischen diesem Mitgliedstaat und der Union nach dem Austritt geltenden Regelung.#Rechtssache C-327/18 PPU.
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62018CJ0327
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ECLI:EU:C:2018:733
| 2018-09-19T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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62018CJ0327
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
19. September 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Art. 50 EUV – Haftbefehl, der von den Justizbehörden eines Mitgliedstaats ausgestellt wird, der das Verfahren zum Austritt aus der Europäischen Union in Gang gesetzt hat – Ungewissheit hinsichtlich der für die Beziehungen zwischen diesem Mitgliedstaat und der Union nach dem Austritt geltenden Regelung“
In der Rechtssache C‑327/18 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 17. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Mai 2018, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen gegen
RO
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter), A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 17. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Mai 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 11. Juni 2018, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von RO, vertreten durch E. Martin-Vignerte und J. MacGuill, Solicitors, C. Cumming, BL, und P. McGrath, SC,
–
des Minister for Justice and Equality, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, A. Joyce und G. Lynch als Bevollmächtigte im Beistand von E. Duffy, BL, und R. Barron, SC,
–
der rumänischen Regierung, vertreten durch L. Liţu und C. Canţăr als Bevollmächtigte,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, QC, und D. Blundell, Barrister,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. August 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 EUV und des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
2 Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung zweier von den Gerichten des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland gegen RO erlassener Europäischer Haftbefehle in Irland.
Rechtlicher Rahmen
EU-Vertrag
3 Art. 50 Abs. 1 bis 3 EUV lautet:
„(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 [AEUV] ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.“
Rahmenbeschluss
4 Die Erwägungsgründe 10 und 12 des Rahmenbeschlusses haben folgenden Wortlaut:
„(10)
Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel [2 EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel [7 Abs. 2 EUV] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz [3] festgestellt wird.
…
(12) Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel [2 und 6 EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.“
5 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
(3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“
6 Art. 26 („Anrechnung der im Vollstreckungsstaat verbüßten Haft“) des Rahmenbeschlusses sieht in seinem Abs. 1 vor:
„Der Ausstellungsmitgliedstaat rechnet die Dauer der Haft aus der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf die Gesamtdauer des Freiheitsentzugs an, die im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung zu verbüßen wäre.“
7 Art. 27 („Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten“) des Rahmenbeschlusses sieht in seinem Abs. 2 vor:
„… dürfen Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden“.
8 In Art. 28 des Rahmenbeschlusses ist die weitere Übergabe oder Auslieferung in einen anderen Staat als den Vollstreckungsmitgliedstaat geregelt.
Irisches Recht
9 Der Rahmenbeschluss wurde durch den European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) in irisches Recht umgesetzt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 Die Gerichte des Vereinigten Königreichs erließen zwei Europäische Haftbefehle gegen RO und übersandten diese an Irland.
11 Der erste Europäische Haftbefehl, der am 27. Januar 2016 ausgestellt wurde, erging wegen Totschlags und Brandstiftung, die mutmaßlich am 2. August 2015 verübt wurden. Der zweite, am 4. Mai 2016 ausgestellte Europäische Haftbefehl erging wegen Vergewaltigung, die mutmaßlich am 30. Dezember 2003 begangen wurde. Jede dieser Taten ist mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht.
12 RO wurde am 3. Februar 2016 in Irland festgenommen und inhaftiert. Seitdem wird er aufgrund der beiden gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehle in diesem Mitgliedstaat in Haft gehalten.
13 RO machte gegen seine Übergabe an das Vereinigte Königreich u. a. Einwände geltend, die sich auf den Austritt dieses Mitgliedstaats aus der Union und auf Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) stützten, und behauptete, ihn würde eine potenziell unmenschliche und erniedrigende Behandlung erwarten, wenn er im Maghaberry-Gefängnis in Nordirland untergebracht würde.
14 Wegen seines Gesundheitszustands fand die Anhörung von RO erst am 27. Juli 2017 statt.
15 In einer Entscheidung vom 2. November 2017 vertrat der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland), nachdem er das Vorbringen von RO zu der ihm in Nordirland potenziell drohenden Behandlung geprüft hatte, die Ansicht, dass konkrete und aktuelle Informationen über die Haftbedingungen im Maghaberry-Gefängnis die Vermutung zuließen, dass RO wegen seines Gesundheitszustands Gefahr laufe, tatsächlich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Der High Court (Hoher Gerichtshof) erachtete es angesichts des Urteils vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), für erforderlich, bei den Behörden des Vereinigten Königreichs um Aufklärung über die Haftbedingungen von RO im Fall der Übergabe zu ersuchen.
16 Am 16. April 2018 stellte die Justizbehörde, die die in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle ausgestellt hatte, der Laganside Court in Belfast (Laganside-Gericht in Belfast, Vereinigtes Königreich), Informationen darüber zur Verfügung, wie die nordirische Justizvollzugsverwaltung der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung von RO in Nordirland begegnen würde.
17 Der High Court (Hoher Gerichtshof) führt aus, er habe alle von RO gegen seine Übergabe vorgebrachten Einwände zurückgewiesen mit Ausnahme derjenigen Einwände, die sich auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und auf Art. 3 EMRK bezögen, da er hierüber nicht entscheiden könne, ohne zuvor vom Gerichtshof Antwort auf mehrere Vorlagefragen erhalten zu haben.
18 Das Vereinigte Königreich habe dem Präsidenten des Europäischen Rates am 29. März 2017 seine Absicht mitgeteilt, auf der Grundlage von Art. 50 EUV aus der Union auszutreten. Diese Mitteilung werde voraussichtlich zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union zum 29. März 2019 führen.
19 Fände die Übergabe von RO statt, befände er sich sehr wahrscheinlich noch nach diesem Datum im Vereinigten Königreich in Haft.
20 Möglicherweise würden zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich auch Vereinbarungen getroffen, die die Beziehungen zwischen diesen Parteien in Bereichen wie denen, die unter den Rahmenbeschluss fielen, unmittelbar nach dem Austritt und langfristig regelten.
21 Gleichwohl bestehe derzeit keine Klarheit darüber, ob und welche Maßnahmen getroffen würden, und insbesondere zur Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über eine Frage im Wege der Vorabentscheidung sei nichts bekannt.
22 Nach Auffassung des Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung, Irland) sei das Recht in seiner heutigen Form anzuwenden und nicht so, wie es nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union in Zukunft sein könnte. Der Minister leite hieraus zutreffend ab, dass das nationale Recht zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses die Übergabe von RO verlange.
23 Demgegenüber mache RO geltend, dass angesichts der Ungewissheit hinsichtlich der rechtlichen Regelungen, die im Vereinigten Königreich nach dessen Austritt aus der Union gälten, nicht garantiert werden könne, dass die ihm nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte in der Praxis als solche durchgesetzt werden könnten. Daher dürfe er nicht übergeben werden.
24 RO habe vier Aspekte des Unionsrechts aufgezeigt, die theoretisch angeführt werden könnten, nämlich
–
das Recht auf Anrechnung der im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßten Haft gemäß Art. 26 des Rahmenbeschlusses,
–
den sogenannten Grundsatz der Spezialität nach Art. 27 des Rahmenbeschlusses,
–
das die weitere Übergabe oder Auslieferung begrenzende Recht nach Art. 28 des Rahmenbeschlusses und
–
die Wahrung der Grundrechte der übergebenen Person im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
25 Es stelle sich die Frage, ob für den Fall, dass einer dieser vier Aspekte Gegenstand eines Rechtsstreits sein sollte, und keine Maßnahmen getroffen worden seien, die dem Gerichtshof die Zuständigkeit verliehen, hierüber im Wege der Vorabentscheidung zu befinden, die Übergabe einer Person wie RO für diese ein erhebliches und nicht nur rein theoretisches Risiko berge, dass ihr Unrecht geschehe, so dass dem Übergabeersuchen nicht stattgegeben werden dürfe.
26 Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zum Eilverfahren
27 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.
28 Es hat diesen Antrag darauf gestützt, dass der Betroffene derzeit allein auf der Grundlage der vom Vereinigten Königreich im Hinblick auf die Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehle in Irland inhaftiert sei und seine Übergabe an diesen Mitgliedstaat von der Antwort des Gerichtshofs abhänge. Das normale Verfahren verlängere die Haftdauer des Betroffenen deutlich, obwohl für ihn die Unschuldsvermutung gelte.
29 Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.
30 Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand zu berücksichtigen, dass dem Betroffenen derzeit seine Freiheit entzogen ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Ferner ist bei der Beurteilung der Situation des Betroffenen auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags abzustellen, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen (Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass sich RO zu diesem Zeitpunkt in Irland in Haft befand und dass deren Fortdauer von der Entscheidung über seine Übergabe an das Vereinigte Königreich abhängt, die bis zur Antwort des Gerichtshofs im vorliegenden Verfahren ausgesetzt ist.
32 Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 11. Juni 2018 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.
Zu den Vorlagefragen
33 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 EUV dahin auszulegen ist, dass die Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß diesem Artikel aus der Union auszutreten, zur Folge hat, dass dann, wenn dieser Mitgliedstaat einen Europäischen Haftbefehl gegen jemanden ausstellt, der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern oder vertagen muss, bis nähere Angaben über die rechtlichen Regelungen vorliegen, die im Ausstellungsmitgliedstaat nach seinem Austritt aus der Union gelten.
34 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht, wie aus Art. 2 EUV hervorgeht, auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden (Urteile vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 34, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35).
35 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten verlangt, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36).
36 Insbesondere aus Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie den Erwägungsgründen 5 und 7 des Rahmenbeschlusses ergibt sich, dass mit diesem das auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhende multilaterale Auslieferungssystem durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzt werden soll. Der Rahmenbeschluss ist daher darauf gerichtet, durch die Einführung dieses neuen vereinfachten und wirksameren Systems die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 39 und 40).
37 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung kommt in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zur Anwendung, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach diesem Grundsatz und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung verweigern, und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die dort abschließend aufgeführt sind. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 41).
38 So nennt der Rahmenbeschluss in seinem Art. 3 ausdrücklich die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, in seinen Art. 4 und 4a die Gründe, aus denen diese abgelehnt werden kann, sowie in seinem Art. 5 die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien (Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 51, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 42).
39 Darüber hinaus sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich (Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 82, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 43).
40 Somit hat der Gerichtshof anerkannt, dass die vollstreckende Justizbehörde unter bestimmten Umständen das mit dem Rahmenbeschluss eingerichtete Übergabeverfahren beenden kann, wenn die Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne von Art. 4 der Charta führt (Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 104, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 44).
41 Dafür stützte er sich zum einen auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, nach dem dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in den Art. 2 und 6 EUV niedergelegt sind, zu achten, und zum anderen auf den absoluten Charakter des durch Art. 4 der Charta verbürgten Grundrechts (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 45).
42 Um zu beurteilen, ob eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt worden ist, tatsächlich der Gefahr ausgesetzt ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, muss die vollstreckende Justizbehörde, wie das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren, insbesondere gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig hält, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 76).
43 RO macht jedoch geltend, dass er wegen der Mitteilung des Vereinigten Königreichs über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, der Gefahr ausgesetzt sei, dass mehrere Rechte, die ihm nach der Charta und dem Rahmenbeschluss zustünden, nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union nicht mehr gewahrt würden. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der die Grundlage für die gegenseitige Anerkennung bilde, habe durch diese Mitteilung unheilbaren Schaden genommen, so dass die nach dem Rahmenbeschluss vorgesehene Übergabe nicht durchgeführt werden dürfe.
44 Insoweit stellt sich die Frage, ob allein die Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, die Weigerung, einen von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, unionsrechtlich mit der Begründung rechtfertigen kann, dass die übergebene Person nach dem Austritt in dem Ausstellungsmitgliedstaat nicht mehr ihre Rechte aus dem Rahmenbeschluss geltend machen und vom Gerichtshof überprüfen lassen könnte, ob deren Umsetzung durch diesen Mitgliedstaat mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
45 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Mitteilung nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in dem Mitgliedstaat bewirkt, der mitgeteilt hat, dass er beabsichtige, aus der Union auszutreten. Folglich bleiben die unionsrechtlichen Vorschriften, zu denen die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses und die diesem immanenten Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zählen, in diesem Staat bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich in Kraft.
46 In Art. 50 EUV ist nämlich, wie aus seinen Abs. 2 und 3 hervorgeht, ein Austrittsverfahren vorgesehen, das die folgenden Schritte umfasst: erstens die Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat, zweitens das Aushandeln und den Abschluss eines Abkommens über die Einzelheiten des Austritts, wobei den künftigen Beziehungen zwischen dem betreffenden Staat und der Union Rechnung getragen wird, und drittens der eigentliche Austritt aus der Union zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat, es sei denn, dieser beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.
47 Eine solche Weigerung, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, käme jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, einer einseitigen Aussetzung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses gleich und verstieße zudem gegen den Wortlaut seines zehnten Erwägungsgrundes, wonach es Sache des Europäischen Rates ist, eine Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze im Ausstellungsmitgliedstaat im Hinblick auf die Aussetzung der Anwendung des Europäischen Haftbefehls gegenüber diesem Mitgliedstaat festzustellen (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 71).
48 Daher kann die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, als solche nicht als außergewöhnlicher Umstand im Sinne der in den Rn. 39 und 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung angesehen werden, der es rechtfertigen könnte, die Vollstreckung eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu verweigern.
49 Jedoch hat die vollstreckende Justizbehörde, nach einer konkreten und genauen Beurteilung des Einzelfalls noch zu prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die Grundrechte und die Rechte, die ihr im Wesentlichen aus den Art. 26 bis 28 des Rahmenbeschlusses erwachsen, wie sie von RO geltend gemacht und in Rn. 24 des vorliegenden Urteils dargestellt worden sind, nicht mehr zustehen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 73).
50 Hinsichtlich der Grundrechte in Art. 4 der Charta, die den in Art. 3 EMRK verankerten Grundrechten entsprechen (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 86), bestünde, sollte das vorlegende Gericht, wie dem Anschein nach aus dem Wortlaut seiner Vorlagefragen und den dem Gerichtshof übermittelten Akten hervorgeht, der Auffassung sein, aufgrund der erhaltenen Informationen das Vorliegen einer echten Gefahr, dass RO im Ausstellungsmitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta erfahren werde, ausschließen zu können, grundsätzlich kein Anlass, die Durchführung der Übergabe aus diesem Grund zu verweigern, unbeschadet der Möglichkeit von RO, nach seiner Übergabe in der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats die Rechtsschutzmöglichkeiten zu nutzen, die es ihm gestatten, gegebenenfalls die Rechtmäßigkeit seiner Haftbedingungen in einer Haftanstalt dieses Mitgliedstaats in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 103).
51 Allerdings ist noch zu prüfen, ob diese Feststellung vom vorlegenden Gericht mit der Begründung in Frage gestellt werden könnte, dass die einer Person nach ihrer Übergabe gemäß dem Rahmenbeschluss zustehenden Rechte nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Union möglicherweise nicht mehr garantiert seien.
52 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall der Ausstellungsmitgliedstaat, das Vereinigte Königreich, Vertragspartei der EMRK ist und, wie er in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, die Bestimmungen von Art. 3 EMRK in sein nationales Recht aufgenommen hat. Da die weitere Beteiligung dieses Mitgliedstaats an dieser Konvention keineswegs an seine Zugehörigkeit zur Union gebunden ist, hat seine Entscheidung, aus der Union auszutreten, keine Auswirkung auf seine Pflicht zur Beachtung von Art. 3 EMRK, dem Art. 4 der Charta entspricht, und kann sie folglich nicht rechtfertigen, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung zu verweigern, dass die übergebene Person Gefahr liefe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmungen zu erfahren.
53 In Bezug auf die anderen von RO geltend gemachten Rechte und vor allem auf den Grundsatz der Spezialität nach Art. 27 des Rahmenbeschlusses ist darauf hinzuweisen, dass dieser mit der Souveränität des Vollstreckungsmitgliedstaats in Zusammenhang steht und der gesuchten Person das Recht gewährt, nur wegen der Handlung, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen zu werden (Urteil vom 1. Dezember 2008, Leymann und Pustovarov, C‑388/08 PPU, EU:C:2008:669, Rn. 44).
54 Wie aus diesem Urteil hervorgeht, ist von Bedeutung, dass ein Betroffener nach seiner Übergabe die Möglichkeit hat, einen Verstoß gegen diesen Grundsatz vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats geltend zu machen.
55 Weder die Vorlageentscheidung noch die Stellungnahme von RO vor dem Gerichtshof deuten jedoch auf einen derzeitigen Rechtsstreit über diesen Grundsatz hin und enthalten auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass ein solcher anstünde.
56 Ebenso verhält es sich mit dem in Art. 28 des Rahmenbeschlusses niedergelegten Recht betreffend die Grenzen der weiteren Übergabe oder Auslieferung in einen anderen Staat als den Vollstreckungsmitgliedstaat, da die Vorlageentscheidung keinen Hinweis hierauf enthält.
57 Im Übrigen spiegeln die Bestimmungen der Art. 27 und 28 des Rahmenbeschlusses die von Art. 14 bzw. von Art. 15 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 wider. Das Vereinigte Königreich hat, worauf in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hingewiesen worden ist, dieses Übereinkommen ratifiziert und die genannten Bestimmungen in sein nationales Recht umgesetzt. Daher sind die von RO angeführten Rechte in diesen Bereichen unabhängig vom Austritt dieses Mitgliedstaats aus der Union durch die nationalen Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats inhaltlich abgedeckt.
58 Zur Anrechnung der im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßten Haft durch den Ausstellungsmitgliedstaat nach Art. 26 des Rahmenbeschlusses hat das Vereinigte Königreich angegeben, dass es auch diese Verpflichtung in sein nationales Recht aufgenommen habe und sie unabhängig vom Unionsrecht auf jeden anwende, der in sein Hoheitsgebiet ausgeliefert werde.
59 Da die sich aus den Art. 26 bis 28 des Rahmenbeschlusses ergebenden Rechte sowie die Grundrechte nach Art. 4 der Charta nicht nur im Fall der Übergabe, sondern auch bei Auslieferung durch Bestimmungen des nationalen Rechts geschützt werden, sind sie nicht von der Anwendung des Rahmenbeschlusses im Ausstellungsmitgliedstaat abhängig. Vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht liegen somit dem Anschein nach keine greifbaren Anhaltspunkte vor, die belegen könnten, dass RO die Möglichkeit genommen würde, nach dem Austritt dieses Mitgliedstaats aus der Union diese Rechte vor dessen Gerichten geltend zu machen.
60 Dass diese Rechte nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union in Ermangelung eines entsprechenden Abkommens zwischen der Union und diesem Mitgliedstaat zweifelsohne nicht Gegenstand einer an den Gerichtshof gerichteten Vorabentscheidungsfrage sein können, vermag daran nichts zu ändern. Zum einen müsste sich nämlich, wie der vorstehenden Randnummer zu entnehmen ist, die übergebene Person vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats auf alle diese Rechte berufen können. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass der Rückgriff auf den Mechanismus des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof den Gerichten, die mit der Anwendung des Europäischen Haftbefehls betraut sind, nicht immer offengestanden hat. Insbesondere hat der Gerichtshof, wie der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erst am 1. Dezember 2014, also fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, die volle gerichtliche Zuständigkeit zur Auslegung des Rahmenbeschlusses erlangt, obwohl dieser in den Mitgliedstaaten seit dem 1. Januar 2004 durchzuführen war.
61 Daher kommt es, wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens für die Entscheidung darüber, ob ein Europäischer Haftbefehl vollstreckt werden muss, darauf an, dass die vollstreckende Justizbehörde zum Zeitpunkt dieser Entscheidung annehmen darf, dass der Ausstellungsmitgliedstaat nach seinem Austritt aus der Union auf die zu übergebende Person im Wesentlichen den Inhalt der für die Zeit nach der Übergabe geltenden Rechte aus dem Rahmenbeschluss anwenden wird. Diese Annahme ist zulässig, wenn das nationale Recht des Ausstellungsmitgliedstaats im Wesentlichen den Inhalt dieser Rechte insbesondere deshalb einschließt, weil dieser seine Beteiligung an internationalen Übereinkommen wie dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 und der EMRK auch nach seinem Austritt aus der Union aufrechterhält. Nur bei Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte, die auf den Beweis des Gegenteils hinauslaufen, dürfen die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern.
62 Somit ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 50 EUV dahin auszulegen ist, dass die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß diesem Artikel aus der Union auszutreten, nicht zur Folge hat, dass dann, wenn dieser Mitgliedstaat einen Europäischen Haftbefehl gegen jemanden ausstellt, der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls verweigern oder vertagen muss, bis nähere Angaben über die rechtlichen Regelungen vorliegen, die im Ausstellungsmitgliedstaat nach seinem Austritt aus der Union gelten werden. Liegen keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe für die Annahme vor, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die von der Charta und dem Rahmenbeschluss zuerkannten Rechte genommen werden, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht verweigern, solange der Ausstellungsmitgliedstaat der Union angehört.
Kosten
63 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 50 EUV ist dahin auszulegen, dass die bloße Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß diesem Artikel aus der Europäischen Union auszutreten, nicht zur Folge hat, dass dann, wenn dieser Mitgliedstaat einen Europäischen Haftbefehl gegen jemanden ausstellt, der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls verweigern oder vertagen muss, bis nähere Angaben über die rechtlichen Regelungen vorliegen, die im Ausstellungsmitgliedstaat nach seinem Austritt aus der Europäischen Union gelten werden. Liegen keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe für die Annahme vor, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Austritt des Ausstellungsmitgliedstaats aus der Europäischen Union der Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung zuerkannten Rechte genommen werden, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht verweigern, solange der Ausstellungsmitgliedstaat der Europäischen Union angehört.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 7. August 2018.#Massimo Campailla gegen Europäische Union.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Schadensersatzklage – Außervertragliche Haftung der Europäischen Union – Schaden, der durch einen Beschluss des Gerichtshofs entstanden sein soll.#Rechtssache C-256/18 P.
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62018CO0256
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ECLI:EU:C:2018:655
| 2018-08-07T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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EUR-Lex - CELEX:62018CO0256 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 11. Juli 2018.#Europäische Kommission gegen Königreich Belgien.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 5 – Entsendung eines Arbeitnehmers – Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit – Betrugsbekämpfung – Bescheinigung A1 – Nichtanerkennung durch den Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person ihre Erwerbstätigkeit ausübt, im Fall von Betrug oder Missbrauch.#Rechtssache C-356/15.
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62015CJ0356
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ECLI:EU:C:2018:555
| 2018-07-11T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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62015CJ0356
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
11. Juli 2018 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 5 – Entsendung eines Arbeitnehmers – Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit – Betrugsbekämpfung – Bescheinigung A1 – Nichtanerkennung durch den Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person ihre Erwerbstätigkeit ausübt, im Fall von Betrug oder Missbrauch“
In der Rechtssache C‑356/15
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingelegt am 13. Juli 2015,
Europäische Kommission, vertreten durch D. Martin als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
unterstützt durch
Irland, vertreten durch E. Creedon, M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von C. Toland, BL,
Streithelfer,
gegen
Königreich Belgien, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Paepe, avocat,
Beklagter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage begehrt die Europäische Kommission die Feststellung, dass das Königreich Belgien mit den Art. 23 und 24 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2012 (Moniteur belge vom 31. Dezember 2012, S. 88860, im Folgenden: Programmgesetz) gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung: ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004), aus Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) und aus dem Beschluss Nr. A1 vom 12. Juni 2009 über die Einrichtung eines Dialog- und Vermittlungsverfahrens zu Fragen der Gültigkeit von Dokumenten, der Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften und der Leistungserbringung gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2010, C 106, S. 1, im Folgenden: Beschluss Nr. A1) verstoßen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
2 In den Erwägungsgründen 5, 8, 15 und 17 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(5)
Es ist erforderlich, bei dieser Koordinierung innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen, dass die betreffenden Personen nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften gleich behandelt werden.
…
(8) Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung ist für Arbeitnehmer, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, einschließlich Grenzgängern, von besonderer Bedeutung.
…
(15) Es ist erforderlich, Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, um eine Kumulierung anzuwendender nationaler Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen zu vermeiden.
…
(17) Um die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen am besten zu gewährleisten, ist es zweckmäßig, als allgemeine Regel die Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorzusehen, in dem die betreffende Person eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt.“
3 Art. 11 („Allgemeine Regelung“) Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
…
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a)
[E]ine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;
…“
4 Art. 12 („Sonderregelung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.“
5 Art. 76 („Zusammenarbeit“) Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich der Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Mitgliedstaats oder des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.“
Verordnung Nr. 987/2009
6 Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:
„Die Organisation einer wirksameren und engeren Zusammenarbeit zwischen den Trägern der sozialen Sicherheit ist maßgeblich, damit die Personen im Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ihre Rechte so rasch und so gut wie möglich in Anspruch nehmen können.“
7 Art. 5 („Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege“) der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:
„(1) Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.
(2) Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls.
(3) Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor.
(4) Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte.“
8 Art. 6 („Vorläufige Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats und vorläufige Gewährung von Leistungen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt:
„Besteht zwischen den Trägern oder Behörden zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Meinungsverschiedenheit darüber, welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, so unterliegt die betreffende Person vorläufig den Rechtsvorschriften eines dieser Mitgliedstaaten, sofern in der Durchführungsverordnung nichts anderes bestimmt ist, wobei die Rangfolge wie folgt festgelegt wird:
a)
den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Person ihrer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit tatsächlich nachgeht, wenn die Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit in nur einem Mitgliedstaat ausgeübt wird;
…“
9 Mit dem Beschluss Nr. A1 wird ein Dialog- und Vermittlungsverfahren bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit von Belegen oder bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen Mitgliedstaaten darüber, welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind oder welcher Träger die Leistungen zu erbringen hat, eingerichtet.
Belgisches Recht
10 Das Programmgesetz enthält in Titel 3 („Sozialbetrug und korrekte Anwendung des Gesetzes“) Kapitel 1 Vorschriften über die Bekämpfung des Entsendungsbetrugs. Abschnitt 2 („Rechtsmissbrauch“) dieses Kapitels enthält die Art. 22 bis 25 des Programmgesetzes.
11 Art. 22 des Programmgesetzes bestimmt:
„In diesem Kapitel bezeichnet der Ausdruck:
1. ‚europäische Koordinierungsverordnungen‘:
a)
Titel II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern [(ABl. 1971, L 149, S. 2)];
b)
Titel III der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung [Nr. 1408/71 (ABl. 1972, L 74, S. 1)];
c)
Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen [(ABl. 2003, L 124, S. 1)];
d)
Titel II der Verordnung [Nr. 883/2004];
e)
Titel II der Verordnung [Nr. 987/2009];
f)
Verordnung (EU) Nr. 1231/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Ausdehnung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Verordnungen fallen [(ABl. 2010, L 344, S. 1)];
2. ‚Leitfaden‘: von der Verwaltungskommission erarbeiteter Leitfaden zur Bestimmung des im Gebiet der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweiz auf Arbeitnehmer anwendbaren Rechts;
3. ‚Verwaltungskommission‘: Verwaltungskommission zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit;
…“
12 Art. 23 des Programmgesetzes lautet:
„Im Hinblick auf die in den europäischen Koordinierungsverordnungen enthaltenen Regeln zur Bestimmung des anwendbaren Rechts liegt ein Missbrauch vor, wenn bei einem Arbeitnehmer oder einem Selbstständigen Vorschriften der Koordinierungsverordnungen auf einen Sachverhalt angewandt werden, deren Voraussetzungen, wie sie in den Verordnungen festgelegt und im Leitfaden oder in den Beschlüssen der Verwaltungskommission präzisiert sind, nicht erfüllt sind, um sich den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit, die auf den Sachverhalt hätten angewandt werden müssen, wenn die genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften beachtet worden wären, zu entziehen.“
13 Art. 24 des Programmgesetzes lautet:
„(1) Stellt ein nationales Gericht, eine öffentliche Einrichtung für soziale Sicherheit oder ein Sozialinspektor einen Missbrauch im Sinne des vorherigen Kapitels fest, werden auf den betreffenden Arbeitnehmer oder Selbstständigen die belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit angewandt, die nach den in Art. 22 genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften hätten angewandt werden müssen.
(2) Die belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit finden ab dem Tag Anwendung, an dem ihre Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, wobei die Verjährungsfristen gemäß Art. 42 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes vom 27. Juni 1969 zur Revision des Erlassgesetzes vom 28. Dezember 1944 über die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer und Art. 16 des Königlichen Erlass[es] Nr. 38 vom 27. Juli 1967 zur Einführung des Sozialstatuts der Selbständigen berücksichtigt werden.“
14 Art. 25 des Programmgesetzes lautet:
„Die Behörde oder der Inspektor, die bzw. der sich auf einen Missbrauch im Sinne von Art. 23 beruft, hat diesen nachzuweisen.“
Vorverfahren
15 Die Kommission übermittelte dem Königreich Belgien am 21. November 2013 ein Mahnschreiben betreffend die Unvereinbarkeit der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes mit Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004, Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 und dem Beschluss Nr. A1.
16 Die Kommission rügte in diesem Schreiben, dass das Königreich Belgien die Art. 23 und 24 des Programmgesetzes erlassen habe, mit denen die zuständigen nationalen Behörden ermächtigt würden, einen entsandten Arbeitnehmer, der bereits in dem Mitgliedstaat, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig sei, dem System der sozialen Sicherheit angeschlossen sei, unilateral und ohne Einhaltung des in den Verordnungen vorgesehenen Dialog- und Vermittlungsverfahrens den nationalen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit zu unterwerfen, wenn das Dokument, mit dem der Anschluss an das System der sozialen Sicherheit dieses Mitgliedstaats gemäß den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 bescheinigt werde (im Folgenden: Bescheinigung A1), durch den entsprechenden Träger der sozialen Sicherheit rechtsmissbräuchlich ausgestellt worden sei.
17 Das Königreich Belgien antwortete auf das Mahnschreiben vom 21. November 2013 mit Schreiben vom 20. Januar 2014. Es berief sich u. a. auf das Rechtssprichwort fraus omnia corrumpit und das Verbot des Rechtsmissbrauchs als allgemeine Rechtsgrundsätze, aufgrund deren die Mitgliedstaaten mit nationalen Vorschriften vom abgeleiteten Unionsrecht abweichen dürften.
18 Die belgische Regierung machte ferner geltend, die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 ermöglichten es den Mitgliedstaaten, unilaterale Maßnahmen wie die durch Art. 23 und 24 des Programmgesetzes vorgesehenen zu erlassen, wenn sie der Auffassung seien, dass die Anwendung der Verordnungen zu Betrug und Rechtsmissbrauch führe.
19 Am 25. September 2014 übermittelte die Kommission dem Königreich Belgien eine mit Gründen versehene Stellungnahme, auf die dieses mit Schreiben vom 24. November 2014 antwortete. Die Kommission wies u. a. darauf hin, dass die in den Art. 23 und 24 des Programmgesetzes vorgesehenen Maßnahmen wegen des laufenden Vertragsverletzungsverfahrens vorläufig auszusetzen seien.
20 Da die Kommission die Antwort des Königreichs Belgien nicht für zufriedenstellend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.
21 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. November 2015 ist Irland als Streithelfer zur Stützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.
Zur Klage
Zur Zulässigkeit der Klage
Zur Zulässigkeit der Klage insgesamt
– Vorbringen der Parteien
22 Das Königreich Belgien hält die Klage insgesamt für unzulässig. Die Kommission habe die behauptete Vertragsverletzung, insbesondere die Unmöglichkeit, die streitigen Vorschriften des Programmgesetzes im Einklang mit den Vorschriften des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden, nicht nachgewiesen, obwohl das Königreich Belgien in seiner Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme dargetan habe, dass eine solche Auslegung und Anwendung der betreffenden Vorschriften möglich sei.
23 Außerdem habe die Kommission ihre Behauptung, Art. 24 des Programmgesetzes stehe in offenem Widerspruch zu Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009, nicht weiter untermauert.
24 Nach Auffassung der Kommission ist die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.
– Würdigung durch den Gerichtshof
25 Nach ständiger Rechtsprechung ist es in der Tat Sache der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie hat dem Gerichtshof alle erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sie sich hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann (Urteil vom 4. September 2014, Kommission/Frankreich, C‑237/12, EU:C:2014:2152, Rn. 32).
26 Ob die Kommission das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachgewiesen hat, ist aber keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit der Klage (Urteil vom 4. Juni 2015, Kommission/Polen, C‑678/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:358, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Die vom Königreich Belgien erhobene Einrede der Unzulässigkeit der Klage insgesamt ist also unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Zur Zulässigkeit der Rügen, mit denen ein Verstoß gegen Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004, Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 und den Beschluss Nr. A1 geltend gemacht wird
– Vorbringen der Parteien
28 Hilfsweise macht das Königreich Belgien erstens geltend, die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 sei unbestimmt. Aus der Klageschrift gehe nicht eindeutig hervor, ob sich die Rüge auf Art. 11 insgesamt oder lediglich auf dessen Abs. 1 beziehe. Jedenfalls fehle es an einem genauen, zusammenhängenden Vorbringen speziell zu diesem Abs. 1.
29 Zweitens beziehe sich das Vorbringen in der Klageschrift zu einem Verstoß gegen Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 ausschließlich auf dessen Abs. 1. Die Kommission habe in ihrer Erwiderung einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 bis 4 der Verordnung Nr. 987/2009 aus einem Verstoß gegen Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 abgeleitet. Das sei verspätet.
30 Drittens habe die Kommission einen Verstoß gegen den Beschluss Nr. A1 in ihrer Klageschrift lediglich genannt, ohne im Einzelnen darzulegen, inwieweit gegen diesen Beschluss verstoßen worden sei.
31 Nach Auffassung der Kommission ist die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.
– Würdigung durch den Gerichtshof
32 Aus Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und der dazu ergangenen ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass die Klageschrift den Streitgegenstand klar und deutlich angeben und eine kurze Darstellung der geltend gemachten Klagegründe enthalten muss, damit der Beklagte sein Verteidigungsvorbringen vorbereiten und der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Daraus leitet sich ab, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine solche Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben müssen und dass die Klageanträge eindeutig formuliert sein müssen, um zu verhindern, dass der Gerichtshof ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2016, Kommission/Niederlande, C‑233/14, EU:C:2016:396, Rn. 32 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (Urteil vom 2. Juni 2016, Kommission/Niederlande, C‑233/14, EU:C:2016:396, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Insbesondere muss die Klage der Kommission eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen diese zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen eine der ihm nach den Verträgen obliegenden Verpflichtungen verstoßen hat (Urteil vom 2. Juni 2016, Kommission/Niederlande, C‑233/14, EU:C:2016:396, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall genügt die Klageschrift den Anforderungen der in den vorstehenden Randnummern dargestellten Rechtsprechung.
36 Als Erstes ist zur Zulässigkeit der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 festzustellen, dass sich sowohl aus den Klageanträgen als auch aus den in der Klageschrift ausgeführten Rügen eindeutig ergibt, dass Gegenstand der Klage die Unvereinbarkeit der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes mit mehreren Vorschriften des Unionsrechts über die Entsendung von Arbeitnehmern ist. Die Situation entsandter Arbeitnehmer ist in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 geregelt, der für solche Arbeitnehmer den die Verordnung prägenden Grundsatz umsetzt, nach dem Personen, für die die Verordnung gilt, nur den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Dieser Grundsatz ist in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 niedergelegt. Die Abs. 2 bis 5 dieses Artikels betreffen nicht die Situation entsandter Arbeitnehmer.
37 Die Kommission hat sich in ihrer Klageschrift zwar allgemein auf Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 bezogen. Diese enthält aber eine klare Darstellung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die die Klage gestützt wird. Es ergibt sich sowohl aus dem Vorverfahren, insbesondere der mit Gründen versehenen Stellungnahme, die die Kommission dem Königreich Belgien übermittelt hat, als auch aus der Darstellung des rechtlichen Rahmens und der Gründe in der Klageschrift, dass die dem Königreich Belgien zur Last gelegte Vertragsverletzung in Bezug auf Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 lediglich dessen Abs. 1 betrifft.
38 Im Übrigen hat das Königreich Belgien in seinen Schriftsätzen zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 Stellung genommen. Es liegt also auf der Hand, dass es nicht darüber im Unklaren sein konnte, dass sich die Rügen der Kommission auf Abs. 1 dieses Artikels bezogen, und dass es sich zu diesen Rügen hat sachgerecht äußern können.
39 Als Zweites ist zur Zulässigkeit der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 festzustellen, dass Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 den Mitgliedstaaten bei Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 eine allgemeine Verpflichtung zur Zusammenarbeit auferlegt, wozu auch die Befassung der Verwaltungskommission gehört.
40 Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sind vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten verbindlich. Die Abs. 2, 3 und 4 dieses Artikels beschreiben das Verfahren des Dialogs und der Vermittlung zwischen den betroffenen Trägern, das von dem Mitgliedstaat einzuhalten ist, der Zweifel an der Gültigkeit dieser Dokumente oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, hat. Sie bestimmen also den Inhalt der allgemeinen Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten, wie sie in Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehen ist.
41 Die Kommission hat in Rn. 10 ihrer Klageschrift den Inhalt von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 und den Inhalt von Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 wiedergegeben. Außerdem ergibt sich eindeutig aus der Darstellung des rechtlichen Rahmens und der Gründe in der Klageschrift, dass dem Königreich Belgien zur Last gelegt wird, gegen seine Verpflichtung verstoßen zu haben, die durch Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgestellten Grundsätze, wie sie in Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 konkretisiert sind, zu beachten. Schließlich geht sowohl aus den im Vorverfahren ausgetauschten Schriftstücken, insbesondere der mit Gründen versehenen Stellungnahme, die die Kommission dem Königreich Belgien übermittelt hat, als auch aus der Klageschrift hervor, dass die Kommission einen Verstoß des Königreichs Belgien gegen Art. 5 der Verordnung 987/2009 insgesamt geltend macht.
42 Somit liegt auf der Hand, dass das Königreich Belgien, das über den Gegenstand der Rügen der Kommission zu Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 insgesamt nicht im Unklaren sein konnte, in der Lage war, sachgerecht zu den Rügen der Kommission Stellung zu nehmen, und dass das Vorbringen, es bestehe ein Zusammenhang zwischen dieser Vorschrift und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004, nicht verspätet ist.
43 Als Drittes ist zur Zulässigkeit der Rüge eines Verstoßes gegen den Beschluss Nr. A1 festzustellen, dass die Kommission in Rn. 11 ihrer Klageschrift unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bescheinigung A1 das Ziel und die Wirkungen dieser Bescheinigung beschreibt. Außerdem ergibt sich aus dem Vorbringen der Kommission in der Klageschrift insgesamt, insbesondere aus den Rn. 10 bis 12 der Klageschrift, dass sie dargelegt hat, warum sie dem Königreich Belgien vorwirft, die in dem Beschluss Nr. A1 vorgesehenen Verfahren nicht eingehalten zu haben.
44 Die Einrede des Königreichs Belgien, die Rügen, mit denen ein Verstoß gegen Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004, Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 und den Beschluss Nr. A1 geltend gemacht wird, sei unzulässig, ist also unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
45 Mithin ist die Klage zulässig.
Zur Begründetheit
Vorbringen der Parteien
46 In ihrer Klageschrift weist die Kommission zunächst darauf hin, dass Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 den Grundsatz aufstelle, dass die Personen, auf die diese Verordnung anwendbar sei, grundsätzlich den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterlägen. Entsandte Arbeitnehmer unterlägen nach der Regel des Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie gewöhnlich tätig seien. Dieser Mitgliedstaat stelle ihnen eine Bescheinigung A1 aus, mit der ihr Status als Versicherte in diesem Mitgliedstaat bescheinigt werde.
47 Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 seien vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt worden seien, widerrufen oder für ungültig erklärt würden.
48 Für den Fall, dass durch Schwierigkeiten bei ihrer Auslegung oder Anwendung die Rechte einer Person in ihrem Geltungsbereich in Frage gestellt würden, sehe die Verordnung Nr. 883/2004 in Art. 76 vor, dass sich der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsandt sei, mit dem Träger des Herkunftsmitgliedstaats in Verbindung setze. Werde binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, könne er die Verwaltungskommission befassen.
49 In dem Urteil vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere (C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 24 und 25), habe der Gerichtshof bestätigt, dass die Bescheinigung A1, da sie eine Vermutung dafür begründe, dass die entsandten Arbeitnehmer dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das diese Arbeitnehmer entsendende Unternehmen seine Betriebsstätte habe, ordnungsgemäß angeschlossen seien, den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in den diese Arbeitnehmer entsandt seien, binde und notwendig zur Folge habe, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaats nicht angewandt werden könne.
50 Der Erlass der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes sei daher nicht mit den Art. 11, 12 und 76 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu vereinbaren.
51 Zu dem Vorbringen des Königreichs Belgien im Vorverfahren, es sei wegen des Rechtssprichworts fraus omnia corrumpit und des allgemeinen Grundsatzes des Verbots des Rechtsmissbrauchs zum Erlass der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes verpflichtet, macht die Kommission geltend, für die Mitgliedstaaten gälten bei einem Missbrauchs- oder Betrugsverdacht strenge Vorgaben. Um Unionsbürgern den Genuss der Vorschriften des Unionsrechts vorzuenthalten, müssten die Gerichte eines Mitgliedstaats die Verhaltensweisen, die einen Missbrauch oder Betrug darstellen sollen, im Einzelfall auf der Grundlage tatsächlicher Umstände und unter Berücksichtigung der mit den betreffenden Vorschriften des Unionsrechts verfolgten Ziele beurteilen.
52 Die Modalitäten der Zusammenarbeit bei Betrug oder Missbrauch seien in den oben in Rn. 50 genannten Bestimmungen aber im Einzelnen geregelt, so dass für eine Abweichung von den Regeln des Unionsrechts auf der Grundlage des Grundsatzes fraus omnia corrumpit kein Raum sei.
53 Der allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit gebiete es, dass die Bescheinigung A1 für die Träger der sozialen Sicherheit und Gerichte des Mitgliedstaats, in den die betreffenden Arbeitnehmer entsandt seien, soweit mit ihr bescheinigt werde, dass die Arbeitnehmer dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem ihr Unternehmen ansässig sei, angeschlossen seien, so lange verbindlich seien, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt worden seien, widerrufen oder für ungültig erklärt würden. Der unilaterale Erlass der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes verstoße gegen diesen Grundsatz und den in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.
54 Aus denselben Gründen tritt die Kommission dem Vorbringen des Königreichs Belgien entgegen, die Mitgliedstaaten seien nur, weil durch die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 für Betrugs- und Missbrauchsfälle spezielle Dialog- und Vermittlungsverfahren eingeführt worden seien, nicht daran gehindert, Betrug und Missbrauch mit anderen Mitteln zu bekämpfen.
55 Irland, das als Streithelfer die Anträge der Kommission unterstützt, macht insbesondere geltend, mit den genannten Verordnungen sei ein System der Bestimmung des anwendbaren Rechts eingeführt worden, das den Grundsatz der Rechtssicherheit beachte. Es beruhe auf der Regel der Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats und der Anerkennung der Bescheinigung A1. Außerdem sei ein System der Lösung von Streitfällen vorgesehen.
56 Zu dem Grundsatz fraus omnia corrumpit macht Irland geltend, ein solcher allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts erlaube es nicht, sich über unzweideutiges geschriebenes Recht hinwegzusetzen. Sonst würde dessen Gültigkeit in Frage gestellt und der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt.
57 In seiner Klagebeantwortung weist das Königreich Belgien zunächst darauf hin, dass der Begriff des Missbrauchs im Hinblick auf die in den europäischen Koordinierungsverordnungen enthaltenen Regeln zur Bestimmung des anwendbaren Rechts im Sinne von Art. 23 des Programmgesetzes ein objektives und ein subjektives Tatbestandsmerkmal enthalte.
58 Als „Betrug“ würden z. B. gefälschte Bescheinigungen A1, Entsendungen in Belgien ansässiger Personen am Ende des Zeitraums ihres Anschlusses an das belgische System der sozialen Sicherheit, ununterbrochene Entsendungen, deren Dauer die Höchstdauer von 24 Monaten überschreite, oder das völlige Fehlen einer unmittelbaren Beziehung zwischen entsandtem Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie die in dem Leitfaden gemäß Art. 22 des Programmgesetzes beschriebenen Fälle eingestuft.
59 In solchen Fällen müsse nach Art. 23 des Programmgesetzes die Absicht, „sich den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit, die auf den Sachverhalt hätten angewandt werden müssen, wenn die … Rechts- und Verwaltungsvorschriften eingehalten worden wären, zu entziehen“, festgestellt werden. Nicht unter diesen Artikel fielen Fälle der Sozialabgabenoptimierung oder Fälle, in denen die Bescheinigungen A1 lediglich sachliche Fehler enthielten.
60 Die Feststellung eines Missbrauchs im Sinne von Art. 24 Abs. 1 des Programmgesetzes könne nur nach einer Prüfung der objektiven Umstände im Einzelfall erfolgen.
61 Die Art. 23 und 24 des Programmgesetzes kämen also lediglich in den seltenen Fällen zum Tragen, in denen den zuständigen belgischen Behörden oder Gerichten der Nachweis eines Betrugs gelänge, der dazu geführt habe, dass eine Bescheinigung A1 ausgestellt worden sei, ohne dass die Vorschriften der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 erfüllt gewesen seien, um der Unterwerfung unter die nach diesen Vorschriften anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften, nämlich den belgischen Rechtsvorschriften, zu entgehen. Die Behauptung der Kommission, die beanstandeten Vorschriften dienten dazu, eine Bescheinigung A1 für ungültig zu erklären, treffe nicht zu.
62 Der Dialog zwischen den Mitgliedstaaten über den Widerruf der Bescheinigungen A1 funktioniere nicht zufriedenstellend. Er sei nur ansatzweise und lückenhaft geregelt, so dass es notwendig sei, über wirksame Mittel zur Betrugsbekämpfung zu verfügen.
63 Das Königreich Belgien weist sodann auf die Bedeutung des in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 niedergelegten Grundsatzes, nach dem die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaats Anwendung finden, und die für entsandte Arbeitnehmer vorgesehene Ausnahme von diesem Grundsatz hin. Ein Arbeitnehmer, der durch Betrug in den Genuss dieser Ausnahme komme, werde gegenüber anderen im Beschäftigungsmitgliedstaat beschäftigten Personen begünstigt.
64 Die Anwendung des durch die Verordnung Nr. 1408/71 eingeführten Kollisionssystems, das von der Verordnung Nr. 883/2004 übernommen worden sei, hänge allein von der objektiven Situation des betreffenden Arbeitnehmers ab. Die durch einen Betrug verursachte Anwendung von Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 führe aber dazu, dass den Sozialversicherten unter Verstoß gegen zwingende Kollisionsregeln ein Wahlrecht gewährt werde.
65 Zum allgemeinen Grundsatz fraus omnia corrumpit macht das Königreich Belgien unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und die Lehre geltend, dass ein Mitgliedstaat keine Maßnahmen zur Durchführung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 ergreifen dürfe, die gegen einen solchen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstießen. Einem Betrug müssten die nationalen Behörden und Gerichte unmittelbar entgegenwirken dürfen.
66 Zur Rüge eines Verstoßes gegen den Beschluss Nr. A1 macht das Königreich Belgien unter Berufung auf das Urteil vom 8. Juli 1992, Knoch (C‑102/91, EU:C:1992:303), geltend, der Beschluss habe keinen Rechtsnormcharakter, so dass seine Nichtbeachtung nicht Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage sein könne.
67 Zur Rüge eines Verstoßes gegen die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 883/2004 macht das Königreich Belgien geltend, die belgischen Behörden und Gerichte seien bei richtiger Anwendung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 befugt, „den Genuss“ des durch Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 „gewährten Vorteils“ zu verweigern, wenn dieser durch Betrug erlangt worden sei. Das Königreich Belgien weist insoweit das Vorbringen der Kommission zurück, die Existenz von Dialog- und Vermittlungsverfahren und die Verbindlichkeit der Bescheinigungen A1 stünden der Anwendung des Grundsatzes fraus omnia corrumpit entgegen.
68 Zu einem Verstoß gegen den Grundsatz, dass die Begünstigten der Verordnung Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterlägen, macht das Königreich Belgien geltend, bei einem Betrug sei es möglich, dass der angeblich zuständige Träger die Bescheinigung A1 niemals ausgestellt habe, dass der Arbeitnehmer nicht den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliege und dass er in Wirklichkeit über keinen Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit verfüge. In einem solchen Fall liege kein qualifizierter Verstoß gegen den genannten Grundsatz vor. Außerdem führe Betrug zu unlauterem Wettbewerb und Sozialdumping. Die Anwendung der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes garantiere somit einen „Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und die sozialen Vergünstigungen“ im Sinne von Art. 34 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
69 Selbst wenn die betreffende Person bereits dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats des Trägers, der die Bescheinigung ausgestellt habe, angeschlossen sei, führe der Anschluss an das belgischen System der sozialen Sicherheit nicht zu einem doppelten Anschluss. Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 987/2009 sehe nämlich ausdrücklich vor, dass die betreffende Person bei Meinungsverschiedenheiten zweier Mitgliedstaaten hinsichtlich der anzuwendenden Rechtsvorschriften vorläufig den Rechtsvorschriften eines dieser Mitgliedstaaten unterliege. In solchen Fällen hätten die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Person einer Erwerbstätigkeit tatsächlich nachgehe, Vorrang, sofern diese in nur einem Mitgliedstaat ausgeübt werde.
70 Zu einem Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 macht das Königreich Belgien geltend, die Anwendung des durch die Verordnung Nr. 883/2004 eingerichteten Kollisionssystems hänge von der objektiven Situation des betreffenden Arbeitnehmers ab, so dass in Fällen, in denen die zuständigen belgischen Behörden oder Gerichte feststellten, dass eine Bescheinigung A1 gefälscht oder durch Betrug erlangt worden sei, davon auszugehen sei, dass die Vermutung der Rechtmäßigkeit des Anschlusses der entsandten Arbeitnehmer widerlegt sei.
71 Außerdem habe sich der Gerichtshof noch nicht zu der Frage geäußert, ob solche Dokumente für die Träger der sozialen Sicherheit und die Gerichte des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt seien, selbst dann absolut verbindlich seien, wenn sie gefälscht oder durch Betrug erlangt worden seien. Die Vermutung der Rechtmäßigkeit des Anschlusses der entsandten Arbeitnehmer dürfe daher für Bescheinigungen A1, die nachweislich gefälscht oder durch Betrug erlangt worden seien, nicht gelten, so dass solche Bescheinigungen für die Träger der sozialen Sicherheit und die Gerichte des Mitgliedstaats, in denen die betreffenden Personen entsandt seien, nicht verbindlich seien.
72 Was die Rüge der Nichteinhaltung der Dialog- und Vermittlungsverfahren gemäß Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 angeht, lässt das Königreich Belgien das Vorbringen der Kommission, die Anwendung dieser Verfahren sei das einzige Mittel, um Fällen von Betrug zu begegnen, andere Instrumente seien ausgeschlossen, nicht hingegen die parallele Anwendung der Dialog- und Vermittlungsverfahren, nicht gelten.
73 In ihrer Erwiderung wiederholt die Kommission die in der Klageschrift geltend gemachten Rügen und bekräftigt, dass die Art. 23 und 24 des Programmgesetzes es ermöglichten, die Bescheinigung A1 in Betrugsfällen für ungültig zu erklären, da die Anwendung dieser Artikel dazu führe, dass andere Rechtsvorschriften anwendbar seien.
74 Zu dem allgemeinen Grundsatz fraus omnia corrumpit macht die Kommission geltend, der Gerichtshof habe in dem Urteil vom 10. Februar 2000, FTS (C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 53), ausdrücklich entschieden, dass die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt seien, unilateral zu entscheiden, dass ein vom Herkunftsmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgestelltes Dokument durch Betrug erlangt worden sei.
75 Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11 Abs. 1 und Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 macht die Kommission geltend, Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 987/2009 sei entgegen dem Vorbringen des Königreichs Belgien in Fällen anwendbar, in denen die anwendbaren Rechtsvorschriften noch nicht bestimmt worden seien. Ziel dieser Vorschrift sei es, für die betreffenden Personen eine vorübergehende Sicherheit zu gewährleisten und nicht unter Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 und Art. 12 der Verordnung Nr. 883/2004 eine zweite gesetzliche Versicherung aufzuerlegen.
76 Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 führt die Kommission aus, dass es ihr mit ihrer Klage nicht darum gehe, das Königreich Belgien daran zu hindern, Missbrauch und Betrug zu bekämpfen, sondern darum, zu gewährleisten, dass die durch die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 eingeführten Verfahren eingehalten würden. Indem es sich durch den Erlass der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes erlaubt habe, unilateral Entscheidungen über die Unterwerfung entsandter Arbeitnehmer unter die belgischen Rechtsvorschriften zu erlassen, wenn seine eigenen Inspektoren und Träger der sozialen Sicherheit einen Betrugsfall „bescheinigt“ oder „bewiesen“ hätten, habe das Königreich Belgien gegen diese Verordnungen verstoßen, auch gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der als allgemeiner Grundsatz auch im Fall von Betrug oder Missbrauch anwendbar bleibe.
77 Schließlich weist die Kommission im Zusammenhang mit dem Beschluss Nr. A1 darauf hin, dass darin die Modalitäten des durch Art. 76 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 eingeführten Dialog- und Vermittlungsverfahrens präzisiert würden. In Art. 23 des Programmgesetzes werde im Übrigen darauf hingewiesen, dass dieses Verfahren einzuhalten sei. Das unilaterale Recht, das diese Vorschrift den belgischen Trägern in Verbindung mit Art. 24 des Programmgesetzes einräume, erlaube es dem Königreich Belgien aber gerade, die Modalitäten des Dialog- und Vermittlungsverfahrens, wie sie in dem Beschluss Nr. A1 präzisiert seien, nicht einzuhalten.
78 In seiner Gegenerwiderung wendet sich das Königreich Belgien insbesondere gegen das Verständnis der Kommission von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009. Dem Wortlaut dieser Vorschrift sei nicht zu entnehmen, dass sie nur in Fällen Anwendung finde, in denen die anwendbaren Rechtsvorschriften noch nicht bestimmt worden seien. Die Vorschrift komme zur Anwendung, wenn zwischen den Trägern oder Behörden von mindestens zwei Mitgliedstaaten hinsichtlich der Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften Meinungsverschiedenheiten bestünden, was, wenn die zuständigen Behörden oder Gerichte die Art. 23 und 24 des Programmgesetzes anwenden wollten, also in den überaus seltenen Fällen, in denen ein Betrug nachgewiesen sei, aber zwangsläufig der Fall sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
79 Zu den Rügen, mit denen ein Verstoß gegen Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 geltend gemacht wird, ist zunächst festzustellen, dass die Vorschriften der Verordnung Nr. 883/2004, nach denen sich die anzuwendenden Rechtsvorschriften bestimmen, u. a. bezwecken, dass die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden. Dieser Grundsatz kommt insbesondere in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung zum Ausdruck (vgl. entsprechend Urteile vom 12. Juni 2012, Hudzinski und Wawrzyniak, C‑611/10 und C‑612/10, EU:C:2012:339, Rn. 41, und vom 12. Februar 2015, Bouman, C‑114/13, EU:C:2015:81, Rn. 33).
80 Nach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sind auf den entsandten Arbeitnehmer unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, und nicht die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsandt ist.
81 Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, stellen dem entsandten Arbeitnehmer die Bescheinigung A1 aus, mit der bescheinigt wird, dass er in diesem Mitgliedstaat versichert ist.
82 Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 bestimmt hinsichtlich der Rechtswirkung der vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 bescheinigt wird, sowie der Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, dass diese Dokumente für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.
83 Nach Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 setzt sich der Träger des zuständigen Mitgliedstaats oder des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats in Verbindung, wenn durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich der Verordnung in Frage gestellt werden. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.
84 Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 übernimmt im Wesentlichen den Inhalt von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71. Da die Verordnung Nr. 883/2004 die Regel beibehält, dass der entsandte Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Staates unterliegt, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, und mit den beiden Verordnungen dieselben Ziele verfolgt werden, ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung Nr. 1408/71 weiter analog heranzuziehen.
85 Danach erklärt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, in der Bescheinigung A1, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf entsandte Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung anwendbar bleibt. Wegen des Grundsatzes, dass die Arbeitnehmer einem einzigen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein sollen, hat die Bescheinigung A1 damit notwendig zur Folge, dass das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsandt ist, nicht angewandt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 49, und vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 21).
86 Der Mitgliedstaat, in den die Arbeitnehmer entsandt werden, würde gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen und die mit Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 verfolgten Ziele verfehlen, wenn er Rechtsvorschriften erließe, mit denen seine Träger ermächtigt werden, sich unilateral nicht an die Angaben in der Bescheinigung gebunden zu sehen und die Arbeitnehmer ihrem eigenen System der sozialen Sicherheit zu unterstellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 52, vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 23, und vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 38).
87 Da die Bescheinigung A1 eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss der entsandten Arbeitnehmer an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das die Arbeitnehmer entsendet, seine Betriebsstätte hat, ordnungsgemäß ist, bindet sie folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 2000, FTS, C‑202/97, EU:C:2000:75, Rn. 53, vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 24, und vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 41).
88 Jede andere Lösung würde den Grundsatz des Anschlusses der Arbeitnehmer an ein einziges System der sozialen Sicherheit sowie die Vorhersehbarkeit des anwendbaren Systems und damit die Rechtssicherheit beeinträchtigen: In Fällen, in denen die Feststellung des anwendbaren Systems schwierig wäre, könnte der zuständige Träger beider betreffenden Mitgliedstaaten sein eigenes System der sozialen Sicherheit für anwendbar erklären, was den betroffenen Arbeitnehmern zum Nachteil gereichen würde (vgl. Urteile vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 25, und vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 42).
89 Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung A1 ausgestellt hat, aber, den Sachverhalt, der für die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten (Urteile vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 39, und vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 37).
90 Außerdem muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung A1 ausgestellt hat, deren Richtigkeit überprüfen und die Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt sind, Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und demnach der darin gemachten Angaben insbesondere deshalb geltend macht, weil diese den Tatbestand des Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht erfüllt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Soweit die betroffenen Träger im Einzelfall namentlich bei der Beurteilung des Sachverhalts zu keiner Übereinstimmung gelangen, können sie sich an die Verwaltungskommission wenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Gelingt es dieser nicht, zwischen den Standpunkten der zuständigen Träger in Bezug auf das anwendbare Recht zu vermitteln, steht es dem Mitgliedstaat, in den die betreffenden Arbeitnehmer entsandt sind – unbeschadet einer in dem Mitgliedstaat der ausstellenden Behörde etwa möglichen Klage –, zumindest frei, gemäß Art. 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, so dass der Gerichtshof die Frage des auf diese Arbeitnehmer anwendbaren Rechts und damit die Richtigkeit der Angaben in der Bescheinigung A1 prüfen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 45).
93 Im Fall eines – selbst offensichtlichen – Beurteilungsfehlers in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen der Verordnung Nr. 883/2004, und auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Bedingungen, unter denen die betreffenden Arbeitnehmer ihre Tätigkeit ausüben, offensichtlich nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Bestimmung fallen, auf deren Grundlage die Bescheinigung A1 ausgestellt worden ist, ist daher das Verfahren, das zu befolgen ist, um etwaige Streitigkeiten zwischen den Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten über die Gültigkeit oder die Richtigkeit einer Bescheinigung A1 beizulegen, einzuhalten (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Könnte der Mitgliedstaat, in den der Arbeitnehmer entsandt ist, Rechtsvorschriften erlassen, mit denen seine Träger ermächtigt werden, eine Bescheinigung A1 von einem Gericht dieses Staates unilateral für ungültig erklären zu lassen, wäre das auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten gegründete System gefährdet. Solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, gilt die Bescheinigung A1 deshalb grundsätzlich in der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt worden sind, und bindet daher seine Träger (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 30 und 31).
95 Rechtsvorschriften wie die Art. 23 und 24 des Programmgesetzes, die die zuständigen Träger des Königreichs Belgien ermächtigen, einen Arbeitnehmer im Fall eines Rechtsmissbrauchs in Bezug auf die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 unilateral den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit zu unterwerfen, sind daher nicht mit dem Grundsatz der Zugehörigkeit der Beschäftigten zu nur einem System der sozialen Sicherheit, wie er in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 niedergelegt ist, und dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar, der u. a. gebietet, dass Rechtsnormen klar, bestimmt und hinsichtlich ihrer Folgen voraussehbar sein müssen, insbesondere dann, wenn sie für Einzelne und Unternehmen nachteilige Folgen haben können (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 12. Dezember 2013, Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation, C‑362/12, EU:C:2013:834, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
96 Sie sind auch nicht mit den Vorschriften der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 über das Verfahren bei Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnungen vereinbar, insbesondere, wenn der Mitgliedstaat, in den der Arbeitnehmer entsandt ist, der Auffassung ist, dass die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht erfüllt sind.
97 Diese Feststellung wird durch das Vorbringen des Königreichs Belgien, seine nationalen Behörden seien bei einem nachgewiesenen Betrug befugt, die Anwendung von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 abzulehnen, nicht entkräftet.
98 Als Erstes ist festzustellen, dass keine Bestimmung der Verordnung Nr. 883/2004 oder der Verordnung Nr. 987/2009 eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten enthält, bei einem Betrug oder Missbrauch unilateral durch ein Gesetz die Nichtanwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorzusehen, so dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, den Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 konkretisieren, auch in solchen Fällen Anwendung findet.
99 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich die Rechtsunterworfenen nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Europäischen Union berufen. Der Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist. Die Anwendung der Unionsrechtsvorschriften kann nicht so weit gehen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 48 und 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
100 Wenn im Rahmen des in Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Dialogs der Träger des Mitgliedstaats, in den Arbeitnehmer entsandt wurden, dem Träger, der die Bescheinigungen A1 ausgestellt hat, konkrete Beweise vorlegt, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, hat der ausstellende Träger gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit anhand dieser Beweise erneut zu prüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54).
101 Nimmt der ausstellende Träger nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine solche erneute Überprüfung vor, müssen diese Beweise im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu erreichen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, die betreffenden Bescheinigungen außer Acht lässt (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 55).
102 In einem solchen Fall kann das nationale Gericht die betreffenden Bescheinigungen A1 außer Acht lassen und hat festzustellen, ob die Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von betrügerisch erwirkten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, auf der Grundlage des anwendbaren innerstaatlichen Rechts zur Verantwortung gezogen werden können (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 60).
103 Die Personen, denen in einem solchen Verfahren zur Last gelegt wird, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von betrügerisch erlangten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, müssen jedoch unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien die Möglichkeit erhalten, die Beweise, auf die sich dieses Verfahren stützt, zu entkräften, bevor das nationale Gericht gegebenenfalls entscheidet, diese Bescheinigungen außer Acht zu lassen, und über die Verantwortlichkeit dieser Personen nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht befindet (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 56).
104 Die nationale Regelung, um die es im vorliegenden Fall geht, genügt nicht den oben in den Rn. 100 und 101 dargestellten Anforderungen.
105 Zum einen sieht sie keinerlei Verpflichtung zur Einleitung des Dialog- und Vermittlungsverfahrens gemäß den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 vor. Zum anderen wird nicht allein dem nationalen Richter die Befugnis eingeräumt, darüber zu entscheiden, ob ein Betrug vorliegt, und eine Bescheinigung A1 deshalb außer Acht zu lassen. Nach der Regelung können auch die belgischen öffentlichen Einrichtungen für soziale Sicherheit und die belgischen Sozialinspektoren ohne Gerichtsverfahren entscheiden, dass ein entsandter Arbeitnehmer den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegt.
106 Als Zweites ist festzustellen, dass ein Mitgliedstaat die Nichterfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Vertrag nach ständiger Rechtsprechung nicht mit dem Hinweis rechtfertigen kann, andere Mitgliedstaaten kämen ihren Verpflichtungen ebenfalls nicht nach. Denn in der durch den AEU-Vertrag geschaffenen Unionsrechtsordnung kann die Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten nicht von einer Gegenseitigkeitsvoraussetzung abhängig gemacht werden. Die Art. 258 und 259 AEUV sehen die geeigneten Rechtsbehelfe vor, um Verstößen der Mitgliedstaaten gegen Verpflichtungen aus dem AEU-Vertrag zu begegnen (Urteil vom 19. November 2009, Kommission/Finnland, C‑118/07, EU:C:2009:715, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
107 Als Drittes ist zu dem Vorbringen, die Rücknahme von Bescheinigungen A1 sei nur ansatzweise und lückenhaft geregelt, was den Mitgliedstaaten, die sofortige Maßnahmen zur Ahndung des Betrugs ergreifen müssten, Schwierigkeiten bereite, festzustellen, dass zwar nicht ausgeschlossen ist, dass das Dialog- und Vermittlungsverfahren in der Praxis nicht immer zufriedenstellend und reibungslos funktioniert. Die Mitgliedstaaten können jedoch aus etwaigen Schwierigkeiten beim Einholen der erforderlichen Informationen oder aus Defiziten, die bei der Kooperation ihrer zuständigen Behörden auftreten können, keine Rechtfertigung dafür herleiten, dass sie ihren Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht nachkommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2013, Kommission/Belgien, C‑383/10, EU:C:2013:364, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
108 Als Viertes ist zu dem Vorbringen des Königreichs Belgien, dass, auch wenn die betreffende Person bereits dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats des Trägers, der die Bescheinigung ausgestellt hat, angeschlossen sei, der Anschluss an das belgische System der sozialen Sicherheit nicht zu einem Doppelanschluss führe, da die betreffende Person nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 987/2009 vorläufig den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliege, in dem sie tatsächlich einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehe, festzustellen, dass eine solche Auslegung Art. 5 Abs. 2, 3 und 4 der Verordnung Nr. 987/2009 gegenstandslos machen würde. Bei einem gemäß Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung ausgestellten Dokument muss bei zwischen den zuständigen Trägern verschiedener Mitgliedstaaten bestehenden Meinungsverschiedenheiten über das Dokument nämlich das Verfahren gemäß Art. 5 Abs. 2, 3 und 4 der Verordnung angewandt werden. Die Anwendung von Art. 6 der Verordnung Nr. 987/2009 ist in einem solchen Fall ausgeschlossen.
109 Den Rügen der Kommission, mit denen geltend gemacht wird, das Königreich Belgien habe gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 verstoßen, ist daher stattzugeben.
110 Was die Rüge angeht, mit der ein Verstoß gegen den Beschluss Nr. A1 geltend gemacht wird, ist festzustellen, dass ein solcher Beschluss nach ständiger Rechtsprechung zwar für die Sozialversicherungsträger, denen die Durchführung des Unionsrechts auf diesem Gebiet übertragen ist, ein Hilfsmittel darstellen kann; er ist aber nicht geeignet, sie zu verpflichten, bei der Anwendung des Unionsrechts bestimmte Methoden anzuwenden oder von einer bestimmten Auslegung auszugehen (Urteile vom 8. Juli 1992, Knoch, C‑102/91, EU:C:1992:303, Rn. 52, und vom 1. Oktober 1992, Grisvard und Kreitz, C‑201/91, EU:C:1992:368, Rn. 25).
111 Da der Beschluss Nr. A1 demnach keinen normativen Charakter hat, kann dem Königreich Belgien nicht zur Last gelegt werden, mit dem Erlass der Art. 23 und 24 des Programmgesetzes gegen ihn verstoßen zu haben.
112 Die Rüge eines Verstoßes gegen den Beschluss Nr. A1 ist also als unbegründet zurückzuweisen.
113 Nach alledem ist festzustellen, dass das Königreich Belgien mit den Art. 23 und 24 des Programmgesetzes gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 verstoßen hat.
Kosten
114 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Vertragsverletzung im Wesentlichen festgestellt worden ist, ist das Königreich Belgien gemäß dem Antrag der Kommission zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Königreich Belgien hat mit den Art. 23 und 24 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2012 gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung und Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 verstoßen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Das Königreich Belgien trägt die Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. Juni 2018.#Sadikou Gnandi gegen État belge.#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚illegaler Aufenthalt‘ – Art. 6 – Erlass einer Rückkehrentscheidung vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gestattung des Verbleibs in einem Mitgliedstaat.#Rechtssache C-181/16.
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62016CJ0181
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ECLI:EU:C:2018:465
| 2018-06-19T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
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62016CJ0181
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
19. Juni 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚illegaler Aufenthalt‘ – Art. 6 – Erlass einer Rückkehrentscheidung vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gestattung des Verbleibs in einem Mitgliedstaat“
In der Rechtssache C‑181/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 8. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 31. März 2016, in dem Verfahren
Sadikou Gnandi
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), J. L. da Cruz Vilaça, C. G. Fernlund und C. Vajda, des Richters E. Juhász, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterin M. Berger, des Richters E. Jarašiūnas, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Herrn Gnandi, vertreten durch D. Andrien, avocat,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von C. Piront, S. Matray und D. Matray, avocats,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. Heller als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juni 2017,
aufgrund des Beschlusses vom 25. Oktober 2017, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von Herrn Gnandi, vertreten durch D. Andrien, avocat,
–
der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und C. Van Lul als Bevollmächtigte im Beistand von C. Piront, S. Matray und D. Matray, avocats,
–
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
–
der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz als Bevollmächtigten,
–
der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, E. Armoët und D. Colas als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, P. Huurnink und J. Langer als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, M. Heller und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der ergänzenden Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Februar 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98), der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13) sowie des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in Art. 18, in Art. 19 Abs. 2 und in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert sind.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Sadikou Gnandi und dem belgischen Staat über die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses, mit dem Herr Gnandi angewiesen wurde, das belgische Staatsgebiet zu verlassen.
Rechtlicher Rahmen
Genfer Konvention
3 Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Konvention) sieht in Abs. 1 vor:
„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“
Unionsrecht
Richtlinien 2003/9/EG und 2013/33/EU
4 Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18) bezeichnet der Ausdruck „Asylbewerber“ im Sinne dieser Richtlinie „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Asylantrag gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde“.
5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/9 bestimmt in Abs. 1:
„Diese Richtlinie gilt für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Asyl beantragen, solange sie als Asylbewerber im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen …“
6 Art. 2 Buchst. c und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9 wurden durch die im Wesentlichen gleichlautenden Art. 2 Buchst. b und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96), ersetzt.
Richtlinien 2005/85 und 2013/32/EU
7 Die Erwägungsgründe 2 und 8 der Richtlinie 2005/85 lauten:
„(2)
Der Europäische Rat ist … übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung [der Genfer Konvention] stützt, wodurch der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und sichergestellt wird, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er der Verfolgung ausgesetzt ist.
…
(8) Diese Richtlinie steht in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“
8 Art. 7 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) der Richtlinie 2005/85 bestimmt:
„(1) Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde nach den in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Asylantrag entschieden hat. Aus dieser Bleibeberechtigung ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.
(2) Die Mitgliedstaaten können nur eine Ausnahme machen, wenn gemäß den Artikeln 32 und 34 ein Folgeantrag nicht weiter geprüft wird oder wenn sie eine Person aufgrund von Verpflichtungen aus einem europäischen Haftbefehl … oder aus anderen Gründen entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte oder Tribunale überstellen bzw. ausliefern.“
9 Art. 39 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) der Richtlinie 2005/85 verpflichtet die Mitgliedstaaten in Abs. 1, sicherzustellen, dass Asylbewerber das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf haben. In Art. 39 Abs. 3 der Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten legen im Einklang mit ihren internationalen Verpflichtungen gegebenenfalls Vorschriften fest im Zusammenhang mit
a)
der Frage, ob der Rechtsbehelf nach Absatz 1 zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen,
b)
der Möglichkeit eines Rechtsmittels oder von Sicherungsmaßnahmen, wenn der Rechtsbehelf nach Absatz 1 nicht zur Folge hat, dass sich Antragsteller bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen. …
…“
10 Die Art. 7 und 39 der Richtlinie 2005/85 wurden durch die Art. 9 und 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) ersetzt.
11 In Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) der Richtlinie 2013/32 heißt es:
„(1) Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.
(2) Die Mitgliedstaaten dürfen nur eine Ausnahme machen, wenn eine Person einen Folgeantrag im Sinne von Artikel 41 stellt oder wenn sie eine Person aufgrund von Verpflichtungen aus einem Europäischen Haftbefehl … oder aus anderen Gründen entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte überstellen beziehungsweise ausliefern.
…“
12 Art. 46 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 5:
„Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.“
Richtlinie 2008/115
13 In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8, 9, 12 und 24 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(2)
[Der] Europäische Rat [forderte] zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.
…
(4) Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.
…
(6) Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. …
…
(8) Anerkanntermaßen haben die Mitgliedstaaten das Recht, die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sicherzustellen, unter der Voraussetzung, dass faire und effiziente Asylsysteme vorhanden sind, die den Grundsatz der Nichtzurückweisung in vollem Umfang achten.
(9) Gemäß der Richtlinie [2005/85] sollten Drittstaatsangehörige, die in einem Mitgliedstaat Asyl beantragt haben, so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältige Personen gelten, bis eine abschlägige Entscheidung über den Antrag oder eine Entscheidung, mit der [ihr] Aufenthaltsrecht als Asylbewerber beendet wird, bestandskräftig geworden ist.
…
(12) Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. …
…
(24) Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta … verankert sind.“
14 Gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 findet die Richtlinie 2008/115 Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.
15 In Art. 3 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke
…
2. ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;
…
4. ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;
5. ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;
…“
16 Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie 2008/115 lautet:
„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:
a)
das Wohl des Kindes,
b)
die familiären Bindungen,
c)
den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,
und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
17 Art. 6 („Rückkehrentscheidung“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:
„(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
…
(4) Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.
…
(6) Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“
18 In Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(1) Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Die Mitgliedstaaten können in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen, dass diese Frist nur auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen eingeräumt wird. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen davon, dass die Möglichkeit besteht, einen solchen Antrag zu stellen.
…
(2) Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.
…“
19 Art. 8 („Abschiebung“) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.
…
(3) Die Mitgliedstaaten können eine getrennte behördliche oder gerichtliche Entscheidung oder Maßnahme erlassen, mit der die Abschiebung angeordnet wird.
…“
20 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet:
„Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,
a)
wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder
b)
solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.“
21 Art. 13 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2008/115, der zu deren Kapitel III („Verfahrensgarantien“) gehört, bestimmt in Abs. 1:
„Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.“
22 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet:
„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn
a)
Fluchtgefahr besteht oder
b)
die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.
Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“
Belgisches Recht
23 Art. 39/70 Abs. 1 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, l’établissement, le séjour et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern, Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584) in ihrer im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) sieht vor:
„Vorbehaltlich der Zustimmung des Betreffenden kann während der Frist für die Einreichung einer Beschwerde und während der Prüfung dieser Beschwerde gegenüber dem Ausländer keine Maßnahme zur Entfernung oder Abweisung aus dem Staatsgebiet unter Zwang ausgeführt werden.“
24 Art. 52/3 § 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 lautet:
„Wenn der Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose den Asylantrag nicht berücksichtigt oder es ablehnt, dem Ausländer die Rechtsstellung als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, und der Ausländer sich unrechtmäßig im Königreich aufhält, muss der Minister oder sein Beauftragter unverzüglich eine Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, ausstellen, die mit einem der in Artikel 7 Absatz 1 Nr. 1 bis 12 vorgesehenen Gründe versehen wird. Dieser Beschluss wird dem Betreffenden gemäß Artikel 51/2 notifiziert.
Wenn der Rat für Ausländerstreitsachen die Beschwerde des Ausländers gegen einen vom Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose gefassten Beschluss in Anwendung von Artikel 39/2 § 1 Nr. 1 abweist und der Ausländer sich unrechtmäßig im Königreich aufhält, beschließt der Minister oder sein Beauftragter unverzüglich, die in Absatz 1 vorgesehene Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zu verlängern. Dieser Beschluss wird dem Betreffenden unverzüglich gemäß Artikel 51/2 notifiziert.“
25 Art. 75 § 2 des Arrêté royal du 8 octobre 1981 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Königlicher Erlass vom 8. Oktober 1981 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern, Moniteur belge vom 27. Oktober 1981, S. 13740) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:
„Wenn der Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose es ablehnt, Ausländern die Rechtsstellung als Flüchtling anzuerkennen oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen oder wenn er den Asylantrag nicht berücksichtigt, weist der Minister oder sein Beauftragter die Betreffenden gemäß Artikel 52/3 § 1 des Gesetzes [vom 15. Dezember 1980] an, das Staatsgebiet zu verlassen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
26 Am 14. April 2011 stellte Herr Gnandi, ein togolesischer Staatsangehöriger, bei den belgischen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz. Sein Antrag wurde am 23. Mai 2014 vom Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, im Folgenden: CGRA) abgelehnt. Am 3. Juni 2014 wies der belgische Staat Herrn Gnandi über das Office des étrangers (Ausländeramt, Belgien) an, das Staatsgebiet zu verlassen.
27 Am 23. Juni 2014 legte Herr Gnandi beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) Beschwerde gegen den Beschluss des CGRA vom 23. Mai 2014 ein. Am gleichen Tag beantragte er bei diesem Gericht die Aufhebung und die Aussetzung des Vollzugs der Anweisung vom 3. Juni 2014, das Staatsgebiet zu verlassen.
28 Der Rat für Ausländerstreitsachen wies mit Urteil vom 31. Oktober 2014 die Beschwerde gegen den Beschluss des CGRA vom 23. Mai 2014 und mit Urteil vom 19. Mai 2015 die Beschwerde gegen die Anweisung vom 3. Juni 2014, das Staatsgebiet zu verlassen, zurück. Der mit einem Rechtsmittel von Herrn Gnandi gegen beide Urteile befasste Staatsrat (Belgien) hob am 10. November 2015 das Urteil des Rates für Ausländerstreitsachen vom 31. Oktober 2014 auf und verwies die Rechtssache an ihn zurück. Das Ausgangsverfahren betrifft ausschließlich die Kassationsbeschwerde von Herrn Gnandi gegen das Urteil des Rates für Ausländerstreitsachen vom 19. Mai 2015.
29 Im Rahmen dieses Verfahrens hat der Staatsrat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 5 der Richtlinie 2008/115, der die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Richtlinie zur Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung verpflichtet, sowie das in Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie und in Art. 47 der Charta vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in dem Sinne auszulegen, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung nach Art. 6 der Richtlinie 2008/115 sowie Art. 52/3 § 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 und Art. 75 § 2 des Königlichen Erlasses vom 8. Oktober 1981 entgegenstehen, der gleich nach der Ablehnung des Asylantrags durch den CGRA erfolgt und somit bevor die Rechtsbehelfe gegen diese ablehnende Entscheidung ausgeschöpft worden sein können und bevor das Asylverfahren endgültig abgeschlossen worden sein kann?
Zum Fortbestand des Ausgangsrechtsstreits
30 Die belgische Regierung hat vor dem Gerichtshof geltend gemacht, über die Vorlagefrage brauche nicht mehr entschieden zu werden, weil die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, hinfällig geworden sei, nachdem Herrn Gnandi eine zeitweilige Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei und der Rat für Ausländerstreitsachen mit Urteil vom 11. März 2016 den Beschluss des CGRA vom 23. Mai 2014 für nichtig erklärt habe.
31 Insoweit ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil des Gerichtshofs berücksichtigt werden kann. Folglich hat der Gerichtshof – auch von Amts wegen – zu prüfen, ob der Ausgangsrechtsstreit fortbesteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass Herrn Gnandi nach der Stellung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens mit Beschluss des Ausländeramts vom 8. Februar 2016 gestattet worden ist, sich bis zum 1. März 2017 im belgischen Staatsgebiet aufzuhalten, und dass im Anschluss an das Urteil des Rates für Ausländerstreitsachen vom 11. März 2016 sein Antrag auf internationalen Schutz vom CGRA am 30. Juni 2016 erneut abgelehnt worden ist.
33 Das vorlegende Gericht ist vom Gerichtshof ersucht worden, ihm mitzuteilen, ob es für seine Entscheidung eine Antwort des Gerichtshofs noch für notwendig erachtet, und hat darauf geantwortet, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle. Es hat im Wesentlichen ausgeführt, die Nichtigerklärung des Beschlusses des CGRA vom 23. Mai 2014 durch das Urteil des Rates für Ausländerstreitsachen vom 11. März 2016 habe als solche keine rechtlichen Auswirkungen auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, und die Erteilung einer zeitweiligen Aufenthaltserlaubnis für Herrn Gnandi habe nicht zur stillschweigenden Rücknahme der Anweisung geführt. Überdies entfalte diese Anweisung seit dem 30. Juni 2016, an dem der CGRA den Antrag von Herrn Gnandi auf internationalen Schutz erneut abgelehnt habe, wieder Wirkungen.
34 Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, sich im Rahmen eines Ersuchens um Vorabentscheidung zur Auslegung nationaler Vorschriften zu äußern (Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist in Anbetracht der Angaben des vorlegenden Gerichts davon auszugehen, dass der Ausgangsrechtsstreit bei ihm nach wie vor anhängig ist und dass für die Entscheidung dieses Rechtsstreits eine Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage nach wie vor von Nutzen ist. Folglich ist über das Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden.
Zur Vorlagefrage
35 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85 und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in Art. 18, in Art. 19 Abs. 2 und in Art. 47 der Charta verankert sind, dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 entgegensteht, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die ergeht, nachdem dieser Antrag von der zuständigen Behörde abgelehnt wurde und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen seine Ablehnung.
36 Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zutreffend als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 eingestuft hat. In dieser Bestimmung wird der Begriff „Rückkehrentscheidung“ nämlich als behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme definiert, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.
37 Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 findet die Richtlinie 2008/115 Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige. Speziell in Bezug auf Rückkehrentscheidungen sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten eine solche Entscheidung grundsätzlich gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen erlassen.
38 Um zu klären, ob gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, sobald die zuständige Behörde seinen Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt hat, ist daher als Erstes zu prüfen, ob ein solcher Drittstaatsangehöriger ab dieser Ablehnung illegal aufhältig im Sinne der Richtlinie 2008/115 ist.
39 Insoweit geht aus der Definition des Begriffs „illegaler Aufenthalt“ in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, in dessen Hoheitsgebiet befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48).
40 Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, im Mitgliedstaat verbleiben. Zwar ergibt sich, wie es in dieser Bestimmung ausdrücklich heißt, aus der Bleibeberechtigung kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, doch geht u. a. aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass die Bleibeberechtigung verhindert, dass der Aufenthalt einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in der Zeit zwischen der Stellung ihres Antrags auf internationalen Schutz und dem Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über ihn als „illegal“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 eingestuft wird.
41 Wie aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 klar hervorgeht, endet die darin vorgesehene Bleibeberechtigung, wenn die zuständige Behörde die erstinstanzliche Entscheidung erlässt, mit der sie den Antrag auf internationalen Schutz ablehnt. Mangels einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels auf einer anderen Rechtsgrundlage – insbesondere nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 –, die es dem erfolglosen Antragsteller ermöglicht, die Voraussetzungen für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, hat die Ablehnung des Antrags zur Folge, dass der Antragsteller danach diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, so dass sein Aufenthalt illegal wird.
42 Nach Art. 39 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 können die Mitgliedstaaten zwar Vorschriften festlegen, wonach sich Personen, die internationalen Schutz beantragen, bis zur Entscheidung über ihren Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten dürfen. Im vorliegenden Fall scheint Art. 39/70 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 eine derartige Vorschrift zu enthalten, da er Personen, die internationalen Schutz beantragen, das Recht gibt, während der Frist für die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs und während dessen Prüfung im belgischen Hoheitsgebiet zu bleiben; dies hat das vorlegende Gericht zu prüfen.
43 Ferner trifft es zu, dass der Gerichtshof in den Rn. 47 und 49 des Urteils vom 30. Mai 2013, Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343), entschieden hat, dass eine zur wirksamen Ausübung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz erteilte Bleibeberechtigung verhindert, dass auf den Drittstaatsangehörigen, der den Antrag gestellt hat, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen seine Ablehnung die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet.
44 Aus diesem Urteil lässt sich jedoch nicht ableiten, dass eine solche Bleibeberechtigung die Annahme ausschlösse, dass ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz und vorbehaltlich des Vorliegens einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils genannten Art der Aufenthalt des Betroffenen illegal im Sinne der Richtlinie 2008/115 wird.
45 Erstens sollte nämlich angesichts der Tragweite der Vorlagefragen in der Rechtssache, in der das genannte Urteil ergangen ist, und des Kontexts dieser Rechtssache die dort vorgenommene Auslegung nur sicherstellen, dass das Rückführungsverfahren nicht fortgesetzt wird, solange der erfolglose Antragsteller bis zur Entscheidung über seinen Rechtsbehelf im Land bleiben darf, und dass er insbesondere in diesem Zeitraum nicht nach Art. 15 der Richtlinie 2008/115 für die Zwecke der Abschiebung inhaftiert werden kann.
46 Zweitens macht weder Art. 3 Nr. 2 noch eine andere Bestimmung der Richtlinie 2008/115 die Illegalität des Aufenthalts davon abhängig, wie über einen Rechtsbehelf gegen eine den legalen Aufenthalt beendende behördliche Entscheidung entschieden wird, oder davon, dass eine Bleibeberechtigung bis zur Entscheidung über einen solchen Rechtsbehelf fehlt. Vielmehr geht zwar – wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils hervorgehoben worden ist – aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 in Verbindung mit dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass die Bleibeberechtigung der Person, die internationalen Schutz beantragt, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats für die Zeit von der Stellung des Antrags bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über ihn verhindert, dass der Aufenthalt des Antragstellers während dieser Zeit als „illegal“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 eingestuft wird, doch lässt sich keiner Bestimmung und keinem Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 oder der Richtlinie 2008/115 entnehmen, dass die Bleibeberechtigung in diesem Hoheitsgebiet bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags einer solchen Einstufung entgegenstünde.
47 Drittens beruht die Richtlinie 2008/115 nicht auf dem Gedanken, dass die Illegalität des Aufenthalts und damit die Anwendbarkeit der Richtlinie voraussetzen, dass ein Drittstaatsangehöriger keine rechtliche Möglichkeit hat, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben, insbesondere bis zur Entscheidung über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die den legalen Aufenthalt beendende Entscheidung. Vielmehr findet die Richtlinie – wie aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht – auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die, obwohl sie sich unrechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, dort bleiben dürfen, da sie noch nicht abgeschoben werden können. Insbesondere sieht Art. 7 der Richtlinie vor, dass den Betreffenden eine angemessene Frist für die freiwillige Ausreise zu setzen ist und dass sie während dieser Frist, obwohl sie illegal aufhältig sind, noch bleiben dürfen. Ferner sind die Mitgliedstaaten nach den Art. 5 und 9 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet, in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten und ihre Abschiebung aufzuschieben, wenn sie gegen diesen Grundsatz verstoßen würde.
48 Viertens besteht das Hauptziel der Richtlinie 2008/115 – wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 hervorgeht – in der Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Pham, C‑474/13, EU:C:2014:2096, Rn. 20, und vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Dieses Ziel findet besonderen Ausdruck in Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115, der es den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestattet, mit einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung des legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Denn diese Möglichkeit, beide Entscheidungen in einer einzigen behördlichen Entscheidung zusammenzufassen, erlaubt es den Mitgliedstaaten, den Gleichlauf oder die Verbindung der zu den genannten Entscheidungen führenden Verwaltungsverfahren sowie der gegen sie eingelegten Rechtsbehelfe sicherzustellen. Wie insbesondere die tschechische, die deutsche und die niederländische Regierung vorgetragen haben, lassen sich durch eine solche Möglichkeit zur Zusammenfassung auch praktische Schwierigkeiten bei der Zustellung der Rückkehrentscheidungen überwinden.
50 Eine Auslegung der Richtlinie 2008/115, wonach die Illegalität des Aufenthalts allein wegen des Vorliegens einer Erlaubnis, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz zu bleiben, ausgeschlossen wäre, würde der Möglichkeit einer solchen Zusammenfassung ihre praktische Wirksamkeit nehmen und liefe damit dem Ziel der Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik zuwider. Bei einer solchen Auslegung könnte eine Rückkehrentscheidung nämlich erst nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf ergehen, was zu erheblichen Verzögerungen bei der Einleitung des Rückkehrverfahrens führen und dieses Verfahren komplexer machen könnte.
51 Fünftens ist hinsichtlich des vom vorlegenden Gericht in seiner Frage angeführten Erfordernisses der Beachtung der Anforderungen, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung ergeben, hervorzuheben, dass die Richtlinie 2008/115 ebenso wie die Richtlinie 2005/85 unter Beachtung der insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte und Grundsätze ausgelegt werden muss, wie sich aus dem 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 und dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 50).
52 Was speziell die in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Rückkehr und die in Art. 39 der Richtlinie 2005/85 vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen abschlägige Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz anbelangt, sind ihre Merkmale im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 45, und vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 51).
53 Ferner ist festzustellen, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung in Art. 18 und in Art. 19 Abs. 2 der Charta als Grundrecht gewährleistet ist (Urteil vom 24. Juni 2015, H. T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 65) und u. a. im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 sowie im achten Erwägungsgrund und in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 bekräftigt wird. Im Übrigen sind nach Art. 18 der Charta sowie nach Art. 78 Abs. 1 AEUV die Vorschriften der Genfer Konvention zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 75).
54 Wenn ein Staat entscheidet, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in ein Land abzuschieben, bei dem ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich die Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung dieser Person besteht, erfordert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 47 der Charta vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, dass der Antragsteller über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen den Vollzug der Maßnahme verfügt, die seine Abschiebung ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 52, und vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 54).
55 Der Gerichtshof hat zwar bereits entschieden, dass es mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und mit Art. 47 der Charta grundsätzlich zu vereinbaren ist, wenn ein Rechtsbehelf, der nur gegen die abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz eingelegt wird, keine aufschiebende Wirkung hat, da der Vollzug einer solchen Entscheidung für sich genommen nicht zur Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 56).
56 Dagegen muss der Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2008/115 kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben, damit gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einhaltung der sich aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen gewährleistet ist, da der Drittstaatsangehörige durch diese Entscheidung tatsächlich der Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 52 und 53, sowie vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 57 und 58). Dies gilt erst recht bei einer etwaigen Abschiebungsentscheidung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie.
57 Allerdings schreiben weder Art. 39 der Richtlinie 2005/85 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 noch Art. 47 der Charta im Licht der in Art. 18 und in Art. 19 Abs. 2 der Charta enthaltenen Garantien vor, dass es zwei Gerichtsinstanzen geben muss. Denn allein entscheidend ist, dass es einen Rechtsbehelf vor einem Gericht gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2011, Samba Diouf, C‑69/10, EU:C:2011:524, Rn. 69).
58 Folglich ist bei einer Rückkehrentscheidung und einer etwaigen Abschiebungsentscheidung der dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung innewohnende Schutz dadurch zu gewährleisten, dass der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht zuzuerkennen ist, vor mindestens einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, der kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat. Wird dieses Erfordernis strikt eingehalten, verstößt der bloße Umstand, dass der Aufenthalt des Betroffenen als im Sinne der Richtlinie 2008/115 illegal eingestuft wird, sobald sein Antrag auf internationalen Schutz in erster Instanz von der zuständigen Behörde abgelehnt wurde, so dass eine Rückkehrentscheidung gleich nach der Ablehnung des Antrags oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung ergehen kann, weder gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung noch gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.
59 Aus alledem ist zu schließen, dass ein Drittstaatsangehöriger – es sei denn, ihm wurde eine Aufenthaltsberechtigung oder ein Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erteilt – ab der erstinstanzlichen Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde illegal aufhältig im Sinne dieser Richtlinie ist, unabhängig vom Vorliegen einer Bleibeberechtigung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung. Daher kann gegen ihn grundsätzlich ab der Ablehnung seines Antrags oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden.
60 Gleichwohl ist als Zweites hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass bei jeder Rückkehrentscheidung die in Kapitel III der Richtlinie 2008/115 genannten Verfahrensgarantien und die übrigen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts beachtet werden. Eine solche Pflicht ist in Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie ausdrücklich für den Fall vorgesehen, dass die Rückkehrentscheidung zusammen mit der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde ergeht. Sie muss auch in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zur Anwendung kommen, in der die Rückkehrentscheidung unmittelbar nach der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in einer gesonderten behördlichen Entscheidung von einer anderen Behörde getroffen wurde.
61 In diesem Zusammenhang haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, wobei der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren ist, so dass während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn u. a. alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind.
62 Insoweit genügt es nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat davon absieht, die Rückkehrentscheidung zwangsweise umzusetzen. Vielmehr müssen alle Rechtswirkungen dieser Entscheidung ausgesetzt werden, und daher darf insbesondere die in Art. 7 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Frist für die freiwillige Ausreise nicht zu laufen beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat. Zudem kann er während dieses Zeitraums nicht gemäß Art. 15 der Richtlinie für die Zwecke der Abschiebung inhaftiert werden.
63 Im Übrigen muss der Betroffene bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die erstinstanzliche Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde grundsätzlich in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9 kommen können. Ihr Art. 3 Abs. 1 macht ihre Anwendung nämlich nur davon abhängig, dass der Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben darf, und schließt folglich ihre Anwendung nicht aus, wenn sich der Betroffene, der ein solches Bleiberecht hat, im Sinne der Richtlinie 2008/115 illegal aufhält. Insoweit geht aus Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/9 hervor, dass der Betroffene seine Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Sinne dieser Richtlinie behält, solange noch nicht endgültig über seinen Antrag entschieden wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C‑179/11, EU:C:2012:594, Rn. 53).
64 Überdies müssen die Mitgliedstaaten, da eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat – ungeachtet dessen, ob eine Rückkehrentscheidung gleich nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung ergangen ist –, ein Bleiberecht bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung haben muss, es den Betroffenen ermöglichen, sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretenen Änderung der Umstände zu berufen, die in Anbetracht der Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihres Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Situation haben kann.
65 Schließlich sollen die Mitgliedstaaten nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 ein faires und transparentes Rückkehrverfahren gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 40, und vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 61). Hierbei haben sie, wenn die Rückkehrentscheidung gleich nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung ergeht, dafür Sorge zu tragen, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in transparenter Weise über die Einhaltung der in den Rn. 61 bis 64 des vorliegenden Urteils genannten Garantien informiert wird.
66 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rückkehrentscheidung Herrn Gnandi, auch wenn sie vor der Entscheidung über den von ihm gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz eingelegten Rechtsbehelf nicht zwangsweise vollstreckt werden kann, gleichwohl belastet, da sie ihn zum Verlassen des belgischen Hoheitsgebiets verpflichtet. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint daher die in den Rn. 61 und 62 des vorliegenden Urteils genannte Garantie, dass das Rückkehrverfahren bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf auszusetzen ist, nicht gewahrt zu sein.
67 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85 und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in den Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta verankert sind, dahin auszulegen ist, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die gleich nach der Ablehnung dieses Antrags durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ergeht, nicht entgegensteht, sofern der betreffende Mitgliedstaat u. a. gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9 kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.
Kosten
68 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in den Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die gleich nach der Ablehnung dieses Antrags durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ergeht, nicht entgegensteht, sofern der betreffende Mitgliedstaat u. a. gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 17. Mai 2018.#Erik Josefsson gegen Europäisches Parlament.#Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Unbefristeter Vertrag – Entlassung – Art. 47 Buchst. c Ziff. i der BSB – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Recht auf Anhörung – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Fürsorgepflicht.#Rechtssache T-566/16.
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62016TJ0566
|
ECLI:EU:T:2018:278
| 2018-05-17T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0566 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 17. Mai 2018.#Europäische Kommission gegen AV.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Einstellung – Ärztliche Untersuchung – Unvollständige Angaben bei der ärztlichen Untersuchung – Rückwirkende Anwendung des medizinischen Vorbehalts – Keine Bewilligung von Invalidengeld – Durchführung eines Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst, mit dem die ursprüngliche Verfügung aufgehoben wurde.#Rechtssache T-701/16 P.
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62016TJ0701
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ECLI:EU:T:2018:276
| 2018-05-17T00:00:00 |
Gericht
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62016TJ0701
URTEIL DES GERICHTS (Rechtsmittelkammer)
17. Mai 2018 (*1)
„Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Einstellung – Ärztliche Untersuchung – Unvollständige Angaben bei der ärztlichen Untersuchung – Rückwirkende Anwendung des medizinischen Vorbehalts – Keine Bewilligung von Invalidengeld – Durchführung eines Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst, mit dem die ursprüngliche Verfügung aufgehoben wurde“
In der Rechtssache T‑701/16 P
betreffend ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Zweite Kammer) vom 21. Juli 2016, AV/Kommission (F‑91/15, EU:F:2016:170), wegen Aufhebung dieses Urteils,
Europäische Kommission, zunächst vertreten durch C. Berardis-Kayser, C. Ehrbar und T. Bohr, dann durch C. Ehrbar und T. Bohr als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführerin,
anderer Verfahrensbeteiligter:
AV, ehemaliger Bediensteter auf Zeit der Kommission, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J.‑N. Louis und N. de Montigny,
Kläger im ersten Rechtszug,
erlässt
DAS GERICHT (Rechtsmittelkammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Jaeger sowie der Richter M. Prek (Berichterstatter) und A. Dittrich,
Kanzler: G. Predonzani, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2018
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem nach Art. 9 des Anhangs I der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingelegten Rechtsmittel beantragt die Europäische Kommission die Aufhebung des Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Zweite Kammer) vom 21. Juli 2016, AV/Kommission (F‑91/15, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:F:2016:170), mit dem ihre Verfügung vom 16. September 2014, die Einstellung von AV unter den medizinischen Vorbehalt gemäß Art. 32 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten (im Folgenden: BSB) zu stellen, aufgehoben wurde.
Sachverhalt
2 Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt wird in den Rn. 3 bis 30 des angefochtenen Urteils wie folgt dargestellt:
„3
Am 18. März 2005 unterzog sich [AV] der ärztlichen Einstellungsuntersuchung, um von der Kommission mit einem befristeten Vertrag für den Zeitraum vom 16. April 2005 bis zum 15. April 2009 als Bediensteter auf Zeit eingestellt zu werden. Bei dieser Untersuchung unterzeichnete [AV] ein Formular, in dem es hieß, dass er, mit Ausnahme einer Art von Fettstoffwechselstörung, keine persönlichen Risikofaktoren und keine pathologische Krankengeschichte aufweise und dass er sich keiner medikamentösen Behandlung unterziehe.
4 Der Vertrauensarzt Dr. A, der die ärztliche Einstellungsuntersuchung durchführte, bescheinigte [AV] die körperliche Eignung zur Erfüllung der Tätigkeiten, für die er eingestellt werden sollte.
5 Am 16. April 2005 trat [AV] in den Dienst der Kommission und wurde im Gemeinsamen Forschungszentrum (GFZ) in Ispra (Italien) verwendet.
6 Am 26. Juni 2005 diagnostizierte der Vertrauensarzt des Ärztlichen Dienstes von Ispra bei [AV] eine psychische Erkrankung. Am 21. Juli 2005 erklärte der Betroffene gegenüber dem Leiter des Ärztlichen Dienstes von Ispra, dass er im Zusammenhang mit dieser Erkrankung seit etwa fünfzehn Jahren in Behandlung sei. Aus einem Bericht des Leiters des Ärztlichen Dienstes von Ispra ergibt sich ferner, dass [AV] bei einem Gespräch am 5. Dezember 2005 auf Nachfrage erklärt habe, dass er die Krankheit, an der er leide, bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung nicht erwähnt habe.
7 Aufgrund der häufigen krankheitsbedingten Fehlzeiten von [AV] entschied die Kommission am 12. September 2008, ihn in Anwendung von Art. 16 BSB in unbezahlten Urlaub zu versetzen.
8 Am 17. November 2008 beantragte der Beistand von [AV] die Befassung des Invaliditätsausschusses.
9 Mit Schreiben vom 16. Februar 2009 teilte die zum Abschluss von Dienstverträgen ermächtigte Behörde (im Folgenden: Einstellungsbehörde) [AV] mit, dass sie mit Entscheidung vom 4. Februar 2009 beschlossen habe, seinen Fall dem Invaliditätsausschuss vorzulegen.
10 Am 9. Mai 2009 gelangte der Invaliditätsausschuss einstimmig zu dem Schluss, dass [AV] aufgrund seiner psychischen Krankheit dauerhaft und vollständig dienstunfähig sei und deshalb keine seinen Aufgaben entsprechende Tätigkeit ausüben könne.
11 Am 24. Juli 2009 übermittelte der Leiter des Ärztlichen Dienstes von Ispra dem Beistand von [AV] die Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses, die Verfügung der Einstellungsbehörde vom 9. Juli 2009, den medizinischen Vorbehalt auf [AV] rückwirkend zum Datum seines Dienstantritts anzuwenden, und die Verfügung der Einstellungsbehörde vom 13. Juli 2009, das Dienstverhältnis von [AV] aufgrund seiner dauerhaften Invalidität zu beenden und ihm kein Invalidengeld zu gewähren.
12 [AV] legte gegen die Verfügungen vom 9. Juli 2009 und vom 13. Juli 2009 Beschwerde ein. Auf diese Beschwerde hin nahm die Einstellungsbehörde am 5. Februar 2010 die genannten Verfügungen zurück.
13 Mit Schreiben vom 5. Februar 2010 forderte die Einstellungsbehörde [AV] auf, sich zu der Frage zu äußern, warum er bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung ‚eine Krankheit, an der [er] bereits seit vielen Jahren [gelitten habe] und deretwegen [er] zum Zeitpunkt [der Unterzeichnung des Formulars der Einstellungsuntersuchung] in Behandlung [gewesen sei]‘, verschwiegen habe.
14 [AV] legte seinen Standpunkt in einem Schreiben vom 15. Februar 2010 dar, das durch ein Schreiben seines Beistands vom 16. Februar 2010 ergänzt wurde. [AV] führte u. a. aus, dass sein Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der ärztlichen Einstellungsuntersuchung ‚optimal‘ gewesen sei, dass er ‚viele Jahre in privaten Unternehmen in verantwortlicher Position gearbeitet‘ habe und dass zum Zeitpunkt der Einstellung die Krankheit, an der er gelitten habe, ‚nur noch eine Erinnerung‘ gewesen sei.
15 In einem internen Vermerk vom 3. März 2010 erklärte der Leiter des Ärztlichen Dienstes von Ispra, Dr. B, gegenüber dem Generaldirektor der Generaldirektion (GD) ‚Personal und Sicherheit‘, dass die Ärzte die Beurteilung ‚nicht geeignet‘ für eine Tätigkeit als qualifizierter Arbeiter oder ‚bedingt geeignet‘ für eine reine Verwaltungstätigkeit abgegeben hätten, wenn [AV] bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung seine Krankheit erwähnt hätte (im Folgenden: Vermerk vom 3. März 2010).
16 Am 12. April 2010 entschied die Einstellungsbehörde, den medizinischen Vorbehalt nach Art. 32 Unterabs. 1 BSB auf [AV] rückwirkend zum Datum seiner Einstellung anzuwenden und begründete dies im Wesentlichen damit, dass ‚der medizinische Vorbehalt verfügt worden wäre‘, wenn [AV] seine Vorerkrankung bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung angegeben hätte (im Folgenden: Verfügung vom 12. April 2010).
17 Am 16. April 2010 entschied die Einstellungsbehörde, den Dienstvertrag mit [AV] aufgrund seiner vollständigen Invalidität zum 30. April 2010 aufzuheben und ihm kein Invalidengeld zu bewilligen, da seine Invalidität ‚dieselbe [sei], die Gegenstand des medizinischen Vorbehalts [gewesen sei]‘ (im Folgenden: Verfügung vom 16. April 2010).
18 Mit Klageschrift, die am 31. März 2011 bei der Kanzlei des Gerichts einging und unter dem Aktenzeichen F‑4/11 in das Register eingetragen wurde, beantragte [AV] die Aufhebung der Verfügungen vom 12. April 2010 und vom 16. April 2010.
19 Mit Urteil vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96, im Folgenden: Urteil vom 10. Juli 2012) hob das Gericht die Verfügung vom 12. April 2010 sowie die Verfügung vom 16. April 2010 insoweit auf, als diese [AV] das Invalidengeld versagte.
20 Das Gericht stellte insbesondere fest, dass ‚[i]n dem speziellen Fall, in dem sich nach der ärztlichen Einstellungsuntersuchung zeigt, dass ein Bediensteter nicht aufrichtig und vollständig auf die ihm vom Vertrauensarzt bei dieser Untersuchung gestellten Fragen zu seinem Gesundheitszustand geantwortet hat, … es der Einstellungsbehörde frei[steht], ihre ursprüngliche Verfügung, den medizinischen Vorbehalt nicht anzuwenden, zurückzuziehen und eine neue Verfügung zu erlassen, mit der dieser Vorbehalt rückwirkend angewandt wird‘. Das Gericht führte weiter aus, dass ‚[d]iese Behörde … jedoch vorher das Verfahren nach Art. 32 BSB einhalten [muss], d. h. sie muss zum einen den Vertrauensarzt befassen, damit dieser ein Gutachten darüber abgibt, ob die Krankheit oder das Gebrechen es gerechtfertigt hätte, die Einstellung des Betroffenen unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, und zum anderen dem Bediensteten die Verfügung mitteilen, die sie auf der Grundlage dieses Gutachtens erlassen hat, damit er diese gegebenenfalls vor dem Invaliditätsausschuss anfechten kann‘. Dem Gericht zufolge ist nämlich ‚eine solche Frage, die eine Feststellung voraussetzt, ob diese Krankheit oder dieses Gebrechen die Invalidität oder den Tod des Bediensteten innerhalb von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt seines Dienstantritts beim Organ nach sich ziehen könnte, … eine Frage medizinischer Natur und fällt in den alleinigen Zuständigkeitsbereich des Vertrauensarztes und bei Anfechtung des Invaliditätsausschusses‘ (Urteil vom 10. Juli 2012, Rn. 34).
21 Sodann entschied das Gericht, dass die Kommission zu Recht festgestellt habe, dass [AV] nicht vollständig und aufrichtig auf die vom Vertrauensarzt bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung gestellten Fragen geantwortet habe (Urteil vom 10. Juli 2012, Rn. 36), dass aber weder der Vertrauensarzt noch der Invaliditätsausschuss mit der entscheidenden Frage befasst worden sei, ob der Ärztliche Dienst, wenn die Krankheit bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung offenbart worden wäre, der Auffassung gewesen wäre, dass die Krankheit zu jenen gehöre, bei denen aufgrund ihrer Folgeerscheinungen oder Nachwirkungen ein medizinischer Vorbehalt geboten gewesen wäre (Urteil vom 10. Juli 2012, Rn. 37 bis 40). Was insbesondere den Vermerk vom 3. März 2010 anbelangt, stellte das Gericht fest, dass die Kommission ausdrücklich bestätigt habe, dass sich die Einstellungsbehörde nicht auf diesen Vermerk gestützt habe, um die Verfügung vom 12. April 2010 zu erlassen (Urteil vom 10. Juli 2012, Rn. 39).
22 Mit Schreiben vom 20. Juli 2012 teilte die Kommission [AV] mit, dass ihrer Ansicht nach ‚die ordnungsgemäße Durchführung des Urteils [vom 10. Juli 2012] … in der erneuten Einberufung des Invaliditätsausschusses [bestehe], damit dieser die in Rn. 37 [bis] 40 der Urteilsbegründung aufgeworfene Frage beantworten k[önne], ob [AVs] Krankheit die Anwendung eines medizinischen Vorbehalts gerechtfertigt hätte, wenn sie bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung offenbart worden wäre‘. Mit demselben Schreiben forderte die Kommission [AV] auf, einen Arzt als seinen Vertreter im Invaliditätsausschuss zu benennen.
23 Am 7. Februar 2013 benannte [AV] einen Arzt als seinen Vertreter im Invaliditätsausschuss. Die Kommission benannte im März 2013 einen Arzt, so dass der Invaliditätsausschuss am 30. April 2013 zusammentreten konnte.
24 Mit Schreiben vom 16. Dezember 2013 forderte [AV] den ärztlichen Vertreter der Kommission im Invaliditätsausschuss auf, ihm die Schlussfolgerungen des Ausschusses und gegebenenfalls die Verfügung der Einstellungsbehörde zu übermitteln.
25 Mit Schreiben vom 10. April 2014 übermittelte die Kommission [AV] die Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses, denen zufolge ‚der Vertrauensarzt … die [Einstellungsbehörde] aufgefordert hätte, einen … medizinischen Vorbehalt [gemäß] Art. 32 [BSB] anzuwenden‘, wenn [AV] seine Krankheit bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung offenbart hätte.
26 Mit Schreiben vom 10. April 2014 forderte [AV] die Kommission auf, ihm die Gründe für die verzögerte Übermittlung der Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses mitzuteilen und klarzustellen, ob die Einstellungsbehörde auf diese Schlussfolgerungen hin eine Verfügung erlassen habe.
27 Am 16. September 2014 entschied die Kommission, die Einstellung von [AV] für einen Zeitraum von fünf Jahren ab seinem Dienstantritt als Bediensteter auf Zeit, d. h. ab dem 16. April 2005, unter den medizinischen Vorbehalt gemäß Art. 32 BSB zu stellen und ihm kein Invalidengeld zu bewilligen, da seine Invalidität identisch sei mit derjenigen, auf die sich der medizinische Vorbehalt beziehe (im Folgenden: streitige Verfügung).
28 Am 22. Dezember 2014 legte [AV] Beschwerde gegen die streitige Verfügung nach Art. 90 Abs. 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Union ein. Außerdem beantragte [AV] ‚unter Berufung auf die Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses vom 30. April 2013‘, ihn vom Dienst zu suspendieren und ihm Invalidengeld zu gewähren. Schließlich forderte er eine Entschädigung in Höhe von 50000 Euro wegen Verletzung von Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
29 Mit Entscheidung vom 21. April 2015 wies die Kommission die Beschwerde von [AV] zurück.
30 Am 22. Juni 2015 beantragte [AV] die Gewährung von Prozesskostenhilfe nach Art. 110 der Verfahrensordnung, um Klage gegen die streitige Verfügung einzureichen. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 9. September 2015 wurde [AV] Prozesskostenhilfe gewährt.“
3 Der einschlägige rechtliche Rahmen ist in Rn. 2 des angefochtenen Urteils angeführt.
Erstinstanzliches Verfahren und angefochtenes Urteil
4 Mit Klageschrift, die am 19. Oktober 2015 bei der Kanzlei des Gerichts für den öffentlichen Dienst einging und unter dem Aktenzeichen F‑91/15 in das Register eingetragen wurde, erhob AV Klage auf Aufhebung der Verfügung der Kommission vom 16. September 2014, den medizinischen Vorbehalt nach Art. 32 BSB auf ihn anzuwenden und ihm das Invalidengeld zu versagen (im Folgenden: Verfügung vom 16. September 2014), sowie auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung von 50000 Euro als Ersatz des immateriellen Schadens.
5 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht für den öffentlichen Dienst die Verfügung vom 16. September 2014 aufgehoben und die Kommission verurteilt, an AV einen Betrag von 2000 Euro als Ersatz des von ihm erlittenen immateriellen Schadens zu zahlen und neben ihren eigenen Kosten die AV entstandenen Kosten zu tragen.
6 Zunächst hat das Gericht für den öffentlichen Dienst daran erinnert, dass „die Pflicht, Verwaltungsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchzuführen, … einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar[stellt], dessen Wahrung der Unionsrichter sicherstellt“, und dass dieser Anspruch „als Bestandteil des Rechts auf eine gute Verwaltung“ Eingang in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gefunden hat (angefochtenes Urteil, Rn. 44).
7 Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat jedoch darauf hingewiesen, dass „[e]in Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer … im Allgemeinen nicht die Aufhebung einer am Ende eines Verwaltungsverfahrens erlassenen Verfügung [rechtfertigt]“ und dass „[d]ie Nichtbeachtung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer … sich nur dann auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens aus[wirkt], wenn sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auch auf den Inhalt der … erlassenen Verfügung auswirken k[onnte]“ (angefochtenes Urteil, Rn. 45).
8 Das Gericht für den öffentlichen Dienst war der Auffassung, dass entgegen dem Vorbringen der Kommission „der für die Beantwortung der Frage, ob das Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt wurde, maßgebliche Zeitpunkt“ nicht der 17. November 2008 sei (als AV die Einleitung des Invaliditätsverfahrens beantragt hatte), sondern „der 5. Dezember 2005, d. h. der Zeitpunkt, zu dem [AV] eindeutig und unmissverständlich einräumte, seine psychische Erkrankung bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung verschwiegen zu haben“ (angefochtenes Urteil, Rn. 47).
9 Nachdem es daran erinnert hatte, dass „zwischen den Parteien unstreitig [ist], dass die [Einstellungsbehörde] spätestens zu letzterem Zeitpunkt … Kenntnis von der Tatsache [hatte], dass die Einstellungsuntersuchung auf unvollständigen Informationen beruhte“, folgerte das Gericht für den öffentlichen Dienst, dass „die [Einstellungsbehörde], nachdem diese erhebliche Unregelmäßigkeit zu Tage getreten war, offensichtlich in der Lage war, die entsprechenden rechtlichen Konsequenzen hinsichtlich der Gültigkeit des Vertrags mit [AV] und gegebenenfalls der Anwendung des medizinischen Vorbehalts zu ziehen“. Es stellte aber fest, dass „die erste Stellungnahme der [Einstellungsbehörde] zu der Frage, ob der medizinische Vorbehalt auf [AV] rückwirkend zum Datum seines Dienstantritts anzuwenden sei, … erst am 9. Juli 2009 [erfolgte], also mehr als drei Jahre und sieben Monate nachdem die [Einstellungsbehörde] davon in Kenntnis gesetzt worden war, dass [AV] selbst eingeräumt hatte, seine Krankheit bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung verschwiegen zu haben“ (angefochtenes Urteil, Rn. 47 und 48).
10 Daher entschied das Gericht für den öffentlichen Dienst, dass „eine solche Zeitspanne, die von der Kommission nicht erklärt werden konnte, nicht als angemessen bezeichnet werden kann und daher das Recht auf eine gute Verwaltung verletzt“ (angefochtenes Urteil, Rn. 49).
11 Sodann führte das Gericht für den öffentlichen Dienst aus, dass „Art. 32 BSB … voraus[setzt], dass die [Einstellungsbehörde] – auf der Grundlage der vom Vertrauensarzt bei der Einstellungsuntersuchung gesammelten Informationen oder, unter den sehr speziellen Umständen der vorliegenden Rechtssache, sobald sie über zusätzliche einschlägige Informationen verfügt, die die bei der Einstellungsuntersuchung gesammelten wesentlich verändern – eine endgültige Verfügung über die Anwendung des medizinischen Vorbehalts trifft“. Im vorliegenden Fall „[hat] die Kommission die erste Verfügung zur Anwendung des medizinischen Vorbehalts auf [AV] erst am 9. Juli 2009 getroffen, also fast drei Monate nach dem Auslaufen seines Vertrags und etwa acht Monate nach seinem Antrag, den Invaliditätsausschuss anzurufen“ (angefochtenes Urteil, Rn. 50).
12 Das Gericht für den öffentlichen Dienst stellte fest, dass sich „diese Verzögerung … bereits auf den Inhalt der Verfügung vom 9. Juli 2009, den medizinischen Vorbehalt rückwirkend auf [AV] anzuwenden, auswirken [konnte], da diese Verfügung nicht nur drei Jahre und sieben Monate nach dem Zeitpunkt erging, zu dem die [Einstellungsbehörde] von seiner Krankheit Kenntnis erlangt hatte, sondern vor allem zu einem Zeitpunkt, nachdem der Invaliditätsausschuss am 9. Mai 2009 zu dem Schluss gelangt war, dass [AV] dauerhaft voll dienstunfähig sei und deshalb seine dienstlichen Aufgaben nicht wahrnehmen könne. Somit wurde die Verfügung, einen medizinischen Vorbehalt … anzuwenden, … faktisch zu einer Verfügung, [AV] mit sofortiger Wirkung für eine bereits eingetretene Dienstunfähigkeit von den für den Fall der Invalidität vorgesehenen Garantien auszuschließen“ (angefochtenes Urteil, Rn. 51).
13 Schließlich führte das Gericht für den öffentlichen Dienst zur Verfügung der Einstellungsbehörde vom 12. April 2010, den medizinischen Vorbehalt auf [AV] rückwirkend zum Datum seines Dienstantritts anzuwenden (im Folgenden: Verfügung vom 12. April 2010), aus, dass „diese Verfügung, die im Wesentlichen der vom 9. Juli 2009 entsprach, … vier Jahre und vier Monate, nachdem die Einstellungsbehörde Kenntnis von [AVs] Krankheit erlangt hatte, [erging], als die Einstellungsbehörde sich anschickte, [AV] vier Tage später aufgrund seiner Invalidität vom Dienst zu suspendieren“ (angefochtenes Urteil, Rn. 52).
14 Das Gericht für den öffentlichen Dienst wies darauf hin, dass, wenn die festgestellte unangemessene Verfahrensdauer „die Kommission daran hinderte, den medizinischen Vorbehalt auf [AV] anzuwenden, die Verfügung [vom 16. September 2014], die [im Wesentlichen] den Verfügungen vom 9. Juli 2009 und vom 12. April 2010 [entsprach], fast neun Jahre nach dem Zeitpunkt erging, zu dem die Kommission Kenntnis davon erhalten hatte, dass die Einstellungsuntersuchung nicht ordnungsgemäß abgelaufen war“, und damit „zwangsläufig mit demselben Fehler behaftet [war]“ (angefochtenes Urteil, Rn. 53).
15 Insoweit stellte das Gericht für den öffentlichen Dienst fest, dass „[d]er Umstand, dass die Verfügung vom 12. April 2010 wegen eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt wurde, [AV] nicht die Möglichkeit [nimmt], im Rahmen des Urteils zur Durchführung des Aufhebungsurteils einen materiellen Klagegrund geltend zu machen, der mit der Klage vorgetragen worden war, die zu dem Aufhebungsurteil geführt hat. Aus Rn. 29 des Urteils vom 10. Juli 2012 ergibt sich, dass [AV] im Rahmen jener Rechtssache den Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit geltend gemacht hat“ (angefochtenes Urteil, Rn. 54).
Verfahren vor dem Gericht und Anträge der Parteien
16 Mit Rechtsmittelschrift, die am 30. September 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission das vorliegende Rechtsmittel eingelegt.
17 Am 24. Februar 2017 hat AV eine Rechtsmittelbeantwortung eingereicht, mit der er auch ein Anschlussrechtsmittel eingelegt hat.
18 Mit Schreiben, das am 29. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission beantragt, eine Erwiderung einreichen zu dürfen, was vom Präsidenten der Rechtsmittelkammer mit Beschluss vom 3. April 2017 zugelassen wurde.
19 Am 12. Mai 2017 hat die Kommission die Erwiderung eingereicht.
20 Am 12. Juli 2017 hat AV die Gegenerwiderung eingereicht. Mit Schreiben vom selben Tag hat AV das Anschlussrechtsmittel zurückgenommen. Am 4. August 2017 teilte die Kommission mit, dass sie sich zur Rücknahme nicht äußern werde.
21 Mit Schriftsatz, der am 5. September 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat AV gemäß Art. 207 der Verfahrensordnung des Gerichts beantragt, im Rahmen des mündlichen Verfahrens gehört zu werden. Die Kommission hat innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Frist keinen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt.
22 Am 21. November 2017 hat die Zweite Kammer auf Vorschlag des Berichterstatters beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen.
23 Die Kommission beantragt,
–
das angefochtene Urteil aufzuheben;
–
die Rechtssache an das im ersten Rechtszug entscheidende Gericht zurückzuverweisen;
–
die Kostenentscheidung vorzubehalten.
24 AV beantragt,
–
das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen;
–
im Wege des Anschlussrechtsmittels, die Kommission zur Zahlung von 50000 Euro als Ersatz des immateriellen und materiellen Schadens zu verurteilen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
25 Das Gericht stellt fest, dass AV sein Anschlussrechtsmittel aufgegeben hat. Daher ist über seinen Antrag, die Kommission zur Zahlung von 50000 Euro als Ersatz des immateriellen und materiellen Schadens zu verurteilen, nicht weiter zu entscheiden.
Rechtliche Würdigung
26 Die Kommission stützt ihr Rechtsmittel auf zwei Gründe. Mit dem ersten macht sie geltend, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer falsch angewendet und gegen die Begründungspflicht verstoßen, als es entschieden habe, dass sich die übermäßige Verspätung beim Erlass der Verfügung vom 16. September 2014 auf den Inhalt der Verfügung selbst habe auswirken können. Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund rügt sie einen Verstoß gegen die Rechtskraft des Urteils vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96).
27 Zunächst ist der zweite und anschließend der erste Rechtsmittelgrund zu prüfen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtskraft
28 Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe gegen die Rechtskraft des Urteils vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), verstoßen.
29 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können sollen (Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 38), weshalb endgültige gerichtliche Entscheidungen in Rechtskraft erwachsen.
30 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass sich die Rechtskraft auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen erstreckt, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen Entscheidung waren (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. Dezember 2009, Nijs/Rechnungshof, T‑567/08 P, EU:T:2009:523, Rn. 32, und Urteil vom 25. Februar 2015, Walton/Kommission, T‑261/14 P, EU:T:2015:110, Rn. 36), und dass sie nicht nur den Tenor dieser Entscheidung umfasst, sondern auch deren Gründe, die den Tenor tragen und daher von diesem nicht zu trennen sind (Urteil vom 19. April 2012, Artegodan/Kommission, C‑221/10 P, EU:C:2012:216, Rn. 87).
31 Schließlich ist entschieden worden, dass, selbst wenn die zur Stützung einer Klage erhobenen Rügen teilweise mit den in einer früheren Sache erhobenen übereinstimmen, die zweite Klage nicht die Wiederholung der ersten, sondern einen neuen Rechtsstreit darstellt, da sie sich auch auf andere Sach- und Rechtsrügen stützt (Urteil vom 13. September 2011, Michail/Kommission, F‑100/09, EU:F:2011:132, Rn. 31; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 12. Dezember 1996, Altmann u. a./Kommission, T‑177/94 und T‑377/94, EU:T:1996:193, Rn. 52).
32 Vorliegend beruhen die Aufhebung der Verfügung vom 12. April 2010 und die Aufhebung der Verfügung vom 16. September 2014 durch das Urteil vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), bzw. durch das angefochtene Urteil, nicht auf denselben Gründen.
33 Im Urteil vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), das in Rechtskraft erwachsen ist, hat das Gericht für den öffentlichen Dienst seine Entscheidung, die Verfügung vom 12. April 2010 aufzuheben, nämlich auf die Nichteinhaltung des in Art. 32 BSB vorgesehenen Verfahrens gestützt. In diesem Zusammenhang hat es unzweideutig festgestellt, dass es nicht erforderlich sei, die Rüge zu prüfen, mit der ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geltend gemacht worden sei.
34 Fraglich ist allerdings, ob das Gericht für den öffentlichen Dienst in den Gründen des Urteils vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), die den Tenor tragen, bereits zur Frage eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer und gegebenenfalls zur Auswirkung dieses Verstoßes auf den Erlass einer neuen Verfügung gemäß des Verfahrens nach Art. 32 BSB Stellung genommen hatte.
35 Es ist festzustellen, dass sich keiner Randnummer des Urteils vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), entnehmen lässt, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst direkt oder indirekt zu der Frage hätte Stellung nehmen wollen, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer vorliegt oder welche Auswirkungen dieser Verstoß hätte.
36 Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann der Umstand, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst in seinem Urteil vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), die Verfügung vom 12. April 2010 wegen Verstoßes gegen Art. 32 BSB aufgehoben hat, nicht dahin verstanden werden, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst damit implizit die Frage eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geklärt und auf diese Weise die Einstellungsbehörde ermächtigt hätte, die Verfügung vom 12. April 2010 zurückzunehmen und eine neue Verfügung gemäß dem Verfahren des Art. 32 BSB zu erlassen, wodurch jede weitere Erörterung der Frage, ob ein solcher Verstoß vorlag und welche Folgen er haben könnte, endgültig unterbunden wäre.
37 Eine solche Auslegung ist umso weniger vertretbar, als sie im Widerspruch zu Rn. 42 des Urteils vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), steht, in dem das Gericht für den öffentlichen Dienst, wie oben in Rn. 33 erwähnt, ausdrücklich festgestellt hat, dass es die Prüfung der übrigen Klagegründe nicht für erforderlich erachte.
38 Daraus folgt, dass die Kommission fälschlich davon ausgegangen ist, dass sich das Gericht für den öffentlichen Dienst im Urteil vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geäußert habe.
39 Überdies ist festzustellen, dass vorliegend die tragenden Gründe des Tenors des Urteils vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), nur Art. 32 BSB betreffen. Daher hätte sich die Rechtskraft, selbst wenn das Gericht für den öffentlichen Dienst den Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geprüft und festgestellt hätte, dass kein solcher Verstoß vorliegt bzw. dass sich dieser Verstoß nicht auf die angefochtene Verfügung ausgewirkt habe, nicht auf die Begründung zu diesem Klagegrund erstreckt, da es sich nicht um die den Tenor dieses Urteils tragenden Gründe handelte.
40 Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Zum ersten Rechtsmittelgrund: Falsche Anwendung des Grundsatzes der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer und Verstoß gegen die Begründungspflicht
41 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer falsch angewendet. Erstens habe das Gericht für den öffentlichen Dienst nicht berücksichtigt, dass die Aufhebung einer Verfügung wegen Verstoßes gegen diesen Grundsatz nur ausnahmsweise möglich sei. Zweitens habe es zu Unrecht festgestellt, dass sich die übermäßige Verspätung beim Erlass der Verfügung vom 16. September 2014 auf den Inhalt der Verfügung selbst habe auswirken können. Drittens sei die Begründung des angefochtenen Urteils insofern ungenügend, als das Gericht für den öffentlichen Dienst nicht die Gründe angegeben habe, aus denen sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt der Verfügung ausgewirkt habe.
42 AV tritt dem Vorbringen der Kommission entgegen. Er macht geltend, dass das angefochtene Urteil hinreichend begründet sei, da das Gericht für den öffentlichen Dienst in den Rn. 44 bis 51 des Urteils klar dargelegt habe, warum es der Ansicht gewesen sei, dass im vorliegenden Fall die angemessene Verfahrensdauer überschritten worden sei, und weshalb sich die übermäßige Verspätung auf den Inhalt der Verfügung vom 16. September 2014 habe auswirken können. Angesichts der übermäßig langen Verfahrensdauer sei es ihm unmöglich gewesen, zweckdienliche Angaben zu den Erklärungen zu machen, die er bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung abgegeben habe. Die Kommission habe den Arzt, der diese ärztliche Einstellungsuntersuchung und die jährliche ärztliche Untersuchung 2006 durchgeführt habe, weder aufgefordert, nähere Angaben zum Verlauf der Untersuchung zu machen, noch die Gründe anzugeben, aus denen er 2006 die uneingeschränkte Diensttauglichkeit bescheinigt habe, obwohl er Kenntnis von seiner Krankheit gehabt habe. Die Kommission habe seine Einstellung erst unter den medizinischen Vorbehalt gestellt, nachdem sie festgestellt habe, dass er an einer dauerhaften und vollständigen Invalidität leide und deshalb seine dienstlichen Aufgaben nicht wahrnehmen könne. Im angefochtenen Urteil habe das Gericht für den öffentlichen Dienst entschieden, dass der Invaliditätsausschuss sich nicht zu der davon zu unterscheidenden Frage geäußert habe, ob die Krankheit die Anwendung eines medizinischen Vorbehalts gerechtfertigt hätte. Durch ihre Untätigkeit über einen Zeitraum von drei Jahren und sieben Monaten habe die Kommission den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer verletzt. Schließlich habe die Kommission gegen Art. 266 AEUV verstoßen, indem sie nicht die sich aus dem Urteil vom 10. Juli 2012, AV/Kommission (F‑4/11, EU:F:2012:96), ergebenden Maßnahmen ergriffen habe, da sie es rechtswidrig unterlassen habe, einen Vertrauensarzt mit der Untersuchung zu beauftragen, ob die Krankheit die Anwendung des medizinischen Vorbehalts gerechtfertigt hätte.
43 Einleitend ist festzustellen, dass die Kommission in der Erwiderung klar und ausdrücklich eingeräumt hat, dass „die Feststellung des [Gerichts für den öffentlichen Dienst im angefochtenen Urteil, wonach] der Zeitraum für den Erlass des medizinischen Vorbehalts mit Rückwirkung übermäßig lang war, nicht bestritten [werde]“ und klargestellt hat, dass „[d]ie Kritik am angefochtenen Urteil … sich auf die Schlussfolgerungen [beziehe], die [das Gericht für den öffentlichen Dienst] aus dieser Feststellung gezogen ha[be], nämlich die Aufhebung der streitigen Verfügung“.
44 Die Kommission bestreitet also nicht, dass sie den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer dadurch verletzt hat, dass sie – nachdem sie erfahren hatte, dass der Kläger selbst eingeräumt hatte, bei der Einstellungsuntersuchung seine Krankheit verschwiegen zu haben – drei Jahre und sieben Monate verstreichen ließ, bevor sie die Verfügung vom 9. Juli 2009 erließ. Ebenso wenig bestreitet sie, dass als Folge davon auch die Verfügungen vom 12. April 2010 und vom 16. September 2014 nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums erlassen wurden. Sie verwahrt sich allerdings gegen die Schlussfolgerungen im angefochtenen Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst, wonach sich diese übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt der Verfügung vom 16. September 2014 selbst habe auswirken können.
45 Nach der Rechtsprechung stellt die Verpflichtung, Verwaltungsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchzuführen, einen allgemeinen Grundsatz des Rechts der Europäischen Union dar, dessen Beachtung von den Unionsgerichten sichergestellt wird und der im Übrigen als Bestandteil des Rechts auf eine gute Verwaltung in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte übernommen wurde (Urteile vom 11. April 2006, Angeletti/Kommission, T‑394/03, EU:T:2006:111, Rn. 162, und vom 6. Dezember 2012, Füller-Tomlinson/Parlament, T‑390/10 P, EU:T:2012:652, Rn. 115).
46 Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer rechtfertigt jedoch in der Regel nicht die Aufhebung der am Ende eines Verwaltungsverfahrens erlassenen Entscheidung. Die Nichtbeachtung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer beeinträchtigt nämlich nur dann die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens, wenn sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt der am Ende des Verwaltungsverfahrens ergangenen Entscheidung selbst auswirken kann (Urteile vom 6. Dezember 2012, Füller-Tomlinson/Parlament, T‑390/10 P, EU:T:2012:652, Rn. 116, und vom 12. Mai 2016, Guittet/Kommission, F‑92/15, EU:F:2016:118, Rn. 76).
47 In dem speziellen Fall, dass sich nach der ärztlichen Einstellungsuntersuchung zeigt, dass ein Bediensteter nicht aufrichtig und vollständig auf die ihm vom Vertrauensarzt bei dieser Untersuchung gestellten Fragen zu seinem Gesundheitszustand geantwortet hat, steht es der Einstellungsbehörde frei, ihre ursprüngliche Verfügung, den medizinischen Vorbehalt nicht anzuwenden, zurückzuziehen und eine neue Verfügung zu erlassen, mit der dieser Vorbehalt rückwirkend angewandt wird (Urteil vom 20. Juli 2016, HC/Kommission, F‑132/15, EU:F:2016:158, Rn. 85).
48 Der erste Rechtsmittelgrund ist im Licht dieser Rechtsprechung zu prüfen.
49 Einleitend ist die Rüge der Kommission zu prüfen, wonach das angefochtene Urteil unzureichend begründet sei, da das Gericht für den öffentlichen Dienst nicht die Gründe angegeben habe, aus denen es davon ausgegangen sei, dass sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt der Verfügung vom 16. September 2014 habe auswirken können.
50 Die Urteile des Gerichts für den öffentlichen Dienst müssen hinreichend begründet sein, damit das Gericht seine richterliche Kontrolle ausüben kann. Die Begründung kann implizit erfolgen, sofern sie es der betroffenen Partei ermöglicht, die Gründe zu erkennen, aus denen das erstinstanzliche Gericht ihrer Argumentation nicht gefolgt ist, und dem Rechtsmittelgericht ausreichende Angaben liefert, damit es seine Kontrolle wahrnehmen kann (Urteile vom 16. Dezember 2010, Lebedef/Kommission, T‑52/10 P, EU:T:2010:543, Rn. 83 und 84, und vom 23. April 2015, BX/Kommission, T‑352/13 P, EU:T:2015:225 Rn. 44). Bei der Begründungspflicht handelt es sich um ein wesentliches Formerfordernis, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 67, und vom 21. April 2004, M/Gerichtshof, T‑172/01, EU:T:2004:108, Rn. 61).
51 Vorliegend enthalten die Rn. 50 bis 54 des angefochtenen Urteils die Gründe, aus denen das Gericht für den öffentlichen Dienst davon ausgegangen ist, dass sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt der am Ende des Verwaltungsverfahrens erlassenen Verfügung, also der Verfügung vom 16. September 2014, selbst auswirken konnte. Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat nämlich ausgeführt, dass die erste Verfügung, die Einstellung von AV unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, d. h. die Verfügung vom 9. Juli 2009, fast drei Monate nach dem Auslaufen des Vertrags von AV, etwa acht Monate nach dessen Antrag, den Invaliditätsausschuss anzurufen, mehr als drei Jahre und sieben Monate nach dem Zeitpunkt erging, zu dem die Einstellungsbehörde von dessen Krankheit Kenntnis erlangt hatte, und zu einem Zeitpunkt erging, nachdem der Invaliditätsausschuss zu dem Schluss gelangt war, dass AV aufgrund dieser Krankheit dauerhaft voll dienstunfähig sei. Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat daraus geschlossen, dass die Verfügung vom 9. Juli 2009 dadurch faktisch zu einer Verfügung wurde, AV mit sofortiger Wirkung von den für den Fall der Invalidität vorgesehenen Garantien auszuschließen. Es hat daher im Wesentlichen festgestellt, dass sich die übermäßig lange Verfahrensdauer zwangsläufig auf den Inhalt dieser Verfügung auswirken konnte.
52 Eine solche Begründung versetzt das Gericht in die Lage, seine gerichtliche Kontrolle wahrzunehmen, und ermöglicht es der Kommission, die Gründe zu erkennen, aus denen das Gericht für den öffentlichen Dienst ihrer Argumentation nicht gefolgt ist. Demnach ist die auf einen Verstoß gegen die Begründungspflicht gestützte Rüge der Kommission zurückzuweisen.
53 In materieller Hinsicht ist zu prüfen, ob das Gericht für den öffentlichen Dienst davon ausgehen durfte, dass sich der Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer auf den Inhalt der Verfügung vom 16. September 2014 auswirken konnte.
54 In der Verfügung vom 16. September 2014 hat die Einstellungsbehörde angegeben, dass sie sich auf die Schlussfolgerungen der im Invaliditätsausschuss vertretenen Ärzte vom 30. April 2013 gestützt habe, denen zufolge „[AVs] Krankheit die Anwendung des medizinischen Vorbehalts gemäß Art. 32 BSB gerechtfertigt hätte, wenn er seine Krankheit bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung dem untersuchenden Arzt gegenüber offenbart hätte“. Aus der Verfügung der Einstellungsbehörde ergibt sich also, dass die Entscheidung, die Einstellung von AV unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, ausschließlich auf die Krankheit gestützt wurde, die er bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung hätte angeben müssen, nicht aber auf die weitere Entwicklung dieser Krankheit nach der Untersuchung.
55 Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat dennoch in den Rn. 50 bis 53 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass sich die übermäßig lange Zeitspanne zwischen dem Zeitpunkt, zu dem die Einstellungsbehörde Kenntnis von AVs Krankheit erlangt hatte, und der Verfügung vom 9. Juli 2009, mit der seine Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt gestellt wurde, auf den Inhalt dieser Verfügung (und folglich auf den Inhalt der Verfügungen vom 12. April 2010 und vom 16. September 2014) ausgewirkt hat. Es hat nämlich verschiedene Ereignisse ausgemacht, die während der übermäßig langen Verfahrensdauer eingetreten sind: So erging die Verfügung vom 9. Juli 2009 nach dem Auslaufen des Vertrags, nach dem Antrag von AV, den Invaliditätsausschuss anzurufen, mehrere Jahre nach dem Zeitpunkt, zu dem die Einstellungsbehörde von seiner Krankheit Kenntnis erlangt hatte, und nach dem Zeitpunkt, zu dem der Invaliditätsausschuss bestätigt hatte, dass AV aufgrund dieser Krankheit dauerhaft voll dienstunfähig sei. Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat ausgeführt, dass die Verfügung, die Einstellung von AV rückwirkend zum Zeitpunkt seines Dienstantritts unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, aufgrund der vorstehenden Ereignisse während dieser langen Verfahrensdauer faktisch zu einer Verfügung wurde, AV mit sofortiger Wirkung von den für den Fall der Invalidität vorgesehenen Garantien auszuschließen, und zwar für eine Invalidität, die bereits eingetreten war.
56 Es ist festzustellen, dass dem Gericht für den öffentlichen Dienst ein Rechtsfehler unterlaufen ist, als es auf der Grundlage der oben in Rn. 55 angeführten Umstände entschieden hat, dass sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt der Verfügung vom 16. September 2014 ausgewirkt habe.
57 Die Einstellungsbehörde hat vorliegend nämlich zwei getrennte Verfügungen erlassen: eine Verfügung nach Art. 33 BSB, mit der AV dauerhaft voll dienstunfähig geschrieben wurde, und eine Verfügung nach Art. 32 BSB, mit der die Einstellung von AV unter den medizinischen Vorbehalt gestellt wurde. Die Verfügungen wurden daher auf die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Bestimmung gestützt.
58 Da aus chronologischer Sicht die Verfügung, eine Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, bei der Einstellungsuntersuchung – also grundsätzlich vor den Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses und der Verfügung der Einstellungsbehörde bezüglich der Feststellung der Dienstunfähigkeit eines Bediensteten – getroffen wird, ist es nur den besonderen Umständen des vorliegenden Falls geschuldet, dass die Verfügung, die Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, erst nach den Schlussfolgerungen zur Dienstunfähigkeit und nach Vertragsende erging.
59 Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat sich, als es feststellte, dass die Verfügung vom 16. September 2014„faktisch“ zu einer Verfügung „wurde“, AV mit sofortiger Wirkung von den für den Fall der Invalidität vorgesehenen Garantien auszuschließen, im vorliegenden Fall auf eine Vermutung gestützt, wonach für den Fall, dass eine Verfügung, die Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, nach den Schlussfolgerungen zur Feststellung der Dienstunfähigkeit für eben diese Krankheit und nach Vertragsende ergeht, diese Umstände automatisch Auswirkungen auf den Inhalt der Verfügung haben. Angesichts dessen, dass die Verfügung, die Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, ausschließlich auf Angaben gestützt wurde, die der Kläger bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung hätte offenbaren müssen, lässt sich aus dem bloßen Umstand, dass die Verfügung, die Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, nach der Beendigung des Vertrags und nach den Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses zur Feststellung der Dienstunfähigkeit erging, als solchem nicht schließen, dass sich die übermäßig lange Verfahrensdauer auf den Inhalt dieser Verfügung ausgewirkt hat.
60 Wie oben in Rn. 47 ausgeführt, steht es der Einstellungsbehörde frei, in dem speziellen Fall, dass sich nach der ärztlichen Einstellungsuntersuchung zeigt, dass ein Bediensteter nicht aufrichtig und vollständig auf die ihm vom Vertrauensarzt bei dieser Untersuchung gestellten Fragen zu seinem Gesundheitszustand geantwortet hat, ihre ursprüngliche Verfügung, den medizinischen Vorbehalt nicht anzuwenden, zurückzuziehen und eine neue Verfügung zu erlassen, mit der dieser Vorbehalt rückwirkend angewandt wird (Urteil vom 20. Juli 2016, HC/Kommission, F‑132/15, EU:F:2016:158, Rn. 85).
61 Dem angefochtenen Urteil lassen sich keine konkreten Umstände entnehmen, die – wie es die oben in Rn. 46 zitierte Rechtsprechung verlangt – die Feststellung erlauben würden, dass sich die übermäßig lange Verfahrensdauer rechtlich oder faktisch auf die Verfügung, die Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, auswirken konnte.
62 Mit anderen Worten erlauben die Umstände, auf die sich das Gericht für den öffentlichen Dienst in dem angefochtenen Urteil stützt, nicht den Schluss, dass die Verfügung vom 16. September 2014 einen anderen Inhalt hätte haben können, wenn sie vor den Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses oder vor dem Vertragsende erlassen worden wäre.
63 In Ermangelung konkreter Umstände, mit denen sich eine tatsächliche oder potenzielle Auswirkung der übermäßig langen Verfahrensdauer auf die Verfügung vom 16. September 2014 belegen ließe, kann der Ausschluss von AV von den für den Fall der Invalidität vorgesehenen Garantien daher nicht als Ergebnis einer faktischen Umwandlung der Verfügung, seine Einstellung unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, gewertet werden. Vielmehr kann dieser Ausschluss in diesem Stadium nur als die Folge zweier gesonderter Verfügungen verstanden werden, nämlich zum einen der Verfügung, die Einstellung von AV wegen der zum Zeitpunkt seiner Einstellung bereits vorliegenden Krankheit – die den Schlussfolgerungen des Invaliditätsausschusses zufolge die Anwendung des medizinischen Vorbehalts gerechtfertigt hätte, wenn sie bei der Einstellungsuntersuchung offenbart worden wäre – unter den medizinischen Vorbehalt zu stellen, und zum zweiten der Verfügung, mit der AV wegen dieser Krankheit für dauerhaft voll dienstunfähig erklärt wurde.
64 Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund begründet. Dem Rechtsmittel ist daher stattzugeben, und das angefochtene Urteil ist aufzuheben.
Zu den Folgen der Aufhebung des angefochtenen Urteils
65 Nach Art. 4 der Verordnung (EU, Euratom) 2016/1192 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über die Übertragung der Zuständigkeit für die Entscheidung im ersten Rechtszug über die Rechtsstreitigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Bediensteten auf das Gericht (ABl. 2016, L 200, S. 137) weist das Gericht, wenn es eine Entscheidung des Gerichts für den öffentlichen Dienst aufhebt und zugleich feststellt, dass der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif ist, die Rechtssache einer anderen Kammer als derjenigen zu, die über das Rechtsmittel entschieden hat.
66 Vorliegend hat das Gericht für den öffentlichen Dienst weder den ersten Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 32 BSB, noch den zweiten Klagegrund eines Verstoßes gegen die Voraussetzungen für die Rücknahme eines subjektive Rechte begründenden Rechtsakts geprüft. Das Gericht hält den Rechtsstreit daher nicht für entscheidungsreif. Folglich ist die Rechtssache einer anderen Kammer des Gerichts als derjenigen zuzuweisen, die über das vorliegende Rechtsmittel entschieden hat.
Kosten
67 Da die Rechtssache einer anderen Kammer des Gerichts als derjenigen zugewiesen wird, die über das vorliegende Rechtsmittel entschieden hat, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens vorzubehalten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Rechtsmittelkammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Zweite Kammer) vom 21. Juli 2016, AV/Kommission (F‑91/15), wird aufgehoben.
2. Die Rechtssache wird einer anderen Kammer des Gerichts als derjenigen zugewiesen, die über das vorliegende Rechtsmittel entschieden hat.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Jaeger
Prek
Dittrich
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Mai 2018.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 12. April 2018.#Europäische Kommission gegen Königreich Dänemark.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 – Art. 2 Nr. 6 – Art. 8 – Kabotage – Begriff – Definition, die in einem von der Kommission erstellten Dokument ‚Fragen und Antworten‘ enthalten ist – Rechtliche Bedeutung – Innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen, mit denen die Anzahl der Belade- und Entladeorte, die Teil einer Kabotage sein können, begrenzt wird – Ermessensspielraum – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-541/16.
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62016CJ0541
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ECLI:EU:C:2018:251
| 2018-04-12T00:00:00 |
Tanchev, Gerichtshof
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62016CJ0541
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
12. April 2018 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 – Art. 2 Nr. 6 – Art. 8 – Kabotage – Begriff – Definition, die in einem von der Kommission erstellten Dokument ‚Fragen und Antworten‘ enthalten ist – Rechtliche Bedeutung – Innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen, mit denen die Anzahl der Belade- und Entladeorte, die Teil einer Kabotage sein können, begrenzt wird – Ermessensspielraum – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑541/16
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 25. Oktober 2016,
Europäische Kommission, vertreten durch J. Hottiaux, L. Grønfeldt und U. Nielsen als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Königreich Dänemark, zunächst vertreten durch C. Thorning, dann durch J. Nymann-Lindegren und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters F. Biltgen (Berichterstatter),
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2017,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2017
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass das Königreich Dänemark gegen seine Verpflichtungen aus Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs (ABl. 2009, L 300, S. 72) verstoßen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 1072/2009
2 Die Verordnung Nr. 1072/2009 soll eine gemeinsame Verkehrspolitik schaffen, u. a. durch Aufstellung gemeinsamer Regeln für den Marktzugang im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr im Gebiet der Europäischen Union sowie Festlegung der Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind. Nach dieser Verordnung gilt der Grundsatz, dass der grenzüberschreitende Verkehr einer Gemeinschaftslizenz unterliegt, die jedem gewerblichen Güterkraftverkehrsunternehmer erteilt werden kann.
3 In den Erwägungsgründen 4 bis 6, 13 und 15 der Verordnung Nr. 1072/2009 heißt es:
„(4)
Die Schaffung einer gemeinsamen Verkehrspolitik erfordert die Beseitigung aller Beschränkungen, die mit der Staatsangehörigkeit des Erbringers der einschlägigen Verkehrsdienstleistungen oder damit zusammenhängen, dass dieser in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist als dem, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollen.
(5) Damit dies reibungslos und flexibel erreicht werden kann, sollte vor der Anwendung der endgültigen Regelung eine Übergangsregelung für die Kabotage vorgesehen werden, solange die Harmonisierung des Kraftverkehrsmarkt[s] noch nicht abgeschlossen ist.
(6) Die schrittweise Vollendung des Binnenmarkt[s] sollte zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen zu den Inlandsmärkten der Mitgliedstaaten führen. Dabei sollten jedoch die Wirksamkeit der Kontrollen, die Entwicklung der Beschäftigungsbedingungen in der Branche, die Harmonisierung der Vorschriften unter anderem in den Bereichen der Durchsetzung, der Straßenbenutzungsgebühren und die sozialen und sicherheitstechnischen Rechtsvorschriften berücksichtigt werden. Die Kommission sollte die Marktlage sowie die vorstehend genannte Harmonisierung eng überwachen und gegebenenfalls die weitere Öffnung der inländischen Straßenverkehrsmärkte, einschließlich der Kabotage, vorschlagen.
…
(13) Verkehrsunternehmer, die Inhaber der Gemeinschaftslizenz gemäß dieser Verordnung sind, sowie Verkehrsunternehmer, die zur Durchführung bestimmter Kategorien grenzüberschreitender Beförderungen berechtigt sind, sollten im Einklang mit dieser Verordnung zeitweilig zur innerstaatlichen Beförderung in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen werden, ohne dort über einen Unternehmenssitz oder eine Niederlassung verfügen zu müssen. …
…
(15) Unbeschadet der Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit ist die Kabotagebeförderung die Erbringung von Dienstleistungen durch einen Verkehrsunternehmer in einem Mitgliedstaat, in dem er nicht niedergelassen ist; sie sollte nicht untersagt werden, sofern sie nicht dergestalt durchgeführt wird, dass dadurch eine dauerhafte oder ununterbrochene Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat entsteht. Im Hinblick auf die Durchsetzung dieser Forderung sollten die Häufigkeit der Kabotagebeförderungen und der Zeitraum, in dem sie durchgeführt werden können, klarer bestimmt werden. In der Vergangenheit wurden solche innerstaatlichen Beförderungen zeitweilig erlaubt. Praktisch war es aber schwierig festzustellen, welche Dienste erlaubt sind. Daher bedarf es klarer und einfach durchzusetzender Vorschriften.“
4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 1072/2009 bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
6. ‚Kabotage‘ gewerblichen innerstaatlichen Verkehr, der im Einklang mit dieser Verordnung zeitweilig in einem Aufnahmemitgliedstaat durchgeführt wird;
…“
5 Art. 8 in Kapitel III („Kabotage“) der Verordnung Nr. 1072/2009 sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Jeder Verkehrsunternehmer, der Inhaber einer Gemeinschaftslizenz ist und dessen Fahrer, wenn er Staatsangehöriger eines Drittlandes ist, eine Fahrerbescheinigung mit sich führt, ist unter den in diesem Kapitel festgelegten Bedingungen zur Durchführung von Kabotage berechtigt.
(2) Die in Absatz 1 genannten Güterkraftverkehrsunternehmer sind berechtigt, im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung aus einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittland in den Aufnahmemitgliedstaat nach Auslieferung der Güter bis zu drei Kabotagebeförderungen mit demselben Fahrzeug oder im Fall von Fahrzeugkombinationen mit dem Kraftfahrzeug desselben Fahrzeugs durchzuführen. Bei Kabotagebeförderungen erfolgt die letzte Entladung, bevor der Aufnahmemitgliedstaat verlassen wird, innerhalb von sieben Tagen nach der letzten Entladung der in den Aufnahmemitgliedstaat eingeführten Lieferung.
Innerhalb der Frist gemäß Unterabsatz 1 können die Verkehrsunternehmer einige oder alle der Kabotagebeförderungen, zu denen sie gemäß Unterabsatz 1 berechtigt sind, in jedem Mitgliedstaat unter der Voraussetzung durchführen, dass sie auf eine Kabotagebeförderung je Mitgliedstaat innerhalb von drei Tagen nach der Einfahrt des unbeladenen Fahrzeugs in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats beschränkt sind.“
Dänisches Recht
6 In Nr. 3 der Cabotagevejledning gældende fra den 14. maj 2010. En vejdledning om cabotagereglerne i Europarlamentets og Rådets forordning nr. 1072/2009 om fælles regler for adgang til markedet for international godskørsel (Leitlinien, geltend ab 14. Mai 2010 – Leitlinien betreffend die gemeinsamen Regeln für den Zugang zum Markt der grenzüberschreitenden Kabotage im Straßenverkehr nach der Verordnung Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, im Folgenden: Kabotage-Leitlinien), die das Trafikstyrelse (Verkehrsbehörde, Dänemark) auf seiner Internetseite am 21. Mai 2010 veröffentlicht hat, heißt es:
„Kabotage bezeichnet eine innerstaatliche Güterlieferung von der Abholung der Güter bis zu deren Auslieferung bei dem im Frachtbrief genannten Empfänger. Eine Kabotage kann entweder mehrere Beladeorte oder mehrere Entladeorte umfassen.“
Vorverfahren
7 Am 2. Oktober 2013 ersuchte die Kommission das Königreich Dänemark im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens (Nr. 5703/13) um zusätzliche Informationen, um beurteilen zu können, ob die dänischen Rechtsvorschriften über die Kabotage mit der Verordnung Nr. 1072/2009 vereinbar seien. Dabei trug sie drei Rügen vor. Diese betrafen die Verpflichtung der Vorlage der einschlägigen Dokumente spezifisch im Zeitpunkt der Kontrolle der Einhaltung der Kabotageregeln, die Höhe der gegen die Verkehrsunternehmer bei einem Verstoß gegen diese Regeln verhängten Geldbußen und die Begrenzung der Möglichkeit, eine mehrere Beladeorte und mehrere Entladeorte umfassende Kabotage durchzuführen.
8 Das Königreich Dänemark kam diesem Ersuchen mit Schreiben vom 18. November und 12. Dezember 2013 nach.
9 Da sie diese Antworten für nicht zufriedenstellend hielt, sandte die Kommission diesem Mitgliedstaat am 11. Juli 2014 ein Mahnschreiben und wiederholte die drei in Rn. 7 des vorliegenden Urteils dargestellten Rügen.
10 Mit Schreiben vom 9. September 2014 trat das Königreich Dänemark diesen Rügen entgegen.
11 Am 25. September 2015 richtete die Kommission an das Königreich Dänemark eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie ausführte, dass ihr die Erklärungen der dänischen Behörden und die Änderung der dänischen Vorschriften im Zusammenhang mit der Rüge der Verpflichtung, die einschlägigen Dokumente spezifisch im Zeitpunkt der Kontrolle vorzulegen, genügten. Die mit Gründen versehene Stellungnahme bezog sich somit nur auf die beiden anderen Rügen.
12 Das Königreich Dänemark antwortete auf diese mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 25. November 2015, in dem es weitere Erklärungen gab.
13 Der Kommission genügten die Erklärungen zu der Rüge, die die Höhe der gegen die Verkehrsunternehmer bei einem Verstoß gegen die Kabotageregeln verhängten Geldbußen betraf. Daher hat sie die vorliegende Klage beschränkt auf die Rüge der Begrenzung der Anzahl der Beladeorte und der Entladeorte, die eine Kabotage umfassen darf, erhoben.
Zur Klage
Vorbringen der Parteien
14 Zur Begründung ihrer Klage trägt die Kommission vor, der Begriff „Kabotage“ in Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 der Verordnung Nr. 1072/2009 sei dahin auszulegen, dass eine einzige Kabotage mehrere Beladeorte, mehrere Entladeorte, sogar mehrere Belade- und Entladeorte umfassen könne.
15 Die Kommission macht geltend, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten bei der Sitzung des Ausschusses für den Straßenverkehr am 25. Oktober 2010 zu einer Einigung über diese Auslegung gelangt seien, die auf der Website der Generaldirektion (GD) „Mobilität und Verkehr“ der Kommission in Form eines Dokuments „Fragen und Antworten“ veröffentlicht worden sei und die seitdem für alle Mitgliedstaaten verbindlich sei.
16 Da die vom Königreich Dänemark erlassenen Kabotage-Leitlinien vorsähen, dass eine Kabotage entweder mehrere Beladeorte oder mehrere Entladeorte umfassen dürfe, entsprechen sie nach Ansicht der Kommission weder dieser Auslegung noch dem von der Verordnung Nr. 1072/2009 verfolgten Ziel.
17 In ihrer Erwiderung schließlich weist die Kommission das Vorbringen des Königreichs Dänemark zurück, wonach die Mitgliedstaaten ein Ermessen für den Erlass innerstaatlicher Durchführungsmaßnahmen hätten, um die Definition des Begriffs „Kabotage“ im Sinne der Verordnung Nr. 1072/2009 zu klären. Ein derartiges Ermessen könne nicht bestehen, da der Begriff durch Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 der Verordnung harmonisiert worden sei, und in jedem Fall stünden die Kabotage-Leitlinien nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang.
18 Das Königreich Dänemark tritt der von der Kommission empfohlenen Auslegung des Begriffs „Kabotage“ entgegen. Es weist darauf hin, dass Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 lediglich vorsehe, dass mit demselben Fahrzeug bis zu drei Kabotagebeförderungen durchgeführt werden könnten, jedoch nicht spezifiziere, wie viele Beladeorte und Entladeorte eine einzige Kabotage umfassen dürfe. Daher mangele es der Verordnung in Bezug auf die Definition dieses Begriffs an Klarheit.
19 Dieser Mangel an Klarheit werde dadurch bestätigt, dass die in der Verordnung Nr. 1072/2009 vorgesehenen Regeln über die Kabotagebeförderung in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgelegt und angewandt würden, wie dies insbesondere aus den S. 18 und 19 des Berichts der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über den Stand des Kraftverkehrsmarkts in der Europäischen Union (COM[2014] 222 final) hervorgehe. Die Kommission habe zudem selbst eingeräumt, dass die Definition der Kabotage in der Verordnung Nr. 1072/2009 problematisch sei und dass sie eine Überarbeitung dieser Verordnung beabsichtige, um insoweit Abhilfe zu schaffen.
20 Zu dem Argument, die Auslegung des Begriffs der Kabotage sei nach einer Sitzung des Ausschusses für den Straßenverkehr geklärt und die von den Vertretern der Mitgliedstaaten hierbei festgelegte neue Definition sei in dem Dokument „Fragen und Antworten“ enthalten, das für die Mitgliedsaaten verbindlich sei, trägt das Königreich Dänemark vor, dass dieses Dokument keine rechtliche Bedeutung habe und dass die in ihm enthaltene Definition nicht auf einem Einvernehmen der Mitgliedstaaten beruhe.
21 Der Gerichtshof habe in Rn. 48 des Urteils vom 21. Dezember 2011, Danske Svineproducenter (C‑316/10, EU:C:2011:863), entschieden, die Mitgliedstaaten hätten, wenn eine Verordnung unklar sei, ein Ermessen, um auf nationaler Ebene Maßnahmen zu erlassen, die insoweit Abhilfe schüfen, vorausgesetzt allerdings, diese Maßnahmen seien verhältnismäßig und stünden mit den von der fraglichen Verordnung verfolgten Zielen in Einklang.
22 Gemäß Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009, ausgelegt im Licht des 15. Erwägungsgrundes dieser Verordnung, bestehe deren Ziel darin, innerstaatliche Güterverkehrstransporte im Aufnahmemitgliedstaat, die von gebietsfremden Kraftverkehrsunternehmen durchgeführt würden, zu beschränken, indem es u. a. untersagt werde, Kabotagebeförderungen dergestalt durchzuführen, dass dadurch eine dauerhafte oder ununterbrochene Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat entstehe.
23 Wenn nun aber die Anzahl der Belade- und Entladeorte nicht begrenzt werde, sei es einem gebietsfremden Kraftverkehrsunternehmer möglich, eine Vielzahl von Beförderungen im Aufnahmemitgliedstaat durchzuführen und sie als eine einzige Kabotage anzusehen, so dass die in der Verordnung Nr. 1072/2009 vorgesehene Begrenzung auf drei Beförderungen umgangen werden könnte.
24 Das Königreich Dänemark leitet daraus ab, dass die Kabotage-Leitlinien, soweit sie die zeitweilige Natur der Kabotage gewährleisteten und dazu beitrügen, den Auslastungsgrad der Lastkraftwagen zu verbessern und Leerfahrten zugunsten der Effizienz der Beförderungen zu vermeiden, mit dem Ziel der Verordnung Nr. 1072/2009 in Einklang stünden. Diese Maßnahmen könnten außerdem die Rechtssicherheit verbessern und sicherstellen, dass die Kontrolle, ob die Verordnung eingehalten worden sei, wirksam sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
25 Zur Entscheidung über die Begründetheit der vorliegenden Klage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann (Urteile vom 12. Mai 2005, Kommission/Belgien, C‑287/03, EU:C:2005:282, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 19. Mai 2011, Kommission/Malta, C‑376/09, EU:C:2011:320, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Im vorliegenden Fall wirft die Kommission dem Königreich Dänemark vor, seinen Verpflichtungen aus Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 der Verordnung Nr. 1072/2009 nicht nachgekommen zu sein, indem es innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen erlassen habe, mit denen die Auslegung des Begriffs „Kabotage“ im Sinne dieser Verordnung geklärt werden solle, obwohl dieser Mitgliedstaat hierzu nicht befugt gewesen sei. Jedenfalls stünden diese Maßnahmen nicht im Einklang mit dem von der Verordnung Nr. 1072/2009 verfolgten Ziel.
27 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Bestimmungen von Verordnungen zwar aufgrund ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Unionsrechts im Allgemeinen unmittelbare Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen haben, ohne dass nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich wären, doch kann es vorkommen, dass manche Verordnungsbestimmungen zu ihrer Durchführung des Erlasses von Durchführungsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten bedürfen (Urteile vom 21. Dezember 2011, Danske Svineproducenter, C‑316/10, EU:C:2011:863, Rn. 39 und 40, und vom 30. März 2017, Lingurár, C‑315/16, EU:C:2017:244, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Die Mitgliedstaaten können Maßnahmen zur Durchführung einer Verordnung erlassen, wenn sie deren unmittelbare Anwendbarkeit nicht vereiteln, deren unionsrechtliche Natur nicht verbergen und die Ausübung des ihnen durch die betreffende Verordnung verliehenen Wertungsspielraums innerhalb der Grenzen dieser Vorschriften konkretisieren (Urteile vom 21. Dezember 2011, Danske Svineproducenter, C‑316/10, EU:C:2011:863, Rn. 41, und vom 30. März 2017, Lingurár, C‑315/16, EU:C:2017:244, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Daher ist unter Bezugnahme auf die einschlägigen Bestimmungen der fraglichen Verordnung, die im Licht der Ziele der Verordnung auszulegen sind, festzustellen, ob diese Bestimmungen es den Mitgliedstaaten verbieten, gebieten oder gestatten, bestimmte Durchführungsmaßnahmen zu erlassen, und, insbesondere im letztgenannten Fall, ob sich die betreffende Maßnahme in den Rahmen des den einzelnen Mitgliedstaaten eingeräumten Ermessens einfügt (Urteil vom 30. März 2017, Lingurár, C‑315/16, EU:C:2017:244, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Vorliegend ermächtigen die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1072/2009, nämlich ihr Art. 2 Nr. 6 sowie ihr Art. 8, die Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich dazu, innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen über die Kabotage zu erlassen.
31 Wie sich aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils ergibt und wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können die Mitgliedstaaten jedoch innerstaatliche Maßnahmen zur Durchführung einer Verordnung erlassen, auch wenn diese Verordnung sie dazu nicht ausdrücklich ermächtigt.
32 Der Gerichtshof hat bereits in den Rn. 48 bis 50 des Urteils vom 21. Dezember 2011, Danske Svineproducenter (C‑316/10, EU:C:2011:863), im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 des Rates vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97 (ABl. 2005, L 3, S. 1) entschieden, dass den Mitgliedstaaten ein gewisser Ermessensspielraum zuzubilligen ist, der es ihnen erlaubt, innerstaatliche Maßnahmen zu erlassen, mit denen bezifferte Vorgaben für die lichte Höhe der Decks bei der Beförderung von Schweinen auf der Straße festgelegt werden. Denn diese Verordnung ermächtigte die Mitgliedstaaten zwar nicht ausdrücklich zum Erlass dieser Vorgaben, legte selbst aber auch nicht genau die Höhe dieser Decks fest.
33 Gleichfalls hat der Gerichtshof in den Rn. 36 und 40 bis 43 des Urteils vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a. (C‑367/09, EU:C:2010:648), entschieden, dass, auch wenn die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) die Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich zu diesem Schutz ermächtigte, Letztere doch berechtigt waren, innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen über die Sanktionen zu erlassen, die bei einem Verstoß gegen das Unionsrecht, der einen Schaden für den Haushalt der Union bewirkt, verhängt werden können. Die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung beschränkten sich nämlich darauf, allgemeine Regeln festzulegen, und stellten weder klar, in welcher Situation noch auf welche Person die einzelnen Sanktionen jeweils anzuwenden waren.
34 Daher ist auf die gleiche Art und Weise zu prüfen, ob, wie das Königreich Dänemark geltend macht, der Begriff „Kabotage“ so, wie er in der Verordnung Nr. 1072/2009 definiert ist, unklar ist, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob eine Kabotage mehrere Belade- und mehrere Entladeorte umfassen kann, und folglich der Erlass innerstaatlicher Durchführungsmaßnahmen zur Klarstellung der Tragweite dieses Begriffs gerechtfertigt ist.
35 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1072/2009 den Begriff der Kabotage definiert als „gewerblichen innerstaatlichen Verkehr, der … zeitweilig in einem Aufnahmemitgliedstaat durchgeführt wird“, ohne dass allerdings in irgendeiner Weise die Anzahl der Belade- oder Entladeorte klargestellt wird, die eine solche Beförderung umfassen darf.
36 Art. 8 Abs. 2 der Verordnung sieht vor, dass gebietsfremde Verkehrsunternehmer berechtigt sind, im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung aus einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittland in den Aufnahmemitgliedstaat nach Auslieferung der Güter bis zu drei Kabotagebeförderungen durchzuführen. In dieser Vorschrift wird klargestellt, dass bei Kabotagebeförderungen die letzte Entladung, bevor der Aufnahmemitgliedstaat verlassen wird, innerhalb von sieben Tagen nach der letzten Entladung der in den Aufnahmemitgliedstaat eingeführten Lieferung erfolgt.
37 Der Wendung „… die letzte Entladung [bei Kabotagebeförderungen]“ in diesem Artikel ist zwar zu entnehmen, dass eine Kabotage mehrere Entladeorte umfassen kann, diese Vorschrift sagt jedoch nichts dazu, ob eine Kabotage auch mehrere Beladeorte umfassen kann.
38 Folglich ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 2 Nr. 6 und der Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 es nicht erlauben, die Frage zu beantworten, ob der Begriff „Kabotage“ in dieser Verordnung dahin zu verstehen ist, dass eine Kabotage mehrere Beladeorte und mehrere Entladeorte umfassen kann.
39 Wie indes der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt die Tatsache, dass eine Bestimmung einer Verordnung allgemein oder ungenau formuliert ist, einen Hinweis darauf dar, dass innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen erforderlich sind.
40 Da das Ziel der Verordnung Nr. 1072/2009 nach ihrem 26. Erwägungsgrund darin besteht, einen einheitlichen Rahmen für den grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr in der gesamten Union zu gewährleisten, verwehrt es diese Verordnung auch nicht, dass ein Mitgliedstaat bestimmte Maßnahmen zu deren Durchführung erlässt. Insbesondere zur Kabotage stellt der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung nämlich klar, dass eine Übergangsregelung für diese Beförderungsart vorgesehen werden sollte, solange die Harmonisierung des Kraftverkehrsmarkts noch nicht abgeschlossen ist.
41 Zweitens ist für die Entscheidung, ab wann die Grenze von drei Beförderungen gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 als erreicht anzusehen ist, zu ermitteln, ob eine Beförderung mit mehreren Beladeorten und mehreren Entladeorten eine einzige Kabotage oder mehrere Kabotagen darstellt.
42 Drittens steht fest, dass der Begriff „Kabotage“ im Sinne der Verordnung Nr. 1072/2009 je nach Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt wird. Wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind Dänemark und bis vor Kurzem auch Finnland der Auffassung, dass eine Kabotagebeförderung nicht mehrere Beladeorte und mehrere Entladeorte umfassen könne. Das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen erlauben mehrere Beladeorte und mehrere Entladeorte, wenn ein einziger Frachtauftrag gegeben ist oder wenn die Waren denselben Absender und denselben Empfänger haben. Diese Divergenz in der Auslegung zeugt indessen von einem Mangel an Klarheit und Genauigkeit der Verordnung Nr. 1072/2009 in Bezug auf den Begriff der Kabotage.
43 Viertens hat die Kommission sowohl in Rn. 19 ihres Berichts COM(2014) 222 final als auch in ihren schriftlichen Erklärungen sowie in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass es notwendig sei, den Begriff „Kabotage“ im Sinne der Verordnung Nr. 1072/2009 zu klären.
44 Somit ist festzustellen, dass Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 der Verordnung Nr. 1072/2009, auch wenn sie nicht ausdrücklich den Erlass innerstaatlicher Durchführungsmaßnahmen vorsehen, in Bezug auf den Begriff der Kabotage nicht klar sind, so dass den Mitgliedstaaten ein Ermessen für den Erlass solcher Maßnahmen einzuräumen ist.
45 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 57 und 58 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, wird durch den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1071/2009 und der Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 im Hinblick auf ihre Anpassung an die Entwicklung im Kraftverkehrssektor (COM[2017] 281 final), der insbesondere auf eine Änderung der Verordnung Nr. 1072/2009 mit Blick auf die Definition des Begriffs der Kabotage in Art. 2 Nr. 6 abzielt, diese Feststellung nicht in Frage gestellt. Denn da sich der genannte Vorschlag noch im Stadium der Erörterungen befindet, ist er im Rahmen der vorliegenden Rechtssache nicht von Bedeutung.
46 Auch das Vorbringen der Kommission, die Auslegung des Begriffs „Kabotage“ sei in einem nach der Sitzung des Ausschusses für den Straßenverkehr am 25. Oktober 2010 angenommenen Dokument „Fragen und Antworten“ geklärt worden, greift nicht durch.
47 Auch wenn dieses Dokument, wie die Kommission vorträgt, auf der Website der GD „Mobilität und Verkehr“ der Kommission veröffentlicht wurde, ist es nämlich nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 82 bis 84 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, sieht zudem Art. 2 Nr. 2 der Verfahrensordnung des Ausschusses für den Straßenverkehr vor, dass in der Tagesordnung, die für jede Sitzung erstellt wird, zwischen vorgeschlagenen Maßnahmen, zu denen dieser Ausschuss eine Stellungnahme gemäß dem Regelungsverfahren mit Kontrolle abgeben soll, einerseits und sonstigen Themen, die zu Informationszwecken oder einem einfachen Meinungsaustausch vorgelegt werden, andererseits zu unterscheiden ist. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass die Auslegung des Begriffs „Kabotage“, wie sie in dem Dokument wiedergegeben wird, tatsächlich in der Tagesordnung der Sitzung des Ausschusses für den Straßenverkehr vom 25. Oktober 2010 enthalten war, allerdings wurde dieser Punkt nicht zur Abstimmung gestellt. Folglich kann diese Auslegung nicht als das Ergebnis eines Einvernehmens der Vertreter der Mitgliedstaaten betrachtet werden. Die Kommission hat jedenfalls in ihren schriftlichen Erklärungen sowie in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt, dass dieses Dokument keinen rechtlich verbindlichen Charakter habe.
48 Unter diesen Umständen kann dem Königreich Dänemark nicht vorgeworfen werden, innerstaatliche Maßnahmen zur Durchführung der Verordnung Nr. 1072/2009 und insbesondere zu Art. 2 Nr. 6 sowie zu Art. 8 dieser Verordnung erlassen zu haben, um die Tragweite des Begriffs „Kabotage“ im Sinne der Verordnung zwecks seiner Anwendung im Gebiet dieses Mitgliedstaats klarzustellen.
49 Zu prüfen ist allerdings, ob die vom Königreich Dänemark erlassenen innerstaatlichen Durchführungsmaßnahmen, also die Kabotage-Leitlinien, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen.
50 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den insbesondere die gesetz- und verordnungsgebenden Stellen der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Unionsrechts befolgen müssen, verlangt, dass die aufgrund einer Bestimmung angewandten Mittel geeignet sind, das angestrebte Ziel zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehen (Urteil vom 21. Dezember 2011, Danske Svineproducenter, C‑316/10, EU:C:2011:863, Rn. 52).
51 Was erstens die Geeignetheit der Kabotage-Leitlinien zur Erreichung des durch die Verordnung Nr. 1072/2009 angestrebten Ziels in Bezug auf diese Beförderungsart angeht, trägt das Königreich Dänemark vor, diese Maßnahme solle durch das Verbot für gebietsfremde Kraftverkehrsunternehmer, Kabotagebeförderungen durchzuführen, die mehrere Belade- und mehrere Entladeorte umfassten, gewährleisten, dass die Kabotagebeförderungen nicht dergestalt durchgeführt würden, dass dadurch eine dauerhafte oder ununterbrochene Tätigkeit entstehe.
52 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, da die Verordnung Nr. 1072/2009 nach dem Wortlaut ihres fünften Erwägungsgrundes von einer Übergangsregelung spricht, nicht verpflichtet sind, ihre nationalen Märkte für gebietsfremde Kraftverkehrsunternehmer vollständig zu öffnen. Deshalb ist die Kabotage gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung nur nach einer grenzüberschreitenden Beförderung erlaubt und auf drei Beförderungen innerhalb von sieben Tagen nach der Entladung der eingeführten Lieferung begrenzt. Außerdem wird in den Erwägungsgründen 13 und 15 der Verordnung Nr. 1072/2009 die zeitweilige Natur der Kabotage betont und insbesondere ausgeführt, dass die Kabotagebeförderung nicht dergestalt durchgeführt werden sollte, dass dadurch eine dauerhafte oder ununterbrochene Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat entsteht.
53 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, könnte jedoch der Umstand, dass gebietsfremden Kraftverkehrsunternehmern erlaubt würde, Kabotagebeförderungen mit einer unbegrenzten Anzahl von Beladeorten und Entladeorten durchzuführen, die in Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 festgelegte Begrenzung auf drei Beförderungen ins Leere laufen lassen und mithin der zeitweiligen Natur der Kabotage sowie dem von dieser Verordnung für diese Beförderungsart verfolgten Ziel zuwiderlaufen. In diesem Fall nämlich würde die zeitweilige Natur der Kabotage nur durch die Begrenzung auf sieben Tage gemäß Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 sichergestellt.
54 Das in den Kabotage-Leitlinien vorgesehene Verbot kann daher die Einhaltung der Begrenzung auf drei Beförderungen gemäß Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung gewährleisten.
55 Folglich ist diese Maßnahme geeignet, das von der Verordnung Nr. 1072/2009 im Hinblick auf die Kabotage verfolgte Ziel zu erreichen.
56 Zweitens ist zu prüfen, ob die Kabotage-Leitlinien nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
57 Das Königreich Dänemark trägt vor, dass die in den Kabotage-Leitlinien vorgesehene Begrenzung der Anzahl der Belade- und Entladeorte, die eine Kabotage umfassen dürfe, notwendig sei, um die zeitweilige Natur der Kabotagebeförderung sicherzustellen, und nicht zu einschränkend sei, da die Leitlinien nicht so weit gingen, vorzuschreiben, dass eine Kabotage nur einen Beladeort und einen Entladeort umfassen dürfe.
58 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach den Kabotage-Leitlinien eine Kabotage entweder mehrere Beladeorte oder mehrere Entladeorte umfassen darf. Diese Maßnahmen beschränken also nicht die Anzahl der Absender oder Auftraggeber für eine Kabotage und gestatten es implizit, dass eine Kabotage mehrere Beladeorte und einen Entladeort oder mehrere Entladeorte und einen Beladeort umfassen darf.
59 Daraus folgt, dass nach den Kabotage-Leitlinien nur eine Kabotage, die mehrere Beladeorte und mehrere Entladeorte umfasst, verboten ist.
60 Somit gehen diese Maßnahmen nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um das von der Verordnung Nr. 1072/2009 verfolgte Ziel zu erreichen.
61 Nach alledem stehen die Kabotage-Leitlinien mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang.
62 Daher ist festzustellen, dass es der Kommission nicht gelungen ist, nachzuweisen, dass das Königreich Dänemark gegen seine Verpflichtungen aus Art. 2 Nr. 6 und Art. 8 der Verordnung Nr. 1072/2009 verstoßen hat, indem es innerstaatliche Durchführungsmaßnahmen zur Klarstellung des Begriffs der Kabotage im Sinne dieser Verordnung erlassen hat.
63 Demnach ist die Klage der Kommission abzuweisen.
Kosten
64 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Dänemark die Verurteilung der Kommission zur Tragung der Kosten beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Dänisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 27. Februar 2018.#Western Sahara Campaign UK gegen Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs und Secretary of State for Environment, Food and Rural Affairs.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Partnerschaftliches Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko – Protokoll zur Festlegung der Fangmöglichkeiten nach dem Abkommen – Rechtsakte, mit denen das Abkommen und das Protokoll geschlossen wurden – Verordnungen zur Aufteilung der durch das Protokoll festgelegten Fangmöglichkeiten auf die Mitgliedstaaten – Gerichtliche Zuständigkeit – Auslegung – Gültigkeit im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV und das Völkerrecht – Anwendbarkeit des Abkommens und des Protokolls auf das Gebiet der Westsahara und die angrenzenden Gewässer.#Rechtssache C-266/16.
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62016CJ0266
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ECLI:EU:C:2018:118
| 2018-02-27T00:00:00 |
Wathelet, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62016CJ0266
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. Februar 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Partnerschaftliches Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko – Protokoll zur Festlegung der Fangmöglichkeiten nach dem Abkommen – Rechtsakte, mit denen das Abkommen und das Protokoll geschlossen wurden – Verordnungen zur Aufteilung der durch das Protokoll festgelegten Fangmöglichkeiten auf die Mitgliedstaaten – Gerichtliche Zuständigkeit – Auslegung – Gültigkeit im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV und das Völkerrecht – Anwendbarkeit des Abkommens und des Protokolls auf das Gebiet der Westsahara und die angrenzenden Gewässer“
In der Rechtssache C‑266/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Kammer für Verwaltungsstreitsachen], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 27. April 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Mai 2016, in dem Verfahren
The Queen, auf Antrag der
Western Sahara Campaign UK,
gegen
Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs,
Secretary of State for Environment, Food and Rural Affairs,
Beteiligte:
Confédération marocaine de l’agriculture et du développement rural (Comader),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, J. Malenovský (Berichterstatter), C. G. Fernlund und C. Vajda, des Richters A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der Western Sahara Campaign UK, vertreten durch K. Beal, QC, C. McCarthy, Barrister, und R. Curling, Solicitor,
–
der Confédération marocaine de l’agriculture et du développement (Comader), vertreten durch J.‑F. Bellis, R. Hicheri und M. Struys, avocats, sowie durch R. Penfold, Solicitor,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,
–
der französischen Regierung, vertreten durch F. Alabrune, D. Colas, B. Fodda, S. Horrenberger und L. Legrand als Bevollmächtigte,
–
der portugiesischen Regierung, vertreten durch M. Figueiredo und L. Inez Fernandes als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch A. de Elera-San Miguel Hurtado und A. Westerhof Löfflerová als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouquet, F. Castillo de la Torre, E. Paasivirta und B. Eggers als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Januar 2018
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit des durch die Verordnung (EG) Nr. 764/2006 des Rates vom 22. Mai 2006 über den Abschluss des partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko (ABl. 2006, L 141, S. 1), den Beschluss 2013/785/EU des Rates vom 16. Dezember 2013 über den Abschluss, im Namen der Europäischen Union, des Protokolls zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung nach dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko (ABl. 2013, L 349, S. 1) und die Verordnung (EU) Nr. 1270/2013 des Rates vom 15. November 2013 über die Aufteilung der Fangmöglichkeiten nach dem zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko vereinbarten Protokoll zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung nach dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko (ABl. 2013, L 328, S. 40) genehmigten und durchgeführten partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko (ABl. 2006, L 141, S. 4, im Folgenden: partnerschaftliches Fischereiabkommen).
2 Es ergeht im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Western Sahara Campaign UK und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich) bzw. dem Secretary of State for the Environment, Food and Rural Affairs (Ministerium für Umwelt, Ernährung und den ländlichen Raum, Vereinigtes Königreich) wegen der Durchführung internationaler Übereinkünfte zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko sowie damit verbundener Sekundärrechtsakte durch diese Behörden.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Charta der Vereinten Nationen
3 Art. 1 der am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen bestimmt:
„Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:
…
(2) freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln …
…“
4 In Kapitel XI („Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“) der Charta der Vereinten Nationen bestimmt Art. 73:
„Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, bekennen sich zu dem Grundsatz, dass die Interessen der Einwohner dieser Hoheitsgebiete Vorrang haben; sie übernehmen als heiligen Auftrag die Verpflichtung, im Rahmen des durch diese Charta errichteten Systems des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das Wohl dieser Einwohner aufs Äußerste zu fördern …
…“
Seerechtsübereinkommen
5 Das am 10. Dezember 1982 in Montego Bay geschlossene Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Treaty Series, Bd. 1833, 1834 und 1835, S. 3, im Folgenden: Seerechtsübereinkommen) trat am 16. November 1994 in Kraft. Es wurde mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigt.
6 In Teil II („Küstenmeer und Anschlusszone“) des Seerechtsübereinkommens bestimmt Art. 2 („Rechtsstatus des Küstenmeers, des Luftraums über dem Küstenmeer und des Meeresbodens und Meeresuntergrunds des Küstenmeers“) in den Abs. 1 und 3:
„(1) Die Souveränität eines Küstenstaats erstreckt sich jenseits seines Landgebiets und seiner inneren Gewässer sowie im Fall eines Archipelstaats jenseits seiner Archipelgewässer auf einen angrenzenden Meeresstreifen, der als Küstenmeer bezeichnet wird.
…
(3) Die Souveränität über das Küstenmeer wird nach Maßgabe dieses Übereinkommens und der sonstigen Regeln des Völkerrechts ausgeübt.“
7 Teil V („Ausschließliche Wirtschaftszone“) des Seerechtsübereinkommens enthält u. a. die Art. 55 und 56.
8 Art. 55 („Besondere Rechtsordnung der ausschließlichen Wirtschaftszone“) des Seerechtsübereinkommens lautet: „Die ausschließliche Wirtschaftszone ist ein jenseits des Küstenmeers gelegenes und an dieses angrenzendes Gebiet, das der in diesem Teil festgelegten besonderen Rechtsordnung unterliegt, nach der die Rechte und Hoheitsbefugnisse des Küstenstaats und die Rechte und Freiheiten anderer Staaten durch die diesbezüglichen Bestimmungen dieses Übereinkommens geregelt werden.“
9 Art. 56 („Rechte, Hoheitsbefugnisse und Pflichten des Küstenstaats in der ausschließlichen Wirtschaftszone“) des Seerechtsübereinkommens bestimmt in Abs. 1:
„In der ausschließlichen Wirtschaftszone hat der Küstenstaat
a)
souveräne Rechte zum Zweck der Erforschung und Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nichtlebenden natürlichen Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden, des Meeresbodens und seines Untergrunds sowie hinsichtlich anderer Tätigkeiten zur wirtschaftlichen Erforschung und Ausbeutung der Zone …
b)
Hoheitsbefugnisse, wie in den diesbezüglichen Bestimmungen dieses Übereinkommens vorgesehen, in Bezug auf
…
ii)
die wissenschaftliche Meeresforschung;
…
c)
andere in diesem Übereinkommen vorgesehene Rechte und Pflichten.“
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
10 Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331, im Folgenden: Wiener Übereinkommen) wurde am 23. Mai 1969 in Wien geschlossen.
11 Art. 3 („Nicht in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende internationale Übereinkünfte“) des Wiener Übereinkommens bestimmt:
„Der Umstand, dass dieses Übereinkommen weder auf die zwischen Staaten und anderen Völkerrechtssubjekten oder zwischen solchen anderen Völkerrechtssubjekten geschlossenen internationalen Übereinkünfte noch auf nicht schriftliche internationale Übereinkünfte Anwendung findet, berührt nicht
…
b)
die Anwendung einer der in diesem Übereinkommen niedergelegten Regeln auf sie, denen sie auch unabhängig von diesem Übereinkommen auf Grund des Völkerrechts unterworfen wären;
…“
12 Art. 31 („Allgemeine Auslegungsregel“) des Wiener Übereinkommens lautet:
„(1) Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.
(2) Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen
a)
jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde;
b)
jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde.
(3) Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen
a)
jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen;
b)
jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;
c)
jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.
(4) Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben.“
13 Nach Art. 34 („Allgemeine Regel betreffend Drittstaaten“) des Wiener Übereinkommens „[begründet] [e]in Vertrag … für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte“.
Unionsrecht
Assoziationsabkommen
14 Das Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. 2000, L 70, S. 2, im Folgenden: Assoziationsabkommen) wurde am 26. Februar 1996 in Brüssel unterzeichnet und durch den Beschluss 2000/204/EG, EGKS des Rates und der Kommission vom 24. Januar 2000 (ABl. 2000, L 70, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaften genehmigt. Es trat gemäß seinem Art. 96 am 1. März 2000 in Kraft, wie sich aus der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2000, L 70, S. 228) ergibt.
15 Titel VIII („Bestimmungen über die Organe, Allgemeine und Schlussbestimmungen“) des Assoziationsabkommens enthält u. a. Art. 94, wonach das Abkommen „für die Gebiete [gilt], in denen der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl angewendet werden, und nach Maßgabe jener Verträge einerseits sowie für das Gebiet des Königreichs Marokko andererseits“.
Partnerschaftliches Fischereiabkommen
16 Das partnerschaftliche Fischereiabkommen ist gemäß seinem Art. 17 am 28. Februar 2007 in Kraft getreten, wie sich aus der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2007, L 78, S. 31) ergibt.
17 Wie aus der Präambel sowie den Art. 1 und 3 des partnerschaftlichen Fischereiabkommens hervorgeht, soll damit die enge Zusammenarbeit zwischen der Union und dem Königreich Marokko, insbesondere im Rahmen des Assoziationsabkommens, vertieft werden, indem im Bereich der Fischerei eine Partnerschaft begründet wird, um in den marokkanischen Fischereizonen eine verantwortungsvolle Fischerei zu fördern und die marokkanische Fischereipolitik wirksam durchzuführen. Hierzu enthält das Abkommen u. a. Regeln für die wirtschaftliche, finanzielle, technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit der Vertragsparteien, die Bedingungen, unter denen Schiffe unter der Flagge eines Mitgliedstaats der Union Zugang zu den marokkanischen Fischereizonen haben, und die Fischereiüberwachung in diesen Zonen.
18 In diesem Rahmen ergibt sich aus Art. 5 („Zugang von [Unionsschiffen] zu den marokkanischen Fischereizonen“) des Abkommens und speziell dessen Abs. 1 und 4 sowie aus Art. 6 („Bedingungen für die Ausübung der Fangtätigkeiten“), insbesondere dessen Abs. 1, dass sich das Königreich Marokko verpflichtet hat, „[Unionsschiffen] in seinen Fischereizonen die Ausübung des Fischfangs gemäß diesem Abkommen, einschließlich des Protokolls und des Anhangs, zu gestatten“, sofern die Schiffe über eine Lizenz verfügen, die von den marokkanischen Behörden auf Antrag der Unionsbehörden ausgestellt wurde. Die Union hat sich verpflichtet, „alle geeigneten Vorkehrungen zu treffen, um zu gewährleisten, dass sich ihre Schiffe an die Bestimmungen dieses Abkommens und die für die Fangtätigkeiten in den Gewässern unter der Gerichtsbarkeit [des Königreichs Marokko] geltenden Rechtsvorschriften halten; dies geschieht im Einklang mit dem Seerechtsübereinkommen …“
19 Nach seinem Art. 11 („Geltungsbereich“) gilt das partnerschaftliche Fischereiabkommen, was das Königreich Marokko angeht, „für das Gebiet Marokkos und die Gewässer unter der Gerichtsbarkeit Marokkos“. Nach Buchst. a von Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) des Abkommens bedeutet „marokkanische Fischereizone“ im Sinne des Abkommens, seines Protokolls und seines Anhangs „die Gewässer unter der Hoheit oder der Gerichtsbarkeit Marokkos“.
20 Nach Art. 16 des partnerschaftlichen Fischereiabkommens sind das ihm beigefügte Protokoll und der Anhang mit seinen Anlagen Bestandteil des Abkommens.
Protokoll von 2013
21 Dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen war ursprünglich ein Protokoll (im Folgenden: ursprüngliches Protokoll) zur Festlegung der in Art. 5 des Abkommens vorgesehenen Fangmöglichkeiten für die Dauer von vier Jahren beigefügt.
22 Das ursprüngliche Protokoll wurde durch ein anderes Protokoll ersetzt, das im Jahr 2013 seinerseits vom Protokoll zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung nach dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen den beiden Vertragsparteien (ABl. 2013, L 328, S. 2, im Folgenden: Protokoll von 2013) abgelöst wurde. Letzteres wurde durch den Beschluss 2013/785 genehmigt und trat am 15. Juli 2014 in Kraft, wie sich aus der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2014, L 228, S. 1) ergibt.
23 Das Protokoll von 2013 ist nach seinem Art. 1 („Allgemeine Grundsätze“) „mit seinem Anhang und den Anlagen … Bestandteil des partnerschaftlichen Fischereiabkommens …, das im Rahmen des [Assoziationsabkommens] geschlossen wurde“. Es „trägt zur Verwirklichung der allgemeinen Ziele des Assoziationsabkommens bei“.
24 Nach Art. 2 („Anwendungszeitraum, Laufzeit und Fangmöglichkeiten“) des Protokolls von 2013 werden Schiffen unter der Flagge eines Mitgliedstaats der Union, sofern sie im Besitz einer Lizenz sind, die im Rahmen des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und des Protokolls von 2013 erteilt wurde, gemäß der Tabelle im Anhang des Protokolls in der marokkanischen Fischereizone für die Dauer von vier Jahren Fangmöglichkeiten (nicht industrielle Fischerei, Fischerei auf demersale Arten, pelagische Fischerei) zugeteilt. Diese können einvernehmlich angepasst werden (Art. 5 des Protokolls von 2013).
25 Der Anhang („Bedingungen für die Ausübung der Fangtätigkeiten durch Schiffe der Europäischen Union in der Marokkanischen Fischereizone“) des Protokolls von 2013 enthält ein Kapitel III („Fischereizonen“), in dem es heißt:
„[Das Königreich] Marokko übermittelt der … Union vor Beginn der Anwendung des Protokolls die geografischen Koordinaten der Basislinien und der marokkanischen Fischereizone sowie alle Sperrgebiete innerhalb dieser Fischereizone …
Die Fanggebiete für die einzelnen Kategorien in der atlantischen Zone Marokkos sind in den technischen Datenblättern (Anlage 2) festgelegt.“
26 Anlage 2 zum Anhang des Protokolls von 2013 enthält sechs technische Datenblätter (Nrn. 1 bis 6), in denen jeweils für eine ganz bestimmte Fischereikategorie die Fangbedingungen festgelegt werden, zu denen die „[g]eografische Abgrenzung des zulässigen Fanggebiets“ gehört.
27 In Anlage 4 („Koordinaten der Fischereizonen“) zum Anhang des Protokolls von 2013 wird u. a. ausgeführt: „Vor dem Inkrafttreten [des Protokolls von 2013] übermittelt das Ministerium [des Königreichs Marokko für Landwirtschaft und Seefischerei, Abteilung Seefischerei] der Kommission die geografischen Koordinaten der marokkanischen Basislinie, der marokkanischen Fischereizone und der für die Schifffahrt und den Fischfang geltenden Sperrgebiete.“
Rechtsakte zur Durchführung des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und des Protokolls von 2013
28 Mit der Verordnung Nr. 764/2006 sollte, wie aus ihrem dritten Erwägungsgrund hervorgeht, u. a. für die Laufzeit des ursprünglichen Protokolls der Schlüssel zur Aufteilung der Fangmöglichkeiten auf die Mitgliedstaaten gemäß dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen festgelegt werden. Für industrielle Fischerei auf pelagische Arten wurde dem Vereinigten Königreich eine Quote von 2500 Tonnen zugeteilt (Art. 2 der Verordnung).
29 Auch mit der Verordnung Nr. 1270/2013 sollte die Methode zur Aufteilung der Fangmöglichkeiten auf die Mitgliedstaaten festgelegt werden, und zwar für die Anwendungsdauer des Protokolls von 2013. Für industrielle pelagische Fischerei wurde dem Vereinigten Königreich eine Quote von 4525 Tonnen zugeteilt (Art. 1 der Verordnung).
Ausgangsrechtsstreitigkeiten, Verfahren vor dem Gerichtshof und Vorlagefragen
30 Die Western Sahara Campaign UK ist eine Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, die Anerkennung des Rechts des Volks der Westsahara auf Selbstbestimmung zu fördern.
31 Sie hat beim High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Kammer für Verwaltungsstreitsachen], Vereinigtes Königreich) zwei Klagen erhoben. In dem einen Rechtsstreit geht es darum, ob die Steuer- und Zollverwaltung des Vereinigten Königreichs es zulassen darf, dass in diesen Mitgliedstaat Erzeugnisse aus dem Gebiet der Westsahara eingeführt werden, die im Sinne des Assoziationsabkommens als Erzeugnisse mit Ursprung im Königreich Marokko ausgewiesen sind. Gegenstand des anderen Rechtsstreits ist die Fischereipolitik des Ministers für Umwelt, Ernährung und den ländlichen Raum des Vereinigten Königreichs, an das Gebiet der Westsahara angrenzende Gewässer in den Anwendungsbereich der Maßnahmen des innerstaatlichen Rechts einzubeziehen, die zur Durchführung des partnerschaftlichen Fischereiabkommens, des Protokolls von 2013 und der Sekundärrechtsakte dienen, mit denen die Union den Mitgliedstaaten gemäß dem Abkommen und dem Protokoll Fangmöglichkeiten zugeteilt hat.
32 Die Western Sahara Campaign UK macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, das Assoziationsabkommen, das partnerschaftliche Fischereiabkommen, das Protokoll von 2013 und die Sekundärrechtsakte, mit denen den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der genannten internationalen Übereinkünfte Fangmöglichkeiten zugeteilt würden, verstießen, soweit die Übereinkünfte auf das Gebiet der Westsahara und die angrenzenden Gewässer Anwendung fänden, gegen Art. 3 Abs. 5 EUV, nach dem die Union in ihren Beziehungen zur übrigen Welt einen Beitrag zur strikten Einhaltung des Völkerrechts und insbesondere der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen leiste. Der Einbeziehung des Gebiets der Westsahara und der angrenzenden Gewässer in den räumlichen Anwendungsbereich der genannten internationalen Übereinkünfte sei offensichtlich völkerrechtswidrig. Genauer gesagt werde damit gegen das Recht auf Selbstbestimmung, Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen, die Vorschriften des Seerechtsübereinkommens und die Verpflichtung der Staaten und der übrigen Völkerrechtssubjekte verstoßen, schwere Verstöße gegen zwingende Normen des Völkerrechts abzustellen, durch solche Verstöße entstandene Situationen nicht anzuerkennen und sich nicht an völkerrechtswidrigen Handlungen zu beteiligen. Außerdem seien das Assoziationsabkommen, das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 weder im Namen des Volkes der Westsahara geschlossen worden noch unter Einbeziehung seiner Vertreter. Im Übrigen sei nicht erwiesen, dass diese drei internationalen Übereinkünfte dem Volk der Westsahara irgendeinen Vorteil brächten.
33 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts machen die Beklagten des Ausgangsverfahrens geltend, dass die Einschätzung des Rates der Europäischen Union und der Kommission, der Abschluss von internationalen Übereinkünften wie dem Assoziationsabkommen, dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen und dem Protokoll von 2013 sei nicht völkerrechtswidrig, frei von offensichtlichen Beurteilungsfehlern sei.
34 Das vorlegende Gericht hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die ersten beiden Fragen betreffen die Auslegung und die Gültigkeit des Assoziationsabkommens, die letzten beiden die Gültigkeit des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und verschiedener Sekundärrechtsakte zu diesem Abkommen.
35 Die erste Frage betrifft die Auslegung des Assoziationsabkommens. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob mit „Königreich Marokko“ im Sinne des Abkommens nur das Gebiet gemeint ist, das unter der territorialen Souveränität dieses Staates steht, so dass die zollfreie Einfuhr von Erzeugnissen aus der Westsahara in die Union gemäß dem Abkommen ausgeschlossen wäre.
36 Mit der zweiten Frage, die für den Fall gestellt wird, dass es nach dem Assoziationsabkommen zulässig sein sollte, Erzeugnisse mit Ursprung im Gebiet der Westsahara zollfrei in die Union einzuführen, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Abkommen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV gültig ist.
37 Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts basiert auf der gleichen Hypothese wie seine zweite Frage und betrifft die Gültigkeit des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und des Protokolls von 2013. Das vorlegende Gericht möchte wissen, inwieweit die Union in Anbetracht von Art. 3 Abs. 5 EUV befugt war, mit dem Königreich Marokko internationale Übereinkünfte zu schließen, die es ermöglichen, natürliche Ressourcen der an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer auszubeuten. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist es trotz der fehlenden Anerkennung der Souveränität des Königreichs Marokko über die Westsahara durch die internationale Gemeinschaft und die anhaltende Besetzung dieses Gebiets ohne Selbstregierung durch Marokko durchaus denkbar, dass der Abschluss solcher internationalen Übereinkünfte nicht generell und absolut verboten ist. Die internationalen Übereinkünfte müssten aber dem Willen des Volkes der Westsahara entsprechen und diesem einen Vorteil verschaffen. Der Gerichtshof habe daher zu beurteilen, inwieweit das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 diese beiden Voraussetzungen erfüllten.
38 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Person wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die nach innerstaatlichem Recht klagebefugt ist, geltend machen kann, dass internationale Übereinkünfte wie das Assoziationsabkommen, das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 sowie die Rechtsakte über den Abschluss und die Durchführung dieser Übereinkünfte wegen Verstoßes gegen das Völkerrecht ungültig sind. Hierzu führt es aus, nach innerstaatlichem Recht wären die Klagen, weil die Rechtmäßigkeit des Verhaltens ausländischer Stellen zu beurteilen wäre, als unzulässig abzuweisen. In seinem Urteil vom 15. Juni 1954, Monetary Gold Removed from Rome in 1943 (I.C.J. Reports 1954, S. 19), habe der Internationale Gerichtshof entschieden, dass er nach seinem Statut keine Feststellungen treffen dürfe, mit denen ein Staat, der nicht Streitpartei sei und auch nicht erklärt habe, durch die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs gebunden sein zu wollen, wegen seines Verhaltens gerügt oder in seinen Rechten verletzt werde. Gegenstand der Rechtsstreitigkeiten des Ausgangsverfahrens sei aber die Gültigkeit von Rechtsakten der Union. Sollte sich der Gerichtshof für unzuständig erklären, wenn ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit dieser Rechtsakte bestünden, könnte dadurch die praktische Wirksamkeit von Art. 3 Abs. 5 EUV beeinträchtigt werden.
39 Nach der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens hat der Gerichtshof entschieden, dass das Assoziationsabkommen nach den Völkerrechtssätzen, die die Union binden, dahin auszulegen ist, dass es auf das Gebiet der Westsahara keine Anwendung findet (Urteil vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario, C‑104/16 P, EU:C:2016:973).
40 Im Anschluss an die Verkündung dieses Urteils hat das vorlegende Gericht auf Nachfrage mitgeteilt, dass es die ersten beiden Fragen zur Auslegung und Gültigkeit des Assoziationsabkommens zurücknehme.
41 Der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Kammer für Verwaltungsstreitsachen], Vereinigtes Königreich) hat deshalb beschlossen, an folgenden Fragen festzuhalten:
1. Ist das partnerschaftliche Fischereiabkommen, wie es durch die Verordnung Nr. 764/2006, den Beschluss 2013/785 und die Verordnung Nr. 1270/2013 genehmigt und durchgeführt worden ist, im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV, nach dem die Union verpflichtet ist, einen Beitrag zur Einhaltung sämtlicher anwendbarer Grundsätze des Völkerrechts und zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen zu leisten, gültig, wenn berücksichtigt wird, inwieweit es zum Wohl des Volkes der Westsahara, in dessen Namen, mit dessen Willen und/oder unter Hinzuziehung anerkannter Vertreter von ihm abgeschlossen wurde?
2. Kann die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend machen, dass Unionsrechtsakte wegen Verstoßes gegen das Völkerrecht ungültig sind, wenn berücksichtigt wird,
a)
dass sie sich nicht auf Rechte aus dem Unionsrecht beruft, obwohl sie nach innerstaatlichem Recht die Ungültigkeit von Unionsrecht geltend machen könnte, und/oder
b)
dass der Internationale Gerichtshof nach dem Grundsatz, den er im Urteil vom 15. Juni 1954, Monetary Gold Removed from Rome in 1943 (I.C.J. Reports 1954, S. 19), aufgestellt hat, keine Feststellungen treffen darf, mit denen ein Staat, der nicht Streitpartei ist und auch nicht erklärt hat, durch die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs gebunden sein zu wollen, wegen seines Verhaltens gerügt oder in seinen Rechten verletzt wird?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
42 Der Rat vertritt die Auffassung, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens sei der Gerichtshof nicht befugt, die Gültigkeit internationaler Übereinkünfte wie des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und des Protokolls von 2013 zu prüfen. Er habe allein über die Gültigkeit der Unionsrechtsakte zu befinden, mit denen die Übereinkünfte geschlossen worden seien.
43 Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof nach Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV und Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts und über die Gültigkeit der Handlungen der Unionsorgane entscheidet.
44 Wie sich aus diesen Bestimmungen ergibt, ist der Gerichtshof befugt, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Unionsorgane zu entscheiden, und zwar ohne jede Ausnahme (Urteile vom 13. Dezember 1989, Grimaldi, C‑322/88, EU:C:1989:646, Rn. 8, und vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 30).
45 Für die Union stellt eine von ihr gemäß den Vorschriften der Verträge geschlossene internationale Übereinkunft aber nach ständiger Rechtsprechung eine Handlung eines Unionsorgans dar (Urteile vom 16. Juni 1998, Racke, C‑162/96, EU:C:1998:293, Rn. 41, und vom 25. Februar 2010, Brita, C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 39).
46 Solche internationale Übereinkünfte sind ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil der Rechtsordnung der Union (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 1974, Haegeman, 181/73, EU:C:1974:41, Rn. 5, und vom 22. November 2017, Aebtri, C‑224/16, EU:C:2017:880, Rn. 50). Ihre Bestimmungen müssen deshalb mit den Verträgen und den aus ihnen abzuleitenden Verfassungsgrundsätzen im Einklang stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 285, und Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 67). Insbesondere müssen sie inhaltlich mit den Vorschriften über die Zuständigkeiten der Unionsorgane und den anwendbaren materiell-rechtlichen Vorschriften im Einklang stehen. Darüber hinaus müssen die Modalitäten ihres Abschlusses den anwendbaren Form- und Verfahrensvorschriften des Unionsrechts genügen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/75 [OECD-Vereinbarung – Norm für die lokalen Kosten] vom 11. November 1975, EU:C:1975:145, S. 1360 und 1361, und Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 69 und 70).
47 Überdies muss die Union nach ständiger Rechtsprechung ihre Befugnisse unter Beachtung des gesamten Völkerrechts ausüben, also nicht nur der Regeln und Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts und des Völkergewohnheitsrechts, sondern auch der Vorschriften der internationalen Übereinkünfte, die sie binden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation, C‑286/90, EU:C:1992:453, Rn. 9, vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 291, und vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a., C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 101 und 123).
48 Demnach hat der Gerichtshof sowohl im Rahmen einer Nichtigkeitsklage als auch im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zu beurteilen, ob eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft mit den Verträgen vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/75 [OECD-Vereinbarung – Norm für die lokalen Kosten] vom 11. November 1975, EU:C:1975:145, S. 1361) sowie mit den Regeln des Völkerrechts, die die Union nach den Verträgen binden.
49 Überdies binden die von der Union geschlossenen internationalen Übereinkünfte nicht nur die Unionsorgane (Art. 216 Abs. 2 AEUV), sondern auch die Drittstaaten, die Vertragsparteien der Übereinkunft sind.
50 Wird der Gerichtshof – wie hier – um Vorabentscheidung über die Gültigkeit einer von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft ersucht, ist somit davon auszugehen, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen auf den Rechtsakt bezieht, mit dem die Union die internationale Übereinkunft geschlossen hat (vgl. entsprechend Urteile vom 9. August 1994, Frankreich/Kommission, C‑327/91, EU:C:1994:305, Rn. 17, und vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 286 und 289).
51 Bei der Kontrolle der Gültigkeit des Rechtsakts, mit dem die Union die internationale Übereinkunft geschlossen hat, kann der Gerichtshof wegen der oben in den Rn. 46 und 47 dargestellten Verpflichtungen der Union aber auch zu überprüfen haben, ob sie im Hinblick auf den Inhalt der Übereinkunft rechtmäßig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 289 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Vorbemerkungen
52 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 764/2006, der Beschluss 2013/785 und die Verordnung Nr. 1270/2013 im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV gültig sind.
53 Das vorlegende Gericht geht dabei davon aus, dass das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 die Ausbeutung der Ressourcen der an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer zulassen (siehe oben, Rn. 37), d. h., dass diese Gewässer in den räumlichen Anwendungsbereich des Abkommens und des Protokolls fallen, so dass Schiffe unter der Flagge der Mitgliedstaaten aufgrund dieser internationalen Übereinkünfte in die Gewässer einfahren dürfen, um die betreffenden Ressourcen auszubeuten.
54 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht also letztlich wissen, ob die Verordnung Nr. 764/2006, der Beschluss 2013/785 und die Verordnung Nr. 1270/2013 ungültig sind, weil das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 die Ausbeutung der Ressourcen der an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer zulassen.
55 Diese Frage stellt sich aber erst dann, wenn die Annahme, auf der sie beruht, zutrifft.
56 Deshalb ist zunächst zu prüfen, ob die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer in den Anwendungsbereich des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und des Protokolls von 2013 fallen. Hierfür ist anhand der einschlägigen Vorschriften der räumliche Anwendungsbereich dieser beiden internationalen Übereinkünfte zu bestimmen.
Zum räumlichen Anwendungsbereich des partnerschaftlichen Fischereiabkommens
57 Der räumliche Anwendungsbereich des partnerschaftlichen Fischereiabkommens ist in drei Vorschriften geregelt. Das Abkommen gilt nach seinem Art. 11 hinsichtlich des Königreichs Marokko „für das Gebiet Marokkos und die Gewässer unter der Gerichtsbarkeit Marokkos“. Speziell in Bezug auf die Ausübung des Fischfangs bestimmt Art. 5 des Abkommens, dass Schiffen unter der Flagge eines Mitgliedstaats „in [den] Fischereizonen [des Königreichs Marokko] die Ausübung des Fischfangs“ gestattet ist. Und nach Art. 2 Buchst. a des Abkommens bedeutet „marokkanische Fischereizone“„die Gewässer unter der Hoheit oder der Gerichtsbarkeit Marokkos“.
58 Für die Auslegung dieser Bestimmungen sind die in Art. 31 des Wiener Übereinkommens wiedergegebenen Regeln des Völkergewohnheitsrechts maßgeblich, die die Organe der Union binden und Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2010, Brita, C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 40 bis 43 und die dort angeführte Rechtsprechung), ferner das Seerechtsübereinkommen, das die Union bindet und auf das im zweiten Absatz der Präambel des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und in dessen Art. 5 Abs. 4 ausdrücklich Bezug genommen wird.
59 Nach dem ersten Absatz seiner Präambel entspricht das partnerschaftliche Fischereiabkommen dem Wunsch der Union und des Königreichs Marokko, die enge Zusammenarbeit zu vertiefen, die sich insbesondere im Rahmen des Assoziationsabkommens entwickelt hat. Es gehört zu einer ganzen Reihe von internationalen Übereinkünften, die im Rahmen des Assoziationsabkommens geschlossen wurden.
60 Klar zum Ausdruck gebracht wird die Struktur dieses Systems internationaler Übereinkünfte durch das als spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Buchst. a des Wiener Übereinkommens bei der Auslegung des partnerschaftlichen Fischereiabkommens zu berücksichtigende Protokoll von 2013, in dessen Art. 1 es heißt, dass sowohl das Protokoll als auch das partnerschaftliche Fischereiabkommen im Rahmen des Assoziationsabkommens geschlossen wurden und zur Verwirklichung seiner Ziele beitragen.
61 Angesichts der Existenz dieses Bündels internationaler Übereinkünfte ist der Begriff „Gebiet Marokkos“ in Art. 11 des partnerschaftlichen Fischereiabkommens ebenso zu verstehen wie der Begriff „Gebiet des Königreichs Marokko“ in Art. 94 des Assoziationsabkommens.
62 Der Gerichtshof hat aber bereits entschieden, dass mit dem Ausdruck „Gebiet des Königreichs Marokko“ in Art. 94 des Assoziationsabkommens der räumliche Bereich gemeint ist, in dem das Königreich Marokko sämtliche Befugnisse ausübt, die souveränen Einheiten nach dem Völkerrecht zustehen, nicht aber andere Gebiete wie etwa das Gebiet der Westsahara (Urteil vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario, C‑104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 95 und 132).
63 Die Einbeziehung des Gebiets der Westsahara in den Anwendungsbereich des Assoziationsabkommens würde nämlich gegen einige Regeln des allgemeinen Völkerrechts verstoßen, die in den Beziehungen zwischen der Union und dem Königreich Marokko anwendbar sind, und zwar gegen den Grundsatz der Selbstbestimmung, auf den in Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen hingewiesen wird, und gegen den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen, der in Art. 34 des Wiener Übereinkommens eine besondere Ausprägung gefunden hat (Urteil vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario, C‑104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 88 bis 93, 100, 103 bis 107 und 123).
64 Das Gebiet der Westsahara fällt demnach nicht unter den Begriff „Gebiet Marokkos“ im Sinne von Art. 11 des partnerschaftlichen Fischereiabkommens.
65 Das partnerschaftliche Fischereiabkommen gilt aber nicht nur für das Gebiet des Königreichs Marokko, sondern auch für „die Gewässer unter der Gerichtsbarkeit“ dieses Staates (siehe oben, Rn. 57). Dieser Ausdruck kommt im Assoziationsabkommen nicht vor.
66 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 58), ist für seine Auslegung das Seerechtsübereinkommen maßgeblich.
67 Nach Art. 2 Abs. 1 des Seerechtsübereinkommens erstreckt sich die Souveränität eines Küstenstaats jenseits seines Landgebiets und seiner inneren Gewässer auf einen angrenzenden Meeresstreifen, der als „Küstenmeer“ bezeichnet wird. Darüber hinaus werden dem Küstenstaat in einer Zone jenseits des Küstenmeers, die als „ausschließliche Wirtschaftszone“ bezeichnet wird, Hoheitsbefugnisse und bestimmte Rechte zuerkannt (Art. 55 und 56 des Seerechtsübereinkommens).
68 Nach dem Seerechtsübereinkommen darf der Küstenstaat seine Souveränität oder Hoheitsbefugnisse also lediglich über die angrenzenden Gewässer seines Küstenmeers bzw. seiner ausschließlichen Wirtschaftszone ausüben.
69 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 62 bis 64), gehört das Gebiet der Westsahara jedoch nicht zum Gebiet des Königreichs Marokko, so dass die daran angrenzenden Gewässer nicht Teil der „marokkanische[n] Fischereizone“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a des partnerschaftlichen Fischereiabkommens sind.
70 In Erwägung zu ziehen ist schließlich noch, dass die Parteien eines Vertrags einem darin vorkommenden Ausdruck nach Art. 31 Abs. 4 des Wiener Übereinkommens eine besondere Bedeutung beilegen können.
71 Mit den oben in Rn. 63 angeführten, von der Union zu beachtenden und hier entsprechend anwendbaren Regeln des Völkerrechts wäre es aber nicht zu vereinbaren, die unmittelbar an die Küste des Gebiets der Westsahara angrenzenden Gewässer als „Gewässer unter der Hoheit … Marokkos“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a des partnerschaftlichen Fischereiabkommens in dessen Anwendungsbereich einzubeziehen. Eine dahin gehende Absicht des Königreichs Marokko kann die Union daher nicht wirksam unterstützen.
72 Hinsichtlich des Ausdrucks „Gewässer unter … der Gerichtsbarkeit Marokkos“ in Art. 2 Buchst. a des partnerschaftlichen Fischereiabkommens haben der Rat und die Kommission u. a. in Betracht gezogen, dass das Königreich Marokko als eine „De-facto-Verwaltungsmacht“ oder eine Besatzungsmacht des Gebiets der Westsahara anzusehen sein könnte, und die Auffassung vertreten, dass eine solche Einstufung für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des partnerschaftlichen Fischereiabkommens relevant sein könnte. Es braucht jedoch nicht geprüft zu werden, ob eine etwaige gemeinsame Absicht der Parteien des partnerschaftlichen Fischereiabkommens, dem genannten Ausdruck eine solche besondere Bedeutung beizulegen, mit den Regeln des Völkerrechts, die die Union binden, vereinbar wäre. Denn eine solche gemeinsame Absicht kann hier nicht festgestellt werden. Das Königreich Marokko hat kategorisch ausgeschlossen, Besatzungs- oder Verwaltungsmacht des Gebiets der Westsahara zu sein.
73 Nach alledem ist festzustellen, dass die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer nicht unter den Begriff „Gewässer unter der Hoheit oder der Gerichtsbarkeit [des Königreichs Marokko]“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a des partnerschaftlichen Fischereiabkommens fallen.
Zum räumlichen Anwendungsbereich des Protokolls von 2013
74 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 21 und 22), gehört das Protokoll von 2013 zu einer ganzen Reihe von Protokollen, mit denen zugunsten von Schiffen unter der Flagge der Mitgliedstaaten für einen bestimmten Zeitraum die Fangmöglichkeiten gemäß Art. 5 des partnerschaftlichen Fischereiübereinkommens festgelegt wurden.
75 Anders als das partnerschaftliche Fischereiabkommen enthält das Protokoll von 2013 keine speziellen Bestimmungen über seinen räumlichen Anwendungsbereich.
76 In verschiedenen Bestimmungen des Protokolls wird jedoch der Ausdruck „marokkanische Fischereizone“ verwendet.
77 Dieser Ausdruck stimmt aber mit dem in Art. 2 Buchst. a des partnerschaftlichen Fischereiabkommens verwendeten Ausdruck überein. Hierzu heißt es in dieser Bestimmung, dass damit die „Gewässer unter der Hoheit oder der Gerichtsbarkeit Marokkos“ gemeint sind und dass diese Begriffsbestimmung nicht nur für das Abkommen gilt, sondern auch für das ihm beigefügte Protokoll samt Anhang. Außerdem ergibt sich aus Art. 16 des partnerschaftlichen Fischereiabkommens und aus Art. 1 des Protokolls von 2013, dass das Protokoll und der Anhang mit seinen Anlagen Bestandteil des Abkommens sind.
78 Mit dem Ausdruck „marokkanische Fischereizone“, der sowohl im partnerschaftlichen Fischereiabkommen als auch im Protokoll von 2013 zur Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs verwendet wird, sind demnach Gewässer unter der Hoheit oder der Gerichtsbarkeit des Königreichs Marokko gemeint.
79 Folglich fallen die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer nach der oben in Rn. 73 vorgenommenen Auslegung nicht unter den Begriff „marokkanische Fischereizone“ im Sinne des Protokolls von 2013.
80 Ferner heißt es in Kapitel III („Fischereizonen“) des Anhangs des Protokolls von 2013: „[Das Königreich] Marokko übermittelt der … Union vor Beginn der Anwendung des Protokolls die geografischen Koordinaten der Basislinien und der marokkanischen Fischereizone …“ In Anlage 4 („Koordinaten der Fischereizonen“) zum Anhang wird hierzu ausgeführt: „Vor dem Inkrafttreten [des Protokolls von 2013] übermittelt das Ministerium [für Landwirtschaft und Seefischerei des Königreichs Marokko, Abteilung Seefischerei] der Kommission die geografischen Koordinaten der marokkanischen Basislinie, der marokkanischen Fischereizone und der für die Schifffahrt und den Fischfang geltenden Sperrgebiete.“
81 Insoweit ergibt sich aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, dass diese geografischen Koordinaten erst am 16. Juli 2014 übermittelt wurden. Sie gehören, da das Protokoll von 2013 am 15. Juli 2014 in Kraft getreten ist, nicht zu dem von den Vertragsparteien vereinbarten Text des Protokolls.
82 Im Hinblick auf die oben in Rn. 79 vorgenommene Auslegung des Ausdrucks „marokkanische Fischereizone“ und die dazu angestellten Erwägungen ist jedenfalls festzustellen, dass die geografischen Koordinaten, selbst wenn sie vor dem Inkrafttreten des Protokolls von 2013 übermittelt worden wären, diese Auslegung nicht hätten in Frage stellen und den Anwendungsbereich des Protokolls von 2013 nicht auf die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer hätten ausdehnen können.
83 Das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 sind somit nach den die Union bindenden und auf die Beziehungen zwischen der Union und dem Königreich Marokko anwendbaren Regeln des Völkerrechts dahin auszulegen, dass die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer weder in den räumlichen Anwendungsbereich des partnerschaftlichen Fischereiabkommens noch in den des Protokolls von 2013 fallen.
84 Die gegenteilige Annahme, die den Fragen des vorlegenden Gerichts zur Gültigkeit der Verordnung Nr. 764/2006, des Beschlusses 2013/785 und der Verordnung Nr. 1270/2013 zugrunde liegt (siehe oben, Rn. 53 und 54), trifft mithin nicht zu.
85 Deshalb ist auf die erste Frage zu antworten, dass ihre Prüfung, bei der festgestellt wurde, dass auf die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer weder das partnerschaftliche Fischereiabkommen noch das Protokoll von 2013 Anwendung findet, nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Verordnung Nr. 764/2006, des Beschlusses 2013/785 und der Verordnung Nr. 1270/2013 im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV berühren könnte.
Zur zweiten Frage
86 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob jemand, der wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens nach innerstaatlichem Recht klagebefugt ist, geltend machen kann, dass die Rechtsakte, mit denen das partnerschaftliche Fischereiabkommen und das Protokoll von 2013 geschlossen und durchgeführt worden sind, wegen Verstoßes der Union gegen das Völkerrecht ungültig sind.
87 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
88 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der ersten Vorlagefrage, bei der festgestellt wurde, dass auf die an das Gebiet der Westsahara angrenzenden Gewässer weder das partnerschaftliche Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko noch das Protokoll zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung nach dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen den beiden Vertragsparteien Anwendung findet, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 764/2006 des Rates vom 22. Mai 2006 über den Abschluss des genannten Abkommens, des Beschlusses 2013/785/EU des Rates vom 16. Dezember 2013 über den Abschluss des genannten Protokolls und der Verordnung (EU) Nr. 1270/2013 des Rates vom 15. November 2013 über die Aufteilung der Fangmöglichkeiten nach dem genannten Protokoll im Hinblick auf Art. 3 Abs. 5 EUV berühren könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 7. Februar 2018.#American Express Co. gegen The Lords Commissioners of Her Majesty’s Treasury.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie (EU) 2015/2366 – Zahlungsdienste im Binnenmarkt – Art. 35 Abs. 1 – Anforderungen im Bereich des Zugangs zugelassener oder registrierter Zahlungsdienstleister zu Zahlungssystemen – Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b – Unanwendbarkeit dieser Anforderungen auf Zahlungssysteme, die ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern bestehen – Anwendbarkeit dieser Anforderungen auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, die eine Vereinbarung über Co‑Branding oder Agentur abgeschlossen haben – Gültigkeit.#Rechtssache C-643/16.
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62016CJ0643
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ECLI:EU:C:2018:67
| 2018-02-07T00:00:00 |
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016CJ0643
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
7. Februar 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie (EU) 2015/2366 – Zahlungsdienste im Binnenmarkt – Art. 35 Abs. 1 – Anforderungen im Bereich des Zugangs zugelassener oder registrierter Zahlungsdienstleister zu Zahlungssystemen – Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b – Unanwendbarkeit dieser Anforderungen auf Zahlungssysteme, die ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern bestehen – Anwendbarkeit dieser Anforderungen auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, die eine Vereinbarung über Co‑Branding oder Agentur abgeschlossen haben – Gültigkeit“
In der Rechtssache C‑643/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungskammer], Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 19. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Dezember 2016, in dem Verfahren
The Queen, auf Antrag von:
American Express Company,
gegen
The Lords Commissioners of Her Majesty’s Treasury,
Beteiligte:
Diners Club International Limited,
MasterCard Europe SA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. G. Fernlund, J.‑C. Bonichot, S. Rodin und E. Regan (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der American Express Company, vertreten durch J. Turner, QC, J. Holmes, QC, L. John, Barrister, sowie I. Taylor und H. Ware, Solicitors,
–
der MasterCard Europe SA, vertreten durch P. Harrison und S. Kinsella, Solicitors, Rechtsanwälte S. Pitt und J. Bedford,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch D. Robertson als Bevollmächtigten im Beistand von G. Facenna, QC,
–
des Europäischen Parlaments, vertreten durch R. van de Westelaken und A. Tamás als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch J. Bauerschmidt, I. Gurov und E. Moro als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe und J. Samnadda als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung und Gültigkeit von Art. 35 der Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 2002/65/EG, 2009/110/EG, 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2007/64/EG (ABl. 2015, L 337, S. 35).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der American Express Company und The Lords Commissioners of Her Majesty’s Treasury (Lords Commissioners des Finanzministeriums, Vereinigtes Königreich, im Folgenden: Lords Commissioners) wegen der Voraussetzungen, unter denen die Bestimmungen über den Zugang zugelassener oder registrierter Zahlungsdienstleister zu Zahlungssystemen auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren anwendbar sind.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EU) 2015/751
3 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge (ABl. 2015, L 123, S. 1) heißt es:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
17. ‚Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren‘ ein Kartenzahlverfahren, bei dem vom Zahlungskonto eines Zahlers kartengebundene Zahlungsvorgänge auf das Zahlungskonto eines Zahlungsempfängers geleistet werden, unter Zwischenschaltung des Kartenzahlverfahrens, eines Emittenten (auf der Seite des Zahlers) und eines Acquirers (auf der Seite des Zahlungsempfängers);
…
30. ‚Zahlungsmarke‘ jeder reale oder digitale Name, jeder materielle oder digitale Begriff, jedes materielle oder digitale Zeichen, jedes materielle oder digitale Symbol oder jede Kombination davon, unter dem bzw. der die kartengebundenen Zahlungsvorgänge abgewickelt werden;
…
32. ‚Co‑branding‘ das Aufnehmen von mindestens einer Zahlungsmarke und mindestens einer Nicht-Zahlungsmarke auf dasselbe kartengebundene Zahlungsinstrument;
…“
Richtlinie 2015/2366
4 In den Erwägungsgründen 2, 6, 49, 50 und 52 der Richtlinie 2015/2366 heißt es:
„(2)
Der überarbeitete Rechtsrahmen der Union für Zahlungsdienste wird durch die [Verordnung 2015/751] ergänzt. …
…
(6) Zur Schließung der Regulierungslücken sollten neue Vorschriften vorgesehen werden, und gleichzeitig sollte mehr Rechtsklarheit geschaffen und die unionsweit einheitliche Anwendung des rechtlichen Rahmens sichergestellt werden. …
…
(49) Jeder Zahlungsdienstleister muss unbedingt Zugang zu den technischen Infrastrukturdiensten der Zahlungssysteme haben. Der Zugang sollte jedoch bestimmten Anforderungen unterliegen, um die Integrität und Stabilität dieser Systeme zu gewährleisten. Jeder Zahlungsdienstleister, der die Teilnahme an einem Zahlungssystem beantragt, sollte die Entscheidung für ein System auf eigenes Risiko treffen und gegenüber dem Zahlungssystem den Nachweis erbringen, dass seine internen Vorkehrungen hinreichend solide sind, um allen Arten von Risiken standhalten zu können. Typische Beispiele für solche Zahlungssysteme sind die Vier-Parteien-Kartensysteme sowie die wichtigsten Überweisungs- und Lastschriftsysteme. Um zwischen den einzelnen Kategorien von zugelassenen Zahlungsdienstleistern entsprechend ihrer Zulassung eine unionsweite Gleichbehandlung zu gewährleisten, sollten die Regeln für den Zugang zu Zahlungssystemen präzisiert werden.
(50) Es sollte sichergestellt werden, dass es zwischen zugelassenen Zahlungsinstituten und Kreditinstituten zu keinerlei Diskriminierung kommt, so dass alle im Binnenmarkt konkurrierenden Zahlungsdienstleister die technischen Infrastrukturdienste dieser Zahlungsverkehrssysteme zu denselben Bedingungen nutzen können. Es sollte wegen des jeweils unterschiedlichen Aufsichtsrahmens eine unterschiedliche Behandlung zugelassener Zahlungsdienstleister und solcher, die sowohl unter eine Ausnahme nach dieser Richtlinie als auch unter die Ausnahmeregelung nach Artikel 3 der Richtlinie 2009/110/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von E‑Geld-Instituten, zur Änderung der Richtlinien 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2000/46/EG (ABl. 2009, L 267, S. 7)] fallen, vorgesehen werden. Unterschiedliche Preise sollten jedoch nur dann erlaubt sein, wenn den Zahlungsdienstleistern unterschiedlich hohe Kosten entstehen. …
…
(52) Die Bestimmungen über den Zugang zu den Zahlungssystemen sollten nicht für Systeme gelten, die von einem einzigen Zahlungsdienstleister eingerichtet und betrieben werden. Solche Zahlungssysteme können zwar auch in unmittelbarem Wettbewerb mit anderen Zahlungssystemen stehen, in der Regel aber besetzen sie eine Marktnische, die von diesen nicht ausreichend abgedeckt wird. Zu diesen Systemen zählen Dreiparteiensysteme wie Drei-Parteien-Kartensysteme, solange sie niemals de facto – beispielsweise durch Rückgriff auf Lizenznehmer, Agenten oder Markenpartner (‚Co‑Branding-Partner‘) – als Vier-Parteien-Kartensysteme betrieben werden. Zu ihnen zählen in der Regel auch Zahlungsdienste von Telekommunikationsdiensten, bei denen der Betreiber der Zahlungsdienstleister sowohl des Zahlers als auch des Zahlungsempfängers ist, sowie interne Systeme von Bankengruppen. Um den Wettbewerb zwischen diesen geschlossenen Zahlungssystemen und den etablierten gängigen Zahlungssystemen anzuregen, wäre es nicht angebracht, Dritten Zugang zu diesen geschlossenen firmeneigenen Zahlungssystemen zu gewähren. …“
5 Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 in Titel I („Gegenstand, Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2015/2366 sieht vor:
„In dieser Richtlinie werden die Regeln festgelegt, nach denen die Mitgliedstaaten die folgenden Kategorien von Zahlungsdienstleistern unterscheiden:
a)
Kreditinstitute im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Nummer 1 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 (ABl. 2013, L 176, S. 1)], einschließlich deren Zweigstellen im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Nummer 17 der genannten Verordnung, sofern sich diese Zweigstellen innerhalb der Union befinden, unabhängig davon, ob sich die Hauptverwaltungen dieser Zweigstellen innerhalb der Union befinden oder gemäß Artikel 47 der Richtlinie 2013/36/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG (ABl. 2013, L 176, S. 338)] und nationalem Recht außerhalb der Union;
b)
E‑Geld-Institute im Sinne des Artikels 2 Nummer 1 der Richtlinie [2009/110] einschließlich deren Zweigniederlassungen gemäß Artikel 8 der genannten Richtlinie und dem nationalen Recht, sofern sich die Zweigniederlassungen innerhalb der Union befinden und die Hauptverwaltung des E‑Geld-Instituts, dem sie angehören, sich außerhalb der Union befindet und nur insofern, als die von diesen Zweigniederlassungen erbrachten Zahlungsdienste mit der Ausgabe von E‑Geld in Zusammenhang stehen;
c)
Postscheckämter, die nach nationalem Recht zur Erbringung von Zahlungsdiensten berechtigt sind;
d)
Zahlungsinstitute;
e)
die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken, wenn sie nicht in ihrer Eigenschaft als Währungsbehörden oder andere Behörden handeln;
f)
die Mitgliedstaaten oder ihre regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften, wenn sie nicht in ihrer Eigenschaft als Behörden handeln.“
6 In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2015/2366 heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
3. ‚Zahlungsdienst‘ eine oder mehrere der in Anhang I aufgeführten gewerblichen Tätigkeiten;
4. ‚Zahlungsinstitut‘ eine juristische Person, der nach Artikel 11 eine Zulassung für die unionsweite Erbringung und Ausführung von Zahlungsdiensten erteilt wurde;
…
7. ‚Zahlungssystem‘ ein System zum Transfer von Geldbeträgen mit formalen und standardisierten Regeln und einheitlichen Vorschriften für die Verarbeitung, das Clearing und/oder die Verrechnung von Zahlungsvorgängen;
…
11. ‚Zahlungsdienstleister‘ eine Stelle im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 oder eine natürliche oder juristische [Person], für die die Ausnahme gemäß Artikel 32 oder 33 gilt;
…
38. ‚Agent‘ eine natürliche oder juristische Person, die im Namen eines Zahlungsinstituts Zahlungsdienste ausführt;
…
40. ‚Gruppe‘ eine Gruppe von Unternehmen, die untereinander durch eine in Artikel 22 Absätze 1, 2 oder 7 der Richtlinie 2013/34/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates (ABl. 2013, L 182, S. 19)] genannte Beziehung verbunden sind, oder Unternehmen im Sinne der Artikel 4, 5, 6 und 7 der delegierten Verordnung (EU) Nr. 241/2014 der Kommission [vom 7. Januar 2014 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf technische Regulierungsstandards für die Eigenmittelanforderungen an Institute (ABl. 2014, L 74, S. 8)], die untereinander durch eine in Artikel 10 Absatz 1 oder Artikel 113 Absätze 6 oder 7 der Verordnung [575/2013] genannte Beziehung verbunden sind;
…
47. ‚Zahlungsmarke‘ jeder reale oder digitale Name, jeder reale oder digitale Begriff, jedes reale oder digitale Zeichen, jedes reale oder digitale Symbol oder jede Kombination davon, unter dem bzw. der die kartengebundenen Zahlungsvorgänge abgewickelt werden;
…“
7 Titel II („Zahlungsdienstleister“) der Richtlinie 2015/2366 enthält das Kapitel I („Zahlungsinstitute“), zu dem Art. 11 („Erteilung der Zulassung“) dieser Richtlinie gehört. In Art. 11 Abs. 1 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten schreiben vor, dass andere Unternehmen als Unternehmen im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 Buchstaben a, b, c, e und f sowie andere als die unter die Ausnahmen der Artikel 32 oder 33 fallende natürliche oder juristische Personen, die Zahlungsdienste zu erbringen beabsichtigen, vor dem Beginn der Erbringung von Zahlungsdiensten die Zulassung als Zahlungsinstitut erlangen müssen. …“
8 Titel II dieser Richtlinie enthält das Kapitel II („Gemeinsame Bestimmungen“), das Art. 35 („Zugang zu Zahlungssystemen“) dieser Richtlinie enthält. Darin heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Vorschriften für den Zugang zugelassener oder registrierter Zahlungsdienstleister, die juristische Personen sind, zu Zahlungssystemen objektiv, nicht diskriminierend und verhältnismäßig sind und dass diese Vorschriften den Zugang zu diesen Systemen nicht stärker einschränken, als es für die Absicherung bestimmter Risiken, wie beispielsweise Erfüllungsrisiko, operationelles Risiko und unternehmerisches Risiko, sowie den Schutz der finanziellen und operativen Stabilität des Zahlungssystems nötig ist.
Zahlungssysteme dürfen Zahlungsdienstleistern, Zahlungsdienstnutzern oder anderen Zahlungssystemen keine der folgenden Beschränkungen auferlegen:
a)
restriktive Regelungen über die effektive Teilnahme an anderen Zahlungssystemen;
b)
Regelungen, die zugelassene Zahlungsdienstleister oder registrierte Zahlungsdienstleister untereinander in Bezug auf Rechte, Pflichten und Ansprüche der Teilnehmer des Zahlungssystems unterschiedlich behandeln;
c)
Beschränkungen, die auf den institutionellen Status des Instituts abstellen.
2. Absatz 1 gilt nicht für
…
b)
Zahlungssysteme, die ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern bestehen.
…“
9 Anhang I („Zahlungsdienste“) der Richtlinie 2015/2366 führt die Tätigkeiten gemäß Art. 4 Nr. 3 dieser Richtlinie auf, die als Zahlungsdienste im Sinne dieser Richtlinie betrachtet werden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 Laut der Vorlageentscheidung ist American Express eine internationale Dienstleistungsgesellschaft, die mit Unterstützung ihrer konsolidierten Tochtergesellschaften Zahlungs-, Reise-, Geldwechsel- und Kundenbindungsdienstleistungen anbietet. Gleichzeitig erbringt sie in der ganzen Welt einschließlich der Europäischen Union Kartenausgabe‑ sowie Annahme‑ und Abrechnungsdienste. American Express betreibt mit ihren Tochtergesellschaften das Kartenzahlverfahren American Express (im Folgenden: Amex), ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren. Amex hat in der Union Co‑Branding-Vereinbarungen und Dienstleistungsverträge geschlossen, was je nach der Antwort, die der Gerichtshof auf die gestellte Frage zur Auslegung von Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 geben wird, dazu führen könnte, dass es den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen im Bereich des Zugangs nachkommen muss.
11 Die im Ausgangsverfahren beklagten Lords Commissioners stehen an der Spitze des Finanzministeriums (Her Majesty’s Treasury, Vereinigtes Königreich). Sie tragen die endgültige Verantwortung für die Erfüllung der dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland obliegenden Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Anwendung, der Durchsetzung und jeder anderen Form der Durchführung der Richtlinie 2015/2366.
12 American Express beantragte beim vorlegenden Gericht die Zulassung einer Klage auf richterliche Überprüfung („judicial review“) der „Absicht und/oder Verpflichtung der [Lords Commissioners], Art. 35 Abs. 1 [der Richtlinie 2015/2366] anzuwenden, durchzusetzen oder in jeder anderen Form durchzuführen, soweit er die Bedingung des Co‑Branding und/oder der Agentur vorsieht“. Das vorlegende Gericht hat die Klage zugelassen.
13 Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 dahin auszulegen ist, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das Vereinbarungen über Co‑Branding oder Agentur abgeschlossen hat, von den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen befreit ist. Nach Ansicht dieses Gerichts ist es insbesondere nicht möglich, aus dem 52. Erwägungsgrund dieser Richtlinie eine klare Antwort auf diese Frage abzuleiten.
14 Sollte der Gerichtshof entscheiden, dass diese Anforderungen auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, die Vereinbarungen über Co‑Branding oder Agentur abgeschlossen haben, anwendbar sind, wäre nach Ansicht des vorlegenden Gerichts weiter über das Vorbringen von American Express zu entscheiden, dass Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2366 wegen eines Begründungsmangels, eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers und eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ungültig sei.
15 Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungskammer], Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
16 Das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission halten das Vorabentscheidungsersuchen insgesamt für unzulässig, weil erstens zwischen den Parteien kein realer Rechtsstreit bestehe, zweitens das nationale Gericht in seiner Vorlageentscheidung nicht das Mindestmaß der notwendigen Angaben mache, da es weder die relevanten Tatsachen noch die Gründe darstelle, aus denen ihm die Auslegung und Gültigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen fraglich erschienen, und drittens die Erhebung der Klage des Ausgangsverfahrens auf richterliche Überprüfung der „Absicht und/oder Verpflichtung“ der Lords Commissioners, diese Bestimmungen anzuwenden oder durchzuführen, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Mittel zur Umgehung des durch den AEU-Vertrag errichteten Rechtsbehelfssystems darstelle.
17 Vorab ist festzustellen, dass nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass eines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betreffen (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24).
18 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25).
19 Was erstens die Realität des Ausgangsrechtsstreits betrifft, so hat American Express mit ihrer Klage beim vorlegenden Gericht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der „Absicht und/oder Verpflichtung“ der Lords Commissioners beantragt, die in Rede stehenden Bestimmungen anzuwenden oder durchzuführen. Hierzu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens über die Begründetheit der Klage streiten. Da das vorlegende Gericht über diesen Streit zu entscheiden hat und es der Auffassung ist, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens eine wirkliche Streitigkeit in Bezug auf die Auslegung und die Gültigkeit der betreffenden Bestimmungen der Richtlinie besteht, ist nicht offensichtlich, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht real ist (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 36 und 38, und vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 17).
20 Im Übrigen beruht das Vorbringen, mit dem der fiktive Charakter des Ausgangsrechtsstreits dargetan werden soll und wonach es weder einen Rechtsakt noch eine Unterlassung einer nationalen Verwaltung gebe, die zu einer Klage auf Rechtmäßigkeitskontrolle Anlass geben könne, auf einer kritischen Würdigung der Zulässigkeit der im Ausgangsverfahren erhobenen Klage und der Beurteilung des Sachverhalts durch das vorlegende Gericht in Anwendung der im nationalen Recht vorgesehenen Kriterien. Es ist aber weder Sache des Gerichtshofs, diese Beurteilung in Frage zu stellen, die im Rahmen des vorliegenden Verfahrens in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt, noch hat er zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Dieses Vorbringen kann daher nicht genügen, um die in Rn. 18 des vorliegenden Urteils genannte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zu widerlegen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26).
21 Was zweitens das Argument angeht, dass das vorlegende Gericht weder die relevanten Tatsachen noch die Gründe dargestellt habe, aus denen ihm die Auslegung und Gültigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen fraglich erschienen, so ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 94 Buchst. a der Verfahrensordnung des Gerichtshofs jedes Vorabentscheidungsersuchen „eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen“, enthalten muss.
22 Insoweit genügt es, dass sich der Gegenstand sowie diejenigen Punkte des Ausgangsrechtsstreits, die für die Unionsrechtsordnung hauptsächlich von Interesse sind, aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergeben, damit sich die Mitgliedstaaten und andere Beteiligte gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union äußern und wirkungsvoll am Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligen können (Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C‑42/07, EU:C:2009:519, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Im vorliegenden Fall ist aus der Vorlageentscheidung ersichtlich, dass Amex im Sinne von Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern besteht und somit unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme fallen kann. Aus dieser Entscheidung geht jedoch auch hervor, dass Amex in der Union einige Co‑Branding-Vereinbarungen und Dienstleistungsverträge geschlossen hat, die – vorbehaltlich der durch das vorlegende Gericht gestellten Auslegungsfrage – dazu führen könnten, dass sie diese Bestimmung nicht in Anspruch nehmen könnte, so dass sie den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen unterworfen wäre.
24 In der Vorlageentscheidung werden somit knapp, aber präzise der Anlass und die Art des Ausgangsrechtsstreits dargestellt, dessen Entscheidung von der Auslegung und der Gültigkeit dieser Bestimmungen abhängen soll. Damit hat das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem es sein Ersuchen um Auslegung des Unionsrechts stellt, so ausreichend festgelegt, dass der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen sachgerecht beantworten kann (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Juli 2016, Genentech, C‑567/14, EU:C:2016:526, Rn. 27).
25 Was zum anderen die Frage betrifft, ob das vorlegende Gericht hinreichend dargelegt hat, aus welchen Gründen ihm die Auslegung und die Gültigkeit der im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmungen zweifelhaft erscheinen, so ist es im Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, tatsächlich unerlässlich, dass das nationale Gericht in seiner Vorlageentscheidung die genauen Gründe darlegt, aus denen es eine Beantwortung seiner Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts für entscheidungserheblich hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Daher ist wesentlich, dass das nationale Gericht insbesondere die genauen Gründe angibt, aus denen ihm die Auslegung oder die Gültigkeit von Bestimmungen des Unionsrechts fraglich erscheint, und die Gründe darlegt, aus denen es sie für ungültig hält. Dieses Erfordernis ergibt sich auch aus Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen – unter Wiedergabe eines Teils des diesbezüglichen Vorbringens von American Express und MasterCard Europe SA – ausgeführt, dass die Auslegung einiger Bestimmungen der Richtlinie 2015/2366 ungewiss sei. Zudem könnte der Gerichtshof, je nach seiner Auslegung dieser Bestimmungen, über die von American Express geltend gemachten Ungültigkeitsgründe zu entscheiden haben.
28 Folglich ist das vorlegende Gericht nicht nur der Ansicht, dass das Vorbringen der Parteien des Ausgangsverfahrens eine Auslegungsfrage aufwirft, deren Antwort ungewiss ist, sondern hält es auch für möglich, dass die von American Express angeführten Ungültigkeitsgründe, die in der Vorlageentscheidung wiedergegeben werden, durchgreifen.
29 Was drittens das Argument anbelangt, die Erhebung der Klage des Ausgangsverfahrens auf richterliche Überprüfung der „Absicht und/oder Verpflichtung“ der Lords Commissioners, die Richtlinie 2015/2366 anzuwenden oder durchzuführen, stelle – unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die Lords Commissioners gegen Amex keine Maßnahme ergriffen und sich auf das Vorbringen beschränkt hätten, sich der Erhebung der Klage im Ausgangsverfahren nicht entgegenzustellen – ein Mittel zur Umgehung des durch den AEU-Vertrag errichteten Rechtsbehelfssystems dar, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits mehrere die Auslegung und/oder Gültigkeit von Sekundärrechtsakten betreffende Vorabentscheidungsersuchen, die im Rahmen von Klagen auf richterliche Überprüfung vorgelegt worden waren, für zulässig erklärt hat, so u. a. in den Rechtssachen, in denen die Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco (C‑491/01, EU:C:2002:741), vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312), vom 8. Juli 2010, Afton Chemical (C‑343/09, EU:C:2010:419), vom 4. Mai 2016, Pillbox 38 (C‑477/14, EU:C:2016:324), und vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a. (C‑547/14, EU:C:2016:325), ergangen sind.
30 Im Übrigen hängt die Möglichkeit für den Einzelnen, sich vor den nationalen Gerichten auf die Ungültigkeit einer Unionshandlung allgemeiner Geltung zu berufen, nicht davon ab, dass diese Handlung tatsächlich bereits Gegenstand von Durchführungsmaßnahmen gewesen ist, die aufgrund des nationalen Rechts ergangen sind. Insoweit genügt es, dass das nationale Gericht mit einem tatsächlichen Rechtsstreit befasst ist, in dem sich inzident die Frage der Gültigkeit einer solchen Handlung stellt. Diese Bedingung ist jedoch im Ausgangsrechtsstreit erfüllt, wie sich aus den Rn. 14, 19, 20, 27 und 28 des vorliegenden Urteils ergibt (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 40, vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 29, vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 19, und vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 35).
31 Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass die Klage im Ausgangsrechtsstreit erhoben wurde, um das durch den AEU-Vertrag errichtete Rechtsbehelfssystem zu umgehen.
32 Nach alledem ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur ersten Frage
33 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 dahin auszulegen ist, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das eine Vereinbarung über Co‑Branding mit einem Co‑Branding-Partner abgeschlossen hat, der hinsichtlich des Produktangebots des Co‑Brandings selbst keine Zahlungsdienste in diesem Verfahren erbringt, oder sich für die Erbringung von Zahlungsdiensten eines Agenten bedient, nicht die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme in Anspruch nehmen kann, so dass es den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen unterworfen ist.
34 Nach Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2015/2366 stellen die Mitgliedstaaten sicher, „dass die Vorschriften für den Zugang zugelassener oder registrierter Zahlungsdienstleister, die juristische Personen sind, zu Zahlungssystemen objektiv, nicht diskriminierend und verhältnismäßig sind und dass diese Vorschriften den Zugang zu diesen Systemen nicht stärker einschränken, als es für die Absicherung bestimmter Risiken, wie beispielsweise Erfüllungsrisiko, operationelles Risiko und unternehmerisches Risiko, sowie den Schutz der finanziellen und operativen Stabilität des Zahlungssystems nötig ist“. In Art. 35 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie werden darüber hinaus die Beschränkungen genannt, die Zahlungssysteme Zahlungsdienstleistern, Zahlungsdienstnutzern oder anderen Zahlungssystemen nicht auferlegen dürfen.
35 Nach Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 gilt Art. 35 Abs. 1 nicht für „Zahlungssysteme, die ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern bestehen“. Der Begriff der „Gruppe“ wird in Art. 4 Nr. 40 dieser Richtlinie definiert als eine „Gruppe von Unternehmen, die untereinander durch eine in Artikel 22 Absätze 1, 2 oder 7 der Richtlinie [2013/34] genannte Beziehung verbunden sind, oder Unternehmen im Sinne der Artikel 4, 5, 6 und 7 der delegierten Verordnung [Nr. 241/2014], die untereinander durch eine in Artikel 10 Absatz 1 oder Artikel 113 Absätze 6 oder 7 der Verordnung [Nr. 575/2013] genannte Beziehung verbunden sind“.
36 Wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist es unstreitig, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren wie Amex im Sinne der vorstehenden Randnummer ausschließlich aus Zahlungsdienstleistern besteht, die einer einzigen Unternehmensgruppe angehören.
37 Folglich gelten die in Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2366 vorgesehenen Zugangsanforderungen grundsätzlich nicht für ein solches Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, es sei denn, ein Dritter wird in seine Funktionsweise einbezogen, so dass es nicht mehr im Sinne von Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie als eines betrachtet werden kann, das ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern besteht.
38 Im vorliegenden Fall trägt American Express vor, Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 sei dahin auszulegen, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren nicht allein deshalb, weil es Vereinbarungen über Co‑Branding und Agentur abgeschlossen habe, den Zugangsanforderungen unterworfen werden könne. Es bleibe nämlich in Co‑Branding-Vereinbarungen, in deren Rahmen der Co‑Branding-Partner keinen Zahlungsdienst betreibe, der einzige Emittent der Karten und der einzige Acquirer der Transaktionen unter Nutzung dieser Karten. Zudem ändere der Rückgriff auf einen Agenten für die Erbringung von Zahlungsdiensten in einem Kartenzahlverfahren nicht die Identität des Zahlungsdienstleisters. Folglich seien die Zugangsanforderungen nur dann auf dieses Verfahren anwendbar, wenn ein Drei-Parteien-Kartenzahlungssystem innerhalb dieses Systems eine Lizenz an einen zusätzlichen Zahlungsdienstleister vergebe.
39 Demgegenüber macht MasterCard Europe geltend, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren allein deshalb, weil es sich eines Co‑Branding-Partners oder eines Agenten bedient, den Zugangsanforderungen zu unterwerfen sei, da das System in diesem Fall nicht mehr unter den Ausschlusstatbestand von Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 falle.
40 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. September 2017, Kommission/Deutschland, C‑616/15, EU:C:2017:721, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Hier ergibt sich, erstens, aus dem Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366, dass die Teilnahme von Zahlungsdienstleistern am selben Zahlungssystem, die nicht ausschließlich einer einzigen Unternehmensgruppe angehören, die Folge hat, dass dieses System von der Inanspruchnahme der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme ausgeschlossen und somit den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Zugangsanforderungen unterworfen ist.
42 In Art. 4 Nr. 11 der Richtlinie 2015/2366 wird ein Zahlungsdienstleister definiert als „eine Stelle im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 [dieser Richtlinie] oder eine natürliche oder juristische Person, für die die Ausnahme gemäß Artikel 32 oder 33 [dieser Richtlinie] gilt“. Dabei unterscheidet Art. 1 Abs. 1 sechs Kategorien von Zahlungsdienstleistern, nämlich bestimmte Kreditinstitute, E‑Geld-Institute im Sinne des Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2009/110, nach nationalem Recht zur Erbringung von Zahlungsdiensten berechtigte Postscheckämter, Zahlungsinstitute, die EZB und die nationalen Zentralbanken – sofern sie nicht in ihrer Eigenschaft als Währungsbehörden oder andere Behörden handeln – und die Mitgliedstaaten oder ihre regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften, wenn sie nicht in ihrer Eigenschaft als Behörden handeln. Die Art. 32 und 33 sehen Ausnahmen für natürliche und juristische Personen vor, die bestimmte Zahlungsdienste erbringen.
43 Was die Frage angeht, ob ein Co‑Branding-Partner oder Agent unter den in der vorstehenden Randnummer wiedergegebenen Begriff „Zahlungsdienstleister“ fällt, trifft es zwar erstens zu, dass der Begriff „Co‑Branding“ nicht in der Richtlinie 2015/2366 definiert ist. Aus dem zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie geht jedoch hervor, dass der überarbeitete Rechtsrahmen der Union für Zahlungsdienste, der zu dem Erlass dieser Richtlinie führte, durch die Verordnung 2015/751 ergänzt wird. Ferner lässt sich dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber eine unionsweit einheitliche Anwendung des rechtlichen Rahmens für Zahlungsdienste sicherstellen wollte.
44 In Art. 2 Nr. 32 der Verordnung 2015/751 wird Co‑Branding als das „Aufnehmen von mindestens einer Zahlungsmarke und mindestens einer Nicht-Zahlungsmarke auf dasselbe kartengebundene Zahlungsinstrument“ definiert. Der Begriff „Zahlungsmarke“ ist sowohl in Art. 2 Nr. 30 der Verordnung als auch in Art. 4 Nr. 47 der Richtlinie 2015/2366 definiert, und zwar als „jeder reale oder digitale Name, jeder materielle oder digitale Begriff, jedes materielle oder digitale Zeichen, jedes materielle oder digitale Symbol oder jede Kombination davon, unter dem bzw. der die kartengebundenen Zahlungsvorgänge abgewickelt werden“, bzw. „jeder reale oder digitale Name, jeder reale oder digitale Begriff, jedes reale oder digitale Zeichen, jedes reale oder digitale Symbol oder jede Kombination davon, mittels dem oder der bezeichnet werden kann, unter welchem Zahlungskartensystem kartengebundene Zahlungsvorgänge ausgeführt werden“.
45 Was zweitens den Begriff „Agent“ anbelangt, wird dieser in Art. 4 Nr. 38 der Richtlinie 2015/2366 als „eine natürliche oder juristische Person, die im Namen eines Zahlungsinstituts Zahlungsdienste ausführt“, definiert. Wie aus Rn. 42 des vorliegenden Urteils hervorgeht, sind Zahlungsinstitute eine der sechs Kategorien der in Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Zahlungsdienstleister.
46 Aus den einschlägigen Definitionen der Begriffe „Co‑Branding“ und „Agent“ kann daher nicht der Schluss gezogen werden, dass ein Co‑Branding-Partner oder ein Agent zwangsläufig ein Zahlungsdienstleister im Sinne von Art. 4 Nr. 11 der Richtlinie 2015/2366 ist.
47 Daher geht aus dem Wortlaut von Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 nicht ausdrücklich hervor, dass für ein Zahlungssystem von Zahlungsdienstleistern, die ausschließlich einer einzigen Unternehmensgruppe angehören, allein der Umstand, sich eines Co‑Branding-Partners oder eines Agenten zu bedienen, zwangsläufig die Folge hat, dieses System von der Inanspruchnahme der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme auszuschließen. Hätte der Unionsgesetzgeber aber den Anwendungsbereich dieser Bestimmung beschränken wollen, so hätte er dies ausdrücklich vorsehen können (vgl. entsprechend Urteil vom 19. März 2009, Kommission/Italien, C‑275/07, EU:C:2009:169, Rn. 99).
48 Zweitens ist zum Kontext des Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 festzustellen, dass dieser Artikel laut seinem Abs. 1 Unterabs. 1 den Zugang zugelassener oder registrierter Zahlungsdienstleister zu Zahlungssystemen regeln soll. Mit diesem Ziel steht es in Einklang, Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b dahin auszulegen, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das sich für seine Öffnung entscheidet, indem ein Zahlungsdienstleister, der nicht der Gruppe angehört, in seine Funktionsweise einbezogen wird, den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen unterworfen ist.
49 Zwar sieht der 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366 vor, dass zu den Systemen, die von einem einzigen Zahlungsdienstleister eingerichtet und betrieben werden, „Dreiparteiensysteme wie Drei-Parteien-Kartensysteme [zählen], solange sie niemals de facto – beispielsweise durch Rückgriff auf Lizenznehmer, Agenten oder Markenpartner (‚Co‑Branding-Partner‘) – als Vier-Parteien-Kartensysteme betrieben werden“.
50 Jedoch kann entgegen der Auffassung von MasterCard Europe dieser Erwägungsgrund nicht eine Auslegung rechtfertigen, wonach alle Vereinbarungen über Co‑Branding oder Agentur, die von einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren geschlossen werden, zwangsläufig zur Folge haben, dass dieses Verfahren nicht in den Anwendungsbereich des Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 fällt.
51 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Erwägungsgrund eines Sekundärrechtsakts der Union zwar dazu beitragen kann, Aufschluss über die Auslegung einer Rechtsvorschrift zu geben, jedoch nicht selbst eine solche Vorschrift darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1989, Casa Fleischhandel, 215/88, EU:C:1989:331, Rn. 31).
52 Jedenfalls spricht – wie im Wesentlichen von der Kommission vorgetragen – nichts im 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366 noch in den anderen Bestimmungen dieser Richtlinie dagegen, Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass dann, wenn sich ein Kartenzahlverfahren eines Co‑Branding-Partners oder Agenten bedient, es notwendig ist, dass der Co‑Branding-Partner oder Agent Zahlungsdienstleister ist oder seine Rolle innerhalb dieses Verfahrens der Tätigkeit eines solchen Dienstleisters gleichgesetzt werden kann, um dieses Verfahren im Sinne dieser Bestimmung als eines betrachten zu können, das nicht mehr ausschließlich aus einer einzigen Unternehmensgruppe angehörenden Zahlungsdienstleistern besteht.
53 Zum einen sieht nämlich der 52. Erwägungsgrund dieser Richtlinie in seinem ersten Satz vor, dass die Bestimmungen über den Zugang zu den Zahlungssystemen nicht für Systeme gelten sollten, „die von einem einzigen Zahlungsdienstleister eingerichtet und betrieben werden“, womit der Schwerpunkt auf der am betreffenden System beteiligten Zahl der Zahlungsdienstleister liegt.
54 Wenn sich zum anderen aus diesem Erwägungsgrund ergibt, dass Kartenzahlverfahren, die sich eines Co‑Branding-Partners oder eines Agenten bedienen, ihrer Funktionsweise nach de facto als Vier-Parteien-Kartensysteme betrachtet werden können, ist auch darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Nr. 17 der Verordnung 2015/751 das Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren definiert als ein „Kartenzahlverfahren, bei dem vom Zahlungskonto eines Zahlers kartengebundene Zahlungsvorgänge auf das Zahlungskonto eines Zahlungsempfängers geleistet werden, unter Zwischenschaltung des Kartenzahlverfahrens, eines Emittenten (auf der Seite des Zahlers) und eines Acquirers (auf der Seite des Zahlungsempfängers)“.
55 Deshalb und aufgrund der Erwägungen in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ist ein klassisches Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren im Sinne der Richtlinie 2015/2366 durch das Vorhandensein verschiedener Zahlungsdienstleister charakterisiert, die im Rahmen kartengebundener Zahlungsvorgänge als Acquirer oder Emittenten auftreten.
56 Daher ist festzustellen, dass – wie die Kommission geltend macht – die Beispiele im 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366 für Situationen, in denen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren mit Agenten oder Co‑Branding-Partnern Vereinbarungen abschließen, nur der Veranschaulichung dienen, wie diese Verfahren ihre operativen Verflechtungen organisieren können, so dass sie sich in der Praxis wie Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren verhalten können, um die in dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen anzuwenden.
57 Was drittens die von der Richtlinie 2015/2366 verfolgten Ziele betrifft, zu der die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen gehören, ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 49. Erwägungsgrund dieser Richtlinie „jeder Zahlungsdienstleister … unbedingt Zugang zu den technischen Infrastrukturdiensten der Zahlungssysteme haben [muss]“ und „die Regeln für den Zugang zu Zahlungssystemen präzisiert werden [sollten]“, „um zwischen den einzelnen Kategorien von zugelassenen Zahlungsdienstleistern entsprechend ihrer Zulassung eine unionsweite Gleichbehandlung zu gewährleisten“.
58 Zudem wird im 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366 unterstrichen, es sollte „sichergestellt werden, dass es zwischen zugelassenen Zahlungsinstituten und Kreditinstituten zu keinerlei Diskriminierung kommt, so dass alle im Binnenmarkt konkurrierenden Zahlungsdienstleister die technischen Infrastrukturdienste dieser Zahlungsverkehrssysteme zu denselben Bedingungen nutzen können“. Weiter heißt es dort: „Es sollte wegen des jeweils unterschiedlichen Aufsichtsrahmens eine unterschiedliche Behandlung zugelassener Zahlungsdienstleister und solcher, die sowohl unter eine Ausnahme nach dieser Richtlinie als auch unter die Ausnahmeregelung nach Artikel 3 der Richtlinie [2009/110] fallen, vorgesehen werden.“
59 Schließlich wird im 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366 u. a. ausgeführt, dass es, um den Wettbewerb zwischen geschlossenen Zahlungssystemen wie Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, die niemals als de facto Vier-Parteien-Kartensysteme betrieben werden, und den etablierten gängigen Zahlungssystemen anzuregen, nicht angebracht wäre, Dritten Zugang zu diesen geschlossenen firmeneigenen Zahlungssystemen zu gewähren.
60 Wie in den Erwägungen in den Rn. 57 bis 59 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, soll mit Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 sichergestellt werden, dass grundsätzlich alle Zahlungsdienstleister Zugang zu den technischen Infrastrukturdiensten der Zahlungssysteme haben, um zwischen den einzelnen Kategorien von Zahlungsdienstleistern eine unionsweite Gleichbehandlung zu gewährleisten. Wie aus diesen Erwägungen ebenfalls hervorgeht, wollte der Unionsgesetzgeber nämlich gewährleisten, dass alle Zahlungsdienstleister diese Dienste zu denselben Bedingungen nutzen können, um einen wirksamen Wettbewerb in den Zahlungsmärkten aufrechtzuerhalten.
61 Aus denselben Erwägungen, insbesondere den in den Rn. 58 und 59 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen, ergibt sich jedoch, dass der Unionsgesetzgeber, auch wenn die in Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2366 vorgesehenen Zugangsanforderungen grundsätzlich allen Zahlungsdienstleistern unter den dort aufgestellten Voraussetzungen Zugang zu den Zahlungssystemen gewährleisten sollten, doch zugleich eine unterschiedliche Behandlung der Zahlungsdienstleister dort beabsichtigte, wo die Unterschiede zwischen ihnen diese rechtfertigen.
62 Was insbesondere geschlossene Drei-Parteien-Zahlungssysteme anbelangt, geht aus Rn. 59 des vorliegenden Urteils hervor, dass es der Unionsgesetzgeber für angebracht gehalten hat, diese von den Zugangsanforderungen auszunehmen, um den Wettbewerb zwischen Zahlungssystemen anzuregen. Entscheidet sich jedoch – wie sich insbesondere aus den Rn. 54 bis 56 des vorliegenden Urteils ergibt – ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren für seine Öffnung, indem ein Zahlungsdienstleister, der nicht der Unternehmensgruppe angehört, einbezogen wird, nähert sich seine Funktionsweise der eines klassischen Vier-Parteien-Kartenzahlverfahrens an, so dass es die Notwendigkeit, den auf dem Markt geschaffenen Wettbewerb anzuregen, nicht mehr rechtfertigt, dieses Kartenzahlsystem von den Zugangsanforderungen auszunehmen.
63 Es könnte nämlich schwierig sein, die Ziele der Richtlinie 2015/2366 zu erreichen, insbesondere das Ziel ihres Art. 35 Abs. 1, für einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei der Erbringung von Zahlungsdiensten zu sorgen, wenn ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das sich eines Dritten bedient, der ein Zahlungsdienstleister im Sinne des Art. 4 Nr. 11 dieser Richtlinie ist, oder dessen Rolle der Tätigkeit eines solchen Dienstleisters gleichgesetzt werden kann, nicht den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Anforderungen im Bereich des Zugangs der Zahlungsdienstleister zu Zahlungssystemen unterworfen wäre.
64 Folglich ist festzustellen, dass diese Anforderungen auf ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das eine Vereinbarung über Co‑Branding im Sinne von Art. 2 Nr. 32 der Verordnung 2015/751 abgeschlossen hat, anwendbar sind, wenn der betreffende Co‑Branding-Partner ein Zahlungsdienstleister im Sinne von Art. 4 Nr. 11 der Richtlinie 2015/2366 ist, und zwar auch dann, wenn dieser Partner im Rahmen dieser Vereinbarung nicht selbst Zahlungsdienste hinsichtlich des Produktangebots des Co‑Brandings erbringt.
65 Zudem sind die Zugangsanforderungen zwangsläufig auf ein Verfahren anwendbar, wenn ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren eine Vereinbarung mit einem Agenten im Sinne von Art. 4 Nr. 38 der Richtlinie 2015/2366 abgeschlossen hat. Da nämlich, wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, ein Agent in Art. 4 Nr. 38 dieser Richtlinie als „eine natürliche oder juristische Person, die im Namen eines Zahlungsinstituts Zahlungsdienste ausführt“, definiert wird und obwohl somit ein Agent selbst nicht zwangsläufig ein Zahlungsdienstleister ist, ist seine Rolle aufgrund seiner Natur in jedem Fall der Rolle eines Zahlungsdienstleisters gleichzusetzen.
66 Diese Auslegung wird nicht durch das Vorbringen von MasterCard Europe in Frage gestellt, wonach die Situationen, in denen ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren den Zugangsanforderungen der Zahlungsdienstleister unterworfen ist, die gleichen sein sollten wie die, in denen ein solches System den Verpflichtungen in Bezug auf Interbankenentgelte gemäß Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 unterworfen ist, deren Tragweite und Gültigkeit Gegenstand der Vorlagefragen in der Rechtssache waren, die dem Urteil vom heutigen Tag, American Express (C‑304/16), zugrunde liegen.
67 Hierzu genügt zum einen der Hinweis, dass sich sowohl der Wortlaut des Art. 1 Abs. 5 als auch der des Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751, die insbesondere Situationen erfassen, in denen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren für die Zwecke der Anwendung der in dieser Verordnung vorgesehenen Verpflichtungen, einschließlich derjenigen in Bezug auf die Obergrenzen für Interbankenentgelte, als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten sind, in mehrerlei Hinsicht vom Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 unterscheiden.
68 Zum anderen trifft es zwar zu, dass sich die Ziele, die mit den beiden oben in Rn. 66 genannten Kategorien von Anforderungen verfolgt werden, insofern überschneiden, als beide Kategorien vor allem die Gleichbehandlung von Mitbewerbern und einen wirksamen Wettbewerb in den Zahlungsmärkten gewährleisten sollen. Dennoch sind das Wesen dieser beiden Kategorien von Anforderungen und die Rechtsakte, in denen beide normiert sind, unterschiedlich.
69 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 dahin auszulegen ist, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das eine Vereinbarung über Co‑Branding mit einem Co‑Branding-Partner abgeschlossen hat, nicht von der Inanspruchnahme der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme ausgeschlossen ist und daher nicht den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen unterworfen ist, wenn dieser Co‑Branding-Partner kein Zahlungsdienstleister ist und hinsichtlich des Produktangebots des Co‑Brandings keine Zahlungsdienste in diesem Verfahren erbringt. Demgegenüber ist ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das sich für die Erbringung von Zahlungsdiensten eines Agenten bedient, von der Inanspruchnahme dieser Ausnahme ausgeschlossen und somit den in Art. 35 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen unterworfen.
Zur zweiten Frage
70 Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 ungültig ist, soweit er Zugangsanforderungen vorsieht, die auf ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren anwendbar sind, das eine Vereinbarung über Co‑Branding mit einem Co‑Branding-Partner abgeschlossen hat, der in diesem Verfahren hinsichtlich des Produktangebots des Co‑Brandings selbst keine Zahlungsdienste erbringt, oder das sich für die Erbringung von Zahlungsdiensten eines Agenten bedient.
71 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in Rn. 69 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung des Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2015/2366 in Bezug auf Vereinbarungen über Co‑Branding nicht völlig der entspricht, auf deren Grundlage das vorlegende Gericht die zweite Vorlagefrage stellt.
72 So ist in Anbetracht der Antwort auf die erste Vorlagefrage die zweite Frage nur insoweit zu beantworten, als mit ihr festgestellt werden soll, ob Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 deshalb ungültig ist, weil die in Art. 35 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen auf ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren anwendbar sind, das sich für die Erbringung von Zahlungsdiensten eines Agenten bedient.
Zum Vorliegen einer Verletzung der Begründungspflicht
73 Hinsichtlich der Begründungspflicht ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgeschriebene Begründung eines Rechtsakts der Union zwar die Überlegungen des Urhebers dieses Rechtsakts so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann, jedoch nicht sämtliche rechtlich oder tatsächlich erheblichen Gesichtspunkte enthalten muss. Die Beachtung der Begründungspflicht ist im Übrigen nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen, sondern auch anhand seines Kontexts und sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Überdies hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass es, wenn aus einem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung das von dem Organ verfolgte Ziel in seinen wesentlichen Zügen hervorgeht, übertrieben wäre, eine besondere Begründung für die verschiedenen getroffenen technischen Entscheidungen zu verlangen (Urteil vom 3. März 2016, Spanien/Kommission, C‑26/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:132, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Im vorliegenden Fall wird in den Erwägungsgründen 49, 50 und 52 der Richtlinie 2015/2366 hinreichend klar dargelegt, welcher Logik die Anwendung der in Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Anforderungen auf diejenigen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren folgt, die sich eines nicht der Unternehmensgruppe des Verfahrens angehörenden Zahlungsdienstleisters, der in ihre Funktionsweise einbezogen wird, oder eines Dritten bedienen, dessen Rolle der Tätigkeit eines solchen Dienstleisters gleichgesetzt werden kann. Wie aus den Erwägungen in Rn. 60 des vorliegenden Urteils hervorgeht, soll ausweislich dieser Erwägungsgründe mit Art. 35 der Richtlinie insbesondere gewährleistet werden, dass grundsätzlich alle Zahlungsdienstleister Zugang zu den technischen Infrastrukturdiensten der Zahlungssysteme haben, um zwischen den einzelnen Kategorien von Zahlungsdienstleistern eine unionsweite Gleichbehandlung zu erreichen und somit einen wirksamen Wettbewerb in den Zahlungsmärkten aufrechtzuerhalten.
76 Auch wenn die Zugangsanforderungen nach diesen Erwägungsgründen so gestaltet sein müssen, dass grundsätzlich alle Zahlungsdienstleister unter den in der Richtlinie 2015/2366 aufgestellten Voraussetzungen Zugang zu den technischen Infrastrukturdiensten der Zahlungssysteme haben, beabsichtigte der Unionsgesetzgeber doch zugleich eine unterschiedliche Behandlung der Zahlungsdienstleister dort, wo die Unterschiede zwischen ihnen diese rechtfertigen. So hat es der Unionsgesetzgeber zwar für angebracht gehalten, geschlossene Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren von den Zugangsanforderungen auszunehmen, um den Wettbewerb zwischen Zahlungssystemen anzuregen. Demgegenüber war er im Hinblick auf Fälle, in denen sich ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren für seine Öffnung entscheidet und eines nicht der Unternehmensgruppe des Verfahrens angehörenden Zahlungsdienstleisters oder eines Dritten bedient – etwa eines Agenten, dessen Rolle der Tätigkeit eines solchen Dienstleisters gleichgesetzt werden kann –, der Auffassung, dass sich die Funktionsweise eines solchen Systems der eines klassischen Vier-Parteien-Kartenzahlverfahrens annähert, so dass die Notwendigkeit, den Wettbewerb anzuregen, es nicht mehr rechtfertigt, dieses Verfahren von diesen Zugangsanforderungen auszunehmen.
77 Darüber hinaus zeigt der 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366 Unterschiede auf, die zwischen geschlossenen firmeneigenen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren und etablierten gängigen Zahlungssystemen bestehen. Diese Unterschiede erklären, dass die Anwendung der Zugangsanforderungen auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren nur dort gerechtfertigt ist, wo die Funktionsweise dieser Verfahren die Folge hat, diese vom Anwendungsbereich des Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie auszunehmen.
78 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2015/2366, auf die in Rn. 75 des vorliegenden Urteils Bezug genommen wird, die Gesamtlage erläutern, die den Unionsgesetzgeber zu der Entscheidung veranlasst haben, Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren mit Agenturvereinbarungen den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen und den mit dieser Entscheidung verfolgten allgemeinen Zielen zu unterwerfen. Im Einklang mit der in Rn. 73 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ermöglichen es diese Bestimmungen mithin den Betroffenen, ihnen die Gründe für diese Entscheidung zu entnehmen, und dem Gerichtshof, seine Kontrolle auszuüben.
79 Unter diesen Umständen und entsprechend der in den Rn. 73 und 74 des vorliegenden Urteils dargelegten Rechtsprechung war der Unionsgesetzgeber nicht verpflichtet, in der Richtlinie 2015/2366 besonders zu begründen, warum in jeder der betreffenden Situationen ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren den Zugangsanforderungen unterworfen werden muss.
80 Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Richtlinie 2015/2366 insoweit mit einem Begründungsmangel behaftet ist, der zur Ungültigkeit von Art. 35 dieser Richtlinie führt.
Zum Vorliegen eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers
81 Laut der Vorlageentscheidung wurde die Gültigkeit von Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 im Ausgangsverfahren mit der Begründung in Abrede gestellt, dass er mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet sei, da die in Art. 35 Abs. 1 vorgesehenen Zugangsanforderungen auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, die Agenturvereinbarungen abgeschlossen haben, Anwendung finde, aber der Unionsgesetzgeber bei verständiger Würdigung eine Bestimmung mit dieser Tragweite nicht hätte erlassen dürfen.
82 Jedoch ergibt sich aus den dem Gerichtshof im Rahmen dieses Verfahrens vorgelegten Unterlagen nicht, dass dem Unionsgesetzgeber aus diesem Grund ein offensichtlicher Beurteilungsfehler in Bezug auf Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 unterlaufen wäre.
83 Insbesondere enthalten die dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Unionsgesetzgeber einen Fehler begangen hätte, als er zu der Ansicht gelangte, dass die Einbeziehung eines solchen Systems in den Anwendungsbereich des Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2366 dazu beitragen würde, die Verwirklichung der in den Rn. 57 bis 63 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Ziele zu gewährleisten.
Zum Vorliegen eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
84 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Was die gerichtliche Nachprüfung der Einhaltung dieser Voraussetzungen betrifft, hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen in Bereichen zugebilligt, in denen seine Tätigkeit sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss. Es geht somit nicht darum, ob eine in einem solchen Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; sie ist vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn sie gemessen an dem Ziel, das die zuständigen Organe verfolgen, offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 8. Juni 2010, Vodafone u. a., C‑58/08, EU:C:2010:321, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Im vorliegenden Fall enthalten die dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen keinen Anhaltspunkt dafür, dass Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 nicht zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele, wie sie in den Rn. 57 bis 62 des vorliegenden Urteils dargelegt sind, geeignet wäre.
87 Da es im Gegenteil, wie sich aus den Rn. 63 und 65 des vorliegenden Urteils ergibt, schwierig sein könnte, die Ziele der Richtlinie 2015/2366 zu erreichen, darunter insbesondere das Ziel ihres Art. 35 Abs. 1, für einheitliche Wettbewerbsbedingungen für die Erbringung von Zahlungsdiensten zu sorgen, wenn ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das sich eines Agenten bedient, nicht den Zugangsanforderungen unterworfen wäre, war es im Hinblick auf die in Frage stehenden Ziele nicht offensichtlich unverhältnismäßig, ein solches Verfahren ebenfalls diesen Anforderungen zu unterwerfen.
88 Nach alledem hat die Prüfung der zweiten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit des Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 berühren könnte.
Kosten
89 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 35 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 2002/65/EG, 2009/110/EG, 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2007/64/EG ist dahin auszulegen, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das eine Vereinbarung über Co‑Branding mit einem Co‑Branding-Partner abgeschlossen hat, nicht von der Inanspruchnahme der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme ausgeschlossen ist und daher nicht den in Art. 35 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Zugangsanforderungen unterworfen ist, wenn dieser Co‑Branding-Partner kein Zahlungsdienstleister ist und hinsichtlich des Produktangebots des Co‑Brandings keine Zahlungsdienste in diesem Verfahren erbringt. Demgegenüber ist ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das sich für die Erbringung von Zahlungsdiensten eines Agenten bedient, von der Inanspruchnahme dieser Ausnahme ausgeschlossen und somit den in Art. 35 Abs. 1 vorgesehenen Anforderungen unterworfen.
2. Die Prüfung der zweiten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Art. 35 der Richtlinie 2015/2366 berühren könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 7. Februar 2018.#American Express Co. gegen The Lords Commissioners of Her Majesty’s Treasury.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Administrative Court).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) 2015/751 – Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge – Art. 1 Abs. 5 – Gleichstellung eines Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens mit einem Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren – Voraussetzungen – Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten durch ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren ‚gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters‘ – Art. 2 Nr. 18 – Begriff des ‚Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens‘ – Gültigkeit.#Rechtssache C-304/16.
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62016CJ0304
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ECLI:EU:C:2018:66
| 2018-02-07T00:00:00 |
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016CJ0304
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
7. Februar 2018 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) 2015/751 – Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge – Art. 1 Abs. 5 – Gleichstellung eines Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens mit einem Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren – Voraussetzungen – Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten durch ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren ‚gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters‘ – Art. 2 Nr. 18 – Begriff des ‚Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens‘ – Gültigkeit“
In der Rechtssache C‑304/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench (Verwaltungskammer, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 11. April 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Mai 2016, in dem Verfahren
The Queen, auf Antrag von:
American Express Company,
gegen
The Lords Commissioners of Her Majesty’s Treasury,
Beteiligte:
Diners Club International Limited,
MasterCard Europe SA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. G. Fernlund, J.‑C. Bonichot, S. Rodin und E. Regan (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
der American Express Company, vertreten durch J. Turner, QC, J. Holmes, QC, L. John, Barrister, sowie I. Taylor, H. Ware und J. Slade, Solicitors,
–
der MasterCard Europe SA, vertreten durch P. Harrison, S. Kinsella und K. Le Croy, Solicitors, sowie Rechtsanwälte S. Pitt und J. Bedford,
–
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt, D. Robertson, J. Kraehling und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von G. Facenna und M. Hall, QC,
–
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo, M. Rebelo und G. Fonseca als Bevollmächtigte,
–
des Europäischen Parlaments, vertreten durch P. Schonard und A. Tamás als Bevollmächtigte,
–
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch J. Bauerschmidt, I. Gurov und E. Moro als Bevollmächtigte,
–
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe, J. Samnadda und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juli 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung und die Gültigkeit von Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 sowie die Auslegung von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge (ABl. 2015, L 123, S. 1).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der American Express Company und The Lords Commissioners of Her Majesty’s Treasury (Lords Commissioners des Finanzministeriums, Vereinigtes Königreich, im Folgenden: Lords Commissioners) zu den Umständen, unter denen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren gemäß Art. 1 Abs. 5 der Verordnung als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten sind.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung 2015/751
3 In den Erwägungsgründen 10, 28, 29 und 43 der Verordnung 2015/751 heißt es:
„(10)
… Zusätzlich zur kohärenten Anwendung der Wettbewerbsregeln auf die Interbankenentgelte würde eine Regulierung dieser Entgelte das Funktionieren des Binnenmarkts verbessern und zu einer Verringerung der Transaktionskosten für die Verbraucher beitragen.
…
(28) Kartengebundene Zahlungsvorgänge erfolgen im Allgemeinen auf der Grundlage zweier Geschäftsmodelle, nämlich des Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens (Karteninhaber – Annahme- und Abrechnungs‑ sowie Kartenausgabeverfahren – Händler) und des Vier-Parteien-Kartenzahlverfahrens (Karteninhaber – kartenausgebende Bank – Acquirer – Händler). Viele Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren umfassen ein explizit festgelegtes – meist multilateral vereinbartes – Interbankenentgelt. Angesichts der Existenz impliziter Interbankenentgelte und im Interesse gleicher Wettbewerbsbedingungen sollten Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, bei denen Zahlungsdienstleister als Acquirer oder Emittenten auftreten, als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren gelten und denselben Vorschriften unterliegen, während Transparenzmaßnahmen und sonstige Maßnahmen in Bezug auf Geschäftsregeln für alle Anbieter gelten sollten. Um jedoch den Besonderheiten dieser Art von Drei-Parteien-Verfahren Rechnung zu tragen, ist es angemessen, eine Übergangsfrist vorzusehen, während der die Mitgliedstaaten entscheiden können, die Obergrenzen-Regelung für das Interbankenentgelt nicht anzuwenden, wenn diese Kartenzahlverfahren in dem betreffenden Mitgliedstaat nur einen sehr begrenzten Marktanteil haben.
(29) Die Kartenausgabe erfolgt auf der Grundlage einer Vertragsbeziehung zwischen dem Emittenten des Zahlungsinstruments und dem Zahler, unabhängig davon, ob der Emittent Gelder im Namen des Zahlers hält. Der Emittent stellt dem Zahler Zahlungskarten zur Verfügung, autorisiert Zahlungsvorgänge an Terminals oder entsprechenden Stellen und kann dem Acquirer die Zahlung für regelkonforme Zahlungsvorgänge im Rahmen des betreffenden Kartenzahlverfahrens garantieren. Deshalb handelt es sich bei dem reinen Vertrieb von Zahlungskarten oder der reinen Erbringung technischer Dienste (wie der Verarbeitung und Speicherung von Daten) nicht um eine Kartenausgabe.
…
(43) Da die Ziele dieser Verordnung, nämlich die Festlegung einheitlicher Vorschriften für kartengebundene Zahlungsvorgänge, einschließlich über Internet und mobile Endgeräte, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen des Umfangs der Maßnahme auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, kann die [Europäische] Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. …“
4 Art. 1 („Anwendungsbereich“) in Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) der Verordnung 2015/751 bestimmt:
„…
(3) Kapitel II gilt nicht für
…
c)
Transaktionen mit Zahlungskarten, die von Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren ausgegeben werden.
(4) Artikel 7 gilt nicht für Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren.
(5) Vergibt ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren Lizenzen zur Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten oder zur Annahme und Abrechnung von kartengebundenen Zahlungsvorgängen an andere Zahlungsdienstleister oder gibt es gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente heraus, so wird es als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet. In Bezug auf inländische Zahlungsvorgänge kann solch ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren jedoch bis zum 9. Dezember 2018 von den Pflichten nach Kapitel II befreit werden, sofern die kartengebundenen Zahlungsvorgänge, die in einem Mitgliedstaat im Rahmen eines solchen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens vorgenommen werden, in einem Jahr höchstens 3 % des Werts sämtlicher in diesem Mitgliedstaat durchgeführten kartengebundenen Zahlungsvorgänge ausmachen.“
5 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
2. ‚Emittent‘ einen Zahlungsdienstleister, der eine vertragliche Vereinbarung schließt, um einem Zahler ein Zahlungsinstrument zur Veranlassung und Verarbeitung der kartengebundenen Zahlungsvorgänge des Zahlers zur Verfügung zu stellen;
…
10. ‚Interbankenentgelt‘ das Entgelt, das bei einem kartengebundenen Zahlungsvorgang für jede direkte oder indirekte (d. h. über einen Dritten vorgenommene) Transaktion zwischen dem Emittenten und dem Acquirer gezahlt wird. Die Nettovergütung oder andere vereinbarte Vergütungen sind Bestandteil des Interbankenentgelts;
11. ‚Nettovergütung‘ die Gesamtnettosumme der Zahlungen, Rabatte und Anreize, die ein Emittent vom Kartenzahlverfahren, dem Acquirer oder einer zwischengeschalteten Stelle in Bezug auf einen kartengebundenen Zahlungsvorgang oder damit verbundene Tätigkeiten erhält;
…
17. ‚Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren‘ ein Kartenzahlverfahren, bei dem vom Zahlungskonto eines Zahlers kartengebundene Zahlungsvorgänge auf das Zahlungskonto eines Zahlungsempfängers geleistet werden, unter Zwischenschaltung des Kartenzahlverfahrens, eines Emittenten (auf der Seite des Zahlers) und eines Acquirers (auf der Seite des Zahlungsempfängers);
18. ‚Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren‘ ein Kartenzahlverfahren, bei dem das Kartenzahlverfahren selbst Annahme- und Abrechnungs- sowie Kartenausgabedienste erbringt und kartengebundene Zahlungsvorgänge von dem Zahlungskonto eines Zahlers auf das Zahlungskonto eines Zahlungsempfängers vornimmt. Vergibt ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren Lizenzen zur Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten oder zur Annahme und Abrechnung von kartengebundenen Zahlungsvorgängen an andere Zahlungsdienstleister oder gibt es gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente heraus, so wird es als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet;
…
24. ‚Zahlungsdienstleister‘ natürliche oder juristische Personen, die befugt sind, die im Anhang zur Richtlinie 2007/64/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (ABl. 2007, L 319, S. 1)] aufgeführten Zahlungsdienste zu erbringen[,] oder als E-Geld-Emittenten gemäß Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2009/110/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von E-Geld-Instituten, zur Änderung der Richtlinien 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2000/46/EG (ABl. 2009, L 267, S. 7)] anerkannt sind. Ein Zahlungsdienstleister kann ein Emittent, ein Acquirer oder beides sein;
…
28. ‚abwickelnde Stelle‘ jede natürliche oder juristische Person, die Dienstleistungen zur Abwicklung von Zahlungsvorgängen erbringt;
…
30. ‚Zahlungsmarke‘ jeder reale oder digitale Name, jeder materielle oder digitale Begriff, jedes materielle oder digitale Zeichen, jedes materielle oder digitale Symbol oder jede Kombination davon, unter dem bzw. der die kartengebundenen Zahlungsvorgänge abgewickelt werden;
…
32. ‚Co‑branding‘ das Aufnehmen von mindestens einer Zahlungsmarke und mindestens einer Nicht-Zahlungsmarke auf dasselbe kartengebundene Zahlungsinstrument;
…“
6 Die Art. 3 und 4 in Kapitel II („Interbankenentgelte“) der Verordnung 2015/751 betreffen Interbankenentgelte für Debitkartentransaktionen von Verbrauchern und Interbankenentgelte für Transaktionen mit Verbraucher-Kreditkarten.
7 Art. 5 („Umgehungsverbot“) in Kapitel II dieser Verordnung sieht vor:
„Für die Zwecke der Anwendung der Obergrenzen nach den Artikeln 3 und 4 wird jede vereinbarte Vergütung, einschließlich Nettovergütungen, mit gleichem Zweck oder gleicher Wirkung wie ein Interbankenentgelt, die ein Emittent von dem Kartenzahlverfahren, dem Acquirer oder einer zwischengeschalteten Stelle in Bezug auf Zahlungsvorgänge oder damit verbundene Tätigkeiten erhält, als Teil des Interbankenentgelts behandelt.“
8 Die Art. 6 bis 12 in Kapitel III („Geschäftsregeln“) der Verordnung 2015/751 regeln die mit kartengebundenen Zahlungsvorgängen verbundenen Pflichten.
9 In Art. 7 („Trennung von Kartenzahlverfahren und abwickelnden Stellen“) heißt es:
„(1) Kartenzahlverfahren und abwickelnde Stellen
a)
sind hinsichtlich ihrer Rechnungslegung, ihrer Organisation und ihrer Entscheidungsverfahren voneinander unabhängig;
b)
weisen die Preise für Tätigkeiten des Kartenzahlverfahrens und die Preise für Abwicklungstätigkeiten nicht als Paketpreis aus und nehmen keine Quersubventionen zwischen diesen Tätigkeiten vor;
c)
gewährleisten, dass ihre Tochterunternehmen und Gesellschafter auf der einen und die Nutzer von Kartenzahlverfahren und andere Vertragspartner auf der anderen Seite gleich behandelt werden[,] und machen die Erbringung ihrer Dienstleistungen nicht in irgendeiner Weise davon abhängig, dass ihr Vertragspartner einen ihrer anderen Dienste akzeptiert.
(2) Die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kartenzahlverfahren seinen satzungsmäßigen Sitz hat, kann von einem Kartenzahlverfahren die Vorlage eines unabhängigen Berichts verlangen, in dem bestätigt wird, dass es die Bestimmungen des Absatzes 1 einhält.
(3) Kartenzahlverfahren lassen die Möglichkeit zu, dass Autorisierung und Clearing einzelner kartengebundener Zahlungsvorgänge voneinander getrennt und von unterschiedlichen abwickelnden Stellen abgewickelt werden.
(4) Jede territoriale Diskriminierung bei den Abwicklungsvorschriften von Kartenzahlverfahren ist untersagt.
(5) Die abwickelnden Stellen in der Union stellen die technische Interoperabilität ihres Systems mit den Systemen anderer abwickelnden Stellen in der Union sicher, indem sie die Normen internationaler oder europäischer Normungsgremien verwenden. Zusätzlich dazu sehen Kartenzahlverfahren davon ab, Geschäftsregeln einzuführen oder anzuwenden, die die Interoperabilität der abwickelnden Stellen in der Union einschränken.
…“
10 Kapitel IV („Schlussbestimmungen“) der Verordnung 2015/751 umfasst die Art. 13 bis 18 dieser Verordnung. Art. 13 („Zuständige Behörden“) sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten benennen die zuständigen Behörden, die befugt sind, die Durchsetzung dieser Verordnung sicherzustellen, und mit den entsprechenden Untersuchungs- und Vollstreckungsbefugnissen ausgestattet sind.
…
(6) Die Mitgliedstaaten verlangen von den zuständigen Behörden, dass sie die Einhaltung dieser Verordnung wirksam überwachen – auch um jegliche Versuche der Zahlungsdienstleister, diese Verordnung zu umgehen, zu verhindern – und alle notwendigen Maßnahmen treffen, um die Einhaltung sicherzustellen.“
11 Art. 14 („Sanktionen“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen diese Verordnung zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Vorkehrungen für ihre Anwendung.“
12 Art. 18 („Inkrafttreten“) der Verordnung lautet:
„(1) Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
(2) Sie gilt ab dem 8. Juni 2015 mit Ausnahme der Artikel 3, 4, 6 und 12, die ab dem 9. Dezember 2015 gelten, und der Artikel 7, 8, 9 und 10, die ab dem 9. Juni 2016 gelten.“
Richtlinie (EU) 2015/2366
13 In den Erwägungsgründen 2 und 6 der Richtlinie (EU) 2015/2366 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 2002/65/EG, 2009/110/EG, 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 sowie zur Aufhebung der Richtlinie 2007/64/EG (ABl. 2015, L 337, S. 35) heißt es:
„(2)
Der überarbeitete Rechtsrahmen der Union für Zahlungsdienste wird durch die [Verordnung 2015/751] ergänzt. …
…
(6) Zur Schließung der Regulierungslücken sollten neue Vorschriften vorgesehen werden, und gleichzeitig sollte mehr Rechtsklarheit geschaffen und die unionsweit einheitliche Anwendung des rechtlichen Rahmens sichergestellt werden. …“
14 Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 in Titel I („Gegenstand, Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht vor:
„In dieser Richtlinie werden die Regeln festgelegt, nach denen die Mitgliedstaaten die folgenden Kategorien von Zahlungsdienstleistern unterscheiden:
…
d)
Zahlungsinstitute;
…“
15 Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
3. ‚Zahlungsdienst‘ eine oder mehrere der in Anhang I aufgeführten gewerblichen Tätigkeiten;
4. ‚Zahlungsinstitut‘ eine juristische Person, der nach Artikel 11 eine Zulassung für die unionsweite Erbringung und Ausführung von Zahlungsdiensten erteilt wurde;
…
38. ‚Agent‘ eine natürliche oder juristische Person, die im Namen eines Zahlungsinstituts Zahlungsdienste ausführt;
…“
16 Aus Anhang I („Zahlungsdienste“) der Richtlinie 2015/2366 geht hervor, dass die „Ausgabe von Zahlungsinstrumenten und/oder Annahme und Abrechnung (‚Acquiring‘) von Zahlungsvorgängen“ zu den Zahlungsdiensten gemäß Art. 4 Nr. 3 dieser Richtlinie gehören.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 Laut der Vorlageentscheidung ist American Express eine internationale Dienstleistungsgesellschaft, die mit Unterstützung ihrer konsolidierten Tochtergesellschaften Zahlungs-, Reise-, Geldwechsel- und Kundenbindungsdienstleistungen anbietet. Gleichzeitig erbringt sie in der ganzen Welt einschließlich der Europäischen Union Kartenausgabe‑ sowie Annahme‑ und Abrechnungsdienste. American Express betreibt mit ihren Tochtergesellschaften das Kartenzahlverfahren American Express (im Folgenden: Amex), ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren. Dieses hat in der Union Co‑Branding-Vereinbarungen und Dienstleistungsverträge geschlossen, was je nach der Antwort, die der Gerichtshof auf die gestellte Frage zur Auslegung von Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 geben wird, zur Folge haben könnte, dass eine große Anzahl der Transaktionen dieses Zahlverfahrens wegen der in Art. 1 Abs. 5 vorgesehenen Ausdehnung auf Co‑Branding und Vertreter unter die Verordnung fallen könnte.
18 Die im Ausgangsverfahren beklagten Lords Commissioners stehen an der Spitze des Finanzministeriums (Her Majesty’s Treasury, Vereinigtes Königreich). Sie tragen die endgültige Verantwortung für die Erfüllung der dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland obliegenden Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Anwendung, der Durchsetzung und jeder anderen Form der Durchführung der Verordnung 2015/751, wozu gemäß deren Art. 13 und 14 auch die Festlegung der Sanktionen gehört, die bei Verstößen gegen Vorschriften dieser Verordnung zu verhängen sind.
19 American Express beantragte beim vorlegenden Gericht die Zulassung einer Klage auf richterliche Überprüfung („judicial review“) der „Absicht und/oder Verpflichtung der [Lords Commissioners], die Ausdehnung auf Co‑Branding und/oder Vertreter anzuwenden, durchzusetzen oder in jeder anderen Form durchzuführen“. Das vorlegende Gericht hat die Klage zugelassen.
20 Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren allein deshalb, weil es mit einem Co‑Branding-Partner oder Vertreter eine Vereinbarung geschlossen hat, dahin einzustufen ist, dass es im Sinne von Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente ausgibt – also unabhängig davon, ob dieser Partner oder Vertreter ein anderer Zahlungsdienstleister ist, der Zahlungskarten ausgibt –, oder ob es vielmehr nur dann in dieser Weise einzustufen ist, wenn dieser Partner oder Vertreter selbst Zahlungsdienstleister ist und er im Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Verordnung als Emittent handelt.
21 Sofern Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 dahin auszulegen sein sollten, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren im Sinne dieser Vorschriften als eines, das mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente ausgibt, einzustufen ist, selbst wenn es selbst der Emittent bleibt und einen Dritten in Anspruch nimmt, um eine oder mehrere Zusatzfunktionen zur Unterstützung seiner Ausgabetätigkeit wahrzunehmen, wäre nach Ansicht des vorlegenden Gerichts weiter über das Vorbringen von American Express zu entscheiden, dass diese Bestimmungen wegen eines Begründungsmangels, eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers und eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ungültig seien.
22 Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Queen’s Bench [Verwaltungskammer], Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Bestimmung in Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751, wonach ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente herausgibt, als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet wird, nur anwendbar, soweit der Co‑Branding-Partner oder der Vertreter als „Emittent“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 und dem 29. Erwägungsgrund dieser Verordnung handelt (also, wenn der Partner oder Vertreter mit dem Zahler in einer Vertragsbeziehung steht, in deren Rahmen er sich verpflichtet, ein Zahlungsinstrument zur Veranlassung und Verarbeitung der kartengebundenen Zahlungsvorgänge des Zahlers zur Verfügung zu stellen)?
2. Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Sind Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 ungültig, soweit sie bestimmen, dass solche Vereinbarungen als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet werden, und zwar wegen
a)
Verstoßes gegen die Pflicht zur Begründung nach Art. 296 AEUV,
b)
eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers und/oder
c)
Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
23 Mit am 27. Juli 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat American Express die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt.
24 Zur Begründung macht American Express geltend, dass die vom Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vorgenommene Analyse unzutreffend sei, da sie verschiedene relevante Begriffsbestimmungen der Verordnung 2015/751 und der Richtlinie 2015/2366 ignoriere, obwohl diese beiden Rechtsakte – worüber sich im Übrigen die Parteien des Verfahrens einig seien – sich ergänzten und zum gleichen Legislativpaket gehörten. In dieser Analyse werde auch die Reichweite von Art. 5 dieser Verordnung verkannt, so insbesondere die des dort verwendeten Begriffs „zwischengeschaltete Stelle“. Im Übrigen sei der Text in Nr. 98 der Schlussanträge entweder unvollständig oder die darin enthaltene Begründung widersprüchlich. Schließlich hätte die vom Generalanwalt vorgeschlagene Auslegung der Verordnung die Folge, dass der Anwendungsbereich dieser Verordnung stärker ausgedehnt würde als mit jeder anderen von den Parteien des Verfahrens vor dem Gerichtshof vorgeschlagenen Auslegung.
25 Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auf Antrag der Parteien im Einklang mit Art. 83 seiner Verfahrensordnung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens anordnen, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht. Dagegen sehen die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung für die Parteien keine Möglichkeit vor, zu den Schlussanträgen des Generalanwalts Stellung zu nehmen (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Im vorliegenden Fall beschränkt American Express die Begründung ihres Antrags auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens im Wesentlichen darauf, die vom Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vorgenommene Auslegung der Verordnung 2015/751 zu beanstanden. In Anbetracht der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung bildet dies aber keinen der Gründe, mit denen die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens gerechtfertigt werden kann.
27 Zudem wurde die Reichweite der Bestimmungen der Verordnung 2015/751, deren Auslegung Gegenstand der ersten Vorlagefrage ist, sowohl während des schriftlichen Verfahrens als auch in der mündlichen Verhandlung erörtert.
28 Der Gerichtshof ist deshalb nach Anhörung des Generalanwalts der Ansicht, dass er über alle Angaben verfügt, die zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts erforderlich sind, und dass das gesamte entscheidungserhebliche Vorbringen zwischen den Parteien erörtert worden ist.
29 Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens ist daher zurückzuweisen.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
30 Das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission halten das Vorabentscheidungsersuchen insgesamt für unzulässig, weil erstens zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens kein realer Rechtsstreit bestehe, zweitens das nationale Gericht in seiner Vorlageentscheidung nicht das Mindestmaß an notwendigen Angaben mache, da es weder die relevanten Tatsachen noch die Gründe darstelle, aus denen ihm die Auslegung und Gültigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen fraglich erschienen, und drittens die Erhebung der Klage des Ausgangsverfahrens auf richterliche Überprüfung der „Absicht und/oder Verpflichtung“ der Lords Commissioners, diese Bestimmungen anzuwenden oder durchzuführen, ein Mittel zur Umgehung des durch den AEU-Vertrag errichteten Rechtsbehelfssystems darstelle.
31 Vorab ist festzustellen, dass nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass eines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betreffen (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24).
32 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25).
33 Was erstens die Realität des Ausgangsrechtsstreits betrifft, so hat American Express mit ihrer Klage beim vorlegenden Gericht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der „Absicht und/oder Verpflichtung“ der Lords Commissioners beantragt, die in Rede stehenden Bestimmungen anzuwenden oder durchzuführen. Hierzu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens über die Begründetheit der Klage streiten. Da das vorlegende Gericht über diesen Streit zu entscheiden hat und es der Auffassung ist, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens eine wirkliche Streitigkeit in Bezug auf die Auslegung und die Gültigkeit der betreffenden Bestimmungen der Verordnung besteht, ist nicht offensichtlich, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht real ist (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 36 und 38, und vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 17).
34 Im Übrigen beruht das Vorbringen, mit dem der fiktive Charakter des Ausgangsrechtsstreits dargetan werden soll und wonach es weder einen Rechtsakt noch eine Unterlassung einer nationalen Verwaltung gebe, die zu einer Klage auf Rechtmäßigkeitskontrolle Anlass geben könne, auf einer kritischen Würdigung der Zulässigkeit der im Ausgangsverfahren erhobenen Klage und der Beurteilung des Sachverhalts durch das vorlegende Gericht in Anwendung der im nationalen Recht vorgesehenen Kriterien. Es ist aber weder Sache des Gerichtshofs, diese Beurteilung in Frage zu stellen, die im Rahmen des vorliegenden Verfahrens in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt, noch hat er zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Dieses Vorbringen kann daher nicht genügen, um die in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zu widerlegen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26).
35 Was zweitens das Argument angeht, dass das vorlegende Gericht weder die relevanten Tatsachen noch die Gründe dargestellt habe, aus denen ihm die Auslegung und Gültigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen fraglich erschienen, so ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 94 Buchst. a der Verfahrensordnung jedes Vorabentscheidungsersuchen „eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen“, enthalten muss.
36 Insoweit genügt es, dass sich der Gegenstand sowie diejenigen Punkte des Ausgangsrechtsstreits, die für die Unionsrechtsordnung hauptsächlich von Interesse sind, aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergeben, damit sich die Mitgliedstaaten und andere Beteiligte gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union äußern und wirkungsvoll am Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligen können (Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C‑42/07, EU:C:2009:519, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im vorliegenden Fall ist aus der Vorlageentscheidung ersichtlich, dass Amex ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren im Sinne von Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 ist und in der Union Co‑Branding-Vereinbarungen und Dienstleistungsverträge geschlossen hat. Jedoch könnte je nach der Antwort, die der Gerichtshof auf die Vorlagefragen geben wird, angesichts dieser Vereinbarungen und Verträge gemäß Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 eine große Anzahl der von Amex durchgeführten Transaktionen unter diese Verordnung fallen.
38 In der Vorlageentscheidung werden somit knapp, aber präzise der Anlass und die Art des Ausgangsrechtsstreits dargestellt, dessen Entscheidung von der Auslegung und der Gültigkeit dieser Bestimmungen abhängen soll. Damit hat das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem es sein Ersuchen um Auslegung des Unionsrechts stellt, so ausreichend festgelegt, dass der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen sachgerecht beantworten kann (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Juli 2016, Genentech, C‑567/14, EU:C:2016:526, Rn. 27).
39 Was zum anderen die Frage betrifft, ob das vorlegende Gericht hinreichend dargelegt hat, aus welchen Gründen ihm die Auslegung und die Gültigkeit der im Ausgangsverfahren fraglichen Bestimmungen zweifelhaft erscheinen, so ist es im Geist der Zusammenarbeit, in dem das Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen ist, tatsächlich unerlässlich, dass das nationale Gericht in seiner Vorlageentscheidung die genauen Gründe darlegt, aus denen es eine Beantwortung seiner Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts für entscheidungserheblich hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Daher ist wesentlich, dass das nationale Gericht insbesondere die genauen Gründe angibt, aus denen ihm die Auslegung oder die Gültigkeit von Bestimmungen des Unionsrechts fraglich erscheint, und die Gründe darlegt, aus denen es sie für ungültig hält. Dieses Erfordernis ergibt sich auch aus Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen – unter Wiedergabe eines Teils des diesbezüglichen Vorbringens der Parteien des Ausgangsverfahrens – ausgeführt, dass die Auslegung einiger Bestimmungen der Verordnung 2015/751 ungewiss sei. Zudem könnte der Gerichtshof, je nach seiner Auslegung dieser Bestimmungen, über die von American Express geltend gemachten Ungültigkeitsgründe zu entscheiden haben.
42 Folglich ist das vorlegende Gericht nicht nur der Ansicht, dass das Vorbringen der Parteien des Ausgangsverfahrens eine Auslegungsfrage aufwirft, deren Antwort ungewiss ist, sondern hält es auch für möglich, dass die von American Express angeführten Ungültigkeitsgründe, die in der Vorlageentscheidung wiedergegeben sind, durchgreifen.
43 Was drittens das Argument anbelangt, die Erhebung der Klage des Ausgangsverfahrens auf richterliche Überprüfung der „Absicht und/oder Verpflichtung“ der Lords Commissioners, die Verordnung 2015/751 anzuwenden oder durchzuführen, stelle ein Mittel zur Umgehung des durch den AEU-Vertrag errichteten Rechtsbehelfssystems dar, und insbesondere die Auffassung des Parlaments, wonach im vorliegenden Fall von den Lords Commissioners gegen Amex keine Maßnahme ergriffen worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits mehrere die Auslegung und/oder Gültigkeit von Sekundärrechtsakten betreffende Vorabentscheidungsersuchen, die im Rahmen von Klagen auf richterliche Überprüfung vorgelegt worden waren, für zulässig erklärt hat, so u. a. in den Rechtssachen, in denen die Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco (C‑491/01, EU:C:2002:741), vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312), vom 8. Juli 2010, Afton Chemical (C‑343/09, EU:C:2010:419), vom 4. Mai 2016, Pillbox 38 (C‑477/14, EU:C:2016:324), und vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a. (C‑547/14, EU:C:2016:325), ergangen sind.
44 Im Übrigen hängt die Möglichkeit für den Einzelnen, sich vor den nationalen Gerichten auf die Ungültigkeit einer Unionshandlung allgemeiner Geltung zu berufen, nicht davon ab, dass diese Handlung tatsächlich bereits Gegenstand von Durchführungsmaßnahmen gewesen ist, die aufgrund des nationalen Rechts ergangen sind. Insoweit genügt es, dass das nationale Gericht mit einem tatsächlichen Rechtsstreit befasst ist, in dem sich inzident die Frage der Gültigkeit einer solchen Handlung stellt. Diese Bedingung ist jedoch im Ausgangsrechtsstreit erfüllt, wie sich aus den Rn. 21, 33, 34, 41 und 42 des vorliegenden Urteils ergibt (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 40, vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 29, vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 19, und vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 35).
45 Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass die Klage im Ausgangsrechtsstreit erhoben wurde, um das durch den AEU-Vertrag errichtete Rechtsbehelfssystem zu umgehen.
46 Schließlich können die vorstehenden Feststellungen nicht durch das Vorbringen des Parlaments und der Kommission in Frage gestellt werden, wonach die vorliegende Rechtssache, die die Auslegung und Gültigkeit einer Verordnung betrifft, von Rechtssachen unterschieden werden müsse, die die Auslegung und Gültigkeit einer Richtlinie betreffen, weil eine Verordnung – anders als eine Richtlinie – gemäß Art. 288 AEUV unmittelbar gelte und darüber hinaus im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen keine Maßnahmen von Mitgliedstaaten voraussetzten.
47 Wie nämlich aus Rn. 37 des vorliegenden Urteils hervorgeht, bestimmt sich nach der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen, in welchem Umfang Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren wie Amex den Verpflichtungen gemäß den Art. 3 bis 5 und 7 der Verordnung 2015/751 unterliegen, die ein gewisses Tätigwerden der Mitgliedstaaten voraussetzen. So haben die Mitgliedstaaten nach den Art. 13 und 14 dieser Verordnung zum einen die zuständigen Behörden zu benennen, die die Durchsetzung der Verordnung sicherzustellen befugt und mit den entsprechenden Untersuchungs- und Vollstreckungsbefugnissen ausgestattet sind, und zum anderen die Vorschriften über Sanktionen festzulegen, die bei Verstößen gegen die Verordnung zu verhängen sind, und alle erforderlichen Vorkehrungen für ihre Anwendung zu treffen. Außerdem ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Lords Commissioners an der Spitze des Finanzministeriums stehen, das gemäß den Art. 13 und 14 der Verordnung 2015/751 die endgültige Verantwortung für die Erfüllung der dem Vereinigten Königreich obliegenden Verpflichtungen im Zusammenhang mit jedweder Anwendung der Verordnung 2015/751 trägt.
48 Nach alledem ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur ersten Frage
49 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 dahin auszulegen ist, dass im Rahmen einer Vereinbarung zwischen einem Co‑Branding-Partner oder Vertreter und einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren der Co‑Branding-Partner oder Vertreter als Emittent im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung handeln muss, um im Sinne von Art. 1 Abs. 5 der Verordnung dieses Verfahren als eines einzustufen, das mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente herausgibt, und damit als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten.
50 Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Verordnung 2015/751 deren Kapitel II, dessen Art. 3 bis 5 Interbankenentgelte für Kartentransaktionen von Verbrauchern bestimmten Obergrenzen unterwerfen, keine Geltung hat für „Transaktionen mit Zahlungskarten, die von Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren ausgegeben werden“. Ebenso wenig gilt für Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren nach Art. 1 Abs. 4 der Verordnung deren Art. 7, der eine Pflicht zur Trennung von Kartenzahlverfahren und abwickelnden Stellen vorsieht.
51 Jedoch bestimmt Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 ebenso wie deren Art. 2 Nr. 18, der eine Legaldefinition für Drei-Parteien-Kartenzahlsysteme enthält, dass dann, wenn ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren „Lizenzen zur Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten oder zur Annahme und Abrechnung von kartengebundenen Zahlungsvorgängen an andere Zahlungsdienstleister [vergibt] oder … es gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente [herausgibt], … es als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet wird“.
52 Daraus folgt, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren grundsätzlich nicht den in den Art. 3 bis 5 und 7 der Verordnung 2015/751 vorgesehenen Verpflichtungen unterliegt, sofern es nicht eine der drei Tatbestandsalternativen des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung erfüllt, es also nicht Lizenzen zur Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten oder zur Annahme und Abrechnung von kartengebundenen Zahlungsvorgängen an andere Zahlungsdienstleister vergibt (erste Tatbestandsalternative), es nicht gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner kartengebundene Zahlungsinstrumente herausgibt (zweite Tatbestandsalternative) und es nicht mittels eines Vertreters Zahlungsinstrumente herausgibt (dritte Tatbestandsalternative). Denn ist einer dieser alternativen Tatbestände erfüllt, wird das Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren nach Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet.
53 Im vorliegenden Fall trägt American Express vor, Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 sei dahin auszulegen, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren nur dann als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet werden könne, wenn zumindest ein Dritter, der Zahlungsdienstleister sei, im Rahmen eines Zahlungsvorgangs als Emittent oder Acquirer handele, sei es als lizensierter Emittent, als lizensierter Acquirer, als anstelle des Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens die Karte ausgebender Co‑Branding-Partner oder als anstelle dieses Verfahrens die Karte ausgebender Vertreter.
54 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. September 2017, Kommission/Deutschland, C‑616/15, EU:C:2017:721, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Was zunächst die Formulierung der mit der ersten Vorlagefrage angesprochenen zweiten und dritten Tatbestandsalternative des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 angeht, so ist zu beachten, dass der „Emittent“ in Art. 2 Nr. 2 der Verordnung 2015/751 als ein „Zahlungsdienstleister“ definiert wird, „der eine vertragliche Vereinbarung schließt, um einem Zahler ein Zahlungsinstrument zur Veranlassung und Verarbeitung der kartengebundenen Zahlungsvorgänge des Zahlers zur Verfügung zu stellen“. Im 29. Erwägungsgrund wiederum heißt es: „Die Kartenausgabe erfolgt auf der Grundlage einer Vertragsbeziehung zwischen dem Emittenten des Zahlungsinstruments und dem Zahler, unabhängig davon, ob der Emittent Gelder im Namen des Zahlers hält. Der Emittent stellt dem Zahler Zahlungskarten zur Verfügung, autorisiert Zahlungsvorgänge an Terminals oder entsprechenden Stellen und kann dem Acquirer die Zahlung für regelkonforme Zahlungsvorgänge im Rahmen des betreffenden Kartenzahlverfahrens garantieren. Deshalb handelt es sich bei dem reinen Vertrieb von Zahlungskarten oder der reinen Erbringung technischer Dienste (wie der Verarbeitung und Speicherung von Daten) nicht um eine Kartenausgabe.“
56 Zur zweiten Tatbestandsalternative des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751, also dem Abschluss einer Vereinbarung zwischen einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren und einem Co‑Branding-Partner, ist ferner anzumerken, dass Co‑Branding in Art. 2 Nr. 32 der Verordnung als „das Aufnehmen von mindestens einer Zahlungsmarke und mindestens einer Nicht-Zahlungsmarke auf dasselbe kartengebundene Zahlungsinstrument“ definiert ist. Als „Zahlungsmarke“ gilt dabei laut Art. 2 Nr. 30 der Verordnung „jeder reale oder digitale Name, jeder materielle oder digitale Begriff, jedes materielle oder digitale Zeichen, jedes materielle oder digitale Symbol oder jede Kombination davon, unter dem bzw. der die kartengebundenen Zahlungsvorgänge abgewickelt werden“.
57 Für die dritte Tatbestandsalternative des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751, also den Abschluss einer Vereinbarung zwischen einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren und einem Vertreter, wird zwar in der Verordnung nicht definiert, was unter „Vertreter“ zu verstehen ist. Aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2366, die ebenfalls zum Rechtsrahmen der Union für Zahlungsdienste gehört, geht jedoch hervor, dass dieser überarbeitete Rechtsrahmen durch die Verordnung 2015/751 ergänzt wird. Dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie lässt sich ferner entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber eine unionsweit einheitliche Anwendung des rechtlichen Rahmens sicherstellen wollte.
58 Wie American Express ausgeführt hat, ist jedoch in Art. 4 Nr. 38 der Richtlinie 2015/2366 der Begriff „Agent“ definiert als „eine natürliche oder juristische Person, die im Namen eines Zahlungsinstituts Zahlungsdienste ausführt“, wobei aus Art. 4 Nr. 3 und Anhang I dieser Richtlinie hervorgeht, dass zu diesen Zahlungsdiensten auch die Ausgabe von Zahlungsinstrumenten und/oder die Annahme und Abrechnung („Acquiring“) von Zahlungsvorgängen gehören.
59 Aus den einschlägigen Definitionen der Begriffe „Co‑Branding“ und „Agent“ kann daher nicht der Schluss gezogen werden, dass ein Co‑Branding-Partner oder Vertreter, der eine Vereinbarung mit einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren geschlossen hat, in diesem Verfahren notwendigerweise als Emittent im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung 2015/751 tätig wird.
60 Damit geht jedoch, wie der Generalanwalt in den Nrn. 87 und 90 seiner Schlussanträge erläutert hat, weder aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 5 noch dem des Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 ausdrücklich hervor, dass der Co‑Branding-Partner oder Vertreter an der Kartenausgabe beteiligt sein müsste. Hätte der Unionsgesetzgeber aber den Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 5 beschränken wollen, so hätte er dies ausdrücklich vorsehen können (vgl. entsprechend Urteil vom 19. März 2009, Kommission/Italien, C‑275/07, EU:C:2009:169, Rn. 99).
61 Auch wenn es im Übrigen im 28. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/751 heißt, dass „Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, bei denen Zahlungsdienstleister als Acquirer oder Emittenten auftreten, als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren gelten und denselben Vorschriften unterliegen“, kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass nur dieser Sachverhalt in den Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 5 der Verordnung fällt. Wie oben in Rn. 52 ausgeführt, erfasst diese Bestimmung auch die Fallgestaltung eines Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens, das „Lizenzen zur Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten oder zur Annahme und Abrechnung von kartengebundenen Zahlungsvorgängen an andere Zahlungsdienstleister“ vergibt.
62 Ferner ergibt sich, wie der Generalanwalt in Nr. 90 seiner Schlussanträge angemerkt hat, aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751, namentlich dem Satzteil „Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren, das gemeinsam mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente herausgibt“, die Folgerung, dass dieses Kartenzahlverfahren selbst die Kartenausgabe wahrnimmt.
63 Was zweitens die Systematik dieser Bestimmung anbelangt, ist unstreitig nach deren erster Tatbestandsalternative ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren u. a. dann als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten, wenn es „Lizenzen zur Ausgabe von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten oder zur Annahme und Abrechnung von kartengebundenen Zahlungsvorgängen an andere Zahlungsdienstleister“ vergibt.
64 Daraus folgt, wie der Generalanwalt in den Nrn. 77 und 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass Fälle, in denen ein Dritter mit einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren eine Vereinbarung abschließt, nach der er kartengebundene Zahlungsinstrumente für dieses Verfahren ausgibt oder annimmt oder verarbeitet, diese erste Tatbestandsalternative erfüllen.
65 Es ist daher festzustellen, dass die von American Express vertretene Auslegung der zweiten und dritten Tatbestandsalternative des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751, nach der eine Vereinbarung mit einem Dritten diese Tatbestandsalternativen nur dann erfüllt, wenn der Dritte kartengebundene Zahlungsinstrumente für das Kartenzahlverfahren ausgibt, diesen Tatbestandsalternativen weitgehend ihre Bedeutung zu nehmen drohte.
66 Während sich die erste Tatbestandsalternative überdies ausdrücklich darauf bezieht, dass der Dritte, an den die Lizenz vergeben wurde, ebenfalls ein „Zahlungsdienstleister“ ist, sehen die zweite und die dritte Fallgestaltung nicht ausdrücklich vor, dass der Co‑Branding-Partner oder Vertreter notwendig ein Zahlungsdienstleister ist. Es kann damit nicht ausgeschlossen werden, dass der Co‑Branding-Partner möglicherweise andere Geschäftstätigkeiten ausübt als Zahlungsdienste und damit andere Tätigkeiten als die Ausgabe oder Annahme oder Verarbeitung von kartengebundenen Zahlungsinstrumenten.
67 Was drittens die mit der Verordnung 2015/751 verfolgten Ziele betrifft, zu der die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen gehören, so bestehen sie laut dem 43. Erwägungsgrund der Verordnung in der Festlegung einheitlicher Vorschriften für kartengebundene Zahlungsvorgänge, einschließlich über Internet und mobile Endgeräte. Insbesondere soll laut dem zehnten Erwägungsgrund der Verordnung die Regulierung der Interbankenentgelte das Funktionieren des Binnenmarkts verbessern und zu einer Verringerung der Transaktionskosten für die Verbraucher beitragen.
68 Zur Anwendbarkeit der Verordnung auf Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren heißt es im 28. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/751 weiter, der Unionsgesetzgeber habe es angesichts der Existenz „impliziter Interbankenentgelte und im Interesse gleicher Wettbewerbsbedingungen“ für notwendig erachtet, dass unter bestimmten Umständen diese Verfahren als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren gälten und denselben Vorschriften wie diese unterlägen.
69 Darüber hinaus geht aus zahlreichen Bestimmungen der Verordnung 2015/751, darunter ihrem 31. Erwägungsgrund und ihren Art. 5 und 13 Abs. 6, hervor, dass sie auch darauf abzielt, die Umgehung der in ihr enthaltenen Regeln zu vermeiden, so insbesondere der in ihr normierten Obergrenzen für Interbankenentgelte.
70 Das Interbankenentgelt ist in Art. 2 Nr. 10 der Verordnung 2015/751 weit definiert als das „Entgelt, das bei einem kartengebundenen Zahlungsvorgang für jede direkte oder indirekte (d. h. über einen Dritten vorgenommene) Transaktion zwischen dem Emittenten und dem Acquirer gezahlt wird“, wobei die „Nettovergütung oder andere vereinbarte Vergütungen … Bestandteil des Interbankenentgelts“ sind. Die „Nettovergütung“ wiederum ist in Art. 2 Nr. 11 der Verordnung definiert als „die Gesamtnettosumme der Zahlungen, Rabatte und Anreize, die ein Emittent vom Kartenzahlverfahren, dem Acquirer oder einer zwischengeschalteten Stelle in Bezug auf einen kartengebundenen Zahlungsvorgang oder damit verbundene Tätigkeiten erhält“.
71 Unter diesen Umständen kann, wie von der Kommission vorgetragen, nicht ausgeschlossen werden, dass eine bestimmte Art von Gegenleistung oder Vorteil als implizites Interbankenentgelt im Sinne des 28. Erwägungsgrundes der Verordnung 2015/751 eingestuft werden kann, ohne dass der Co‑Branding-Partner oder Vertreter, mit dem das Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren eine Vereinbarung geschlossen hat, notwendigerweise an dessen Kartenausgabe beteiligt sein müsste. Daher könnte es sich als schwierig erweisen, die Ziele der Verordnung 2015/751, darunter insbesondere das mit Art. 1 Abs. 5 der Verordnung verfolgte Ziel der Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt, zu verwirklichen, wenn die Sachverhalte, in denen der Co‑Branding-Partner oder Vertreter nicht als Emittent im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung handelt, aus diesem Grund von den Regelungen der Art. 3 bis 5 und 7 dieser Verordnung auszunehmen wären.
72 Schließt ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren eine Vereinbarung über Co‑Branding im Sinne von Art. 2 Nr. 32 der Verordnung 2015/751 oder eine Vereinbarung mit einem Agenten im Sinne von Art. 4 Nr. 38 der Richtlinie 2015/2366, sollte es folglich gemäß Art. 1 Abs. 5 der Verordnung als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren betrachtet werden, so dass es den Pflichten gemäß den Art. 3 bis 5 und 7 der Verordnung unterliegt.
73 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 5 der Verordnung 2015/751 dahin auszulegen ist, dass im Rahmen einer Vereinbarung zwischen einem Co‑Branding-Partner oder Vertreter und einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren der Co‑Branding-Partner oder Vertreter nicht als Emittent im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung handeln muss, um im Sinne von Art. 1 Abs. 5 der Verordnung dieses Verfahren als eines einzustufen, das mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente herausgibt, und damit als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten.
Zur zweiten Frage
74 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 ungültig sind, soweit sie vorsehen, dass ein Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren allein deshalb als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren anzusehen ist, weil es mit einem Co‑Branding-Partner oder Vertreter eine Vereinbarung geschlossen hat, auch wenn der Co‑Branding-Partner oder Vertreter im Rahmen der Vereinbarung nicht als Emittent im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Verordnung handelt.
Zum Vorliegen einer Verletzung der Begründungspflicht
75 Hinsichtlich der Begründungspflicht ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgeschriebene Begründung eines Rechtsakts der Union zwar die Überlegungen des Urhebers dieses Rechtsakts so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann, jedoch nicht sämtliche rechtlich oder tatsächlich erheblichen Gesichtspunkte enthalten muss. Die Beachtung der Begründungspflicht ist im Übrigen nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen, sondern auch anhand seines Kontexts und sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Überdies hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass es, wenn aus einem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung das von dem Organ verfolgte Ziel in seinen wesentlichen Zügen hervorgeht, übertrieben wäre, eine besondere Begründung für die verschiedenen getroffenen technischen Entscheidungen zu verlangen (Urteil vom 3. März 2016, Spanien/Kommission, C‑26/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:132, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Im vorliegenden Fall wird im 28. Erwägungsgrund die Logik, die der Gleichstellung von Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren mit Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren in bestimmten Fallgestaltungen zugrunde liegt, hinreichend klar dargelegt. Wie in Rn. 68 des vorliegenden Urteils ausgeführt, beruht es nach diesem Erwägungsgrund nämlich auf „der Existenz impliziter Interbankenentgelte“ und dem „Interesse [an gleichen] Wettbewerbsbedingungen“, dass Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren als Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren gelten und denselben Vorschriften unterliegen sollten, während „Transparenzmaßnahmen und sonstige Maßnahmen in Bezug auf Geschäftsregeln für alle Anbieter gelten sollten“.
78 Ferner zeigen der 28. Erwägungsgrund, Art. 1 Abs. 5 Satz 2 und Art. 2 Nrn. 17 und 18 der Verordnung 2015/751 die Unterschiede auf, die zwischen Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren und Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren bestehen und die es rechtfertigen, dass die Gleichstellung Ersterer mit Letzteren für die Zwecke der Anwendung der Regelungen über die Obergrenzen für Interbankenentgelte und über die Trennung von Kartenzahlverfahren und abwickelnden Stellen nur eine teilweise ist.
79 Folglich ermöglichen es, wie der Generalanwalt in Nr. 117 seiner Schlussanträge dargelegt hat, diese Bestimmungen, indem sie die Gesamtlage, die zur teilweisen Gleichstellung der Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren mit Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren geführt hat, und die allgemeinen Ziele darstellen, die damit erreicht werden sollen, im Sinne der oben in Rn. 75 angeführten Rechtsprechung den Betroffenen, die Gründe für diese Gleichstellung zu erfahren, und dem Gerichtshof, seine Kontrolle auszuüben.
80 Unter diesen Umständen war der Unionsgesetzgeber nach der oben in den Rn. 75 und 76 wiedergegebenen Rechtsprechung nicht gehalten, in der Verordnung 2015/751 für jede der drei technischen Entscheidungen, die er getroffen hat und die den drei Tatbestandsalternativen des Art. 1 Abs. 5 der Verordnung zugrunde liegen, eine Begründung zu geben.
81 Daher ist nicht ersichtlich, dass der Verordnung 2015/751 insoweit ein Begründungsmangel anhaftete, der zur Ungültigkeit ihres Art. 1 Abs. 5 und ihres Art. 2 Nr. 18 führen könnte.
Zum Vorliegen eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers
82 Laut der Vorlageentscheidung ist im Ausgangsrechtsstreit weiter vorgetragen worden, dass Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 wegen eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers ungültig seien. Nach diesen Bestimmungen sei es nämlich im Rahmen einer Vereinbarung zwischen einem Co‑Branding-Partner oder Vertreter und einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren nicht erforderlich, dass der Co‑Branding-Partner oder Vertreter an der Kartenausgabe des Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens beteiligt sei, um dieses als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten.
83 Jedoch geht aus den Unterlagen und Angaben, die dem Gerichtshof im vorliegenden Verfahren unterbreitet worden sind, nicht hervor, dass dem Unionsgesetzgeber aus diesem Grund im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 ein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen wäre.
84 Insbesondere ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 121 bis 124 seiner Schlussanträge erläutert hat, aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Informationen kein Anhaltspunkt dafür, dass dem Unionsgesetzgeber ein Fehler bei seiner Entscheidung darüber unterlaufen wäre, in welchem Umfang Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren im Hinblick auf die Regelungen der Art. 3 bis 5 und 7 der Verordnung 2015/751 Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren gleichzustellen waren, um die oben in den Rn. 67 bis 69 genannten Ziele zu erreichen.
Zum Vorliegen eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
85 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Was die gerichtliche Nachprüfung der Einhaltung dieser Voraussetzungen betrifft, hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen in Bereichen zugebilligt, in denen seine Tätigkeit sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss. Es geht somit nicht darum, ob eine in einem solchen Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; sie ist vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn sie gemessen an dem Ziel, das die zuständigen Organe verfolgen, offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 8. Juni 2010, Vodafone u. a., C‑58/08, EU:C:2010:321, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
87 Da im vorliegenden Fall die dem Gerichtshof unterbreiteten Informationen keinen Anhaltspunkt dafür bieten, dass Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 nicht geeignet wären, die oben in den Rn. 67 bis 69 genannten legitimen Ziele dieser Bestimmungen zu erreichen, vermag das Vorbringen, Letztere verletzten den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil sie die Gleichstellung von Drei- mit Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren nicht von der Emittentenrolle der Co‑Branding-Partner oder Vertreter abhängig machten, nicht durchzugreifen. Da sich insbesondere, wie oben in Rn. 71 ausgeführt, nicht ausschließen lässt, dass im Rahmen von Vereinbarungen über Co‑Branding oder Vertretung eine bestimmte Art von Gegenleistung oder Vorteil feststellbar ist, ohne dass der Co‑Branding-Partner oder Vertreter notwendigerweise an der Kartenausgabe des betreffenden Drei-Parteien-Kartenzahlverfahrens beteiligt ist, war es im Hinblick auf die in Frage stehenden Ziele nicht offensichtlich ungeeignet, auch eine solche Vergütung den in der Verordnung festgelegten Obergrenzen für Interbankenentgelte zu unterwerfen.
88 Nach alledem hat die Prüfung der zweiten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 berühren könnte.
Kosten
89 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 1 Abs. 5 der Verordnung (EU) 2015/751 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2015 über Interbankenentgelte für kartengebundene Zahlungsvorgänge ist dahin auszulegen, dass im Rahmen einer Vereinbarung zwischen einem Co‑Branding-Partner oder Vertreter und einem Drei-Parteien-Kartenzahlverfahren der Co‑Branding-Partner oder Vertreter nicht als Emittent im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung handeln muss, um im Sinne von Art. 1 Abs. 5 der Verordnung dieses Verfahren als eines einzustufen, das mit einem Co‑Branding-Partner oder mittels eines Vertreters kartengebundene Zahlungsinstrumente herausgibt, und damit als ein Vier-Parteien-Kartenzahlverfahren zu betrachten.
2. Die Prüfung der zweiten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 1 Abs. 5 und Art. 2 Nr. 18 der Verordnung 2015/751 berühren könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 26. Januar 2018.#Centro Clinico e Diagnostico G. B. Morgagni Srl gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Ermäßigte Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für Unternehmen in den von den Naturkatastrophen in Italien betroffenen Gebieten – Beschluss, der die Beihilfen für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und deren Rückforderung anordnet – Nichtigkeitsklage – Potenzieller Empfänger, der über ein wohlerworbenes Recht verfügt – Unmittelbare und individuelle Betroffenheit – Zulässigkeit – Gleichbehandlung – Vertrauensschutz.#Rechtssache T-172/16.
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62016TJ0172
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ECLI:EU:T:2018:34
| 2018-01-26T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0172 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 16. Januar 2018.#SE gegen Rat der Europäischen Union.#Öffentlicher Dienst – Beamte – Dienstbezüge – Familienzulagen – Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 3 von Anhang VII des Statuts – Begriff ‚unterhaltsberechtigtes Kind‘ – Begriff ‚Kind, zu dessen Unterhalt ein Beamter aufgrund einer gerichtlichen Verfügung verpflichtet ist, die auf den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zum Schutz von Minderjährigen beruht‘ – Weigerung, die Enkelin des Beamten als unterhaltsberechtigtes Kind anzuerkennen.#Rechtssache T-231/17.
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62017TJ0231
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ECLI:EU:T:2018:3
| 2018-01-16T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62017TJ0231 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 17. Januar 2018.#Europäische Kommission gegen Hellenische Republik.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Staatliche Beihilfen – Für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärte Beihilfe – Rückforderungspflicht – Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 14 Abs. 3 – Für zahlungsunfähig erklärte begünstigte Gesellschaft – Insolvenzverfahren – Eintragung der Forderungen in die Gläubigertabelle – Einstellung der Tätigkeiten – Aussetzung des Insolvenzverfahrens zur Prüfung der Möglichkeit der Wiederaufnahme der Tätigkeiten – Informationspflicht – Nichterfüllung.#Rechtssache C-363/16.
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62016CJ0363
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ECLI:EU:C:2018:12
| 2018-01-17T00:00:00 |
Gerichtshof, Sharpston
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62016CJ0363
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
17. Januar 2018 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Staatliche Beihilfen – Für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärte Beihilfe – Rückforderungspflicht – Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 14 Abs. 3 – Für zahlungsunfähig erklärte begünstigte Gesellschaft – Insolvenzverfahren – Eintragung der Forderungen in die Gläubigertabelle – Einstellung der Tätigkeiten – Aussetzung des Insolvenzverfahrens zur Prüfung der Möglichkeit der Wiederaufnahme der Tätigkeiten – Informationspflicht – Nichterfüllung“
In der Rechtssache C‑363/16
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV, eingereicht am 30. Juni 2016,
Europäische Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar und B. Stromsky als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Hellenische Republik, vertreten durch K. Boskovits und V. Karra als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter C. G. Fernlund, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2017,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. Oktober 2017
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage begehrt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Hellenische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 bis 4 des Beschlusses 2012/541/EU der Kommission vom 22. Februar 2012 über die staatliche Beihilfe Griechenlands zugunsten von Enómeni Klostoÿfantourgía AE [United Textiles SA] (Staatliche Beihilfe Nr. SA.26534 [C 27/10, ex NN 6/09]) (ABl. 2012, L 279, S. 30) und aus dem AEU-Vertrag verstoßen hat, dass sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen alle erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung dieses Beschlusses getroffen oder die Kommission jedenfalls nicht angemessen unterrichtet hat.
Rechtlicher Rahmen
2 Die Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) wurde durch die Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9) aufgehoben. Für den vorliegenden Rechtsstreit gilt jedoch aufgrund des zeitlichen Rahmens des Sachverhalts weiterhin die Verordnung Nr. 659/1999.
3 Der 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 659/1999 lautete:
„Bei rechtswidrigen Beihilfen, die mit dem Gemeinsamen Markt nicht vereinbar sind, muss wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt werden. Dazu ist es notwendig, die betreffende Beihilfe einschließlich Zinsen unverzüglich zurückzufordern. Die Rückforderung hat nach den Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu erfolgen. Die Anwendung dieser Verfahren sollte jedoch die Wiederherstellung eines wirksamen Wettbewerbs durch Verhinderung der sofortigen und tatsächlichen Vollstreckung der Kommissionsentscheidung nicht erschweren. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, sollten die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit der Kommissionsentscheidung treffen.“
4 Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 659/1999 bestimmte:
„Unbeschadet einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen [Union] nach Artikel [278 AEUV] erfolgt die Rückforderung unverzüglich und nach den Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats, sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck unternehmen die betreffenden Mitgliedstaaten im Fall eines Verfahrens vor nationalen Gerichten unbeschadet des [Unions]rechts alle in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verfügbaren erforderlichen Schritte einschließlich vorläufiger Maßnahmen.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits und Vorverfahren
5 Die United Textiles SA ist ein griechisches Textilunternehmen, das Kleidung, Fasern und Stoffe herstellt. Die Situation dieses Unternehmens verschlechterte sich mindestens seit 2004 stetig, mit rückläufigen Verkäufen. Seine Betriebe stehen seit 2008 still, weil kein Betriebskapital mehr vorhanden ist. Seither sind fast alle Bankdarlehen überfällig. Im März 2009 kam die Produktion fast vollständig zum Erliegen.
6 Im Jahr 2007 gewährte die Hellenische Republik United Textiles eine Garantie für die Umschuldung eines bereits bestehenden Bankdarlehens und für ein neues Darlehen (im Folgenden: staatliche Beihilfe von 2007). Im Jahr 2009 nahm die Hellenische Republik die Umschuldung überfälliger Sozialversicherungsbeiträge von United Textiles für den Zeitraum von 2004 bis 2009 vor (im Folgenden: staatliche Beihilfe von 2009).
7 Am 22. Februar 2012 erließ die Kommission den Beschluss 2012/541, der der Hellenischen Republik am 23. Februar 2012 bekannt gegeben wurde. Seine Art. 1 bis 4 lauten:
„Artikel 1
(1) Die staatliche Beihilfe, die Griechenland unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 AEUV über die Arbeitsweise der Europäischen Union 2007 in Form einer staatlichen Garantie und 2009 in Form einer Umschuldung überfälliger Sozialversicherungsbeiträge zugunsten von [United Textiles SA] gewährt hat, ist mit dem Binnenmarkt unvereinbar.
…
Artikel 2
(1) Griechenland fordert die in Artikel 1 Absatz 1 genannte Beihilfe von dem Begünstigten zurück.
…
Artikel 3
(1) Die in Artikel 1 Absatz 1 genannte Beihilfe wird sofort und tatsächlich zurückgefordert.
(2) Griechenland stellt sicher, dass dieser Beschluss binnen vier Monaten nach seiner Bekanntgabe umgesetzt wird.
Artikel 4
(1) Griechenland übermittelt der Kommission binnen zwei Monaten nach Bekanntgabe dieses Beschlusses folgende Informationen:
a)
den Gesamtbetrag (Hauptforderung und Zinsen), der von dem Begünstigten zurückzufordern ist;
b)
eine ausführliche Beschreibung der Maßnahmen, die ergriffen wurden bzw. beabsichtigt sind, um diesem Beschluss nachzukommen;
c)
Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass eine Rückzahlungsanordnung an den Begünstigten ergangen ist.
(2) Griechenland unterrichtet die Kommission über den Fortgang seiner Maßnahmen zur Umsetzung dieses Beschlusses, bis die Rückzahlung der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Beihilfe abgeschlossen ist. Auf Anfrage der Kommission legt Griechenland unverzüglich Informationen über die Maßnahmen vor, die ergriffen wurden bzw. beabsichtigt sind, um diesem Beschluss nachzukommen. Ferner übermittelt Griechenland ausführliche Angaben über die Beihilfebeträge und die Zinsen, die von dem Begünstigten bereits zurückgezahlt wurden.“
8 Am 21. Juni 2012 bestätigten die zuständigen griechischen Behörden eine Forderung in Höhe von 19181729,10 Euro einschließlich des Betrags der staatlichen Beihilfe von 2007. Am 29. August 2012 bestätigten diese Behörden eine zusätzliche Forderung in Höhe von 15827427,78 Euro einschließlich des Betrags der staatlichen Beihilfe von 2009.
9 Vor diesem Hintergrund teilten die griechischen Behörden der Kommission aufgrund weiterer Auskunftsverlangen mit Schreiben vom 3. August 2012 mit, dass United Textiles am 19. Juli 2012 offiziell für zahlungsunfähig erklärt worden sei.
10 Die Frist zur Anmeldung der Forderungen im Rahmen des Insolvenzverfahrens begann am 30. Juli 2012 zu laufen.
11 Die Hellenische Republik meldete die Forderungen in Bezug auf die und einschließlich der als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2012/541 zurückzufordernden Beträge an.
12 Die Forderungen wurden für die Beihilfe von 2007 am 3. August 2012 und für die Beihilfe von 2009 am 14. September 2012 bei der Kanzlei des Insolvenzgerichts angemeldet. Die letzte Anmeldung erfolgte am 7. Februar 2013.
13 Im Jahr 2013 wurde ein Verfahren zur Versteigerung des Vermögens von United Textiles eingeleitet.
14 Der Insolvenzverwalter von United Textiles teilte der Kommission per E‑Mails vom 7. und vom 17. Dezember 2015 mit, dass die griechische Regierung Versuche unternehme, das Geschäft des Unternehmens wiederzubeleben.
15 Mit Schreiben vom 18. Dezember 2015 forderte die Kommission die griechischen Behörden auf, klarzustellen, ob es tatsächlich Pläne für die Fortführung der Geschäftstätigkeit von United Textiles gebe.
16 Mit Schreiben vom 19. Januar 2016 teilten diese Behörden der Kommission mit, dass durch einen Gesetzgeberischen Akt vom 30. Dezember 2015 (im Folgenden: GA) beschlossen worden sei, das Verfahren zur öffentlichen Versteigerung des Vermögens von United Textiles für einen Zeitraum von sechs Monaten ab der Bekanntgabe dieses Rechtsakts im Amtsblatt der Hellenischen Republik auszusetzen, um die Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens im Rahmen der allgemeinen Politik der Neubelebung der griechischen Industrie und der Sicherung von Beschäftigung genauer zu prüfen. Diese Behörden wiesen auch darauf hin, dass sie jedenfalls die Bekanntmachung der Kommission „Rechtswidrige und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfen: Gewährleistung der Umsetzung von Rückforderungsentscheidungen der Kommission in den Mitgliedstaaten“ (ABl. 2007, C 272, S. 4) berücksichtigen würden.
17 Die Kommission forderte die griechischen Behörden anlässlich einer Sitzung in Athen (Griechenland) am 11. Februar 2016 und mit Schreiben vom 22. Februar 2016 auf, die Beihilfe unverzüglich vollständig zurückzufordern oder das Insolvenzverfahren von United Textiles fortzusetzen.
18 Mit Schreiben vom 11. April 2016 informierten die griechischen Behörden die Kommission darüber, dass der von der Hellenischen Republik geprüfte Plan vor einer etwaigen Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit von United Textiles die vollständige und unverzügliche Rückforderung der gewährten staatlichen Beihilfen umfasse. Mit diesem Schreiben beantragten sie eine Frist von 30 Werktagen, um das Verfahren zur Beurteilung dieses Plans abzuschließen.
19 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
Zur Klage
20 Die Kommission stützt ihre Klage auf zwei Klagegründe, nämlich einen Verstoß gegen die Art. 2 und 3 des Beschlusses 2012/541 sowie einen Verstoß gegen Art. 4 dieses Beschlusses.
21 Die Kommission trägt vor, die Hellenische Republik habe erstens innerhalb der gesetzten Frist nicht alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um die unvereinbaren Beihilfen zurückzufordern, und habe sie zweitens nicht hinreichend über die zur Durchführung dieses Beschlusses ergriffenen Maßnahmen unterrichtet.
Zur ersten Rüge: keine Rückforderung der unvereinbaren Beihilfen
Vorbringen der Parteien
22 Die Kommission ist der Meinung, die Hellenische Republik habe zum Zeitpunkt des Ablaufs der in Art. 3 Abs. 2 des Beschlusses 2012/541 festgesetzten Frist, nämlich dem 25. Juni 2012, nicht sichergestellt, dass dieser Beschluss durchgeführt werde. Die Frist zur Durchführung dieses Beschlusses sei nicht verlängert worden.
23 Ein Mitgliedstaat könne, um seiner Verpflichtung zur Rückforderung einer unvereinbaren Beihilfe nachzukommen, entweder beim begünstigten Unternehmen den gesamten Betrag dieser Beihilfe sowie die Zinsen zurückfordern, oder sonst ohne Rücksicht auf mögliche finanzielle Schwierigkeiten dieses Unternehmens die Feststellung seiner Zahlungsunfähigkeit herbeiführen und im Rahmen des Insolvenzverfahrens die Forderung in Bezug auf diese Beihilfe eintragen lassen. In letzterem Fall müsse die Abwicklung des fraglichen Unternehmens mit der endgültigen Einstellung seiner Geschäftstätigkeit einhergehen.
24 Nach Ansicht der Kommission ist offensichtlich, dass die Hellenische Republik zum Zeitpunkt des Ablaufs der Durchführungsfrist diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei.
25 Was die endgültige Einstellung der Tätigkeit des begünstigten Unternehmens betrifft, trägt die Kommission vor, dass sich dieses Unternehmen von dem Zeitpunkt an, zu dem es keinesfalls mehr in der Lage sei, die erhaltenen Beihilfen zurückzuerstatten, auflösen müsse, damit die Beseitigung des Wettbewerbsvorteils gewährleistet werde. In diesem Fall befinde sich dieses Unternehmen in einem unumkehrbaren Prozess der Auflösung, der auch nicht vorübergehend mit der Begründung aufgehalten werden könne, dass der Mitgliedstaat die Möglichkeit der vollständigen Rückforderung und der Wiederaufnahme der Tätigkeit des begünstigten Unternehmens prüfen möchte.
26 Da die griechischen Behörden im vorliegenden Fall das Insolvenzverfahren gemäß Art. 17 des GA im Stadium der öffentlichen Versteigerung des Vermögens von United Textiles ausgesetzt hätten, um die Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Tätigkeit dieses Unternehmens zu erkunden, hätten sie die Voraussetzung der endgültigen Einstellung der Tätigkeit dieses Unternehmens nicht erfüllt. Diese Behörden hätten nämlich eine tatsächliche Aussetzung des Insolvenzverfahrens vorgenommen, um eine hypothetische Prüfung der Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Tätigkeit von United Textiles durchzuführen. Somit hätten sie den Auflösungsprozess dieser Gesellschaft umgekehrt.
27 Nach Ansicht der Hellenischen Republik hat der Umstand, dass von staatlichen Beihilfen begünstigte Unternehmen in Schwierigkeiten oder zahlungsunfähig seien, keine Auswirkung auf die Pflicht, diese Beihilfen zurückzufordern.
28 Außerdem könnten die Wiederherstellung der früheren Lage und die Beseitigung der aus den rechtswidrig gezahlten Beihilfen resultierenden Wettbewerbsverzerrung grundsätzlich durch Eintragung der Forderung auf Rückerstattung der betreffenden Beihilfen in die Forderungstabelle erfolgen.
29 Zum einen sei United Textiles durch die Durchführung des Beschlusses 2012/541 am 19. Juli 2012 für zahlungsunfähig erklärt worden und übe deshalb keine Tätigkeit auf dem Markt aus, so dass auf diesem Markt keine Wettbewerbsverzerrung mehr bestehe. Zum anderen hätten die griechischen Behörden mit der Kommission ständigen Kontakt vereinbart, um alle sachdienlichen Informationen über das Insolvenzverfahren und insbesondere über die Eintragung der Forderung auf Rückerstattung der rechtswidrigen Beihilfen in die Forderungstabelle, über die Einordnung der Forderungen in dieser Tabelle und über die Einstellung der Tätigkeit von United Textiles zu übermitteln. Somit habe die Hellenische Republik alle Maßnahmen ergriffen, die für die Rückforderung der United Textiles rechtswidrig gewährten Beihilfen während des Insolvenzverfahrens über dieses Unternehmen notwendig seien.
30 Zum Vorbringen der Kommission, dass dieses Insolvenzverfahren unumkehrbar sei und zur endgültigen Einstellung der Tätigkeit des von den rechtswidrigen Beihilfen begünstigten Unternehmens führen müsse, trägt die Hellenische Republik vor, dass weder die Rechtsprechung noch die Praxis der Kommission erforderten, dass die Insolvenz eines Unternehmens zu einem unumkehrbaren Prozess der Auflösung führe. Der Zweck und die Logik des Rechts der staatlichen Beihilfe lägen in der Beseitigung der Wettbewerbsvorteile, die ein Unternehmen aufgrund der Beihilfe erhalten habe und nicht in der endgültigen Auflösung dieses Unternehmens.
31 Daraus folge, dass die Wettbewerbsverzerrung beendet worden sei, wenn das durch die Beihilfen begünstigte Unternehmen während des Insolvenzverfahrens seine Tätigkeiten nachweislich eingestellt habe, da der mit den staatlichen Beihilfen verbundene Wettbewerbsvorteil dadurch beseitigt worden sei. Unter diesen Umständen spreche nichts dagegen, dass ein Plan zur dauerhaften Wiederaufnahme der Tätigkeiten dieses Unternehmens, der die vollständige Rückerstattung der betreffenden Beihilfen vor der Aufnahme der Tätigkeiten vorsehe, der Gläubigerversammlung präsentiert werden könne.
32 Außerdem schließt die Hellenische Republik aus der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils angeführten Bekanntmachung, deren Nr. 67 ausdrücklich die Möglichkeit nenne, einen Plan über die Fortsetzung der Betriebstätigkeit vorzuschlagen, dass die Einleitung und die Fortsetzung des Insolvenzverfahrens in bestimmten Fällen der Wiederaufnahme der Tätigkeit des Unternehmens nicht entgegenstünden, sofern die gewährten Beihilfen tatsächlich rückerstattet würden.
33 Somit könne die Aussetzung des Verfahrens zur öffentlichen Versteigerung des Vermögens dieser Gesellschaft für sechs Monate gemäß Art. 17 des GA als angemessene und zeitlich begrenzte Maßnahme angesehen werden.
Würdigung durch den Gerichtshof
34 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass der Mitgliedstaat, an den ein Beschluss gerichtet ist, der ihn zur Rückforderung rechtswidriger, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärter Beihilfen verpflichtet, nach Art. 288 AEUV alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen hat, um die Durchführung dieses Beschlusses sicherzustellen. Er muss die geschuldeten Beträge tatsächlich wiedererlangen, um die Wettbewerbsverzerrung zu beseitigen, die durch den mit diesen Beihilfen verbundenen Wettbewerbsvorteil verursacht wurde (Urteil vom 24. Januar 2013, Kommission/Spanien, C‑529/09, EU:C:2013:31, Rn. 91).
35 Aus Art. 14 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 659/1999 folgt im Licht ihres 13. Erwägungsgrundes, dass die Rückforderung einer rechtswidrigen, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe unverzüglich und nach den Verfahren des betreffenden Mitgliedstaats erfolgt, sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck sind die betreffenden Mitgliedstaaten verpflichtet, unbeschadet des Unionsrechts alle in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verfügbaren erforderlichen Schritte einschließlich vorläufiger Maßnahmen zu unternehmen (Urteil vom 11. September 2014, Kommission/Deutschland, C‑527/12, EU:C:2014:2193, Rn. 38).
36 Was die Fälle betrifft, in denen die rechtswidrig gezahlten staatlichen Beihilfen von begünstigten Unternehmen, die in Schwierigkeiten sind oder sich in der Insolvenz befinden, zurückzufordern sind, ist darauf hinzuweisen, dass solche Schwierigkeiten die Pflicht zur Rückforderung der Beihilfe unberührt lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2012, Kommission/Spanien, C‑610/10, EU:C:2012:781, Rn. 71). Der Mitgliedstaat ist also verpflichtet, je nach Fall die Abwicklung der Gesellschaft herbeizuführen, seine Forderung bei den Verbindlichkeiten der Gesellschaft anzumelden oder jede andere Maßnahme zu ergreifen, die die Rückzahlung der Beihilfe ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2007, Kommission/Italien, C‑280/05, nicht veröffentlicht, EU:C:2007:753, Rn. 28).
37 Nach ständiger Rechtsprechung können nämlich die Wiederherstellung der früheren Lage und die Beseitigung der aus diesen Beihilfen resultierenden Wettbewerbsverzerrung grundsätzlich durch Eintragung der Forderung auf Rückerstattung der betreffenden Beihilfen in die Forderungstabelle erfolgen (Urteil vom 11. Dezember 2012, Kommission/Spanien, C‑610/10, EU:C:2012:781, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Mit einer solchen Eintragung kann die Rückforderungspflicht jedoch nur dann erfüllt sein, wenn in dem Fall, dass die staatlichen Behörden die Beihilfen nicht in voller Höhe zurückfordern konnten, das Insolvenzverfahren zur Abwicklung des Unternehmens führt, d. h. zur endgültigen Einstellung seiner Tätigkeit, die die staatlichen Behörden in ihrer Eigenschaft als Aktionäre oder Gläubiger betreiben können (Urteil vom 13. Oktober 2011, Kommission/Italien, C‑454/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:650, Rn. 36).
39 Daraus folgt, dass die endgültige Einstellung der Tätigkeiten des von einer staatlichen Beihilfe begünstigten Unternehmens nur dann geboten ist, wenn die Rückforderung der Beihilfe in voller Höhe während des Insolvenzverfahrens unmöglich war.
40 Was zum einen die zeitlichen Aspekte der Rückforderung der für rechtswidrig und mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfen angeht, ist darauf hinzuweisen, dass eine verspätete Wiedererlangung, d. h. nach Ablauf der festgesetzten Fristen, den Anforderungen aus dem AEU-Vertrag nicht genügt (Urteil vom 12. Dezember 2013, Kommission/Italien, C‑411/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:832, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Zum anderen ist festzustellen, wie die Generalanwältin in Nr. 59 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die verschiedenen Schritte in einem Insolvenzverfahren, angefangen beim ursprünglichen Antrag auf Insolvenz über die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit und der Eintragungen in die Forderungstabelle bis hin zur Liquidation des Begünstigten und zur vollständigen Rückerstattung der betreffenden Beihilfen oder gegebenenfalls zur endgültigen Einstellung der Tätigkeit des Begünstigten gewöhnlich innerhalb der von der Kommission für die Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfe gesetzten Frist von normalerweise vier Monaten erfolgt.
42 Unter diesen Umständen ist die Eintragung der Forderung auf Rückerstattung der betreffenden Beihilfen als grundsätzlich zur Sicherstellung der Beseitigung der Wettbewerbsverzerrung geeignete Maßnahme anzusehen, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, soweit einer solchen Maßnahme entweder die vollständige Rückerstattung dieser Beihilfen oder die Abwicklung des Unternehmens und die endgültige Einstellung seiner Tätigkeiten folgt, wenn eine solche Rückerstattung während des Insolvenzverfahrens unmöglich ist.
43 Damit eine solche Maßnahme insbesondere im Hinblick auf das Erfordernis einer unverzüglichen Durchführung des Beschlusses über die Rückforderung der rechtswidrigen, für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilfe wirksam ist, muss sie, wie die Generalanwältin in Nr. 60 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. April 2011, Kommission/Polen, C‑331/09, EU:C:2011:250, Rn. 60 bis 65, vom 13. Oktober 2011, Kommission/Italien, C‑454/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:650, Rn. 38 bis 42, und vom 11. Dezember 2012, Kommission/Spanien, C‑610/10, EU:C:2012:781, Rn. 73 bis 75).
44 Um demnach im vorliegenden Fall beurteilen zu können, ob ein Verstoß gegen Art. 108 Abs. 2 AEUV vorliegt, ist der Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die Hellenische Republik die Forderungen auf Rückerstattung der fraglichen Beihilfen eintragen musste.
45 Dazu ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung für die Anwendung von Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV auf jenen Zeitpunkt abzustellen ist, der in dem Beschluss genannt ist, dessen Nichtdurchführung beanstandet wird, oder gegebenenfalls auf jenen Zeitpunkt, der von der Kommission später festgesetzt wurde (Urteil vom 12. Februar 2015, Kommission/Frankreich, C‑37/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:90, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Hindern aber in einem bestimmten Fall mit den internen Verfahren zusammenhängende Umstände oder Gründe den Mitgliedstaat daran, die Forderung in Bezug auf die betreffende Beihilfe innerhalb der vorgeschriebenen Frist in die Forderungstabelle einzutragen, müsste dieser Mitgliedstaat nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs diese Probleme der Kommission zur Beurteilung vorlegen und geeignete Änderungen des in Rede stehenden Beschlusses vorschlagen. Der Mitgliedstaat und die Kommission müssen gemäß dem Grundsatz, dass den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit obliegen, wie er namentlich Art. 4 Abs. 3 EUV zugrunde liegt, redlich zusammenwirken, um die Schwierigkeiten unter vollständiger Beachtung der Bestimmungen des Vertrags, insbesondere derjenigen über die Beihilfen, zu überwinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2015, Kommission/Frankreich, C‑37/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:90, Rn. 67).
47 Soweit der Mitgliedstaat jedoch keine Verlängerung der in dem Beschluss, mit dem die Rückforderung der rechtswidrig gezahlten Beihilfe angeordnet wurde, gesetzten Frist beantragt hat, bleibt der für die Anwendung von Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV und insbesondere zur Eintragung der Forderung auf Rückerstattung der betreffenden Beihilfen in die Forderungstabelle maßgebende Zeitpunkt derjenige, der in diesem Beschluss vorgesehen war.
48 Wenn somit der betreffende Mitgliedstaat zu dem in der Rückforderungsentscheidung vorgesehenen Zeitpunkt oder gegebenenfalls zu einem später von der Kommission festgesetzten Zeitpunkt nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um der Pflicht zur Rückforderung der fraglichen Beihilfe nachzukommen und insbesondere um die Wiederherstellung der früheren Lage und die Beseitigung der aus den betreffenden Beihilfen resultierenden Wettbewerbsverzerrung zu erreichen, ist für die Zwecke des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV davon auszugehen, dass dieser Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus dem Beschluss der Kommission verletzt hat und dass demnach alle anderen Maßnahmen, die nach der gesetzten Frist ergangen sind, für die Beurteilung der Frage, ob dieser Mitgliedstaat alle für die Durchführung dieses Beschlusses zum Zeitpunkt des Ablaufs der von der Kommission gesetzten Durchführungsfrist erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, nicht maßgeblich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 2001, Kommission/Belgien, C‑378/98, EU:C:2001:370, Rn. 28).
49 Im vorliegenden Fall war die Hellenische Republik nach Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 2012/541 dazu verpflichtet, die unverzügliche und tatsächliche Rückforderung der fraglichen Beihilfe sicherzustellen. Nach Art. 3 Abs. 2 dieses Beschlusses stand ihr dafür eine Frist von vier Monaten ab der Bekanntgabe des Beschlusses zur Verfügung.
50 Da die Kommission keine Verlängerung dieser Frist gewährt hat, ist der für die Anwendung von Art. 108 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV maßgebende Zeitpunkt derjenige des Beschlusses 2012/541.
51 Da dieser Beschluss der Hellenischen Republik am 23. Februar 2012 bekannt gegeben worden ist, ist festzustellen, dass die diesem Mitgliedstaat zur Rückforderung der rechtswidrig gewährten Beihilfen gesetzte Frist am 25. Juni 2012 abgelaufen ist, da der 23. Juni 2012 ein Samstag war.
52 Es steht aber fest, dass United Textiles erst am 19. Juli 2012 offiziell für zahlungsunfähig erklärt worden ist.
53 Außerdem geht aus den Akten hervor, dass die zur Anmeldung der Forderungen gesetzte Frist am 30. Juli 2012 zu laufen begonnen hat und dass die griechischen Behörden die Forderungen bei der Kanzlei des Insolvenzgerichts am 3. August 2012 für die staatliche Beihilfe von 2007 und am 14. September 2012 für die staatliche Beihilfe von 2009 angemeldet haben.
54 Wie sich schließlich aus den Erklärungen der Hellenischen Republik in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergibt, ist die letzte Anmeldung am 7. Februar 2013 erfolgt.
55 Da die Hellenische Republik demnach innerhalb der vorgeschriebenen Fristen nicht alle erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung des Beschlusses 2012/541 getroffen hat, ist der ersten Rüge der Kommission, die auf die Verletzung der Art. 2 und 3 dieses Beschlusses gestützt worden ist, stattzugeben.
Zur zweiten Rüge: Nichtunterrichtung der Kommission
Vorbringen der Parteien
56 Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission geltend, dass die Hellenische Republik sie jedenfalls nicht hinreichend über die Maßnahmen zur Durchführung des Beschlusses 2012/541 unterrichtet habe. Die Kommission stellt zunächst fest, dass sie durch das Schreiben der griechischen Behörden vom 19. Januar 2016 über die Aussetzung des Verfahrens zur öffentlichen Versteigerung des Vermögens von United Textiles informiert worden sei. Dieser Mitgliedstaat habe weiter keine konkreten Informationen darüber vorgelegt, dass United Textiles nicht auf dem Markt tätig sei und dass diese Gesellschaft seit Dezember 2015 keine Tätigkeit mehr ausübe. Schließlich hätten die griechischen Behörden seit ihrem Schreiben vom 11. April 2016 keine Informationen über United Textiles vorgelegt.
57 Die Hellenische Republik trägt vor, dass sie die Kommission hinreichend über die Maßnahmen zur Durchführung des Beschlusses 2012/541 unterrichtet habe.
Würdigung durch den Gerichtshof
58 Art. 4 Abs. 1 des Beschlusses 2012/541 schreibt der Hellenischen Republik vor, bestimmte Informationen über die Rückforderung der Beihilfe binnen zwei Monaten nach Bekanntgabe dieses Beschlusses zu übermitteln. Da dieser Beschluss der Hellenischen Republik am 23. Februar 2012 bekannt gegeben worden ist, ist festzustellen, dass die Frist, die ihr zur Übermittlung dieser Informationen gesetzt worden ist, am 23. April 2012 abgelaufen ist.
59 Art. 4 Abs. 2 dieses Beschlusses sieht die Verpflichtung dieses Mitgliedstaats vor, zum einen die Kommission regelmäßig über den Fortgang der zur Wiedererlangung der Beihilfe getroffenen Maßnahmen bis zur tatsächlichen Rückzahlung dieser Beihilfe und zum anderen ausführliche Angaben über die Beihilfebeträge und die Zinsen, die von dem Begünstigten bereits zurückgezahlt worden sind, zu übermitteln.
60 Was die in Art. 4 Abs. 1 dieses Beschlusses vorgesehene Verpflichtung betrifft, ist festzustellen, dass sie dieser Mitgliedstaat nicht erfüllt hat, da sich die Hellenische Republik, wie sich aus den Akten ergibt, vor Mai 2012 nicht an die Kommission gewandt hat. Im Übrigen geht aus den Erklärungen der Hellenischen Republik in der mündlichen Verhandlung hervor, dass die Informationen über die Rückforderung der Beihilfe, die der Kommission hätten übermittelt werden sollen, nicht innerhalb der in diesem Art. 4 Abs. 1 gesetzten Frist vorgelegt worden sind.
61 Was die Verpflichtung nach Art. 4 Abs. 2 des Beschlusses 2012/541 angeht, ergibt sich zwar aus den Akten, dass ab Mai 2012 ein häufiger Schriftwechsel zwischen der Kommission und der Hellenischen Republik über den Fortgang des Insolvenzverfahrens von United Textiles stattgefunden hat, dieser Mitgliedstaat aber die Kommission trotzdem nicht ordnungsgemäß vorab über den Erlass des GA informiert hat, mit dem die öffentliche Versteigerung des Vermögens von United Textiles ausgesetzt worden ist. Erst nach dem Schreiben der Kommission vom 18. Dezember 2015, mit dem diese von der Hellenischen Republik eine Erläuterung der Lage verlangt hat, hat dieser Mitgliedstaat die Kommission mit Schreiben vom 19. Januar 2016 darüber informiert, dass er diese öffentliche Versteigerung für sechs Monate ausgesetzt hat, um einen Plan zur Wiederaufnahme der Tätigkeit von United Textiles zu prüfen. Außerdem haben die griechischen Behörden seit ihrem Schreiben vom 11. April 2016 keine Informationen über United Textiles vorgelegt.
62 Es ist daher festzustellen, dass eine Verletzung der Pflicht, die Kommission über die Maßnahmen zur Durchführung des Beschlusses 2012/541 zu unterrichten, vorliegt.
63 Nach alledem ist festzustellen, dass die Hellenische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 bis 4 des Beschlusses 2012/541 und dem AEU-Vertrag verstoßen hat, dass sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen alle erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung dieses Beschlusses getroffen und die Kommission nicht angemessen über die Maßnahmen zur Durchführung dieses Beschlusses unterrichtet hat.
Kosten
64 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Hellenischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Hellenische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 bis 4 des Beschlusses 2012/541/EU der Kommission vom 22. Februar 2012 über die staatliche Beihilfe Griechenlands zugunsten von Enómeni Klostoÿfantourgía AE [United Textiles SA] (Staatliche Beihilfe Nr. SA.26534 [C 27/10, ex NN 6/09]) und dem AEU-Vertrag verstoßen, dass sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen alle erforderlichen Maßnahmen zur Durchführung dieses Beschlusses getroffen und die Kommission nicht angemessen über die Maßnahmen zur Durchführung dieses Beschlusses unterrichtet hat.
2. Die Hellenische Republik trägt die Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Griechisch.
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 12. Dezember 2017.#Sony Computer Entertainment Europe Ltd gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.#Unionsmarke – Verfallsverfahren – Unionswortmarke Vita – Ernsthafte Benutzung der Marke – Art. 51 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 (jetzt Art. 58 Abs. 1 Buchst. a Verordnung [EU] 2017/1001) – Benutzung in Verbindung mit den betroffenen Waren – Begründungspflicht.#Rechtssache T-35/16.
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62016TJ0035
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ECLI:EU:T:2017:886
| 2017-12-12T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0035 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. Dezember 2017.#Bundesrepublik Deutschland gegen Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Auswärtiges Handeln der Europäischen Union – Art. 216 Abs. 1 AEUV – Art. 218 Abs. 9 AEUV – Festlegung des Standpunkts, der im Namen der Union in einem durch eine internationale Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten ist – Revisionsausschuss der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) – Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge – Zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit – Außenkompetenz der Union in einem Bereich, in dem sie noch keine gemeinsamen Regeln erlassen hat – Gültigkeit des Beschlusses 2014/699/EU – Begründungspflicht – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.#Rechtssache C-600/14.
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62014CJ0600
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ECLI:EU:C:2017:935
| 2017-12-05T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0600
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
5. Dezember 2017 (*1)
„Nichtigkeitsklage – Auswärtiges Handeln der Europäischen Union – Art. 216 Abs. 1 AEUV – Art. 218 Abs. 9 AEUV – Festlegung des Standpunkts, der im Namen der Union in einem durch eine internationale Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten ist – Revisionsausschuss der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) – Änderung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge – Zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit – Außenkompetenz der Union in einem Bereich, in dem sie noch keine gemeinsamen Regeln erlassen hat – Gültigkeit des Beschlusses 2014/699/EU – Begründungspflicht – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“
In der Rechtssache C‑600/14
betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 22. Dezember 2014,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
Französische Republik, vertreten zunächst durch D. Colas, G. de Bergues und M. Hours, dann durch D. Colas und M.-L. Kitamura als Bevollmächtigte,
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch C. Brodie, M. Holt und D. Robertson als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, QC,
Streithelfer,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Finnegan, Z. Kupčová und J.-P. Hix als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, W. Mölls und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský und C. Vajda (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. April 2017
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage begehrt die Bundesrepublik Deutschland die teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses 2014/699/EU des Rates vom 24. Juni 2014 zur Festlegung des im Namen der Europäischen Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu bestimmten Änderungen des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge zu vertretenden Standpunkts (ABl. 2014, L 293, S. 26, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
COTIF
2 Das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (im Folgenden: COTIF) trat am 1. Juli 2006 in Kraft. Die 49 Staaten, die Parteien des COTIF sind und zu denen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme der Republik Zypern und der Republik Malta gehören, bilden die Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF).
3 Nach Art. 2 § 1 COTIF ist es Ziel der OTIF, den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, indem sie insbesondere einheitliche Rechtsordnungen für verschiedene den internationalen Eisenbahnverkehr betreffende Rechtsbereiche aufstellt.
4 In Art. 6 („Einheitliche Rechtsvorschriften“) COTIF heißt es:
„§ 1 Sofern keine Erklärungen oder Vorbehalte gemäß Artikel 42 § 1 Satz 1 abgegeben oder eingelegt worden sind, finden im internationalen Eisenbahnverkehr und bei der technischen Zulassung von Eisenbahnmaterial zur Verwendung im internationalen Verkehr Anwendung:
…
b)
die ‚Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM)‘, Anhang B zum [COTIF],
…
d)
die ‚Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV)‘, Anhang D zum [COTIF],
e)
die ‚Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI)‘, Anhang E zum [COTIF],
…
§ 2 Die in § 1 genannten Einheitlichen Rechtsvorschriften und Rechtsordnungen sind mit ihren Anlagen Bestandteil des [COTIF].“
5 Art. 12 § 5 COTIF lautet:
„Eisenbahnfahrzeuge können in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem der Halter seinen Sitz hat, nur auf Grund einer Entscheidung der Gerichte dieses Staates mit Arrest belegt oder gepfändet werden. Der Ausdruck ‚Halter‘ bezeichnet denjenigen, der als Eigentümer oder sonst Verfügungsberechtigter das Eisenbahnfahrzeug dauerhaft als Beförderungsmittel wirtschaftlich nutzt.“
6 Der OTIF‑Revisionsausschuss besteht grundsätzlich aus allen Parteien des COTIF.
7 Gemäß Art. 17 § 1 Buchst. a und b COTIF entscheidet er im Rahmen seiner Zuständigkeiten über Anträge auf Änderung des COTIF und prüft außerdem die Anträge, die der OTIF‑Generalversammlung zur Entscheidung vorzulegen sind. Die jeweiligen Zuständigkeiten dieser beiden OTIF‑Gremien für Änderungen des COTIF sind in dessen Art. 33 geregelt.
Die Beitrittsvereinbarung
8 Die am 23. Juni 2011 in Bern unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 8, im Folgenden: Beitrittsvereinbarung) ist gemäß ihrem Art. 9 am 1. Juli 2011 in Kraft getreten.
9 Art. 2 der Beitrittsvereinbarung bestimmt:
„Unbeschadet des Ziels und des Zwecks des [COTIF], den grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, sowie unbeschadet seiner uneingeschränkten Anwendung gegenüber anderen Vertragsparteien des [COTIF] wenden Vertragsparteien des [COTIF], die Mitgliedstaaten der Union sind, in ihren Beziehungen untereinander die Rechtsvorschriften der Union an und wenden dementsprechend nicht die Vorschriften aufgrund des [COTIF] an, außer wenn für den betreffenden Gegenstand keine Unionsvorschriften bestehen.“
10 Art. 6 der Beitrittsvereinbarung lautet:
„(1) Bei Beschlüssen in Angelegenheiten, in denen die Union ausschließlich zuständig ist, nimmt die Union die Stimmrechte ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen des [COTIF] wahr.
(2) Bei Beschlüssen in Angelegenheiten, in denen die Union gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten zuständig ist, nehmen entweder die Union oder ihre Mitgliedstaaten an der Abstimmung teil.
(3) Vorbehaltlich des Artikels 26 [§] 7 [COTIF] verfügt die Union über dieselbe Anzahl von Stimmen wie ihre Mitgliedstaaten, die auch Parteien des [COTIF] sind. Wenn die Union an der Abstimmung teilnimmt, sind ihre Mitgliedstaaten nicht stimmberechtigt.
(4) Die Union unterrichtet in jedem einzelnen Fall die anderen Parteien des [COTIF], wenn sie bei den verschiedenen Tagesordnungspunkten der Tagungen der Generalversammlung und anderer Entscheidungsgremien die Stimmrechte nach den Absätzen 1 bis 3 ausüben wird. Diese Verpflichtung gilt auch für Beschlüsse, die im schriftlichen Verfahren gefasst werden. Diese Unterrichtung erfolgt frühzeitig genug über das OTIF‑Generalsekretariat, damit die betreffenden Informationen zusammen mit den Sitzungsunterlagen weitergeleitet oder Beschlüsse im schriftlichen Verfahren gefasst werden können.“
11 Art. 7 der Beitrittsvereinbarung bestimmt:
„Der Umfang der Zuständigkeiten der Union wird in allgemeiner Form in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, welche die Union zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Vereinbarung abgibt. Diese Erklärung kann bei Bedarf durch eine entsprechende Notifikation der Union an die OTIF geändert werden. Sie ersetzt oder beschränkt nicht die Angelegenheiten, zu denen gegebenenfalls Notifikationen über die Zuständigkeit der Union erfolgen, bevor bei der OTIF durch förmliche Abstimmung oder ein anderes Verfahren ein Beschluss gefasst wird.“
Unionsrecht
12 Die Beitrittsvereinbarung wurde durch den Beschluss 2013/103/EU des Rates vom 16. Juni 2011 über die Unterzeichnung und den Abschluss der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 1) im Namen der Union genehmigt.
13 In Anhang I dieses Beschlusses findet sich eine Erklärung über die Ausübung der Zuständigkeiten, die die Union bei Unterzeichnung der Beitrittsvereinbarung abgegeben hat.
14 In dieser Erklärung heißt es:
„Im Eisenbahnbereich ist die Europäische Union … nach den Artikeln 90 und 91 … in Verbindung mit Artikel 100 Absatz 1 und den Artikeln 171 und 172 [AEUV] gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der Union … zuständig.
…
Auf der Grundlage [der Art. 91 und 171 AEUV] hat die Union eine beträchtliche Zahl von Rechtsinstrumenten verabschiedet, die auf den Eisenbahnverkehr Anwendung finden.
Das Unionsrecht verleiht der Union die ausschließliche Zuständigkeit in Angelegenheiten des Eisenbahnverkehrs, in denen das [COTIF] oder auf seiner Grundlage verabschiedete Rechtsinstrumente diese bestehenden Vorschriften der Union berühren oder deren Anwendungsbereich abändern könnten.
In Angelegenheiten, die unter das [COTIF] fallen und bei denen die Union über ausschließliche Zuständigkeit verfügt, sind die Mitgliedstaaten nicht zuständig.
In Angelegenheiten, zu denen Vorschriften der Union bestehen, die aber vom [COTIF] oder Rechtsinstrumenten, die auf seiner Grundlage verabschiedet wurden, nicht berührt werden, nimmt die Union die Zuständigkeiten in Bezug auf das [COTIF] gemeinsam mit den Mitgliedstaaten wahr.
Eine Liste der bei Inkrafttreten dieser Vereinbarung geltenden einschlägigen Rechtsakte der Union ist als Anlage zu diesem Anhang beigefügt. Der Umfang der Zuständigkeit der Union ist jeweils aufgrund des genauen Inhalts dieser Rechtsakte und insbesondere danach zu beurteilen, ob darin gemeinsame Regeln festgelegt werden. Die Zuständigkeit der Union unterliegt einer ständigen Entwicklung. Im Rahmen des Vertrags über die Europäische Union und des [AEU-Vertrags] können die zuständigen Organe der Union Entscheidungen treffen, die den Umfang der Zuständigkeiten der Union bestimmen. Die Union behält sich daher das Recht vor, diese Erklärung entsprechend abzuändern, ohne dass dies eine Voraussetzung für die Ausübung ihrer Zuständigkeit für unter das [COTIF] fallende Angelegenheiten wäre.“
15 In der Anlage zu Anhang I des Beschlusses 2013/103 sind die Rechtsakte der Union im Bereich von Angelegenheiten, die Gegenstand des COTIF sind, aufgelistet.
Vorgeschichte des Rechtsstreits und angefochtener Beschluss
16 Im April 2014 teilte der Generalsekretär der OTIF den Mitgliedstaaten der OTIF Anträge auf Änderungen des COTIF mit, die dem OTIF‑Revisionsausschuss anlässlich seiner 25. Sitzung in Bern vom 25. bis 27. Juni 2014 unterbreitet werden sollten. Diese Änderungsanträge betrafen u. a. Anhang B zum COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM) (im Folgenden: Anhang B [CIM]), Anhang D zum COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV) (im Folgenden: Anhang D [CUV]) in Verbindung mit Art. 12 COTIF und Anhang E zum COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI) (im Folgenden: Anhang E [CUI]). Am 25. April bzw. 27. Mai 2014 wurden dem OTIF‑Revisionsausschuss im Hinblick auf die genannte Sitzung auch zwei Anträge der Französischen Republik bzw. der Bundesrepublik Deutschland zu Anhang D (CUV) unterbreitet.
17 Am 26. Mai 2014 legte die Europäische Kommission der Arbeitsgruppe „Landverkehr“ des Rates der Europäischen Union zur Vorbereitung der Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses ein Arbeitspapier zu bestimmten Änderungen des COTIF vor. Am 5. Juni 2014 unterbreitete die Kommission dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Standpunkt der Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses (COM[2014] 338 final, im Folgenden: Beschlussvorschlag). Nach Abschluss der Arbeitssitzungen, die in den Vorbereitungsgremien des Rates stattgefunden hatten, erließ dieser in seiner Sitzung vom 24. Juni 2014 den angefochtenen Beschluss, mit dem er festlegte, welche Standpunkte im Namen der Union u. a. zu den Anträgen auf Änderung des Art. 12 COTIF sowie der Anhänge B (CIM), D (CUV) und E (CUI) des COTIF (im Folgenden zusammen: streitige Änderungen) zu vertreten waren.
18 Die Bundesrepublik Deutschland stimmte gegen den genannten Vorschlag und gab bei der Annahme des angefochtenen Beschlusses folgende Erklärung ab:
„Die Bundesrepublik Deutschland vertritt die Auffassung, dass bezüglich der Änderungen der Anhänge B (… CIM), D (… CUV) und E (… CUI) zum [COTIF] keine [Unionsk]ompetenz und daher keine Notwendigkeit einer Koordination einer [Unionsp]osition für die 25. Tagung des Revisionsausschusses der OTIF vom 25. bis 27. Juni 2014 besteht. Die [Union] hat bislang von ihrer Rechtsetzungskompetenz auf den in diesen Anhängen geregelten Gebieten des privaten Transportrechts keinen Gebrauch gemacht. Daher können die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 AEUV ihre Zuständigkeiten weiter ausüben. Für die Fälle geteilter Zuständigkeit sieht Artikel 6 Absatz 2 der Vereinbarung zwischen der OTIF und der [Union] über den Beitritt der [Union] zum COTIF … zudem ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten weiterhin auf diesen Gebieten ihr Stimmrecht eigenständig ausüben können. [Die Bundesrepublik] Deutschland widerspricht vorsorglich einer Abgabe der deutschen Stimme durch die [Europäische] Kommission.“
19 In den Erwägungsgründen 3 bis 6, 9 und 11 des angefochtenen Beschlusses wird ausgeführt:
„Der Rat der Europäischen Union –
gestützt auf den [AEU-Vertrag], insbesondere auf Artikel 91 in Verbindung mit Artikel 218 Absatz 9,
…
in Erwägung nachstehender Gründe:
…
(3) Der nach Artikel 13 § 1 Buchstabe c [COTIF] eingerichtete Revisionsausschuss soll in seiner 25. Sitzung, die für den 25. bis 27. Juni 2014 geplant ist, bestimmte Änderungen des [COTIF] sowie [seiner] Anhänge B [CIM], D [CUV], E [CUI] … beschließen.
(4) Die Änderungen des [COTIF] haben zum Ziel, die Aufgaben des Fachausschusses für technische Fragen anzupassen, die Definition von ‚Halter‘ dem Unionsrecht entsprechend anzupassen und bestimmte Vorschriften über die Finanzierung der [OTIF], [ihre] Rechnungsprüfung und Rechnungslegung zu ändern sowie geringfügige verwaltungstechnische Änderungen vorzunehmen.
(5) Die Änderungen des Anhangs B (CIM) zielen darauf ab, die elektronische Form des Frachtbriefes und seiner Begleitunterlagen zu bevorzugen sowie bestimmte Vorschriften des Beförderungsvertrags zu präzisieren.
(6) Die vom Generalsekretär der OTIF vorgelegten Änderungen des Anhangs D (CUV) haben zum Ziel, die Aufgaben des Halters und der für die Instandhaltung verantwortlichen Stelle in den Verträgen über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr zu klären. [Die Französische Republik] unterbreitete einen eigenen Vorschlag hinsichtlich der Haftung für Schäden, die durch Wagen verursacht werden. [Die Bundesrepublik] Deutschland unterbreitete auch einen eigenen Vorschlag hinsichtlich des Regelungsbereichs der Einheitlichen Rechtsvorschriften CUV.
…
(9) Die vom Internationalen Eisenbahntransportkomitee (CIT) angeregten Änderungen des Anhangs E (CUI) zielen darauf ab, den Anwendungsbereich der Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur auch auf den inländischen Eisenbahnverkehr auszuweiten, eine Rechtsgrundlage für allgemeine Nutzungsbedingungen der Eisenbahninfrastruktur zu schaffen sowie den Haftungsumfang des Infrastrukturbetreibers bei Schäden, die durch die Infrastruktur verursacht werden, auszudehnen.
…
(11) Die meisten der vorgeschlagenen Änderungen stehen mit den Rechtsvorschriften und strategischen Zielen der Union im Einklang und sollten daher von der Union unterstützt werden. Bestimmte Änderungen haben keine Auswirkung auf das Unionsrecht, so dass die Vereinbarung eines Standpunkts auf Unionsebene nicht erforderlich ist. Einige Änderungen erfordern hingegen weitere Beratungen innerhalb der Union und sollten in der Sitzung des Revisionsausschusses abgelehnt werden; sollten die letztgenannten Änderungen ohne eine für die Union annehmbare Änderung beschlossen werden, so sollte die Union einen Widerspruch nach dem Verfahren des Artikel[s] 35 § 4 [COTIF] einlegen“.
20 Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses bestimmt, dass „[d]er Standpunkt, der im Namen der Union anlässlich der 25. Sitzung des durch das [COTIF] eingerichteten Revisionsausschusses zu vertreten ist, … dem Anhang dieses Beschlusses [entspricht]“.
21 Abschnitt 3 des Anhangs des genannten Beschlusses enthält in Bezug auf die verschiedenen Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses Ausführungen zur Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten, zur Ausübung der Stimmrechte und zum empfohlenen abgestimmten Standpunkt. Teile von Punkt 4 sowie die Punkte 5, 7 und 12 der besagten Tagesordnung betreffen die streitigen Änderungen.
22 Zu Punkt 4 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision des COTIF betrifft, sieht Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses vor:
„…
Zuständigkeit: geteilt.
Ausübung der Stimmrechte: Mitgliedstaaten.
Empfohlener abgestimmter Standpunkt:
…
Die Änderungen des Artikels 12 (Vollstreckung von Urteilen. Arrest und Pfändung) werden befürwortet, da die Begriffsbestimmung für ‚Halter‘ mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht wird.
…“
23 Zu Punkt 5 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision von Anhang B (CIM) betrifft, heißt es in Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses:
„…
Zuständigkeit: geteilt.
Ausübung der Stimmrechte: Union für die Artikel 6 und 6a; Mitgliedstaaten für die übrigen Artikel.
Empfohlener abgestimmter Standpunkt:
Die Änderungen der Artikel 6 und 6a betreffen Unionsrecht, da der Frachtbrief und seine Begleitdokumente im Rahmen der gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Verfahren verwendet werden. Die Union stimmt mit der Absicht der OTIF überein, vorrangig den elektronischen Frachtbrief zu verwenden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann der Beschluss dieser Änderungen allerdings unbeabsichtigte Auswirkungen haben. Das vereinfachte zollrechtliche Versandverfahren im Eisenbahnverkehr ist derzeit nur mit Dokumenten in Papierform möglich. Wenn sich die Eisenbahnunternehmen also für den elektronischen Frachtbrief entscheiden, müssen sie das Standardversandverfahren und das neue EDV-gestützte Versandsystem anwenden.
Die Kommission hat mit der Einsetzung einer Arbeitsgruppe begonnen, in der die Verwendung elektronischer Frachtpapiere für den Transit gemäß Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1)] erörtert werden soll. Die Auftaktsitzung dieser Arbeitsgruppe wird am 4. und 5. Juni 2014 stattfinden. Die Union unterstützt auch die Absicht, die Begleitdokumente in elektronischer Form zu erstellen. Derzeit gibt es im Unionsrecht allerdings keine Rechtsgrundlage für die Erstellung dieser Dokumente (z. B. Gemeinsames Veterinärdokument für die Einfuhr, Gemeinsames Dokument für die Einfuhr) in elektronischer Form, so dass sie weiterhin in Papierform bereitzustellen sind. Die Kommission hat einen Verordnungsentwurf erarbeitet, der eine elektronische Zertifizierung vorsieht, und der Entwurf wird derzeit im Europäischen Parlament und im Rat erörtert. Diese Verordnung (Verordnung über die amtliche Kontrolle) soll Ende 2015/Anfang 2016 verabschiedet werden, wenngleich bis zu ihrer Durchsetzung eine Übergangsfrist vorgesehen ist.
Die Union schlägt daher vor, dass in dieser Sitzung des Revisionsausschusses kein Beschluss zu diesen Punkten gefasst wird und die OTIF ihre Zusammenarbeit mit der Union in dieser Frage fortsetzt, um eine geeignete Lösung für eine künftige Revision der CIM auszuarbeiten, die nach Möglichkeit mit der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 und ihren Durchführungsbestimmungen, die ab 1. Mai 2016 in Kraft treten sollen, zeitlich abgestimmt wird. Bestimmte elektronische Verfahren könnten gemäß Artikel 278 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 zwischen 2016 und 2020 eingeführt werden.
…“
24 Zu Punkt 7 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision von Anhang D (CUV) betrifft, wird in Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses ausgeführt:
„…
Zuständigkeit: geteilt.
Ausübung der Stimmrechte: Union.
Empfohlener Standpunkt der Union: Die Änderungen der Artikel 2 und 9 werden befürwortet, da die Aufgaben des Halters und der für die Instandhaltung zuständigen Stelle im Einklang mit dem Unionsrecht (Richtlinie 2008/110/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 16. Dezember 2008 zur Änderung der Richtlinie 2004/49/EG über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft (Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit) (ABl. 2008, 345, S. 62)]) präzisiert werden. Die von [der Französischen Republik] vorgeschlagene Änderung des Artikels 7 hinsichtlich der Haftung der einen Wagen als Beförderungsmittel zur Verfügung stellenden Person für Schäden, die durch einen Defekt an diesem Wagen verursacht werden, erfordert eine eingehendere Prüfung innerhalb der Union, bevor in der OTIF ein Beschluss gefasst wird. Die Union kann deshalb dem Änderungsvorschlag in dieser Sitzung des Revisionsausschusses nicht zustimmen und schlägt vor, die Beschlussfassung auf die nächste Tagung der Generalversammlung zu vertagen, um diese Frage weiter zu prüfen. Im Zusammenhang mit dem von [der Bundesrepublik] Deutschland vorgeschlagenen neuen Artikel 1a, der der OTIF während der Unions-Koordinierung vorgelegt wurde, vertritt die Union die gleiche Auffassung, d. h., die Beschlussfassung soll auf die nächste Tagung der Generalversammlung vertagt werden, um diese Frage weiter zu prüfen.
Zusätzlicher empfohlener Standpunkt der Union: In Dokument CR 25/7 ADD 1, Seite 6, § 8 Buchstabe a ist am Ende folgender Satz hinzuzufügen: ‚Die Änderung des Artikels 9 § 3 Spiegelstrich 1 berührt nicht die Verteilung der Haftung zwischen der [für die Instandhaltung zuständigen Stelle] und dem Halter der Wagen.‘“
25 Zu Punkt 12 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, der die Teilrevision von Anhang E (CUI) betrifft, heißt es in Abschnitt 3 des Anhangs des angefochtenen Beschlusses:
„…
Zuständigkeit: geteilt.
Ausübung der Stimmrechte: Union.
Empfohlener abgestimmter Standpunkt: Ablehnung der Änderungen. Die vom [Internationalen Eisenbahntransportkomitee] angeregten Änderungen betreffen die Ausweitung des Anwendungsbereichs [des Anhangs E (CUI)] auf den Betrieb im Inland, die Einführung verbindlicher allgemeiner Nutzungsbedingungen sowie die Ausdehnung der Haftung des Infrastrukturbetreibers und bedürfen unter Umständen einer eingehenderen Prüfung. Eine hinreichend genaue Untersuchung ihrer Auswirkungen war jedoch nicht möglich, da die Änderungen in keinem Forum der OTIF vor der Sitzung des Revisionsausschusses erörtert wurden. Eine Änderung [von Anhang E (CUI)] ([der] derzeit dem Unionsrecht [entspricht]) in dieser Sitzung des Revisionsausschusses ohne angemessene Vorbereitung erscheint verfrüht.“
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
26 Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,
–
Art. 1 des angefochtenen Beschlusses in Verbindung mit Abschnitt 3 des Anhangs dieses Beschlusses in dem Maß für nichtig zu erklären, als sich dieser zum einen auf Punkt 4 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses – soweit dieser Punkt die Änderung von Art. 12 COTIF betrifft – sowie zum anderen auf die Punkte 5, 7 und 12 dieser Tagesordnung, die die Änderungen der Anhänge B (CIM), D (CUV) und E (CUI) betreffen, bezieht, und
–
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
27 Der Rat beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
hilfsweise – für den Fall der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses – dessen Wirkungen aufrechtzuerhalten;
–
der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.
28 Durch Entscheidungen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. Mai 2015 sind die Französische Republik und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Bundesrepublik Deutschland zugelassen worden, während die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden ist.
Zur Klage
29 Die Bundesrepublik Deutschland stützt ihre Klage auf drei Gründe.
30 Mit dem ersten Klagegrund wird gerügt, dass die Union unzuständig und der in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelte Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung verletzt worden sei. Mit dem zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV geltend gemacht. Mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes beanstandet.
Zum ersten Klagegrund: Unzuständigkeit der Union und Verletzung des in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelten Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung
Vorbringen der Parteien
31 Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Bundesrepublik Deutschland unterstützt von der Französischen Republik geltend, die Union habe nicht nach Art. 91 AEUV und Art. 218 Abs. 9 AEUV die Zuständigkeit für den Erlass des angefochtenen Beschlusses, soweit er die streitigen Änderungen betreffe, besessen. Der Rat habe diesen Beschluss daher unter Verstoß gegen den in Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV geregelten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erlassen.
32 Die Bundesrepublik Deutschland betont, dass auf dem Gebiet des Verkehrs, dem das COTIF im Allgemeinen und die streitigen Änderungen im Besonderen zuzuordnen seien, die Union und die Mitgliedstaaten sowohl nach innen als grundsätzlich auch nach außen gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV eine geteilte Zuständigkeit hätten.
33 Um festzustellen, ob der Rat dafür zuständig sei, gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV einen im Namen der Union in einem internationalen Gremium zu vertretenden Standpunkt anzunehmen, wenn der von einem solchen Gremium erlassene Akt die Änderung einer gemischten Übereinkunft betreffe, was vorliegend der Fall sei, sei zu prüfen, ob sich die vorgeschlagenen Änderungen auf Bestimmungen der Übereinkunft bezögen, die in die Zuständigkeit der Union fielen. Sei dem nicht so, könne ein Beschluss zur Festlegung des Standpunkts der Union nicht ergehen.
34 Bei dieser Prüfung komme es darauf an, ob, wie in Rn. 64 des Urteils vom 7. Oktober 2014, Deutschland/Rat (C‑399/12, EU:C:2014:2258), präzisiert, der Beschluss des fraglichen internationalen Gremiums unmittelbare Auswirkung auf den Besitzstand der Union in dem Sinne habe, dass es gemeinsame Regeln der Union gebe, die im Sinne der ausgehend vom Urteil vom 31. März 1971, Kommission/Rat (22/70, EU:C:1971:32), entwickelten Rechtsprechung Gefahr liefen, durch den betreffenden Beschluss beeinträchtigt oder in ihrer Tragweite verändert zu werden. Voraussetzung für das Bestehen einer solchen Gefahr sei somit, dass die Änderungen der Bestimmungen einer internationalen Übereinkunft ein Gebiet beträfen, auf dem die Union bereits gemeinsame Regeln erlassen habe.
35 Die Bundesrepublik Deutschland weist darauf hin, dass der Rat, dem im vorliegenden Fall der Nachweis obliege, dass die streitigen Änderungen ein Gebiet beträfen, das in den Anwendungsbereich bestehender Vorschriften des Unionsrechts falle, einen solchen Nachweis im angefochtenen Beschluss nicht erbracht habe. Jedenfalls habe die Union auf dem Gebiet des privaten Vertragsrechts im Bereich der grenzüberschreitenden Eisenbahnbeförderung von Gütern und Personen, dem die streitigen Änderungen zuzuordnen seien, bislang von ihrer internen Zuständigkeit für den Erlass gemeinsamer Regeln keinen Gebrauch gemacht. Die Französische Republik fügt hinzu, dass in den Bereichen, auf die sich die streitigen Änderungen bezögen, keine Initiative der Union geplant sei.
36 Die Bundesrepublik Deutschland räumt ein, dass in einem Bereich, der in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle, die im Rahmen eines internationalen Gremiums zu vertretenden Standpunkte nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Gegenstand einer Koordinierung sein könnten. Ein Beschluss des Rates nach Art. 218 Abs. 9 AEUV könne in diesem Rahmen jedoch nicht ergehen.
37 Ferner ist die Bundesrepublik Deutschland der Ansicht, dass die Union auf dem Gebiet des privaten Transportvertragsrechts, für das eine geteilte Zuständigkeit bestehe, eine Zuständigkeit nach außen nicht ausüben könne, solange sie nicht von ihrer Zuständigkeit nach innen Gebrauch gemacht habe. Andernfalls bestehe die Gefahr einer Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und einer Verletzung der Rechte des Europäischen Parlaments. Berücksichtige man nämlich auch die „Trennungsklausel“ in Art. 2 der Beitrittsvereinbarung, hätten die Akte des OTIF‑Revisionsausschusses im Unionsrecht dieselben Wirkungen wie Verordnungen und Richtlinien.
38 Die Bundesrepublik Deutschland macht unterstützt von der Französischen Republik auch geltend, im Bereich des Verkehrs, für den die Zuständigkeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt sei, bildeten die in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle, also diejenigen, in denen die Union über eine ausschließliche Außenkompetenz verfüge, die einzigen Konstellationen, in denen die Union eine internationale Übereinkunft schließen könne. Vorliegend ergebe sich aber eine ausschließliche Außenkompetenz aus keinem der in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle. Dieser Mitgliedstaat fügt hinzu, dass die Union außerhalb dieser Fälle keine Außenkompetenz habe.
39 Was genauer das vom Rat angeführte Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland (C‑459/03, EU:C:2006:345), betrifft, weist die Bundesrepublik Deutschland darauf hin, dass die Tragweite dieses Urteils vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie (C‑240/09, EU:C:2011:125), eingegrenzt worden sei. Nach Ansicht der Französischen Republik können in der vorliegenden Rechtssache aus dem ersten dieser Urteile keine Erkenntnisse gewonnen werden, da der Gerichtshof darin der Besonderheit des Umweltbereichs Rechnung getragen habe, in dem die Verträge der Union eine ausdrückliche Außenkompetenz verliehen hätten. Anders als im Umweltbereich zähle aber zu den Zielen der Verkehrspolitik nicht die Entwicklung einer internationalen Politik.
40 Der Rat macht in erster Linie geltend, die Union besitze nach Art. 3 Abs. 2 letzte Variante AEUV und der aus dem Urteil vom 31. März 1971, Kommission/Rat (22/70, EU:C:1971:32), hervorgegangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs eine ausschließliche Zuständigkeit für die Festlegung eines Standpunkts zu den anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses vorgelegten streitigen Änderungen.
41 Hilfsweise bringt der Rat unterstützt von der Kommission unter Verweis auf das Gutachten 2/00 (Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit) vom 6. Dezember 2001 (EU:C:2001:664, Rn. 44 bis 47) sowie auf die Urteile vom 7. Oktober 2004, Kommission/Frankreich (C‑239/03, EU:C:2004:598, Rn. 30), und vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland (C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 95), vor, die Union sei für die Annahme eines solchen Standpunkts gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV aufgrund einer Zuständigkeit, die sie mit ihren Mitgliedstaaten teile, zuständig, auch wenn es keine Unionsregeln auf dem Gebiet des privaten Transportvertragsrechts gebe. Beide Organe vertreten die Auffassung, dass das auswärtige Handeln der Union entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland nicht auf die Bereiche beschränkt sei, die bereits Gegenstand gemeinsamer Regeln der Union seien, sondern sich auch auf Angelegenheiten erstrecke, die noch nicht oder nur ganz partiell Gegenstand einer Regelung auf Unionsebene seien, die aus diesem Grund nicht berührt sein könne. Auch in letzterem Fall sei die Union für den Erlass eines Beschlusses nach Art. 218 Abs. 9 AEUV zuständig. Dabei handle sie aufgrund einer geteilten Außenkompetenz, die gemäß dem dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokoll (Nr. 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit auf die spezifischen Punkte beschränkt sei, die durch den betreffenden Unionsbeschluss geregelt würden.
42 Die Kommission fügt hinzu, das Bestehen einer geteilten Außenkompetenz hänge nicht von der Ausübung der geteilten Zuständigkeit nach innen ab, sondern folge unmittelbar aus den Verträgen, genauer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV. In der Tat sehe keine Bestimmung der Verträge über die geteilten Zuständigkeiten vor, dass die erstmalige Ausübung einer solchen Zuständigkeit nur zum Erlass von Unionsakten führen dürfe, die nicht die Außenbeziehungen beträfen.
Würdigung durch den Gerichtshof
43 Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen geltend, dass Punkt 4 der Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, soweit er die Änderung von Art. 12 COTIF betreffe, sowie die die Änderungen der Anhänge B (CIM), D (CUV) und E (CUI) des COTIF betreffenden Punkte 5, 7 und 12 dieser Tagesordnung, zu denen mit dem angefochtenen Beschluss die im Namen der Union zu vertretenden Standpunkte festgelegt worden seien, nicht in die Außenkompetenz der Union fielen, da diese zuvor keine gemeinsamen Regeln erlassen habe, die durch die genannten Änderungen beeinträchtigt werden könnten. Somit komme es dem Rat nicht zu, diese Standpunkte nach Art. 218 Abs. 9 AEUV festzulegen. Indem er dies getan habe, habe er unter Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV gehandelt.
44 Eingangs ist daran zu erinnern, dass nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV „[f]ür die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union … der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung [gilt]“. In Art. 5 Abs. 2 EUV heißt es zum einen, dass „[n]ach [diesem] Grundsatz … die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig [wird], die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“, und zum anderen, dass „[a]lle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten … bei den Mitgliedstaaten [verbleiben]“. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt dieser Grundsatz sowohl für internes als auch für völkerrechtliches Handeln der Union (Gutachten 2/94 [Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK] vom 28. März 1996, EU:C:1996:140, Rn. 24).
45 Wie der Gerichtshof u. a. im Gutachten 1/03 (Neues Übereinkommen von Lugano) vom 7. Februar 2006 (EU:C:2006:81, Rn. 114) ausgeführt hat, kann die Zuständigkeit der Union für den Abschluss internationaler Übereinkünfte nicht nur aus einer ausdrücklichen Übertragung durch die Verträge resultieren, sondern sich auch implizit aus anderen Vertragsbestimmungen sowie aus Rechtsakten ergeben, die im Rahmen dieser Bestimmungen von den Unionsorganen erlassen wurden. Insbesondere verfügt die Union immer dann, wenn das Unionsrecht ihren Organen im Hinblick auf die Verwirklichung eines bestimmten Ziels interne Zuständigkeiten verleiht, über die Befugnis, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, auch wenn es insoweit an einer ausdrücklichen Bestimmung fehlt. Letzteres ist nunmehr in Art. 216 Abs. 1 AEUV geregelt (Gutachten 1/13 [Beitritt von Drittstaaten zum Haager Übereinkommen] vom 14. Oktober 2014, EU:C:2014:2303, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Außerdem sind nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs die Fragen zu trennen, ob eine Außenkompetenz der Union besteht und ob es sich gegebenenfalls dabei um eine ausschließliche oder eine geteilte Zuständigkeit handelt (Gutachten 1/76 [Übereinkommen über die Errichtung eines Europäischen Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt] vom 26. April 1977, EU:C:1977:63, Rn. 3 und 4, Gutachten 2/91 [Übereinkommen Nr. 170 der IAO] vom 19. März 1993, EU:C:1993:106, Rn. 13 bis 18, Gutachten 1/03 [Neues Übereinkommen von Lugano] vom 7. Februar 2006, EU:C:2006:81, Rn. 114 und 115, und Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland, C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 93 und 94; vgl. ebenfalls in diesem Sinne Gutachten 2/00 [Protokoll von Cartagena über die biologische Sicherheit] vom 6. Dezember 2001, EU:C:2001:664, Rn. 44 bis 47).
47 Diese Unterscheidung zwischen dem Bestehen einer Außenkompetenz der Union und ihrer Ausschließlichkeit oder Nichtausschließlichkeit kommt auch im AEU-Vertrag zum Ausdruck.
48 Nach Art. 216 Abs. 1 AEUV „[kann d]ie Union … mit einem oder mehreren Drittländern oder einer oder mehreren internationalen Organisationen eine Übereinkunft schließen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist oder wenn der Abschluss einer Übereinkunft im Rahmen der Politik der Union entweder zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich oder in einem verbindlichen Rechtsakt der Union vorgesehen ist oder aber gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte“.
49 Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift, der nicht danach unterscheidet, ob die Außenkompetenz der Union eine ausschließliche oder eine geteilte ist, ergibt sich unmittelbar, dass die Union in vier Fällen über eine Außenkompetenz verfügt. Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland ist die Variante, dass der Abschluss einer Übereinkunft gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte, wobei es sich um einen Fall handelt, in dem die Zuständigkeit der Union nach Art. 3 Abs. 2 AEUV eine ausschließliche ist, nur einer dieser Fälle.
50 Außerdem ergibt sich aus einem Vergleich des Wortlauts von Art. 216 Abs. 1 AEUV mit dem von Art. 3 Abs. 2 AEUV, dass sich die Fälle, in denen die Union gemäß Art. 216 Abs. 1 AEUV über eine Außenkompetenz verfügt, nicht auf die verschiedenen Varianten des Art. 3 Abs. 2 AEUV beschränken, in denen die Union eine ausschließliche Außenkompetenz besitzt.
51 Daraus folgt, dass entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland eine Außenkompetenz der Union außerhalb der in Art. 3 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Fälle bestehen kann.
52 In diesem Zusammenhang spiegelt die Außenkompetenz der Union gemäß der zweiten Variante des Art. 216 Abs. 1 AEUV, die dem Fall entspricht, dass der Abschluss einer Übereinkunft „im Rahmen der Politik der Union … zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich“ ist, die oben in Rn. 45 angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs wider. Die Außenkompetenz der Union nach dieser zweiten Variante ist im Unterschied zur vierten Variante des Art. 216 Abs. 1 AEUV nicht an die Voraussetzung geknüpft, dass zuvor Unionsvorschriften erlassen wurden, die beeinträchtigt werden könnten.
53 Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob es im Sinne von Art. 216 Abs. 1 AEUV „im Rahmen der Politik der Union … zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich“ ist, dass die Union völkerrechtliche Verpflichtungen hinsichtlich der streitigen Änderungen eingeht. Sollte dies der Fall sein, würde die Union über die erforderliche Außenkompetenz für die Festlegung von Standpunkten zu den streitigen Änderungen verfügen, ob sie nun zuvor in den betroffenen Bereichen gemeinsame Vorschriften, die durch diese Änderungen beeinträchtigt werden könnten, erlassen haben mag oder nicht.
54 Insoweit ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss die Festlegung des Standpunkts bezweckt, der im Namen der Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu bestimmten Änderungen des COTIF zu vertreten ist. Wie sich aus Art. 2 COTIF ergibt, „ist es [Ziel der OTIF], den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern“, indem insbesondere einheitliche Rechtsvorschriften für verschiedene Bereiche des internationalen Eisenbahnverkehrs aufgestellt werden.
55 Die streitigen Änderungen beziehen sich zum einen auf die einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern, für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr bzw. für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr und zum anderen auf die Vorschrift des COTIF über die Vollstreckung von aufgrund dieses Übereinkommens ergangenen Urteilen und über die Belegung von Eisenbahnfahrzeugen mit Arrest oder ihre Pfändung.
56 Damit betreffen sie das private Vertragsrecht im Bereich des internationalen Eisenbahnverkehrs, wobei es sich um ein Gebiet handelt, das, wie alle Parteien eingeräumt haben, unter eine Unionspolitik fällt, nämlich die gemeinsame Verkehrspolitik, die Gegenstand des Titels VI („Der Verkehr“) des Dritten Teils („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) des AEU-Vertrags ist, und bei dem somit davon auszugehen ist, dass es mit einem der Ziele des AEU-Vertrags korrespondiert.
57 Titel VI des Dritten Teils des AEU-Vertrags enthält u. a. Art. 91 Abs. 1 AEUV. Darin ist vorgesehen, dass das Europäische Parlament und der Rat zur Durchführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Verkehrs gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen u. a. „a) für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gemeinsame Regeln aufstellen“ und „d) alle sonstigen zweckdienlichen Vorschriften erlassen“. Dieser Titel umfasst auch Art. 100 AEUV, nach dessen Abs. 1 er u. a. für die Beförderungen im Eisenbahnverkehr gilt.
58 Somit ist, den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 103 seiner Schlussanträge folgend, festzustellen, dass die streitigen Änderungen mit der Verwirklichung der Ziele des AEU-Vertrags im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik zu tun haben.
59 Insbesondere gelten die in Art. 91 Abs. 1 Buchst. a AEUV vorgesehenen gemeinsamen Regeln „für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten“. In seinem Urteil vom 31. März 1971, Kommission/Rat (22/70, EU:C:1971:32, Rn. 26 und 27), hat der Gerichtshof für ebendiesen Bereich festgestellt, dass diese Bestimmung, die für den im Unionsgebiet gelegenen Streckenteil auch den Verkehr aus oder nach dritten Staaten betrifft und die daher voraussetzt, dass sich die Zuständigkeit der Union auf Beziehungen erstreckt, die dem internationalen Recht unterliegen, deshalb in dem betreffenden Bereich die Notwendigkeit einschließt, mit den beteiligten dritten Ländern Abkommen zu schließen.
60 Mit den Bestimmungen des COTIF und seiner Anhänge, auf die sich die streitigen Änderungen beziehen, sollen harmonisierte Regeln auf internationaler Ebene geschaffen werden, auch für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten, für die außerhalb des Unionsgebiets gelegenen Streckenteile und grundsätzlich auch für die im Unionsgebiet gelegenen Streckenteile. Deshalb ist davon auszugehen, dass es zur Verwirklichung der Ziele der gemeinsamen Verkehrspolitik im Rahmen der Zuständigkeit, die der Union nach Art. 91 Abs. 1 AEUV zugewiesen ist und die auch einen externen Aspekt umfasst (vgl. oben, Rn. 59), beiträgt, dass die Union einen Standpunkt zu den genannten Änderungen einnimmt. Diese Einnahme eines Standpunkts ist folglich im Sinne des Art. 216 Abs. 1 AEUV im Rahmen der Politik der Union zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich.
61 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist erstens das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zu verwerfen, wonach es in einem Bereich, in dem die Zuständigkeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt sei, außerhalb der Fälle des Art. 3 Abs. 2 AEUV keine Außenkompetenz der Union geben könne.
62 Sollte, zweitens, das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik, mit dem das Bestehen einer Außenkompetenz der Union im vorliegenden Fall in Abrede gestellt werden soll, dahin zu verstehen sein, dass die Union auf dem Gebiet des Verkehrs, für das sie nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. g AEUV die Zuständigkeit mit ihren Mitgliedstaaten teilt, vor einem Tätigwerden nach innen durch den Erlass gemeinsamer Regeln in den Bereichen, in denen völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen wurden, nach außen nicht handeln könne, so kann dieses Vorbringen keinen Erfolg haben.
63 Der Gerichtshof hat nämlich im Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland (C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung), in der Frage, ob eine Bestimmung einer gemischten Übereinkunft auf dem Gebiet des Umweltschutzes, wo die Zuständigkeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt ist, in die Zuständigkeit der Union fiel, entschieden, dass die Union Übereinkünfte auf dem genannten Gebiet selbst dann abschließen kann, wenn die spezifischen von diesen Übereinkünften erfassten Angelegenheiten noch nicht oder nur ganz partiell Gegenstand einer internen Regelung sind, die aus diesem Grund nicht berührt sein kann.
64 Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland hat der Gerichtshof die Tragweite dieser Rechtsprechung im Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie (C‑240/09, EU:C:2011:125), nicht eingegrenzt. Die dort aufgeworfene Frage betraf nämlich, wie sich aus den Rn. 34 und 35 jenes Urteils ergibt, nicht das Bestehen einer Außenkompetenz der Union im Umweltbereich, sondern es ging darum, ob die Union in dem spezifischen Bereich, der von einer Bestimmung einer gemischten Übereinkunft erfasst wurde, ihre Zuständigkeiten ausgeübt und Vorschriften über die Erfüllung der sich daraus ergebenden Verpflichtungen erlassen hatte.
65 Die vorstehend in den Rn. 63 und 64 angeführte Rechtsprechung bezieht sich zwar auf den Bereich der Umwelt, in dem der Union im Unterschied zum Bereich des Verkehrs nach Art. 191 Abs. 1 vierter Gedankenstrich AEUV eine ausdrückliche Außenkompetenz zugewiesen ist.
66 Allerdings ergibt sich fortan aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 AEUV, der die geteilten Zuständigkeiten betrifft, dass wenn „die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit [übertragen], … die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen [können]“. Nach dieser Bestimmung hängt das Bestehen einer mit ihren Mitgliedstaaten geteilten Außenkompetenz der Union nicht davon ab, dass es in den Verträgen eine Bestimmung gibt, die der Union eine solche Außenkompetenz ausdrücklich verleiht.
67 Dass das Bestehen einer Außenkompetenz der Union keinesfalls davon abhängt, dass die Union im Vorfeld ihre interne Rechtsetzungszuständigkeit in dem betreffenden Bereich ausgeübt hat, geht auch aus Rn. 243 des Gutachtens 2/15 (Freihandelsabkommen mit Singapur) vom 16. Mai 2017 (EU:C:2017:376) hervor, wonach die maßgeblichen Bestimmungen des betreffenden Abkommens über andere ausländische Investitionen als Direktinvestitionen in die zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit fallen, obwohl, wie sich aus den Rn. 229 und 230 dieses Gutachtens ergibt, zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig war, dass die Union nach innen in keiner Weise durch den Erlass von Regeln des Sekundärrechts in diesem Bereich tätig geworden war.
68 Zwar stellte der Gerichtshof in Rn. 244 dieses Gutachtens fest, dass die maßgeblichen Bestimmungen des betreffenden Abkommens über andere ausländische Investitionen als Direktinvestitionen, die in die zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit fallen, nicht von der Union allein genehmigt werden konnten. Damit stellte er jedoch nur auf die vom Rat im damaligen Gutachtenverfahren vorgetragene Unmöglichkeit ab, die erforderliche Ratsmehrheit dafür zu erreichen, dass die Union die in diesem Bereich mit den Mitgliedstaaten geteilte Außenkompetenz allein ausüben konnte.
69 Die Bundesrepublik Deutschland kann auch aus dem Urteil vom 7. Oktober 2014, Deutschland/Rat (C‑399/12, EU:C:2014:2258), kein Argument herleiten. Wie sich aus den Rn. 51 und 52 jenes Urteils ergibt, berücksichtigte der Gerichtshof den Umstand, dass der Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik und speziell die gemeinsame Marktorganisation für Wein vom Unionsgesetzgeber im Rahmen der auf Art. 43 AEUV beruhenden Zuständigkeit in sehr weiten Teilen geregelt worden ist, für die Feststellung, ob die Union Art. 218 Abs. 9 AEUV heranziehen konnte, obwohl sie keine Partei der internationalen Übereinkunft war, um die es in der damaligen Rechtssache ging. Eine entsprechende Frage stellt sich aber in der vorliegenden Rechtssache nicht, da die Union dem COTIF mit Wirkung vom 1. Juli 2011 beigetreten ist.
70 Drittens kann auch das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland keinen Erfolg haben, mit dem eine Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und eine Verletzung der Rechte des Europäischen Parlaments geltend gemacht werden, weil der Rat Art. 218 Abs. 9 AEUV in Bereichen herangezogen habe, in denen die Union bislang keine internen Vorschriften gemäß diesem Verfahren erlassen habe.
71 Dieses Vorbringen ist nicht nur aufgrund der Erwägungen in den Rn. 63 bis 69 des vorliegenden Urteils, sondern auch aufgrund des Wortlauts von Art. 218 Abs. 9 AEUV zurückzuweisen, nach dem der Rat ermächtigt ist, auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik einen Beschluss zu erlassen „zur Festlegung der Standpunkte, die im Namen der Union in einem durch eine Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten sind, sofern dieses Gremium rechtswirksame Akte … zu erlassen hat“. In der Tat beschränkt Art. 218 Abs. 9 AEUV das Handeln der Union nicht auf die Fälle, in denen sie zuvor interne Vorschriften gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen hat.
72 Die vorstehenden Erwägungen führen zu dem Ergebnis, dass die die streitigen Änderungen betreffenden Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, zu denen der Rat mit dem angefochtenen Beschluss die im Namen der Union zu vertretenden Standpunkte festgelegt hat, in die Außenkompetenz der Union fallen. Somit hat der Rat mit der Annahme dieses Beschlusses nicht gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 EUV verstoßen.
73 Demnach ist der erste Klagegrund der Bundesrepublik Deutschland zu verwerfen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV
Vorbringen der Parteien
74 Im Rahmen ihres zweiten Klagegrundes macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, der angefochtene Beschluss sei mit einem Begründungsmangel behaftet, da der Rat darin nicht im Geringsten ausgeführt habe, dass die Punkte, zu denen ein Standpunkt der Union festgelegt worden sei, einen im Unionsrecht bereits weitgehend geregelten Bereich beträfen. Eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten sei besonders bei gemischten Übereinkünften geboten, weil zum einen die Bestimmungen dieser Übereinkünfte sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht gälten und um zum anderen die Befugnisse der jeweiligen Akteure in den Gremien der internationalen Organisationen zu bestimmen. Im vorliegenden Fall habe der Rat aber kein Instrument des Unionsrechts in dem betroffenen Bereich angeführt und sich nur auf Instrumente im Zusammenhang mit dem öffentlichen Recht bezogen, obwohl die streitigen Änderungen unter das private Transportvertragsrecht fielen.
75 Darüber hinaus habe der Rat im angefochtenen Beschluss keinerlei materielle Rechtsgrundlage angegeben, auf der eine materielle Außenkompetenz der Union gründe. Art. 91 AEUV, auf den Bezug genommen werde, verleihe der Union nur eine interne Zuständigkeit.
76 Im Übrigen hat die Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung beanstandet, dass der Rat dort die zweite Variante von Art. 216 Abs. 1 AEUV herangezogen habe, um das Bestehen einer Außenkompetenz der Union zu begründen, während er diese Bestimmung im angefochtenen Beschluss nicht erwähnt habe.
77 Der Rat bringt unterstützt von der Kommission vor, dass sich die Begründung für das Vorliegen der Unionskompetenz aus dem angefochtenen Beschluss eindeutig ergebe. Die Änderungsanträge zum COTIF und seinen Anhängen, die das Unionsrecht beträfen, und die Unionsvorschriften, die durch die streitigen Änderungen beeinträchtigt werden könnten, würden in diesem Beschluss angegeben. Außerdem sei auch die Begründung in den Arbeitsdokumenten der OTIF zu berücksichtigen. Dass die Bundesrepublik Deutschland die angeführten Vorschriften des Unionsrechts für nicht relevant halte, könne nicht an der ausreichenden Begründung des angefochtenen Beschlusses zweifeln lassen. Jedenfalls genüge der Rat in einem Bereich, für den zumindest eine zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit bestehe, seiner Begründungspflicht schon durch einen Verweis auf die geeignete Rechtsgrundlage und durch eine Beschreibung seines Standpunkts.
Würdigung durch den Gerichtshof
78 Aus der Prüfung des ersten Klagegrundes der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich, dass die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, die die streitigen Änderungen betreffen, in die Zuständigkeit der Union fallen, ohne dass dafür zu prüfen wäre, ob es in dem betroffenen Bereich eine interne Regelung der Union gibt, die durch diese Änderungen beeinträchtigt würde. Daher ist das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zu verwerfen, mit dem sie beanstandet, der Rat habe in dem angefochtenen Beschluss nicht begründet, dass sich die besagten Änderungen auf einen von der Union bereits weitgehend geregelten Bereich bezögen.
79 Zu der behaupteten Notwendigkeit, im angefochtenen Beschluss außer Art. 91 Abs. 1 AEUV die zweite Variante von Art. 216 Abs. 1 AEUV anzugeben, ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die in Art. 296 AEUV verankerte Begründungspflicht verlangt, dass alle dort angesprochenen Rechtsakte eine Darstellung der Gründe enthalten, die das Organ zu ihrem Erlass veranlasst haben, so dass der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann und sowohl die Mitgliedstaaten als auch die beteiligten Dritten erfahren, unter welchen Bedingungen die Unionsorgane den AEU-Vertrag angewandt haben (Urteil vom 1. Oktober 2009, Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
80 Die Angabe der Rechtsgrundlage ist im Hinblick auf den in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung geboten, wonach die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben, und zwar sowohl für internes als auch für völkerrechtliches Unionshandeln. Die Wahl der geeigneten Rechtsgrundlage hat nämlich verfassungsrechtliche Bedeutung, da die Union, die nur über begrenzte Einzelermächtigungen verfügt, die Rechtsakte, die sie erlässt, mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags verknüpfen muss, die sie tatsächlich hierzu ermächtigen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 48 und 49).
81 Die Angabe der Rechtsgrundlage ist auch von besonderer Bedeutung für die Wahrung der Rechte der vom Verfahren für den Erlass eines Rechtsakts betroffenen Unionsorgane (Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 50).
82 Sie ist außerdem im Hinblick auf die Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV erforderlich. Diese Pflicht, die insbesondere deshalb besteht, damit der Gerichtshof eine gerichtliche Kontrolle ausüben kann, muss grundsätzlich für jede Handlung der Union gelten, die Rechtswirkungen entfaltet (Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 52).
83 Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass das Gebot der Rechtssicherheit verlangt, dass jede Handlung, die rechtliche Wirkungen erzeugen soll, ihre Bindungswirkung einer Bestimmung des Unionsrechts entnimmt, die ausdrücklich als Rechtsgrundlage bezeichnet sein muss und die Rechtsform vorschreibt, in der die Handlung vorzunehmen ist (Urteile vom 1. Oktober 2009, Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 39, und vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 53).
84 Ferner stellt nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das behauptete Versäumnis einer Bezugnahme auf eine bestimmte Vorschrift des Vertrags, wie im vorliegenden Fall Art. 216 Abs. 1 AEUV, auf den die Bundesrepublik Deutschland Bezug nimmt, keinen wesentlichen Mangel dar, wenn die Rechtsgrundlage der betreffenden Handlung anhand anderer Bestandteile der Handlung ermittelt werden kann und die Betroffenen und der Gerichtshof nicht über die genaue Rechtsgrundlage im Unklaren gelassen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat [WRC‑15], C‑687/15, EU:C:2017:803, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
85 Dies ist hier der Fall, denn die materielle und die verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses können eindeutig bestimmt werden.
86 Erstens ist nämlich festzustellen, dass der Rat durch die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 91 AEUV in dem angefochtenen Beschluss dessen materielle Rechtsgrundlage darin korrekt angegeben hat. Soweit die Bundesrepublik Deutschland damit argumentiert, dass Art. 91 AEUV der Union keine Außenkompetenz verleihen könne, genügt der Hinweis, dass dieses Argument das Bestehen an sich einer Zuständigkeit betrifft und deshalb nicht mit Erfolg für einen Klagegrund geltend gemacht werden kann, mit dem ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird.
87 Zweitens ist festzustellen, dass der Rat den angefochtenen Beschluss im Hinblick auf das in Art. 216 Abs. 1 zweite Variante AEUV vorgesehene Erforderlichkeitskriterium hinreichend begründet hat, auch unter Berücksichtigung dessen, dass sich die Begründung, die diese zweite Variante erfordert, von derjenigen unterscheidet, die Art. 3 Abs. 2 AEUV verlangt.
88 In der Tat stellen der erste und der dritte Satz des elften Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses in Verbindung mit den oben in den Rn. 22 bis 25 wiedergegebenen Gründen für die Formulierung der Standpunkte, die im Anhang dieses Beschlusses im Namen der Union zu den Tagesordnungspunkten 4, 5, 7 und 12 für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses festgelegt wurden, klar die Erforderlichkeit heraus, darauf zu achten, dass die Kohärenz zwischen den völkerrechtlichen Vorschriften auf dem Gebiet des internationalen Eisenbahnverkehrs und dem Unionsrecht sichergestellt ist, und damit die Erforderlichkeit eines auswärtigen Handelns der Union zu diesem Zweck.
89 Im Übrigen zählt zwar Art. 216 Abs. 1 AEUV die verschiedenen Fälle auf, in denen die Union zum Abschluss einer internationalen Übereinkunft befugt ist, doch im Unterschied zu Art. 352 AEUV enthält er hierfür keine Form- oder Verfahrensvorschriften. Die Form der Handlung und das zu befolgende Verfahren sind daher anhand anderer Vorschriften der Verträge zu bestimmen.
90 Drittens ist festzustellen, dass Art. 218 Abs. 9 AEUV, der als verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss genannt wird, das Verfahren bestimmt, das bei der Beschlussfassung zu befolgen ist.
91 Unter diesen Bedingungen ist viertens festzustellen, dass sich die vorliegende Rechtssache von derjenigen unterscheidet, in der das Urteil vom 25. Oktober 2017, Kommission/Rat (WRC‑15) (C‑687/15, EU:C:2017:803), erging. Der Rat hatte nämlich damals die materielle und die verfahrensrechtliche Rechtsgrundlage der angefochtenen Handlung nicht angegeben, und nichts in dieser Handlung ließ ihre Bestimmung zu.
92 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat daher das Fehlen einer ausdrücklichen Erwähnung der zweiten Variante des Art. 216 Abs. 1 AEUV in dem angefochtenen Beschluss keinerlei Ungewissheit hinsichtlich der Natur und der rechtlichen Tragweite dieses Beschlusses und auch nicht in Bezug auf das für seinen Erlass zu befolgende Verfahren zur Folge und kann demnach nicht zu seiner teilweisen Nichtigerklärung führen.
93 Somit ist der zweite Klagegrund der Bundesrepublik Deutschland als unbegründet zu verwerfen.
Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes
Vorbringen der Parteien
94 Im Rahmen ihres dritten Klagegrundes weist die Bundesrepublik Deutschland darauf hin, dass der in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht nur die Mitgliedstaaten verpflichte, alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet seien, die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, sondern auch den Unionsorganen entsprechende Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auferlege.
95 Besonders bei der Ausübung von Mitgliedschaftsrechten in einer internationalen Organisation durch die Union und ihre Mitgliedstaaten sei eine enge Zusammenarbeit geboten. Bestehe zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Letzterer Uneinigkeit über die Abgrenzung der Zuständigkeiten, müssten die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten in redlicher Weise zusammenarbeiten, um die Schwierigkeiten zu überwinden und eine Klärung herbeizuführen. So müssten die Unionsorgane das Verfahren zum Erlass eines Rechtsakts so ausgestalten, dass sichergestellt sei, dass ein Mitgliedstaat, der die Zuständigkeit der Union in Abrede stelle, rechtzeitig den Gerichtshof anrufen könne, um die Zuständigkeitsfrage klären zu lassen.
96 Außerdem verlange der Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes, auf den sich auch die Mitgliedstaaten berufen könnten, ebenfalls, dass das Verfahren zum Erlass eines Rechtsakts so ausgestaltet sei, dass den Mitgliedstaaten zwischen der Annahme dieses Rechtsakts und dem Zeitpunkt, ab dem er unumkehrbare Wirkungen erzeuge, ausreichend Zeit bleibe, um die Unionsgerichte gegebenenfalls mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Rechtsakts zu befassen.
97 Auch Art. 263 AEUV, der den Mitgliedstaaten ein privilegiertes Klagerecht einräume, werde so seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn die Frist zwischen dem Erlass des Rechtsakts und dem Eintritt seiner unumkehrbaren Wirkungen so kurz sei, dass eine rechtzeitige Klageerhebung bei den Unionsgerichten unmöglich gemacht werde.
98 Im vorliegenden Fall habe der Rat, obwohl die Bundesrepublik Deutschland ihre Vorbehalte bezüglich der Zuständigkeit der Union unmittelbar nach der Vorlage des Beschlussvorschlags durch die Kommission am 5. Juni 2014 angemeldet habe, mit der Annahme des angefochtenen Beschlusses bis zum 24. Juni 2014, d. h. dem Vortag der Eröffnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, gewartet, wodurch der Bundesrepublik Deutschland für eine Anrufung des Gerichtshofs weniger als 24 Stunden verblieben seien. Ihr sei es in dieser Zeitspanne nicht möglich gewesen, die internen Verfahren durchzuführen, die für die Erhebung einer Klage und die Einreichung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung beim Gerichtshof vorgesehen seien.
99 Aufgrund des fehlenden Rechtsschutzes sei die Bundesrepublik Deutschland, um ihre Zuständigkeiten zu wahren, zur Abstimmung unter Abweichung vom Unionsstandpunkt gezwungen gewesen. Die Kommission habe aus diesem Grund ein „EU-Pilot“-Verfahren gegen sie eingeleitet, dem jederzeit ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV folgen könne.
100 Der Rat macht unterstützt von der Kommission geltend, es sei ihm nicht möglich gewesen, seine Arbeiten früher anzufangen oder abzuschließen. Die meisten Arbeitsdokumente, die die Änderungsanträge enthalten hätten, die auf die Tagesordnung für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses gesetzt worden seien, habe der OTIF‑Generalsekretär nämlich am 25. April 2014 übermittelt. Einige Dokumente seien am 6. und am 12. Mai 2014 eingegangen, und ein Antrag der Bundesrepublik Deutschland zu Anhang D (CUV) sei am 3. Juni 2014 erhalten worden. Die Kommission habe der zuständigen Ratsarbeitsgruppe am 26. Mai 2014 ein erstes Arbeitspapier vorgelegt, das bereits mögliche Lösungen im Hinblick auf einen koordinierten Unionsstandpunkt angeführt habe. Die Beratungen dieser Arbeitsgruppe seien am 5. und am 16. Juni 2014 auf der Grundlage des zwischenzeitlich von der Kommission eingereichten Beschlussvorschlags fortgesetzt worden. Dieser Vorschlag sei, nachdem er am 17. Juni 2014 vom Ausschuss der Ständigen Vertreter gebilligt worden sei, vom Rat am 24. Juni 2014 – rechtzeitig vor der Eröffnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses am 25. Juni 2014 – verabschiedet worden.
101 Der Rat betont, dass die Zeitspanne von einem Monat, nach deren Ablauf er den Entscheidungsprozess abgeschlossen habe, für die Behandlung komplizierter technischer und rechtlicher Fragen extrem kurz sei. Während des Entscheidungsprozesses habe er mit Hilfe der Kommission seinen Standpunkt so genau wie möglich mit den Delegationen erörtert, um u. a. die Bundesrepublik Deutschland davon zu überzeugen, dass die Union in Bezug auf die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, hinsichtlich deren die Bundesrepublik Zweifel geäußert habe, über die erforderliche Zuständigkeit verfüge. Damit habe er alles getan, um den Unionsstandpunkt unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zu verabschieden.
102 Außerdem gehe die Forderung der Bundesrepublik Deutschland, dass der Unionsstandpunkt früh genug hätte verabschiedet werden sollen, um ihr einen Antrag beim Gerichtshof auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses zu ermöglichen, zu weit und sei unrealistisch. Dass die Bundesrepublik das vorliegende Verfahren eingeleitet habe, zeige gerade, dass der Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes gewahrt sei.
103 Im Übrigen könnten keine unumkehrbaren Wirkungen des angefochtenen Beschlusses für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt werden, da gemäß den anwendbaren Regeln die in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses diskutierten Änderungen dort entweder nicht endgültig verabschiedet worden oder jedoch angenommen worden, aber noch nicht in Kraft getreten seien. Außerdem könnten diese Änderungen nach den besagten Regeln nicht in Kraft treten, falls ein Viertel der OTIF‑Mitgliedstaaten Widerspruch erhebe. Jedenfalls müsse der Rat, sollte der Gerichtshof den angefochtenen Beschluss für nichtig erklären, nach Art. 266 Abs. 1 AEUV die Maßnahmen ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergäben. Eine entsprechende Durchführung des Urteils sei angesichts der Stimmenmehrheit der Union in der OTIF möglich.
Würdigung durch den Gerichtshof
104 Mit ihrem dritten Klagegrund beanstandet die Bundesrepublik Deutschland, der Rat habe bei der Ausgestaltung des Entscheidungsprozesses im Hinblick auf den Erlass des angefochtenen Beschlusses seine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verletzt, da er ihr nicht genug Zeit gelassen habe, um vor dem Gerichtshof gegen diesen Beschluss vorzugehen, bevor er unumkehrbare Wirkungen entfaltet habe. Damit habe der Rat gegen den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes verstoßen.
105 Nach Art. 4 Abs. 3 EUV, in dem der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit niedergelegt ist, achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben.
106 Zu prüfen ist also, ob der Rat unter Berücksichtigung des Ablaufs des Entscheidungsprozesses, wie er von ihm selbst geschildert und von der Bundesrepublik Deutschland nicht in Abrede gestellt worden ist, seine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verletzt hat.
107 Die Erörterungen in der Ratsarbeitsgruppe im Hinblick auf die Festlegung eines Unionsstandpunkts begannen hier am 26. April 2014, also am Tag, nachdem die meisten Dokumente vom OTIF‑Generalsekretär übermittelt worden waren, und wurden in den nächsten beiden Sitzungen auf der Grundlage des Beschlussvorschlags der Kommission fortgeführt. Außerdem zeigt der Verfahrensablauf, wie er vom Rat beschrieben und oben in Rn. 100 zusammengefasst worden ist, dass der Rat die Vorberatungen im Hinblick auf die Annahme eines Unionsstandpunkts aufnahm, ohne abzuwarten, bis ihm sämtliche für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses erstellten Arbeitsdokumente übermittelt worden waren. In den vier Sitzungen der zuständigen Ratsarbeitsgruppe und des Ausschusses der Ständigen Vertreter ging es u. a. um die Klärung der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Tagesordnungspunkte für die 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, hinsichtlich deren die Bundesrepublik Deutschland Vorbehalte geäußert hatte. Schließlich hat die Bundesrepublik Deutschland nicht dargetan, dass die Zeitspanne von einer Woche, die zwischen der Billigung des Beschlussvorschlags durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses durch den Rat verstrich, derart überzogen wäre, dass daran gezweifelt werden könnte, ob der Rat seiner Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gegenüber den Mitgliedstaaten nachgekommen ist.
108 Was das Vorbringen eines Verstoßes gegen den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes betrifft, so beruht es auf der Prämisse, dass es der Bundesrepublik Deutschland unmöglich gemacht worden sei, beim Gerichtshof Klage gegen den angefochtenen Beschluss zu erheben und gleichzeitig die Aussetzung der Vollziehung dieses Beschlusses zu beantragen, bevor dieser in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses unumkehrbare Wirkungen erzeugt habe. Dieses Vorbringen geht aber jedenfalls von einer falschen Voraussetzung aus. Die Bundesrepublik hat nämlich nicht nachgewiesen, dass der angefochtene Beschluss in dieser Sitzung solche Wirkungen erzeugt hätte, und sie hat auch nicht das Verteidigungsvorbringen des Rates dagegen, wie es oben in Rn. 103 zusammengefasst worden ist, entkräftet. Deshalb kann ihr Vorbringen eines Verstoßes gegen den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes keinen Erfolg haben.
109 Der dritte Klagegrund ist daher als unbegründet zu verwerfen.
110 Nach alledem ist die Klage der Bundesrepublik Deutschland abzuweisen.
Kosten
111 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat beantragt hat, die Bundesrepublik Deutschland zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und diese mit ihren Klagegründen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
112 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, haben die Französische Republik, das Vereinigte Königreich und die Kommission ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
3. Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Lenaerts
Tizzano
Bay Larsen
von Danwitz
Da Cruz Vilaça
Malenovský
Vajda
Borg Barthet
Bonichot
Arabadjiev
Rodin
Biltgen
Jürimäe
Lycourgos
Vilaras
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Dezember 2017.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 17. November 2017 (Auszüge).#Gmina Miasto Gdynia und Port Lotniczy Gdynia Kosakowo sp. z o.o. gegen Europäische Kommission.#Staatliche Beihilfen – Flughafeninfrastruktur – Öffentliche Finanzierung durch die Gemeinden Gdynia und Kosakowo für den Flughafen Gdynia-Kosakowo – Beschluss, mit dem die Beihilfe für unvereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Aufhebung eines Beschlusses – Keine Wiedereröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Änderung der rechtlichen Regelung – Verfahrensrechte der beteiligten Parteien – Verletzung wesentlicher Formvorschriften.#Rechtssache T-263/15.
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62015TJ0263
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ECLI:EU:T:2017:820
| 2017-11-17T00:00:00 |
Gericht
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62015TJ0263
URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)
17. November 2017 (*1)
„Staatliche Beihilfen – Flughafeninfrastruktur – Öffentliche Finanzierung durch die Gemeinden Gdynia und Kosakowo für den Flughafen Gdynia-Kosakowo – Beschluss, mit dem die Beihilfe für unvereinbar mit dem Binnenmarkt erklärt und ihre Rückforderung angeordnet wird – Aufhebung eines Beschlusses – Keine Wiedereröffnung des förmlichen Prüfverfahrens – Änderung der rechtlichen Regelung – Verfahrensrechte der beteiligten Parteien – Verletzung wesentlicher Formvorschriften“
In der Rechtssache T‑263/15
Gmina Miasto Gdynia mit Sitz in Gdynia (Polen), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt T. Koncewicz, Rechtsanwältin K. Gruszecka-Spychała und Rechtsanwalt M. Le Berre,
Port Lotniczy Gdynia Kosakowo sp. z o.o. mit Sitz in Gdynia, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin P. K. Rosiak,
Klägerinnen,
unterstützt durch
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, M. Rzotkiewicz und E. Gromnicka als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann und S. Noë als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen einer Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung der Art. 2 bis 5 des Beschlusses (EU) 2015/1586 der Kommission vom 26. Februar 2015 über die staatliche Beihilfe SA.35388 (13/C) (ex 13/NN und ex 12/N) – Polen – Errichtung des Flughafens Gdynia-Kosakowo (ABl. 2015, L 250, S. 165)
erlässt
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tomljenović sowie des Richters E. Bieliūnas und der Richterin A. Marcoulli (Berichterstatterin),
Kanzler: L. Grzegorczyk, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2017
folgendes
Urteil (1 )
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Im Juli 2007 gründeten die erste Klägerin, die Gmina Miasto Gdynia (im Folgenden: Gemeinde Gdynia), und die Gmina Kosakowo (im Folgenden: Gemeinde Kosakowo) die zweite Klägerin, die Port Lotniczy Gdynia Kosakowo sp. z o.o. (im Folgenden: PLGK), die zu 100 % diesen beiden polnischen Gemeinden gehört, zu dem Zweck, den Militärflughafen Gdynia-Oksywie in einen Zivilflughafen umzubauen. Dieser Flughafen liegt im Gebiet der Gemeinde Kosakowo in der im Norden Polens gelegenen Region Pomorze (Pommern). Dieser neue Zivilflughafen, dessen Betrieb PLGK übertragen worden war, sollte der zweitwichtigste Flughafen von Pomorze werden und hauptsächlich dem allgemeinen Flugverkehr, Billigfluglinien und Chartergesellschaften zur Verfügung stehen.
[nicht wiedergegeben]
5 Mit Beschluss vom 2. Juli 2013 eröffnete die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV das förmliche Prüfverfahren betreffend die in Rede stehende Maßnahme und forderte die Beteiligten zur Stellungnahme auf (Beschluss C[2013] 4045 final vom 2. Juli 2013 bezüglich der Maßnahme SA.35388 [2013/C] [ex 2013/NN und ex 2012/N] – Polen – Errichtung des Flughafens Gdynia-Kosakowo [ABl. 2013, C 243, S. 25, im Folgenden: Eröffnungsbeschluss]). Die Kommission erhielt keine Stellungnahme der Beteiligten.
[nicht wiedergegeben]
7 Am 11. Februar 2014 erließ die Kommission den Beschluss 2014/883/EU über die staatliche Beihilfe SA.35388 (13/C) (ex 13/NN und ex 12/N) – Polen – Errichtung des Flughafens Gdynia-Kosakowo (ABl. 2014, L 357, S. 51), in dem sie feststellte, dass das geplante Finanzierungsvorhaben eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle, insbesondere weil PLGK aufgrund der öffentlichen Finanzierung durch die Gemeinde Gdynia und die Gemeinde Kosakowo einen wirtschaftlichen Vorteil erhalten habe, den sie unter marktüblichen Bedingungen nicht erlangt hätte. Dieser Beschluss enthielt die an die polnischen Behörden gerichtete Anordnung, die an PLGK gezahlte staatliche Beihilfe zurückzufordern.
[nicht wiedergegeben]
10 Am 26. Februar 2015 erließ die Kommission den Beschluss (EU) 2015/1586 über die staatliche Beihilfe SA.35388 (13/C) (ex 13/NN und ex 12/N) – Polen – Errichtung des Flughafens Gdynia-Kosakowo (ABl. 2015, L 250, S. 165, im Folgenden: angefochtener Beschluss), mit dem der Beschluss 2014/883 aufgehoben und durch den angefochtenen Beschluss ersetzt wurde.
11 Hinsichtlich der Aufhebung des Beschlusses 2014/883 wies die Kommission darauf hin, dass im Gerichtsverfahren offensichtlich geworden sei, dass die Beihilfe, die mit dem Beschluss 2014/883 für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt worden sei, einige Investitionen umfasse, bei denen es sich laut Eröffnungsbeschluss nicht um staatliche Beihilfen handle, da sie dem Aufgabenbereich der öffentlichen Hand zuzurechnen seien. Diese Investitionen beträfen Gebäude und Ausrüstungen für Feuerwehrleute, Zoll, Sicherheitspersonal, Polizei und Grenzschutzbeamte (Erwägungsgründe 15 und 16 des angefochtenen Beschlusses). Auf dieser Grundlage beschloss die Kommission, dass der Beschluss 2014/883 aufzuheben und durch den angefochtenen Beschluss zu ersetzen sei. Des Weiteren stellte die Kommission fest, dass eine Wiedereröffnung des Prüfverfahrens nicht erforderlich sei, da alle für die Bewertung der Maßnahme erforderlichen Gesichtspunkte in der Akte enthalten seien (18. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
[nicht wiedergegeben]
16 In dem angefochtenen Beschluss wies die Kommission als Erstes auf den Kontext des förmlichen Prüfverfahrens hin.
[nicht wiedergegeben]
18 Das Investitionsvorhaben werde durch Kapitalzuführungen der Gemeinden Gdynia und Kosakowo finanziert, die sowohl die Investitionskosten (im Folgenden: Investitionsbeihilfe) als auch die Betriebskosten des Flughafens in der Anfangsphase (bis Ende 2019) decken sollten (im Folgenden: Betriebsbeihilfe). Die Gemeinden Gdynia und Kosakowo hätten bereits vor der Anmeldung der Maßnahmen durch die polnischen Behörden einen Kapitalzuschuss in Höhe von ungefähr 207,48 Mio. polnische Zloty (PLN) (ungefähr 51,87 Mio. Euro) für die Durchführung des Investitionsvorhabens und die Deckung der Verluste des Flughafens in den ersten Jahren seines Betriebs vereinbart. Die Gemeinde Gdynia habe im Zeitraum von 2007 bis 2019 Barkapital von insgesamt 142,48 Mio. PLN (ungefähr 35,62 Mio. Euro) einzahlen sollen. Die Gemeinde Kosakowo habe bei der Gründung von PLGK Barmittel in Höhe von 0,1 Mio. PLN (ungefähr 25000 Euro) bereitgestellt. Ferner führte die Kommission aus, dass die Gemeinde Kosakowo im Zeitraum von 2011 bis 2040 unbare Leistungen im Umfang von 64,9 Mio. PLN (ungefähr 16,2 Mio. Euro) durch Umwandlung eines Teils der jährlich vom Flughafen Gdynia zu zahlenden Pacht in Beteiligungen am Flughafen habe erbringen sollen (Erwägungsgründe 31 und 32 des angefochtenen Beschlusses).
19 Als Zweites vertrat die Kommission die Auffassung, dass die Kapitalzuführungen zugunsten von PLGK eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellten. Da die Gelder PLGK bereits zur Verfügung gestellt worden seien, habe Polen das Verbot in Art. 108 Abs. 3 AEUV missachtet (191. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
20 Als Drittes prüfte die Kommission, ob die in Rede stehende Beihilfe, insbesondere im Hinblick auf Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV, mit dem Binnenmarkt vereinbar sei.
[nicht wiedergegeben]
24 Als Viertes stellte die Kommission fest, dass die in Rede stehende Beihilfe an die polnischen Behörden zurückgezahlt werden müsse, soweit sie bereits gezahlt worden sei.
25 Auf dieser Grundlage erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss. Der verfügende Teil des angefochtenen Beschlusses lautet:
„Artikel 1
Der Beschluss 2014/883/EU wird aufgehoben.
Artikel 2
(1) Bei den Kapitalzuführungen, die [PLGK] zwischen dem 28. August 2007 und dem 17. Juni 2013 erhalten hat, handelt es sich um eine staatliche Beihilfe, die [die Republik] Polen unter Verstoß gegen Artikel 108 Absatz 3 [AEUV] rechtswidrig gewährt hat; sie ist mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie nicht für Investitionen verwendet wurde, die erforderlich waren, um die Tätigkeiten durchzuführen, die nach Maßgabe des [Eröffnungsbeschlusses] in den Aufgabenbereich der öffentlichen Hand fallen.
(2) Bei den Kapitalzuführungen, die [die Republik] Polen [PLGK] nach dem 17. Juni 2013 für die Umwandlung des Militärflughafens Gdynia-Kosakowo in einen Zivilflughafen gewähren will, handelt es sich um eine staatliche Beihilfe, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist. Die staatliche Beihilfe darf deshalb nicht gewährt werden.
Artikel 3
(1) [Die Republik] Polen hat die in Artikel 2 Absatz 1 genannte Beihilfe von der Empfängerin zurückzufordern.
(2) Der Rückforderungsbetrag umfasst Zinsen, die von dem Tag, an dem die Beihilfe der Empfängerin zur Verfügung gestellt wurde, bis zur tatsächlichen Rückzahlung berechnet werden. Die Zinsen werden nach Kapitel V der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission [vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags (ABl. 2004, L 140, S. 1)] nach der Zinseszinsformel berechnet.
(3) [Die Republik] Polen stellt mit dem Tag der Bekanntgabe dieses Beschlusses alle ausstehenden Zahlungen für die in Artikel 2 Absatz 2 genannte Beihilfe ein.
Artikel 4
(1) Die in Artikel 2 Absatz 1 genannte Beihilfe und die in Artikel 3 Absatz 2 genannten Zinsen werden sofort in wirksamer Weise zurückgefordert.
(2) [Die Republik] Polen stellt sicher, dass dieser Beschluss binnen vier Monaten nach seiner Bekanntgabe umgesetzt wird.
Artikel 5
(1) [Die Republik] Polen übermittelt der Kommission innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe dieses Beschlusses die folgenden Informationen:
a)
Gesamtbetrag (Nennbetrag und Zinsen), der von der Empfängerin zurückzufordern ist;
b)
ausführliche Beschreibung der Maßnahmen, die getroffen wurden bzw. beabsichtigt sind, um diesem Beschluss nachzukommen;
c)
Unterlagen, die belegen, dass eine Rückzahlungsanordnung an die Empfängerin ergangen ist.
(2) [Die Republik] Polen unterrichtet die Kommission über den Fortgang [ihrer] Maßnahmen zur Umsetzung dieses Beschlusses, bis die Rückzahlung der in Artikel 2 Absatz 1 genannten Beihilfe und der in Artikel 3 Absatz 2 genannten Zinsen abgeschlossen ist. Auf Anfrage der Kommission legt [sie] unverzüglich Informationen über die Maßnahmen vor, die getroffen wurden bzw. beabsichtigt sind, um diesem Beschluss nachzukommen. Ferner übermittelt [sie] ausführliche Angaben über die Beihilfebeträge und die Zinsen, die von der Empfängerin bereits zurückgezahlt wurden.
Artikel 6
Dieser Beschluss ist an die Republik Polen gerichtet.“
Verfahren und Anträge der Parteien
26 Mit Klageschrift, die am 15. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Gemeinde Gdynia und PLGK die vorliegende Klage erhoben.
27 Mit Beschluss vom 1. Dezember 2015 hat der Präsident der Sechsten Kammer des Gerichts die Republik Polen als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Klägerinnen zugelassen.
28 Mit Entscheidung vom 15. April 2016 ist die Rechtssache einem neuen Berichterstatter zugewiesen worden.
29 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts gemäß Art. 27 Abs. 5 der Verfahrensordnung des Gerichts ist der Berichterstatter der Siebten Kammer zugeteilt worden, der daher die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.
30 Das Gericht (Siebte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung Fragen an die Parteien gerichtet. Die Parteien sind dieser Aufforderung zur Beantwortung fristgemäß nachgekommen.
31 In der Sitzung vom 27. April 2017 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
32 Unter Berücksichtigung der Klarstellungen, die PLGK in ihrer Erwiderung und die Gemeinde Gdynia in ihrer Antwort im Rahmen der prozessleitenden Maßnahmen vorgenommen haben, beantragen die Klägerinnen,
–
die Art. 2 bis 5 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
33 Die Kommission beantragt,
–
die Klage abzuweisen;
–
den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
34 Die Republik Polen unterstützt die Anträge der Klägerinnen.
Rechtliche Würdigung
35 Die Klage wird im Wesentlichen auf sechs Klagegründe gestützt.
[nicht wiedergegeben]
41 Mit dem sechsten Klagegrund werden im Wesentlichen die Verletzung wesentlicher Formvorschriften und der Verstoß gegen Verfahrensvorschriften sowie gegen die Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung, des Vertrauensschutzes und der Wahrung der Verteidigungsrechte gerügt.
42 Das Gericht hält es für zweckmäßig, als Erstes den sechsten Klagegrund zu prüfen.
[nicht wiedergegeben]
57 Der sechste Klagegrund beruht im Wesentlichen auf drei Rügen. Erstens beanstanden die Klägerinnen, dass der angefochtene Beschluss zum Zeitpunkt der Erhebung der vorliegenden Klage noch nicht bekannt gegeben gewesen sei. Zweitens sind die Klägerinnen der Auffassung, dass die Kommission den Beschluss 2014/833 nicht auf der Grundlage von Art. 9 der Verordnung Nr. 659/1999 habe aufheben können. Drittens tragen die Klägerinnen vor, dass die Kommission das förmliche Prüfverfahren vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses hätte wiedereröffnen und die Wahrung ihrer Verfahrensrechte oder jene der Republik Polen hätte sicherstellen müssen.
[nicht wiedergegeben]
Zur dritten Rüge: unterlassene Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens und Verletzung der Verfahrensrechte der Beteiligten
62 Zu dem Vorbringen, dass die Kommission das förmliche Prüfverfahren vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses hätte wiedereröffnen und die Wahrung der Verfahrensrechte der Beteiligten sicherstellen müssen, ist auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach das Verfahren, mit dem eine rechtswidrige Maßnahme ersetzt werden soll, genau an dem Punkt wiederaufgenommen werden kann, an dem es zu dem Rechtsverstoß gekommen ist, ohne dass die Kommission verpflichtet wäre, das Verfahren an einem davor liegenden Punkt wiederaufzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 1998, Spanien/Kommission, C‑415/96, EU:C:1998:533, Rn. 31, vom 3. Oktober 2000, Industrie des poudres sphériques/Rat, C‑458/98 P, EU:C:2000:531, Rn. 82, und vom 9. Juli 2008, Alitalia/Kommission, T‑301/01, EU:T:2008:262, Rn. 99 und 142). Diese Rechtsprechung zur Ersetzung einer durch den Unionsrichter für nichtig erklärten Handlung ist auch auf die Rücknahme und die Ersetzung einer rechtswidrigen Maßnahme durch ihren Urheber, ohne eine Nichtigerklärung der fraglichen Handlung durch den Unionsrichter, zu übertragen (Urteil vom 16. März 2016, Frucona Košice/Kommission, T‑103/14, EU:T:2016:152, Rn. 61; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom12. Mai 2011, Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis/Kommission, T‑267/08 und T‑279/08, EU:T:2011:209, Rn. 83).
63 Der Umstand, dass die Kommission das Verfahren nicht an dem Punkt wiederaufnehmen muss, an dem es zu dem Rechtsverstoß gekommen ist, bedeutet jedoch nicht, dass sie den Beteiligten vor dem Erlass einer neuen Entscheidung grundsätzlich nicht Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben brauchte.
64 Keine Bestimmung des Verfahrens zur Kontrolle staatlicher Beihilfen weist zwar dem Beihilfenempfänger (Urteil vom 24. September 2002, Falck und Acciaierie di Bolzano/Kommission, C‑74/00 P und C‑75/00 P, EU:C:2002:524, Rn. 83) oder einer innerstaatlichen Einrichtung, die die Beihilfe gewährt hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 5. Oktober 2016, Diputación Foral de Bizkaia/Kommission, C‑426/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:757, Rn. 45, und Urteil vom 12. Mai 2011, Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis/Kommission, T‑267/08 und T‑279/08, EU:T:2011:209, Rn. 71), eine besondere Stellung unter den Beteiligten zu, aufgrund deren sie so umfassende Rechte wie die Verteidigungsrechte selbst geltend machen könnten.
65 Aus Art. 108 Abs. 2 AEUV und aus Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 659/1999 folgt jedoch, dass die Kommission im Prüfverfahren den Beteiligten einschließlich des betroffenen Unternehmens oder der betroffenen Unternehmen und der innerstaatlichen Einrichtung, die die Beihilfe gewährt hat, Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2008, Ferriere Nord/Kommission, C‑49/05 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:259, Rn. 68, und vom 11. Dezember 2008, Kommission/Freistaat Sachsen, C‑334/07 P, EU:C:2008:709, Rn. 55). Diese Regel hat den Charakter einer wesentlichen Formvorschrift (Urteile vom 11. Dezember 2008, Kommission/Freistaat Sachsen, C‑334/07 P, EU:C:2008:709, Rn. 55, und vom 12. September 2007, Olympiaki Aeroporia Ypiresies/Kommission, T‑68/03, EU:T:2007:253, Rn. 42). Sie soll es den Beteiligten ermöglichen, unter Berücksichtigung der Umstände des betreffenden Falles angemessen am Verfahren mitzuwirken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 1998, British Airways u. a./Kommission, T‑371/94 und T‑394/94, EU:T:1998:140, Rn. 60). In diesem Rahmen wurde bereits entschieden, dass die Kommission den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu der Vereinbarkeit dieser Beihilfe mit den neuen Vorschriften geben muss, wenn sich die rechtliche Regelung, die zum Zeitpunkt der Anmeldung eines Beihilfevorhabens eines Mitgliedstaats galt, geändert hat, bevor sie auf der Grundlage der neuen Vorschriften ihre Entscheidung trifft, es sei denn, die neue rechtliche Regelung enthält gegenüber der zuvor geltenden keine wesentliche Änderung (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2008, Kommission/Freistaat Sachsen, C‑334/07 P, EU:C:2008:709, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Des Weiteren ist festzustellen, dass der Eröffnungsbeschluss, auch wenn er sich auf eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der geplanten Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt beschränken kann, doch die Betroffenen in die Lage versetzen muss, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2011, Région Nord-Pas-de-Calais und Communauté d’agglomération du Douaisis/Kommission, T‑267/08 und T‑279/08, EU:T:2011:209, Rn. 80 und 81). Insbesondere ist es notwendig, dass die Kommission den Rahmen ihrer Prüfung hinreichend genau festlegt, um dem Recht der Beteiligten zur Stellungnahme nicht seinen Sinn zu nehmen (vgl. Urteil vom 1. Juli 2009, Operator ARP/Kommission, T‑291/06, EU:T:2009:235, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im Eröffnungsbeschluss in Anbetracht des entsprechenden Verweises durch die Punkte 27 und 63 der Leitlinien von 2005 die Vereinbarkeit der Betriebsbeihilfe im Hinblick auf die Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung vorläufig geprüft. Insbesondere führte die Kommission aus, dass der Flughafen Gdynia-Kosakowo im Sinne der Ausnahmeregelung in Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV in einer Region gelegen sei, die sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinde, und dass zu prüfen sei, ob die Voraussetzungen gemäß Punkt 76 der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung erfüllt seien (Erwägungsgründe 64 und 65 des Eröffnungsbeschlusses).
68 In dem Beschluss 2014/883 wies die Kommission darauf hin, „dass der Flughafen Gdynia sich in einer benachteiligten Region befindet, die unter die Ausnahme nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe a AEUV fällt“, und dass „die Kommission [somit] prüfen [muss], ob die fragliche Betriebsbeihilfe nach Maßgabe der Leitlinien für Regionalbeihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden kann“ (221. Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/883). Unter Anwendung von Punkt 76 dieser Leitlinien auf den vorliegenden Fall zog die Kommission die Schlussfolgerung, dass die Betriebsbeihilfe die „Kriterien der Leitlinien für Regionalbeihilfen“ nicht erfülle (228. Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/883).
69 PLGK, der sich insoweit die Republik Polen und die Gemeinde Gdynia in ihren Antworten auf die prozessleitenden Maßnahmen angeschlossen haben, hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Kommission in dem angefochtenen Beschluss die rechtliche Regelung über die Bewertung der Vereinbarkeit der Betriebsbeihilfe geändert hat.
70 Insoweit ist als Erstes das Argument der Kommission zurückzuweisen, die Änderung der in dem angefochtenen Beschluss herangezogenen Rechtsvorschriften sei ein neuer Klagegrund, der von der PLGK im Stadium der Erwiderung erstmals vorgebracht worden sei. Denn es folgt aus der Rechtsprechung, dass ein Vorbringen, das eine Erweiterung eines bereits unmittelbar oder mittelbar in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels darstellt, als zulässig angesehen werden muss (Urteil vom 19. Mai 1983, Verros/Parlament, 306/81, EU:C:1983:143, Rn. 9; vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 26. April 2007, Alcon/HABM, C‑412/05 P, EU:C:2007:252, Rn. 38 bis 40, und vom 17. Juli 2008, Campoli/Kommission, C‑71/07 P, EU:C:2008:424, Rn. 63). Im vorliegenden Fall haben die Klägerinnen in ihrer Klageschrift ausgeführt, dass sie die Möglichkeit hätten haben müssen, sich zu den neuen Argumenten und der neuen Bewertung der Kommission zu äußern, und dass der insoweit geltend gemachte Verstoß als solcher eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstelle. Konkret heißt es in der Überschrift von Nr. II.14 der Klageschrift, die die vorgebrachten Klagegründe zusammenfasst: „Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften in Form des Rechts der Klägerinnen, Erklärungen abzugeben und Stellung zu nehmen“. Das von PLGK in ihrer Erwiderung vorgetragene Argument, das gerade die neue Bewertung der Kommission in dem angefochtenen Beschluss betrifft, stellt daher eine Erweiterung eines in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels dar, mit dem eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften hinsichtlich des Rechts der Klägerinnen zur Stellungnahme geltend gemacht wird. Zudem ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass die Regel, wonach die Kommission die Beteiligten in die Lage versetzen muss, Stellung zu nehmen, den Charakter einer wesentlichen Verfahrensvorschrift hat. Daher ist das Gericht befugt, die Verletzung dieser wesentlichen Formvorschrift, die zwingend zu beachten ist, von Amts wegen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Mai 1991, Interhotel/Kommission, C‑291/89, EU:C:1991:189, Rn. 14, vom 4. April 2017, Europäischer Bürgerbeauftragter/Staelen, C‑337/15 P, EU:C:2017:256, Rn. 85, und vom 16. März 2016, Frucona Košice/Kommission, T‑103/14, EU:T:2016:152, Rn. 84).
71 Als Zweites stellte die Kommission in dem angefochtenen Beschluss fest, dass sie die in den Leitlinien von 2005 vorgesehenen Grundsätze auf die Flughäfen vor dem 4. April 2014 – d. h. dem Zeitpunkt der Anwendung der Leitlinien von 2014 – gewährten rechtswidrigen Investitionsbeihilfen und „die in den [Leitlinien] von 2014 dargelegten Grundsätze auf alle Betriebsbeihilfen … für Flughäfen anwenden [wird], auch wenn die Beihilfe vor dem 4. April 2014 bewilligt wurde“ (196. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), was vorliegend der Fall sei (197. Erwägungsgrund und Art. 2 des angefochtenen Beschlusses). Daraus folgt, dass sich die Kommission bei der Prüfung, ob die Betriebsbeihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar war, nicht mehr, wie noch im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses und des Beschlusses 2014/883, auf die Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung, sondern auf die in den Leitlinien von 2014 aufgestellten Grundsätze stützte.
72 Als Drittes wies die Kommission, wie aus den Leitlinien von 2014 hervorgeht, ausdrücklich darauf hin, dass sie „die Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007–2013“ und „die Leitlinien für Regionalbeihilfen 2014–2020 bzw. etwaige spätere Leitlinien für Regionalbeihilfen nicht für staatliche Beihilfen für Flughafeninfrastruktur anwenden [wird]“ (23. Erwägungsgrund der Leitlinien von 2014).
73 Als Viertes nahm die Kommission neben dem Wechsel von den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielesetzung zu den Leitlinien von 2014 auch hinsichtlich der nach Art. 107 Abs. 3 AEUV beurteilten Abweichung eine Änderung vor. Denn wie dem Eröffnungsbeschluss und dem Beschluss 2014/883 zu entnehmen ist, nahm die Kommission auf die „Abweichung nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe a AEUV“ Bezug. Punkt 76 der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung stellt im Übrigen klar, dass Betriebsbeihilfen ausnahmsweise in Regionen gewährt werden können, für die die abweichende Regelung nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV gilt. Wie aus dem 112. Erwägungsgrund der Leitlinien 2014 folgt, deren Grundsätze von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angewendet wurden, wird die Vereinbarkeit von Betriebsbeihilfen in diesem Rahmen „nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe c [AEUV]“ geprüft“.
74 Als Fünftes wird mit den Leitlinien von 2014 ein „neuer Ansatz für die Prüfung“ der Vereinbarkeit von Beihilfen für Flughäfen mit dem Binnenmarkt, insbesondere von „Betriebsbeihilfen für Regionalflughäfen“ (17. Erwägungsgrund Buchst. d der Leitlinien von 2014) eingeführt. Dieser neue Prüfungsansatz ist in Abschnitt 5.1.2 der Leitlinien von 2014 wiedergegeben. Er sieht sechs kumulative Kriterien vor, von denen das erste, von der Kommission im 246. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses geprüfte Kriterium ist, ob die Betriebsbeihilfe zu einem fest umrissenen Ziel von gemeinsamem Interesse beiträgt. Dieses erste Kriterium beruht seinerseits auf drei alternativen Voraussetzungen, nämlich darauf, dass die Betriebsbeihilfe die Mobilität der Bürger der Union und die Anbindung von Gebieten durch Einrichtung von Zugangspunkten zu Flügen innerhalb der Union erhöht, dass sie der Überlastung des Luftraums an den großen Drehkreuz-Flughäfen in der Union entgegenwirkt oder dass sie die regionale Entwicklung begünstigt. Zwei dieser drei alternativen Voraussetzungen wurden von der Kommission im 246. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnt.
75 Die Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung sehen ihrerseits vor, dass die Betriebsbeihilfen gewährt werden können, „wenn sie aufgrund ihres Beitrags zur Regionalentwicklung und ihrer Art nach gerechtfertigt sind und ihre Höhe den auszugleichenden Nachteilen angemessen ist“, worauf die Kommission im Übrigen im 222. Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/883 hingewiesen hat.
76 Auch wenn sich einige der von den Leitlinien von 2014 und den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung vorgesehenen Kriterien überschneiden können, insbesondere jene über den Beitrag der Beihilfe zur Regionalentwicklung, sind diese Kriterien doch zum einen in den Leitlinien von 2014 stärker ausgeformt und unterscheiden sich zum anderen ihrer Natur nach, da die Leitlinien von 2014 spezifisch die Beihilfen betreffen, die für Flughäfen und Fluggesellschaften gewährt werden. Im Übrigen ist festzustellen, dass der Beitrag zur Regionalentwicklung zwar in den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung eine wesentliche Voraussetzung darstellt, in den Leitlinien von 2014 aber nur eine alternative Voraussetzung ist, wie die Verwendung der Konjunktion „oder“ in deren 113. Erwägungsgrund zeigt.
77 Als Sechstes ist darauf hinzuweisen, dass der neue Ansatz für eine Prüfung von Betriebsbeihilfen gemäß den Leitlinien von 2014 insbesondere eine Übergangsperiode von zehn Jahren vorsieht, während deren die Flughäfen, insbesondere die Regionalflughäfen, diese Beihilfen in Anspruch nehmen können, wenn sie die Voraussetzungen dieser Leitlinien beachten (vgl. insbesondere die Erwägungsgründe 13, 14 und 112 der Leitlinien von 2014).
78 Angesichts dieser Umstände ist festzustellen, dass die von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angewandte neue rechtliche Regelung wesentliche Änderungen gegenüber der davor geltenden Regelung aufweist, die im Eröffnungsbeschluss und im Beschluss 2014/883 berücksichtigt wurde.
79 Zudem war es den Beteiligten, wenn, wie die Kommission vorbringt, die Aufhebung des Beschlusses 2014/883 zur Folge gehabt haben sollte, dass das förmliche Prüfverfahren offenblieb, nicht möglich, Stellung zu nehmen, da dieses Verfahren mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses wieder geschlossen wurde. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Leitlinien von 2014 am 4. April 2014, d. h. nach dem Erlass des Beschlusses 2014/883 und somit nach dem ursprünglichen Abschluss des Prüfverfahrens, veröffentlicht wurden. Daraus folgt, dass die Beteiligten zwischen dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Leitlinien von 2014 und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht in die Lage versetzt wurden, sachgemäß zur Anwendbarkeit und der möglichen Auswirkung dieser Leitlinien Stellung zu nehmen, obwohl diese Leitlinien eine Änderung der rechtlichen Regelung darstellten, deren Anwendung auf den vorliegenden Fall die Kommission beschlossen hatte.
80 Das übrige Vorbringen der Kommission kann diese Feststellungen nicht in Frage stellen.
81 Im Einzelnen ist das Argument der Kommission zurückzuweisen, dass PLGK weder dargelegt habe, inwiefern der Umstand, dass sie nicht aufgefordert worden sei, sich zur Anwendung der Leitlinien von 2014 zu äußern, sich auf ihre Rechtsposition habe auswirken können, noch, inwiefern die Möglichkeit, sich insoweit zu äußern, zu einem anderen Inhalt des angefochtenen Beschlusses hätte führen können. Denn das Recht der Beteiligten, Stellung nehmen zu können, hat den Charakter einer wesentlichen Verfahrensvorschrift im Sinne von Art. 263 AEUV, deren im konkreten Fall festgestellte Verletzung zur Nichtigerklärung des fehlerhaften Rechtsakts führt, ohne dass nachgewiesen werden müsste, dass eine Auswirkung auf die Partei, die einen solchen Verstoß geltend macht, vorliegt oder dass das Verwaltungsverfahren zu einem anderen Ergebnis geführt hätte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. April 2000, Kommission/ICI, C‑286/95 P, EU:C:2000:188, Rn. 52, und vom 8. September 2016,Goldfish u. a./Kommission, T‑54/14, EU:T:2016:455, Rn. 47, sowie Schlussanträge von Generalanwalt Mengozzi in der Rechtssache Bensada Benallal, C‑161/15, EU:C:2016:3, Nr. 92). Zudem lässt sich jedenfalls unter Berücksichtigung des Wechsels der Rechtsgrundlage im AEU-Vertrag (Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV, danach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV) und der anzuwendenden Leitlinien, mit dem die rechtliche Regelung der Bewertung der Vereinbarkeit der Betriebsbeihilfe (mit dem Binnenmarkt) wesentlich geändert wurde, nicht sagen, welche Tragweite die Stellungnahmen gehabt hätten, die die Beteiligten möglicherweise abgegeben hätten, auch wenn die Kommission in dem angefochtenen Beschluss dieselbe Schlussfolgerung wie in dem zuvor geltenden Beschluss gezogen hat.
82 Dass die Klägerinnen nach dem Eröffnungsbeschluss nicht Stellung genommen haben sollen, ist für die Feststellung, ob sie nach der Aufhebung des Beschlusses 2014/883 und vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses in der Lage waren, Stellung zu nehmen, irrelevant.
83 Zum Vorbringen der Kommission im Rahmen ihrer Antwort auf die prozessleitenden Maßnahmen, sie habe die in den Leitlinien von 2014 hinsichtlich der Betriebsbeihilfe aufgestellten „neuen Grundsätze“ nicht angewandt, ist festzustellen, dass dieses wesentlich darauf beruht, dass die Kommission sowohl im Beschluss 2014/883 als auch in dem angefochtenen Beschluss zu dem Ergebnis kam, dass die Betriebsbeihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, da die Investitionsbeihilfe selbst mit diesem Markt unvereinbar sei. Dieses Vorbringen geht jedoch im Kern dahin, dass der angefochtene Beschluss denselben Inhalt gehabt hätte, wenn die Beteiligten zur Äußerung aufgefordert worden wären. Sie sind daher aus den oben in Rn. 81 dargelegten Gründen zurückzuweisen.
84 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass, wie insbesondere aus den Erwägungsgründen 196 und 197 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, die Kommission klarstellte, dass sie im vorliegenden Fall die in den Leitlinien von 2014 aufgestellten Grundsätze hinsichtlich der Betriebsbeihilfe anwenden werde. In diesem Rahmen verwies die Kommission im 245. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausdrücklich auf die Leitlinien von 2014, indem sie ausführte, die Schlussfolgerung, dass die Betriebsbeihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, weil die Investitionsbeihilfe selbst mit diesem Markt unvereinbar sei, gelte gleichermaßen „nach den [L]eitlinien von 2014“. Sie hat im Übrigen im 246. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses das erste Kriterium der Leitlinien von 2014 angewandt, das sich wesentlich von den Voraussetzungen im Sinne von Punkt 76 der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung unterscheidet (siehe oben, Rn. 76). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den Erwägungsgründen 198 bis 202 des angefochtenen Beschlusses ergibt, die in den Leitlinien von 2014 aufgestellten Grundsätze angewandt wurden, um die Finanzierung von Investitionsbeihilfen von der Finanzierung von Betriebsbeihilfen zu unterscheiden.
85 Darüber hinaus ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss zumindest eine – im Übrigen auch in der Antwort der Kommission auf die prozessleitenden Maßnahmen enthaltene – Ungenauigkeit betreffend den rechtlichen Rahmen aufweist, in dem sie die Betriebsbeihilfe deshalb als mit dem Binnenmarkt unvereinbar ansieht, weil die Investitionsbeihilfe selbst mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei. Denn die Kommission wies im 245. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses darauf hin, dass diese – auch im 227. Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/883 enthaltene – „aufgrund der Luftverkehrsleitlinien von 2005“ gezogene Schlussfolgerung gleichermaßen nach den Luftverkehrsleitlinien von 2014 gelte. Wie sich aus den Erwägungsgründen 227 und 228 des Beschlusses 2014/883 ergibt, nahm die Kommission die Bewertung im Rahmen der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung und auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV vor. Genauer gesagt ging die Erwägung der Kommission, die im Übrigen, wie die Formulierung „jedenfalls“ zeigt, ergänzenden Charakter hatte, der im 228. Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/883 wiedergegebenen Schlussfolgerung voraus, wonach „[d]eshalb … die … Betriebsbeihilfe … nach Einschätzung der Kommission die Kriterien der Regionalbeihilfe-Leitlinien nicht [erfüllt]“.
86 Im Übrigen beruht die Erwägung, dass die Betriebsbeihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, da die Investitionsbeihilfe selbst mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, nicht auf einer ausdrücklich in den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung oder den Leitlinien von 2014 vorgesehenen Voraussetzung. Daher kann aus diesen Leitlinien nicht gefolgert werden, dass es den beteiligten Parteien möglich war, hierzu Stellung zu nehmen, wie die Kommission in ihrer Antwort auf die verfahrensleitenden Maßnahmen im Wesentlichen vorbringt. Hinzu kommt, dass der Beschluss 2014/883 aufgehoben wurde und dass es daher weniger darum geht, ob die beteiligten Parteien in der Lage waren, zu diesem Beschluss Stellung zu nehmen, als vielmehr darum, ob sie dies im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens tun konnten. Im Eröffnungsbeschluss beschränkte sich die Kommission auf den Hinweis, dass eine Betriebsbeihilfe grundsätzlich mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, es sei denn, sie beachte die in den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung aufgeführten Kriterien, was in Anbetracht des Umstands, dass für Pomorze bereits der Flughafen Gdańsk zur Verfügung stehe, a priori offenkundig nicht der Fall sei (Einleitung mit der Überschrift „Beihilferechtliche Würdigung der Maßnahme“ und Erwägungsgründe 63 bis 67 des Eröffnungsbeschlusses).
87 Zu dem von der Kommission in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragenen Argument, die Erwägung, dass die Betriebsbeihilfe mit dem Binnenmarkt unvereinbar sei, weil die Investitionsbeihilfe selbst mit diesem Markt unvereinbar sei, beruhe auf einer sich aus dem Vertrag ergebenden „autonomen“ Rechtsgrundlage, ist festzustellen, dass sich diese Auffassung weder auf den Text des Beschlusses 2014/883 noch auf jenen des angefochtenen Beschlusses stützen lässt. Denn neben dem Fehlen einer dahin gehenden Begründung und einer Klarstellung in dem angefochtenen Beschluss erfolgte die Erwägung der Kommission, wie bereits ausgeführt, hinsichtlich des Beschlusses 2014/883 im Rahmen des Art. 107 Abs. 3 Buchst. a AEUV und der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung und hinsichtlich des angefochtenen Beschlusses im Rahmen des Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und der Leitlinien von 2014.
88 Schließlich ist zum Verweis der Kommission auf die Rechtssache, in der das Urteil vom 18. November 2004, Ferriere Nord/Kommission (T‑176/01, EU:T:2004:336), ergangen ist, festzustellen, dass das Gericht in dieser Rechtssache entschieden hat, dass „[d]ie in den beiden [maßgeblichen] Gemeinschaftsrahmen aufgestellten Grundsätze … hinsichtlich [der in dem angefochtenen Beschluss angeführten] Gründe im Wesentlichen gleichlautend [sind]“. Insbesondere führte das Gericht aus, die beiden in Rede stehenden Gemeinschaftsrahmen sähen vor, dass die Investitionen, die dem Umweltschutz dienten, beihilfefähig seien und dass sie die gleiche Methode zur Berechnung der beihilfefähigen Kosten enthielten (Urteil vom 18. November 2004, Ferriere Nord/Kommission, T‑176/01, EU:T:2004:336, Rn. 77). Im Übrigen betrafen die Gründe, die in dem in dieser Rechtssache angefochtenen Beschluss angeführt wurden, die in den beiden Gemeinschaftsrahmen im Wesentlichen inhaltsgleich aufgestellten Voraussetzungen. Wie bereits ausgeführt, unterscheiden sich im vorliegenden Fall die Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung und die Leitlinien von 2014 wesentlich, insbesondere hinsichtlich der ersten in den Leitlinien von 2014 festgelegten und von der Kommission im angefochtenen Beschluss geprüften Voraussetzung, und setzen zudem eine jeweils andere Bestimmung des AEU-Vertrags um.
89 In Anbetracht aller dieser Gesichtspunkte ist festzustellen, dass die Kommission gegen die ihr obliegende Verpflichtung verstoßen hat, die Beteiligten in die Lage zu versetzen, Stellung zu nehmen, ohne dass bestimmt zu werden braucht, ob dieser Verstoß auch eine Verletzung der von den Klägerinnen vor dem Gericht geltend gemachten Verfahrensvorschriften, des Rechts auf eine ordnungsgemäße Verwaltung, des Grundsatzes des Vertrauensschutzes und der Verteidigungsrechte darstellt. Insbesondere ist nicht zu prüfen, ob es den Klägerinnen möglich war, vor dem Gericht die Verletzung der Verteidigungsrechte der Republik Polen geltend zu machen, die dieser Mitgliedstaat im Übrigen in seinem Streithilfeschriftsatz gerügt hat. In diesem Kontext braucht auch nicht festgestellt zu werden, ob die Kommission auch dadurch gegen eine ihr obliegende Verpflichtung verstoßen hat, dass sie es unterlassen hat, die Beteiligten zur Stellungnahme zu den in dem angefochtenen Beschluss vorgenommenen tatsächlichen Änderungen aufzufordern.
90 Hinsichtlich der Tragweite der damit festgestellten Rechtswidrigkeit ist zu beachten, dass, auch wenn die in Rede stehende Beihilfe tatsächlich aus zwei Arten der Finanzierung besteht, nämlich aus einer Investitionsbeihilfe und einer Betriebsbeihilfe, diese beiden Finanzierungen von der Kommission zusammen beurteilt wurden, um namentlich zu der Qualifizierung als staatliche Beihilfe zu gelangen. Insbesondere zog die Kommission im 191. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Schlussfolgerung, dass sie „die Kapitalzuführungen für die [PLGK] als staatliche Beihilfen [betrachtet]“. Für diese Schlussfolgerung wandte die Kommission insbesondere das Kriterium des marktwirtschaftlich handelnden Kapitalgebers an, ohne dabei zwischen den unterschiedlichen Arten der Finanzierung zu unterscheiden. Diese Gesamtbeurteilung spiegelt sich im Übrigen im verfügenden Teil des angefochtenen Beschlusses wider, da die Kommission in dessen Art. 2 Abs. 1 feststellt, dass es sich „[b]ei den Kapitalzuführungen, die die [PLGK] zwischen dem 28. August 2007 und dem 17. Juni 2013 erhalten hat, … um eine staatliche Beihilfe [handelt], die [die Republik] Polen … rechtswidrig gewährt hat“. Diese zwischen dem 28. August 2007 und dem 17. Juni 2013 vorgenommenen Kapitalzuführungen sind in der Aufstellung im 57. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses aufgeführt, ohne dass die Kommission danach unterscheidet, ob die Beträge als Betriebsbeihilfe oder als Investitionsbeihilfe zugewiesen wurden. Im Übrigen sieht Art. 3 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses vor, dass „[die Republik] Polen … die in Artikel 2 Absatz 1 genannte Beihilfe von der Empfängerin zurückzufordern [hat]“, ohne dass auch hier nach einer an eine Investition gebundenen oder einer an den Betrieb gebundenen Finanzierung unterschieden würde. Schließlich waren die Beurteilung der Vereinbarkeit der Investitionsbeihilfe und diejenige der Vereinbarkeit der Betriebsbeihilfe eng miteinander verbunden, was die Kommission in ihrer Antwort auf die prozessleitenden Maßnahmen bestätigt hat. Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, den verfügenden Teil des angefochtenen Beschlusses dahin auszulegen, dass er sich auf die Investitionsbeihilfe und die Betriebsbeihilfe als voneinander trennbare Maßnahmen bezieht. Was das von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument anbelangt, dass eine vollständige Nichtigerklärung der Art. 2 bis 5 des angefochtenen Beschlusses über die Tragweite des von den Klägerinnen geltend gemachten Klagegrundes hinausgehen würde, der nur die Betriebsbeihilfe betreffe, genügt als Erstes der Hinweis, dass die Klägerinnen die Nichtigerklärung dieser Artikel beantragen, als Zweites, dass es sich um einen Gesichtspunkt zwingenden Rechts handelt, und als Drittes, dass das Argument der Kommission nicht den Umstand in Frage stellen kann, dass sich die Art. 2 bis 5 des angefochtenen Beschlusses in untrennbarer Weise auf die Investitionsbeihilfe und auf die Betriebsbeihilfe beziehen.
91 Nach alledem ist dem sechsten Klagegrund zu folgen, und die Art. 2 bis 5 des angefochtenen Beschlusses sind demgemäß für nichtig zu erklären, ohne dass die übrigen geltend gemachten Klagegründe zu prüfen sind.
[nicht wiedergegeben]
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Siebte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Art. 2 bis 5 des Beschlusses (EU) 2015/1586 der Kommission vom 26. Februar 2015 über die staatliche Beihilfe SA.35388 (13/C) (ex 13/NN und ex 12/N) – Polen – Errichtung des Flughafens Gdynia-Kosakowo werden für nichtig erklärt.
2. Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten, die der Gmina Miasto Gdynia und der Port Lotniczy Gdynia Kosakowo sp. z o.o. entstanden sind.
3. Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.
Tomljenović
Bieliūnas
Marcoulli
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. November 2017.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 16. November 2017.#Acquafarm, SL gegen Europäische Kommission.#Außervertragliche Haftung – Fischerei – Von der EU finanziertes operationelles Programm – Unionsregelung, mit der die Einfuhr von Krustentieren aus Australien verboten wird – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Nichttätigwerden – Berechtigtes Vertrauen.#Rechtssache T-458/16.
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62016TJ0458
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ECLI:EU:T:2017:810
| 2017-11-16T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62016TJ0458 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 8. November 2017.#Carlo De Nicola gegen Rat der Europäischen Union und Gerichtshof der Europäischen Union.#Außervertragliche Haftung – Öffentlicher Dienst – Personal der EIB – Richtlinien über Lasertherapien – Art. 47 der Charta der Grundrechte – Angemessene Frist – Nichtbeachtung der Regeln des fairen Verfahrens – Materieller Schaden – Immaterieller Schaden – Anträge, die der Kläger in einer beim Gericht für den öffentlichen Dienst anhängigen Rechtssache gestellt hat – Teilweise Verweisung der Rechtssache an das Gericht.#Rechtssache T-42/16.
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62016TJ0042
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 8. November 2017.#Carlo De Nicola gegen Gerichtshof der Europäischen Union.#Außervertragliche Haftung – Öffentlicher Dienst – Personal der EIB – Mobbing – Nichtbeachtung der Regeln des fairen Verfahrens – Art. 47 der Charta der Grundrechte – Angemessene Frist – Schadensersatzanträge, die im Rahmen einer Klage vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst gestellt wurden – Teilweise Verweisung der Rechtssache an das Gericht.#Rechtssache T-99/16.
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62016TJ0099
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 25. Oktober 2017.#Slowakische Republik gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Eigenmittel der Europäischen Union – Beschluss 2007/436/EG – Finanzielle Verantwortung der Mitgliedstaaten – Verlust von Einfuhrzöllen – Pflicht zur Zahlung des einem Verlust an Eigenmitteln entsprechenden Betrags an die Kommission – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Schreiben der Europäischen Kommission – Begriff der anfechtbaren Handlung.#Verbundene Rechtssachen C-593/15 P und C-594/15 P.
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62015CJ0593
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ECLI:EU:C:2017:800
| 2017-10-25T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
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62015CJ0593
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
25. Oktober 2017 (*1)
„Rechtsmittel – Eigenmittel der Europäischen Union – Beschluss 2007/436/EG – Finanzielle Verantwortung der Mitgliedstaaten – Verlust von Einfuhrzöllen – Pflicht zur Zahlung des einem Verlust an Eigenmitteln entsprechenden Betrags an die Kommission – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Schreiben der Europäischen Kommission – Begriff der anfechtbaren Handlung“
In den verbundenen Rechtssachen C‑593/15 P und C‑594/15 P
betreffend zwei Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingereicht am 13. November 2015,
Slowakische Republik, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführerin,
unterstützt durch:
Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Müller als Bevollmächtigte,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und K. Stranz als Bevollmächtigte,
Rumänien, vertreten durch R.-H. Radu, M. Chicu und A. Wellman als Bevollmächtigte,
Streithelfer im Rechtsmittelverfahren,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch A. Caeiros, A. Tokár, G.‑D. Balan und Z. Malůšková als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2017,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. Juni 2017
folgendes
Urteil
1 Mit ihren Rechtsmitteln beantragt die Slowakische Republik die Aufhebung der Beschlüsse des Gerichts der Europäischen Union vom 14. September 2015, Slowakei/Kommission (T‑678/14, nicht veröffentlicht, im Folgenden: erster angefochtener Beschluss, EU:T:2015:661) und Slowakei/Kommission (T‑779/14, nicht veröffentlicht, im Folgenden zweiter angefochtener Beschluss, EU:T:2015:655) (im Folgenden zusammen: angefochtene Beschlüsse), mit denen ihre Klagen auf Nichtigerklärung der in den Schreiben BUDG/B/03MV D(2014) 2351197 vom 15. Juli 2014 (im Folgenden: erstes streitiges Schreiben) und BUDG/B/03MV D(2014) 3139078 vom 24. September 2014 (im Folgenden: zweites streitiges Schreiben) (im Folgenden zusammen: streitige Schreiben) ihrer Ansicht nach enthaltenen Beschlüsse der Generaldirektion Haushalt der Europäischen Kommission als unzulässig abgewiesen wurden.
Rechtlicher Rahmen
2 Durch den Beschluss 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2007, L 163, S. 17) wurde der Beschluss 2000/597/EG, Euratom des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2000, L 253, S. 42) mit Wirkung am 1. Januar 2007 aufgehoben.
3 „Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs und andere Zölle auf den Warenverkehr mit Drittländern, die von den Organen der [Union] eingeführt worden sind oder noch eingeführt werden“, gehören nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2000/597 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2007/436 zu den Einnahmen, die in den Haushaltsplan der Europäischen Union einzusetzende Eigenmittel darstellen (im Folgenden: Eigenmittel).
4 Nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1150/2000 des Rates vom 22. Mai 2000 zur Durchführung des Beschlusses 2007/436 (ABl. 2000, L 130, S. 1) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 105/2009 des Rates vom 26. Januar 2009 (ABl. 2009, L 36, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1150/2000) gilt ein Anspruch der Union auf die Eigenmittel als festgestellt, sobald die Bedingungen der Zollvorschriften für die buchmäßige Erfassung des Betrags der Abgabe und dessen Mitteilung an den Abgabenschuldner erfüllt sind.
5 Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000 lautet:
„Jeder Mitgliedstaat schreibt die Eigenmittel nach Maßgabe des Artikels 10 dem Konto gut, das zu diesem Zweck für die Kommission bei der Haushaltsverwaltung des Mitgliedstaats oder bei der von ihm bestimmten Einrichtung eingerichtet wurde.“
6 Die Gutschrift der Eigenmittel erfolgt spätestens am ersten Arbeitstag nach dem 19. des zweiten Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Anspruch nach Art. 2 der Verordnung festgestellt wurde (Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000).
7 Bei verspäteter Gutschrift auf dem in Art. 9 Abs. 1 der Verordnung genannten Konto hat der betreffende Mitgliedstaat Verzugszinsen zu entrichten (Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1150/2000).
Vorgeschichte des Rechtsstreits
8 In den Jahren 2006 und 2007 gaben Gesellschaften in Deutschland als Hauptverpflichtete Zollanmeldungen ab, um für die Slowakei bestimmte Waren in das externe Versandverfahren gemäß den Art. 91 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) zu überführen.
9 Die slowakischen Zollbehörden unterrichten die deutschen Behörden im Rahmen des neuen EDV-gestützten Versandverfahrens (NCTS) innerhalb der vorgeschriebenen Frist über die Gestellung der Waren bei der Bestimmungszollstelle und das Ergebnis der Kontrolle. Die Versandverfahren wurden daraufhin erledigt und die von den Hauptverpflichteten geleisteten Sicherheiten freigegeben.
10 In der Slowakei durchgeführte Ermittlungen ergaben jedoch, dass die Versandverfahren von der slowakischen Bestimmungszollstelle aufgrund eines unrechtmäßigen Zugriffs auf das NCTS nicht ordnungsgemäß für beendet erklärt worden waren.
11 Mit den streitigen Schreiben wies der Direktor der Direktion „Eigenmittel und Finanzplanung“ der Generaldirektion Haushalt der Europäischen Kommission (im Folgenden: Direktor) darauf hin, dass die Kommission mit Beschluss K(2011) 9750 endgültig vom 5. Januar 2012 (REM 03/2010) auf Antrag der deutschen Behörden festgestellt habe, dass es im Fall einer deutschen Gesellschaft, die in den Jahren 2006 und 2007 als Hauptverpflichtete für ihre Kunden mehrere Anmeldungen für Beförderungen von für die Slowakei bestimmten Waren des externen Versandverfahrens abgegeben habe, gerechtfertigt sei, die Einfuhrabgaben gemäß Art. 239 der Verordnung Nr. 2913/92 zu erlassen. Die nicht ordnungsgemäße Beendigung der Versandverfahren sei auf betrügerische Machenschaften zurückzuführen. Diese ließen sich vernünftigerweise nur durch die aktive Beteiligung eines Bediensteten der slowakischen Bestimmungszollstelle oder durch eine mangelhafte Organisation dieser Stelle erklären, aufgrund deren ein Dritter Zugang zum NCTS gehabt habe.
12 Der Direktor wies ferner darauf hin, dass die deutschen Behörden in weiteren Fällen aus denselben Gründen die Einfuhrabgaben erlassen hätten. Im ersten streitigen Schreiben wird ein weiterer Fall genannt, im zweiten sechs.
13 In den streitigen Schreiben führte der Direktor weiter aus, die Stellen der Kommission hielten die Slowakische Republik für finanziell verantwortlich. Wegen der Bestätigung der Erledigung auf den an die deutsche Abgangszollstelle zurückgesandten Versandscheinen hätten die deutschen Behörden die Zölle, bei denen es sich um traditionelle Eigenmittel handele, nicht erheben bzw. zurückfordern können. Die Slowakische Republik sei für die Erhebung von Zöllen auf Einfuhren innerhalb der Union zwar nicht zuständig. Ein Mitgliedstaat müsse aber finanziell für Eigenmittelverluste aufkommen, wenn seine Behörden oder deren Vertreter Fehler begingen oder betrügerisch handelten.
14 Die slowakischen Behörden hätten eine ordnungsgemäße Anwendung der Zollvorschriften der Union nicht gewährleisten können. Deshalb sei es zu einem Verlust an traditionellen Eigenmitteln gekommen. Die deutschen Behörden hätten die Zölle nämlich nicht erheben und der Kommission zur Verfügung stellen können. Die Slowakische Republik müsse den so entstandenen Verlust im Haushalt der Union ausgleichen. Insoweit sei Rn. 44 des Urteils vom 8. Juli 2010, Kommission/Italien (C‑334/08, EU:C:2010:414), entsprechend anwendbar.
15 Eine Weigerung der Slowakischen Republik, die traditionellen Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, würde gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Union verstoßen und das reibungslose Funktionieren des Systems der Eigenmittel beeinträchtigen.
16 Der Direktor forderte die slowakischen Behörden daher auf, der Kommission spätestens am ersten Arbeitstag nach dem 19. des zweiten Monats, der auf den Monat folge, in dem die streitigen Schreiben versandt worden seien, Eigenmittel in Höhe von 1602457,33 Euro bzw. 1453723,12 Euro brutto (abzüglich Erhebungskosten in Höhe von 25 %) zur Verfügung zu stellen. Er wies darauf hin, dass bei verspäteter Gutschrift gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 1150/2000 Verzugszinsen zu entrichten seien.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtene Beschlüsse
17 Mit Klageschriften, die am 22. September bzw. 26. November 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, erhob die Slowakische Republik Klagen auf Nichtigerklärung der ihrer Auffassung nach in den streitigen Schreiben enthaltenen Beschlüsse.
18 Die Kommission erhob mit gesonderten Schriftsätzen, die am 5. Dezember 2014 bzw. am 12. Februar 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 Unzulässigkeitseinreden. Sie machte in beiden Rechtssachen geltend, dass es an einer anfechtbaren Handlung fehle, in der Rechtssache T‑678/14 darüber hinaus, dass das erste streitige Schreiben lediglich bestätigenden Charakter habe.
19 Die Slowakische Republik nahm zu den Unzulässigkeitseinreden Stellung.
20 Die Bundesrepublik Deutschland und Rumänien beantragten mit Schriftsätzen, die am 8. bzw. 23. Januar 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, in der Rechtssache T‑678/14, mit Schriftsätzen, die am 10. April bzw. 4. Mai 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, in der Rechtssache T‑779/14 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Slowakischen Republik zugelassen zu werden.
21 Mit den angefochtenen Beschlüssen entschied das Gericht gemäß Art. 130 seiner Verfahrensordnung über die Unzulässigkeitseinreden der Kommission.
22 Zur Beurteilung der Anfechtbarkeit der streitigen Schreiben hat das Gericht die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten im Bereich der Feststellung der Eigenmittel gemäß den Vorschriften des Beschlusses 2007/436 und der Verordnung Nr. 1150/2000 untersucht (erster angefochtener Beschluss, Rn. 27 bis 37 und 39; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 26 bis 36 und 38). Es ist zu dem Schluss gelangt, dass es keine Vorschrift gebe, die die Kommission ermächtige, einen Rechtsakt zu erlassen, mit dem einem Mitgliedstaat aufgegeben werde, Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, so dass davon auszugehen sei, dass die streitigen Schreiben informativen Charakter hätten und eine bloße Aufforderung an die Slowakische Republik darstellten (erster angefochtener Beschluss, Rn. 41; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 40).
23 Eine Meinungsäußerung der Kommission wie die in den streitigen Schreiben enthaltene sei für die nationalen Behörden nicht verbindlich (erster angefochtener Beschluss, Rn. 42 bis 44; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 41 bis 43). Sie stelle ebenso wenig wie eine mit Gründen versehene Stellungnahme im Vorverfahren eines Vertragsverletzungsverfahrens eine anfechtbare Handlung dar (erster angefochtener Beschluss, Rn. 45 bis 47; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 44 bis 46).
24 Schließlich hat das Gericht das Vorbringen der Slowakischen Republik zurückgewiesen. Das Vorbringen, die Kommission habe die einschlägigen Rechtsvorschriften nicht richtig ausgelegt, die streitigen Schreiben entbehrten jeglicher Rechtsgrundlage und die darin genannten Beträge könnten nicht als „Eigenmittel“ eingestuft werden, gehe, weil es die materielle Rechtmäßigkeit des Inhalts der Schreiben betreffe, ins Leere (erster angefochtener Beschluss, Rn. 54 und 55; zweiter angefochtener Beschluss Rn. 53 und 54). Das Gericht hat sich auch mit dem Vorbringen zum umfassenden Rechtsschutzsystem, zum effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und zu der in den vorliegenden Fällen wegen einer etwaigen Verpflichtung zur Zahlung erheblicher Verzugszinsen gegebenen Dringlichkeit auseinandergesetzt (erster angefochtener Beschluss, Rn. 56 bis 59; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 55 bis 58).
25 Das Gericht hat den Unzulässigkeitseinreden der Kommission daher stattgegeben und die Klagen der Slowakischen Republik, weil sie gegen Handlungen gerichtet seien, die nicht anfechtbar seien, abgewiesen. Über die Anträge der Bundesrepublik Deutschland und Rumäniens auf Zulassung zur Streithilfe hat es nicht entschieden.
Anträge der Parteien des Rechtsmittelverfahrens und Verfahren vor dem Gerichtshof
26 Mit ihren Rechtsmitteln beantragt die Slowakische Republik,
–
die angefochtenen Beschlüsse vollständig aufzuheben;
–
selbst über die Zulässigkeit der Klagen zu entscheiden und die Rechtssachen zur Entscheidung über die Begründetheit der Klagen an das Gericht zurückzuverweisen, hilfsweise, die Rechtssachen zur Entscheidung über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Klagen an das Gericht zurückzuverweisen;
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
27 Die Kommission beantragt in ihrer Rechtsmittelbeantwortung,
–
die Rechtsmittel zurückzuweisen;
–
der Slowakischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
28 Die Bundesrepublik Deutschland und Rumänien beantragen in ihren Streithilfeschriftsätzen im Wesentlichen, den Rechtsmitteln stattzugeben.
29 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. Januar 2016 sind die Rechtssachen C‑593/15 P und C‑594/15 P zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zu den Rechtsmitteln
30 Die Slowakische Republik macht zwei Rechtsmittelgründe geltend. Mit dem ersten rügt sie Rechtsfehler, mit dem zweiten hilfsweise einen Verstoß des Gerichts gegen seine Begründungspflicht.
Zum ersten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
31 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügt die Slowakische Republik, dem Gericht seien bei der Beurteilung der Rechtsnatur und der Rechtswirkungen der streitigen Schreiben mehrere Rechtsfehler unterlaufen. Es werden drei Gesichtspunkte angesprochen.
32 Erstens habe das Gericht die Rechtsnatur der in den streitigen Schreiben verlangten Beträge nicht richtig beurteilt, indem es diese zumindest implizit als Eigenmittel im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2007/436 eingestuft habe. Bei der Entscheidung über die Entscheidungsbefugnisse der Kommission habe das Gericht also zu Unrecht die Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung über die Eigenmittel zugrunde gelegt. Die richtige rechtliche Einstufung der Beträge sei für die Beurteilung der Zulässigkeit der Klagen relevant gewesen. Das Gericht habe sich daher nicht auf die Feststellung beschränken dürfen, dass ihr Vorbringen die Begründetheit betreffe (erster angefochtener Beschluss, Rn. 54 und 55; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 53 und 54). Ihm sei insoweit ein Rechtsfehler unterlaufen.
33 Die vom Gericht angeführte Rechtsprechung (erster angefochtener Beschluss, Rn. 28 bis 34; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 27 bis 33) sei hier jedenfalls nicht einschlägig. Sie betreffe die Verpflichtung der Mitgliedstaaten im Bereich der Eigenmittel in den bilateralen Beziehungen zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat, der solche Eigenmittel zur Verfügung zu stellen habe. Im vorliegenden Fall gehe es aber um trilaterale Beziehungen. Beteiligt seien die Kommission, die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat, der die Eigenmittel zur Verfügung zu stellen habe, und die Slowakische Republik, die dafür nicht verantwortlich sei.
34 In ihrer Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen weist die Slowakische Republik darüber hinaus darauf hin, dass wegen der Unsicherheit hinsichtlich der Rechtsgrundlage einer Verpflichtung zur Zahlung der geforderten Beträge Rechtsunsicherheit bestehe und schwere finanzielle Folgen drohten. Eine solche Verpflichtung bestehe nach dem Unionsrecht nicht. Die Kommission habe mit den streitigen Schreiben eine Verpflichtung und Folgen festgesetzt, die im Unionsrecht nicht vorgesehen seien. Die Schreiben erzeugten daher eindeutig Rechtswirkungen, die geeignet seien, ihre Interessen zu beeinträchtigen. Jedenfalls wäre eine Klärung der sich in den vorliegenden Rechtssachen hinsichtlich der Rechtsgrundlage einer solchen Verpflichtung stellenden Fragen hilfreich.
35 Zweitens habe das Gericht das Kriterium der Befugnis des Handelnden rechtsfehlerhaft zum Tatbestandsmerkmal einer anfechtbaren Handlung erhoben (erster angefochtener Beschluss, Rn. 41; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 40). Zwar habe der Gerichtshof in Rn. 55 des Urteils vom 13. Februar 2014, Ungarn/Kommission (C‑31/13 P, EU:C:2014:70), entschieden, dass die Rechtswirkungen einer Handlung auch anhand der Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu beurteilen seien. Diese Rechtsprechung könne aber nicht dahin verstanden werden, dass das Fehlen von Befugnissen zwangsläufig dazu führe, dass eine Handlung eines Unionsorgans in keinem Fall eine Handlung darstellen könne, die verbindliche Rechtswirkungen erzeuge und gegen die eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV erhoben werden könne. Sonst würden Rechtswidrigkeitseinreden, mit der die Unzuständigkeit des Handelnden gerügt werde, jeglicher Relevanz beraubt.
36 Drittens sei die Möglichkeit der Zahlung unter Vorbehalt entgegen den Feststellungen des Gerichts (erster angefochtener Beschluss, Rn. 59; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 58) weder geeignet, den unzureichenden gerichtlichen Schutz und den unzureichenden Zugang zu den Gerichten zu ersetzen, noch, in einem Fall wie hier das Problem der Dringlichkeit der Lage zu lösen. Die Unzulässigkeit der Klagen vor dem Gericht habe nicht hinnehmbare negative Auswirkungen auf ihre Lage. Sie könne den von der Kommission geltend gemachten Ansprüchen allenfalls im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage entgegentreten und laufe daher Gefahr, hohe Verzugszinsen zu zahlen. Eine Zahlung unter Vorbehalt sei in keinem Unionsrechtsakt vorgesehen und eine Rückforderung durch die Rechtsprechung nicht gesichert. Die Entscheidung für eine Zahlung unter Vorbehalt gewähre ihr daher keinen Zugang zu den Gerichten.
37 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Nach ihrer Auffassung ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
38 Erstens betreffe das Vorbringen zur Rechtsnatur der verlangten Beträge, zur Zahlung durch die Slowakische Republik und zur Existenz einer Verpflichtung dieses Mitgliedstaats, die Beträge zur Verfügung zu stellen, nicht die Zulässigkeit der Klagen, sondern deren Begründetheit. Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung habe das Gericht den Inhalt der streitigen Schreiben nach Maßgabe der Rechtsprechung beurteilt. Seine Feststellung, die Schreiben enthielten nach ihrem Inhalt lediglich eine Aufforderung, Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, sei nicht zu beanstanden. Weder die Slowakische Republik noch die Mitgliedstaaten, die den Rechtsstreitigkeiten als Streithelfer beigetreten seien, hätten diese Feststellung entkräftet. Das Gericht habe die Klagen also zu Recht nach Maßgabe der Vorschriften und der Rechtsprechung zu den Eigenmitteln geprüft.
39 Zum einen sei unstreitig, dass es sich bei den betreffenden Beträgen um Zölle, und damit um traditionelle Eigenmittel handele. Zum anderen habe das Gericht, indem es bei der Zulässigkeitsprüfung die Vorschriften über Eigenmittel herangezogen habe, keinesfalls über eine etwaige Verpflichtung der Slowakischen Republik zur Zurverfügungstellung der Beträge entschieden. Nach diesen Vorschriften in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung und den Vorschriften über das Vertragsverletzungsverfahren habe die Kommission nicht die Befugnis, die Höhe der Eigenmittel verbindlich festzusetzen, eine Frist zur Zahlung zu bestimmen oder über Verzugszinsen zu entscheiden.
40 Jedenfalls seien die streitigen Schreiben, selbst unterstellt, es ginge darin nicht um die Zahlung von Eigenmitteln, nicht geeignet, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen. Es sei keine Rechtsgrundlage für den Erlass eines solchen verbindlichen Rechtsakts bestimmt worden.
41 Zweitens sei die Prüfung des Umfangs ihrer Befugnisse in den vorliegenden Rechtssachen im Rahmen der komplexen Prüfung der Frage erfolgt, ob die streitigen Schreiben in Anbetracht ihrer Rechtsnatur, des Zusammenhangs, in dem sie verfasst worden seien, und der Befugnisse des Verfassers anfechtbar seien. Es sei zu unterscheiden zwischen Handlungen mit Rechtswirkungen, die von einem unzuständigen Organ erlassen worden seien, und Handlungen, die keine solchen Wirkungen hätten und damit nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein könnten.
42 Drittens ergebe sich aus dem Wesen des Systems der Eigenmittel zwingend, dass sie in diesem Bereich keine Befugnis zum Erlass verbindlicher Entscheidungen habe. Das Fehlen einer solchen Befugnis könne daher nicht bedeuten, dass der Slowakischen Republik das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz entzogen werde. Dasselbe gelte für die Verpflichtung der Slowakischen Republik zur Entrichtung von Verzugszinsen. Diese ergebe sich unmittelbar aus Art. 11 der Verordnung Nr. 1150/2000. Die Zahlung unter Vorbehalt sei nicht dazu bestimmt, das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu garantieren, sondern die etwaige finanzielle Belastung zu mindern, die die Verpflichtung zur Entrichtung von Verzugszinsen für einen Mitgliedstaat darstellen könne. Im Übrigen hänge das Risiko des Entstehens von Verzugszinsen mit der Verletzung der Verpflichtung, ihr Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, zusammen, und nicht mit den eine entsprechende Aufforderung enthaltenden streitigen Schreiben.
43 Das Fehlen einer Befugnis zum Erlass verbindlicher Entscheidungen im Bereich der Eigenmittel werde auch dadurch bestätigt, dass der Rat einen Vorschlag zur Änderung von Art. 17 der Verordnung Nr. 1150/2000 abgelehnt habe, mit dem der Kommission die Befugnis eingeräumt worden wäre, Ermittlungen durchzuführen und bei festgestellten Zöllen über 50000 Euro einen mit Gründen versehenen Beschluss zu erlassen.
44 Eine Nichtigkeitsklage könne nur erhoben werden, wenn Gegenstand des Rechtsstreits die Gültigkeit einer Handlung sei, die Rechtswirkungen erzeuge. Sei Gegenstand des Rechtsstreits hingegen das Vorliegen einer Verpflichtung eines Mitgliedstaats aus dem Unionsrecht, sei allein die Vertragsverletzungsklage statthaft. In den Verträgen sei für die Mitgliedstaaten kein Verfahren vorgesehen, mit dem diese feststellen lassen könnten, ob sie ihren Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nachgekommen seien.
45 Die Tschechische Republik, die Bundesrepublik Deutschland und Rumänien sind der Ansicht, dass dem ersten Rechtsmittelgrund stattzugeben sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
46 Nach ständiger Rechtsprechung sind „anfechtbare Handlungen“ im Sinne von Art. 263 AEUV unabhängig von ihrer Form alle von den Organen erlassenen Bestimmungen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen sollen (Urteil vom 13. Februar 2014, Ungarn/Kommission, C‑31/13 P, EU:C:2014:70, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Für die Feststellung, ob die angefochtene Handlung solche Wirkungen erzeugt, ist auf ihr Wesen abzustellen (Urteil vom 22. Juni 2000, Niederlande/Kommission, C‑147/96, EU:C:2000:335, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Wirkungen sind anhand objektiver Kriterien zu beurteilen, wie z. B. des Inhalts der Handlung, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (Urteil vom 13. Februar 2014, Ungarn/Kommission, C‑31/13 P, EU:C:2014:70, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 In den angefochtenen Beschlüssen hat das Gericht vorab über die Unzulässigkeitseinreden der Kommission entschieden. Wie oben in den Rn. 22 und 23 ausgeführt, hat das Gericht nach der Prüfung der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten im Bereich der Feststellung der Eigenmittel gemäß den Vorschriften des Beschlusses 2007/436 und der Verordnung Nr. 1150/2000 festgestellt, dass es keine Vorschrift gebe, die die Kommission ermächtige, einen Rechtsakt zu erlassen, mit dem einem Mitgliedstaat aufgegeben werde, Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, so dass davon auszugehen sei, dass die streitigen Schreiben informativen Charakter hätten und eine bloße Aufforderung an die Slowakische Republik darstellten (erster angefochtener Beschluss, Rn. 41; zweiter angefochtener Beschluss Rn. 40).
49 Das Gericht hat insoweit ausgeführt, dass eine Meinungsäußerung der Kommission wie die in den Schreiben enthaltene für die nationalen Behörden nicht verbindlich sei und ebenso wenig wie eine mit Gründen versehene Stellungnahme im Vorverfahren eines Vertragsverletzungsverfahrens eine anfechtbare Handlung darstelle.
50 Zum einen ist festzustellen, dass das Gericht seine Beurteilung der Anfechtbarkeit der streitigen Schreiben im Wesentlichen auf eine Prüfung der Befugnisse der Kommission nach den Vorschriften des Beschlusses 2007/436 und der Verordnung Nr. 1150/2000 gestützt hat. Entgegen dem Vorbringen der Slowakischen Republik hat es auf diese Weise aber weder die Rechtsnatur der verlangten Beträge beurteilt noch diese als „Eigenmittel“ eingestuft.
51 Das Gericht hat sich in den angefochtenen Beschlüssen nämlich darauf beschränkt, die Verpflichtungen und Befugnisse der Mitgliedstaaten bzw. der Kommission im Bereich der Eigenmittel der Union abstrakt darzulegen. Da die Kommission die streitigen Schreiben in diesem Bereich erlassen hat (vgl. erster angefochtener Beschluss, Rn. 4 bis 10; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 4 bis 10), durfte das Gericht die Verpflichtungen und Befugnisse der Mitgliedstaaten bzw. der Kommission im Rahmen der Prüfung der Anfechtbarkeit der Schreiben nach Maßgabe der Vorschriften über die Eigenmittel beurteilen. Es ist ihm insoweit kein Rechtsfehler unterlaufen. Der Prüfung der die Begründetheit betreffenden Frage der Anwendbarkeit dieser Vorschriften im vorliegenden Fall und der Einstufung der betreffenden Beträge wurde damit nicht vorgegriffen.
52 Das Gericht hat das Vorbringen der Slowakischen Republik zur materiellen Rechtmäßigkeit des Inhalts der streitigen Schreiben daher zu Recht als ins Leere gehend zurückgewiesen (erster angefochtener Beschluss, Rn. 55; zweiter angefochtener Beschluss, Rn. 54).
53 Zum anderen ist festzustellen, dass die Slowakische Republik zu Recht darauf hinweist, dass das Gericht lediglich die Befugnisse des Handelnden geprüft hat, nicht aber den Inhalt der streitigen Schreiben. Dies steht nicht in Einklang mit der oben in Rn. 47 dargestellten Rechtsprechung.
54 Folglich ist dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen.
55 Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass eine Verletzung des Unionsrechts in einem Urteil des Gerichts, wenn zwar dessen Gründe eine solche Verletzung enthalten, die Urteilsformel sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist, nicht zur Aufhebung dieses Urteils führen kann und die Begründung durch eine andere zu ersetzen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 150, und vom 5. März 2015, Kommission u. a./Versalis u. a., C‑93/13 P und C‑123/13 P, EU:C:2015:150, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 So liegt der Fall hier.
57 Eine Analyse des Inhalts der streitigen Schreiben nach Maßgabe der oben in den Rn. 46 und 47 dargestellten Rechtsprechung ergibt unter Berücksichtigung des Zusammenhangs ihrer Erstellung und der Befugnisse der Kommission, dass die Schreiben nicht als „anfechtbare Handlungen“ einzustufen sind.
58 Erstens ist zum Inhalt der Schreiben festzustellen, dass der Direktor darin nach einer Darstellung des Sachverhalts den Standpunkt der Direktion zum Ausdruck gebracht hat, dass die Slowakische Republik für die in Deutschland entstandenen Verluste an Eigenmitteln verantwortlich sei. Er hat die Auffassung vertreten, dass die Slowakische Republik diese Verluste ausgleichen müsse und dass sie, wenn sie sich weigere, die betreffenden Beträge zur Verfügung zu stellen, gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoße und das reibungslose Funktionieren des Systems der Eigenmittel gefährde. Vor diesem Hintergrund hat er die Slowakische Republik aufgefordert, die den Verlusten entsprechenden Beträge zur Verfügung zu stellen, wobei er darauf hingewiesen hat, dass, wenn dies nicht innerhalb der in den Schreiben gesetzten Fristen geschehe, gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 1150/2000 Verzugszinsen zu entrichten seien.
59 Demnach hat die Kommission der Slowakischen Republik mit den streitigen Schreiben im Wesentlichen mitgeteilt, welche rechtlichen Folgen die in Deutschland entstandenen Verluste an Eigenmitteln ihrer Auffassung nach haben und welche Verpflichtungen sich daraus ihrer Auffassung nach für die Slowakische Republik ergeben. Vor diesem Hintergrund hat sie die Slowakische Republik aufgefordert, die betreffenden Beträge zur Verfügung zu stellen.
60 Weder die Darlegung einer bloßen Rechtsauffassung noch eine bloße Aufforderung, die betreffenden Beträge zur Verfügung zu stellen, sind aber geeignet, Rechtswirkungen zu erzeugen.
61 Allein die Tatsache, dass in den streitigen Schreiben für die Zurverfügungstellung der Beträge mit dem Hinweis, dass bei verspäteter Gutschrift Verzugszinsen zu entrichten seien, eine Frist gesetzt wird, lässt im Hinblick auf den gesamten Inhalt der Schreiben nicht den Schluss zu, dass die Kommission beabsichtigt hätte, nicht ihre Meinung zu äußern, sondern Rechtsakte mit verbindlichen Rechtswirkungen zu erlassen, und verleiht den Schreiben deshalb auch nicht die Rechtsnatur anfechtbarer Handlungen.
62 Zweitens ist zum Zusammenhang festzustellen, dass die Kommission in der mündlichen Verhandlung, ohne dass die Slowakische Republik oder die Mitgliedstaaten, die den Rechtsstreitigkeiten als Streithelfer beigetreten sind, ihr insoweit widersprochen hätten, darauf hingewiesen hat, dass Schreiben wie die streitigen einer gängigen Praxis der Kommission entsprächen. Sie dienten dazu, informelle Gespräche über die Beachtung des Unionsrechts durch einen Mitgliedstaat in Gang zu setzen, auf die die Einleitung des Vorverfahrens eines Vertragsverletzungsverfahrens folgen könne. Dieser Zusammenhang wird in den streitigen Schreiben deutlich, in denen klar begründet wird, warum die Kommission die Auffassung vertritt, dass die Slowakische Republik gegen Vorschriften des Unionsrechts verstoßen haben könnte. Außerdem geht aus den Klageschriften, die die Slowakische Republik beim Gericht eingereicht hat, eindeutig hervor, dass die Slowakische Republik diesen Zusammenhang kannte und die Absicht der Kommission, informelle Kontakte aufzunehmen, durchaus verstanden hat.
63 Nach der Rechtsprechung ist eine mit Gründen versehene Stellungnahme wegen des Ermessens, über das die Kommission hinsichtlich der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens verfügt, nicht geeignet, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. September 1998, Kommission/Deutschland, C‑191/95, EU:C:1998:441, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das muss erst recht für Schreiben gelten, die wie die streitigen als informelle Kontaktaufnahmen vor der Einleitung des Vorverfahrens eines Vertragsverletzungsverfahrens aufgefasst werden können.
64 Drittens ist zu den Befugnissen der Kommission festzustellen, dass zwischen den Parteien unstreitig ist, dass die Kommission jedenfalls nicht über die Befugnis verfügt, verbindliche Rechtsakte zu erlassen, mit denen einem Mitgliedstaat aufgegeben wird, Beträge wie die der vorliegenden Verfahren zur Verfügung zu stellen. Denn selbst unterstellt, diese Beträge wären nicht als „Eigenmittel“ einzustufen, wie die Slowakische Republik geltend macht, hat die Kommission vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen, dass für den Erlass eines verbindlichen Rechtsakts keine Rechtsgrundlage ersichtlich sei. Und selbst unterstellt, die Beträge wären entgegen dem Vorbringen der Slowakischen Republik als „Eigenmittel“ einzustufen, ist das Vorbringen der Kommission, dass ihr weder durch den Beschluss 2007/436 noch durch die Verordnung Nr. 1150/2000 eine Entscheidungsbefugnis eingeräumt sei, von der Slowakischen Republik nicht bestritten worden.
65 Somit ist, ohne dass über die die Begründetheit betreffende Frage der Anwendbarkeit des Beschlusses 2007/436 und der Verordnung Nr. 1150/2000 und der rechtlichen Einstufung der verlangten Beträge entschieden zu werden braucht, festzustellen, dass die streitigen Schreiben keine „anfechtbaren Handlungen“ im Sinne von Art. 263 AEUV darstellen.
66 Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen der Slowakischen Republik zum Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, zur unnötigen Verlängerung des Streits mit der Kommission und zum Risiko von Verzugszinsen nicht in Frage gestellt. Zwar ist die Voraussetzung der verbindlichen Rechtswirkungen im Licht des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auszulegen, wie es in Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert ist. Dieses Recht zielt aber nicht darauf ab, das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit direkter Klagen bei den Gerichten der Union zu ändern, wie auch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Auslegung des Begriffs „anfechtbare Handlung“ im Licht von Art. 47 der Charta kann daher nicht zum Wegfall der Voraussetzung der verbindlichen Rechtswirkungen führen, ohne dass die den Unionsgerichten durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten würden (vgl. entsprechend Urteil vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C‑131/03 P, EU:C:2006:541, Rn. 81, und Beschluss vom 14. Mai 2012, Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, C‑477/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:292, Rn. 54).
67 Somit ist festzustellen, dass der Tenor der angefochtenen Beschlüsse, soweit mit ihm die Klagen der Slowakischen Republik als unzulässig abgewiesen werden, richtig ist. Der erste Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
68 Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund, den sie hilfsweise geltend macht, rügt die Slowakische Republik eine Verletzung der Begründungspflicht.
69 Erstens habe das Gericht seine Feststellung, die geforderten Beträge stellten Eigenmittel dar, überhaupt nicht begründet. Eine solche Begründung wäre in den vorliegenden Rechtssachen aber besonders wichtig gewesen. Zum einen sei die Beurteilung der Zulässigkeit der Klagen durch das Gericht, die im Übrigen unzutreffend sei, auf der Grundlage dieser Feststellung erfolgt. Zum anderen habe sie sich in ihren Stellungnahmen zu den Unzulässigkeitseinreden gegen die Einstufung der Beträge als „Eigenmittel“ gewandt. Begründen müssen hätte das Gericht ferner, warum die Rechtsprechung zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Bereich der Eigenmittel in bilateralen Beziehungen auf trilaterale Beziehungen, wie sie hier vorlägen, anwendbar sei. Sie habe dies bestritten.
70 Zweitens habe das Gericht seine Feststellung, dass eine Zahlung unter Vorbehalt geeignet sei, das komplexe Problem des Zugangs zu den Gerichten und die Dringlichkeit der Situation, wie sie in den vorliegenden Rechtssachen gegeben seien, zu lösen, nicht begründet.
71 Drittens sei die Begründung der angefochtenen Beschlüsse nahezu identisch mit der mehrerer, am selben Tag ergangener Beschlüsse des Gerichts, die anders gelagerte Sachverhalte beträfen. Dies gelte insbesondere für den Beschluss vom 14. September 2015, Slowenien/Kommission (T‑585/14, EU:T:2015:662), der den Verlust traditioneller Eigenmittel wegen der Gewährung einer Einfuhrlizenz für Zucker betreffe und in dem es anders als in den vorliegenden Rechtssachen um bilaterale Beziehungen zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission gehe.
72 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
73 Die Pflicht zur Begründung von Urteilen ergibt sich aus Art. 36 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß deren Art. 53 Abs. 1 auf das Gericht anwendbar ist, und aus Art. 117 der Verfahrensordnung des Gerichts. Nach ständiger Rechtsprechung müssen aus der Begründung eines Urteils die Überlegungen des Gerichts klar und eindeutig hervorgehen, so dass die Betroffenen die Gründe für die Entscheidung des Gerichts erkennen können und der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (Urteil vom 19. Dezember 2012, Mitteldeutsche Flughafen und Flughafen Leipzig-Halle/Kommission, C‑288/11 P, EU:C:2012:821, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).
74 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Begründungspflicht nicht, dass das Gericht bei seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend behandelt. Es genügt, wenn die Begründung es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe zu erkennen, aus denen das Gericht ihrer Argumentation nicht gefolgt ist, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben liefert, damit er seine Kontrolle ausüben kann (vgl. in diesem Sinne u. a. Beschluss vom 12. Juli 2016, Pérez Gutiérrez/Kommission, C‑604/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:545, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75 Im vorliegenden Fall hat das Gericht in den angefochtenen Beschlüssen klar begründet, warum es zu dem Schluss gelangt ist, dass die streitigen Schreiben nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV sein können. Der erste Rechtsmittelgrund der Slowakischen Republik zeigt, dass diese die Erwägungen, die der Feststellung der Unzulässigkeit zugrunde liegen, anhand der Begründung der Beschlüsse nachvollziehen und beanstanden konnte und dass der Gerichtshof auf der Grundlage der Begründung der Beschlüsse seine Kontrolle ausüben kann.
76 Folglich leiden die angefochtenen Beschlüsse nicht unter einem Begründungsmangel.
77 Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen der Slowakischen Republik nicht in Frage gestellt.
78 Erstens ist zum Vorbringen der Slowakischen Republik, das Gericht hätte begründen müssen, warum es angenommen habe, dass es den Beschluss 2007/436 und die Verordnung Nr. 1150/2000 bei der Beurteilung der Anfechtbarkeit der streitigen Schreiben heranziehen dürfe, festzustellen, dass das Gericht auf das Vorbringen, diese Rechtsakte dürften nicht herangezogen werden, eingegangen ist. Es hat nämlich festgestellt, dass es die Begründetheit der Klagen betreffe.
79 Zweitens ist unter diesen Umständen auch irrelevant, dass die Begründung der angefochtenen Beschlüsse nahezu identisch ist mit der von Beschlüssen in anderen Rechtssachen, die andere Sachverhalte betreffen, einmal unterstellt, dies trifft überhaupt zu.
80 Drittens ist das Gericht, indem es zu Recht darauf hingewiesen hat, dass die Voraussetzung verbindlicher Rechtswirkungen im Licht des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes auszulegen sei, eine solche Auslegung aber nicht zum Wegfall dieser Voraussetzung führen könne, ohne dass die den Unionsgerichten durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten würden, rechtlich hinreichend auf das Vorbringen der Slowakischen Republik zu einem ungenügenden gerichtlichen Rechtsschutz in Anbetracht der behaupteten Dringlichkeit der Situation eingegangen.
81 Somit sind der zweite Rechtsmittelgrund und damit das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen.
Kosten
82 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
83 Da die Slowakische Republik mit ihren Rechtsmittelgründen unterlegen ist, ist sie gemäß dem Antrag der Kommission zu verurteilen, neben ihren eigenen Kosten die der Kommission zu tragen.
84 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
85 Folglich haben die Tschechische Republik, die Bundesrepublik Deutschland und Rumänien ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Rechtsmittel werden zurückgewiesen.
2. Die Slowakische Republik trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission.
3. Die Tschechische Republik, die Bundesrepublik Deutschland und Rumänien tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Slowakisch.
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Beschluss des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 26. September 2017.#Valéria Anna Gyarmathy gegen Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Bedienstete der EBDD – Nichtverlängerung des Dienstvertrags – Kündigung des Vertrags – Mobbing – Antrag auf Beistand – Verwaltungsuntersuchung – Unparteilichkeit der Untersuchung.#Rechtssache T-297/16 P.
|
62016TO0297
|
ECLI:EU:T:2017:672
| 2017-09-26T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62016TO0297 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 26. Juli 2017.#Tschechische Republik gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Verkehr – Richtlinie 2010/40/EU – Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr – Art. 7 – Übertragung von Befugnissen auf die Europäische Kommission – Grenzen – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 885/2013 – Bereitstellung von Informationsdiensten für sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 886/2013 – Daten und Verfahren für die unentgeltliche Bereitstellung eines Mindestniveaus allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsinformationen für die Nutzer – Art. 290 AEUV – Ausdrückliche Beschränkung der Ziele, des Inhalts, des Geltungsbereichs und der Dauer der Befugnisübertragung – Wesentlicher Aspekt des betreffenden Bereichs – Schaffung einer Kontrollstelle.#Rechtssache C-696/15 P.
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62015CJ0696
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ECLI:EU:C:2017:595
| 2017-07-26T00:00:00 |
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0696
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
26. Juli 2017 (*1)
„Rechtsmittel – Verkehr – Richtlinie 2010/40/EU – Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr – Art. 7 – Übertragung von Befugnissen auf die Europäische Kommission – Grenzen – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 885/2013 – Bereitstellung von Informationsdiensten für sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 886/2013 – Daten und Verfahren für die unentgeltliche Bereitstellung eines Mindestniveaus allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsinformationen für die Nutzer – Art. 290 AEUV – Ausdrückliche Beschränkung der Ziele, des Inhalts, des Geltungsbereichs und der Dauer der Befugnisübertragung – Wesentlicher Aspekt des betreffenden Bereichs – Schaffung einer Kontrollstelle“
In der Rechtssache C‑696/15 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 23. Dezember 2015,
Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, T. Müller und J. Pavliš als Bevollmächtigte,
Klägerin,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch A. Buchet, P. J. O. Van Nuffel, J. Hottiaux und Z. Malůšková als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Dezember 2016
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Tschechische Republik die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 8. Oktober 2015, Tschechische Republik/Kommission (T‑659/13 und T‑660/13, nicht veröffentlicht, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2015:771), mit dem das Gericht ihre beiden Klagen abgewiesen hat, die – in der Rechtssache T‑659/13 – auf Nichtigerklärung der delegierten Verordnung (EU) Nr. 885/2013 der Kommission vom 15. Mai 2013 zur Ergänzung der IVS-Richtlinie 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die Bereitstellung von Informationsdiensten für sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge (ABl. 2013, L 247, S. 1), hilfsweise auf Nichtigerklärung von Art. 3 Abs. 1, Art. 8 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der delegierten Verordnung Nr. 885/2013, sowie – in der Rechtssache T‑660/13 – auf Nichtigerklärung der delegierten Verordnung (EU) Nr. 886/2013 der Kommission vom 15. Mai 2013 zur Ergänzung der Richtlinie 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf Daten und Verfahren für die möglichst unentgeltliche Bereitstellung eines Mindestniveaus allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsinformationen für die Nutzer (ABl. 2013, L 247, S. 6), hilfsweise auf Nichtigerklärung von Art. 5 Abs. 1, Art. 9 und Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der delegierten Verordnung Nr. 886/2013, gerichtet waren.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2010/40/EU
2 Aus Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zum Rahmen für die Einführung intelligenter Verkehrssysteme im Straßenverkehr und für deren Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern (ABl. 2010, L 207, S. 1) ergibt sich, dass diese Richtlinie einen Rahmen zur Unterstützung einer koordinierten und kohärenten Einführung und Nutzung „intelligenter Verkehrssysteme (IVS)“ in der Europäischen Union, insbesondere über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg, schafft, die dafür erforderlichen allgemeinen Bedingungen festlegt und die Ausarbeitung von Spezifikationen für Maßnahmen in den vorrangigen Bereichen nach Art. 2 und, soweit angemessen, von erforderlichen Normen vorsieht.
3 In Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sind die vorrangigen Bereiche bei der Ausarbeitung und Anwendung von Spezifikationen und Normen festgelegt.
4 Art. 3 („Vorrangige Maßnahmen“) der Richtlinie sieht vor:
„Als in Anhang I aufgeführte vorrangige Maßnahmen für die Ausarbeitung und Anwendung von Spezifikationen und Normen in den vorrangigen Bereichen gelten:
…
c)
Daten und Verfahren, um Straßennutzern, soweit möglich, ein Mindestniveau allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsmeldungen unentgeltlich anzubieten;
…
e)
Bereitstellung von Informationsdiensten für sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge;
…“
5 Art. 4 Nr. 1 der Richtlinie definiert die IVS als Systeme, bei denen Informations- und Kommunikationstechnologien im Straßenverkehr, einschließlich seiner Infrastrukturen, Fahrzeuge und Nutzer, sowie beim Verkehrs- und Mobilitätsmanagement und für Schnittstellen zu anderen Verkehrsträgern eingesetzt werden.
6 Art. 4 Nr. 17 der Richtlinie 2010/40 definiert eine „Spezifikation“ als „verbindliche Festlegung von Bestimmungen mit Anforderungen, Verfahren oder sonstigen relevanten Regeln“.
7 Art. 5 („Einführung von IVS“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass bei der Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten die von der Kommission gemäß Artikel 6 angenommenen Spezifikationen im Einklang mit den in Anhang II festgelegten Grundsätzen angewandt werden. Das Recht jedes Mitgliedstaats zu entscheiden, ob er auf seinem Hoheitsgebiet solche Anwendungen und Dienste einführt, bleibt hiervon unberührt. Dieses Recht berührt nicht die nach Artikel 6 Absatz 2 Unterabsatz 2 angenommenen Gesetzgebungsakte.“
8 Art. 6 („Spezifikationen“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Kommission erlässt zunächst die Spezifikationen, die erforderlich sind, um für die vorrangigen Maßnahmen die Kompatibilität, Interoperabilität und Kontinuität der Einführung und des Betriebs von IVS zu gewährleisten.
…
(4) Die Spezifikation enthält gegebenenfalls und je nachdem, welches Gebiet sie abdeckt, eine oder mehrere der folgenden Arten von Vorschriften:
a)
funktionale Vorschriften, die die Aufgaben der verschiedenen Akteure und des Informationsflusses zwischen ihnen beschreiben;
b)
technische Vorschriften, die die technischen Mittel zur Erfüllung der funktionalen Vorschriften bereitstellen;
c)
organisatorische Vorschriften, die die verfahrensbezogenen Pflichten der verschiedenen Akteure beschreiben;
d)
Vorschriften in Bezug auf Dienste, die die unterschiedliche Güte der Dienste und ihre Inhalte bei IVS-Anwendungen und ‑Diensten beschreiben.
(5) Unbeschadet der Verfahren gemäß der Richtlinie 98/34/EG werden in den Spezifikationen, soweit angemessen, die Bedingungen festgelegt, unter denen die Mitgliedstaaten nach Unterrichtung der Kommission und mit der Maßgabe, dass diese Regeln die Interoperabilität nicht beeinträchtigen, zusätzliche Vorschriften für die Erbringung von IVS-Diensten in ihrem gesamten Hoheitsgebiet oder in einem Teil davon erlassen können.
(6) Die Spezifikationen beruhen, soweit angemessen, auf Normen, die in Artikel 8 genannt werden.
Die Spezifikationen sehen, soweit angemessen, eine Konformitätsbewertung nach dem Beschluss Nr. 768/2008/EG vor.
Die Spezifikationen entsprechen den in Anhang II definierten Grundsätzen.
…“
9 Art. 7 („Delegierte Rechtsakte“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1 und 2:
„(1) Die Kommission kann in Bezug auf Spezifikationen delegierte Rechtsakte nach Artikel 290 AEUV erlassen. Bei der Annahme dieser delegierten Rechtsakte handelt die Kommission im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere Artikel 6 sowie Anhang II.
(2) Für jede der vorrangigen Maßnahmen ist ein eigener delegierter Rechtsakt zu erlassen.“
Delegierte Verordnung Nr. 885/2013
10 Art. 1 der delegierten Verordnung Nr. 885/2013 bestimmt, dass in der Verordnung „die Spezifikationen festgelegt [sind], die erforderlich sind, um die Kompatibilität, Interoperabilität und Kontinuität bei der Einführung und Anwendung von Informationsdiensten für sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge auf Unionsebene gemäß der Richtlinie [2010/40] sicherzustellen“, und dass sie „für die Bereitstellung von Informationsdiensten im transeuropäischen Straßennetz“ gilt.
11 Art. 3 der Verordnung sieht in Bezug auf die Anforderungen an die Bereitstellung von Informationsdiensten vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten benennen die Gebiete, in denen die Verkehrs- und Sicherheitssituation die Einführung von Informationsdiensten über sichere Parkplätze erforderlich macht.
Sie legen außerdem Prioritätszonen fest, in denen dynamische Informationen bereitgestellt werden.
(2) Bei der Bereitstellung von Informationsdiensten werden die Anforderungen der Artikel 4 bis 7 erfüllt.“
12 Art. 8 der Verordnung lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten benennen eine nationale Stelle, die bewertet, inwieweit die Anforderungen der Artikel 4 bis 7 von den Dienstanbietern, Parkplatzbetreibern und Straßenbetreibern erfüllt werden. Diese Stelle ist unparteiisch und von den Letztgenannten unabhängig.
Zwei oder mehr Mitgliedstaaten können auch eine gemeinsame regionale Stelle benennen, die die Erfüllung dieser Anforderungen im Hoheitsgebiet der betreffenden Mitgliedstaaten bewertet.
Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die benannte Stelle mit.
(2) Alle Informationsdienstanbieter übermitteln den benannten Stellen eine Erklärung über die Erfüllung der in den Artikeln 4 bis 7 festgelegten Anforderungen.
Die Erklärung enthält folgende Angaben:
a)
Die gemäß Artikel 4 erhobenen Daten über sichere Parkplätze für Lastkraftwagen und andere gewerbliche Fahrzeuge, einschließlich des Prozentanteils der von dem Informationsdienst erfassten Parkplätze;
b)
die Mittel für die Bereitstellung der Informationen an die Nutzer;
c)
die durch die dynamischen Informationsdienste für sichere Parkplätze abgedeckten Gebiete;
d)
die Qualität und Verfügbarkeit der bereitgestellten Informationen, den Zugangspunkt zu den Informationen und das Format, in dem diese Informationen vorliegen.
(3) Die benannten Stellen kontrollieren anhand von Stichproben die Korrektheit der Erklärungen einer Reihe öffentlicher und privater Dienstanbieter und Parkplatzbetreiber und verlangen einen Nachweis der Erfüllung der in den Artikeln 4 bis 7 festgelegten Anforderungen.
Die Qualität des Dienstes kann auch anhand von Stellungnahmen der Nutzer bewertet werden.
Die benannten Stellen erstatten den zuständigen nationalen Behörden jährlich Bericht über die vorgelegten Erklärungen und die Ergebnisse ihrer Stichprobenkontrollen.“
Delegierte Verordnung Nr. 886/2013
13 Art. 1 der delegierten Verordnung Nr. 886/2013 bestimmt, dass in der Verordnung „die Spezifikationen festgelegt [sind], die erforderlich sind, um die Kompatibilität, Interoperabilität und Kontinuität bei der Einführung und Nutzung von Daten und Verfahren für die möglichst unentgeltliche Bereitstellung eines Mindestniveaus allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsinformationen für die Nutzer auf Unionsebene gemäß der Richtlinie [2010/40] sicherzustellen“, und dass sie „für die Bereitstellung eines Mindestniveaus allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsinformationen im transeuropäischen Straßennetz“ gilt.
14 Art. 5 dieser Verordnung sieht in Bezug auf die Bereitstellung des Informationsdienstes vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten benennen die Abschnitte des transeuropäischen Straßennetzes, in denen die Verkehrs- und Sicherheitsbedingungen die Einführung des Dienstes zur Bereitstellung eines Mindestniveaus allgemeiner für die Straßenverkehrssicherheit relevanter Verkehrsinformationen erforderlich machen.
Diese Straßenabschnitte teilen sie der Kommission mit.
(2) Bei der Bereitstellung des Informationsdienstes werden die Anforderungen der Artikel 6, 7 und 8 erfüllt.“
15 Art. 9 der Verordnung lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten benennen eine unabhängige und unparteiische nationale Stelle, die beurteilt, ob die Anforderungen der Artikel 3 bis 8 von öffentlichen und privaten Straßenbetreibern, Dienstleistern und im Bereich der Verkehrsinformationen tätigen Rundfunkanbietern eingehalten werden. Zwei oder mehr Mitgliedstaaten können auch eine gemeinsame Stelle benennen, die die Einhaltung dieser Anforderungen auf dem Hoheitsgebiet der betreffenden Mitgliedstaaten beurteilt.
Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission über die nationalen Stellen.
(2) Öffentliche und private Straßenbetreiber, Dienstleister und im Bereich der Verkehrsinformationen tätige Rundfunkanbieter übermitteln den benannten nationalen Stellen ihre Identifikationsdaten und eine Beschreibung des von ihnen erbrachten Informationsdienstes sowie eine Erklärung über die Einhaltung der in den Artikeln 3 bis 8 festgelegten Anforderungen.
Soweit relevant, muss die Erklärung folgende Angaben enthalten:
a)
die von dem Informationsdienst abgedeckten Kategorien der für die Straßenverkehrssicherheit relevanten Informationen und das von ihm abgedeckte Straßennetz;
b)
Angaben zum Zugangspunkt, an dem die für die Straßenverkehrssicherheit relevanten Verkehrsinformationen bereitgestellt werden, und zu seinen Nutzungsbedingungen;
c)
das Format der über den Zugangspunkt verfügbaren für die Straßenverkehrssicherheit relevanten Verkehrsinformationen;
d)
die Mittel zur Übermittlung der Informationen an die Endnutzer.
Öffentliche und private Straßenbetreiber, Dienstleister und im Bereich der Verkehrsinformationen tätige Rundfunkanbieter aktualisieren ihre Erklärung über die Einhaltung der Anforderungen bei Änderungen an der Bereitstellung des Dienstes umgehend.
(3) Die benannten nationalen Stellen überprüfen nach dem Zufallsprinzip die Korrektheit der Erklärungen einer Reihe öffentlicher und privater Straßenbetreiber, Dienstleister und im Bereich der Verkehrsinformationen tätiger Rundfunkanbieter und fordern Nachweise der Einhaltung der in den Artikeln 3 bis 8 festgelegten Anforderungen an.
Die benannten nationalen Stellen berichten den nationalen Behörden jährlich über die vorgelegten Erklärungen sowie über die Ergebnisse ihrer nach dem Zufallsprinzip vorgenommenen Überprüfungen.“
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
16 Mit Klageschriften, die am 12. Dezember 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, erhob die Tschechische Republik zwei Klagen auf Nichtigerklärung der delegierten Verordnungen Nr. 885/2013 und 886/2013 (im Folgenden gemeinsam: streitige Verordnungen).
17 Diese Klagen stützte sie auf drei Klagegründe, und zwar erstens einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2010/40 in Verbindung mit deren Art. 5 Abs. 1 und Art. 6, da die Kommission mit dem Erlass der streitigen Verordnungen die Grenzen der in dieser Bestimmung enthaltenen Ermächtigung überschritten habe, zweitens einen Verstoß gegen Art. 290 AEUV, da die Kommission mit dem Erlass der streitigen Verordnungen die Grenzen ihrer in diesem Artikel vorgesehenen Befugnis zum Erlass von delegierten Rechtsakten ohne Gesetzescharakter überschritten habe, und drittens einen Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 EUV, da die Kommission mit dem Erlass der streitigen Verordnungen über die Grenzen der ihr in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse hinausgegangen sei.
18 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht diese Klagegründe zurückgewiesen und die beiden Klagen daher insgesamt abgewiesen.
Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof
19 Die Tschechische Republik beantragt,
–
das angefochtene Urteil aufzuheben,
–
die streitigen Verordnungen in vollem Umfang für nichtig zu erklären und
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
20 Hilfsweise beantragt die Tschechische Republik,
–
das angefochtene Urteil aufzuheben,
–
Art. 3 Abs. 1, Art. 8 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 885/2013 sowie Art. 5 Abs. 1, Art. 9 und Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 886/2013 für nichtig zu erklären und
–
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
21 Die Kommission beantragt,
–
das Rechtsmittel zurückzuweisen und
–
der Tschechischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
Erster Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
22 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund wirft die Tschechische Republik dem Gericht vor, den Grundsatz der Rechtssicherheit dadurch verletzt zu haben, dass es in den Rn. 38 bis 44 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass die streitigen Verordnungen die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichteten, in ihrem Hoheitsgebiet IVS-Anwendungen und ‑Dienste einzuführen. Diese Verordnungen enthielten nämlich Standardbestimmungen über ihre Verbindlichkeit in allen ihren Teilen und ihre unmittelbare Geltung in allen Mitgliedstaaten. Darüber hinaus ergebe sich aus der Begründung dieser Verordnungen ausdrücklich, dass die Kommission die verbindliche Einführung von IVS in allen Mitgliedstaaten habe vorschreiben wollen. Das Gericht habe die streitigen Verordnungen contra legem ausgelegt, als es die Auffassung vertreten habe, sie seien im Licht der Richtlinie 2010/40 zu verstehen. Damit habe es die Mitgliedstaaten in eine ungewisse rechtliche Lage versetzt, was unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der Rechtssicherheit nicht hingenommen werden könne.
23 Die Kommission ist der Ansicht, dass der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
24 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund wendet sich die Tschechische Republik im Wesentlichen gegen die Feststellung des Gerichts, dass die streitigen Verordnungen die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichteten, in ihrem Hoheitsgebiet IVS-Anwendungen und ‑Dienste einzuführen.
25 Insoweit ist vorab darauf hinzuweisen, dass diese Verordnungen entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik keine Bestimmungen enthalten, die eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten in ihrem Hoheitsgebiet vorsehen.
26 Insbesondere ergibt sich eine solche ausdrückliche Verpflichtung nicht aus den Standardbestimmungen jeweils am Ende der streitigen Verordnungen, nach denen diese in allen ihren Teilen verbindlich sind und in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gelten. Diese Standardbestimmungen, die dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV entsprechen, erklären nämlich lediglich den Inhalt der streitigen Verordnungen, wie er sich aus deren sonstigen Vorschriften ergibt, in sämtlichen Mitgliedstaaten für verbindlich, ohne jedoch die Frage zu regeln, ob dieser Inhalt eine Verpflichtung zur Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten umfasst.
27 Bezüglich der sonstigen Vorschriften dieser Verordnungen macht die Tschechische Republik nicht geltend, dass darin eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorgesehen sei, in ihrem Hoheitsgebiet IVS-Anwendungen und ‑Dienste einzuführen, und dies ist auch nicht der Fall. Insbesondere sehen Art. 3 Abs. 1 der delegierten Verordnung Nr. 885/2013 und Art. 5 Abs. 1 der delegierten Verordnung Nr. 886/2013 keine derartige ausdrückliche Verpflichtung vor.
28 Mangels einer sich bereits aus dem Wortlaut der streitigen Verordnungen ergebenden ausdrücklichen Verpflichtung sämtlicher Mitgliedstaaten, in ihrem Hoheitsgebiet IVS-Anwendungen und ‑Dienste einzuführen, kann das Vorbringen der Tschechischen Republik, die Auslegung dieser Verordnungen im Licht der Richtlinie 2010/40, die das Gericht vorgenommen habe, sei contra legem, nicht durchgreifen.
29 Es ist vielmehr festzustellen, dass diese Verordnungen, wie der Generalanwalt in den Nrn. 27 und 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, jeweils in ihrem Art. 1 vorsehen, dass sie die erforderlichen Spezifikationen „gemäß der Richtlinie [2010/40]“ festlegen. Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass „bei der Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten“ die von der Kommission angenommenen Spezifikationen angewandt werden, stellt dabei aber klar, dass von dieser Verpflichtung „[d]as Recht jedes Mitgliedstaats zu entscheiden, ob er auf seinem Hoheitsgebiet solche Anwendungen und Dienste einführt, … unberührt [bleibt]“.
30 Daraus, dass in Art. 1 der streitigen Verordnungen jeweils auf die Richtlinie 2010/40 Bezug genommen wird, ergibt sich daher eindeutig, dass diese Verordnungen die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, in ihrem Hoheitsgebiet IVS-Anwendungen und ‑Dienste einzuführen, sondern nur, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bei der Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten die in diesen Verordnungen festgelegten Spezifikationen angewandt werden.
31 Das Vorbringen der Tschechischen Republik, in den Begründungen der streitigen Verordnungen sei ausdrücklich angegeben, dass die Kommission beabsichtige, allen Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zur Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten aufzuerlegen, kann ebenfalls nicht durchgreifen.
32 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 und 32 seiner Schlussanträge festgestellt hat, lässt sich diesen Begründungen nämlich keine solche Absicht entnehmen. Darin heißt es zwar, dass die Kommission einer verbindlichen Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten in allen Mitgliedstaaten den Vorzug gibt, sie lassen jedoch nicht die Feststellung zu, dass es Ziel der streitigen Verordnungen war, ein solches Szenario umzusetzen.
33 Zum Vorbringen der Tschechischen Republik, das Gericht habe die streitigen Verordnungen in Rn. 40 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft im Licht der Richtlinie 2010/40 ausgelegt, ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitete Rechtsakte der Union nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Basisrechtsakt ausgelegt werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Pie Optiek, C‑376/11, EU:C:2012:502, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie sich aus den Rn. 27 bis 29 des vorliegenden Urteils ergibt, steht die vom Gericht vorgenommene Auslegung der streitigen Verordnungen sowohl mit deren Wortlaut als auch mit der Richtlinie 2010/40 im Einklang.
34 Das Gericht hat daher in den Rn. 42 und 43 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt, dass Art. 3 Abs. 1 der delegierten Verordnung Nr. 885/2013 und Art. 5 Abs. 1 der delegierten Verordnung Nr. 886/2013 dahin auszulegen sind, dass die in diesen Vorschriften vorgesehenen Verpflichtungen, die Gebiete oder die Abschnitte des Straßennetzes für die Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten zu benennen, nur gelten, wenn sich ein Mitgliedstaat für diese Einführung entschieden hat.
35 Der erste Rechtsmittelgrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Zweiter Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
36 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund wirft die Tschechische Republik dem Gericht vor, dadurch gegen Art. 290 AEUV verstoßen zu haben, dass es insbesondere in den Rn. 58 bis 63 des angefochtenen Urteils entschieden habe, die Kommission habe die Grenzen der ihr nach Art. 7 der Richtlinie 2010/40 übertragenen Befugnis nicht überschritten, als sie die Mitgliedstaaten zur Schaffung der Kontrollstelle verpflichtet habe, die in Art. 8 Abs. 1 der delegierten Verordnung Nr. 885/2013 und Art. 9 Abs. 1 der delegierten Verordnung Nr. 886/2013 vorgesehen sei. Nach diesen Bestimmungen müssten die Mitgliedstaaten eine nationale Stelle benennen, die beurteile, ob die in diesen Verordnungen festgelegten Anforderungen von den verschiedenen Akteuren erfüllt würden (im Folgenden: Kontrollstelle).
37 Das Gericht habe insoweit zu Unrecht befunden, dass eine ausdrückliche Beschränkung des Inhalts und des Geltungsbereichs der Ermächtigung der Kommission durch den Basisrechtsakt nicht erforderlich sei und es genüge, dass die Kommission, die über ein Ermessen verfüge, der Ansicht gewesen sei, dass die Schaffung der Kontrollstelle erforderlich sei, um die Ziele des Basisrechtsakts zu verwirklichen. Nach Auffassung der Tschechischen Republik sind Inhalt und Geltungsbereich der in Art. 7 der Richtlinie 2010/40 enthaltenen Befugnisübertragung durch die in Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie ausdrücklich aufgeführten Arten von Vorschriften beschränkt. Die Schaffung der Kontrollstelle gehöre nicht dazu.
38 Die Kommission hält dem entgegen, dass Art. 290 AEUV es dem Unionsgesetzgeber freistelle, den Inhalt einer Befugnisübertragung allgemein oder auch im Einzelnen zu begrenzen. Die einzige Einschränkung bestehe darin, dass sich die Befugnisübertragung nicht auf wesentliche Aspekte des Basisrechtsakts beziehen dürfe.
39 Was die Befugnisübertragung nach der Richtlinie 2010/40 anbelange, ermächtige deren Art. 7 die Kommission, nach den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie insgesamt und insbesondere, aber nicht ausschließlich, nach Art. 6 sowie Anhang II, „Spezifikationen“ zu erlassen. Daher führe Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie die Arten von Vorschriften, die in einer solchen Spezifikation enthalten sein könnten, lediglich in nicht abschließender Weise auf. Jedenfalls seien in Art. 6 Abs. 4 Buchst. c der Richtlinie als Arten von Vorschriften, die in einer Spezifikation enthalten sein könnten, ausdrücklich „organisatorische Vorschriften“ genannt, was als solches die Befugnis der Kommission, die Mitgliedstaaten zur Schaffung der fraglichen Kontrollstelle zu verpflichten, rechtfertige.
Würdigung durch den Gerichtshof
40 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Tschechische Republik im Wesentlichen geltend, das Gericht habe dadurch gegen Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 AEUV verstoßen, dass es die Befugnisübertragung nach Art. 7 der Richtlinie 2010/40 dahin ausgelegt habe, dass sie die Kommission ermächtige, die Mitgliedstaaten zur Schaffung der Kontrollstelle zu verpflichten.
41 Wie das Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, kann die Kommission nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2010/40 „in Bezug auf Spezifikationen“ und „im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere Artikel 6 sowie Anhang II“, delegierte Rechtsakte nach Art. 290 AEUV erlassen.
42 Der Begriff „Spezifikation“ ist in Art. 4 Nr. 17 dieser Richtlinie als „die verbindliche Festlegung von Bestimmungen mit Anforderungen, Verfahren oder sonstigen relevanten Regeln“ definiert.
43 Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie erlässt die Kommission zunächst die Spezifikationen, die erforderlich sind, um für die vorrangigen Maßnahmen die Kompatibilität, Interoperabilität und Kontinuität der Einführung und des Betriebs von IVS zu gewährleisten.
44 In den Rn. 58 bis 62 des angefochtenen Urteils hat das Gericht die Befugnisübertragung nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2010/40 dahin ausgelegt, dass sie die Kommission zum Erlass der Spezifikationen „im Einklang mit sämtlichen Vorschriften der Richtlinie 2010/40 und nicht nur deren Art. 6“ ermächtige. Nach Ausführungen zu Art. 4 Nr. 17, Art. 5 Abs. 1 sowie Art. 6 Abs. 4 Buchst. c und Abs. 6 dieser Richtlinie hat das Gericht in Rn. 62 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Kommission durch diese Befugnisübertragung ermächtigt werde, das Kontrollsystem „im Einklang mit sämtlichen Vorschriften der Richtlinie 2010/40 und insbesondere mit den in Art. 6 Abs. 1 und Anhang II dieser Richtlinie festgelegten Zielen“ einzuführen.
45 In Rn. 63 des angefochtenen Urteils hat das Gericht insoweit festgestellt, dass „[e]s genügt, dass die Kommission, die über ein Ermessen verfügt, der Ansicht war, dass die Schaffung einer solchen Stelle erforderlich sei, um die Ziele der Vereinbarkeit, der Interoperabilität und der Kontinuität der Einführung“ von IVS zu gewährleisten.
46 Diese Auslegung ist rechtsfehlerhaft.
47 Zwar musste die Kommission die Spezifikationen nach Art. 7 der Richtlinie 2010/40 nicht nur im Einklang mit Art. 6 dieser Richtlinie, sondern auch im Einklang mit allen sonstigen einschlägigen Vorschriften der Richtlinie erlassen, doch kann die in diesem Art. 7 enthaltene Befugnisübertragung im Hinblick auf Art. 290 AEUV nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Kommission ermächtigt, den Rahmen zu überschreiten, der in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehen ist, der in seinem Abs. 1 nicht nur das Ziel der Spezifikationen, sondern auch deren Inhalt und Geltungsbereich ausdrücklich beschränkt, indem er, insbesondere in Abs. 4, die insoweit in Betracht kommenden Maßnahmen ausdrücklich bestimmt.
48 Gemäß Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 AEUV werden in den Gesetzgebungsakten nämlich nicht nur die Ziele, sondern auch Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt.
49 Zu diesem Erfordernis hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass die Übertragung einer delegierten Befugnis dem Erlass von Vorschriften dient, die sich in einen rechtlichen Rahmen einfügen, wie er durch den Basisgesetzgebungsakt definiert ist (Urteile vom 18. März 2014, Kommission/Parlament und Rat, C‑427/12, EU:C:2014:170, Rn. 38, vom 16. Juli 2015, Kommission/Parlament und Rat, C‑88/14, EU:C:2015:499, Rn. 29, und vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 30). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss insbesondere die übertragene Befugnis in dem Sinne hinreichend genau umgrenzt sein, dass ihre Grenzen klar angegeben sind und die Ausübung durch die Kommission einer Kontrolle anhand vom Unionsgesetzgeber festgelegter objektiver Kriterien unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 1988, Central-Import Münster, 291/86, EU:C:1988:361, Rn. 13, und vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a., C‑154/04 und C‑155/04, EU:C:2005:449, Rn. 90).
50 Daher ist zunächst die von der Kommission vertretene Auslegung von Art. 290 AEUV zurückzuweisen, wonach der Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung einer Befugnisübertragung nur dadurch eingeschränkt sei, dass er nicht den Erlass wesentlicher Aspekte des betreffenden Bereichs übertragen dürfe.
51 Eine solche Auslegung ist mit dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung unvereinbar. Eine Befugnisübertragung im Sinne dieser Bestimmung verleiht der Kommission nämlich die Befugnis, die Aufgaben des Unionsgesetzgebers wahrzunehmen, indem sie es ihr ermöglicht, nicht wesentliche Aspekte des Gesetzgebungsakts zu ergänzen oder zu ändern. Insoweit soll mit dem in Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 AEUV enthaltenen Erfordernis gerade gewährleistet werden, dass eine solche Befugnis auf eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers zurückgeht und dass sich die Kommission, wenn sie Gebrauch davon macht, in dem vom Gesetzgeber selbst im Basisrechtsakt festgelegten Rahmen hält. Der Basisrechtsakt muss daher gemäß dieser Vorschrift die Grenzen der in ihm enthaltenen Ermächtigung der Kommission vorsehen, nämlich Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Ermächtigung.
52 Zwar räumt Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 AEUV, wie die Kommission geltend macht, dem Unionsgesetzgeber die Möglichkeit ein, der Kommission für die Ausübung der delegierten Befugnis ein Ermessen einzuräumen, das je nach den Eigenarten des betreffenden Bereichs mehr oder weniger weit sein kann. Jedoch unterliegt eine Befugnisübertragung im Sinne von Art. 290 AEUV – und jedes damit gegebenenfalls verbundene Ermessen – Schranken, die im Basisrechtsakt festgelegt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Dyson/Kommission, C‑44/16 P, EU:C:2017:357, Rn. 53).
53 Diese Auslegung von Art. 290 AEUV wird im Übrigen durch Nr. 52 der Leitlinien der Kommission vom 24. Juni 2011 über die delegierten Rechtsakte (SEC[2011] 855) bestätigt, die den Gerichtshof zwar nicht binden können, aber gleichwohl eine nützliche Anregung darstellen können (Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Kommission weist dort nämlich darauf hin, dass „[d]er Gesetzgeber … die Befugnisse, die er der Kommission übertragen möchte, ausdrücklich und genau beschreiben“ muss, und stellt klar, dass „vage Formulierungen … nicht zulässig [sind]“ und „Befugnisse … nicht auf die Kommission übertragen werden [sollten], indem einfach eine nicht erschöpfende Liste von zu erlassenden Maßnahmen aufgestellt wird“.
54 Unter diesen Umständen erlaubt Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 AEUV es dem Unionsgericht nicht, das Fehlen der nach dieser Bestimmung erforderlichen Schranken zu beheben, die der Gesetzgeber selbst festlegen muss und die die Kommission einzuhalten hat, wenn sie von der Befugnisübertragung Gebrauch macht.
55 Im vorliegenden Fall hat das Gericht jedoch, statt, wie in dieser Bestimmung vorgeschrieben, den vom Gesetzgeber vorgesehenen Rahmen zu beachten, die Befugnisübertragung nach Art. 7 der Richtlinie 2010/40 nur im Hinblick auf deren Ziele ausgelegt, ohne sich zu vergewissern, dass auch der Inhalt und der Geltungsbereich der delegierten Befugnis beschränkt waren. Diese Beschränkung hat das Gericht in das Ermessen der Kommission gestellt.
56 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dann, wenn die Gründe einer Entscheidung des Gerichts eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, die Entscheidungsformel sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist, ein solcher Verstoß nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung führen kann und eine Auswechslung der Begründung vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 150, und vom 5. März 2015, Kommission u. a./Versalis u. a., C‑93/13 P und C‑123/13 P, EU:C:2015:150, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57 Das ist hier der Fall.
58 Wie der Generalanwalt in den Rn. 59 bis 65 seiner Schlussanträge festgestellt hat, bietet Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2010/40 in Verbindung mit deren Art. 6 Abs. 4 Buchst. c der Kommission eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Einrichtung der Kontrollstelle.
59 Art. 6 dieser Richtlinie beschränkt nämlich, wie sich aus Rn. 47 des vorliegenden Urteils ergibt, ausdrücklich nicht nur das Ziel, sondern auch den Inhalt und den Geltungsbereich der Spezifikationen, die von der Kommission erlassen werden können. Nach Abs. 4 Buchst. c dieser Vorschrift kann eine Spezifikation „organisatorische Vorschriften [enthalten], die die verfahrensbezogenen Pflichten der verschiedenen Akteure beschreiben“.
60 Die in den streitigen Verordnungen enthaltenen Vorschriften über die Schaffung der Kontrollstelle, d. h. Art. 8 der delegierten Verordnung Nr. 885/2013 und Art. 9 der delegierten Verordnung Nr. 886/2013, sind solche organisatorischen Vorschriften, die die verfahrensbezogenen Pflichten der verschiedenen Akteure beschreiben.
61 Wie das Gericht in den Rn. 57 und 64 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, ergibt sich aus diesen Vorschriften, dass die Aufgabe der Kontrollstelle darin besteht, zu beurteilen, ob die verschiedenen Akteure die in den streitigen Verordnungen vorgesehenen Spezifikationen beachten. Deshalb verlangen diese Vorschriften, dass die Kontrollstelle unabhängig und unparteiisch ist. Darüber hinaus verpflichten sie die betreffenden Akteure, dieser Stelle ihre Identifikationsdaten, eine Beschreibung des von ihnen erbrachten Informationsdienstes und eine Erklärung über die Einhaltung der Anforderungen vorzulegen. Diese Vorschriften sehen schließlich vor, dass die Kontrollstelle anhand von Stichproben die Korrektheit der Erklärungen einer Reihe von Akteuren überprüft und der zuständigen nationalen Behörde jährlich Bericht über die vorgelegten Erklärungen und die Ergebnisse ihrer Stichprobenkontrollen erstattet.
62 Somit sind Art. 8 der delegierten Verordnung Nr. 885/2013 und Art. 9 der delegierten Verordnung Nr. 886/2013 zum einen „organisatorischer“ Natur, da sie die Errichtung und Ausgestaltung einer Kontrollstelle vorsehen, deren Aufgabe darin besteht, zu beurteilen, ob die verschiedenen Akteure die in den streitigen Verordnungen vorgesehenen Spezifikationen beachten, und dabei verlangen, dass diese Kontrollstelle unabhängig und unparteiisch ist.
63 Zum anderen „[beschreiben] [diese Vorschriften] die verfahrensbezogenen Pflichten der verschiedenen Akteure“, da sie diese Akteure verpflichten, der Kontrollstelle ihre Identifikationsdaten, eine Beschreibung des von ihnen erbrachten Informationsdienstes und Erklärungen über die Erfüllung der Anforderungen vorzulegen, auf deren Grundlage diese Stelle der zuständigen nationalen Behörde jährlich Bericht erstatten muss.
64 Diese Auslegung von Art. 6 Abs. 4 Buchst. c der Richtlinie 2010/40 wird nicht durch das Vorbringen der Tschechischen Republik in Frage gestellt, wonach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/40 den Mitgliedstaaten die Wahl der Mittel überlasse, die einzusetzen seien, um die Anwendung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten zu gewährleisten.
65 Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie beschränkt sich nämlich darauf, die Mitgliedstaaten dazu zu verpflichten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bei der Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten die von der Kommission angenommenen Spezifikationen angewandt werden. Für den Inhalt dieser Spezifikationen ist er unerheblich.
66 Da sich der Tenor des angefochtenen Urteils somit als richtig darstellt, ist der zweite Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
Dritter Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
67 Mit dem ersten Teil ihres dritten Rechtsmittelgrundes macht die Tschechische Republik geltend, dass das Gericht ihr Vorbringen im ersten Rechtszug verfälscht habe, indem es in Rn. 39 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass sie sich mit der Kommission darüber einig sei, dass die streitigen Verordnungen nicht anwendbar seien, solange ein Mitgliedstaat nicht entschieden habe, in seinem Hoheitsgebiet IVS-Anwendungen und ‑Dienste einzuführen.
68 Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes wirft die Tschechische Republik dem Gericht vor, ihr Vorbringen übergangen zu haben, dass sich die Absicht der Kommission, allen Mitgliedstaaten eine Pflicht zur Einführung von IVS-Anwendungen und ‑Diensten aufzuerlegen, ausdrücklich aus den Begründungen der streitigen Verordnungen ergebe.
69 Schließlich rügt sie mit dem dritten Teil des Rechtsmittelgrundes, dass das Gericht ihr Vorbringen, die Kontrollstelle sei ein wesentlicher Aspekt des betreffenden Bereichs, für den eine Befugnisübertragung ausgeschlossen sei, zu Unrecht zurückgewiesen habe.
70 Die Kommission tritt dem entgegen.
Würdigung durch den Gerichtshof
71 Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, beruht der erste Teil des dritten Rechtsmittelgrundes auf einem fehlerhaften Verständnis des ersten Satzes von Rn. 39 des angefochtenen Urteils. Das Gericht hat nämlich – entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik – nicht das Vorliegen einer Einigung zwischen den Parteien über die Auslegung der streitigen Verordnungen selbst, sondern nur über die Auslegung der Richtlinie 2010/40 festgestellt.
72 Was den zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes angeht, mit dem die Tschechische Republik im Wesentlichen geltend macht, das Gericht sei auf ihr Vorbringen zu den Begründungen der streitigen Verordnungen nicht eingegangen, so erfordert die dem Gericht nach Art. 36 und Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union obliegende Pflicht zur Begründung der Urteile nicht, dass das Gericht in seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend behandelt. Die Begründung kann daher implizit erfolgen, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe für die fraglichen Maßnahmen zu erfahren, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben liefert, damit er seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (Urteile vom 29. März 2011, ArcelorMittal Luxembourg/Kommission und Kommission/ArcelorMittal Luxembourg u. a., C‑201/09 P und C‑216/09 P, EU:C:2011:190, Rn. 78, und vom 8. März 2016, Griechenland/Kommission, C‑431/14 P, EU:C:2016:145, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Wie der Generalanwalt in Nr. 89 seiner Schlussanträge festgestellt hat, sind die Erwägungen des Gerichts in den Rn. 35 bis 44 des angefochtenen Urteils klar und so beschaffen, dass sie es der Tschechischen Republik ermöglichen, die Gründe für die Zurückweisung des betreffenden Klagegrundes zu erfahren, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben liefern, damit er seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Folglich weist das angefochtene Urteil insoweit keinen Begründungsmangel auf.
74 Mit dem dritten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes beanstandet die Tschechische Republik, dass das Gericht ihr Vorbringen, die Kontrollstelle sei ein „wesentlicher Aspekt“ im Sinne von Art. 290 AEUV, für den eine Befugnisübertragung ausgeschlossen sei, zurückgewiesen habe.
75 Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV die wesentlichen Aspekte eines Bereichs dem Gesetzgebungsakt vorbehalten sind und eine Befugnisübertragung für sie deshalb ausgeschlossen ist.
76 Dieses Verbot einer Befugnisübertragung, die sich auf wesentliche Aspekte des betreffenden Bereichs bezieht, entspricht ferner der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1970, Köster, Berodt & Co., 25/70, EU:C:1970:115, Rn. 6, und vom 5. September 2012, Parlament/Rat, C‑355/10, EU:C:2012:516, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Nach dieser Rechtsprechung liegt die Frage, welche Aspekte einer Materie als „wesentlich“ einzustufen sind, nicht in der alleinigen Beurteilung durch den Unionsgesetzgeber, sondern muss sich nach objektiven Gesichtspunkten richten, die Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein können. Insoweit sind die Merkmale und Besonderheiten des betreffenden Sachgebiets zu berücksichtigen (Urteile vom 5. September 2012, Parlament/Rat, C‑355/10, EU:C:2012:516, Rn. 67 und 68, und vom 22. Juni 2016, DK Recycling und Roheisen/Kommission, C‑540/14 P, EU:C:2016:469, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Um einen wesentlichen Aspekt im Sinne von Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV handelt es sich insbesondere bei Vorschriften, deren Erlass politische Entscheidungen erfordert, die in die eigene Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen, da sie eine Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der Grundlage einer Beurteilung zahlreicher Gesichtspunkte einschließen, oder die Eingriffe in die Grundrechte der betroffenen Personen in einem Umfang erlauben, der das Tätigwerden des Unionsgesetzgebers erforderlich macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Parlament/Rat, C‑355/10, EU:C:2012:516, Rn. 65, 76 und 77).
79 Im vorliegenden Fall hat das Gericht in Rn. 72 des angefochtenen Urteils das Vorbringen der Tschechischen Republik, die Schaffung einer Kontrollstelle sei ein wesentlicher Aspekt des betreffenden Bereichs, für den eine Befugnisübertragung ausgeschlossen sei, zurückgewiesen, indem es insoweit die Feststellung für ausreichend erachtet hat, dass die Kommission die Schranken der ihr durch die Richtlinie 2010/40 erteilten Ermächtigung nicht überschritten habe.
80 Diese Erwägung ist rechtsfehlerhaft.
81 Durch die ausdrückliche Feststellung, dass die wesentlichen Aspekte eines Bereichs dem Gesetzgebungsakt vorbehalten sind und eine Befugnisübertragung für sie deshalb ausgeschlossen ist, begrenzt Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV nämlich den Spielraum, über den der Unionsgesetzgeber bei der Ausgestaltung einer Befugnisübertragung verfügt. Denn diese Bestimmung soll sicherstellen, dass Entscheidungen über solche Aspekte dem Gesetzgeber vorbehalten sind.
82 Das Gericht hat in dem angefochtenen Urteil jedoch nicht geprüft, ob die Schaffung der Kontrollstelle einen wesentlichen Aspekt im Sinne dieser Bestimmung darstellt, und somit diesen möglichen Fall nicht ausgeschlossen. Es hat lediglich auf den Umfang der in Art. 7 der Richtlinie 2010/40 enthaltenen Befugnisübertragung hingewiesen.
83 Damit hat das Gericht Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV verkannt. Entgegen den Vorgaben dieser Bestimmung hat es sich nämlich nicht vergewissert, dass der Erlass von Vorschriften über wesentliche Aspekte des betreffenden Bereichs im vorliegenden Fall dem Unionsgesetzgeber vorbehalten blieb und nicht Gegenstand einer Befugnisübertragung war.
84 Da sich der Tenor des angefochtenen Urteils jedoch aus einem anderen Rechtsgrund als richtig darstellt, ist nach der in Rn. 56 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung eine Auswechslung der Begründung vorzunehmen.
85 Insoweit ist festzustellen, dass die Einstufung eines Aspekts als „wesentlich“ nicht dem Unionsgesetzgeber überlassen werden kann, sondern von Kriterien abhängt, die sich aus einer objektiven Auslegung von Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV ergeben, zu denen u. a. die in Rn. 78 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien gehören.
86 Im vorliegenden Fall ist im Hinblick auf die in Rn. 61 des vorliegenden Urteils dargestellte Ausgestaltung der Kontrollstelle festzuhalten, dass ihre Schaffung weder mit politischen Entscheidungen noch mit Eingriffen in die Grundrechte der Wirtschaftsteilnehmer in einem Umfang verbunden ist, der ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers erfordern würde. Insbesondere bleiben die Zuständigkeiten dieser Stelle im Wesentlichen auf die Sammlung von Informationen und die Vorlage von Bewertungsberichten beschränkt. Die Folgen, die ihre Einrichtung für die betreffenden Akteure hat, beschränken sich auf eine Verpflichtung, der Kontrollstelle ihre Identifikationsdaten, eine Beschreibung des von ihnen erbrachten Informationsdienstes sowie Erklärungen über die Erfüllung der Anforderungen zu übermitteln.
87 Entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik ist die Schaffung der Kontrollstelle daher kein „wesentlicher Aspekt“ des betreffenden Bereichs im Sinne von Art. 290 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 AEUV.
88 Der dritte Rechtsmittelgrund ist daher insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
89 Da die drei Rechtsmittelgründe nicht durchgreifen, ist das Rechtsmittel zurückzuweisen.
Kosten
90 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
91 Da die Tschechische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Kommission aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Tschechische Republik trägt die Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Tschechisch.
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Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 18. Juli 2017.#EDF Toruń SA gegen Europäische Chemikalienagentur.#REACH – Gebühr für die Registrierung eines Stoffes – Ermäßigung für KMU – Fehler bei der Angabe der Unternehmensgröße – Beschluss, mit dem ein Verwaltungsentgelt erhoben wird – Empfehlung 2003/361/EG – Berechtigtes Vertrauen – Verhältnismäßigkeit – Kriterien für die Berechnung der Höhe des Verwaltungsentgelts).#Rechtssache T-758/15.
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62015TJ0758
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ECLI:EU:T:2017:519
| 2017-07-18T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62015TJ0758 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 7. Juni 2017.#Holistic Innovation Institute, SLU gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Von der Europäischen Union im Bereich Forschung finanzierte Projekte – Siebtes Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung (2007-2013) – Projekt eDIGIREGION – Beschluss der Europäischen Kommission, die Teilnahme der Klägerin abzulehnen – Nichtigkeits- und Haftungsklage.#Rechtssache C-411/16 P.
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62016CO0411
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ECLI:EU:C:2017:445
| 2017-06-07T00:00:00 |
Tanchev, Gerichtshof
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EUR-Lex - CELEX:62016CO0411 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 13. Juni 2017.#Eugenia Florescu u. a. gegen Casa Judeţeană de Pensii Sibiu u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Alba Iulia.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 143 AEUV – Zahlungsbilanzschwierigkeiten eines Mitgliedstaats – Finanzieller Beistand durch die Europäische Union – Grundsatzvereinbarung zwischen der Europäischen Union und dem Empfängermitgliedstaat – Sozialpolitik – Grundsatz der Gleichbehandlung – Nationale Rechtsvorschriften, die den gleichzeitigen Bezug eines staatlichen Ruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei einer öffentlichen Einrichtung verbieten – Unterschiedliche Behandlung von Personen, deren Amtszeit durch die Verfassung festgelegt ist, und Berufsrichtern.#Rechtssache C-258/14.
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62014CJ0258
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ECLI:EU:C:2017:448
| 2017-06-13T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0258
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
13. Juni 2017 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 143 AEUV — Zahlungsbilanzschwierigkeiten eines Mitgliedstaats — Finanzieller Beistand durch die Europäische Union — Grundsatzvereinbarung zwischen der Europäischen Union und dem Empfängermitgliedstaat — Sozialpolitik — Grundsatz der Gleichbehandlung — Nationale Rechtsvorschriften, die den gleichzeitigen Bezug eines staatlichen Ruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei einer öffentlichen Einrichtung verbieten — Unterschiedliche Behandlung von Personen, deren Amtszeit durch die Verfassung festgelegt ist, und Berufsrichtern“
In der Rechtssache C‑258/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) mit Entscheidung vom 3. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2014, in dem Verfahren
Eugenia Florescu,
Ioan Poiană,
Cosmina Diaconu als Erbin von Herrn Mircea Bădilă,
Anca Vidrighin als Erbin von Herrn Bădilă,
Eugenia Elena Bădilă als Erbin von Herrn Bădilă
gegen
Casa Judeţeană de Pensii Sibiu,
Casa Națională de Pensii și alte Drepturi de Asigurări Sociale,
Ministerul Muncii, Familiei și Protecției Sociale,
Statul român,
Ministerul Finanțelor Publice
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça und E. Juhász, der Kammerpräsidentinnen M. Berger und A. Prechal, des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet (Berichterstatter), M. Safjan, D. Šváby und E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von E. Florescu und I. Poiană sowie von C. Diaconu, A. Vidrighin und E. Bădilă als Erbinnen von Herrn M. Bădilă, vertreten durch D. Târşia, avocat,
—
der Casa Judeţeană de Pensii Sibiu, vertreten durch D. Aldea und I. Stan als Bevollmächtigte,
—
der rumänischen Regierung, vertreten durch R. H. Radu, A. Wellman und M. Bejenar als Bevollmächtigte,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis und S. Papaioannou als Bevollmächtigte,
—
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch J.-P. Keppenne, H. Krämer, I. Rogalski und L. Nicolae als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Dezember 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6 EUV, 110 und 267 AEUV, der Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Rumänien am 23. Juni 2009 in Bukarest und Brüssel geschlossenen Grundsatzvereinbarung (im Folgenden: Grundsatzvereinbarung), des Grundsatzes der Rechtssicherheit, der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz sowie von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
2 Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Eugenia Florescu und Ioan Poiană sowie Cosmina Diaconu, Anca Vidrighin und Eugenia Elena Bădilă als Erbinnen von Herrn Mircea Bădilă auf der einen und der Casa Judeţeană de Pensii Sibiu (Bezirksrentenkasse Sibiu, Rumänien), der Casa Naţională de Pensii şi alte Drepturi de Asigurări Sociale (Nationale Renten- und Sozialversicherungskasse, Rumänien), dem Ministerul Muncii, Familiei și Protecției Sociale (Ministerium für Arbeit, Familie und soziale Sicherheit, Rumänien), dem Statul român (Rumänischer Staat) und dem Ministerul Finanţelor Publice (Ministerium für öffentliche Finanzen, Rumänien) auf der anderen Seite. Gegenstand dieses Rechtsstreits sind Ruhegehaltsansprüche.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 332/2002
3 Die Verordnung (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18. Februar 2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 53, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 431/2009 des Rates vom 18. Mai 2009 (ABl. 2009, L 128, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 332/2002) legt die Modalitäten des in Art. 143 AEUV vorgesehenen Systems des gegenseitigen Beistands fest.
4 Art. 1 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Es wird ein gemeinschaftliches System des mittelfristigen finanziellen Beistands eingeführt, aufgrund dessen einem oder mehreren Mitgliedstaaten, die von Leistungs- oder Kapitalbilanzschwierigkeiten betroffen oder ernstlich bedroht sind, Darlehen gewährt werden können. Nur die Mitgliedstaaten, die den Euro nicht eingeführt haben, können diese Gemeinschaftsfazilität in Anspruch nehmen.
Der ausstehende Kapitalbetrag der Darlehen, die den Mitgliedstaaten im Rahmen dieser Fazilität gewährt werden können, ist auf 50 Mrd. [Euro] begrenzt.
(2) Die Kommission wird zu diesem Zweck ermächtigt, auf der Grundlage einer Entscheidung des Rates gemäß Artikel 3 und nach Anhörung des Wirtschafts- und Finanzausschusses im Namen der Europäischen Gemeinschaft Anleihen auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstitutionen aufzunehmen.“
5 Art. 3 der Verordnung Nr. 332/2002 lautet:
„(1) Die Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands kann vom Rat angewandt werden auf Initiative
a)
der Kommission, die aufgrund von Artikel 119 des Vertrags im Einvernehmen mit dem Mitgliedstaat tätig wird, der eine Gemeinschaftsfinanzierung in Anspruch nehmen möchte;
b)
eines Mitgliedstaats, der von Leistungs- oder Kapitalbilanzschwierigkeiten betroffen oder ernstlich bedroht ist.
(2) Der Mitgliedstaat, der den mittelfristigen finanziellen Beistand in Anspruch nehmen möchte, erörtert mit der Kommission die Bewertung seines Finanzbedarfs und unterbreitet der Kommission und dem Wirtschafts- und Finanzausschuss einen Entwurf seines Sanierungsprogramms. Der Rat entscheidet nach Prüfung der Lage des betreffenden Mitgliedstaats und des zur Unterstützung seines Antrags unterbreiteten Sanierungsprogramms grundsätzlich auf derselben Tagung über
a)
die Gewährung eines Darlehens oder einer angemessenen Finanzierungsfazilität, ihren Betrag und ihre durchschnittliche Laufzeit;
b)
die wirtschaftspolitischen Bedingungen, an die der mittelfristige finanzielle Beistand geknüpft ist, um eine tragbare Zahlungsbilanzsituation wiederherzustellen oder zu gewährleisten;
c)
die Einzelheiten des Darlehens oder der Finanzierungsfazilität, dessen/deren Auszahlung oder Ziehung grundsätzlich in aufeinanderfolgenden Tranchen erfolgt, wobei die Freigabe der einzelnen Tranchen von einer Prüfung der Ergebnisse abhängt, die bei der Durchführung des Programms im Verhältnis zu den Zielvorgaben erreicht wurden.“
6 Art. 3a der Verordnung Nr. 332/2002 bestimmt:
„Die Kommission und der betreffende Mitgliedstaat schließen eine Absichtserklärung, in der die vom Rat gemäß Artikel 3 festgelegten Bedingungen im Einzelnen festgelegt werden. Die Kommission übermittelt diese Absichtserklärung dem Europäischen Parlament und dem Rat.“
Entscheidungen 2009/458/EG und 2009/459/EG
7 Nach Art. 1 der Entscheidung 2009/458/EG des Rates vom 6. Mai 2009 über einen gegenseitigen Beistand für Rumänien (ABl. 2009, L 150, S. 6) gewährt die Union Rumänien gegenseitigen Beistand gemäß Art. 143 AEUV. Außerdem gewährt die Europäische Union Rumänien nach der Entscheidung 2009/459/EG des Rates vom 6. Mai 2009 über einen mittelfristigen finanziellen Beistand der Gemeinschaft für Rumänien (ABl. 2009, L 150, S. 8) ein mittelfristiges Darlehen in Höhe von maximal 5 Mrd. Euro.
8 In Art. 2 Abs. 1 und 2 der Entscheidung 2009/459 heißt es:
„(1) Der Beistand wird von der Kommission in einer Weise verwaltet, die mit den Verpflichtungen Rumäniens und den Empfehlungen des Rates, insbesondere den länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen der Umsetzung des nationalen Reformprogramms und des Konvergenzprogramms im Einklang steht.
(2) Die Kommission vereinbart mit den rumänischen Behörden nach Anhörung des [Wirtschafts- und Finanzausschusses] die spezifischen wirtschaftspolitischen Auflagen, an die der finanzielle Beistand gemäß Artikel 3 Absatz 5 geknüpft wird. Diese Auflagen werden im Einklang mit den Verpflichtungen und Empfehlungen im Sinne von Absatz 1 in einem Memorandum of Understanding niedergelegt. …“
9 Art. 3 Abs. 5 der Entscheidung 2009/459 sieht vor:
„Die Auszahlung jeder weiteren Tranche erfolgt auf der Grundlage einer zufrieden stellenden Umsetzung des neuen Wirtschaftsprogramms der rumänischen Regierung, das im Konvergenzprogramm Rumäniens, im nationalen Reformprogramm und insbesondere in den im Memorandum of Understanding festgelegten spezifischen wirtschaftspolitischen Auflagen zum Ausdruck zu bringen ist. Dazu gehören unter anderem:
a)
Einführung eines klar festgelegten mittelfristigen finanzpolitischen Programms, um das gesamtstaatliche Defizit bis 2011 zumindest auf den EGV-Referenzwert von 3 % des [Bruttoinlandsprodukts (BIP)] zu senken.
b)
Verabschiedung und Ausführung eines geänderten Haushalts für 2009 (bis zum zweiten Quartal 2009), der auf Basis des [Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen auf nationaler und regionaler Ebene (ESVG‑95)] ein gesamtstaatliches Zieldefizit von höchstens 5,1 % des BIP vorsieht.
c)
Nominale Senkung der Lohnsumme im öffentlichen Dienst gegenüber 2008, indem auf die 2009 vorgesehenen Lohnerhöhungen (um nominal insgesamt 5 %) verzichtet wird (oder entsprechend viele weitere Stellen gestrichen werden) und indem die Beschäftigung im öffentlichen Sektor abgebaut wird, unter anderem indem nur einer von sieben scheidenden Mitarbeitern ersetzt wird.
d)
Weitere Einsparungen bei den Ausgaben für Waren und Dienstleistungen und Subventionen für öffentliche Unternehmen.
e)
Verbesserung der Haushaltsverwaltung durch Verabschiedung und Einführung eines verbindlichen mittelfristigen Haushaltsrahmens, Einführung von Beschränkungen für Haushaltsänderungen im Laufe des Jahres einschließlich haushaltspolitischer Regeln und Einsetzung eines ‚Finanzrats‘ als unabhängige sachverständige Prüfungsinstanz.
f)
Reform des Vergütungssystems im öffentlichen Sektor, unter anderem durch Vereinheitlichung und Vereinfachung der Lohnskala und Reform der Vergünstigungsregelungen.
g)
Reform der maßgeblichen Parameter des Rentensystems, indem die Renten künftig an den Verbraucherpreisindex und nicht mehr an die Löhne gekoppelt werden, das Rentenalter über die aktuellen Pläne hinaus, insbesondere bei Frauen, stufenweise angehoben und die Beitragspflicht schrittweise auch für jene Beschäftigungsgruppen im öffentlichen Sektor eingeführt wird, die derzeit davon befreit sind.
…“
Grundsatzvereinbarung
10 Nach Nr. 5 der Grundsatzvereinbarung erfolgt die Auszahlung jeder Tranche des finanziellen Beistands, der Rumänien von der Union gewährt wird, unter dem Vorbehalt einer zufriedenstellenden Umsetzung des Wirtschaftsprogramms der rumänischen Regierung. Nr. 5 Buchst. a der Grundsatzvereinbarung sieht als eine der Bedingungen, an die dieser Beistand geknüpft ist, eine „Senkung der Lohnsumme im öffentlichen Dienst“ vor. In Nr. 5 Buchst. b Abs. 4 ist festgehalten, dass, „[u]m die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen langfristig zu verbessern, die maßgeblichen Parameter des Rentensystems reformiert werden“.
11 Abs. 5 („Strukturreform“) Buchst. d dieser Grundsatzvereinbarung enthält Empfehlungen für Maßnahmen zur Verbesserung der Effizienz und Effektivität der öffentlichen Verwaltung sowie zur Erhöhung der Qualität der öffentlichen Verwaltung in mehreren Bereichen, insbesondere in Bezug auf Entscheidungsstrukturen, die Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den Organen, die interne Organisation der wichtigsten Ministerien, den Umfang und die Verantwortung für die Umsetzung und Angemessenheit der Personalausstattung und die Verwaltung der Personalressourcen.
Richtlinie 2000/78
12 Gemäß Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ist deren Zweck die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.
13 Art. 2 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a)
liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b)
liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i)
[D]iese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich …
…“
Rumänisches Recht
14 Art. 83 der Legea no 303/2004 privind statutul judecătorilor şi al procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über die Stellung der Richter und Staatsanwälte) vom 28. Juni 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005) gestattete neben der Richtertätigkeit lediglich die Ausübung einer Tätigkeit als Hochschullehrer. Darüber hinaus sah dieses Gesetz vor, dass Richter und Staatsanwälte, die durch Eintritt in den Ruhestand aus ihrem Amt ausgeschieden waren, neben ihrem Ruhegehalt ein Einkommen aus einer beruflichen Tätigkeit unabhängig von dessen Höhe beziehen konnten.
15 Am 5. November 2009 wurde die Legea no 329/2009 privind reorganizarea unor autorităţi şi instituţii publice, raţionalizarea cheltuielilor publice, susţinerea mediului de afaceri şi respectarea acordurilor-cadru cu Comisia Europeană şi Fondul Monetar Internaţional (Gesetz Nr. 329/2009 über die Neuorganisation verschiedener Behörden und öffentlicher Einrichtungen, die Begrenzung der öffentlichen Ausgaben, die Förderung des Unternehmensumfelds und die Umsetzung der Rahmenabkommen mit der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds, Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 761 vom 9. November 2009) erlassen.
16 Art. 2 dieses Gesetzes sieht vor, dass die durch das Gesetz eingeführten Maßnahmen, die Ausnahmecharakter haben, der Abschwächung der Folgen der Wirtschaftskrise sowie der Erfüllung der Pflichten aus der Grundsatzvereinbarung und dem Stand-by-Abkommen zwischen Rumänien und der Kommission bzw. dem Internationalen Währungsfonds (IWF) dienen.
17 Das genannte Gesetz schreibt u. a. eine Herabsetzung der Höhe der Gehälter vor; diese Maßnahme wurde auf die Lehrtätigkeit an Hochschulen angewandt. Gemäß Art. 3 dieses Gesetzes zielen die im Einklang mit der Grundsatzvereinbarung erlassenen Maßnahmen darauf ab, die Finanzkrise zu überwinden. Sie bestehen in einer Verringerung der Personalkosten in der öffentlichen Verwaltung durch eine Senkung der Gehälter und durch die Neuorganisation oder Auflösung von Behörden oder öffentlichen Einrichtungen nach ihrer Neuordnung durch Übernahme, Verschmelzung, Teilung oder Personalabbau.
18 Die Art. 17 bis 26 des Gesetzes Nr. 329/2009 verbieten den gleichzeitigen Bezug eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen, wenn das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat.
19 Art. 18 des genannten Gesetzes sieht vor, dass die in dessen Art. 17 genannten Ruhegehaltsempfänger verpflichtet sind, schriftlich ihre Wahl zwischen der Aussetzung der Ruhegehaltszahlungen für die Dauer der beruflichen Tätigkeit und der Beendigung des Arbeits- oder Dienstverhältnisses oder der Ernennung auszuüben, wenn das Nettoruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt. Art. 20 des Gesetzes Nr. 329/2009 bestimmt schließlich, dass die Nichterfüllung der Verpflichtung zur Ausübung der Wahl innerhalb der vorgesehenen Frist von Rechts wegen zur Beendigung des durch Individualarbeitsvertrag oder Ernennung begründeten Arbeits- oder Dienstverhältnisses führt.
20 Nach Art. 21 der Legea no 554/2004 contenciosului administrativ (Gesetz Nr. 554/2004 über das verwaltungsgerichtliche Verfahren) vom 2. Dezember 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1154 vom 7. Dezember 2004) begründet der Erlass eines endgültigen und rechtskräftigen Urteils, das gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstößt, neben den anderen in der Zivilprozessordnung geregelten Wiederaufnahmegründen die Wiederaufnahme.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21 Frau Florescu, Herr Poiană und Herr Bădilă waren beruflich als Richter tätig. Nach ihrer Zulassung zum Richteramt schlossen sie unbefristete Individualarbeitsverträge für Stellen als Hochschullehrer an der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Sibiu, die durch Auswahlverfahren vergeben wurden. Sie übten somit neben ihrer Richtertätigkeit eine Tätigkeit als Hochschullehrer aus.
22 Im Jahr 2009 traten sie nach einer Dienstzeit von mehr als 30 Jahren von ihrem Richteramt in den Ruhestand. Bei ihrer Versetzung in den Ruhestand konnten sie gemäß dem Gesetz Nr. 303/2004 neben ihrem Ruhegehalt gleichzeitig das Einkommen aus ihrer beruflichen Tätigkeit als Hochschullehrer beziehen.
23 Nach dem Erlass des Gesetzes Nr. 329/2009, das den gleichzeitigen Bezug von Ruhegehalt und Einkommen aus beruflicher Tätigkeit nunmehr untersagte, entschieden sich Frau Florescu, Herr Poiană und Herr Bădilă für die Aussetzung der Zahlung ihres Ruhegehalts ab dem 1. Januar 2010. Die Bezirksrentenkasse Sibiu beschloss daraufhin am 28. Dezember 2009, die Zahlung ihrer Ruhegehälter auszusetzen.
24 Aus dem Urteil der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) vom 4. November 2009, mit dem das Gesetz Nr. 329/2009 für verfassungskonform erklärt wurde, da die Art. 17 bis 26 dieses Gesetzes nicht die Personen beträfen, deren Amtszeit ausdrücklich durch die Verfassung festgelegt sei, ergibt sich, dass von dem Verbot des gleichzeitigen Bezugs von Ruhegehalt und eines Gehalts aus öffentlichen Mitteln u. a. die Inhaber eines legislativen oder exekutiven Mandats sowie die Mitglieder der Curtea de Conturi (Rechnungshof, Rumänien), der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), des Consiliul Superior al Magistraturii (Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte, Rumänien) und der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) ausgenommen sind.
25 Am 1. März 2010 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Tribunalul Sibiu (Gericht Sibiu, Rumänien) Klage auf Nichtigerklärung der in Anwendung des Gesetzes Nr. 329/2009 getroffenen Entscheidungen, die Zahlung ihrer Ruhegehälter auszusetzen, und auf Verurteilung der Beklagten des Ausgangsverfahrens, ihnen mit Wirkung von Januar 2010 ihr monatliches Ruhegehalt zu zahlen. Zur Stützung ihrer Klage machten sie geltend, dass die Art. 17 bis 26 des Gesetzes Nr. 329/2009, die die Regelung zum gleichzeitigen Bezug von Ruhegehalt und Arbeitsentgelt enthielten, gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen die Bestimmungen des EU-Vertrags und der Charta, verstießen, auch wenn dieses Gesetz erlassen worden sei, um der Grundsatzvereinbarung nachzukommen.
26 Die Klage wurde mit Urteil vom 3. Mai 2012 abgewiesen. Das hiergegen bei der Curtea de Apel Alba Iulia Secţia pentru conflicte de muncăşi asigurări sociale (Berufungsgericht Alba Iulia, Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungsstreitigkeiten, Rumänien) eingelegte Rechtsmittel wurde mit Urteil vom 9. November 2012 zurückgewiesen.
27 Frau Florescu, Herr Poiană und Herr Bădilă stellten daraufhin beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und beantragten, dieses Urteil im vollen Umfang aufzuheben und erneut über ihre Klage zu entscheiden. Nach dem Tod von Herrn Bădilă traten dessen Erbinnen, Frau Diaconu, Frau Vidrighin und Frau Bădilă in das Ausgangsverfahren ein. Zur Stützung ihres Wiederaufnahmeantrags ersuchten die Kläger des Ausgangsverfahrens das vorlegende Gericht, dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
28 Die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann die Grundsatzvereinbarung als Akt, Entscheidung, Mitteilung usw. mit Rechtskraft im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 3. Februar 1976, Manghera u. a., 59/75, EU:C:1976:14, und vom 20. März 1997, Frankreich/Kommission, C‑57/95, EU:C:1997:164) angesehen und dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden?
2. Wenn ja, ist die Grundsatzvereinbarung dahin auszulegen, dass die Kommission zur Abschwächung der Folgen der Wirtschaftskrise durch Senkung der Personalausgaben rechtmäßig die Annahme eines nationalen Gesetzes verlangen kann, mit dem das Recht einer Person auf Bezug eines gesetzlich festgelegten Ruhegehalts, das durch mehr als 30 Jahre entrichtete Beiträge erworben und vor Annahme dieses Gesetzes bezogen wurde, widerrufen wird, weil diese Person ein Entgelt aus einem Arbeitsverhältnis erhält, das sich von dem der Pensionierung zugrunde liegenden unterscheidet?
3. Ist die Grundsatzvereinbarung dahin auszulegen, dass die Kommission zur Abschwächung der Folgen der Wirtschaftskrise rechtmäßig die Annahme eines nationalen Gesetzes verlangen kann, mit dem das Recht einer Person auf Bezug eines gesetzlich festgelegten Ruhegehalts, das durch mehr als 30 Jahre entrichtete Beiträge erworben und vor Annahme dieses Gesetzes bezogen wurde, vollumfänglich und bis auf Weiteres widerrufen wird, weil diese Person ein Entgelt aus einem Arbeitsverhältnis erhält, das sich von dem der Pensionierung zugrunde liegenden unterscheidet?
4. Ist die Grundsatzvereinbarung im Ganzen und vor allem ihre Nr. 5 Buchst. d, die sich auf die Neuordnung und die Steigerung der Effizienz der öffentlichen Verwaltung bezieht, dahin auszulegen, dass die Kommission zur Abschwächung der Folgen der Wirtschaftskrise rechtmäßig die Annahme eines nationalen Gesetzes verlangt hat, mit dem für pensionierte Bedienstete öffentlicher Einrichtungen ein Verbot des gleichzeitigen Bezugs von Ruhegehalt und Arbeitsentgelt eingeführt worden ist?
5. Können die Art. 17, 20, 21 und 47 der Charta, Art. 6 EUV, Art. 110 AEUV, der Grundsatz der Rechtssicherheit aus dem Unionsrecht und die Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin ausgelegt werden, dass sie einer Regelung wie der in Art. 21 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 554/2004 entgegenstehen, die für den Fall einer Verletzung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts eine Wiederaufnahmeklage nur gegen in verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergangene nationale Entscheidungen erlaubt und eine Wiederaufnahmeklage gegen nationale Entscheidungen, die in anderen Verfahren (auf dem Gebiet des Zivil-, Straf- und Handelsrechts) ergangen sind, im Fall einer Verletzung dieses Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts durch diese Entscheidungen nicht gestattet?
6. Steht Art. 6 EUV der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, die die Zahlung des Ruhegehalts eines Berufsrichters, das auf während mehr als 30 Dienstjahren entrichteten Beiträgen beruht, von der Kündigung eines Arbeitsvertrags im Bereich der juristischen Hochschulausbildung abhängig macht?
7. Stehen Art. 6 EUV, Art. 17 Abs. 1 der Charta und die Rechtsprechung des Gerichtshofs einer Regelung entgehen, die dem Ruhegehaltsempfänger sein Recht auf Ruhegehalt entzieht, auch wenn dieses auf während mehr als 30 Jahren entrichteten Beiträgen beruht und die Richter während der Hochschullehrertätigkeit eigenständige Rentenbeiträge abgeführt haben und noch abführen?
8. Stehen Art. 6 EUV und Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs einem Urteil des Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats entgegen, in dem im Zuge der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes festgestellt wird, dass das Recht auf gleichzeitigen Bezug von Ruhegehalt und Arbeitsentgelt nur Personen zusteht, die über ein Mandat verfügen, so dass Berufsrichter hiervon ausgenommen sind, denen der Bezug von Ruhegehalt, das auf während mehr als 30 Jahren entrichteten persönlichen Beiträgen beruht, deshalb verwehrt ist, weil sie an ihrem Lehrauftrag im Rahmen der juristischen Hochschulausbildung festhalten?
9. Stehen Art. 6 EUV und die Rechtsprechung des Gerichtshofs einer Regelung entgehen, die die Zahlung des Ruhegehalts von Richtern, das auf während mehr als 30 Jahren entrichteten Beiträgen beruht, bis auf Weiteres von der Beendigung der Hochschullehrertätigkeit abhängig macht?
10. Stehen Art. 6 EUV und die Rechtsprechung des Gerichtshofs einer Regelung entgegen, die das rechtliche Gleichgewicht, das zwischen dem Schutz des persönlichen Eigentums und dem öffentlichen Interesse sicherzustellen ist, zerstört, indem sie nur einer gewissen Gruppe von Personen ihre Ruhegehaltsansprüche aus Richtertätigkeit entzieht, weil sie eine Tätigkeit im Hochschulbereich ausüben?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
29 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsatzvereinbarung, um deren Auslegung ersucht wird, als Handlung eines Organs im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen ist, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann.
30 Nach ständiger Rechtsprechung verleiht Art. 267 AEUV dem Gerichtshof die Befugnis, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union ohne jede Ausnahme zu entscheiden (Urteile vom 13. Dezember 1989, Grimaldi, C‑322/88, EU:C:1989:646, Rn. 8, und vom 11. Mai 2006, Friesland Coberco Dairy Foods, C‑11/05, EU:C:2006:312, Rn. 36).
31 Im vorliegenden Fall wurde die Grundsatzvereinbarung zwischen der Europäischen Gemeinschaft, vertreten durch die Kommission, und Rumänien geschlossen. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 143 AEUV, der der Union die Befugnis verleiht, einem Mitgliedstaat, dessen Währung nicht der Euro ist und der von Zahlungsbilanzschwierigkeiten betroffen oder ernstlich bedroht ist, gegenseitigen Beistand zu gewähren. Nach dieser Vorschrift empfiehlt die Kommission dem Rat unter bestimmten Voraussetzungen die Gewährung eines solchen gegenseitigen Beistands und die dafür geeigneten Methoden. Der Rat hat den gegenseitigen Beistand zu gewähren und die Bedingungen und Einzelheiten dieses Beistands durch den Erlass von Richtlinien oder Beschlüssen festzulegen.
32 Die Verordnung Nr. 332/2002 legt die Einzelheiten fest, die für das in Art. 143 AEUV vorgesehene System des gegenseitigen Beistands gelten. Nach Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung wird die Kommission ermächtigt, auf der Grundlage einer Entscheidung des Rates gemäß Art. 3 dieser Verordnung und nach Anhörung des Wirtschafts- und Finanzausschusses im Namen der Union Anleihen auf den Kapitalmärkten oder bei Finanzinstitutionen aufzunehmen.
33 Art. 3a Satz 1 der Verordnung Nr. 332/2002 sieht vor, dass die Kommission und der betreffende Mitgliedstaat eine Absichtserklärung schließen, in der die vom Rat gemäß Art. 3 dieser Verordnung festgelegten Bedingungen im Einzelnen festgelegt werden. Die zwischen der Union und Rumänien geschlossene Grundsatzvereinbarung, um deren Auslegung das vorlegende Gericht den Gerichtshof im vorliegenden Fall ersucht, wurde gemäß diesem Verfahren angenommen. Der Rat erließ nacheinander zwei Entscheidungen, nämlich die Entscheidung 2009/458 über einen gegenseitigen Beistand für Rumänien gemäß Art. 143 AEUV und die Entscheidung 2009/459, mit der Rumänien ein mittelfristiges Darlehen in Höhe von maximal 5 Mrd. Euro gewährt wird und nach deren Art. 2 Abs. 2 die spezifischen wirtschaftspolitischen Auflagen, an die der finanzielle Beistand der Union geknüpft wird, in einem Memorandum of Understanding niedergelegt werden.
34 Wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die Grundsatzvereinbarung die Konkretisierung einer Verpflichtung zwischen der Union und einem Mitgliedstaat über ein von diesen Parteien ausgehandeltes Wirtschaftsprogramm, mit der sich der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, im Voraus festgelegte wirtschaftliche Ziele einzuhalten, um vorbehaltlich der Erfüllung dieser Verpflichtung die finanzielle Unterstützung der Union erhalten zu können.
35 Als Maßnahme, die ihre Rechtsgrundlage aus den in den Rn. 31 bis 33 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen des Unionsrechts schöpft und u. a. von der Union, vertreten durch die Kommission, getroffen wurde, stellt die Grundsatzvereinbarung eine Handlung eines Organs der Union im Sinne von Art. 267 Buchst. b AEUV dar.
36 Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Grundsatzvereinbarung als Handlung eines Organs der Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen ist, die dem Gerichtshof zur Auslegung vorgelegt werden kann.
Zu den Fragen 2 bis 4
37 Mit den Fragen 2 bis 4, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsatzvereinbarung dahin auszulegen ist, dass sie den Erlass nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gebietet, die das Verbot vorsehen, gleichzeitig ein Nettoruhegehalt und ein Einkommen aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen zu beziehen, wenn das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat.
38 Wie im Rahmen der Beantwortung der ersten Frage hervorgehoben, ist die Grundsatzvereinbarung die Konkretisierung einer Verpflichtung zwischen der Union und einem Mitgliedstaat über ein Wirtschaftsprogramm, die es dem Mitgliedstaat erlaubt, einen in Art. 143 AEUV genannten und durch die Verordnung Nr. 332/2002 näher geregelten Mechanismus mittelfristiger finanzieller Unterstützung hinsichtlich der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten in Anspruch zu nehmen. Sie enthält eine Reihe wirtschaftspolitischer Auflagen, an deren Erfüllung die Gewährung der finanziellen Unterstützung geknüpft ist und die von der Kommission und den rumänischen Behörden gemäß den Bestimmungen der Entscheidung 2009/459 einvernehmlich festgelegt wurden.
39 In Nr. 5 Abs. 1 der Grundsatzvereinbarung heißt es insoweit, dass die Auszahlung jeder Tranche unter dem Vorbehalt der zufrieden stellenden Umsetzung des Wirtschaftsprogramms der rumänischen Regierung erfolgt. Für jede Tranche sind spezifische wirtschafts- und finanzpolitische oder qualitative Kriterien festgelegt worden, die im Anhang I der genannten Vereinbarung im Einzelnen aufgeführt sind und die Rumänien im Rahmen der Ziele dieses Programms erfüllen muss, nämlich die Sanierung des Haushalts, die haushaltspolitische Steuerung, die Währungspolitik und die Regulierung des Finanzsektors sowie schließlich die Strukturreform. Im Rahmen der oben genannten Kriterien haben die rumänischen Behörden die konkreten wirtschaftlichen Lösungen umzusetzen, die es ihnen erlauben werden, diese Ziele zu erreichen und den mit den Unionsorganen vereinbarten Zeitplan einzuhalten.
40 Zudem sieht Nr. 5 Buchst. b Abs. 4 der Grundsatzvereinbarung vor, dass das Rentensystem durch Maßnahmen wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters oder die Kopplung der Pensionen des öffentlichen Sektors an den Verbraucherpreisindex reformiert werden muss.
41 Die Grundsatzvereinbarung, die zwar verpflichtend ist, enthält somit keine spezifische Bestimmung, die den Erlass der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung gebietet.
42 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die Fragen 2 bis 4 zu antworten, dass die Grundsatzvereinbarung dahin auszulegen ist, dass sie nicht den Erlass nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gebietet, die das Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen vorsehen, wenn das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat.
Zu den Fragen 6, 7, 9 und 10
43 Mit den Fragen 6, 7, 9 und 10 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 EUV und Art. 17 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die ein Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen vorsehen, wenn das Ruhegehalt einen gewissen Schwellenwert überschreitet.
44 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17).
45 Im vorliegenden Fall wurde nach der Darstellung des vorlegenden Gerichts das Gesetz Nr. 329/2009 über „die Neuorganisation verschiedener Behörden und öffentlicher Einrichtungen, die Begrenzung der öffentlichen Ausgaben, die Förderung des Unternehmensumfelds und die Umsetzung der Rahmenabkommen mit der [Kommission] und dem [IWF]“ erlassen, damit Rumänien seinen in der Grundsatzvereinbarung festgehaltenen Verpflichtungen gegenüber der Union nachkommen kann. Nach Art. 2 dieses Gesetzes dienen die von Rumänien eingeführten Maßnahmen u. a. der „Erfüllung der Pflichten aus der Grundsatzvereinbarung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Rumänien“.
46 Zu den in der Grundsatzvereinbarung festgelegten Bedingungen, an die der finanzielle Beitrag geknüpft ist, gehören nach Nr. 5 Buchst. a der Grundsatzvereinbarung die Senkung der Lohnsumme im öffentlichen Dienst und nach Nr. 5 Buchst. b Abs. 4 zur langfristigen Verbesserung der öffentlichen Finanzen die Reform der maßgeblichen Parameter des Rentensystems.
47 Daher ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren streitige Maßnahme des Verbots des gleichzeitigen Bezugs von Ruhegehalt und Arbeitsentgelt, mit der beide in der vorstehenden Randnummer genannten Ziele gleichzeitig verfolgt werden, dazu dient, die Verpflichtungen zu erfüllen, die Rumänien in der Grundsatzvereinbarung, die Teil des Unionsrechts ist, eingegangen ist.
48 Zwar räumt die Grundsatzvereinbarung Rumänien ein Ermessen bei der Wahl der Maßnahmen ein, mit denen die Erfüllung der genannten Verpflichtungen am besten erreicht werden kann. Doch ist, wenn ein Mitgliedstaat im Rahmen des Ermessens, das ihm durch einen Rechtsakt der Union gewährt worden ist, Maßnahmen ergreift, davon auszugehen, dass er das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 65 bis 68). Zudem sind die in Art. 3 Abs. 5 der Entscheidung 2009/459 und die in der Grundsatzvereinbarung festgelegten Ziele hinreichend detailliert und präzise, um die Annahme zuzulassen, dass das Verbot des gleichzeitigen Bezugs von Ruhegehalt und Arbeitsentgelt, das sich aus dem Gesetz Nr. 329/2009 ergibt, der Umsetzung der Grundsatzvereinbarung und dieser Entscheidung und damit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dient. Folglich ist die Charta auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar.
49 Daher ist zu prüfen, ob Art. 17 der Charta, insbesondere sein Abs. 1, einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht. In Anbetracht von Art. 52 Abs. 3 der Charta ist zur Bestimmung des Umfangs des Grundrechts auf Achtung des Eigentums Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) heranzuziehen, in dem dieses Recht verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 356).
50 Ist die Gewährung von Sozialleistungen gesetzlich vorgesehen, schafft diese Gesetzgebung für Personen, die die Voraussetzungen hierfür erfüllen, ein vermögensrechtliches Interesse, das in den Anwendungsbereich von Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK fällt (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 7. Juli 2011, Stummer/Österreich, CE:ECHR:2011:0707JUD003745202, § 82). Die Rechte, die sich aus der Entrichtung von Beiträgen an ein Sozialversicherungssystem ergeben, stellen daher Vermögensrechte im Sinne dieses Artikels dar (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 12. Oktober 2004, Kjartan Ásmundsson/Island, CE:ECHR:2004:1012JUD006066900, § 39). Das in diesem Artikel verankerte Eigentumsrecht kann jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass es einen Anspruch auf ein Ruhegehalt in bestimmter Höhe gewährt (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 12. Oktober 2004, Kjartan Ásmundsson/Island, CE:ECHR:2004:1012JUD006066900, § 39).
51 Hinsichtlich Art. 17 der Charta ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das darin verbürgte Eigentumsrecht nicht uneingeschränkt gilt und seine Ausübung Beschränkungen unterworfen werden kann, die durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Die innerstaatliche Maßnahme, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, führt zwar nicht einfach zu einer Entziehung des Ruhegehaltsanspruchs von Personen, die sich in der Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens befinden, da die Betroffenen ihr Ruhegehalt weiter beziehen können, wenn sie darauf verzichten, gleichzeitig einer Erwerbstätigkeit bei einer öffentlichen Einrichtung nachzugehen. Dennoch beschränkt eine solche Maßnahme die Nutzung und Ausübung des Ruhegehaltsanspruchs der Betroffenen, da sie eine Aussetzung der Zahlung ihres Ruhegehalts impliziert, wenn sich die Betroffenen dafür entschieden haben, diese Erwerbstätigkeit fortzusetzen.
53 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte und Freiheiten nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
54 Es ist daher zu prüfen, ob die Einschränkung des Eigentumsrechts, die sich aus dem durch das Gesetz Nr. 329/2009 vorgesehenen Verbot ergibt, gleichzeitig ein Nettoruhegehalt und ein Einkommen aus einer Tätigkeit bei einer öffentlichen Einrichtung zu beziehen, den Wesensgehalt des Eigentumsrechts achtet, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht und hierfür erforderlich ist.
55 Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass das Gesetz Nr. 329/2009, wie aus dem Wortlaut seines Art. 2 hervorgeht, Ausnahmecharakter hat und nicht auf Dauer angelegt ist. Außerdem stellt es das Recht auf ein Ruhegehalt nicht grundsätzlich in Frage, sondern schränkt dessen Ausübung unter genau festgelegten und geregelten Bedingungen ein, nämlich dann, wenn das Ruhegehalt neben einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen bezogen wird und einen gewissen Schwellenwert überschreitet. Wie der Generalanwalt in Nr. 83 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, achtet das Gesetz Nr. 329/2009 somit den Wesensgehalt des Eigentumsrechts, das den Klägern des Ausgangsverfahrens an den fraglichen Ruhegehältern zusteht.
56 Des Weiteren bezweckt das Gesetz Nr. 329/2009, die öffentlichen Ausgaben unter den außergewöhnlichen Umständen einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu begrenzen (vgl. in diesem Sinne Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 20. März 2012, Ionel Panlife/Rumänien, CE:ECHR:2012:0320DEC001390211, § 21). Insbesondere soll mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Regelung gleichzeitig das Ziel der Senkung der Lohnsumme im öffentlichen Sektor und das Ziel der Reform des Rentensystems erreicht werden, die durch die Entscheidung 2009/459 und die Grundsatzvereinbarung festgelegt wurden, um die Zahlungsbilanzschwierigkeiten zu reduzieren, die dazu geführt hatten, dass Rumänien finanziellen Beistand der Union beantragte und erhielt. Derartige Ziele stellen dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen dar.
57 Was die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung des besonderen wirtschaftlichen Kontexts über ein weites Ermessen bei Entscheidungen auf wirtschaftlichem Gebiet verfügen und dass sie am besten in der Lage sind, die Maßnahmen zu bestimmen, die zur Verwirklichung des angestrebten Ziels geeignet sind.
58 Zudem bürdet das Gesetz Nr. 329/2009 den Personen, die von dem Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei einer öffentlichen Einrichtung betroffen sind, keine unverhältnismäßige und übermäßige Belastung auf, da sich die Betroffenen zum einen zwischen der Zahlung ihres Ruhegehalts oder der Zahlung dieses Einkommens nur entscheiden müssen, wenn ihr Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat, und sich zum anderen, wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, jederzeit für die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses entscheiden und wieder ihr Ruhegehalt beziehen können.
59 Somit ist die innerstaatliche Regelung, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, zur Verwirklichung des angestrebten Gemeinwohlziels geeignet und erforderlich.
60 Nach diesen Erwägungen ist auf die Fragen 6, 7, 9 und 10 zu antworten, dass Art. 6 EUV und Art. 17 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen vorsehen, wenn das Ruhegehalt einen gewissen Schwellenwert überschreitet, nicht entgegenstehen.
Zur achten Frage
61 Mit der achten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er einer Auslegung nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der das Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen, das diese Rechtsvorschriften vorsehen, wenn das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat, für Berufsrichter gilt, nicht aber für Personen, die über ein nach der innerstaatlichen Verfassung vorgesehenes Mandat verfügen.
62 Der Gerichtshof hat sich in der Rechtssache, in der das Urteil vom 21. Mai 2015, SCMD (C‑262/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:336), ergangen ist, in der es um die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 im Zusammenhang mit denselben Bestimmungen des Gesetzes Nr. 329/2009 ging, bereits zu einer ähnlichen Frage geäußert.
63 In Rn. 29 jenes Urteils hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2000/78, da der darin verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 der Bekämpfung jeder Form von Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Gründe dient, Diskriminierungen wegen der Berufskategorie oder des Arbeitsplatzes nicht erfasst.
64 Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht keinen der in Art. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Gründe an und weist in seinen Fragen lediglich darauf hin, dass Berufsrichter und Personen, die über ein in der rumänischen Verfassung vorgesehenes Mandat verfügen, unterschiedlich behandelt werden.
65 Folglich fällt eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens nicht in den durch Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung bestimmter Diskriminierungen geschaffenen allgemeinen Rahmen (vgl. Urteil vom 21. Mai 2015, SCMD, C‑262/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:336, Rn. 31).
66 Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die achte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er keine Anwendung auf eine Auslegung nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden findet, nach der das Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen, das diese Rechtsvorschriften für den Fall vorsehen, dass das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat, für Berufsrichter gilt, nicht aber für Personen, die über ein nach der innerstaatlichen Verfassung vorgesehenes Mandat verfügen.
Zur fünften Frage
67 Mit der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere der Grundsatz der Äquivalenz und der Grundsatz der Effektivität, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die vorsieht, dass nur rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen, die in verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergangen sind, im Fall einer Verletzung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts Gegenstand einer Wiederaufnahmeklage sein können.
68 In Anbetracht der Antworten auf die übrigen Fragen ist diese Frage nicht zu beantworten.
Kosten
69 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Rumänien am 23. Juni 2009 in Bukarest und Brüssel geschlossene Grundsatzvereinbarung ist als Handlung eines Organs der Europäischen Union im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen, die dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung vorgelegt werden kann.
2. Die zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Rumänien am 23. Juni 2009 in Bukarest und Brüssel geschlossene Grundsatzvereinbarung ist dahin auszulegen, dass sie nicht den Erlass nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gebietet, die ein Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen vorsehen, wenn das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat.
3. Art. 6 EUV und Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen vorsehen, wenn das Ruhegehalt einen gewissen Schwellenwert überschreitet, nicht entgegenstehen.
4. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass er keine Anwendung auf eine Auslegung nationaler Rechtsvorschriften wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden findet, nach der das Verbot des gleichzeitigen Bezugs eines Nettoruhegehalts und eines Einkommens aus einer Tätigkeit bei öffentlichen Einrichtungen, das diese Rechtsvorschriften für den Fall vorsehen, dass das Ruhegehalt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen übersteigt, das als Grundlage für die Festlegung des staatlichen Sozialversicherungshaushalts gedient hat, für Berufsrichter gilt, nicht aber für Personen, die über ein nach der innerstaatlichen Verfassung vorgesehenes Mandat verfügen.
Unterschriften.
(*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 30. Mai 2017.#Enrico Colombo SpA und Corinti Giacomo gegen Europäische Kommission.#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Aufträge – Antrag auf einstweilige Anordnungen – Fehlende Dringlichkeit.#Rechtssache T-690/16 R.
|
62016TO0690(01)
|
ECLI:EU:T:2017:370
| 2017-05-30T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62016TO0690(01) - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 6. April 2017.#Pénzügyi Ismeretterjesztő és Érdek-képviseleti Egyesület (PITEE) gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Antrag auf Zugang zu Dokumenten der Kommission – Ablehnung – Nichtigkeitsklage – Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union – Vertretung vor den Unionsgerichten – Rechtsanwalt, der nicht die Eigenschaft eines Dritten im Verhältnis zur Klägerin hat – Offensichtliche Unzulässigkeit der Klage – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Rechtsmittel, das teils offensichtlich unzulässig und teils offensichtlich unbegründet ist.#Rechtssache C-464/16 P.
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62016CO0464
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ECLI:EU:C:2017:291
| 2017-04-06T00:00:00 |
Wahl, Gerichtshof
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BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
6. April 2017(*)
„Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Antrag auf Zugang zu Dokumenten der Kommission – Ablehnung – Nichtigkeitsklage – Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union – Vertretung vor den Unionsgerichten – Rechtsanwalt, der nicht die Eigenschaft eines Dritten im Verhältnis zur Klägerin hat – Offensichtliche Unzulässigkeit der Klage – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Rechtsmittel, das teils offensichtlich unzulässig und teils offensichtlich unbegründet ist“
In der Rechtssache C‑464/16 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 15. August 2016,
Pénzügyi Ismeretterjesztő és Érdek-képviseleti Egyesület (PITEE) mit Sitz in Budapest (Ungarn), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt D. Lazar,
Rechtsmittelführerin,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch H. Krämer und F. Erlbacher als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Pénzügyi Ismeretterjesztő és Érdek-képviseleti Egyesület (PITEE) die Aufhebung des Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 20. Juli 2016, PITEE/Kommission (T‑674/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:444, im Folgenden: angefochtener Beschluss), mit dem das Gericht ihre zum einen auf die Nichtigerklärung der Beschlüsse der Kommission Ares(2015)4207700 vom 9. Oktober 2015 und Ares(2015)3532556 vom 14. August 2015 (im Folgenden: streitige Beschlüsse), ihr den Zugang zu Dokumenten zu verweigern, und zum anderen auf die Gewährung des Zugangs zu allen Dokumenten der ungarischen Regierung zum EU‑Pilotverfahren 6874/14/JUST (CHAP[2015]00353 und CHAP[2015]00555), unabhängig davon, ob sie bereits vorliegen oder erst in Zukunft vorgelegt werden sollen, gerichtete Klage als offensichtlich unzulässig abgewiesen hat.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtener Beschluss
2 Mit Klageschrift, die am 16. November 2015 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob PITEE Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Beschlüsse und darauf, der Europäischen Kommission aufzuerlegen, ihr alle Dokumente der ungarischen Regierung zum EU‑Pilotverfahren 6874/14/JUST (CHAP[2015]00353 und CHAP[2015]00555) zugänglich zu machen, unabhängig davon, ob sie bereits vorliegen oder erst in Zukunft vorgelegt werden sollen.
3 Die eingereichte Klageschrift trug allein die Unterschrift des Vorsitzenden von PITEE, Rechtsanwalt Denes Lazar.
4 Da das Gericht die Klage deshalb für offensichtlich unzulässig hielt, hat es gemäß Art. 126 seiner Verfahrensordnung die Entscheidung getroffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen. Dabei hat es sich auf folgende Erwägungen gestützt:
„7 Nach Art. 19 Abs. 3 und 4 und Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, die gemäß Art. 53 Abs. 1 der Satzung auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar sind, und nach Art. 73 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts müssen andere Parteien als die Mitgliedstaaten, die Organe der Europäischen Union, die Überwachungsbehörde der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und die Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durch einen Anwalt vertreten sein, der berechtigt ist, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines anderen Vertragsstaats des EWR-Abkommens aufzutreten. Ferner muss die Klageschrift Namen und Wohnsitz des Klägers und die Stellung des Unterzeichnenden enthalten. Schließlich muss das Original jedes Verfahrensschriftstücks von dem Bevollmächtigten oder Anwalt der Partei unterzeichnet sein.
8 Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich aus den vorstehend genannten Bestimmungen und insbesondere aus der Verwendung des Begriffs ‚vertreten‘ in Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass sich eine ‚Partei‘ im Sinne dieses Artikels bei der Erhebung einer Klage vor dem Gericht eines Dritten zu bedienen hat, der berechtigt sein muss, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines Vertragsstaats des EWR‑Abkommens aufzutreten (Beschlüsse vom 5. Dezember 1996, Lopes/Gerichtshof, C‑174/96 P, EU:C:1996:473, Rn. 11, vom 21. November 2007, Correia de Matos/Parlament, C‑502/06 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2007:696, Rn. 11, und vom 29. September 2010, EREF/Kommission, C‑74/10 P und C‑75/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:557, Rn. 54).
9 Herr Denes Lazar, der anwaltliche Vertreter [von PITEE], kann für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache nicht als ein von der Klägerin unabhängiger ‚Dritter‘ im Sinne der oben in Rn. 8 angeführten Rechtsprechung angesehen werden. Er ist nämlich Vorsitzender und damit ‚leitendes Organ‘ [von PITEE]. Rechtanwälte, die Leitungsfunktionen in den Gesellschaftsorganen einer juristischen Person bekleiden, können jedoch nach gefestigter Rechtsprechung nicht deren Interessen vor dem Unionsrichter wahrnehmen (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 8. Dezember 1999, Euro-Lex/HABM [EU-LEX], T‑79/99, EU:T:1999:312, Rn. 29, vom 13. Januar 2005, Sulvida/Kommission, T‑184/04, EU:T:2005:7, Rn. 10, und vom 30. November 2012, Activa Preferentes/Rat, T‑437/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:638, Rn. 7).
10 Da die Klageschrift von Herrn Lazar unterzeichnet wurde, ist die vorliegende Klage folglich nicht im Einklang mit Art. 19 Abs. 3 und 4 und Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie Art. 73 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts erhoben worden.“
Anträge der Parteien
5 PITEE beantragt,
– den angefochtenen Beschluss aufzuheben,
– die streitigen Beschlüsse für nichtig zu erklären und der Kommission aufzuerlegen, ihr alle Dokumente der ungarischen Regierung zum EU‑Pilotverfahren 6874/14/JUST (CHAP[2015]00353 und CHAP[2015]00555) zugänglich zu machen, unabhängig davon, ob sie bereits vorliegen oder erst in der Zukunft vorgelegt werden sollen, und
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
6 Die Kommission beantragt,
– das Rechtsmittel als unzulässig, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen und
– PITEE die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
7 Nach Art. 181 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof das Rechtsmittel, wenn es ganz oder teilweise offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist, jederzeit auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts ganz oder teilweise durch mit Gründen versehenen Beschluss zurückweisen.
8 Nach dieser Bestimmung ist zu entscheiden.
Vorbringen der Parteien
9 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht PITEE geltend, das Gericht habe seine Pflicht verletzt, innerhalb angemessener Frist zu entscheiden, und somit gegen Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen, weil zwischen der Klageerhebung und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses mehr als acht Monate vergangen seien.
10 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund rügt PITEE einen Verstoß gegen den durch Art. 47 der Charta und durch Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz.
11 PITEE trägt insoweit vor, die im vorliegenden Fall vom Gericht angewandte ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs schränke ihr Recht und das Recht anderer juristischer Personen ein, ihren Prozessbevollmächtigten frei zu wählen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) dürfe das Recht auf Zugang zu den Gerichten jedoch nur dann eingeschränkt werden, wenn die Einschränkung ein legitimes Ziel verfolge und verhältnismäßig sei.
12 Indessen lasse sich zum einen der genannten Rechtsprechung nicht klar entnehmen, welches legitime Ziel mit dieser Auslegung von Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union verfolgt werde, und zum anderen gebe der Grundsatz eines fairen Verfahrens keinen Anlass zu einer solchen Einschränkung der Wahl des Prozessbevollmächtigten. Dieser Grundsatz verlange nämlich, dass jede Partei ohne staatlichen Eingriff einen Prozessbevollmächtigten wählen dürfe.
13 Es gebe insbesondere keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine Interessenkollision bestehe, wenn eine Partei, die als Anwalt zugelassen sei, sich selbst vertrete oder wenn ein Anwalt, der Leitungsfunktionen in einer juristischen Person wahrnehme, die juristische Person vertrete.
14 Der Wortlaut der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union erlaube jedoch auch eine andere Auslegung der einschlägigen Bestimmungen, nach der die Verpflichtung nur im Anwaltszwang für alle Verfahren vor den Unionsgerichten bestehe; diese Pflicht sei mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar. Daher sei diese Auslegung vorzuziehen.
15 Die Kommission macht in erster Linie geltend, das Rechtsmittel sei unzulässig. Zum einen stehe seiner Zulässigkeit, da es nur von Herrn Lazar unterzeichnet sei, derselbe Formfehler entgegen wie der, den das Gericht in den Rn. 7 bis 10 des angefochtenen Beschlusses festgestellt habe. Zum anderen gehe der zweite Rechtsmittelantrag von PITEE dahin, dass der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst endgültig entscheide, obwohl er nicht entscheidungsreif sei. Hilfsweise führt die Kommission aus, das Rechtsmittel sei als unbegründet zurückzuweisen.
Würdigung durch den Gerichtshof
16 Soweit die Kommission geltend macht, das Rechtsmittel weise denselben Formfehler auf wie den, den das Gericht in den Rn. 7 bis 10 des angefochtenen Beschlusses festgestellt habe, ist einleitend festzustellen, dass Gegenstand des vorliegenden Rechtsmittels gerade die dessen Zulässigkeit betreffende Rechtsfrage ist, so dass es in der Sache zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Prezes Urzędu Komunikacji Elektronicznej/Kommission, C‑422/11 P und C‑423/11 P, EU:C:2012:553, Rn. 20).
17 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht PITEE geltend, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, weil das Gericht seine Pflicht verletzt habe, innerhalb angemessener Frist zu entscheiden.
18 Selbst wenn diese Pflichtverletzung vorläge, kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Dauer des Verfahrens vor dem Gericht Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils oder Beschlusses führen. Ohne solche Auswirkungen würde die Aufhebung des angefochtenen Urteils oder Beschlusses den vom Gericht begangenen Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nämlich nicht heilen (Urteil vom 14. September 2016, Ori Martin und SLM/Kommission, C‑490/15 P und C‑505/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:678, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Im vorliegenden Fall hat PITEE dem Gerichtshof keinen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass sich die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist durch das Gericht – ihren Nachweis unterstellt – darauf ausgewirkt hat, wie es über den Rechtsstreit entschieden hat.
20 Daher ist der erste Rechtsmittelgrund als ins Leere gehend zurückzuweisen.
21 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht PITEE geltend, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, weil das Gericht Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union in einer weder mit dem Wortlaut noch mit den Zielen dieses Artikels vereinbaren und gegen Art. 47 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Weise ausgelegt habe.
22 Nach Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union müssen „[die] anderen Parteien [als die Mitgliedstaaten, die Unionsorgane, die Vertragsstaaten des EWR-Abkommens, die nicht Mitgliedstaaten sind, und die EFTA-Überwachungsbehörde] durch einen Anwalt vertreten sein“.
23 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 der Satzung und insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „vertreten“, dass eine „Partei“ im Sinne dieser Bestimmung unabhängig von ihrer Eigenschaft nicht selbst vor dem Gerichtshof auftreten darf, sondern sich eines Dritten bedienen muss, und zwar eines Anwalts, der berechtigt ist, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines anderen Vertragsstaats des EWR-Abkommens aufzutreten. Andere Bestimmungen der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union oder der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – wie Art. 21 Abs. 1 der Satzung sowie die Art. 44 Abs. 1 Buchst. b, 57 Abs. 1 und 119 Abs. 1 der Verfahrensordnung – bestätigen, dass eine Partei und ihr Vertreter nicht ein und dieselbe Person sein können (Beschluss vom 16. März 2006, Correia de Matos/Kommission, C‑200/05 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2006:187, Rn. 10).
24 Der Gerichtshof hat insoweit bereits entschieden, dass aus den Art. 19 Abs. 3 und 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie aus den Art. 44 Abs. 1 Buchst. b und 57 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs eindeutig hervorgeht, dass sich ein Kläger durch eine hierzu berechtigte Person vertreten lassen muss und dass der Gerichtshof nur durch eine von dieser Person unterzeichnete Klageschrift wirksam angerufen werden kann. Da weder in der Satzung noch in der Verfahrensordnung eine Abweichung oder Ausnahme von dieser Pflicht vorgesehen ist, kann somit die Einreichung einer vom Kläger selbst unterzeichneten Klageschrift für die Erhebung einer Klage nicht ausreichen. Dies gilt auch dann, wenn der Kläger ein zum Auftreten vor einem nationalen Gericht berechtigter Anwalt ist (Beschluss vom 16. März 2006, Correia de Matos/Kommission, C‑200/05 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2006:187, Rn. 11).
25 Daher kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine juristische Person vor den Unionsgerichten nicht wirksam durch einen Anwalt vertreten werden, der in der Körperschaft, die er vertritt, Leitungsfunktionen bekleidet, wie sie im vorliegenden Fall vom Gericht in Rn. 9 des angefochtenen Beschlusses festgestellt worden sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Dezember 2014, ADR Center/Kommission, C‑259/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2417, Rn. 23 und 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Folglich ist das auf den Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union gestützte Vorbringen von PITEE als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
27 Zweitens geht aus derselben ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig hervor, dass das Erfordernis der Vertretung durch einen Dritten zum einen verhindern soll, dass Privatpersonen Rechtsstreitigkeiten selbst führen, ohne einen Vermittler einzuschalten, und zum anderen gewährleisten soll, dass juristische Personen durch einen Vertreter verteidigt werden, der von der juristischen Person, die er vertritt, hinreichend unabhängig ist (Beschluss vom 4. Dezember 2014, ADR Center/Kommission, C‑259/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2417, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Der Gerichtshof hat insbesondere ausgeführt, dass die Vorstellung von der Funktion des Rechtsanwalts in der Unionsrechtsordnung, die sich aus den gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten ergibt und auf der Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union fußt, die eines Organs der Rechtspflege ist, das in völliger Unabhängigkeit und im höheren Interesse der Rechtspflege die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die der Mandant benötigt (Beschluss vom 4. Dezember 2014, ADR Center/Kommission, C‑259/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2417, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Das Erfordernis der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts wird jedoch nicht nur positiv definiert, und zwar unter Bezugnahme auf die berufsständischen Pflichten, sondern auch negativ, und zwar durch das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses mit der vertretenen Partei (Urteil vom 6. September 2012, Prezes Urzędu Komunikacji Elektronicznej/Kommission, C‑422/11 P und C‑423/11 P, EU:C:2012:553, Rn. 24).
30 Folglich entbehrt das Vorbringen von PITEE, dass der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union klare und legitime Ziele fehlten, jeder Grundlage.
31 Drittens ist in Bezug auf die gerügten Verstöße gegen Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der des EGMR das Recht auf Zugang zu den Gerichten kein absolutes Recht ist und daher verhältnismäßigen, einem legitimen Zweck dienenden und dieses Recht nicht in seinem Wesensgehalt antastenden Beschränkungen unterworfen sein kann (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Im vorliegenden Fall hat PITEE jedenfalls nichts vorgebracht, was darauf schließen ließe, dass ihr Zugang zu den Unionsgerichten durch die in Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union enthaltene Pflicht, sich durch einen unabhängigen Anwalt vertreten zu lassen, unverhältnismäßig beeinträchtigt wurde oder dass diese Pflicht den Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in seinem Wesensgehalt antastet.
33 Anders als PITEE offenbar meint, macht Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach seiner Auslegung in der oben angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nämlich zunächst keine speziellen Vorgaben hinsichtlich des mit ihrer Vertretung betrauten Anwalts.
34 Ferner steht diese Rechtsprechung einer Unterzeichnung der Klageschrift durch den Vorsitzenden von PITEE, Herrn Lazar, nicht entgegen, sofern sie auch von einer Person unterzeichnet wird, die ein unabhängiger Anwalt im Sinne dieser Rechtsprechung ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Juli 2012, Mugraby/Rat und Kommission, C‑581/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:466, Rn. 37).
35 Schließlich wird durch die genannte Rechtsprechung nicht ausgeschlossen, dass PITEE Herrn Lazar mit ihrer Vertretung vor den Unionsgerichten betraut; er darf nur nicht neben einer solchen Vertretung zugleich Leitungsfunktionen in der Gesellschaft ausüben. Folglich steht es PITEE frei, sich allein durch Herrn Lazar vertreten zu lassen, sofern er zuvor den Status eines unabhängigen Anwalts im Sinne der genannten Rechtsprechung erlangt hat.
36 Nach alledem ist das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
Kosten
37 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist.
38 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach ihrem Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
39 Da PITEE mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) beschlossen:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Pénzügyi Ismeretterjesztő és Érdek-képviseleti Egyesület (PITEE) trägt die Kosten.
Luxemburg, den 6. April 2017
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
A. Calot Escobar
E. Regan
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 4. April 2017.#Europäischer Bürgerbeauftragter gegen Claire Staelen.#Rechtsmittel – Außervertragliche Haftung der Europäischen Union – Behandlung einer Beschwerde über den Umgang mit der Eignungsliste eines allgemeinen Auswahlverfahrens – Sorgfaltspflichtverletzungen – Begriff ‚hinreichend qualifizierter Verstoß‘ gegen eine Unionsrechtsnorm – Immaterieller Schaden – Verlust des Vertrauens in die Institution des Europäischen Bürgerbeauftragten.#Rechtssache C-337/15 P.
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62015CJ0337
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ECLI:EU:C:2017:256
| 2017-04-04T00:00:00 |
Gerichtshof, Wahl
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0337
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
4. April 2017 (*1)
„Rechtsmittel — Außervertragliche Haftung der Europäischen Union — Behandlung einer Beschwerde über den Umgang mit der Eignungsliste eines allgemeinen Auswahlverfahrens — Sorgfaltspflichtverletzungen — Begriff ‚hinreichend qualifizierter Verstoß‘ gegen eine Unionsrechtsnorm — Immaterieller Schaden — Verlust des Vertrauens in die Institution des Europäischen Bürgerbeauftragten“
In der Rechtssache C‑337/15 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 6. Juli 2015,
Europäischer Bürgerbeauftragter, zunächst vertreten durch G. Grill, dann durch L. Papadias und P. Dyrberg als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Claire Staelen, wohnhaft in Bridel (Luxemburg), Prozessbevollmächtigte: V. Olona, avocate,
Klägerin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz und J. L. da Cruz Vilaça, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatter), der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: V. Giacobbo-Peronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2016
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel begehrt der Europäische Bürgerbeauftragte die Teilnichtigerklärung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 29. April 2015, Staelen/Bürgerbeauftragter (T‑217/11, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2015:238), mit dem der Klage von Frau Claire Staelen auf Ersatz des ihr durch die Behandlung ihrer Beschwerde über den nicht ordnungsgemäßen Umgang des Europäischen Parlaments mit dem Verzeichnis der geeigneten Bewerber des allgemeinen Auswahlverfahrens EUR/A/151/98 (im Folgenden: Eignungsliste) entstandenen Schadens teilweise stattgegeben wurde. Frau Staelen war in der Eignungsliste als erfolgreiche Teilnehmerin des Auswahlverfahrens aufgeführt.
Rechtlicher Rahmen
2 Im dritten Erwägungsgrund des Beschlusses 94/262/EGKS, EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten (ABl. 1994, L 113, S. 15) heißt es:
„Der Bürgerbeauftragte, der auch auf eigene Initiative tätig werden kann, muss über alle für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Mittel verfügen. Im Hinblick darauf sind die Organe und Institutionen der [Union] verpflichtet, dem Bürgerbeauftragten auf Anfrage die von ihm erbetenen Auskünfte zu erteilen …“
3 Art. 3 des Beschlusses 94/262 bestimmt:
„(1) Der Bürgerbeauftragte führt von sich aus oder aufgrund einer Beschwerde alle Untersuchungen durch, die er zur Klärung eines vermuteten Missstands bei der Tätigkeit der Organe und Institutionen der [Union] für gerechtfertigt hält. …
(2) Die Organe und Institutionen der [Union] sind verpflichtet, dem Bürgerbeauftragten die von ihm erbetenen Auskünfte zu erteilen, und gewähren ihm Zugang zu den betreffenden Unterlagen. …
…“
4 Im zweiten Erwägungsgrund des Beschlusses 2008/587/EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 18. Juni 2008 zur Änderung des Beschlusses 94/262 (ABl. 2008, L 189, S. 25) heißt es:
„Das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit des Bürgerbeauftragten, in Fällen möglicher Missstände gründliche und unparteiische Untersuchungen vorzunehmen, ist für den Erfolg der Tätigkeit des Bürgerbeauftragten von grundlegender Bedeutung.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
5 Am 14. November 2006 legte Frau Staelen beim Bürgerbeauftragten eine Beschwerde wegen eines Missstands beim Umgang des Parlaments mit der Eignungsliste ein.
6 Der Bürgerbeauftragte stellte am 22. Oktober 2007 in seiner Entscheidung zum Abschluss der Untersuchung (im Folgenden: ursprüngliche Untersuchung) fest, dass es beim Parlament keinen Missstand gegeben habe (im Folgenden: Entscheidung vom 22. Oktober 2007).
7 Am 29. Juni 2010 beschloss der Bürgerbeauftragte, eine Untersuchung aus eigener Initiative durchzuführen, um die Sache noch einmal zu überprüfen (im Folgenden: Untersuchung aus eigener Initiative).
8 In seiner Entscheidung zum Abschluss der Untersuchung aus eigener Initiative stellte der Bürgerbeauftragte am 31. März 2011 erneut fest, dass es beim Parlament keinen Missstand gegeben habe (im Folgenden: Entscheidung vom 31. März 2011).
Klage vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
9 Mit Klageschrift, die am 20. April 2011 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Frau Staelen gegen den Bürgerbeauftragten Klage auf Ersatz des durch dessen Fehler bei der ursprünglichen Untersuchung und der Untersuchung aus eigener Initiative entstandenen materiellen und immateriellen Schadens.
10 In den Rn. 75 bis 161 des angefochtenen Urteils hat sich das Gericht mit einem ersten Komplex von Rügen von Frau Staelen befasst, mit denen diese geltend machte, der Bürgerbeauftragte habe sowohl in der ursprünglichen Untersuchung als auch in der Untersuchung aus eigener Initiative nicht alle Überprüfungen durchgeführt, die für die Aufdeckung und Klärung der in ihrer Beschwerde beanstandeten Missstände erforderlich gewesen wären. Hierzu enthalten die Rn. 75 bis 88 des angefochtenen Urteils zunächst einige „Vorbemerkungen“.
11 Im Rahmen dieser Vorbemerkungen hat das Gericht in den Rn. 75 bis 85 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass der Bürgerbeauftragte hinsichtlich der Beurteilung der Begründetheit einer bei ihm eingelegten Beschwerde und der im Anschluss an die Beschwerde zu ergreifenden Maßnahmen und hinsichtlich der bei der Behandlung der Beschwerde oder im Rahmen einer Untersuchung aus eigener Initiative zu treffenden Maßnahmen zur Einholung von Informationen zwar über ein weites Ermessen verfüge und in diesem Zusammenhang nicht verpflichtet sei, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Dadurch sei er aber nicht von der Beachtung des Sorgfaltsgrundsatzes entbunden, nämlich der Pflicht, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen.
12 Hierzu hat das Gericht in den Rn. 85 bis 87 des angefochtenen Urteils weiter ausgeführt:
„85
… Daraus folgt, dass der Bürgerbeauftragte, auch wenn er frei über die Einleitung einer Untersuchung entscheiden und, wenn er sich dazu entschließt, alle Untersuchungsmaßnahmen ergreifen kann, die er für gerechtfertigt hält, sich gleichwohl zu vergewissern hat, dass er nach diesen Untersuchungsmaßnahmen in der Lage ist, sorgfältig und unvoreingenommen alle relevanten Gesichtspunkte zu prüfen, um über die Begründetheit eines sich auf einen Fall von Missstand in der Verwaltung beziehenden Vorbringens und die im Anschluss an dieses Vorbringen gegebenenfalls zu ergreifenden Maßnahmen zu entscheiden … Dass der Bürgerbeauftragte bei der Ausübung seiner Befugnisse den Sorgfaltsgrundsatz wahrt, ist umso wichtiger, als ihm nach Art. 228 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses 94/262 gerade die Aufgabe übertragen worden ist, im allgemeinen Interesse und im Interesse des betroffenen Bürgers Fälle von Missstand in der Verwaltung festzustellen und möglichst zu beseitigen.
86 Der Bürgerbeauftragte verfügt daher über kein Ermessen hinsichtlich der Einhaltung des Sorgfaltsgrundsatzes in einem konkreten Fall. Demzufolge reicht eine bloße Verletzung des Sorgfaltsgrundsatzes aus, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß im Sinne der oben in Rn. 70 angeführten Rechtsprechung anzunehmen …
87 Es ist jedoch auch hervorzuheben, dass nicht jede vom Bürgerbeauftragten begangene Rechtsverletzung einen Verstoß gegen den Sorgfaltsgrundsatz … darstellt. Nur eine in Ausübung seiner Untersuchungsbefugnisse begangene Rechtsverletzung, die zur Folge hat, dass er nicht alle relevanten Gesichtspunkte sorgfältig und unvoreingenommen prüfen konnte, um über die Begründetheit einer sich auf einen Fall von Missstand in der Verwaltungstätigkeit eines Organs, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union beziehenden Behauptung und die darauf gegebenenfalls zu ergreifenden Maßnahmen zu entscheiden, kann die außervertragliche Haftung der Union für einen Verstoß gegen den Sorgfaltsgrundsatz auslösen …“
13 In den Rn. 89 bis 146 des angefochtenen Urteils hat sich das Gericht dann mit den verschiedenen Punkten befasst, die Frau Staelen im Zusammenhang mit der Durchführung der ursprünglichen Untersuchung an der Vorgehensweise des Bürgerbeauftragten beanstandet hat. Es hat insoweit in den Rn. 141 bis 146 des angefochtenen Urteils entschieden, dass der Bürgerbeauftragte seine Sorgfaltspflicht in dreifacher Hinsicht verletzt habe und dass diese Verstöße hinreichend qualifiziert seien, um die Haftung der Union auszulösen. Die Verstöße hätten darin bestanden, dass der Bürgerbeauftragte erstens den Inhalt der Stellungnahme des Parlaments verzerrt dargestellt habe, zweitens bei seiner Prüfung der Frage, ob das Parlament den anderen Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union Informationen über die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste übermittelt habe, seine Sorgfaltspflicht verletzt habe, und drittens auch bei der Prüfung der Frage, ob das Parlament seinen Generaldirektionen Informationen über die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste übermittelt habe, seine Sorgfaltspflicht verletzt habe.
14 In den Rn. 162 bis 223 hat sich das Gericht mit einem zweiten Komplex von Rügen von Frau Staelen befasst, die offensichtliche Beurteilungsfehler betreffen, die der Bürgerbeauftragte begangen haben soll. Es ist in den Rn. 205 und 223 des angefochtenen Urteils zu dem Schluss gelangt, dass dieser bei der Untersuchung der Frage, ob Frau Staelen gegenüber anderen erfolgreichen Teilnehmern des Auswahlverfahrens wegen der Dauer der Aufnahme in die Eignungsliste diskriminiert worden sei, hinreichend qualifiziert gegen seine Sorgfaltspflicht verstoßen habe. Er habe sich insoweit nämlich auf eine bloße Behauptung des Parlaments hinsichtlich der Dauer der Aufnahme der übrigen erfolgreichen Bewerber in die Eignungsliste gestützt, ohne Informationen erhalten zu haben, die den Zeitpunkt der Einstellung der übrigen erfolgreichen Bewerber belegten, eine Behauptung, die sich in der Folge als unzutreffend erwiesen habe.
15 Zu einem dritten Komplex von Rügen, mit denen u. a. ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Frist geltend gemacht wurde, hat das Gericht in Rn. 269 des angefochtenen Urteils entschieden, dass die unangemessene Frist, in der der Bürgerbeauftragte auf die beiden Schreiben von Frau Staelen geantwortet habe, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstelle, die bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der geeignet sei, die Haftung der Union auszulösen.
16 Schließlich hat das Gericht geprüft, ob ein ersatzfähiger Schaden und ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Schaden und den verschiedenen von ihm festgestellten Rechtsverletzungen bestünden. Es hat in den Rn. 288 bis 294 des angefochtenen Urteils u. a. entschieden, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall bei dem immateriellen Schaden, den Frau Staelen aufgrund der Rechtsverletzungen durch den Verlust des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragen und das Gefühl von Zeit- und Energieverlust erlitten habe, erfüllt seien.
17 Das Gericht ist zu dem Schluss gelangt, dass der Bürgerbeauftragte bei der ursprünglichen Untersuchung und der Untersuchung aus eigener Initiative seine Sorgfaltspflicht in vierfacher Hinsicht verletzt habe und auf zwei Schreiben von Frau Staelen in unangemessener Frist geantwortet habe. Es hat der Klage von Frau Staelen daher teilweise stattgegeben und den Bürgerbeauftragten verurteilt, an Frau Staelen als Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden 7000 Euro zu zahlen.
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
18 Der Bürgerbeauftragte beantragt mit seinem Rechtsmittel,
—
das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als mit ihm festgestellt werde, dass er mehrere Rechtsverletzungen begangen habe, die hinreichend qualifizierte Verstöße gegen das Unionsrecht darstellten, dass ein immaterieller Schaden dargetan worden sei und dass zwischen den vom Gericht festgestellten Rechtsverletzungen und diesem immateriellen Schaden ein Kausalzusammenhang bestehe, und als er verurteilt werde, eine Entschädigung in Höhe von 7000 Euro zu zahlen;
—
soweit das angefochtene Urteil aufgehoben wird, selbst über die Klage von Frau Staelen zu entscheiden und sie als unbegründet abzuweisen;
—
hilfsweise, soweit das angefochtene Urteil aufgehoben wird, die Sache an das Gericht zurückzuverweisen;
—
über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden.
19 Frau Staelen beantragt in ihrer Rechtsmittelbeantwortung,
—
das Rechtsmittel als teils unzulässig, jedenfalls aber als unbegründet zurückzuweisen;
—
den Bürgerbeauftragten zu verurteilen, an sie als Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden 50000 Euro zu zahlen;
—
dem Bürgerbeauftragten die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des ersten Rechtszugs aufzuerlegen.
20 Frau Staelen hat am 8. Oktober 2015 ein Anschlussrechtsmittel gegen das angefochtene Urteil eingelegt, das mit Beschluss des Gerichtshofs vom 29. Juni 2016, Bürgerbeauftragter/Staelen (C‑337/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:670), gemäß Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zurückgewiesen worden ist. Die Entscheidung über das Rechtsmittel und die Kosten des Anschlussrechtsmittels ist vorbehalten worden.
Zur Zulässigkeit des Antrags von Frau Staelen, den Bürgerbeauftragten zu verurteilen, an sie 50000 Euro zu zahlen
21 Wie oben in Rn. 19 ausgeführt, beantragt Frau Staelen in ihrer Rechtsmittelbeantwortung, das Rechtsmittel des Bürgerbeauftragten vollständig zurückzuweisen und diesen zu verurteilen, an sie als Entschädigung für den immateriellen Schaden, den er ihr zugefügt habe, 50000 Euro zu zahlen.
22 Nach Art. 174 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs müssen die Anträge der Rechtsmittelbeantwortung aber auf die vollständige oder teilweise Stattgabe oder Zurückweisung des Rechtsmittels gerichtet sein.
23 Der Antrag von Frau Staelen, den Bürgerbeauftragten zu verurteilen, an sie 50000 Euro zu zahlen, ist daher unzulässig.
Zum Rechtsmittel
24 Der Bürgerbeauftragte macht fünf Rechtsmittelgründe geltend.
Zum ersten Rechtsmittelgrund
25 Mit dem ersten, aus vier Teilen bestehenden Rechtsmittelgrund wird gerügt, dem Gericht seien hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals der außervertraglichen Haftung der Union, nämlich dem Vorliegen eines „hinreichend qualifizierten“ Verstoßes gegen eine Unionsrechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, Rechtsfehler unterlaufen.
Zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes
– Vorbringen der Parteien
26 Der Bürgerbeauftragte macht geltend, das Gericht habe in Rn. 86 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft angenommen, dass eine bloße Verletzung des Sorgfaltsgrundsatzes, nämlich der Pflicht, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, ausreiche, um einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, anzunehmen und damit eine Rechtsverletzung, die geeignet sei, die Haftung der Union auszulösen.
27 Frau Staelen hält den ersten Teil des Rechtsmittelgrundes für unzulässig. Die Würdigung der Tatsachen sei Sache des Gerichts und nicht des Gerichtshofs bei einer Entscheidung über ein Rechtsmittel.
28 Was die Begründetheit angehe, so sei dem Gericht kein Rechtsfehler unterlaufen. Der Gerichtshof habe etwa in Rn. 50 des Urteils vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts (C‑234/02 P, EU:C:2004:174), entschieden, dass der Bürgerbeauftragte bei der Durchführung einer Untersuchung eine Handlungspflicht habe, was gerade der Beachtung der Sorgfaltspflicht entspreche, in Bezug auf die der Bürgerbeauftragte über kein Ermessen verfüge.
– Würdigung durch den Gerichtshof
29 Wie sich aus Art. 20 Abs. 2 Buchst. d AEUV ergibt, ist das Recht, den Europäischen Bürgerbeauftragten im Fall von Missständen bei der Tätigkeit der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zu befassen, ein insbesondere den Unionsbürgern zustehendes Recht, das auch in Art. 43 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.
30 Nach Art. 228 Abs. 1 AEUV ist der Bürgerbeauftragte befugt, Beschwerden über Missstände bei der Tätigkeit der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union entgegenzunehmen, zu untersuchen und über sie Bericht zu erstatten, führt er im Rahmen seines Auftrags von sich aus oder aufgrund von Beschwerden Untersuchungen durch, die er für gerechtfertigt hält, befasst er, wenn er einen Missstand festgestellt hat, das betreffende Organ, die betreffende Einrichtung oder sonstige Stelle, das bzw. die über eine Frist von drei Monaten verfügt, um ihm seine bzw. ihre Stellungnahme zu übermitteln, legt er anschließend dem Europäischen Parlament und dem betreffenden Organ, der betreffenden Einrichtung oder sonstigen Stelle einen Bericht vor und unterrichtet er den Beschwerdeführer über das Ergebnis dieser Untersuchungen.
31 Zur Möglichkeit des Beschwerdeführers, die Union wegen der Art und Weise der Behandlung seiner Beschwerde auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass insoweit seine ständige Rechtsprechung maßgeblich ist, nach der ein Ersatzanspruch besteht, wenn die drei Voraussetzungen erfüllt sind, dass die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und dass zwischen dem Verstoß gegen die Verpflichtung, die den Zuwiderhandelnden trifft, und dem der geschädigten Person entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht, und im Hinblick auf die zweite Voraussetzung klargestellt, dass das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht als hinreichend qualifiziert anzusehen ist, darin besteht, ob das betreffende Organ oder die betreffende Institution der Union die Grenzen, die seinem oder ihrem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat (Urteil vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts, C‑234/02 P, EU:C:2004:174, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Der Gerichtshof hat insoweit ferner darauf hingewiesen, dass bei der Prüfung der Frage, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, der die außervertragliche Haftung der Union für ein Verhalten des Bürgerbeauftragten auslösen kann, den Besonderheiten des Amtes des Bürgerbeauftragten Rechnung getragen werden muss. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Bürgerbeauftragte nur eine Handlungspflicht hat und über ein weites Ermessen verfügt (Urteil vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts, C‑234/02 P, EU:C:2004:174, Rn. 50).
33 Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen, dass der Bürgerbeauftragte hinsichtlich der Begründetheit einer Beschwerde und der im Anschluss an sie zu ergreifenden Maßnahmen zwar über ein weites Ermessen verfügt und in diesem Zusammenhang nicht verpflichtet ist, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, weshalb die Kontrolle des Unionsrichters beschränkt sein muss; es ist aber nicht auszuschließen, dass eine Person unter ganz außerordentlichen Umständen nachweisen kann, dass der Bürgerbeauftragte bei der Ausübung seines Amtes einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat, der geeignet ist, den betroffenen Bürger zu schädigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2004, Bürgerbeauftragter/Lamberts, C‑234/02 P, EU:C:2004:174, Rn. 52).
34 Die sich aus dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung ergebende Sorgfaltspflicht gilt generell für das Handeln der Unionsverwaltung in den Beziehungen zur Öffentlichkeit und gebietet, dass die Unionsverwaltung sorgsam und umsichtig handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Masdar [UK]/Kommission, C‑47/07 P, EU:C:2008:726, Rn. 92 und 93).
35 Demnach ist zur Zulässigkeit des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes festzustellen, dass der Bürgerbeauftragte damit entgegen dem Vorbringen von Frau Staelen nicht die Würdigung der Tatsachen durch das Gericht angreift, sondern einen Rechtsfehler rügt, der dem Gericht durch sein unrichtiges Verständnis des Begriffs „hinreichend qualifizierter Verstoß“ gegen das Unionsrecht, der geeignet ist, eine außervertragliche Haftung der Union auszulösen, unterlaufen sein soll. Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist also zulässig.
36 Zur Begründetheit ist festzustellen, dass das Gericht mit seiner Erwägung in Rn. 86 des angefochtenen Urteils, dass eine bloße Verletzung des Sorgfaltsgrundsatzes ausreiche, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß, der geeignet sei, die Haftung der Union auszulösen, anzunehmen, da der Bürgerbeauftragte hinsichtlich der Einhaltung des Sorgfaltsgrundsatzes in einem konkreten Fall über kein Ermessen verfüge, in mehrfacher Hinsicht gegen die oben in den Rn. 31, 32 und 33 dargestellten Grundsätze verstoßen hat.
37 Nach der oben in Rn. 31 dargestellten ständigen Rechtsprechung genügt für die Auslösung der außervertraglichen Haftung der Union nicht irgendein Verstoß. Es muss sich vielmehr um einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine den Einzelnen schützende Unionsrechtsnorm handeln. Verfügt ein Organ oder eine Einrichtung der Union über ein Ermessen, kann nur eine offenkundige, erhebliche Überschreitung der Grenzen dieses Ermessens einen solchen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstellen.
38 Dasselbe gilt aber bei einer Verletzung der Sorgfaltspflicht durch den Bürgerbeauftragten, die ihrem Wesen nach nicht automatisch ein rechtswidriges Verhalten darstellt, das geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen. Wie oben in den Rn. 32 und 33 ausgeführt, ist ein solcher Verstoß unter Berücksichtigung der Tatsache zu würdigen, dass der Bürgerbeauftragte bei der Ausübung seiner Amtstätigkeit nur eine Handlungspflicht hat und über ein weites Ermessen verfügt, erstens hinsichtlich der Begründetheit einer bei ihm erhobenen Beschwerde und der im Anschluss an die Beschwerde zu ergreifenden Maßnahmen, zweitens hinsichtlich der Modalitäten einer Untersuchung und von Ermittlungsmaßnahmen und drittens hinsichtlich der Auswertung der zusammengetragenen Informationen und der aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen.
39 Mit der Erwägung in Rn. 86 des angefochtenen Urteils, der Bürgerbeauftragte verfüge hinsichtlich der Einhaltung des Sorgfaltsgrundsatzes in einem konkreten Fall über kein Ermessen, so dass eine bloße Verletzung des Sorgfaltsgrundsatzes ausreiche, um anzunehmen, dass es sich dabei um einen hinreichend qualifizierten Verstoß handele, wollte sich das Gericht offensichtlich auf die in Rn. 71 des angefochtenen Urteils wiedergegebene Rechtsprechung beziehen, nach der die bloße Verletzung des Unionsrechts ausreichen kann, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht anzunehmen, wenn das Unionsorgan nur über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügt (vgl. u. a. Urteil vom 10. Dezember 2002, Kommission/Camar und Tico, C‑312/00 P, EU:C:2002:736, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Das Gericht durfte aber nicht feststellen, dass die Voraussetzungen einer außervertraglichen Haftung der Union wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht vorliegen, ohne bei der Sorgfaltspflicht, die das betreffende Organ bzw. die betreffende Einrichtung der Union zu beachten hat, den Bereich, die Umstände und den Kontext zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 1992, Finsider u. a./Kommission, C‑363/88 und C‑364/88, EU:C:1992:44, Rn. 24).
41 Die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen die den Bürgerbeauftragten treffende Sorgfaltspflicht setzt voraus, dass dieser nicht mit der gebotenen Sorgfalt und Umsicht gehandelt hat und auf diese Weise die Grenzen des Ermessens, über das er bei der Ausübung seiner Untersuchungsbefugnisse verfügt, offenkundig erheblich überschritten hat. Dabei sind im Hinblick auf die Ausübung der Untersuchungsbefugnisse alle Umstände zu berücksichtigen, die die betreffende Situation kennzeichnen, u. a. die Offenkundigkeit der mangelnden Sorgfalt des Bürgerbeauftragten bei der Durchführung seiner Untersuchung (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 30. Januar 1992, Finsider u. a./Kommission, C‑363/88 und C‑364/88, EU:C:1992:44, Rn. 22, und vom 10. Juli 2003, Kommission/Fresh Marine, C‑472/00 P, EU:C:2003:399, Rn. 31), ihre Entschuldbarkeit (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 30. Januar 1992, Finsider u. a./Kommission, C‑363/88 und C‑364/88, EU:C:1992:44, Rn. 22, und vom 4. Juli 2000, Haim, C‑424/97, EU:C:2000:357, Rn. 42 und 43) oder die Unangemessenheit und Unvertretbarkeit der aus der von ihm durchgeführten Untersuchung gezogenen Schlussfolgerungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 1991, Nölle, C‑16/90, EU:C:1991:402, Rn. 13).
42 Der Bürgerbeauftragte weist zu Recht darauf hin, dass der bloße Umstand, auf den das Gericht in Rn. 85 des angefochtenen Urteils abstellt, nämlich, dass die Aufgabe des Bürgerbeauftragten darin bestehe, Missstände in anderen Organen und Einrichtungen der Union festzustellen, die Feststellung in Rn. 86 des angefochtenen Urteils ebenfalls nicht zu rechtfertigen vermag.
43 Insoweit kann vom Bürgerbeauftragten zwar insbesondere im Hinblick auf die Aufgabe, die ihm durch den Vertrag übertragen ist, erwartet werden, dass er darauf bedacht ist, die Sorgfaltspflicht zu beachten, indem er seine Untersuchung sorgsam und umsichtig durchführt, auch wenn ihn lediglich eine Handlungspflicht trifft. Das heißt aber nicht, dass jede Verletzung der Sorgfaltspflicht, die den Bürgerbeauftragten bei der Durchführung einer Untersuchung trifft, automatisch einen „hinreichend qualifizierten Verstoß“ im Sinne der oben in den Rn. 31 und 32 dargestellten Rechtsprechung darstellte.
44 Wie der Bürgerbeauftragte zu Recht geltend gemacht hat, ändert die Feststellung in Rn. 87 des angefochtenen Urteils, dass nur eine vom Bürgerbeauftragten begangene Rechtsverletzung, die zur Folge hat, dass er nicht alle relevanten Gesichtspunkte sorgfältig und unvoreingenommen prüfen konnte, um über die Begründetheit einer sich auf einen Missstand beziehenden Behauptung zu entscheiden, die außervertragliche Haftung der Union für einen Verstoß gegen den Sorgfaltsgrundsatz auslösen könne, nichts an den Ausführungen oben in Rn. 41. Sie bezieht sich nämlich weder auf die Art der betreffenden Handlung oder Unterlassung noch auf die Frage, ob die Rechtsverletzung einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, sondern auf die Folgen einer festgestellten Rechtsverletzung.
45 Somit hat das Gericht, indem es in Rn. 86 des angefochtenen Urteils allgemein festgestellt hat, dass eine „bloße“ Verletzung des Sorgfaltsgrundsatzes einen „hinreichend qualifizierten Verstoß“ gegen eine den Einzelnen schützende Unionsrechtsnorm darstellt, der die außervertragliche Haftung der Union auslösen kann, einen Rechtsfehler begangen.
46 Ein solcher Rechtsfehler kann im vorliegenden Fall für sich genommen jedoch noch nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen. Um zu klären, ob das angefochtene Urteil aufzuheben ist, ist nämlich zu prüfen, ob das Gericht, wie der Bürgerbeauftragte im Rahmen des zweiten, des dritten und des vierten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes und im Rahmen des zweiten Rechtsmittelgrundes geltend macht, in der Folge den unzutreffenden Grundsatz, den es in Rn. 86 des angefochtenen Urteils aufgestellt hat, auch konkret angewandt hat und ob die Beurteilungen, mit denen das Gericht die verschiedenen Verhaltensweisen des Bürgerbeauftragten als „hinreichend qualifizierte Verstöße“ gegen die Sorgfaltspflicht eingestuft hat, unter diesem Rechtsfehler leiden.
Zu dem zweiten, dem dritten und dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes
– Vorbringen der Parteien
47 Mit dem zweiten, dem dritten und dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe wegen des Rechtsfehlers, der ihm in Rn. 86 des angefochtenen Urteils unterlaufen sei, drei weitere Rechtsfehler begangen, indem es in den Rn. 142, 143 und 144 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass die drei ihm zur Last gelegten Verletzungen der Sorgfaltspflicht hinreichend qualifiziert seien, um die außervertragliche Haftung der Union auszulösen.
48 Im Rahmen des zweiten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe in Rn. 142 des angefochtenen Urteils angenommen, dass er dadurch, dass er in seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2007 den Inhalt einer Stellungnahme des Parlaments verzerrt dargestellt habe, einen solchen hinreichend qualifizierten Verstoß begangen habe, und dies allein damit begründet, dass er, wenn es darum gehe, über den Inhalt eines Dokuments Rechenschaft abzulegen, über keinen Spielraum verfüge. Es habe damit gegen seine Verpflichtung verstoßen, bei der Prüfung der Frage, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß vorliege, sämtliche relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
49 Im Rahmen des dritten und des vierten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes, die gegen Rn. 143 bzw. Rn. 144 des angefochtenen Urteils gerichtet sind, macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe lediglich behauptet, dass die Sorgfaltsmängel, die ihm bei seinen Untersuchungen der Frage, ob das Parlament die übrigen Organe und ihre eigenen Generaldirektionen über die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste unterrichtet habe, unterlaufen sein sollten, nach dem von ihm in Rn. 86 des angefochtenen Urteils aufgestellten Grundsatz einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstellten. Es habe das Vorliegen eines solchen hinreichend qualifizierten Verstoßes also nicht festgestellt, sondern postuliert.
50 Außerdem habe sich das Gericht widersprochen. Es habe in Rn. 143 des angefochtenen Urteils angenommen, dass er nicht nachgewiesen habe, dass die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste den übrigen Organen der Union mitgeteilt worden sei, in Rn. 105 des angefochtenen Urteils hingegen, dass diese Organe spätestens ab dem 14. Mai 2007 über diese Informationen verfügt hätten.
51 Was Rn. 144 des angefochtenen Urteils angehe, in dem es um die Übermittlung dieser Information an die Generaldirektionen des Parlaments gehe, habe das Gericht ferner die Besonderheiten seiner Aufgabe nicht berücksichtigt. Es habe angenommen, dass er bei seinen Ermittlungen zu jedem einzelnen Gesichtspunkt seiner Untersuchung schriftliche Beweise beschaffen und in die Akte aufnehmen müsse.
52 Frau Staelen vertritt die Auffassung, bei der Prüfung der Frage, ob ein Sorgfaltsmangel verschuldet sei und einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstelle, sei es Sache des Gerichts, die tatsächliche und rechtliche Würdigung vorzunehmen, so dass der zweite, der dritte und der vierte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes unzulässig seien. Jedenfalls seien die Ausführungen des Gerichts in den Rn. 142, 143 und 144 rechtlich nicht zu beanstanden.
– Würdigung durch den Gerichtshof
53 Zur Zulässigkeit des zweiten, des dritten und des vierten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes ist zu bemerken, dass nach ständiger Rechtsprechung aus Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union folgt, dass allein das Gericht für die Feststellung der Tatsachen – sofern sich nicht aus den Prozessakten ergibt, dass seine Feststellungen tatsächlich falsch sind – und für ihre Würdigung zuständig ist. Hat das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt, so ist der Gerichtshof zur Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und der Rechtsfolgen, die das Gericht aus ihnen gezogen hat, befugt (vgl. u. a. Urteil vom 3. September 2009, Moser Baer India/Rat, C‑535/06 P, EU:C:2009:498, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). So hat der Gerichtshof wiederholt darauf hingewiesen, dass die Frage, ob das Gericht aus diesen Tatsachen zu Recht schließen konnte, dass die Unionsorgane ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben, eine Rechtsfrage ist, die der Nachprüfung durch den Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt (vgl. u. a. Urteil vom 3. September 2009, Moser Baer India/Rat, C‑535/06 P, EU:C:2009:498, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dasselbe gilt für die Frage, ob eine solche Sorgfaltspflichtverletzung darüber hinaus als „hinreichend qualifizierter Verstoß“ gegen das Unionsrecht, der die außervertragliche Haftung der Union auslösen kann, einzustufen ist.
54 Entgegen dem Vorbringen von Frau Staelen wird mit dem zweiten, dem dritten und dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes aber keine Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts begehrt, sondern die rechtliche Qualifizierung angegriffen, auf deren Grundlage das Gericht angenommen hat, dass der Bürgerbeauftragte im vorliegenden Fall hinreichend qualifizierte Verstöße gegen das Unionsrecht begangen habe.
55 Die von Frau Staelen erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.
56 Zur Begründetheit des zweiten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 102 des angefochtenen Urteils angenommen hat, dass der Bürgerbeauftragte den Inhalt der Stellungnahme des Parlaments sorgfaltswidrig verzerrt dargestellt habe. Dieser habe in Abschnitt 2.5 der Entscheidung vom 22. Oktober 2007 behauptet, dass die durchgeführte Untersuchung bestätigt habe, was das Parlament bereits in seiner Stellungnahme angegeben habe, nämlich, dass die Eignungsliste den übrigen Unionsorganen zur Verfügung gestellt worden sei. Davon sei in der Stellungnahme des Parlaments jedoch keine Rede.
57 Hierzu ist festzustellen, dass der Bürgerbeauftragte, wie oben in Rn. 38 ausgeführt, bei der Erfüllung seiner Aufgabe hinsichtlich der Entscheidung über eine bei ihm eingelegte Beschwerde und hinsichtlich der Modalitäten der Durchführung einer Untersuchung über ein weites Ermessen verfügt. Gibt er jedoch den Inhalt eines ihm vorgelegten Dokuments wieder, um, wie im vorliegenden Fall, die Schlussfolgerungen zu untermauern, zu denen er im Rahmen einer Entscheidung zum Abschluss einer Untersuchung gelangt, verfügt er lediglich über ein verringertes, wenn nicht gar auf null reduziertes Ermessen. Im Hinblick auf die oben in Rn. 39 wiedergegebene Rechtsprechung ist die Feststellung des Gerichts in Rn. 142 des angefochtenen Urteils, dass die verzerrte Darstellung des Inhalts der Stellungnahme des Parlaments vom 20. März 2007 einen hinreichend qualifizierten Verstoß darstelle, der die Haftung der Union auslösen könne, demnach nicht zu beanstanden.
58 Folglich ist der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen.
59 Zum dritten und zum vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass sich aus den Rn. 143 und 144 des angefochtenen Urteils ergibt, dass das Gericht bei der Einstufung der in den Rn. 109 und 140 des angefochtenen Urteils festgestellten Sorgfaltspflichtverletzungen wegen unzureichender Untersuchung der Übermittlung der Eignungsliste an die übrigen Organe bzw. die Generaldirektionen des Parlaments als „hinreichend qualifiziert“ lediglich auf die Ausführungen in Rn. 86 des angefochtenen Urteils verwiesen hat.
60 Der im Rahmen der Prüfung des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes festgestellte Rechtsfehler, der dem Gericht in Rn. 86 des angefochtenen Urteils unterlaufen ist, hat sich somit auf die Beurteilung ausgewirkt, mit der das Gericht in den Rn. 143 und 144 des angefochtenen Urteils die dem Bürgerbeauftragten im vorliegenden Fall zur Last gelegten Sorgfaltspflichtverletzungen als hinreichend qualifizierte Verstöße eingestuft hat, die die außervertragliche Haftung der Union auslösen können.
61 Dem dritten und dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist daher stattzugeben, ohne dass das übrige Vorbringen des Bürgerbeauftragten im Rahmen dieser Teile des Rechtsmittelgrundes geprüft zu werden braucht.
62 Folglich ist dem ersten, dem dritten und dem vierten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes stattzugeben. Der zweite Teil dieses Rechtsmittelgrundes ist hingegen zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
63 Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe ultra petita entschieden. Es habe in den Rn. 205 und 223 des angefochtenen Urteils angenommen, dass er dadurch, dass er sich auf eine Erläuterung des Parlaments verlassen habe, gegen den Grundsatz der Sorgfalt verstoßen habe. Frau Staelen habe in ihrer Klage aber einen offensichtlichen Beurteilungsfehler des Bürgerbeauftragten gerügt.
64 Mit dem zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe in Rn. 204 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft festgestellt, dass der Umstand, dass ihm die im Rahmen einer Untersuchung von einem Unionsorgan gegebene Erläuterung überzeugend erscheinen könne, ihn nicht von seiner Verantwortung befreie, sich zu vergewissern, dass der Sachverhalt, auf dem diese Erläuterung beruhe, erwiesen sei, wenn die Erläuterung die alleinige Grundlage für seine Feststellung darstelle, dass kein Missstand vorliege.
65 Mit dem dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Bürgerbeauftragte geltend, selbst wenn er den Fehler, den ihm das Gericht zur Last lege, begangen hätte, habe das Gericht nicht geprüft, ob dieser einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstelle. Das Gericht habe in Rn. 205 des angefochtenen Urteils lediglich festgestellt, dass der von ihm festgestellte Mangel an Sorgfalt die Haftung der Union auslösen könne.
66 Frau Staelen macht zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes geltend, das Gericht habe, indem es eine Verletzung der Sorgfaltspflicht durch den Bürgerbeauftragten festgestellt habe, keinen Gesichtspunkt berücksichtigt, der nicht in der Klageschrift enthalten gewesen sei. Es sei als Tatrichter befugt gewesen, die in der Klageschrift enthaltenen tatsächlichen und rechtlichen Angaben rechtlich neu einzuordnen.
67 Zum zweiten und zum dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht Frau Staelen geltend, der Bürgerbeauftragte dürfe sich zwar auf Angaben eines Unionsorgans stützen, sofern keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass sie nicht verlässlich seien. Dies komme hier aber nicht zum Tragen. Hauptaufgabe des Bürgerbeauftragten sei nämlich gerade, die Angaben der Verwaltung zu überprüfen.
Würdigung durch den Gerichtshof
68 In Rn. 205 des angefochtenen Urteils hat das Gericht festgestellt, dass der Bürgerbeauftragte nicht mit der erforderlichen Sorgfalt gehandelt habe, als er sich für die Feststellung, dass kein Missstand in der Verwaltungstätigkeit des Parlaments im Zusammenhang mit der Dauer der Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste vorliege, auf eine bloße Behauptung des Parlaments zur Einstellung der 22 auf Anhieb erfolgreichen Bewerber des Auswahlverfahrens EUR/A/151/98 verlassen habe, ohne Informationen erhalten zu haben, die den Zeitpunkt der Einstellung jedes einzelnen dieser erfolgreichen Bewerber belegten, eine Behauptung, die sich in der Folge als unzutreffend erwiesen habe. In derselben Randnummer ist das Gericht unter Verweis auf die Rn. 84, 85 und 86 des angefochtenen Urteils zu dem Schluss gelangt, dass dieser Mangel an Sorgfalt die Haftung der Union auslösen könne.
69 In Rn. 223 des angefochtenen Urteils hat das Gericht bekräftigt, dass der Bürgerbeauftragte infolge der mangelnden Sorgfalt bestimmte Tatsachen fälschlicherweise als erwiesen angesehen und daher fälschlicherweise daraus geschlossen habe, dass kein Missstand in der Verwaltungstätigkeit des Parlaments vorliege.
70 Zum ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass Frau Staelen ihre Klage, wie der Bürgerbeauftragte geltend macht und sich im Übrigen aus den Rn. 162 und 197 des angefochtenen Urteils ergibt, in der Tat darauf gestützt hat, dass der Bürgerbeauftragte dadurch einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe, dass er in der Entscheidung zum Abschluss der Untersuchung aus eigener Initiative vom 31. März 2011 angenommen habe, dass das Parlament sie gegenüber den übrigen erfolgreichen Teilnehmern des allgemeinen Auswahlverfahrens EUR/A/151/98 hinsichtlich der Dauer der Gültigkeit der Eignungsliste nicht diskriminiert habe.
71 Insoweit hat das Gericht in den Rn. 202 bis 205 des angefochtenen Urteils angenommen, dass der Bürgerbeauftragte im vorliegenden Fall dadurch seine Sorgfaltspflicht verletzt habe, dass er es zu Unrecht unterlassen habe, die Angaben des Parlaments zur jeweiligen Dauer der Aufnahme in das Verzeichnis der erfolgreichen Bewerber von Frau Staelen und den übrigen erfolgreichen Teilnehmern des Auswahlverfahrens zu überprüfen. Es hat damit im Kern entschieden, dass der Bürgerbeauftragte, weil er nicht sorgsam und umsichtig gehandelt habe, einen Beurteilungsfehler begangen habe, aufgrund dessen er zu Unrecht angenommen habe, dass beim Parlament kein Missstand vorliege.
72 Durch die andere rechtliche Einordnung hat das Gericht den geltend gemachten Klagegrund also nicht verfälscht und somit auch nicht ultra petita entschieden, so dass der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes zurückzuweisen ist.
73 Auf den zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes braucht nicht eingegangen zu werden. Zum dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass das Gericht dadurch, dass es in Rn. 205 des angefochtenen Urteils angenommen hat, dass der Sorgfaltsmangel, der dem Bürgerbeauftragten im vorliegenden Fall zur Last gelegt werde, einen hinreichend qualifizierten Verstoß darstelle, der die Haftung der Union auslösen könne, und sich insoweit darauf beschränkt hat, auf die Ausführungen in den Rn. 84, 85 und 86 des angefochtenen Urteils zu verweisen, einen Rechtsfehler begangen hat, der den bereits im Rahmen der Prüfung des dritten und des vierten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes festgestellten entspricht.
74 Der im Rahmen der Prüfung des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes oben in Rn. 45 festgestellte Rechtsfehler, der dem Gericht in Rn. 86 des angefochtenen Urteils hinsichtlich des Begriffs „hinreichend qualifizierter Verstoß“ gegen das Unionsrecht unterlaufen ist, hat sich nämlich auf die entsprechende Einstufung in Rn. 205 des angefochtenen Urteils ausgewirkt.
75 Somit ist dem dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes stattzugeben.
Zum dritten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
76 Mit dem dritten Rechtsmittelgrund macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe den Unterschied verkannt, der zwischen einem einfachen und einem „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen das Unionsrecht bestehe. Es habe in Rn. 269 des angefochtenen Urteils angenommen, dass die Nichteinhaltung der angemessenen Frist, innerhalb der Frau Staelen eine Antwort auf ihre Schreiben hätte erhalten müssen, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstelle, die bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, und damit, dass jede Überschreitung dieser angemessenen Frist die Haftung des Bürgerbeauftragten auslöse. Das Gericht habe damit seine Verpflichtung, alle entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, verletzt.
77 Frau Staelen meint, das angefochtene Urteil sei insoweit rechtlich nicht zu beanstanden.
Würdigung durch den Gerichtshof
78 Das Gericht hat in Rn. 256 des angefochtenen Urteils angenommen, dass der Bürgerbeauftragte seine Verpflichtung, in angemessener Frist auf die Schreiben von Frau Staelen zu antworten, zweimal verletzt habe. In Rn. 269 des angefochtenen Urteils hat es dann lapidar festgestellt, dass der Bürgerbeauftragte dadurch das Recht von Frau Staelen, in angemessener Frist eine Antwort zu erhalten, verletzt und somit einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Unionsrechtsnorm begangen habe, die bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, und dass dieser Verstoß geeignet sei, die Haftung der Union auszulösen.
79 Das Gericht ist also davon ausgegangen, dass jede Verletzung der Pflicht, in angemessener Frist tätig zu werden, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Unionsrechtsnorm darstelle.
80 Damit hat das Gericht die oben in den Rn. 31 bis 33 wiedergegebene Rechtsprechung verkannt.
81 Außerdem hat es in keiner Weise dargelegt, inwieweit der von ihm festgestellte Verstoß gegen das Unionsrecht „hinreichend qualifiziert“ sein soll.
82 Die Verpflichtung zur Begründung der Entscheidungen des Gerichtshofs ergibt sich aus Art. 36 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der nach deren Art. 53 Abs. 1 auf das Gericht anwendbar ist, und aus Art. 117 der Verfahrensordnung des Gerichts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2007, Naipes Heraclio Fournier/HABM, C‑311/05 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2007:572, Rn. 51).
83 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen aus der Begründung eines Urteils die Überlegungen des Gerichts klar und eindeutig hervorgehen, so dass die Betroffenen die Gründe für die Entscheidung des Gerichts erkennen können und der Gerichtshof seine Kontrollfunktion ausüben kann (vgl. u. a. Urteil vom 20. Januar 2011, General Química u. a./Kommission, C‑90/09 P, EU:C:2011:21, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
84 Im vorliegenden Fall kann der Gerichtshof wegen des Fehlens jeder Begründung für die vom Gericht in Rn. 269 des angefochtenen Urteils vorgenommene Einstufung des Verstoßes als „hinreichend qualifiziert“ nicht beurteilen, ob das Gericht damit einen Rechtsfehler begangen hat, wie der Bürgerbeauftragte mit seinem dritten Rechtsmittelgrund geltend macht.
85 Ein solches Fehlen einer Begründung, das eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften darstellt und somit die gerichtliche Überprüfung durch den Gerichtshof behindert, stellt einen Mangel dar, den der Gerichtshof von Amts wegen prüfen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Februar 1997, Kommission/Daffix, C‑166/95 P, EU:C:1997:73, Rn. 24, und vom 28. Januar 2016, Quimitécnica.com und de Mello/Kommission, C‑415/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:58, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
86 Folglich ist dem dritten Rechtsmittelgrund des Bürgerbeauftragten stattzugeben.
Zum vierten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
87 Der Bürgerbeauftragte macht geltend, das Gericht habe den durch Fehler des Bürgerbeauftragten entstandenen Vertrauensverlust einer Beschwerdeführerin in diese Institution in Rn. 290 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft als „immateriellen Schaden“ eingestuft. Es habe dies nicht einmal begründet.
88 Frau Staelen meint, das angefochtene Urteil sei insoweit rechtlich nicht zu beanstanden.
Würdigung durch den Gerichtshof
89 Wie sich aus Rn. 290 des angefochtenen Urteils ergibt, hat das Gericht anerkannt, dass Frau Staelen im vorliegenden Fall durch den Verlust des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragten und ihr Gefühl oder ihren Eindruck, dass sie mit der beim Bürgerbeauftragten eingelegten Beschwerde ihre Zeit und Energie verschwendet habe, ein immaterieller Schaden entstanden sei.
90 Der vierte Rechtsmittelgrund, mit dem das angefochtene Urteil hinsichtlich der ersten Komponente dieses immateriellen Schadens angegriffen wird, nämlich des Verlusts des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragten, besteht aus zwei Teilen. Gerügt wird sowohl, dass das Gericht diese Komponente zu Unrecht als „immateriellen Schaden“ eingestuft habe, als auch, dass dies ohne Begründung geschehen sei.
91 Zum ersten Teil des Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass der Schaden, für den Ersatz begehrt wird, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs tatsächlich und sicher sein muss (vgl. u. a. Urteile vom 7. Februar 1990, Culin/Kommission, C‑343/87, EU:C:1990:49, Rn. 27, vom 14. Mai 1998, Rat/de Nil und Impens, C‑259/96 P, EU:C:1998:224, Rn. 23, und vom 21. Februar 2008, Kommission/Girardot, C‑348/06 P, EU:C:2008:107, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
92 Im Hinblick auf die Aufgabe, mit der der Bürgerbeauftragte betraut ist, ist das Vertrauen der Unionsbürger in die Fähigkeit des Bürgerbeauftragten, in Fällen möglicher Missstände gründliche und unparteiische Untersuchungen vorzunehmen, sehr wichtig. Es ist für den Erfolg der Tätigkeit des Bürgerbeauftragten von grundlegender Bedeutung, wie es im zweiten Erwägungsgrund des Beschlusses 2008/587 heißt.
93 Dies gilt aber generell für jedes Organ, jede Einrichtung und jede sonstige Stelle der Union, die über einen konkreten Antrag zu befinden hat, etwa eine Beschwerde wie im vorliegenden Fall oder eine Klage oder allgemein irgendein Ersuchen, über das das Organ, die Einrichtung oder die sonstige Stelle zu entscheiden hat.
94 Außerdem kann der Verlust des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragten, wie er durch dessen Verhalten bei seinen Untersuchungen entstehen kann, alle Personen gleichermaßen betreffen, die das Recht haben, bei ihm jederzeit eine Beschwerde einzulegen.
95 Folglich hat das Gericht den von Frau Staelen behaupteten Verlust des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragten rechtsfehlerhaft als ersatzfähigen immateriellen Schaden eingestuft. Dem ersten Teil des vierten Rechtsmittelgrundes ist also stattzugeben, ohne dass über dessen zweiten Teil zu entscheiden ist.
Zum fünften Rechtsmittelgrund
96 Mit dem fünften Rechtsmittelgrund macht der Bürgerbeauftragte geltend, das Gericht habe in den Rn. 292 und 293 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft angenommen, dass die von ihm begangene Rechtsverletzung die ausschlaggebende Ursache für den immateriellen Schaden, den Frau Staelen wegen des Verlusts des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragten erlitten habe, darstelle.
97 In Anbetracht des Ergebnisses, zu dem der Gerichtshof oben in Rn. 95 gelangt ist, braucht auf den fünften Rechtsmittelgrund nicht mehr eingegangen zu werden.
Zur Teilaufhebung des angefochtenen Urteils
98 Da der erste, der dritte und der vierte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes, der dritte Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes und der dritte Rechtsmittelgrund begründet sind, sind von den fünf Rechtsverletzungen, die das Gericht dem Bürgerbeauftragten im angefochtenen Urteil zur Last gelegt hat, drei rechtsfehlerhaft und eine ohne jegliche Begründung als hinreichend qualifizierte Verstöße gegen das Unionsrecht, die die außervertragliche Haftung der Union auslösen können, eingestuft worden. Außerdem ist dem vierten Rechtsmittelgrund stattgegeben worden, weil das Gericht einen durch die Art und Weise, wie der Bürgerbeauftragte im vorliegenden Fall seine Untersuchung durchgeführt hat, bedingten Verlust des Vertrauens von Frau Staelen in die Institution des Bürgerbeauftragten rechtsfehlerhaft als ersatzfähigen immateriellen Schaden eingestuft hat.
99 Der Entscheidung des Gerichts, den Bürgerbeauftragten zu verurteilen, an Frau Staelen eine Entschädigung zu zahlen, ist damit die rechtliche Grundlage entzogen.
100 Folglich ist Nr. 1 des Tenors des angefochtenen Urteils aufzuheben.
101 Nr. 2 des Tenors des angefochtenen Urteils, mit dem das Gericht die Klage von Frau Staelen im Übrigen abgewiesen hat, ist hingegen nicht aufzuheben. Diese Entscheidung wird durch die teilweise Begründetheit des ersten, des zweiten, des dritten und des vierten Rechtsmittelgrundes nicht berührt.
102 Wegen der Teilaufhebung des angefochtenen Urteils ist auch die Kostenentscheidung des Gerichts (Nrn. 3 und 4 des Tenors des angefochtenen Urteils) aufzuheben.
Zur Klage vor dem Gericht
103 Nach Art. 61 Abs. 1 seiner Satzung kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
104 Dem Bürgerbeauftragten wird zunächst zur Last gelegt, er habe dadurch seine Sorgfaltspflicht verletzt, dass er es im Rahmen der Untersuchung aus eigener Initiative unterlassen habe, zu ermitteln, wann und wie die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste den übrigen Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union mitgeteilt worden sei.
105 Dieser Verstoß ist hinreichend qualifiziert, um eine außervertragliche Haftung der Union auslösen zu können.
106 Die Antwort auf die Frage, wann und wie die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union über die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste unterrichtet worden sind, ist nämlich einer der relevanten Punkte, die Gegenstand der Untersuchung des Bürgerbeauftragten waren, mit der ermittelt werden sollte, ob es beim Parlament hinsichtlich der Bearbeitung der Akte von Frau Staelen nach ihrer Aufnahme in die Eignungsliste einen Missstand gegeben hat. Die Überprüfung der Frage, ob die Aufnahme in die Liste den übrigen Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union tatsächlich mitgeteilt worden ist, war zudem eines der in der Entscheidung des Bürgerbeauftragten, eine Untersuchung durchzuführen, ausdrücklich genannten Ziele.
107 Der Bürgerbeauftragte hat sich insoweit aber mit einem vom Parlament mitgeteilten Dokument vom 14. Mai 2007 mit dem Titel „pooling“ begnügt, aus dem hervorgeht, dass zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Bewerber auf der Eignungsliste übrig geblieben war. Der Bürgerbeauftragte hat aus diesem Dokument abgeleitet, dass Frau Staelen die einzige Bewerberin gewesen sei, die noch in der Eignungsliste aufgeführt gewesen sei, so dass die übrigen Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union in Anbetracht der Zugänglichkeit des Dokuments von dieser Information hätten Kenntnis haben können, zumindest ab dem 14. Mai 2007.
108 Selbst unterstellt, der Bürgerbeauftragte hätte aus dem betreffenden Dokument ableiten können, dass die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste den übrigen Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union spätestens ab dem Datum des Dokuments, dem 14. Mai 2007, bekannt war, ließe sich dadurch nicht ermitteln, wann und wie die Aufnahme in die Eignungsliste, die am 17. Mai 2005 erfolgt sein soll, den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen vom Parlament mitgeteilt worden ist. Dies hat der Bürgerbeauftragte in seiner Klagebeantwortung eingeräumt.
109 Der Bürgerbeauftragte hat deshalb, indem er in Abschnitt 2.5 seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2007 festgestellt hat, dass die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste den übrigen Unionsorganen vom Parlament mitgeteilt worden sei, wobei er sich u. a. auf das Ergebnis von Ermittlungen berufen hat, die insoweit offensichtlich unzureichend waren, nicht sorgsam und umsichtig gehandelt. Er hat einen unentschuldbaren Beurteilungsfehler begangen und damit schwer und offensichtlich die Grenzen überschritten, die seinem Ermessen bei der Durchführung einer Untersuchung gesetzt sind.
110 Dem Bürgerbeauftragten wird ferner zur Last gelegt, er habe dadurch seine Sorgfaltspflicht verletzt, dass er die in Abschnitt 2.4 seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2007 enthaltene Beurteilung lediglich auf eine Vermutung gestützt habe, die auf Dokumenten beruhe, deren Art und Inhalt er nicht habe präzisieren können. Auch diese Sorgfaltspflichtverletzung ist hinreichend qualifiziert.
111 Gegenstand der ursprünglichen Untersuchung und der Ermittlungen des Bürgerbeauftragten war nämlich u. a. die Frage, ob die Aufnahme von Frau Staelen in die Eignungsliste allen Generaldirektionen des Parlaments zur Verfügung gestellt worden ist. Außerdem hat der Bürgerbeauftragte in Abschnitt 2.4 seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2007 insoweit festgestellt, dass die Bewerbung von Frau Staelen ausweislich der Akten des Parlaments allen Generaldirektionen des Parlaments zur Verfügung gestellt worden sei.
112 Indem der Bürgerbeauftragte zu einem Gesichtspunkt, der für die Aufdeckung eines etwaigen Missstands relevant und konkret Gegenstand seiner ursprünglichen Untersuchung war, in seiner Entscheidung zum Abschluss dieser Untersuchung vom 22. Oktober 2007 eine solche Feststellung getroffen hat, ohne darin die entsprechenden Belege genauer zu bezeichnen oder in der Lage zu sein, die Feststellung anders als durch eine reine Vermutung zu untermauern, wie sie in den Schriftsätzen vor dem Gericht zum Ausdruck gekommen ist, wonach „alles … dafür [spricht], dass [seine] Vertreter … bei den Ermittlungen interne Dokumente gesichtet haben, die bestätigen, dass das Parlament seine Dienststellen davon unterrichtet hat, dass die Klägerin in die [Eignungsliste] aufgenommen worden ist“, hat der Bürgerbeauftragte nicht sorgsam und umsichtig gehandelt. Er hat unentschuldbare Fehler begangen und damit schwer und offensichtlich die Grenzen überschritten, die seinem Ermessen bei der Durchführung einer Untersuchung gesetzt sind.
113 Schließlich ist auf die Sorgfaltspflichtverletzung einzugehen, die darin besteht, dass der Bürgerbeauftragte in seiner Entscheidung zum Abschluss der Untersuchung aus eigener Initiative vom 31. März 2011 festgestellt hat, dass es beim Parlament hinsichtlich der Dauer der Aufnahme von Frau Staelen einerseits und der übrigen erfolgreichen Teilnehmer des allgemeinen Auswahlverfahrens EUR/A/151/98 andererseits keinen Missstand gegeben habe, wobei er sich hinsichtlich dieses Gesichtspunkts der Untersuchung mit einer Erläuterung des Parlaments begnügt hat, ohne sich vergewissert zu haben, dass die Tatsachen, von denen in dieser Erläuterung ausgegangen worden ist, erwiesen sind.
114 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es Sache der Verwaltung ist, eine von ihr durchzuführende Untersuchung mit aller möglichen Sorgfalt durchzuführen, um die bestehenden Zweifel zu zerstreuen und den Sachverhalt aufzuklären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 1986, Irish Grain Board, 254/85, EU:C:1986:422, Rn. 16).
115 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, dass der Bürgerbeauftragte in seiner Entscheidung vom 31. März 2011 angenommen hat, dass der von Frau Staelen gerügte Unterschied zwischen der Dauer der Gültigkeit ihrer Aufnahme in die Eignungsliste und der Dauer, die für die übrigen erfolgreichen Teilnehmer des Auswahlverfahrens gegolten habe, keinen Missstand beim Parlament darstelle. Er hat die Erklärung, die ihm insoweit vom Parlament gegeben worden ist, nämlich, dass die übrigen erfolgreichen Teilnehmer des Auswahlverfahrens nach der Veröffentlichung der Eignungsliste innerhalb von zwei Jahren eingestellt worden seien, während Frau Staelen etwas mehr als zwei Jahre auf der Eignungsliste gestanden habe, für überzeugend gehalten.
116 Aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ist aber auch ersichtlich, dass im vorliegenden Fall Gegenstand der Untersuchung aus eigener Initiative und der Ermittlungen des Bürgerbeauftragten, mit denen festgestellt werden sollte, ob das Verhalten des Parlaments einen Missstand darstellt, u. a. genau die Frage war, ob sich Frau Staelen weniger lang als die übrigen erfolgreichen Teilnehmer des Auswahlverfahrens auf der Eignungsliste befand.
117 Der Bürgerbeauftragte konnte in der Entscheidung zum Abschluss der Untersuchung vom 31. März 2011 daher nicht, ohne einen unentschuldbaren Fehler zu begehen und damit schwer und offensichtlich die Grenzen seines Ermessens bei der Durchführung der Untersuchung zu überschreiten, annehmen, dass dies nicht der Fall gewesen sei und es daher keine Diskriminierung gegenüber Frau Staelen gegeben habe, und sich insoweit ausschließlich auf eine bloße Erläuterung des betreffenden Organs stützen, ohne zu versuchen, mit den Untersuchungsmitteln, über die er gemäß Art. 3 Abs. 2 des Beschlusses 94/262 verfügt, genauere Informationen zu erhalten, anhand deren sich überprüfen lässt, ob die Tatsachen, auf die sich das Organ zu seiner eigenen Entlastung berufen hat und auf denen die Erläuterung beruhte, erwiesen sind.
118 Was das Vorbringen von Frau Staelen zu einer Verletzung ihres Rechts auf Bearbeitung ihrer Anträge in angemessener Frist angeht, ist festzustellen, dass die Zeiträume, innerhalb deren der Bürgerbeauftragte am 1. Juli 2008 auf die beiden Schreiben von Frau Staelen vom 19. Oktober 2007 bzw. vom 24. Januar 2008 geantwortet hat, nämlich acht bzw. fünf Monate, auf den ersten Blick recht lang erscheinen mögen.
119 Der Bürgerbeauftragte hätte auf die beiden Schreiben schneller antworten müssen. Das ist unstreitig. Er hat aber dadurch, dass er so spät auf die Schreiben geantwortet hat, keinen „hinreichend qualifizierten Verstoß“ gegen eine den Einzelnen schützende Unionsrechtsnorm im Sinne der oben in den Rn. 31 und 32 dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs begangen.
120 Mit ihrem Schreiben vom 19. Oktober 2007 übermittelte Frau Staelen dem Bürgerbeauftragten ein Schreiben des Parlaments vom 15. Oktober 2007 über das Auslaufen der Eignungsliste am 31. August 2007. Mit dem Schreiben vom 24. Januar 2008 wollte sie vom Bürgerbeauftragten wissen, ob er in Anbetracht der in dem Schreiben vom 19. Oktober 2007 enthaltenen Informationen beabsichtige, eine Wiedereröffnung der ursprünglichen Untersuchung zu prüfen, die er zwischenzeitlich mit der Entscheidung vom 22. Oktober 2007 abgeschlossen hatte.
121 Was das Schreiben vom 19. Oktober 2007 angeht, wird dem Bürgerbeauftragten aber nicht vorgeworfen, Frau Staelen die Entscheidung zum Abschluss der ursprünglichen Untersuchung vom 22. Oktober 2007 übermittelt zu haben, ohne die in dem Schreiben enthaltenen Informationen berücksichtigt zu haben, sondern lediglich, verspätet auf dieses Schreiben geantwortet zu haben. Der Bürgerbeauftragte hatte insoweit in seiner Klagebeantwortung im Übrigen geltend gemacht, dass das Schreiben bei ihm erst am 22. Oktober 2007 eingegangen sei, als seine Entscheidung zum Abschluss der ursprünglichen Untersuchung bereits ergangen gewesen sei.
122 Es ergibt sich insbesondere aus den vorstehenden Erwägungen, dass weder diese Rüge noch die Rüge betreffend die verspätete Antwort des Bürgerbeauftragten auf das Schreiben vom 24. Januar 2008 im vorliegenden Fall mit der Art und Weise der Durchführung der ursprünglichen Untersuchung und der Untersuchung aus eigener Initiative und den Ergebnissen dieser Untersuchungen zu tun haben.
123 Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass der Bürgerbeauftragte mit seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2007 eine Untersuchung, die sich über etwa ein Jahr erstreckt hatte, gerade abgeschlossen hatte, kann aber nicht angenommen werden, dass der Bürgerbeauftragte allein deshalb, weil er auf das Schreiben, das ihm Frau Staelen am 19. Oktober 2007 in letzter Minute übermittelte, bevor sie dann am 24. Januar 2008 bei ihm nachfragte, ob die Untersuchung wegen des in diesem Schreiben vom 19. Oktober 2007 enthaltenen Gesichtspunkts wieder eröffnet werde, nicht geantwortet hat, die Grenzen seines oben in Rn. 33 dargestellten weiten Ermessens, über das er hinsichtlich der Begründetheit einer bei ihm eingelegten Beschwerde und der im Anschluss an die Beschwerde zu ergreifenden Maßnahmen verfügt, schwer und offensichtlich überschritten oder in diesem Zusammenhang ein Recht von Frau Staelen auf Berücksichtigung ihrer Anträge in angemessener Frist verletzt hätte.
124 Es kann unter diesen Umständen auch nicht angenommen werden, dass der Bürgerbeauftragte dadurch, dass er auf die Anregung, die gerade abgeschlossene Untersuchung wiederzueröffnen, erst nach fünf Monaten geantwortet hat, die Grenzen seines Ermessens schwer und offensichtlich überschritten oder ein Recht von Frau Staelen auf Berücksichtigung ihrer Anträge in angemessener Frist verletzt hätte.
125 Allein die Tatsache, dass der Bürgerbeauftragte etwas verspätet auf die beiden Schreiben von Frau Staelen geantwortet hat, ist also nicht geeignet, eine außervertragliche Haftung der Union auszulösen.
126 Somit ist festzustellen, dass der Bürgerbeauftragte im Rahmen der Durchführung der ursprünglichen Untersuchung und der Untersuchung aus eigener Initiative drei hinreichend qualifizierte Verstöße gegen seine Sorgfaltspflicht im Sinne der oben in den Rn. 31 und 32 dargestellten Rechtsprechung begangen hat, zu denen der Verstoß hinzukommt, den das Gericht, wie aus der Prüfung des zweiten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes hervorgeht, zu Recht hinsichtlich der Erstellung des Inhalts der Stellungnahme des Parlaments vom 20. März 2007 durch den Bürgerbeauftragten festgestellt hat, was eine Gesamtheit von qualifizierten Verstößen darstellt, die geeignet sind, eine Haftung der Union auszulösen.
127 Daher ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob Frau Staelen durch die Verstöße ein tatsächlicher und sicherer immaterieller Schaden im Sinne der oben in Rn. 91 dargestellten Rechtsprechung entstanden ist und ob dieser Schaden die unmittelbare Folge der Verstöße ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 28. Juni 2007, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, C‑331/05 P, EU:C:2007:390, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
128 Der Gerichtshof hat dem ersten Teil des vierten Rechtsmittelgrundes oben in Rn. 95 stattgegeben. Aus den oben in den Rn. 92, 93 und 94 angegebenen Gründen ist zunächst festzustellen, dass Frau Staelen nicht geltend machen kann, dass ihr durch den Verlust des Vertrauens in die Institution des Bürgerbeauftragten aufgrund der von diesem begangenen Rechtsverstöße ein immaterieller Schaden entstanden wäre.
129 Wie sich aus ihren beim Gericht eingereichten Schriftsätzen ergibt, hat Frau Staelen ferner geltend gemacht, dass ihr durch die „psychologische Beeinträchtigung“ aufgrund der Art und Weise der Behandlung ihrer beim Bürgerbeauftragten eingelegten Beschwerde ein immaterieller Schaden entstanden sei.
130 Der dadurch entstandene immaterielle Schaden ist im vorliegenden Fall auch weder durch die Entschuldigungen des Bürgerbeauftragten noch durch die verspätete Berichtigung seines Fehlers hinsichtlich der Erstellung des Inhalts der Stellungnahme des Parlaments noch durch die Untersuchung aus eigener Initiative ausgeglichen worden.
131 Daher ist Frau Staelen für den erlittenen immateriellen Schaden eine Entschädigung in Höhe von 7000 Euro zuzubilligen.
Kosten
132 Der Gerichtshof entscheidet nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist oder wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet. Nach Art. 138 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen (Abs. 1) und trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten, wobei der Gerichtshof jedoch entscheiden kann, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint (Abs. 3).
133 Im vorliegenden Fall ist dem Rechtsmittel des Bürgerbeauftragten zwar stattgegeben worden und ist das angefochtene Urteil deshalb teilweise aufgehoben worden. Jedoch hat der Gerichtshof der Klage von Frau Staelen, über die er endgültig entschieden hat, teilweise stattgegeben. Der Bürgerbeauftragte hat beantragt, über die Kosten nach billigem Ermessen zu entscheiden.
134 Deshalb ist in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles zu entscheiden, dass der Bürgerbeauftragte die Kosten trägt, die Frau Staelen im erstinstanzlichen Verfahren und im Rechtsmittelverfahren entstanden sind.
135 Die Entscheidung über die Kosten des von Frau Staelen eingelegten Anschlussrechtsmittels war im Beschluss vom 29. Juni 2016, Bürgerbeauftragter/Staelen (C‑337/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:670), gemäß Art. 137 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, vorbehalten worden, so dass über diese Kosten gemäß Art. 137 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Rahmen des vorliegenden Endurteils zu entscheiden ist.
136 Da Frau Staelen im Rahmen des Anschlussrechtsmittels mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und der Bürgerbeauftragte beantragt hat, ihr die Kosten aufzuerlegen, sind ihr gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die dem Bürgerbeauftragten durch das Anschlussrechtsmittel entstandenen Kosten und ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Der von Frau Claire Staelen in ihrer Rechtsmittelbeantwortung gestellte Antrag, den Europäischen Bürgerbeauftragten zu verurteilen, an sie eine Entschädigung in Höhe von 50000 Euro zu zahlen, ist unzulässig.
2. Die Nrn. 1, 3 und 4 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 29. April 2015, Staelen/Bürgerbeauftragter (T‑217/11, EU:T:2015:238), werden aufgehoben.
3. Der Europäische Bürgerbeauftragte wird verurteilt, an Frau Claire Staelen eine Entschädigung in Höhe von 7000 Euro zu zahlen.
4. Frau Claire Staelen trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten des Europäischen Bürgerbeauftragten, die durch das mit dem Beschluss vom 29. Juni 2016, Bürgerbeauftragter/Staelen (C‑337/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:670), zurückgewiesene Anschlussrechtsmittel entstanden sind.
5. Der Europäische Bürgerbeauftragte trägt seine eigenen Kosten und die Kosten von Frau Claire Staelen, die durch das erstinstanzliche Verfahren und das Rechtsmittelverfahren entstanden sind.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 3. April 2017.#Bundesrepublik Deutschland gegen Europäische Kommission.#EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Entwicklung des ländlichen Raums – Flurbereinigungen und Dorferneuerungen – Auswahlkriterien für Vorhaben – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Subsidiarität – Berechtigtes Vertrauen – Verhältnismäßigkeit – Begründungspflicht.#Rechtssache T-28/16.
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62016TJ0028
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ECLI:EU:T:2017:242
| 2017-04-03T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016TJ0028
URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
3. April 2017 (*1)
„EGFL und ELER — Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben — Entwicklung des ländlichen Raums — Flurbereinigungen und Dorferneuerungen — Auswahlkriterien für Vorhaben — Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit — Subsidiarität — Berechtigtes Vertrauen — Verhältnismäßigkeit — Begründungspflicht“
In der Rechtssache T‑28/16
Bundesrepublik Deutschland, zunächst vertreten durch T. Henze und A. Lippstreu, dann durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch J. Aquilina und B. Eggers als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend einen auf Art. 263 AEUV gestützten Antrag auf Nichtigerklärung von Art. 1 und des Anhangs des Durchführungsbeschlusses (EU) 2015/2098 der Europäischen Kommission vom 13. November 2015 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. 2015, L 303, S. 35), soweit darin von der zuständigen Zahlstelle der Bundesrepublik Deutschland zulasten des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) geleistete Zahlungen in Höhe von insgesamt 7719920,30 Euro von der Finanzierung durch die Union ausgeschlossen werden,
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek sowie des Richters F. Schalin (Berichterstatter) und der Richterin J. Costeira,
Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2016
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Gemäß Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) (ABl. 2005, L 277, S. 1) wirkt der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) in den Mitgliedstaaten in Form von Entwicklungsprogrammen für den ländlichen Raum, die ein Bündel von regionalen Programmen umfassen können, was in Deutschland aufgrund der föderalen Struktur dieses Mitgliedstaats der Fall ist.
2 Für den Programmplanungszeitraum 2007-2013 wurde das Entwicklungsprogramm für den Freistaat Bayern (Deutschland) mit dem Titel „Bayerisches Zukunftsprogramm Agrarwirtschaft und Ländlicher Raum 2007-2013 aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds (ELER) gemäß Verordnung (EG) Nr. 1698/2005“ (im Folgenden: BayZAL), das Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsmaßnahmen umfasst, der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vorgelegt, die es mit der Entscheidung K(2007) 3994 endg. vom 5. September 2007 (im Folgenden: Entscheidung vom 5. September 2007) genehmigte. Sie sieht eine Finanzierung durch den ELER in einer Gesamthöhe von bis zu 1253943708 Euro für den gesamten Programmplanungszeitraum vor.
3 Nach einer ersten, von ihren Dienststellen vom 2. bis 6. März 2009 durchgeführten Prüfung war die Kommission der Ansicht, dass es in den Jahren 2007 und 2008 Versäumnisse bei der Anwendung der Auswahlkriterien für die durch den ELER unterstützten Vorhaben der Flurbereinigung und Dorferneuerung in Bayern gegeben habe und dass dies ein Mangel eines Schlüsselkriteriums sei. Am Ende des Verfahrens, das insbesondere die Befassung der in der Verordnung (EG) Nr. 885/2006 der Kommission vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1290/2005 des Rates hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER (ABl. 2006, L 171, S. 90) vorgesehenen Schlichtungsstelle umfasste, setzte die Kommission eine finanzielle Berichtigung für die vom ELER in den Jahren 2007 und 2008 unterstützten Projekte fest, die einer pauschalen Anlastung in Höhe von 10 %, d. h. 1040620,50 Euro, entsprach.
4 Vom 8. bis 12. Juli 2013 führten die Dienststellen der Kommission eine zweite, insbesondere die Umsetzung der Flurbereinigungen und Dorferneuerungen im Rahmen des BayZAL betreffende Prüfung durch, um das in Bayern geschaffene Verwaltungs- und Kontrollsystem zu überprüfen.
5 Mit Schreiben vom 3. September 2013 teilte die Kommission den deutschen Behörden das Ergebnis der Prüfung mit. Sie stellte Mängel bei der Festlegung oder Anwendung von Auswahlkriterien für die vom ELER in Bayern unterstützten Vorhaben fest, und zwar sowohl für die Jahre 2007 und 2008, die bereits zu einer Berichtigung geführt hatten, als auch für die Jahre 2009 bis 2012 sowie ab 2013. Zwischen den Dienststellen der Kommission und den deutschen Behörden fand ein bilaterales Gespräch statt. Ferner wurde ein zweites Schlichtungsverfahren gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006 eingeleitet, das jedoch zu keinem Ergebnis führte.
6 Am 13. November 2015 nahm die Kommission schließlich den Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2098 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des ELER getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. 2015, L 303, S. 35, im Folgenden: angefochtener Beschluss) an, mit dem sie eine pauschale Berichtigung in Höhe von 10 % der von den deutschen Behörden in Bayern getätigten Ausgaben für die Jahre 2009 bis 2014 vornahm. Nach Korrektur der Berechnungsgrundlagen – die Kommission hatte zunächst eine Berichtigung in Höhe von 11046145,96 Euro vorgesehen – belief sich der endgültige Betrag der Berichtigung auf 7719920 Euro.
7 Die Rügen der Kommission, auf die der Erlass des angefochtenen Beschlusses zurückzuführen ist, finden sich in dem von der Schlichtungsstelle im Rahmen ihrer Befassung durch die deutschen Behörden nach der zweiten Prüfung erstellten Bericht vom 12. Juni 2015 und im zusammenfassenden Bericht der Kommission vom 19. Oktober 2015 (im Folgenden: zusammenfassender Bericht). Diese Rügen können im Wesentlichen wie folgt zusammengefasst werden.
8 Die Flurbereinigungen und Dorferneuerungen in Bayern werden nach den Angaben der deutschen Behörden in drei Phasen durchgeführt:
—
Die erste Phase, die Initial- und Beratungsphase, ermöglicht die Zusammenführung der regionalen, kommunalen oder lokalen Akteure, um sie anzuhören, die Ziele und Aufgabenstellungen zu klären und festzustellen, ob die verschiedenen Akteure bereit sind, den Prozess weiterzuverfolgen und auf die Hilfemöglichkeiten zurückzugreifen. Diese Phase wird von den zuständigen Regionalbehörden – im vorliegenden Fall die Ämter für ländliche Entwicklung – eingeleitet, wenn sie ein Flurbereinigungs- oder Dorferneuerungsverfahren für erforderlich halten und es ihrer Ansicht nach im Interesse der Beteiligten durchgeführt werden muss.
—
Die zweite Phase umfasst die Entscheidung der Ämter für ländliche Entwicklung über die Durchführung der Flurbereinigung oder der Dorferneuerung, was zur Entstehung einer aus Grundstückseigentümern und Erbbauberechtigten bestehenden Teilnehmergemeinschaft führt, die Antragsteller und Zuwendungsempfänger sein wird.
—
Die dritte Phase umfasst die Detailplanung und die konkrete Durchführung der Flurbereinigung oder Dorferneuerung in den betroffenen Bereichen.
9 Nach Ansicht der Kommission sind in den Jahren 2007 und 2008 die Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsvorhaben erstens nicht – wie in Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 vorgesehen – auf der Grundlage vom zuständigen Gremium festgelegter Auswahlkriterien genehmigt worden.
10 Zweitens seien in Bezug auf die Jahre 2009 bis 2012 die Kriterien für die Auswahl der Projekte, wie sie ursprünglich im BayZAL aufgeführt gewesen seien, mit Entscheidung des aufgrund von Art. 77 der Verordnung Nr. 1698/2005 eingesetzten und für die Prüfung der Auswahlkriterien während des Programmplanungszeitraums 2007-2013 zuständigen Begleitausschusses vom 22. Dezember 2008 (im Folgenden: Entscheidung vom 22. Dezember 2008) zwar für die erste und die zweite Phase der Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsvorhaben geändert worden. Diese Kriterien seien aber nicht geeignet, um Projekte aus den förderfähigen Projekten auszuwählen, da keine Rangfolge dieser Projekte aufgestellt worden und ihre Auswahl unklar und daher intransparent sei. Ferner habe es kein Auswahlkriterium gegeben, um über die Eröffnung der Verfahren zu entscheiden. Diese Verfahren bestünden aus verschiedenen Projekten oder Vorhaben, die zum Zeitpunkt der sie betreffenden Entscheidung nicht bekannt seien, so dass sie erst in den Jahren nach der Eröffnung des Verfahrens genehmigt würden.
11 Was drittens das Jahr 2013 anbelange, seien im Dezember 2012 neue Auswahlkriterien genehmigt worden, die auch auf das Vorauswahlverfahren, d. h. die Auswahl der in Bayern durchgeführten Verfahren, Anwendung fänden. Die Umsetzung der Auswahlkriterien erfolge anhand von drei Checklisten:
—
Checkliste A enthalte die Auswahlkriterien, die die Kontrolle ermöglichten, ob das Verfahren als mit dem Arbeitsprogramm des BayZAL vereinbar betrachtet und in dieses aufgenommen werden könne.
—
Checkliste B enthalte die Auswahlkriterien, die die Kontrolle ermöglichten, ob die Durchführung eines Verfahrens oder eines Vorhabens, das in das Arbeitsprogramm aufgenommen werden könne, beginnen könne.
—
Checkliste C enthalte die Auswahlkriterien, die die Auswahl eines Projekts ermöglichten.
12 Die Erstellung der Checkliste C wurde im Dezember 2008 beschlossen, und sie wurde ab 2009 angewandt. Die Checklisten A und B wurden 2013 erstellt und rückwirkend auf alle Verfahren und Projekte ab 2009 angewandt.
13 Die Kommission hält diese Checklisten aber nach wie vor für unzureichend, insbesondere deshalb, weil sie noch immer keine Rangfolge der in Bayern durchgeführten Verfahren enthielten und nicht auf die Verfahren Anwendung fänden, über deren Einleitung noch nicht entschieden sei, so dass die Auswahl der Vorhaben und Projekte in dieser Phase weiterhin nicht transparent sei.
Verfahren und Anträge der Parteien
14 Mit Klageschrift, die am 26. Januar 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Bundesrepublik Deutschland die vorliegende Klage erhoben.
15 Die Klagebeantwortung, die Erwiderung und die Gegenerwiderung sind am 8. April, am 25. Mai und am 7. Juli 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen.
16 Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,
—
Art. 1 und den Anhang des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, soweit darin von ihrer zuständigen Zahlstelle zulasten des ELER geleistete Zahlungen in Höhe von insgesamt 7719920,30 Euro von der Finanzierung durch die Europäische Union ausgeschlossen werden;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
17 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
18 Die Bundesrepublik Deutschland macht im Rahmen der Klage vier Klagegründe geltend.
19 Erstens rügt sie, dass die Kommission einen Rechtsfehler in Form der Verletzung von Art. 71 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 1698/2005 begangen habe, da sie die Voraussetzungen dieser Verordnung für die Zuschussfähigkeit der im Rahmen des ELER berücksichtigten Ausgaben missachtet habe.
20 Zweitens habe die Kommission gegen das aus Art. 6 der Verordnung Nr. 1698/2005 resultierende Partnerschaftsprinzip, den in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, weil sie eine Praxis, die sie genehmigt bzw. der sie nicht widersprochen habe, als unzulässig eingestuft habe.
21 Drittens habe die Kommission durch einen Eingriff in die Verfahrensautonomie und die Planungshoheit der Mitgliedstaaten im Bereich Raumordnung gegen das in Art. 5 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip verstoßen.
22 Viertens habe die Kommission Art. 52 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1306/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Finanzierung, die Verwaltung und das Kontrollsystem der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 352/78, (EG) Nr. 165/94, (EG) Nr. 2799/98, (EG) Nr. 814/2000, (EG) Nr. 1290/2005 und (EG) Nr. 485/2008 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 549), Art. 31 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. 2005, L 209, S. 1) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, indem sie bei der von ihr vorgenommenen pauschalen Berichtigung von 10 % zum einen die Art und die allenfalls geringe Tragweite eines etwaigen Verstoßes im Zusammenhang mit den Auswahlkriterien nicht angemessen gewürdigt sowie zum anderen den Umstand außer Acht gelassen habe, dass der Union weder ein finanzieller Schaden entstanden sei noch ein reales Risiko für den Eintritt eines solchen Schadens bestanden habe. Darüber hinaus leide der angefochtene Beschluss in diesem Punkt an einem Begründungsmangel.
Erster Klagegrund: Verletzung von Art. 71 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 1698/2005 wegen Missachtung der Voraussetzungen der Zuschussfähigkeit von Ausgaben durch die Kommission
23 Erstens verweist die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Klageschrift darauf, dass gemäß Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 die Ausgaben nur dann für eine Beteiligung des ELER in Betracht kämen, wenn sie für Vorhaben getätigt würden, die nach den vom zuständigen Gremium festgelegten Auswahlkriterien beschlossen worden seien; der Begriff „Vorhaben“ werde in Art. 2 Buchst. e der Verordnung definiert als „ein Projekt, ein Vertrag oder eine sonstige Initiative, die nach den im betreffenden Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum festgelegten Kriterien ausgewählt und von einem oder mehreren Begünstigten durchgeführt werden, um die Ziele gemäß Artikel 4 zu erreichen“.
24 Die Kommission verlange aber, dass die Auswahlkriterien während der ersten und der zweiten Phase des Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens in Bayern anzuwenden seien, obwohl es sich um vorgelagerte Phasen dieses Verfahrens handele, in denen es noch keine Vorhaben und Begünstigten gebe, allenfalls „potenziell Begünstigte“, die erst in der dritten Phase des Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens nach der Entstehung der Teilnehmergemeinschaft, die Antragsteller werden, vorkämen.
25 Zweitens sei die Kommission zu Unrecht der Auffassung, dass die deutschen Behörden in den ersten beiden Phasen des Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens eine rechtswidrige Vorauswahl der Projekte durchführten, bei der sie nach intransparenten Kriterien über die Einleitung der dritten Phase entschieden. Diese beiden Phasen seien Teil eines komplexen Informations-, Beratungs- und Auslotungsprozesses, der dazu diene, die Zweckmäßigkeit der Einleitung des Verfahrens zu bewerten und zu prüfen, ob die Vorbedingungen der bundesrechtlichen Vorschriften über Flurbereinigungen gegeben seien. Dieser Vorwurf der Kommission leide auch an einem Begründungsmangel.
26 Drittens stelle die Kommission an die Auswahlkriterien überzogene, nicht dem geltenden Recht entsprechende und nicht in der Verordnung Nr. 1698/2005 aufgeführte Anforderungen, wenn sie verlange, eine Rangfolge der Projekte festzulegen, eine Auswahlliste in Form einer Übersichtstabelle aufzustellen oder gar festzustellen, welches Verfahren die Auswahlkriterien am besten erfülle. Die Auswahlkriterien, wie sie insbesondere durch die Entscheidung vom 22. Dezember 2008 in Anwesenheit von Vertretern der Kommission festgelegt worden seien, seien auf alle förderfähigen Projekte angewandt worden. Der Entscheidung vom 22. Dezember 2008 sei die Checkliste C für die „Auswahlkriterien Ländliche Entwicklung“ beigefügt worden, die später durch die Checklisten A und B ergänzt worden sei.
27 Darüber hinaus missachte die Kommission auch ihre eigenen Leitlinien, wie sie sich aus dem Dokument Nr. VI/10535/99 vom 23. Juli 2002 mit dem Titel „Leitlinien für die Durchführung der Verwaltungs-, Kontroll- und Sanktionsregelungen bei den Maßnahmen der Entwicklung des ländlichen Raums gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates – Aus dem EAGFL-Garantie finanzierte Maßnahmen“ ergäben, die sie im Jahr 2002 erlassen und in ihrer Mitteilung an die deutschen Behörden vom 11. Mai 2009 erwähnt habe. Zwar beträfen diese Leitlinien die Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und nicht den ELER. Dennoch könne aus ihnen abgeleitet werden, dass die Auswahlkriterien nur dazu dienten, unter den als zuschussfähig bewerteten konkreten Beihilfeanträgen eine Auswahl zu treffen. Diese Kriterien erlangten somit nur dann tatsächliche Relevanz, wenn tatsächlich eine Auswahl getroffen werden müsse, beispielsweise aufgrund knapper Mittel im Hinblick auf die Zahl der Projekte; dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall.
28 Im Rahmen der Erwiderung hebt die Bundesrepublik Deutschland zur Stützung ihrer Argumentation in Bezug auf eine unzutreffende Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1698/2005 durch die Kommission die Unterscheidung zwischen „Maßnahmen“ und „Vorhaben“ im Sinne der Definitionen in Art. 2 Buchst. d bzw. e der Verordnung Nr. 1698/2005 hervor. Beim Flurbereinigungsverfahren handele es sich gerade nicht um ein „Vorhaben“, sondern um eine „Maßnahme“ im Sinne dieser Definitionen, wobei sich „Maßnahmen“ auf höherer Ebene als „Vorhaben“ befänden. Das Unionsrecht enthalte aber keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, schon auf der Stufe der Maßnahmen Auswahlkriterien anzuwenden, da der erforderliche Konkretisierungsgrad, um von einem Vorhaben sprechen zu können, noch nicht erreicht sei. Ferner gebe es zu dem frühen Zeitpunkt, auf den die Kommission abstellen wolle, noch keinen „Begünstigten“ im Sinne der Verordnung Nr. 1698/2005. Der von der Kommission verwendete Begriff „potenziell Begünstigter“ habe keine rechtliche Bedeutung, und mit der Verwendung dieses Begriffs räume die Kommission implizit ein, dass es in der ersten und der zweiten Phase des Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens keinen konkreten Begünstigten gebe. Überdies bestreitet die Bundesrepublik Deutschland die Behauptung der Kommission, dass sie deren Analyse teile, weil sie keine Klage gegen die ihr von der Kommission im Jahr 2013 auferlegte finanzielle Berichtigung für die Jahre 2007 und 2008 erhoben habe.
29 Der von der Kommission angestellte Vergleich mit den in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern geltenden Verfahren, die sie als Beispiele anführe, greife insbesondere deshalb nicht durch, weil es die bundesrechtlichen Vorschriften über Flurbereinigungen gestatteten, wesentliche Aufgaben der für die Flurbereinigung zuständigen Behörde den Teilnehmergemeinschaften zu übertragen, was den Fall des Freistaats Bayern nach den bayrischen Vorschriften zur Umsetzung der bundesrechtlichen Vorschriften über Flurbereinigungen von den anderen unterscheide. Im Übrigen betreffe das in Bezug auf Mecklenburg-Vorpommern erwähnte Verfahren ausschließlich den Programmplanungszeitraum 2014-2020.
30 Die Kommission tritt dem Vorbringen entgegen und macht geltend, die von ihr insbesondere im Lauf des Schlichtungsverfahrens und in ihrem zusammenfassenden Bericht vorgebrachten Rügen seien begründet.
31 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wenn sie es aufgrund von Verstößen gegen Unionsrecht, die einem Mitgliedstaat zuzurechnen sind, ablehnt, bestimmte Ausgaben dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) oder dem ELER anzulasten, das Vorliegen dieser Verstöße nachweisen muss (Urteil vom 28. Oktober 1999, Italien/Kommission, C‑253/97, EU:C:1999:527, Rn. 6). Mit anderen Worten muss die Kommission ihre Entscheidung rechtfertigen, mit der sie feststellt, dass der betroffene Mitgliedstaat keine oder mangelhafte Kontrollen durchgeführt hat (Urteil vom 8. Mai 2003, Spanien/Kommission, C‑349/97, EU:C:2003:251, Rn. 46).
32 Die Kommission braucht die Unzulänglichkeit der Kontrollen der nationalen Verwaltungen oder die Unrichtigkeit der vorgelegten Zahlen nicht erschöpfend darzutun, muss aber einen Beweis für die ernsthaften und vernünftigen Zweifel vorlegen, die sie hinsichtlich dieser Kontrollen oder dieser Angaben hegt (Urteile vom 20. September 2001, Belgien/Kommission, C‑263/98, EU:C:2001:455, Rn. 36, und vom 8. Mai 2003, Spanien/Kommission, C‑349/97, EU:C:2003:251, Rn. 47).
33 Es ist sodann Sache dieses Mitgliedstaats, nachzuweisen, dass die Voraussetzungen für eine von der Kommission abgelehnte Finanzierung vorliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2001, Belgien/Kommission, C‑263/98, EU:C:2001:455, Rn. 37). Mit anderen Worten kann der betroffene Mitgliedstaat die Feststellungen der Kommission nur dadurch erschüttern, dass er seine Behauptungen auf Umstände stützt, mit denen das Vorhandensein eines zuverlässigen und funktionierenden Kontrollsystems nachgewiesen wird. Gelingt dem Mitgliedstaat nicht der Nachweis, dass die Feststellungen der Kommission unzutreffend sind, so können diese Feststellungen ernsthafte Zweifel begründen, ob ein angemessenes und wirksames System von Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle eingeführt worden ist (Urteile vom 28. Oktober 1999, Italien/Kommission, C‑253/97, EU:C:1999:527, Rn. 7, und vom 8. Mai 2003, Spanien/Kommission, C‑349/97, EU:C:2003:251, Rn. 48).
34 Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass die Durchführung der Politik der Entwicklung des ländlichen Raums der Union im Rahmen der GAP mit einem Finanzierungs- und Planungsinstrument wie dem ELER auf dem Grundsatz einer gemeinsamen Verwaltung durch die Union und die Mitgliedstaaten beruht, wobei das Unionsrecht den allgemeinen rechtlichen Rahmen festlegt, der durch die nationalen Rechtsordnungen ergänzt wird (Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Občina Gorje, C‑111/15, EU:C:2016:280, Nr. 7).
35 Was erstens die Bestimmungen der Union zur Finanzierung des ELER für den Programmplanungszeitraum 2007-2013 anbelangt, sind diese in der Verordnung Nr. 1290/2005 enthalten. Für den Programmplanungszeitraum 2014-2020 gilt die Verordnung Nr. 1306/2013.
36 Die allgemeinen Bestimmungen über das Funktionieren des ELER während des Programmplanungszeitraums 2007-2013 sind in der Verordnung Nr. 1698/2005 enthalten, die durch die für den anschließenden Programmplanungszeitraum (2014-2020) geltende Verordnung (EU) Nr. 1305/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über die Förderung der ländlichen Entwicklung durch den ELER und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1698/2005 (ABl. 2013, L 347, S. 487) aufgehoben wurde.
37 Für die in der Verordnung Nr. 1698/2005 vorgesehene Unterstützung der Entwicklung des ländlichen Raums werden vier Schwerpunkte gesetzt, die Gegenstand einer entsprechenden Zahl gesonderter Abschnitte ihres Titels IV sind. In Abschnitt 1 („Schwerpunkt 1 – Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft“) sieht Art. 30 vor, dass die Beihilfe „insbesondere … zur Flurbereinigung und ‑verbesserung gewährt werden [kann]“. In Abschnitt 3 („Schwerpunkt 3 – Lebensqualität im ländlichen Raum und Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft“) bestimmt Art. 52, dass die „Beihilfen für diesen Schwerpunkt … Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität im ländlichen Raum“ einschließlich der „Dorferneuerung und ‑entwicklung“ umfassen. Die Maßnahmen zur Flurbereinigung und die Maßnahmen zur Dorferneuerung gehören somit zu zwei verschiedenen Schwerpunkten.
38 Gemäß Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 kommen die Ausgaben „nur dann für eine Beteiligung des ELER in Betracht, wenn sie für Vorhaben getätigt werden, die nach den von dem zuständigen Gremium festgelegten Auswahlkriterien von der Verwaltungsbehörde des betreffenden Programms oder unter deren Verantwortung beschlossen wurden“. Der Begriff des „Vorhabens“ ist in Art. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 1698/2005 definiert als „ein Projekt, ein Vertrag oder eine sonstige Initiative, die nach den im betreffenden Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum festgelegten Kriterien ausgewählt und von einem oder mehreren Begünstigten durchgeführt werden, um die Ziele gemäß Artikel 4 zu erreichen“. In Art. 2 Buchst. d dieser Verordnung wird der Begriff „Maßnahme“ definiert als „ein Bündel von Vorhaben, die zur Umsetzung eines Schwerpunkts im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 beitragen“.
39 Ergänzende Bestimmungen sind in der Verordnung (EG) Nr. 1974/2006 der Kommission vom 15. Dezember 2006 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1698/2005 (ABl. 2006, L 368, S. 15) zu finden, nach deren Art. 48 Abs. 1 die Mitgliedstaaten zum wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union „dafür Sorge [tragen], dass alle von ihnen geplanten Entwicklungsmaßnahmen für den ländlichen Raum überprüft und kontrolliert werden können“, und zu diesem Zweck „Kontrollmaßnahmen fest[legen], die ihnen hinreichende Gewähr dafür bieten, dass die Förderkriterien und sonstigen Verpflichtungen eingehalten werden“.
40 Nach Art. 49 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1305/2013 sollen mit den Auswahlkriterien (die die Verwaltungsbehörde des Programms zur Entwicklung des ländlichen Raums nach Anhörung des Begleitausschusses festlegt) „die Gleichbehandlung der Antragsteller, eine bessere Nutzung der Finanzmittel und die Ausrichtung der Maßnahmen im Einklang mit den Prioritäten der Union für die Entwicklung des ländlichen Raums gewährleistet werden. Bei der Festlegung und Anwendung der Auswahlkriterien wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Größe des Vorhabens berücksichtigt.“
41 Was zweitens die bundesrechtlichen Regelungen anbelangt, die auf Flurbereinigungen und Dorferneuerungen in Bayern anwendbar sind, sind diese im Flurbereinigungsgesetz (im Folgenden: FlurbG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. März 1976 (BGBl. 1976 I S. 546), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Dezember 2008 (BGBl. 2008 I S. 2794), geregelt. Nach den Art. 1 und 37 des FlurbG wird durch Flurbereinigungen Grundbesitz neu geordnet – insbesondere durch die Neueinteilung der Feldmark und zersplitterten oder unwirtschaftlich geformten Grundbesitzes –, um die Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft zu verbessern.
42 Im Freistaat Bayern wird der durch das FlurbG auf Bundesebene vorgegebene Rechtsrahmen durch das Gesetz zur Ausführung des Flurbereinigungsgesetzes ergänzt. Die Ämter für ländliche Entwicklung regen die Dorferneuerungen und Flurbereinigungen an und sind für diese auch verantwortlich.
43 Was den Rechtsfehler anbelangt, den die Kommission begangen haben soll, nämlich die Verletzung von Art. 71 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 1698/2005, ist darauf hinzuweisen, dass im Bereich des Zusammenspiels zwischen einer Verordnung und einzelstaatlichen Vorschriften, auf die verwiesen wird, die unmittelbare Geltung einer Verordnung kein Hindernis dafür ist, dass im Text dieser Verordnung ein Unionsorgan oder ein Mitgliedstaat zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen ermächtigt wird, und dass im letztgenannten Fall sich die Modalitäten der Ausübung dieser Befugnis nach dem öffentlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats bestimmen (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 1979, Eridania-Zuccherifici nazionali und Società italiana per l’industria degli zuccheri, 230/78, EU:C:1979:216, Rn. 34).
44 Enthält eine Verordnung eine solche Ermächtigung, folgt daraus weder, dass die Mitgliedstaaten beim Erlass von Durchführungsbestimmungen ein unbegrenztes Ermessen haben, noch, dass diese einen bestimmten Inhalt haben müssen. Die Mitgliedstaaten haben die Bedingungen und Grenzen zu beachten, die von den Bestimmungen des Unionsrechts gesetzt werden, die speziell in diesem Zusammenhang gelten oder sogar die konkrete Rechtsgrundlage der fraglichen Regelungstätigkeit darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2015, Finnland/Kommission, T‑124/14, EU:T:2015:955, Rn. 44).
45 Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem 61. Erwägungsgrund und Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 ergibt, dass gemäß dem Subsidiaritätsprinzip die Regeln für die Zuschussfähigkeit der Ausgaben grundsätzlich auf nationaler Ebene festgelegt werden und die Ausgaben nur dann in Betracht kommen, wenn sie für Vorhaben getätigt werden, die nach den von dem zuständigen Gremium festgelegten Auswahlkriterien beschlossen wurden.
46 Im vorliegenden Fall entspricht die Festlegung von Auswahlkriterien, die eine Entscheidung über die Zuschussfähigkeit der Ausgaben mit Beteiligung des ELER ermöglichen, den Maßnahmen zur Durchführung, die den einzelstaatlichen Behörden durch die Verordnung Nr. 1698/2005 übertragen sind, um die durch diese Verordnung festgelegten Ziele zu erreichen, hier die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den ELER.
47 In diesem Zusammenhang ist es Sache der deutschen Behörden, unter Beachtung der Leitlinien und Beschränkungen, die in der ihr durch die Verordnung Nr. 1698/2005 übertragenen Ermächtigung festgelegt sind, bei der Festlegung von Auswahlkriterien in Bezug auf die betroffenen Ausgaben und bei der Anwendung dieser Kriterien tätig zu werden.
48 Die Modalitäten der Umsetzung der Flurbereinigungen und Dorferneuerungen sollen jedoch in Gänze nur durch das innerstaatliche Recht geregelt werden. Die Verordnung Nr. 1698/2005 gestattet es der Kommission nämlich nicht, ein Verfahren oder bestimmte Varianten von Rechtsvorschriften vorzugeben, um Flurbereinigungen und Dorferneuerungen im betreffenden Mitgliedstaat umzusetzen.
49 Soweit die deutschen Behörden eine Beteiligung des ELER an den Ausgaben im Rahmen der Flurbereinigungen und Dorferneuerungen in Bayern beantragen, ist hingegen erstens zu prüfen, ob es Auswahlkriterien gibt, die dem Ziel der Verordnung Nr. 1698/2005 dienen, und zweitens, welche Voraussetzungen für die wirksame Umsetzung dieser Kriterien gelten.
50 Was die Qualifikation der Flurbereinigungen und Dorferneuerungen als „Vorhaben“ anbelangt, was nach dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 1698/2005 erfordert, diese den Auswahlkriterien zu unterwerfen, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung aus dem Gebot der einheitlichen Anwendung des Rechts der Union wie auch aus dem Gleichheitssatz folgt, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Oktober 2012, Ketelä, C‑592/11, EU:C:2012:673, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Im Einklang mit der Auffassung der Kommission ist der Begriff des „Vorhabens“ in Art. 2 Buchst. e der Verordnung Nr. 1698/2005 – indem auf „ein Projekt, ein[en] Vertrag oder eine sonstige Initiative“ verwiesen wird, die von einem oder mehreren Begünstigten durchgeführt werden, um die Ziele der Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums zu erreichen – indes sehr weit, so dass trotz der unterschiedlichen Arten betroffener Vorhaben und unabhängig von der speziellen Situation des fraglichen innerstaatlichen Verfahrens eine Auswahl, wie sie in der Verordnung vorgesehen ist, ordnungsgemäß durchgeführt werden kann.
52 Die Flurbereinigungen und Dorferneuerungen sind ab dem Moment, ab dem sie Teil eines Projekts, eines Vertrags oder einer sonstigen Initiative sind, mit denen eine konkrete Umsetzung veranlasst werden soll, als Vorhaben zu betrachten und ab dann den in der Verordnung Nr. 1698/2005 vorgesehenen Auswahlkriterien zu unterwerfen.
53 Demgegenüber ist der Begriff der „Maßnahme“ im Sinne des Art. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 1698/2005, d. h. einem „Bündel von Vorhaben, die zur Umsetzung eines Schwerpunkts … beitragen“, als eine abstrakte Kategorie von Vorhaben zu betrachten, für die sich die Mitgliedstaaten in ihrem Entwicklungsprogramm entscheiden können, um die Umsetzung eines der vier in der Verordnung Nr. 1698/2005 erwähnten Schwerpunkte voranzutreiben. Die Flurbereinigung ist somit eine Maßnahme, wenn sie die allgemeine Tätigkeit der Rationalisierung der Nutzung landwirtschaftlicher Flächen bezeichnet. Gleiches gilt für die Dorferneuerung, wenn sie die allgemeine Tätigkeit der Verbesserung der Lebensbedingungen im ländlichen Raum bezeichnet. Umgekehrt sind Flurbereinigung oder Dorferneuerung ab dem Moment, zu dem sie Teil einer identifizierbaren Initiative sind, insbesondere im Zusammenhang mit einem geografischen Ort oder einer identifizierten Gemeinschaft von Individuen, als Vorhaben zu betrachten.
54 Angesichts der sofortigen und unmittelbaren Wirkung der Verordnung Nr. 1698/2005 hat diese Einordnung zur Folge, dass die Umsetzung der Auswahlkriterien vorgeschrieben wird, und zwar unabhängig von der Phase, in der sich das fragliche Vorhaben im Hinblick auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften befindet. Das Gegenteil in Betracht zu ziehen, würde den Grundsatz der autonomen und einheitlichen Auslegung der Begriffe des Unionsrechts in Frage stellen.
55 Die Bundesrepublik Deutschland geht daher zu Unrecht davon aus, dass die Flurbereinigungen und Dorferneuerungen in Bayern eine besondere Situation darstellen, die der Umsetzung der Auswahlkriterien in den ersten beiden Phasen wegen des Fehlens konkreter Projekte oder von Gemeinschaften von Begünstigten entgegensteht.
56 Die Bundesrepublik Deutschland räumt im Übrigen ein, dass die ersten beiden Phasen der Vorhaben der Flurbereinigung und Dorferneuerung in Bayern den Auswahlkriterien unterworfen werden können, da sie nach der Entscheidung vom 22. Dezember 2008 die im BayZAL ursprünglich aufgeführten Kriterien für die Auswahl der Projekte mit dem Ziel geändert hat, diese in der ersten und der zweiten Phase anzuwenden, obwohl sie von der Kommission als ungeeignet betrachtet worden sind. Das von der Kommission als Anlage vorgelegte Dokument der Behörden des Regierungsbezirks Oberpfalz mit dem Titel „Arbeitsprogramm 2003 der Regierung der Oberpfalz und der Direktion für ländliche Entwicklung Regensburg (Zeitplan 2003)“ lässt im Übrigen den Schluss zu, dass die lokalen Behörden eine Rangfolge der Flurbereinigungen und Dorferneuerungen aufgestellt haben, um diese in vier Gruppen einzuteilen, die nach einer Fälligkeit, die mehr oder weniger weit von einer Anordnung des Flurbereinigungsverfahrens entfernt ist, unterstützt werden sollen. Wie die Kommission bemerkt, wurden die ältesten Anträge im Jahr 1985 registriert und deutet die große Zahl der nicht beschiedenen Anträge darauf hin, dass nicht alle eine Finanzierung erhalten haben dürften, insbesondere deshalb, weil sie nicht in das Arbeitsprogramm der lokal zuständigen Ämter für ländliche Entwicklung aufgenommen wurden.
57 Diese Feststellungen erlauben es, die Einwände der deutschen Behörden gegen den – begründeten – Vorwurf der Kommission zurückzuweisen, dass die zuständigen Behörden während der ersten beiden Phasen des Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens in Bayern in der Tat eine Vorauswahl der Projekte, die eine Finanzierung durch den ELER erhalten sollten, durchführten, aber über die Einleitung der dritten Phase nach intransparenten Kriterien entschieden, was darüber hinaus gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße, auf den sich alle Einrichtungen oder Personen, die eine Finanzierung durch den ELER erhalten wollten, rechtmäßig berufen könnten. Diese Situation, die vor dem Erlass der Entscheidung vom 22. Dezember 2008 bestand, hat seither fortbestanden.
58 Denn wie die Bundesrepublik Deutschland in Rn. 54 der Erwiderung einräumt, wurde die Checkliste A zwar im Rahmen der Entscheidung vom 22. Dezember 2008 eingeführt, um die Dokumentation der zur Anordnung von Dorferneuerungs- oder Flurneuordnungsverfahren erforderlichen Vorbereitungsarbeiten zu verbessern. Sie enthält jedoch keine Auswahlkriterien nach Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005, da die deutschen Behörden in jedem Fall der Ansicht sind, dass es, selbst wenn sie entschieden, ein Vorhaben in das Arbeitsprogramm BayZal aufzunehmen, es zu diesem Zeitpunkt noch keine Zuwendungsempfänger gebe und keine Anträge auf Förderung von konkreten Projekten gestellt werden könnten.
59 Der von den deutschen Behörden behauptete Begründungsmangel in Bezug auf den Vorwurf der Kommission hinsichtlich der rechtswidrigen Vorauswahl der Anträge auf Förderung ist ebenfalls zurückzuweisen. Im besonderen Zusammenhang der Ausarbeitung der Entscheidungen über den Rechnungsabschluss im Bereich der GAP ist eine Entscheidung dann als ausreichend begründet anzusehen, wenn der Staat, der Adressat der Entscheidung ist, eng am Verfahren ihrer Ausarbeitung beteiligt war und die Gründe kannte, aus denen die Kommission der Ansicht war, den streitigen Betrag nicht zulasten des EGFL oder des ELER übernehmen zu müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 1990, Niederlande/Kommission,C‑22/89, EU:C:1990:471, Rn. 18). Die deutschen Behörden haben vor Erlass des angefochtenen Beschlusses an einem Schlichtungsverfahren gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006 teilgenommen, so dass sie eng am Verfahren der Ausarbeitung dieses Beschlusses beteiligt waren und die Gründe kannten, aus denen die Kommission der Ansicht war, den streitigen Betrag nicht zulasten des EGFL übernehmen zu müssen, und zwar wegen der rechtswidrigen Auswahl der Projekte während der ersten beiden Phasen der Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahren, wie sie in Bayern durchgeführt wurden.
60 Was schließlich das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland betrifft, die Kommission stelle an die Auswahlkriterien selbst überzogene Anforderungen, ist auf Folgendes hinzuweisen.
61 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine auslegungsbedürftige Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts im Bereich der GAP nach Möglichkeit so auszulegen, dass sie mit den Vorschriften des Vertrags vereinbar ist (vgl. Urteil vom 13. April 2011, Deutschland/Kommission, T‑576/08, EU:T:2011:166, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Im vorliegenden Fall geht aus Art. 71 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1698/2005 hervor, dass die Ausgaben für Vorhaben wie Flurbereinigungen und Dorferneuerungen nach Auswahlkriterien getätigt werden müssen. Aus Art. 73 der Verordnung Nr. 1698/2005 geht indes ausdrücklich hervor, dass der Kommission im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung zwischen den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten die Wahrung der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung gemäß Art. 274 EG, dessen Bestimmungen sich nunmehr in Art. 317 AEUV finden, obliegt.
63 Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung darf zwar nicht auf eine rein rechnerische Definition reduziert werden. Er impliziert gleichwohl, dass die Haushaltsmittel im Einklang mit den Grundsätzen der Sparsamkeit, der Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit verwendet werden, wobei der letztgenannte Grundsatz – wie aus Art. 28a der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2002, L 248, S. 1) in der geänderten Fassung und Art. 30 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und zur Aufhebung der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates (ABl. 2012, L 298, S. 1) hervorgeht – die optimale Relation zwischen den eingesetzten Mitteln und den erzielten Ergebnissen betrifft.
64 Die Beachtung dieser Grundsätze verlangt, dass es die ausgewählten Auswahlkriterien ermöglichen, vorrangig die den Zielen der Entwicklung des ländlichen Raums am besten entsprechenden Vorhaben zu fördern, wie sie sich aus den vier in der Verordnung Nr. 1698/2005 erwähnten Schwerpunkten ergeben.
65 Es muss daher gewährleistet sein, dass mit den ausgewählten Kriterien unter allen Vorhaben, für die eine Finanzierung durch den EGFL beantragt wird, diejenigen festgestellt werden können, die am besten geeignet sind, die Zielsetzungen der GAP mit der Verordnung Nr. 1698/2005 zu erreichen.
66 In diesem Rahmen kann unter Berücksichtigung der Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten die Liste der Auswahlkriterien zwar frei von den deutschen Behörden festgelegt werden, ohne zwingend eine Rangfolge oder eine bezifferte Aufstellung der Vorhaben zu enthalten. Sie muss aber die Feststellung derjenigen Vorhaben ermöglichen, die unter Berücksichtigung ihrer Eignung vorrangig durch den ELER zu fördern sind.
67 Daher ist zu prüfen, ob die von den deutschen Behörden umgesetzten Auswahlmodalitäten diesen Anforderungen entsprechen.
68 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass – wie die Kommission zu Recht geltend macht – die Kriterien der Förderfähigkeit von Vorhaben von den Auswahlkriterien unterschieden werden müssen.
69 Die Kriterien der Förderfähigkeit erlauben allenfalls die Feststellung, dass die Vorhaben die unabdingbaren Voraussetzungen für eine Finanzierung durch den ELER erfüllen, also etwa in den Grundzügen den Zielen der GAP entsprechen, wie sie im BayZal übernommen worden sind, aber nicht die Feststellung, welche Vorhaben nach ihrer Eignung vorrangig zu finanzieren sind.
70 Die zu prüfenden Auswahlkriterien der deutschen Behörden sind zum einen diejenigen, die im Dezember 2008 nach der ersten Prüfung der Kommission eingeführt wurden und in der Checkliste C enthalten sind, und zum anderen diejenigen, die in den im Dezember 2012 festgelegten Checklisten A und B enthalten sind.
71 Die Checkliste C mit dem Titel „Kriterien zur Förderung einer/mehrerer Maßnahme(n) mit ELER-Mitteln“ entspricht der Checkliste, die seit Dezember 2008 durch die deutschen Behörden erstellt worden war.
72 Sie besteht aus drei Tabellen, deren erste den Titel „Übereinstimmung mit den Zielen des BayZAL“ trägt und einen Katalog von Fragen enthält, mit denen überprüft werden soll, ob das fragliche Vorhaben den Zielen des BayZAL entspricht. Die zweite Tabelle, die die „maßnahmencodeübergreifende[n] Auswahlkriterien“ betrifft, hat das Ziel zu überprüfen, ob die Grundvoraussetzungen für den Erhalt einer Subvention eingehalten sind, insbesondere im Hinblick auf die Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit des Projektträgers, die gesicherte Finanzierung, die Absicherung, dass das Vorhaben im Fördergebiet liegt, der Förderzeitraum beachtet und eine Doppelförderung ausgeschlossen ist. Die dritte Tabelle mit dem Titel „Maßnahmencodespezifische Auswahlkriterien“ nennt fünf Kriterien, die als Zusammenfassung dienen, wie die Aufnahme des Vorhabens in das Arbeitsprogramm, von denen mindestens zwei erfüllt sein müssen, damit das Vorhaben mit ELER-Mitteln gefördert werden kann.
73 Anhand der Kriterien der Checkliste C kann die Zuschussfähigkeit eines Vorhabens festgestellt werden, aber sie enthalten keine Angaben, die eine vergleichende Bewertung in Bezug auf andere ebenfalls zuschussfähige Projekte ermöglichen. Unter diesen Umständen entsprechen sie nicht den Erfordernissen der Verordnung Nr. 1698/2005.
74 Die Checkliste A trägt die Überschrift „Kriterien zur Aufnahme eines Verfahrens/eines Vorhabens in das Arbeitsprogramm“ und besteht aus vier Tabellen: „Entwicklung der ländlichen Räume (Strategie)“, „Regionale Synergien“, „Kommunales Engagement und aktuelle Leistungen der Verwaltung in der Gemeinde“ und „Übereinstimmung mit den Zielen der ländlichen Entwicklung“.
75 Diese vier Tabellen führen eine bestimmte Anzahl von Kriterien auf, bei denen zu prüfen ist, ob sie erfüllt sind, um zu entscheiden, ob ein beantragtes Flurbereinigungsverfahren in das Arbeitsprogramm aufzunehmen ist. Wie jedoch die Kommission vorträgt, existiert keine Verbindung zwischen den Kriterien, der Anzahl der „Ja“‑ bzw. „Nein“-Antworten und der Gesamtbewertung, wonach das Verfahren, das einem Vorhaben der Flurbereinigung oder Dorferneuerung entspricht, in das Arbeitsprogramm des zuständigen Amtes für ländliche Entwicklung aufgenommen werden kann.
76 Die Checkliste A ermöglicht zwar, die theoretische Zuschussfähigkeit eines Vorhabens zu prüfen, lässt aber keinen Vergleich zu und entspricht auch nicht den Anforderungen der Verordnung Nr. 1698/2005.
77 Die Checkliste B trägt die Überschrift „Kriterien zur Einleitung eines Verfahrens/eines Vorhabens“ und erlaubt es, eine formelle Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens der Flurbereinigung nach den in Bayern geltenden Rechtsvorschriften zu treffen.
78 Sie umfasst nur sechs formale Kriterien, um festzustellen, ob ein Verfahren eingeleitet werden kann, wie das Kriterium der tatsächlichen Aufnahme des Verfahrens oder des Vorhabens in das Arbeitsprogramm. Diese Kriterien betreffen zwar die mögliche Zuschussfähigkeit aus dem ELER, erlauben aber offensichtlich nicht den Vergleich mit anderen Vorhaben.
79 Was das Vorbringen der deutschen Behörden betrifft, wonach in Bezug auf das Dokument Nr. VI/10535/99, auf das die Kommission in ihrem Schreiben vom 11. Mai 2009 Bezug genommen hat, die Auswahl der Vorhaben lediglich „eventuell“, also nicht verbindlich sei, ist festzustellen, dass die Leitlinien im Dokument Nr. VI/10535/99 den vorherigen Programmplanungszeitraum (2000-2006) betreffen und der fakultative Charakter der Auswahl nicht in die Verordnung Nr. 1698/2005 übernommen wurde.
80 Das Dokument Nr. VI/10535/99 heranzuziehen, um es der Anwendung der zwingenden Vorschriften der Verordnung Nr. 1698/2005 entgegenzuhalten, ist also nicht möglich. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut des Schreibens der Kommission vom 11. Mai 2009 das Dokument Nr. VI/10535/99 für die Modalitäten der Umsetzung der Auswahlkriterien und nicht für die Möglichkeit ihrer Umsetzung oder Nichtumsetzung erwähnt war.
81 Aus alledem folgt, dass die Kommission keinen Fehler begangen hat, als sie davon ausgegangen ist, dass Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 Kriterien für eine vergleichende Auswahl der Vorhaben vorsehe und die in Bayern umgesetzten Kriterien dieses Erfordernis nicht erfüllten.
82 Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass sich die deutschen Behörden zwar nur auf die Verletzung der Verordnung Nr. 1698/2005, die den Programmplanungszeitraum 2007-2013 betrifft, beziehen, die Verpflichtung zur Auswahl der Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsvorhaben, wie sich aus Art. 49 der Verordnung Nr. 1305/2013 ergibt, aber für den Programmplanungszeitraum 2014-2020 beibehalten wurde. Da die Bundesrepublik Deutschland nicht dargetan hat, dass die Kommission in Bezug auf das Jahr 2014 einen Fehler begangen hat, als sie die Anwendung vergleichender Auswahlkriterien verlangt hat, ist der angefochtene Beschluss in dieser Beziehung nicht zu rügen.
83 Nach der vorstehenden Analyse ist der erste Klagegrund zurückzuweisen.
Zweiter Klagegrund: Verletzung des aus Art. 6 der Verordnung Nr. 1698/2005 resultierenden Partnerschaftsprinzips, des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
84 Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, die Kommission habe mit der Annahme des angefochtenen Beschlusses gegen das Partnerschaftsprinzip sowie gegen die gegenseitige Loyalitätspflicht der Union und der Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1698/2005 und Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verstoßen.
85 Erstens habe die Kommission mit der Entscheidung vom 5. September 2007 das BayZAL genehmigt. Dieses erläutere aber das in Bayern geltende Verfahren der Flurbereinigung bzw. Dorferneuerung genau, insbesondere die unterschiedlichen Phasen dieses Verfahrens und dessen möglicherweise mehrjährige Laufzeit sowie die Notwendigkeit, auch Vorhaben oder Projekte, über die vor dem Beginn des Programmplanungszeitraums im Jahr 2007 entschieden worden sei und die sich bereits in der Durchführungsphase befunden hätten, in die Finanzierung einzubeziehen.
86 Die der Entscheidung vom 5. September 2007 vorausgegangene neunmonatige Abstimmungsphase habe es der Kommission ermöglicht, alle relevanten Gesichtspunkte des in Bayern geltenden Verfahrens kennenzulernen, so dass sie dieses Vorgehen der deutschen Behörden nicht in Frage stellen könne. Schließlich hätte die Kommission, wenn sie ein anderes Vorgehen der deutschen Behörden für notwendig erachtet hätte, eine die Entscheidung vom 5. September 2007 abändernde Entscheidung erlassen müssen, was sie jedoch nicht getan habe.
87 Zweitens sei der Begleitausschuss ab November 2007 in Anwesenheit von Vertretern der Kommission mehrfach zusammengetreten. Da diese sich nicht mit dem ursprünglich geplanten Ansatz einverstanden gezeigt hätten, seien zusätzliche Auswahlkriterien festgelegt worden. Die Vertreter der Kommission hätten hinsichtlich dieser Kriterien keine Zweifel geäußert und auch keine Einwände dagegen erhoben, dass aufgrund ausreichend vorhandener Finanzmittel kein Ranking der Vorhaben notwendig sei.
88 Die deutschen Behörden hätten sich auf die von der Kommission sowohl durch die Genehmigung des BayZAL als auch durch das Verhalten ihrer Vertreter in den Sitzungen des Begleitausschusses geweckten Erwartungen verlassen, so dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliege.
89 In der Erwiderung beruft sich die Bundesrepublik Deutschland ferner – hilfsweise – auf eine Mitverantwortung der Kommission für eine etwaige Verletzung der Verordnung Nr. 1698/2005, aus der folge, dass die Kommission den Betrag der finanziellen Berichtigung jedenfalls hätte begrenzen müssen.
90 Die Kommission trägt vor, der zweite Klagegrund sei wegen des Vorrangs des abgeleiteten Unionsrechts, hier der Verordnung Nr. 1698/2005, vor den Bestimmungen des BayZAL zurückzuweisen. Sie habe das BayZAL zwar in der Tat genehmigt, doch hindere dies die deutschen Behörden nicht an der Durchführung einer vergleichenden Auswahl der fraglichen Vorhaben.
91 Überdies habe es sich bei der Teilnahme ihrer Vertreter an den Arbeiten des Begleitausschusses um eine Teilnahme in beratender Funktion im Sinne von Art. 77 Abs. 2 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 1698/2005 gehandelt. Unter diesen Umständen könne keine Rede davon sein, dass die von den deutschen Behörden beanspruchte Vorgehensweise, die die Umsetzung vergleichender Auswahlkriterien ausschließe, gebilligt worden sei. Zu verweisen sei insbesondere auf das Schreiben vom 11. Mai 2009 an die deutschen Behörden, in dem unmissverständlich darauf hingewiesen worden sei, dass diese Kriterien umgesetzt werden müssten.
92 Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV sieht vor, dass sich die Union und die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, achten und gegenseitig unterstützen. Nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1698/2005 werden außerdem die Interventionen des ELER „in enger Abstimmung … zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat sowie mit den Behörden und Stellen, die der Mitgliedstaat im Rahmen seiner einzelstaatlichen Regelungen und seiner Praxis benennt, umgesetzt“, wobei sich die Partnerschaft nach Art. 6 Abs. 3 „auf die Ausarbeitung und Begleitung des nationalen Strategieplans sowie auf die Ausarbeitung, Durchführung, Begleitung und Bewertung der Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum [erstreckt]“.
93 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes zählt nach ständiger Rechtsprechung zu den tragenden Grundsätzen der Union. Auf diesen Grundsatz kann sich jeder berufen, bei dem ein Unionsorgan begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. Urteil vom 14. März 2013, Agrargenossenschaft Neuzelle, C‑545/11, EU:C:2013:169, Rn. 23 und 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
94 Präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen unabhängig von der Form ihrer Mitteilung Zusicherungen dar, die solche Erwartungen wecken können. Dagegen kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine präzisen Zusicherungen gegeben hat (Urteil vom 14. März 2013, Agrargenossenschaft Neuzelle, C‑545/11, EU:C:2013:169, Rn. 25).
95 Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass – wie die Kommission geltend macht – der Umstand, dass das BayZal nicht vorsah, die Bewilligung der ELER-Förderung von der Durchführung einer vergleichenden Auswahl zwischen den potenziell förderfähigen Vorhaben abhängig zu machen, ohne Bedeutung für die Auslegung des Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 ist, wie sie oben in den Rn. 65 und 66 formuliert worden ist und wonach die Umsetzung dieser Kriterien zwingend war (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Juli 2016, Polen/Kommission, C‑210/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:529, Rn. 43).
96 Da diese Auslegung sowohl für die deutschen Behörden als auch die Kommission gilt, war somit – in einem ersten Schritt – die Erstellung und dann – in einem nächsten Schritt – die Umsetzung vergleichender Auswahlkriterien zwingend.
97 Die Billigung des BayZal durch die Kommission konnte daher nicht den Verzicht der Kommission auf das Erfordernis vergleichender Auswahlkriterien zur Folge haben, was in jedem Fall dazu geführt hätte, dass sie ihre Befugnisse überschritten hätte. Folglich verkennt die Bundesrepublik Deutschland die Bedeutung der Genehmigung des BayZal.
98 Die Kommission war jedenfalls auch nicht verpflichtet, eine Entscheidung zur Änderung ihrer Entscheidung vom 5. September 2007 zu erlassen. Die Bestimmungen des BayZal und die der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des FlurbG und des Gesetzes zur Ausführung des Flurbereinigungsgesetzes sind nämlich mit der Umsetzung vergleichender Auswahlkriterien vereinbar. Die Untätigkeit der deutschen Behörden liegt vielmehr in der mangelnden Erstellung und Umsetzung solcher Kriterien.
99 Zweitens ist darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 77 Abs. 2 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 1698/2005 die Teilnahme der Dienststellen der Kommission an den Sitzungen des Begleitausschusses eine beratende war, so dass es keinen Anlass gibt, ihnen eine angebliche unveränderliche Position entgegenzuhalten, die sie in diesem Rahmen eingenommen hätten. Ferner haben sie nach den im Dezember 2008 eingeführten Änderungen erklärt, dass sie mit dem Fehlen der vergleichenden Auswahlkriterien nicht einverstanden seien. Das geht insbesondere aus dem Schreiben der Kommission an die deutschen Behörden vom 11. Mai 2009 hervor, in dessen Anhang unter Punkt 2.2.2 unter der Überschrift „Neue Kontrollliste ‚Auswahlkriterien in der ländlichen Entwicklung‘“ Zweifel hinsichtlich der Modalitäten des Vergleichs zwischen neuen Projekten und den vor 2009 eingeleiteten Projekten formuliert werden, ergänzt durch eine Aufforderung an die deutschen Behörden, die Modalitäten der Auswahl dieser Projekte klarer darzulegen.
100 Die Bundesrepublik Deutschland macht also zu Unrecht eine Verletzung des Partnerschaftsprinzips und der Loyalitätspflicht sowie eine angebliche Mitverantwortung der Kommission geltend. Das Vorbringen in Bezug auf genaue, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte der Dienststellen der Kommission, nach denen das Auswahlsystem in der bestehenden Form ausreichend gewesen sei, ist ebenfalls unbegründet. Die Rüge des Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes ist daher ebenfalls zurückzuweisen.
101 Nach der vorstehenden Analyse ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
Dritter Klagegrund: Verstoß gegen das in Art. 5 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip
102 Im Rahmen des dritten Klagegrundes macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, die Kommission verstoße durch ihre extensive Auslegung der Verordnung Nr. 1698/2005, die die Anwendung von Auswahlkriterien auf die verschiedenen Phasen des in Bayern geltenden Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens verlange, gegen das Subsidiaritätsprinzip, da sie in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und in die Planungshoheit der Kommunen eingreife. Dabei handele es sich um Bereiche, deren Verwaltung besser von den Mitgliedstaaten und gegebenenfalls von den regionalen und lokalen Akteuren sichergestellt werden könne und die in Deutschland unter dem Schutz des Grundgesetzes stünden.
103 Die Kommission verfolge das Ziel, die drei Phasen des Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahrens in Bayern auf eine einzige Phase zu reduzieren, was sich negativ auf die Bürgerbeteiligung auswirken und zur Einbeziehung schlecht vorbereiteter Projekte führen würde, wodurch zusätzliche Kosten entstünden.
104 In diesem Zusammenhang sei nochmals darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1698/2005 Auswahlkriterien nur in Bezug auf Vorhaben vorsehe, die sich in der dritten Phase befänden.
105 Die Kommission trägt vor, der dritte Klagegrund sei zurückzuweisen, da einzelstaatliche Regelungen die unmittelbar anwendbaren Regeln des Unionsrechts auch vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips nicht in Frage stellen könnten.
106 Es treffe jedenfalls nicht zu, dass sie die Kontrolle über das in Bayern geltende Verfahren übernehmen wolle, das ihrer Ansicht nach vollauf mit der Verpflichtung zur Umsetzung von Auswahlkriterien vereinbar sei. Wenn sich die deutschen Behörden dazu außerstande sähen, hätten sie auch die Möglichkeit, andere Maßnahmen des betreffenden Schwerpunkts der Verordnung Nr. 1698/2005 auszuwählen.
107 Gemäß dem in Art. 5 Abs. 3 EUV niedergelegten Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind (Urteil vom 17. Juni 2009, Portugal/Kommission, T‑50/07, nicht veröffentlicht, EU:T:2009:206, Rn. 105).
108 Die Notwendigkeit, das Subsidiaritätsprinzip zu berücksichtigen, ergibt sich im vorliegenden Fall insbesondere aus dem Wortlaut des 61. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1698/2005, in dem es heißt, dass „[e]ntsprechend dem Subsidiaritätsprinzip … für die Zuschussfähigkeit der Ausgaben bis auf bestimmte Ausnahmen die einschlägigen einzelstaatlichen Bestimmungen gelten [sollten]“. Dies wird ergänzt durch den 63. Erwägungsgrund dieser Verordnung, wonach „[i]m Rahmen der dezentralen Durchführung der Aktionen des ELER Garantien gegeben werden [sollten], die insbesondere die Qualität der Umsetzung, die Ergebnisse, die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung und die Kontrolle betreffen“.
109 Da die Kommission für die Ausführung des Haushaltsplans der Union zuständig ist, muss sie insoweit zum einen die Bedingungen überprüfen, unter denen die Zahlungen und die Kontrollen erfolgt sind, und kann sie zum anderen die Finanzierung nur übernehmen, wenn diese Bedingungen jede erforderliche Gewähr dafür bieten, dass die Ausgaben in Übereinstimmung mit den Unionsvorschriften vorgenommen wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juni 2009, Portugal/Kommission, T‑50/07, nicht veröffentlicht, EU:T:2009:206, Rn. 106).
110 Wenngleich die Aufteilung der Aufgaben zwischen der Kommission und den deutschen Behörden dazu führt, Letzteren – insbesondere da die Verordnung Nr. 1698/2005 auf die innerstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen verweist – die Erarbeitung der einschlägigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die Zuschussfähigkeit der Ausgaben zu überlassen, ändert dies jedoch nichts an der Tatsache, dass die Kommission verpflichtet ist, zu kontrollieren, ob die deutschen Behörden ihre Verpflichtungen in diesem Bereich tatsächlich erfüllen, ohne dass der Kommission dadurch jedoch die Befugnis übertragen würde, bestimmte Regeln in Bezug auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften über das Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahren vorzuschreiben.
111 Wie die Kommission geltend macht, bestehen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 in der Umsetzung der Auswahlkriterien, die die Durchführung einer vergleichenden Auswahl der betroffenen Vorhaben erlauben; dieses Ziel kann erreicht werden, ohne dass das für Flurbereinigungs- und Dorferneuerungsverfahren geltende mitgliedstaatliche oder gar regionale Recht in Frage gestellt wird.
112 Die Bundesrepublik Deutschland kann sich also nicht auf einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip berufen, da sie nicht nachgewiesen hat, dass die Kommission in ihre Zuständigkeit, wie sie sich aus dem Subsidiaritätsprinzip ergibt, eingegriffen hat, als sie die Einhaltung von Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 verlangt hat.
113 Nach der vorstehenden Analyse ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen.
Vierter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013, Art. 31 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1290/2005 und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie Begründungsmangel
114 Die Bundesrepublik Deutschland, die im Rahmen des vierten Klagegrundes ihr Vorbringen wiederholt, dass sie keine Bestimmungen der Verordnung Nr. 1698/2005 verletzt habe, macht hilfsweise geltend, die Kommission habe dadurch, dass sie ihr eine pauschale Berichtigung von 10 % auferlegt habe, jedenfalls die Art und die geringe Tragweite des Verstoßes falsch bewertet, weil sie verkannt habe, dass der Union weder ein finanzieller Schaden entstanden sei noch eine solche Gefahr bestanden habe.
115 Unter Bezugnahme auf die im Dokument Nr. VI/5330/97 vom 23. Dezember 1997 mit dem Titel „Leitlinien zur Berechnung der finanziellen Auswirkungen im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung über den Rechnungsabschluss des EAGFL-Garantie“ festgelegten Leitlinien zur Anwendung von finanziellen Berichtigungen habe die Kommission fälschlich angenommen, dass eine Schlüsselkontrolle verletzt worden sei.
116 Bei allen Vorhaben, für die eine Finanzierung aus dem ELER beantragt worden sei, hätten nämlich – wie im Übrigen auch die Schlichtungsstelle anerkannt habe – die in der Verordnung Nr. 1698/2005 aufgestellten Fördervoraussetzungen vorgelegen, hätten die Projekte mit den Zielen des ELER im Einklang gestanden und seien auch ausreichende Finanzmittel verfügbar gewesen. Darüber hinaus würden Auswahlkriterien von der Definition der Schlüsselkontrollen im Dokument Nr. VI/5330/97 nicht erfasst.
117 Nur ein Fall der absoluten Unmöglichkeit, die Förderfähigkeit der fraglichen Vorhaben zu beurteilen, könne eine Berichtigung von 10 % nach sich ziehen, nicht aber angebliche Mängel bei der Auswahl der besten Projekte aus allen förderfähigen Vorhaben.
118 Die Berichtigung von 10 % verletze auch Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013 und Art. 31 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1290/2005, denn die Kommission habe der Art des Verstoßes nicht angemessen Rechnung getragen, da sie Mängel bei der Beurteilung der Förderfähigkeit der Ausgaben und Mängel beim Auswahlverfahren gleichgesetzt habe.
119 Der Begründungsmangel liege schließlich darin, dass die Kommission nicht dargelegt habe, worin die Verletzung der Schlüsselkontrollen in Bezug auf die Auswahlkriterien im Sinne ihrer Leitlinien bestehen solle.
120 In der Erwiderung führt die Bundesrepublik Deutschland aus, die Kommission habe im schriftlichen Verfahren vor dem Gericht die Anwendung des Berichtigungssatzes von 10 % nachträglich damit gerechtfertigt, dass im Fall anderer Mitgliedstaaten bei Mängeln gleicher Art eine auf 5 % beschränkte finanzielle Berichtigung angewendet worden sei, da sie für die Klassifizierung der Vorhaben immerhin ein Punktesystem verwendet hätten. Abgesehen davon, dass diese Begründung verspätet sei, stütze sie sich auf einen Grund, der im Widerspruch dazu stehe, dass die Verordnung Nr. 1698/2005 kein Punktesystem für die Klassifizierung der Vorhaben vorsehe.
121 Schließlich sei die Behauptung der Kommission zurückzuweisen, dass die ordnungsgemäße Auswahl gar nicht durch Verwaltungskontrollen sichergestellt worden sei; diese seien vielmehr für jedes Vorhaben durchgeführt und dokumentiert worden.
122 Die Kommission trägt vor, Art. 24 ihrer Verordnung (EU) Nr. 65/2011 vom 27. Januar 2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1698/2005 hinsichtlich der Kontrollverfahren und der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen bei Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums (ABl. 2011, L 25, S. 8) sehe vor, dass im Rahmen der Auswahl der Vorhaben Verwaltungskontrollen durchzuführen seien. Die Auswahl der Vorhaben bestehe aber nicht nur darin, die Checklisten A, B und C auszufüllen und zu überprüfen, dass die Ausgaben aufgrund ihrer Aufnahme in das BayZAL förderfähig seien, sondern auch in der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Auswahl der potenziell förderfähigen Vorhaben.
123 Der zentrale Vorgang, bei dem die örtliche Verwaltung darüber entscheiden solle, ob ein Vorhaben in die Förderung durch den ELER aufgenommen werde, sei somit nicht überprüft worden, da die Checklisten A, B und C keine vergleichende Bewertung der Projekte sicherstellten. Alle geförderten Vorhaben entsprächen hinsichtlich der Ausgaben den Förderfähigkeitskriterien, so dass das Risiko für den ELER zwar nicht 100 % betrage, aber das Fehlen einer vergleichenden Auswahl ein erhöhtes Risiko zur Folge habe und es sich um eine Unzulänglichkeit einer Schlüsselkontrolle handele, die die Anwendung des Berichtigungssatzes von 10 % rechtfertige.
124 Zu dem von der Bundesrepublik Deutschland angeführten Begründungsmangel sei festzustellen, dass der Satz von 10 % – anders als bei den mit einer 5%igen Kürzung belegten Mitgliedstaaten – wegen des völligen Fehlens einer ordnungsgemäßen Auswahl der Vorhaben auferlegt worden sei und nicht deshalb, weil kein Bewertungssystem auf der Grundlage von Punkten verwendet worden sei. Die Bundesrepublik Deutschland sei darüber durch die Korrespondenz während des Verwaltungsverfahrens und durch den zusammenfassenden Bericht der Kommission regelmäßig informiert worden, so dass ihr die Gründe für die Anwendung des Satzes von 10 % bekannt gewesen seien.
125 Was die finanziellen Berichtigungen im Bereich des ELER anbelangt, sieht Art. 31 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1290/2005 vor, dass die Kommission die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung des Umfangs der festgestellten Nichtübereinstimmung bemisst. Sie trägt dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der Union entstandenen finanziellen Schaden Rechnung (Urteil vom 26. Februar 2015, Litauen/Kommission, T‑365/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:113, Rn. 52).
126 In Anhang 2 des Dokuments Nr. VI/5330/97 werden die finanziellen Auswirkungen von Mängeln der mitgliedstaatlichen Kontrollen präzisiert. Eine pauschale finanzielle Berichtigung kann – abhängig von der Höhe des Risikos des Verlusts – ins Auge gefasst werden, wenn es anhand der Ergebnisse der Überprüfung nicht möglich ist, die der Gemeinschaft durch eine mangelhafte Kontrolle entstandenen Verluste durch eine Extrapolation auf statistischem Wege oder durch Bezugnahme auf andere überprüfbare Daten zu bewerten (Urteil vom 26. Februar 2015, Litauen/Kommission, T‑365/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:113, Rn. 53).
127 Im Dokument Nr. VI/5330/97 sieht die Kommission für die Feststellung des Grades des Verlustrisikos für die Mittel der Union zwei Kategorien von Kontrollen vor. Schlüsselkontrollen sind die körperlichen und administrativen Kontrollen, die erforderlich sind, um die wesentlichen Elemente eines Antrags zu überprüfen, insbesondere die Existenz der Person, die den Antrag stellt, die Erzeugnismenge und die qualitativen Merkmale einschließlich der Einhaltung der Fristen, Ernteauflagen, Haltungszeiträume usw. Diese Schlüsselkontrollen werden vor Ort und durch Gegenkontrollen mit unabhängigen Daten wie den Liegenschaftsbüchern vorgenommen. Zusatzkontrollen sind die administrativen Maßnahmen, die erforderlich sind, um die Anträge korrekt zu bearbeiten, also beispielsweise die Überprüfung der Einhaltung der Einreichungsfristen, die Erkennung von Doppelbeantragungen, die Risikoanalyse, die Anwendung von Sanktionen und die angemessene Überwachung der Verfahren (Urteil vom 26. Februar 2015, Litauen/Kommission, T‑365/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:113, Rn. 54).
128 Für die Berechnung der nicht förderfähigen Ausgaben sieht das Dokument Nr. VI/5330/97 vier Arten von Pauschalberichtigungen vor:
—
25 % der Ausgaben, wenn ein Mitgliedstaat ein Kontrollsystem überhaupt nicht oder nur in äußerst mangelhafter Weise anwendet und es Beweise gibt, die auf weit verbreitete Unregelmäßigkeiten sowie auf Fahrlässigkeit bei der Bekämpfung betrügerischer und unregelmäßiger Praktiken schließen lassen, und daher die Gefahr besteht, dass dem EGFL besonders hohe Verluste entstehen;
—
10 % der Ausgaben, wenn eine oder mehrere Schlüsselkontrollen nicht oder nur so unzulänglich bzw. so selten vorgenommen werden, dass es absolut unmöglich ist, die Förderfähigkeit eines Antrags zu beurteilen oder eine Unregelmäßigkeit zu verhüten, und daher der Schluss zulässig ist, dass nach vernünftigem Ermessen die Gefahr eines sehr hohen und generalisierten Verlusts zum Schaden des EGFL besteht;
—
5 % der Ausgaben, wenn zwar alle Schlüsselkontrollen vorgenommen wurden, jedoch nicht in der nach den Verordnungen vorgeschriebenen Zahl, Häufigkeit oder Intensität, und somit der Schluss zulässig ist, dass die Kontrollen nach vernünftigem Ermessen keine ausreichende Gewähr für die Ordnungsmäßigkeit der Anträge bieten und dass die Gefahr eines Verlusts zum Nachteil des EGFL besteht;
—
2 % der Ausgaben, wenn der Mitgliedstaat zwar die Schlüsselkontrollen in angemessener Weise vorgenommen hat, es aber vollständig versäumt hat, eine oder mehrere Zusatzkontrollen durchzuführen, und somit ein geringeres Verlustrisiko für den EGFL besteht und auch der Verstoß weniger gravierend ist.
129 Im vorliegenden Fall geht aus den Schlussfolgerungen des zusammenfassenden Berichts hervor, dass die Kommission der Ansicht war, dass die Auswahl der Vorhaben intransparent geblieben sei, und dass damit eine Gefahr für den ELER bestand, so dass eine pauschale Kürzung in Höhe von 10 % vorzunehmen war.
130 Wie die Kommission geltend gemacht hat, ist der intransparente Charakter der Auswahl nicht darauf zurückzuführen, dass die deutschen Behörden nicht auf ein spezielles System der Bewertungskriterien einschließlich eines Rating-Systems zurückgegriffen haben, sondern vor allem auf die mangelnde Umsetzung der vergleichenden Auswahlkriterien gemäß Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005, wie dies bei der Prüfung des ersten Klagegrundes bereits gezeigt wurde, so dass die deutschen Behörden eine der ihnen durch diese Vorschrift obliegenden grundlegenden Verpflichtungen verkannt haben.
131 Gemäß Art. 31 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1290/2005 ist es Aufgabe der Kommission, die Schlussfolgerungen aus den festgestellten Mängeln zu ziehen, indem sie die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung des Umfangs der Nichtübereinstimmung bemisst und dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der Union entstandenen finanziellen Schaden Rechnung trägt.
132 Da die festgestellten Mängel die deutschen Behörden daran hinderten, die Förderfähigkeit der Anträge unter den Bedingungen des Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1698/2005 zu bestimmen, führen sie zur Unzulänglichkeit einer Schlüsselkontrolle, die den Schluss zulässt, dass nach vernünftigem Ermessen die Gefahr eines sehr hohen und generalisierten Verlusts zum Schaden des EGFL besteht. Die Behauptung, dass für alle Vorhaben ausreichende Finanzmittel vorhanden gewesen seien, trifft nämlich sachlich nicht zu, wenn alle Anträge auf Dorferneuerungs- oder Flurneuordnungsvorhaben, insbesondere die, die nicht in das Arbeitsprogramm der lokal zuständigen Ämter für ländliche Entwicklung aufgenommen wurden, berücksichtigt werden. Das Versäumnis der deutschen Behörden zieht auch ein Risiko nach sich, dass Mittel der Union für Vorhaben bereitgestellt werden, denen die erforderliche Eignung fehlt, so dass das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland, der Union sei aufgrund ausreichend vorhandener Finanzmittel weder ein finanzieller Schaden entstanden noch habe eine solche Gefahr bestanden, in jedem Fall als ins Leere gehend anzusehen ist.
133 Im Rahmen einer abstrakten Beurteilung der Gefahr ist im Hinblick auf die unbestimmte Zahl betroffener Einzelfälle und ihrer Umstände der Pauschalbetrag der nicht förderfähigen Ausgaben unter Berücksichtigung der Empfehlungen im Dokument Nr. VI/5330/97 mit 10 % angemessen bewertet worden.
134 Bei der Bestimmung dieses Satzes hat die Kommission somit – entgegen dem Vorbringen der deutschen Behörden – weder Art. 52 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1306/2013 noch Art. 31 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1290/2005 verkannt, noch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt.
135 Hinsichtlich der angeblichen Verletzung der Begründungspflicht ist erneut darauf hinzuweisen, dass die deutschen Behörden eng am Verfahren der Ausarbeitung dieser Entscheidung beteiligt waren, da sie vor Erlass des angefochtenen Beschlusses an einem Schlichtungsverfahren gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006 teilgenommen haben. Sie kannten somit die Gründe, aus denen die Kommission der Ansicht war, einen Satz von 10 % anwenden zu müssen.
136 Der Verweis auf eine Berichtigung in Höhe von 5 % in Bezug auf bestimmte Mitgliedstaaten erscheint daher nicht als eine nachträglich durch die Kommission vorgebrachte Begründung, um die Anwendung eines Satzes von 10 % zu rechtfertigen. Das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland hierzu ist daher zurückzuweisen.
137 Angesichts der vorstehenden Analyse ist der vierte Klagegrund zurückzuweisen und die Klage somit insgesamt abzuweisen.
Kosten
138 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
139 Da die Bundesrepublik Deutschland unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Prek
Schalin
Costeira
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. April 2017.
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
M. Prek
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
|
|||||||||||
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 29. März 2017.#Königreich der Niederlande gegen Europäische Kommission.#Rechtssache T-501/15.
|
62015TJ0501
|
ECLI:EU:T:2017:230
| 2017-03-29T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TJ0501 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichts (Dritte Kammer) vom 9. März 2017.#Comprojecto-Projectos e Construções, Lda u. a. gegen Europäische Zentralbank.#Rechtssache T-22/16.
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62016TO0022
|
ECLI:EU:T:2017:172
| 2017-03-09T00:00:00 |
Gericht
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Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 15. März 2017.#Europäische Kommission gegen Königreich Spanien.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Umwelt – Richtlinie 2008/98/EG – Art. 13 und 15 – Abfallbewirtschaftung – Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt – Verantwortung – Abfalldeponien.#Rechtssache C-563/15.
|
62015CJ0563
|
ECLI:EU:C:2017:210
| 2017-03-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
|
EUR-Lex - CELEX:62015CJ0563 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 7. März 2017.#X und X gegen État belge.#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil du Contentieux des Étrangers (Belgien).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 25 Abs. 1 Buchst. a – Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit – Erteilung eines Visums aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen – Begriff ‚internationale Verpflichtungen‘ – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Genfer Abkommen – Erteilung eines Visums bei erwiesener Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 und/oder Art. 18 der Grundrechtecharta – Fehlen einer Verpflichtung.#Rechtssache C-638/16 PPU.
|
62016CJ0638
|
ECLI:EU:C:2017:173
| 2017-03-07T00:00:00 |
Gerichtshof, Mengozzi
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62016CJ0638
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
7. März 2017 (1 )*
[Text berichtigt mit Beschluss vom 24. März 2017]
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verordnung (EG) Nr. 810/2009 — Art. 25 Abs. 1 Buchst. a — Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit — Erteilung eines Visums aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen — Begriff ‚internationale Verpflichtungen‘ — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten — Genfer Abkommen — Erteilung eines Visums bei erwiesener Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 und/oder Art. 18 der Grundrechtecharta — Fehlen einer Verpflichtung“
In der Rechtssache C‑638/16 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil du Contentieux des Étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) mit Entscheidung vom 8. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Dezember 2016, in dem Verfahren
X und X
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz und J. L. da Cruz Vilaça, der Kammerpräsidentin M. Berger (Berichterstatterin), der Richter A. Borg Barthet und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von X und X, vertreten durch T. Wibault und P. Robert, avocats,
—
der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von C. L’hoir, M. Van Regemorter und F. Van Dijck, Sachverständige, sowie von E. Derriks und F. Motulsky, avocats,
—
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch N. Lyshøj und C. Thorning als Bevollmächtigte,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,
—
der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch E. Armoet als Bevollmächtigte,
—
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér als Bevollmächtigten,
—
der maltesischen Regierung, vertreten durch A. Buhagiar als Bevollmächtigte,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. de Ree als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch M. Kamejsza, M. Pawlicka und B. Majczyna als Bevollmächtigte,
—
der slowenischen Regierung, vertreten durch V. Klemenc und T. Mihelič Žitko als Bevollmächtigte,
—
[berichtigt mit Beschluss vom 24. März 2017] der slowakischen Regierung, vertreten durch M. Kianička als Bevollmächtigten,
—
der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Februar 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 25 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1, berichtigt im ABl. 2013, L 154, S. 10) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex) sowie der Art. 4 und 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und X und dem belgischen Staat wegen der Verweigerung der Erteilung von Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit.
Rechtlicher Rahmen
Internationales Recht
3 Art. 1 („Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) lautet:
„Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I [dieser Konvention] bestimmten Rechte und Freiheiten zu.“
4 Der zu Abschnitt I der EMRK gehörende Art. 3 („Verbot der Folter“) bestimmt:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“
5 Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Abkommen) sieht in Abs. 1 vor:
„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgend eine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“
Unionsrecht
Charta
6 Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
7 In Art. 18 („Asylrecht“) der Charta heißt es:
„Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens … sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union … gewährleistet.“
8 Art. 51 („Anwendungsbereich“) der Charta sieht in Abs. 1 vor:
„[Die] Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. …“
Visakodex
9 Im 29. Erwägungsgrund des Visakodex heißt es:
„Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [EMRK] und der Charta … anerkannt wurden.“
10 Art. 1 („Ziel und Geltungsbereich“) des Visakodex bestimmt in Abs. 1:
„Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“
11 In Art. 2 des Visakodex heißt es:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
2. ‚Visum‘ die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf
a)
die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen;
b)
die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten;
…“
12 Art. 25 („Erteilung eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit“) des Visakodex sieht vor:
„(1) Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit wird in folgenden Ausnahmefällen erteilt:
a)
wenn der betreffende Mitgliedstaat es aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen für erforderlich hält,
i)
von dem Grundsatz abzuweichen, dass die in [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] festgelegten Einreisevoraussetzungen erfüllt sein müssen,
ii)
ein Visum zu erteilen, obwohl der gemäß Artikel 22 konsultierte Mitgliedstaat Einwände gegen die Erteilung eines einheitlichen Visums erhebt, oder
iii)
ein Visum aus dringlichen Gründen zu erteilen …
oder
b)
wenn aus von dem Konsulat als gerechtfertigt angesehenen Gründen dem Antragsteller erneut ein Visum für einen Aufenthalt innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen erteilt wird, innerhalb dessen er bereits ein einheitliches Visum oder ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit für einen Aufenthalt von 90 Tagen verwendet hat.
(2) Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit ist für das Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats gültig. In Ausnahmefällen kann es für das Hoheitsgebiet von mehr als einem Mitgliedstaat gültig sein, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten dem zustimmen.
…
(4) Wurde in den in Absatz 1 Buchstabe a beschriebenen Fällen ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit erteilt, so teilen die zentralen Behörden des ausstellenden Mitgliedstaats den zentralen Behörden der anderen Mitgliedstaaten … unverzüglich die einschlägigen Informationen mit.
(5) Die Daten … werden in das [Visa-Informationssystem] eingegeben, wenn entschieden worden ist, dass das Visum erteilt wird.“
13 Art. 32 („Visumverweigerung“) des Visakodex sieht in Abs. 1 Buchst. b vor:
„Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 1 wird das Visum verweigert,
…
b)
wenn begründete Zweifel an der [vom Antragsteller] bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen.“
Verordnung (EU) 2016/399
14 In Art. 4 („Grundrechte“) der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, im Folgenden: Schengener Grenzkodex) heißt es:
„Bei der Anwendung dieser Verordnung handeln die Mitgliedstaaten unter umfassender Einhaltung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Union, einschließlich der Charta …, und des einschlägigen Völkerrechts, darunter auch des Genfer Abkommens … und der Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu internationalem Schutz, insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, sowie der Grundrechte. Im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts werden die Beschlüsse nach dieser Verordnung auf Einzelfallbasis gefasst.“
15 Art. 6 („Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige“) des Schengener Grenzkodex sieht vor:
„(1) Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen … gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:
a)
Er muss im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein …
b)
Er muss im Besitz eines gültigen Visums sein, falls dies … vorgeschrieben ist …
c)
Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts … verfügen …
d)
Er darf nicht … zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.
e)
Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaates darstellen …
…
(5) Abweichend von Absatz 1 gilt Folgendes:
…
c)
Ein Mitgliedstaat kann Drittstaatsangehörigen, die eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen gestatten. …“
Richtlinie 2013/32/EU
16 In Art. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) heißt es:
„(1) Diese Richtlinie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes.
(2) Diese Richtlinie gilt nicht für Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten.
…“
Verordnung (EU) Nr. 604/2013
17 Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31), sieht vor:
„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen …“
18 In Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
19 Die Antragsteller des Ausgangsverfahrens – ein Ehepaar – und ihre drei kleinen Kinder besitzen die syrische Staatsangehörigkeit und leben in Aleppo (Syrien). Am 12. Oktober 2016 stellten sie bei der belgischen Botschaft in Beirut (Libanon) nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex Anträge auf Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit, bevor sie am darauffolgenden Tag nach Syrien zurückkehrten.
20 Zur Stützung dieser Anträge erläuterten die Antragsteller des Ausgangsverfahrens, dass die beantragten Visa es ihnen ermöglichen sollten, die belagerte Stadt Aleppo zu verlassen, um in Belgien Asyl zu beantragen. Einer der Antragsteller des Ausgangsverfahrens gab u. a. an, er sei von einer Terroristengruppe entführt und anschließend geschlagen und gefoltert worden, bevor er schließlich gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Die Antragsteller des Ausgangsverfahrens hoben insbesondere die prekäre Sicherheitslage in Syrien im Allgemeinen und in Aleppo im Besonderen sowie den Umstand hervor, dass sie aufgrund ihres christlich-orthodoxen Glaubens der Gefahr einer Verfolgung wegen ihrer religiösen Überzeugung ausgesetzt seien. Außerdem hätten sie u. a. angesichts der Schließung der Grenze zwischen dem Libanon und Syrien keine Möglichkeit, sich in einem der angrenzenden Länder als Flüchtlinge registrieren zu lassen.
21 Mit Entscheidungen vom 18. Oktober 2016, die den Antragstellern des Ausgangsverfahrens am 25. Oktober 2016 bekannt gegeben wurden, lehnte das Ausländeramt (Belgien) ihre Anträge ab. Das Ausländeramt führte u. a. aus, dass die Antragsteller des Ausgangsverfahrens beabsichtigt hätten, sich länger als 90 Tage in Belgien aufzuhalten, dass Art. 3 EMRK die Vertragsparteien dieser Konvention nicht verpflichte, „Personen, die eine katastrophale Situation erleben“, in ihr Hoheitsgebiet aufzunehmen, und dass die belgischen diplomatischen Vertretungen nicht zu den Behörden zählten, bei denen Ausländer einen Asylantrag stellen könnten. Die Gestattung der Erteilung eines Einreisevisums für die Antragsteller des Ausgangsverfahrens, damit sie in Belgien einen Asylantrag stellen könnten, liefe darauf hinaus, es ihnen zu ermöglichen, einen solchen Antrag bei einer diplomatischen Vertretung zu stellen.
22 Das vorlegende Gericht, bei dem die Antragsteller des Ausgangsverfahrens diese Entscheidungen anfechten, weist darauf hin, dass sie im innerstaatlichen Verfahren „äußerster Dringlichkeit“ die Aussetzung der Vollziehung der genannten Entscheidungen beantragt hätten. Da die Zulässigkeit eines solchen Antrags aber in Anbetracht der geltenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften fraglich ist, hat dieses Gericht beschlossen, die Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) anzurufen, damit sie über diese Frage entscheide. Bis zur Antwort der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) setzt das vorlegende Gericht die Prüfung des Ausgangsverfahrens im Verfahren äußerster Dringlichkeit fort.
23 Die Antragsteller des Ausgangsverfahrens machen beim vorlegenden Gericht im Wesentlichen geltend, dass Art. 18 der Charta den Mitgliedstaaten die positive Verpflichtung auferlege, das Asylrecht zu garantieren, und dass die Gewährung internationalen Schutzes das einzige Mittel sei, um die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 der Charta abzuwenden. Da sie sich, wie die belgischen Behörden im vorliegenden Fall selbst angenommen hätten, in einer humanitären Ausnahmesituation befänden, seien die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex in Anbetracht der dem Königreich Belgien obliegenden internationalen Verpflichtungen erfüllt, so dass ihnen die beantragten Visa aus humanitären Gründen hätten erteilt werden müssen.
24 Der belgische Staat vertritt hingegen die Auffassung, dass weder Art. 3 EMRK noch Art. 33 des Genfer Abkommens ihn verpflichteten, einen Drittstaatsangehörigen in sein Hoheitsgebiet aufzunehmen, und dass die einzige ihm insoweit obliegende Verpflichtung die Verpflichtung zur Nichtzurückweisung sei.
25 Das vorlegende Gericht führt aus, die Antragsteller des Ausgangsverfahrens könnten sich, wie aus Art. 1 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hervorgehe, auf Art. 3 EMRK nur unter der Voraussetzung berufen, dass sie sich in der „Hoheitsgewalt“ Belgiens befänden. Es hat jedoch Zweifel, ob die Durchführung der Visumpolitik als Ausübung von Hoheitsgewalt angesehen werden kann. Außerdem sei fraglich, ob sich aus Art. 3 EMRK und – entsprechend – aus Art. 33 des Genfer Abkommens als logische Folge der Verpflichtung zum Erlass präventiver Maßnahmen und des Grundsatzes der Nichtzurückweisung eine Einreiseberechtigung ergeben könne.
26 Darüber hinaus hänge die Anwendung von Art. 4 der Charta, anders als bei Art. 3 EMRK, nicht von der Ausübung von Hoheitsgewalt ab, sondern von der Durchführung des Unionsrechts. Weder aus den Verträgen noch aus der Charta ergebe sich jedoch, dass deren Anwendung territorial beschränkt wäre.
27 Art. 25 des Visakodex sehe u. a. vor, dass ein Visum erteilt werde, wenn der betreffende Mitgliedstaat dies aufgrund internationaler Verpflichtungen für erforderlich „hält“. Zweifelhaft sei jedoch der Umfang des den Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang eingeräumten Beurteilungsspielraums; in Anbetracht des zwingenden Charakters der internationalen und der sich aus der Charta ergebenden Verpflichtungen könnte insoweit jeglicher Spielraum ausgeschlossen sein.
28 Unter diesen Umständen hat der Conseil du Contentieux des Étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen vorzulegen:
1. Beziehen sich die „internationalen Verpflichtungen“ im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex auf sämtliche durch die Charta gewährleisteten Rechte, darunter insbesondere diejenigen, die durch die Art. 4 und 18 gewährleistet werden, und fallen darunter auch die Verpflichtungen, an die die Mitgliedstaaten in Anbetracht der EMRK sowie des Art. 33 des Genfer Abkommens gebunden sind?
2. a)
Ist Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Frage dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit befasst ist, vorbehaltlich des Beurteilungsspielraums, über den er hinsichtlich der Umstände des Falles verfügt, verpflichtet ist, das beantragte Visum zu erteilen, wenn die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 und/oder Art. 18 der Charta oder gegen eine andere internationale Verpflichtung, an die er gebunden ist, erwiesen ist?
b)
Hat das Vorliegen von Verbindungen zwischen dem Antragsteller und dem mit dem Visumantrag befassten Mitgliedstaat (beispielsweise familiäre Bindungen, Gastfamilien, Garanten und Förderer usw.) Auswirkungen auf die Beantwortung dieser Frage?
Zum Eilverfahren
29 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.
30 Zur Stützung dieses Antrags hat es u. a. auf die dramatische Situation des bewaffneten Konflikts in Syrien, das geringe Alter der Kinder der Antragsteller des Ausgangsverfahrens, deren besondere Schutzbedürftigkeit aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur christlich-orthodoxen Gemeinschaft und insbesondere den Umstand verwiesen, dass es im Rahmen eines Verfahrens äußerster Dringlichkeit zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes angerufen worden sei.
31 Das vorlegende Gericht hat insoweit darauf hingewiesen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Aussetzung des bei ihm anhängigen Verfahrens zur Folge gehabt habe.
32 Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, das die Auslegung von Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex betrifft, Fragen zu den Bereichen aufwirft, die von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfasst werden. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung in Betracht.
33 Zweitens steht fest, dass die Antragsteller des Ausgangsverfahrens jedenfalls zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, tatsächlich Gefahr liefen, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden, was als ein Kriterium für die Dringlichkeit anzusehen ist, das die Anwendung der Art. 107 ff. der Verfahrensordnung rechtfertigt.
34 In Anbetracht dessen hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs am 15. Dezember 2016 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. Überdies hat die Kammer entschieden, die Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, damit er sie der Großen Kammer zuweist.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
35 Die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts wird u. a. von der belgischen Regierung mit der Begründung in Abrede gestellt, dass Art. 25 Abs. 1 des Visakodex, um dessen Auslegung ersucht werde, auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge nicht anwendbar sei.
36 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch zweifelsfrei hervor, dass diese Anträge aus humanitären Gründen auf der Grundlage von Art. 25 des Visakodex gestellt wurden.
37 Die Frage, ob der Visakodex auf Anträge wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, die es Drittstaatsangehörigen ermöglichen sollen, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Asyl zu beantragen, ist untrennbar mit den Antworten verbunden, die auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zu geben sind. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung dieses Ersuchens zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Wojciechowski, C‑408/14, EU:C:2015:591, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zu den Vorlagefragen
38 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex dahin auszulegen ist, dass die dort genannten internationalen Verpflichtungen die Wahrung sämtlicher durch die Charta, insbesondere in deren Art. 4 und 18, sowie durch die EMRK und durch Art. 33 des Genfer Abkommens garantierter Rechte seitens eines Mitgliedstaats umfassen. Mit seiner zweiten Frage möchte es wissen, ob Art. 25 Abs. 1 Buchst. a des Visakodex unter Berücksichtigung der Antwort auf seine erste Frage dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der mit einem Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit befasst ist, das beantragte Visum erteilen muss, wenn die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 und/oder Art. 18 der Charta oder gegen eine internationale Verpflichtung, der dieser Mitgliedstaat nachkommen muss, besteht. Gegebenenfalls möchte es wissen, ob das Vorliegen von Verbindungen zwischen dem Antragsteller und dem mit dem Visumantrag befassten Mitgliedstaat insoweit Auswirkungen hat.
39 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran hindert, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. u. a. Urteil vom 12. Februar 2015, Oil Trading Poland, C‑349/13, EU:C:2015:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Visakodex auf der Grundlage von Art. 62 Nr. 2 Buchst. a und b Ziff. ii des EG-Vertrags erlassen wurde, wonach der Rat der Europäischen Union Maßnahmen über Visa für geplante Aufenthalte von höchstens drei Monaten einschließlich der Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung durch die Mitgliedstaaten beschließt.
41 Mit dem Visakodex werden gemäß seinem Art. 1 die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt. Nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und b des Visakodex bezeichnet der Ausdruck „Visum“ im Sinne dieses Kodex „die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung“ im Hinblick auf „die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen“ bzw. „die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten“.
42 Wie aus der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, stellten die Antragsteller des Ausgangsverfahrens bei der belgischen Botschaft im Libanon ihre auf Art. 25 des Visakodex gestützten Anträge auf Visa aus humanitären Gründen aber in der Absicht, sogleich nach ihrer Ankunft in Belgien in diesem Mitgliedstaat Asyl zu beantragen; sie strebten somit die Erteilung eines Aufenthaltstitels an, dessen Gültigkeit nicht auf 90 Tage beschränkt wäre.
43 Nach Art. 1 des Visakodex fallen solche Anträge, obgleich sie formal auf der Grundlage von Art. 25 dieses Kodex gestellt wurden, nicht in dessen Anwendungsbereich und insbesondere nicht in den Anwendungsbereich seines Art. 25 Abs. 1 Buchst. a, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht im Zusammenhang mit dem darin enthaltenen Begriff „internationale Verpflichtungen“ ersucht.
44 Außerdem fallen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge allein unter das nationale Recht, weil der Unionsgesetzgeber bisher – wie die belgische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben – keinen auf Art. 79 Abs. 2 Buchst. a AEUV beruhenden Rechtsakt erlassen hat, der die Voraussetzungen betrifft, unter denen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen Visa oder Aufenthaltstitel für einen langfristigen Aufenthalt erteilen.
45 Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation somit nicht vom Unionsrecht geregelt ist, sind die Vorschriften der Charta, insbesondere deren Art. 4 und 18, auf die sich die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen, nicht auf sie anwendbar (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, und vom 27. März 2014, Torralbo Marcos, C‑265/13, EU:C:2014:187, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Das vorstehende Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. b des Visakodex „begründete Zweifel an der [vom Antragsteller] bekundeten Absicht …, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen“, ein Grund für die Verweigerung des Visums und nicht für die Nichtanwendung dieses Kodex sind.
47 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation ist nämlich nicht dadurch gekennzeichnet, dass solche Zweifel bestehen, sondern durch einen Antrag, der einen anderen Gegenstand hat als den eines Visums für einen kurzfristigen Aufenthalt.
48 Das umgekehrte Ergebnis liefe überdies darauf hinaus, dass Drittstaatsangehörige unter Berufung auf den Visakodex, obwohl er für die Zwecke der Erteilung von Visa für Aufenthalte im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen konzipiert wurde, Visumanträge mit dem Ziel stellen könnten, die Gewährung internationalen Schutzes im Mitgliedstaat ihrer Wahl zu erreichen, was die allgemeine Systematik des mit der Verordnung Nr. 604/2013 geschaffenen Systems beeinträchtigen würde.
49 Außerdem würde das umgekehrte Ergebnis bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nach dem Visakodex verpflichtet wären, es Drittstaatsangehörigen de facto zu ermöglichen, einen Antrag auf internationalen Schutz bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines Drittstaats zu stellen. Auch wenn der Visakodex nicht dazu dient, die Regelungen der Mitgliedstaaten über den internationalen Schutz zu harmonisieren, ist aber festzustellen, dass die auf der Grundlage von Art. 78 AEUV erlassenen Rechtsakte der Union, die die Verfahren für Anträge auf internationalen Schutz regeln, keine solche Verpflichtung vorsehen; sie schließen im Gegenteil Anträge, die bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten gestellt werden, von ihrem Anwendungsbereich aus. So geht aus Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/32 hervor, dass sie für Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, gilt, nicht aber für Ersuchen um diplomatisches oder territoriales Asyl in Vertretungen der Mitgliedstaaten. Ebenso ergibt sich aus Art. 1 und Art. 3 der Verordnung Nr. 604/2013, dass sie die Mitgliedstaaten nur dazu verpflichtet, jeden im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, und dass die in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren nur für solche Anträge auf internationalen Schutz gelten.
50 Unter diesen Umständen haben die belgischen Behörden die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge fälschlich als Anträge auf Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt eingestuft.
51 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 des Visakodex dahin auszulegen ist, dass für einen Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit, der von einem Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen auf der Grundlage von Art. 25 dieses Kodex bei der Vertretung des Zielmitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines Drittstaats in der Absicht gestellt wird, sogleich nach seiner Ankunft in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und sich infolgedessen in einem Zeitraum von 180 Tagen länger als 90 Tage dort aufzuhalten, nicht der Visakodex gilt, sondern beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts allein das nationale Recht.
Kosten
52 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass für einen Antrag auf ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit, der von einem Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen auf der Grundlage von Art. 25 dieses Kodex bei der Vertretung des Zielmitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines Drittstaats in der Absicht gestellt wird, sogleich nach seiner Ankunft in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und sich infolgedessen in einem Zeitraum von 180 Tagen länger als 90 Tage dort aufzuhalten, nicht der Visakodex gilt, sondern beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts allein das nationale Recht.
Unterschriften
(1 ) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 1. Februar 2017.#Aalberts Industries NV gegen Europäische Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union.#Außervertragliche Haftung – Art. 47 der Charta der Grundrechte – Angemessene Dauer des Gerichtsverfahrens – Umstände der jeweiligen Rechtssache – In dem Rechtsstreit auf dem Spiel stehende Interessen – Komplexität des Rechtsstreits – Verhalten der Parteien und Zwischenstreitigkeiten – Keine Phase ungerechtfertigter Untätigkeit.#Rechtssache T-725/14.
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62014TJ0725
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ECLI:EU:T:2017:47
| 2017-02-01T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TJ0725
URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
1. Februar 2017 (*1)
„Außervertragliche Haftung — Art. 47 der Grundrechtecharta — Angemessene Verfahrensdauer — Umstände der Rechtssache — Bedeutung des Rechtsstreits — Komplexität des Rechtsstreits — Verhalten der Parteien und Zwischenstreitigkeiten — Nichtvorliegen einer Phase der ungerechtfertigten Untätigkeit“
In der Rechtssache T‑725/14
Aalberts Industries NV mit Sitz in Utrecht (Niederlande), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte R. Wesseling und M. Tuurenhout,
Klägerin,
gegen
Europäische Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union, dieser zunächst vertreten durch A. Placco, dann durch J. Inghelram und E. Beysen als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch S. Noë, P. van Nuffel und V. Bottka als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
wegen einer Klage gemäß Art. 268 AEUV auf Ersatz des Schadens, der der Klägerin durch die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht in der Rechtssache, die zu dem Urteil vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114), geführt hat, entstanden sein soll,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas sowie der Richterin I. Labucka und der Richter E. Bieliūnas (Berichterstatter), V. Kreuschitz und I. S. Forrester,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juli 2016
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Mit Klageschrift, die am 14. Dezember 2006 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Klägerin, die Aalberts Industries NV, zusammen mit der Simplex Armaturen + Fittings GmbH & Co. KG (im Folgenden: Simplex) und der Acquatis France SAS, jetzt Comap SA (im Folgenden: Acquatis), eine Klage gegen die Entscheidung K(2006) 4180 der Kommission vom 20. September 2006 in einem Verfahren nach Artikel [101 AEUV] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/F‑1/38.121 – Rohrverbindungen) (im Folgenden: Entscheidung K[2006] 4180). In der Klageschrift beantragten diese Gesellschaften im Wesentlichen, diese Entscheidung für nichtig zu erklären, hilfsweise, die mit dieser Entscheidung gegen sie verhängte Geldbuße herabsetzen.
2 Mit Urteil vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114) erklärte das Gericht Art. 1 der Entscheidung K(2006) 4180 für nichtig, soweit die Europäische Kommission darin festgestellt hatte, dass die oben in Rn. 1 genannten Unternehmen vom 25. Juni 2003 bis zum 1. April 2004 an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV teilgenommen hatten. Das Gericht erklärte auch Art. 2 Buchst. a dieser Entscheidung für nichtig. In diesem Artikel hatte die Kommission gegen die Klägerin eine Geldbuße in Höhe von 100,80 Mio. Euro gesamtschuldnerisch mit ihren Tochtergesellschaften Simplex und Acquatis festgesetzt. Schließlich erklärte das Gericht Art. 2 Buchst. b Nr. 2 der Entscheidung K(2006) 4180 für nichtig, wonach Simplex und Acquatis in Höhe von 2,04 Mio. Euro für gesamtschuldnerisch haftbar erklärt worden waren.
3 Mit der am 6. Juni 2011 eingereichten Rechtsmittelschrift legte die Kommission ein Rechtsmittel gegen das Urteil vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114) ein.
4 Mit Urteil vom 4. Juli 2013, Kommission/Aalberts Industries u. a. (C‑287/11 P, EU:C:2013:445), wies der Gerichtshof dieses Rechtsmittel zurück.
Verfahren und Anträge der Parteien
5 Mit Klageschrift, die am 14. Oktober 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage gegen die Europäische Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union oder durch die Kommission, erhoben.
6 Mit gesonderten Schriftsätzen, die am 17. November 2014 bzw. am 17. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Kommission und der Gerichtshof der Europäischen Union jeweils eine Einrede der Unzulässigkeit nach Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 erhoben.
7 Mit Beschluss vom 13. Februar 2015, Aalberts Industries/Europäische Union (T‑725/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:107), hat das Gericht zum einen die vom Gerichtshof der Europäischen Union erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückgewiesen und zum anderen die Klage abgewiesen, soweit sie gegen die Union, vertreten durch die Kommission, gerichtet war.
8 Mit Rechtsmittelschrift, die am 19. März 2015 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat der Gerichtshof der Europäischen Union ein Rechtsmittel gegen den Beschluss vom 13. Februar 2015, Aalberts Industries/Europäische Union (T‑725/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:107) eingelegt, das unter dem Aktenzeichen C‑132/15 P in das Register eingetragen worden ist.
9 Mit Beschluss vom 14. April 2015 hat der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts auf Antrag des Gerichtshofs der Europäischen Union das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache bis zur verfahrensbeendenden Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑132/15 P, Gerichtshof/Aalberts Industries, ausgesetzt.
10 Mit Beschluss vom 18. Dezember 2015, Gerichtshof/Aalberts Industries (C‑132/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:858), ist die Rechtssache im Register des Gerichtshofs gestrichen worden.
11 Nach der Wiederaufnahme des Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache hat die Kommission mit dem am 15. Januar 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsatz beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Gerichtshofs der Europäischen Union zugelassen zu werden.
12 Am 16. Februar 2016 hat der Gerichtshof der Europäischen Union eine Klagebeantwortung eingereicht.
13 Am 17. Februar 2016 hat das Gericht die vorliegende Rechtssache an die Dritte erweiterte Kammer verwiesen.
14 Am 2. März 2016 hat das Gericht entschieden, dass ein zweiter Schriftsatzwechsel nicht erforderlich ist. Im Übrigen hat es den Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen prozessleitender Maßnahmen im Sinne von Art. 89 der Verfahrensordnung des Gerichts aufgefordert, mitzuteilen, ob er die Genehmigung sowohl der Klägerinnen in der Rechtssache, in der das Urteil vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114) (im Folgenden: Rechtssache T‑385/06) ergangen ist, als auch der Kommission zur Vorlage bestimmter Schriftstücke, die in den Anlagen der Klagebeantwortung enthalten sind und sich auf die Rechtssache T‑385/06 beziehen, beantragt und erhalten hat.
15 Mit Beschluss vom 15. März 2016, Aalberts Industries/Europäische Union (T‑725/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:208) hat der Präsident der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts dem Antrag der Kommission auf Zulassung als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Gerichtshofs der Europäischen Union stattgegeben und der Kommission die Rechte nach Art. 116 § 6 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 zuerkannt.
16 Am 18. März 2016 hat der Gerichtshof der Europäischen Union auf die oben in Rn. 14 genannte Frage geantwortet. Er hat in erster Linie beantragt, festzustellen, dass er die Genehmigung der Klägerin und der Kommission zur Vorlage der die Rechtssache T‑385/06 betreffenden Schriftstücke weder habe beantragen noch erhalten müssen, hilfsweise, festzustellen, dass diese Genehmigung von der Klägerin und der Kommission stillschweigend erteilt worden sei. Äußerst hilfsweise hat der Gerichtshof der Europäischen Union beantragt, seine Antwort als Antrag auf eine prozessleitende Maßnahme zu behandeln, mit der das Gericht im Rahmen der vorliegenden Klage die Vorlage der Schriftstücke anordnen möge, die in der Akte des Verfahrens T‑385/06 enthalten seien, und insbesondere derjenigen Schriftstücke, die der Klagebeantwortung als Anlagen beigefügt seien.
17 Am 4. April 2016 hat der Präsident der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts erstens entschieden, die Schriftstücke, die in den Anlagen der in dieser Rechtssache eingereichten Klagebeantwortung enthalten sind und sich auf die Rechtssache T‑385/06 beziehen, aus der Akte zu entfernen. Diese Entscheidung ist damit begründet worden, dass der Gerichtshof der Europäischen Union weder die Genehmigung der Parteien in der Rechtssache T‑385/06 zur Vorlage dieser Schriftstücke beantragt und erlangt hat, noch gemäß Art. 38 Abs. 2 der Verfahrensordnung den Zugang zu den Akten jener Rechtssache beantragt hatte. Zweitens hat der Präsident der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts gemäß Art. 88 Abs. 3 der Verfahrensordnung beschlossen, die Klägerin aufzufordern, zu dem Antrag auf Erlass einer prozessleitenden Maßnahme Stellung zu nehmen, der vom Gerichtshof der Europäischen Union in seiner oben in Rn. 16 erwähnten Antwort vom 18. März 2016 äußerst hilfsweise gestellt worden ist.
18 Am 20. April 2016 hat die Klägerin beantragt, den Antrag des Gerichtshofs der Europäischen Union auf Erlass einer prozessleitenden Maßnahme zurückweisen.
19 Am 11. Mai 2016 hat das Gericht festgestellt, dass es für die Aufbereitung und Regelung der vorliegenden Rechtssache in Anbetracht ihres Gegenstands erforderlich sei, dass ihm die Akten der Rechtssache T‑385/06 zur Verfügung ständen. Deshalb hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 der Verfahrensordnung beschlossen, die Akten der Rechtssache T‑385/06 im vorliegenden Verfahren hinzuzuziehen.
20 Am 17. Juni 2016 hat der Gerichtshof der Europäischen Union die Zustellung der Akten der Rechtssache T‑385/06 beantragt.
21 Am 29. Juni 2016 hat das Gericht die Klägerin aufgefordert, ein Dokument vorzulegen.
22 Die Parteien haben in der Sitzung vom 19. Juli 2016 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
23 Die Klägerin beantragt,
—
die Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union, zum Ersatz des ihr aufgrund der unangemessen langen Dauer des Verfahrens vor dem Gericht entstandenen Schadens zu verurteilen, und zwar zur Zahlung
—
von 1014863 Euro für den materiellen Schaden und von 5040000 Euro für den immateriellen Schaden oder eines vom Gericht nach billigem Ermessen festzusetzenden Betrags;
—
zuzüglich von Ausgleichszinsen auf diese Beträge vom 13. Januar 2010 an bis zum Tag der Verkündung des Urteils über diese Klage zu dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte festgelegten Zinssatz, der in dem betreffenden Zeitraum gilt, erhöht um zwei Prozentpunkte, oder zu einem vom Gericht nach billigem Ermessen festzusetzenden Zinssatz;
—
der Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union, die Kosten aufzuerlegen.
24 Der Gerichtshof der Europäischen Union beantragt, unterstützt durch die Kommission,
—
den Antrag auf Schadensersatz als unbegründet zurückzuweisen;
—
hilfsweise, den Antrag auf Ersatz des geltend gemachten materiellen Schadens als unbegründet zurückzuweisen und der Klägerin einen Ersatz des geltend gemachten immateriellen Schadens in Höhe von höchstens 5000 Euro zuzuerkennen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
25 Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.
26 Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich aus Art. 340 Abs. 2 AEUV, dass die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft und der Anspruch auf Schadensersatz davon abhängen, dass eine Reihe von Voraussetzungen, nämlich Rechtswidrigkeit des den Organen vorgeworfenen Verhaltens, tatsächliches Vorliegen eines Schadens und Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden, erfüllt sind (Urteile vom 29. September 1982, Oleifici Mediterranei/EWG, 26/81, EU:C:1982:318, Rn. 16, und vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission, C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476, Rn. 106).
27 Die Klägerin beantragt Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens, der ihr aufgrund des Verstoßes gegen die Anforderungen an die Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer (im Folgenden: angemessene Verfahrensdauer) in der Rechtssache T‑385/06 entstanden sind.
28 Zum Ersten macht sie geltend, dass das Verfahren in der Rechtssache T‑385/06 vier Jahre und drei Monate gedauert habe und die Prüfung dieser Rechtssache mehr als zwei Jahre und zwei Monate „ins Stocken geraten“ sei. Das Gericht habe nicht zu beurteilen, welche Verfahrensdauer in dieser Rechtssache angemessen gewesen wäre. Es sei nämlich allein zu beurteilen, ob die Dauer des Verfahrens unangemessen gewesen sei, soweit sie mehr als drei Jahre betragen habe. In Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles hätte die Verfahrensdauer in der Rechtssache T‑385/06 drei Jahre nicht überschreiten dürfen.
29 Zum Zweiten macht die Klägerin geltend, dass bei einem Rechtsstreit über eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln das grundlegende Gebot der für die Wirtschaftsteilnehmer unerlässlichen Rechtssicherheit sowie das Ziel, zu gewährleisen, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht werde, es rechtfertigten, dass ihre Klage sorgfältig und innerhalb angemessener Frist, die so kurz wie möglich sein müsse, geprüft werde. Des Weiteren bringt die Klägerin vor, dass die ihr durch die Entscheidung K(2006) 4180 auferlegte Geldbuße in Höhe von mehr als 100 Mio. Euro zu negativen Schlagzeilen geführt habe, die sich auf den Börsenkurs ihrer Aktien und auf die Bewertung durch die Finanzanalysten ausgewirkt hätten. Auch sei ihr Ruf bei ihren Kunden durch die Entscheidung K(2006) 4180, mit der ihr zu Unrecht eine Geldbuße auferlegt worden sei und die am Ende vom Gericht für nichtig erklärt worden sei, beschädigt worden.
30 Zum Dritten macht die Klägerin geltend, dass die Verfahrensdauer in der Rechtssache T‑385/06 durch nichts in dieser Rechtssache gerechtfertigt werden könne. Die Dauer des Verfahrens lasse sich nämlich nicht mit der Komplexität der Rechtssache T‑385/06 rechtfertigen. Im Übrigen könne diese Dauer nicht mit dem Verhalten der Parteien erklärt werden, da das schriftliche Verfahren in der Rechtssache T‑385/06 zehn Monate nach der Einreichung der Klageschrift beendet worden sei.
31 Der Gerichtshof der Europäischen Union tritt diesen Vorbringen entgegen.
32 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union insbesondere bestimmt, dass „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“.
33 Dieses Recht, das als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts bereits vor dem Inkrafttreten der Grundrechtecharta bekräftigt worden ist, gilt auch im Rahmen einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission (vgl. Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 In der Rechtssache T‑385/06 wurde die Klageschrift der Kanzlei des Gerichts am 14. Dezember 2006 mittels Fax übermittelt, und das Original dieser Klageschrift ging der Kanzlei am darauffolgenden 21. Dezember zu. Im Übrigen endete das Verfahren in der Rechtssache T‑385/06 am 24. März 2011 mit der Verkündung des Urteils Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114). Auf den ersten Blick ist die Verfahrensdauer in dieser Rechtssache von mehr als vier Jahren und drei Monaten somit sehr lang.
35 Jedoch ist die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens vor dem Gericht anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache und insbesondere anhand der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen, der Komplexität der Rechtssache sowie des Verhaltens des Klägers und der zuständigen Behörden zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe/Kommission,C‑185/95 P, EU:C:1998:608, Rn. 29, und vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission, C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476, Rn. 212).
36 Zudem gehören zu den Umständen, die bei der Beurteilung der Angemessenheit einer Verfahrensdauer zu berücksichtigen sind, das Verhalten der „Beteiligten“ und Zwischenstreitigkeiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 181 und 184).
37 Die Liste der relevanten Kriterien ist dabei nicht abschließend, und die Beurteilung der Angemessenheit der Frist erfordert keine systematische Prüfung der Umstände des Falles anhand jedes Kriteriums, wenn die Dauer des Verfahrens anhand eines von ihnen gerechtfertigt erscheint. Die Komplexität der Sache oder vom Kläger herbeigeführte Verzögerungen können daher herangezogen werden, um eine auf den ersten Blick zu lange Dauer zu rechtfertigen (vgl. Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Daraus folgt, dass die Angemessenheit einer Frist nicht unter Heranziehung einer präzisen, abstrakt festgelegten Obergrenze geprüft werden kann, sondern in jedem Einzelfall anhand der konkreten Umstände zu beurteilen ist (Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 192, und vom 28. Februar 2013, Überprüfung Arango Jaramillo u. a./EIB, C‑334/12 RX‑II, EU:C:2013:134, Rn. 29).
39 Im vorliegenden Fall ist somit zu prüfen, ob sich anhand der in der Rechtssache T‑385/06 vorliegenden Umstände die Dauer des Verfahrens in dieser Rechtssache erklären lässt. Dazu sind erstens die Bedeutung des Rechtsstreits für die Klägerin, zweitens die Komplexität der Rechtssache T‑385/06, drittens der Einfluss des Verhaltens der Parteien und die Zwischenstreitigkeiten und viertens das mögliche Vorliegen einer ungerechtfertigten Phase der Untätigkeit bei der Behandlung der Rechtssache T‑385/06 zu untersuchen.
Zur Bedeutung der Rechtssache T‑385/06 für die Klägerin
40 Bei einem Rechtsstreit über eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln sind das grundlegende Gebot der für die Wirtschaftsteilnehmer unerlässlichen Rechtssicherheit und das Ziel, zu gewährleisten, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird, nicht nur für den Kläger und seine Konkurrenten, sondern wegen der großen Zahl betroffener Personen und der berührten finanziellen Interessen auch für Dritte von erheblichem Interesse (Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission, C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 186).
41 Im vorliegenden Fall hat die Kommission in der Entscheidung K(2006) 4180 festgestellt, dass die Klägerin vom 25. Juni 2003 bis zum 1. April 2004 an einer einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV teilgenommen hat. In dieser Entscheidung hat die Kommission gegen die Klägerin eine Geldbuße in Höhe von 100,80 Mio. Euro, davon gesamtschuldnerisch mit Simplex und Acquatis in Höhe von 55,15 Mio. Euro, festgesetzt, weil sie mit diesen zwei Gesellschaften eine wirtschaftliche Einheit gebildet hatte.
42 Daraus folgt, dass die Rechtssache T‑385/06 für die Klägerin tatsächlich von Bedeutung war.
Zur Komplexität der Rechtssache T‑385/06
43 Zum Ersten ist darauf hinzuweisen, dass die von der Klägerin in der Rechtssache T‑385/06 erhobene Klage eine eingehende Beurteilung des Sachverhalts und zahlreicher rechtlicher Fragen erforderte.
44 Die Kommission hatte in der Entscheidung K(2006) 4180 festgestellt, dass 30 zu elf Konzernen gehörende Unternehmen an einer einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und seit dem 1. Januar 1994 gegen Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beteiligt gewesen seien, indem sie an einem Bündel von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen auf dem Markt für Rohrverbindungen aus Kupfer und Kupferlegierungen in Form von Preisfestsetzung, Vereinbarung von Preislisten, Preisnachlässen und Rückvergütungen sowie von Mechanismen zur Durchführung von Preiserhöhungen, Aufteilung von Märkten und Kunden und Austausch sonstiger Wirtschaftsinformationen teilgenommen hätten. Außerdem hatte die Kommission der Klägerin wegen dieser in der Zeit vom 25. Juni 2003 bis zum 1. April 2004 begangenen Zuwiderhandlung eine Geldbuße auferlegt.
45 Die Klägerin rechtfertigte bei der Einreichung der Klageschrift in einem Begleitschreiben den Umfang dieser Klageschrift damit, dass die Kommission in ihrer Entscheidung über die Verhängung der Geldbuße 220 Seiten benötigt habe, um ein komplexes Geflecht von Tatsachen zu beschreiben und zu analysieren. Ferner führte die Klägerin in diesem Schreiben aus, dass sie sich, anders als es in der Mehrheit der Wettbewerbssachen geschehen sei, die im selben Zeitraum eingeleitet worden seien, gegen alle Gesichtspunkte der Entscheidung K(2006) 4180 wende.
46 Im Übrigen umfassten die Anlagen der Klageschrift mehr als 750 Seiten, von denen 220 Seiten die Entscheidung K(2006) 4180 wiedergaben. Die Kommission fügte ihrer Klagebeantwortung Anlagen im Umfang von mehr als 120 Seiten bei. Der Erwiderung waren mehr als 160 Seiten an Anlagen beigefügt.
47 Schließlich machte die Klägerin in der Rechtssache T‑385/06 fünf Klagegründe geltend. Mit dem ersten Klagegrund wurde gerügt, dass die Zuwiderhandlung zu Unrecht der Klägerin als Muttergesellschaft zugerechnet worden sei. Mit dem zweiten Klagegrund wurde geltend gemacht, dass keine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV vorliege. Mit dem dritten Klagegrund wurde behauptet, dass eine Beteiligung an einer einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung nicht stattgefunden habe. Mit dem vierten Klagegrund wurde eine Verletzung von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 [KS] festgesetzt werden (ABl. 1998, C 9, S. 3) gerügt. Mit dem fünften Klagegrund wurde ein Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und gegen Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 wegen Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit durch die Kommission geltend gemacht.
48 Damit erforderte die in der Rechtssache T‑385/06 erhobene Klage eine eingehende Prüfung der komplexen und zahlreichen Sachverhalte, die sich teilweise vor der Zeit der der Klägerin in der Entscheidung K(2006) 4180 zur Last gelegten Zuwiderhandlung ereignet hatten. Im Übrigen warfen einige der in dieser Rechtssache geltend gemachten Klagegründe heikle Rechtsfragen auf, die insbesondere mit dem Begriff der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung zusammenhingen.
49 Zum Zweiten ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtssache T‑385/06 angesichts der in ihr gestellten Anträge und geltend gemachten Klagegründe Zusammenhänge mit den neun weiteren Klagen aufwies, die gegen die Entscheidung K(2006) 4180 im Dezember 2006 in mehreren Verfahrenssprachen erhoben worden waren.
50 In der Rechtssache T‑385/06 und in der Rechtssache, in der das Urteil vom 24. März 2011, IMI u. a./Kommission (T‑378/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:109) ergangen ist, beantragten Acquatis und Simplex nämlich die Nichtigerklärung von Art. 2 Buchst. b Nr. 2 der Entscheidung K(2006) 4180, mit dem ihnen gesamtschuldnerisch eine Geldbuße in Höhe von 2,04 Mio. Euro auferlegt worden war. Aufgrund dessen sah sich die Kommission gezwungen, in jeder dieser Rechtssachen eine Einrede der Rechtshängigkeit zu erheben. Das Gericht gab der Einrede statt und der Antrag auf Nichtigerklärung von Art. 2 Buchst. b Nr. 2 der Entscheidung K(2006) 4180 wurde mit Urteil vom 24. März 2011, IMI u. a./Kommission (T‑378/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:109) für unzulässig erklärt. Dagegen erklärte das Gericht mit Urteil vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114) Art. 2 Buchst. b Nr. 2 der Entscheidung K(2006) 4180 für nichtig.
51 Im Rahmen ihres vierten Klagegrundes in der Rechtssache T‑385/06, der die Höhe der Geldbuße betraf, rügte die Klägerin zudem einen Rechenfehler, der einen Zusammenhang mit der Klage in der Rechtssache aufwies, in der das Urteil vom 24. März 2011, IMI u. a./Kommission (T‑378/06, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:109) erging. Die Klägerin warf der Kommission nämlich vor, Acquatis und Simplex zweimal die besondere Schwere der Zuwiderhandlung zugerechnet zu haben, wie sich aus Art. 2 Buchst. a und b der Entscheidung K(2006) 4180 ergebe.
52 Überdies machte die Klägerin ebenfalls im Rahmen des vierten Klagegrundes, der die Höhe der Geldbuße betraf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung bei der Bestimmung der Größe des relevanten räumlichen Marktes, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und gegen die Begründungspflicht bei der Einordnung der Kartellbeteiligten in drei Kategorien je nach deren jeweiligen Marktanteilen und einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Bestimmung der von ihr gehaltenen Marktanteile geltend. Diese Fragen wiesen damit einen sehr engen Zusammenhang mit der Marktsituation der anderen Adressaten der Entscheidung K(2006) 4180 und infolgedessen mit den neun weiteren gegen diese Entscheidung erhobenen Klagen auf. Außerdem wurde die Kommission im November 2009 im Rahmen einer in der Rechtssache T‑385/06 erlassenen prozessleitenden Maßnahme, die mit dem Vorbringen der Klägerin zu ihrem vierten Klagegrund zusammenhing, aufgefordert, eine nicht vertrauliche Version einer Tabelle, die sich in der Anlage der Entscheidung K(2006) 4180 befand, sowie die Daten vorzulegen, auf die sie sich bei der Erstellung dieser Tabelle gestützt hatte.
53 Schließlich rügte die Klägerin im Rahmen ihres fünften Klagegrundes den Mangel an Objektivität und Unparteilichkeit der Kommission sowie die Beweislastumkehr bei den Erklärungen der Unternehmen, die einen Kronzeugenantrag gestellt hatten.
54 Somit wies die Behandlung der Rechtssache T‑385/06 eine unbestreitbare Komplexität auf, da sie eine parallele Prüfung der neun weiteren Klagen, die in mehreren Verfahrenssprachen gegen die Entscheidung K(2006) 4180 erhoben worden waren, erforderte.
55 Daraus folgt, dass die Rechtssache T‑385/06 in Anbetracht der tatsächlichen und rechtlichen Aspekte der in dieser Rechtssache erhobenen Klage und in Anbetracht der Zahl der parallelen Klagen, die gegen die Entscheidung K(2006) 4180 erhoben worden waren, einen erhöhten Grad an Komplexität aufwies.
Verhalten der Parteien und Zwischenstreitigkeiten in der Rechtssache T‑385/06
56 Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die von der Klägerin am 14. Dezember 2006 in der Rechtssache T‑385/06 eingereichte Klageschrift 75 Seiten umfasste.
57 Das Gericht forderte die Klägerin auf, eine gekürzte Fassung der ursprünglichen Fassung der Klageschrift einzureichen, da Letztere die in den vom Gericht erlassenen Praktischen Anweisungen für die Parteien vom 14. März 2002 (ABl. 2002, L 87, S. 48, im Folgenden: Praktische Anweisungen für die Parteien) vorgegebene Seitenzahl, nämlich 50 Seiten, überschritt.
58 Dementsprechend reichte die Klägerin erst am 13. Februar 2007 eine gekürzte Fassung der ursprünglichen Klageschrift ein. Diese gekürzte Fassung wurde der Kommission zugestellt. Im Übrigen war dieser gekürzten Fassung ein Schreiben beigefügt, in dem die Klägerin darauf hinwies, dass die Zahl der Seiten der gekürzten Fassung, nämlich 65 Seiten, wiederum die in den Praktischen Anweisungen für die Parteien festgelegte Grenze von 50 Seiten überschreite.
59 Zum anderen ist zum Verhalten der Kommission festzustellen, dass sie, nachdem ihr Antrag auf Fristverlängerung abgelehnt worden war, am 3. Mai 2007 ihre 66 Seiten umfassende Klagebeantwortung einreichte. In dem Begleitschreiben zu ihrer Klagebeantwortung erklärte sie, dass die Länge dieser Klagebeantwortung durch die Länge der Klageschrift bedingt sei.
60 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission mit Schriftsatz vom 3. Juli 2007 beantragte, die für die Einreichung der Gegenerwiderung ursprünglich auf den 10. August 2007 festgesetzte Frist bis zum 28. September 2007 zu verlängern. Diesen Antrag stützte sie auf folgende Gründe. Erstens gehöre die Rechtssache T‑385/06 zu einer Gruppe von zehn Klagen, die gegen die Entscheidung K(2006) 4180 in drei verschiedenen Sprachen erhoben worden seien, so dass eine Koordinierung erforderlich sei. Zweitens sei in fünf der zehn in Rede stehenden Rechtssachen den Klägern auf ihren Antrag hin eine Fristverlängerung für die Einreichung ihrer Erwiderung gewährt worden, was zweierlei zur Folge gehabt habe: Zum einen seien der Kommission am 3. Juli 2007 nur fünf Erwiderungen übermittelt worden und zum anderen laufe die Frist für die Einreichung der Gegenerwiderung in den Rechtssachen, in denen diese Verlängerung gewährt worden sei, im August bzw. im September 2007 ab. Drittens müsse die Kohärenz ihrer Gegenerwiderungen gewährleistet sein. Viertens habe das Gericht ihr bereits in vier zusammenhängenden Rechtssachen eine Fristverlängerung gewährt.
61 Aufgrund dessen setzte der Kanzler des Gerichts die Parteien mit Schreiben vom 10. Juli 2007 davon in Kenntnis, dass die Frist für die Einreichung der Gegenerwiderung durch Entscheidung des Präsidenten der Kammer bis zum 28. September 2007 verlängert worden sei. Die Kommission reichte daraufhin am 27. September 2007 eine Gegenerwiderung in der Verfahrenssprache ein. In ihrem Begleitschreiben führte sie aus, dass die Zahl der Seiten der Gegenerwiderung die in den Praktischen Anweisungen für die Parteien vorgeschriebene Länge geringfügig überschreite, was aber hauptsächlich auf die Länge der Erwiderung und die darin enthaltenen Ungenauigkeiten zurückzuführen sei.
62 Nach alledem ist festzustellen, dass in der Rechtssache T‑385/06 das Verhalten der Parteien zur Gesamtdauer des Verfahrens beigetragen hat.
Zur Rüge einer ungerechtfertigten Phase der Untätigkeit in der Rechtssache T‑385/06
63 Zum Ersten ist festzuhalten, dass in der Rechtssache T‑385/06 zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens durch die Einreichung der Gegenerwiderung der Kommission am 27. September 2007 und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens am 28. Oktober 2009 ein Zeitraum von zwei Jahren und einem Monat, d. h. von 25 Monaten, lag.
64 Während dieses Zeitraums wurden insbesondere die Argumente der Parteien zusammengefasst, die Rechtssachen aufbereitet, die Rechtsstreitigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht analysiert und der mündliche Teil des Verfahrens vorbereitet.
65 Im Übrigen betraf die Rechtssache T‑385/06 wie gesagt eine Klage, die gegen eine Entscheidung der Kommission über ein Verfahren nach Art. 101 AEUV erhoben worden war.
66 Klagen, die wie die Klage in der Rechtssache T‑385/06 die Anwendung des Wettbewerbsrechts durch die Kommission betreffen, weisen u. a. wegen der Länge der angefochtenen Entscheidung, des Aktenumfangs und der Notwendigkeit, zahlreiche komplexe Sachverhalte detailliert zu beurteilen, die oft einen langen Zeitraum und ein räumlich großes Gebiet umfassen, einen höheren Grad an Komplexität auf als andere Arten von Rechtssachen.
67 Daher ist ein Zeitraum von 15 Monaten zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens für die Behandlung von Rechtssachen, die wie die Rechtssache T‑385/06 die Anwendung des Wettbewerbsrechts betreffen, grundsätzlich angemessen.
68 Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass gegen die Entscheidung K(2006) 4180 mehrere Klagen erhoben worden waren.
69 Klagen, die gegen ein und dieselbe Entscheidung der Kommission erhoben werden, die aufgrund des Wettbewerbsrechts der Union ergangen ist, erfordern grundsätzlich eine parallele Behandlung, und zwar auch dann, wenn diese Klagen nicht miteinander verbunden sind. Diese parallele Behandlung ist insbesondere wegen des Zusammenhangs dieser Klagen und wegen des Erfordernisses der Kohärenz bei deren Analyse und bei der Entscheidung über sie gerechtfertigt.
70 Daher kann die parallele Behandlung von zusammenhängenden Rechtssachen eine einmonatige Verlängerung des Zeitraums zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens je zusätzlicher in einem solchen Zusammenhang stehenden Rechtssache rechtfertigen.
71 Im vorliegenden Fall waren zehn Klagen gegen die Entscheidung K(2006) 4180 in drei verschiedenen Verfahrenssprachen erhoben worden.
72 Unter diesen Umständen rechtfertigte die Behandlung von neun weiteren Rechtssachen, die Klagen gegen die Entscheidung K(2006) 4180 betrafen, eine Verlängerung des Verfahrens in der Rechtssache T‑385/06 um neun Monate.
73 Deshalb ist festzustellen, dass ein Zeitraum von 24 Monaten (15 Monate plus neun Monate) zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens für die Behandlung der Rechtssache T‑385/06 grundsätzlich angemessen war.
74 Schließlich wurden, wie sich oben aus den Rn. 43 bis 48 ergibt, mit der Klage in der Rechtssache T‑385/06 sämtliche Aspekte der Entscheidung K(2006) 4180, die die Klägerin betrafen, angegriffen und dabei komplexe tatsächliche und rechtliche Fragen aufgeworfen, die in ihrer Gesamtheit vor der Eröffnung des mündlichen Verfahrens geprüft werden mussten. Im Übrigen waren die von den Parteien eingereichten Schriftsätze besonders lang und umfassten umfangreiche Anlagen, die einer eingehenden Untersuchung und Prüfung vor der Eröffnung des mündlichen Verfahrens bedurften, um insbesondere ihren Beweiswert zu beurteilen und die jeweiligen Sachverhalte vollständig zu klären. Wie sich im Übrigen oben aus den Rn. 49 bis 54 ergibt, bestand zwischen der Rechtssache T‑385/06 und den neun weiteren Klagen, die in mehreren verschiedenen Sprachen gegen diese Entscheidung erhoben worden waren, ein enger Zusammenhang. Außerdem musste der Kommission für die Einreichung einer Fassung der Gegenerwiderung in der Arbeitssprache des Gerichtshofs der Europäischen Union eine relative lange Frist gewährt werden.
75 Diese objektiven Umstände können daher eine Verlängerung des Zeitraums zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens in der Rechtssache T‑385/06 um mindestens einen Monat rechtfertigen.
76 Infolgedessen ist festzustellen, dass der Zeitraum von 25 Monaten zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens in der Rechtssache T‑385/06 keine Phase einer ungerechtfertigten Untätigkeit bei der Behandlung dieser Rechtssache aufweist.
77 Zum Zweiten macht die Klägerin nicht geltend, dass die Verfahrensdauer zwischen der Einreichung der Klageschrift und der Einreichung der Gegenerwiderung oder zwischen der Eröffnung des mündlichen Verfahrens und der Verkündung des Urteils vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114) nicht gerechtfertigt gewesen ist.
78 Jedenfalls ist festzustellen, dass erstens der Zeitraum zwischen der Einreichung der Klageschrift und der Einreichung der Gegenerwiderung durch das Verhalten der Parteien sowie die Komplexität der Rechtssache T‑385/06 gerechtfertigt wird. Zweitens erklärt sich der Zeitraum zwischen der Eröffnung des mündlichen Verfahrens und der Verkündung des Urteils vom 24. März 2011, Aalberts Industries u. a./Kommission (T‑385/06, EU:T:2011:114), ebenfalls durch die tatsächliche und rechtliche Komplexität dieser Rechtssache.
79 Daher ist die Gesamtdauer des Verfahrens in der Rechtssache T‑385/06 unter Berücksichtigung der besonderen Umstände dieser Rechtssache, insbesondere ihrer tatsächlichen und rechtlichen Komplexität, des Verhaltens der Parteien und der Tatsache, dass es keine Phase unerklärlicher Untätigkeit im Laufe der einzelnen Verfahrensabschnitte in dieser Rechtssache gegeben hat, gerechtfertigt.
80 Nach alledem ist in der Rechtssache T‑385/06 ein Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharta und insbesondere die Nichteinhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer auszuschließen.
81 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Klage, wenn eine der Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung der Union nicht erfüllt ist, insgesamt abzuweisen, ohne dass die übrigen Voraussetzungen dieser Haftung geprüft werden müssen (Urteil vom 14. Oktober 1999, Atlanta/Europäische Gemeinschaft, C‑104/97 P, EU:C:1999:498, Rn. 65, vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 15. September 1994, KYDEP/Rat und Kommission, C‑146/91, EU:C:1994:329, Rn. 81).
82 Die Klage ist daher insgesamt abzuweisen.
Kosten
83 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
84 In dem Beschluss vom 13. Februar 2015, Aalberts Industries/Europäische Union (T‑725/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:107) wurde die Unzulässigkeitseinrede des Gerichtshofs der Europäischen Union zurückgewiesen und die Kostenentscheidung insoweit vorbehalten. Der Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union, sind daher neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Klägerin aufzuerlegen, die durch die Unzulässigkeitseinrede des Gerichtshofs der Europäischen Union bedingt sind, die zu dem Beschluss vom 13. Februar 2015, Aalberts Industries/Europäische Union (T‑725/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:107), geführt hat.
85 Dagegen sind der Klägerin, soweit sie mit ihren Klageanträgen in der Sache unterlegen ist, ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union, wie von der Union beantragt, aufzuerlegen.
86 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Demgemäß hat die Kommission ihre eigenen Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Europäische Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union, hat neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Aalberts Industries NV zu tragen, soweit diese Kosten durch die Unzulässigkeitseinrede des Gerichtshofs der Europäischen Union bedingt sind, die zu dem Beschluss vom 13. Februar 2015, Aalberts Industries/Europäische Union (T‑725/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:107), geführt hat.
3. Aalberts Industries hat neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Union, vertreten durch den Gerichtshof der Europäischen Union zu tragen, soweit sie durch die Klage bedingt sind, die zum vorliegenden Urteil geführt hat.
4. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Papasavvas
Labucka
Bieliūnas
Kreuschitz
Forrester
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. Februar 2017.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 1. Dezember 2016.#Z gegen Gerichtshof der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Beurteilung – Unparteilichkeit des Gerichts für den öffentlichen Dienst – Gegen die Mitglieder des Spruchkörpers gerichtetes Ablehnungsgesuch – Verteidigungsrechte – Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz.#Rechtssache T-532/15 P.
|
62015TJ0532
|
ECLI:EU:T:2016:697
| 2016-12-01T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TJ0532 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 24. November 2016.#Ackermann Saatzucht GmbH & Co.KG u. a. gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Klagebefugnis – Handlung, die natürliche oder juristische Personen wegen ‚bestimmter persönlicher Eigenschaften‘ individuell betrifft – Verordnung (EU) Nr. 511/2014 – Maßnahmen für die Nutzer zur Einhaltung der Vorschriften des Protokolls von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Union – Verordnung (EG) Nr. 2100/94 – Beschränkung der Wirkungen des gemeinschaftlichen Sortenschutzes – Züchterausnahme.#Verbundene Rechtssachen C-408/15 P und C-409/15 P.
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62015CJ0408
|
ECLI:EU:C:2016:893
| 2016-11-24T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
|
EUR-Lex - CELEX:62015CJ0408 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 27. Oktober 2016.#Strafverfahren gegen Emil Milev.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 3 und 6 – Zeitliche Geltung – Gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft eines Angeklagten – Nationale Regelung, die es verbietet, während der gerichtlichen Phase des Verfahrens zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat – Widerspruch zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 4 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Beurteilungsspielraum, den die nationale Rechtsprechung den nationalen Gerichten bei der Entscheidung über die Frage lässt, ob die Konvention angewandt wird oder nicht.#Rechtssache C-439/16 PPU.
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62016CJ0439
|
ECLI:EU:C:2016:818
| 2016-10-27T00:00:00 |
Bobek, Gerichtshof
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62016CJ0439
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
27. Oktober 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Eilvorabentscheidungsverfahren — Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Richtlinie (EU) 2016/343 — Art. 3 und 6 — Zeitliche Geltung — Gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft eines Angeklagten — Nationale Regelung, die es verbietet, während der gerichtlichen Phase des Verfahrens zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat — Widerspruch zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 4 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten — Beurteilungsspielraum, den die nationale Rechtsprechung den nationalen Gerichten bei der Entscheidung über die Frage lässt, ob die Konvention angewandt wird oder nicht“
In der Rechtssache C‑439/16 PPU
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. August 2016, in dem Strafverfahren gegen
Emil Milev
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Milev, vertreten durch sich selbst und durch S. Barborski und B. Mutafchiev, advokati,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Soloveytchik, R. Troosters und V. Bozhilova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Oktober 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1).
2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Emil Milev wegen der Aufrechterhaltung seiner Untersuchungshaft.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
3 Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
…
c)
rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
…
(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.
…“
4 Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren“) Abs. 1 EMRK lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …“
Richtlinie 2016/343
5 Art. 3 („Unschuldsvermutung“) der Richtlinie 2016/343 lautet:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“
6 Art. 6 („Beweislast“) dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“
7 Nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 setzen die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 1. April 2018 nachzukommen, und setzen die Europäische Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.
8 Gemäß ihrem Art. 15 ist die Richtlinie 2016/343 am 31. März 2016, also am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, in Kraft getreten.
Bulgarisches Recht
9 Der Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK), bestimmt in seinem Art. 63 („Untersuchungshaft“):
„Die Maßnahme ‚Untersuchungshaft‘ wird verhängt, wenn der hinreichende Verdacht erhoben werden kann, dass der Beschuldigte eine Straftat begangen hat, die mit Freiheitsstrafe oder einer anderen schwereren Strafe bewehrt ist, und wenn sich aufgrund der Beweise in der Sache ergibt, dass eine tatsächliche Gefahr besteht, dass der Beschuldigte fliehen oder eine Straftat begehen wird.
…“
10 Art. 64 NPK, der die Zwangsmaßnahme „Untersuchungshaft“ in der vorgerichtlichen Phase betrifft, sieht vor:
„(1) In der vorgerichtlichen Phase wird die Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘ auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom erstinstanzlichen Gericht verhängt.
…
(4) Das Gericht verhängt die Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘, wenn die in Art. 63 Abs. 1 genannten Voraussetzungen erfüllt sind; ist dies nicht der Fall, kann das Gericht beschließen, keine Zwangsmaßnahme oder eine mildere Maßnahme zu verhängen.
…“
11 Art. 65 („Gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft im vorgerichtlichen Verfahren“) NPK bestimmt:
„(1) Der Beschuldigte oder sein Verteidiger können jederzeit während des vorgerichtlichen Verfahrens die Umwandlung der verhängten Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘ beantragen.
…
Das Gericht bewertet alle Umstände in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Haft und entscheidet durch den Parteien in der Sitzung bekannt gegebenen Beschluss.
… “
12 In Art. 256 („Vorbereitung der Sitzung“) NPK heißt es wie folgt:
„(1) Zur Vorbereitung der Sitzung nimmt der Berichterstatter Stellung zu:
…
2. der Zwangsmaßnahme, ohne zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass eine Straftat begangen wurde;
…
(3) Im Fall eines Antrags in Bezug auf die Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘ legt der Berichterstatter einen Bericht über die Sache in öffentlicher Sitzung in Gegenwart des Staatsanwalts, des Angeklagten und dessen Verteidigers vor. Beim Erlass des Beschlusses prüft das Gericht, ob die Voraussetzungen für die Umwandlung oder Aufhebung der Zwangsmaßnahme erfüllt sind, ohne zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass eine Straftat begangen wurde.
…“
13 Art. 270 („Entscheidungen über die Zwangsmaßnahme und andere gerichtlicher Überprüfung unterliegende Maßnahmen im gerichtlichen Verfahren“) NPK sieht vor:
„(1) Die Frage der Umwandlung der Zwangsmaßnahme kann jederzeit im gerichtlichen Verfahren aufgeworfen werden. Ändern sich die Umstände, kann ein neuer Antrag in Bezug auf die Zwangsmaßnahme beim zuständigen Gericht eingereicht werden.
(2) Das Gericht entscheidet durch Beschluss in öffentlicher Sitzung, ohne zu prüfen, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat.
…
(4) Der Beschluss nach den Absätzen 2 und 3 ist unter den in Kapitel 22 bestimmten Voraussetzungen mit einer Beschwerde anfechtbar.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 Im Rahmen eines 2013 eingeleiteten Strafverfahrens wurde Herr Milev mehrerer Straftaten beschuldigt, darunter der Leitung einer organisierten und bewaffneten kriminellen Vereinigung, einer Entführung, mehrfachen Raubes und eines versuchten Totschlags, die mit Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der Umwandlung bestraft werden können. Seit dem 24. November 2013 befindet er sich in Untersuchungshaft.
15 Das Verfahren trat am 8. Juni 2015 in seine gerichtliche Phase ein. Seit diesem Zeitpunkt hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht, Bulgarien) 15-mal über von Herrn Milev gestellte Anträge auf Aufhebung dieser Untersuchungshaft entschieden.
16 Gemäß Art. 270 Abs. 2 NPK entschied dieses Gericht über diese Anträge ohne Prüfung der Frage, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat.
17 Der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) ist der Ansicht, dass das nationale Strafverfahrensrecht im Widerspruch zu den Anforderungen aus der EMRK stehe. Denn während das nationale Recht es dem Richter verbiete, während der gerichtlichen Phase der Sache bei der gerichtlichen Überprüfung einer Maßnahme der Untersuchungshaft über die Frage zu entscheiden, ob ein hinreichender Verdacht bestehe, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen habe, sei es nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 4 EMRK nur dann zulässig, einen Angeklagten in Haft zu belassen, „wenn ein hinreichender Verdacht besteht, dass [er] eine Straftat begangen hat“.
18 Daher wandte sich der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) an den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof, Bulgarien). In Hinweisen, die am 7. April 2016 in Plenarbesetzung ergangen sind, hat die Strafkammer dieses Gerichts bestätigt, dass ein Konflikt zwischen dem nationalen Strafverfahrensrecht und der EMRK bestehe, der zu zahlreichen Verurteilungen der Republik Bulgarien durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt habe, von denen die erste in das Jahr 1999 zurückreiche (vgl. EGMR vom 25. März 1999, Nikolova / Bulgarien [GK], CE:ECHR:1999:0325JUD003119596).
19 Der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) führte in diesen Hinweisen auch aus, dass zum einen der Lösung, einem anderen Spruchkörper des erstinstanzlichen Gerichts als dem Spruchkörper, der über die Verbringung in Untersuchungshaft entschieden habe, oder einem anderen Gericht die Befugnis zu übertragen, über die Gründe für eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zu entscheiden, rechtliche wie praktische Hindernisse entgegenstünden. Zum anderen könnte es dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK niedergelegten Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit zuwiderlaufen, dass das Gericht, das mit der Sache in deren gerichtlicher Phase befasst sei, auch über die Frage entscheide, ob ein hinreichender Verdacht bestehe, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen habe.
20 Unter diesen Umständen stellte der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) fest, dass die nationalen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften in jedem Fall den Bestimmungen der EMRK zuwiderlaufen könnten, und führte in den Hinweisen vom 7. April 2016 aus, dass „wir offenkundig nicht in der Lage [sind], eine Lösung für das Problem vorzuschlagen. Es bleibt daher dem jeweiligen Spruchkörper überlassen, zu beurteilen, ob er der EMRK oder dem nationalen Recht den Vorrang einräumt und ob er in der Lage ist, in diesem Rahmen zu entscheiden“. Dabei unterstrich er, die Notwendigkeit eines Tätigwerdens des Gesetzgebers, um den dargestellten Widerspruch auszuräumen. Das Gericht führte in diesen Hinweisen auch aus, dass es beschlossen habe, sie dem Justizministerium zu übermitteln, damit eine Änderung der in Rede stehenden gesetzlichen Vorschriften in Gang gesetzt werde.
21 Der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) ist der Ansicht, dass die Wirkung der Hinweise vom 7. April 2016 mit der eines Auslegungsurteils zu vergleichen sei und die Gründe, die sie enthielten, daher für alle nationalen Gerichtsinstanzen verbindlich seien. Zweifel hat er jedoch an der Vereinbarkeit dieser Gründe mit den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343. In dem Bewusstsein, dass die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie noch nicht abgelaufen ist, weist er gleichwohl darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die zuständigen nationalen Stellen, einschließlich der Gerichte, keine Maßnahmen erlassen dürften, die geeignet seien, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen.
22 Daher hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist mit den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343 (die die Unschuldsvermutung und die Beweislast im Strafverfahren betreffen) eine nationale Rechtsprechung vereinbar, die in (nach dem Erlass der Richtlinie, aber vor dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist erteilten) bindenden Hinweisen des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) besteht, wonach dieser, nachdem er einen Widerspruch zwischen Art. 5 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. c EMRK und dem nationalen Gesetz (Art. 270 Abs. 2 NPK) bezüglich der Erörterung oder Nichterörterung des hinreichenden Verdachts der Begehung einer Straftat (im Rahmen des Gerichtsverfahrens zur Überprüfung der Fortdauer der Zwangsmaßnahme „Untersuchungshaft“ in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens) festgestellt hat, den in der Sache entscheidenden Gerichten die Beurteilung überlässt, ob sie die EMRK beachten oder nicht?
Zum Eilverfahren
23 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.
24 Zur Stützung dieses Antrags macht es geltend, dass sich Herr Milev seit dem 24. November 2013 in Untersuchungshaft befinde. Außerdem müsse Herr Milev, falls die Vorlagefrage verneint werde und das zur Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Haft von Herrn Milev berufene Gericht dann feststellen sollte, dass kein hinreichender Verdacht bestehe, dass er die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen habe, unverzüglich freigelassen werden.
25 Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinie 2016/343 betrifft, die unter den Titel V („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) im Dritten Teil des AEU-Vertrags fällt. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.
26 Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass der im Ausgangsverfahren Betroffene derzeit seiner Freiheit beraubt ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt (Urteil vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den vom vorlegenden Gericht übermittelten und in den Rn. 17 bis 20 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Angaben, dass sich Herr Milev derzeit in Untersuchungshaft befindet und dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens dazu führen könnte, dass das vorlegende Gericht beschließt, diese Haft aufzuheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 24).
27 Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs am 17. August 2016 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.
Zur Vorlagefrage
28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie den am 7. April 2016 zu Beginn des Zeitraums für die Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen Hinweisen des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) entgegenstehen, die den für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen nationalen Gerichten die Befugnis verleihen, zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen ist, die sich auf die Frage bezieht, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat.
29 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem Art. 15 am 31. März 2016 in Kraft getreten ist und dass die Umsetzungsfrist für diese Richtlinie nach ihrem Art. 14 Abs. 1 am 1. April 2018 abläuft.
30 Da diese Frist den Mitgliedstaaten insbesondere die für den Erlass der Umsetzungsmaßnahmen erforderliche Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf dieser Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie, C‑129/96, EU:C:1997:628, Rn. 43, und vom 15. Oktober 2009, Hochtief und Linde-Kca-Dresden, C‑138/08, EU:C:2009:627, Rn. 25).
31 Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten während der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie den Erlass von Vorschriften unterlassen, die geeignet sind, das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie, C‑129/96, EU:C:1997:628, Rn. 45, und vom 2. Juni 2016, Pizzo, C‑27/15, EU:C:2016:404, Rn. 32). In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob solche nach Inkrafttreten der betreffenden Richtlinie erlassenen Vorschriften deren Umsetzung bezwecken oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 121).
32 Daraus folgt, dass die Behörden der Mitgliedstaaten sowie die nationalen Gerichte ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie es so weit wie möglich unterlassen müssen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf von deren Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 122 und 123).
33 Das vorlegende Gericht stellt sich nun aber die Frage, ob die Hinweise, die der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) erlassen hat, eine Maßnahme der Auslegung des nationalen Rechts darstellen könnten, die die Erreichung des von der Richtlinie 2016/343 verfolgten Ziels ernsthaft gefährden würde.
34 Insoweit ist, wie sich aus dem Wortlaut selbst dieser Hinweise ergibt, festzustellen, dass sie den nationalen Gerichten, die mit Rechtsbehelfen gegen Maßnahmen der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft befasst sind, nicht vorschreiben, in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens eine bestimmte Entscheidung zu erlassen. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich vielmehr, dass diese Hinweise den Gerichten die Freiheit belassen, die Bestimmungen der EMRK in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder die des nationalen Strafverfahrensrechts anzuwenden.
35 Infolgedessen sind die Hinweise des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) nicht geeignet, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2016/343 die Erreichung der von ihr vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.
36 Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) am 7. April 2016 zu Beginn der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2016/343 erlassenen Hinweise, die den für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen Gerichten die Befugnis verleihen, zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen ist, die sich auch auf die Frage bezieht, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat, nicht geeignet sind, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie die von ihr vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.
Kosten
37 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Die vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof, Bulgarien) am 7. April 2016 zu Beginn der Frist für die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen erlassenen Hinweise, die den für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen nationalen Gerichten die Befugnis verleihen, zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen ist, die sich auch auf die Frage bezieht, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat, sind nicht geeignet, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie die von ihr vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.
Unterschriften.
(*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 5. Oktober 2016.#Diputación Foral de Bizkaia gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Staatliche Beihilfen – Art. 108 Abs. 3 AEUV – Beschluss der Kommission, mit dem die Beihilfen für rechtswidrig erklärt werden – Unterbliebene vorherige Anmeldung – Bestimmung des Zeitpunkts der Gewährung der Beihilfen – Vereinbarungen, mit denen Beihilfen eingeführt werden – Unbedingte Verpflichtung, die Beihilfen zu gewähren – Berücksichtigung der nationalen Regelung – Förmliches Prüfverfahren – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Verteidigungsrechte.#Rechtssache C-426/15 P.
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62015CO0426
|
ECLI:EU:C:2016:757
| 2016-10-05T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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Beschluss des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 26. September 2016.#Greenpeace Energy eG u. a. gegen Europäische Kommission.#Nichtigkeitsklage – Staatliche Beihilfen – Kernenergie – Beihilfe zugunsten des Kernkraftwerks Hinkley Point C – ‚Contract for Difference‘, ‚Secretary of State Agreement‘ und Kreditgarantie – Beschluss, mit dem die Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird – Keine spürbare Beeinträchtigung der Wettbewerbsstellung – Keine individuelle Betroffenheit – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-382/15.
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62015TO0382
|
ECLI:EU:T:2016:589
| 2016-09-26T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62015TO0382 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 22. September 2016.#Europäische Kommission gegen Tschechische Republik.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Freier Warenverkehr – Art. 34 AEUV – Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen – Maßnahmen gleicher Wirkung – In einem Drittstaat gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften punzierte Edelmetalle – Einfuhr in die Tschechische Republik nach Überführung in den freien Verkehr – Verweigerung der Anerkennung der Punze – Verbraucherschutz – Verhältnismäßigkeit – Zulässigkeit.#Rechtssache C-525/14.
|
62014CJ0525
|
ECLI:EU:C:2016:714
| 2016-09-22T00:00:00 |
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62014CJ0525
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
22. September 2016 (*1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Freier Warenverkehr — Art. 34 AEUV — Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen — Maßnahmen gleicher Wirkung — In einem Drittstaat gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften punzierte Edelmetalle — Einfuhr in die Tschechische Republik nach Überführung in den freien Verkehr — Verweigerung der Anerkennung der Punze — Verbraucherschutz — Verhältnismäßigkeit — Zulässigkeit“
In der Rechtssache C‑525/14
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 20. November 2014,
Europäische Kommission, vertreten durch P. Němečková, E. Manhaeve und G. Wilms als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek, T. Müller, J. Vláčil und J. Očková als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch:
Französische Republik, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin C. Toader, des Richters A. Rosas, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Februar 2016,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Mai 2016
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission festzustellen, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV verstoßen hat, dass sie sich geweigert hat, bestimmte niederländische Punzen, insbesondere die Punzen der Garantiestelle WaarborgHolland (im Folgenden: Punzen von WaarborgHolland), anzuerkennen.
Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof
2 Da sie der Ansicht war, dass die Praxis des Puncovní úřad (Punzierungsamt bzw. Garantiestelle, Tschechische Republik, im Folgenden: tschechische Garantiestelle), sich zu weigern, die Punzen von WaarborgHolland, einer unabhängigen Garantiestelle mit Sitz in den Niederlanden und Zweigniederlassungen in Drittstaaten, anzuerkennen und demzufolge die Anbringung einer zusätzlichen tschechischen Punze auf den betreffenden Edelmetallen zu verlangen, gegen Art. 34 AEUV verstoße, forderte die Kommission die Tschechische Republik mit Mahnschreiben vom 30. September 2011 auf, ihre Stellungnahme abzugeben.
3 In ihrem Antwortschreiben vom 30. November 2011 bestritt die Tschechische Republik nicht, dass sie diese Punzen nicht anerkenne. Jedoch trug sie im Wesentlichen vor, die vorliegende Rechtssache falle unter den freien Dienstleistungsverkehr und nicht unter den freien Warenverkehr und die Weigerung der Anerkennung sei dadurch gerechtfertigt, dass es unmöglich sei, zu unterscheiden, welche dieser Punzen außerhalb des Gebiets der Europäischen Union und welche im Unionsgebiet angebracht worden seien.
4 Nach Prüfung der Argumente der Tschechischen Republik in diesem Schreiben richtete die Kommission am 30. Mai 2013 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Tschechische Republik, in der sie u. a. geltend machte, dass die Vorschriften des AEU-Vertrags über den freien Warenverkehr auf Erzeugnisse anwendbar seien, die in der Union im freien Verkehr seien, also auch auf aus Drittstaaten stammende Erzeugnisse, die entsprechend den Anforderungen des Art. 29 AEUV rechtmäßig in einen Mitgliedstaat eingeführt worden seien. Die Kommission forderte die Tschechische Republik auf, die Maßnahmen zu treffen, die erforderlich seien, um Art. 34 AEUV innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Zustellung der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen.
5 In ihrem Schreiben vom 23. Juli 2013 blieb die Tschechische Republik bei ihrem Standpunkt und hob u. a. hervor, dass die Ablehnung der Anerkennung der Punzen von WaarborgHolland durch die Notwendigkeit des Verbraucherschutzes gerechtfertigt sei. Da diese Antwort die Kommission nicht zufriedenstellte, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
6 Mit Antragsschrift, die am 26. Februar 2015 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Französische Republik beantragt, in der vorliegenden Rechtssache als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Tschechischen Republik zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 24. März 2015 hat der Präsident des Gerichtshofs diesem Antrag stattgegeben.
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
7 Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts hat die Tschechische Republik durch Schriftsatz, der am 18. Mai 2016 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, beantragt, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen, und im Wesentlichen geltend gemacht, dass „ein erheblicher Teil [dieser Schlussanträge] auf fehlerhaften Annahmen [beruht]“.
8 Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs für die Parteien nicht die Möglichkeit vorsehen, zu den Schlussanträgen des Generalanwalts eine Stellungnahme einzureichen (Urteile vom 17. Juli 2014, Kommission/Portugal, C‑335/12, EU:C:2014:2084, Rn. 45, und vom 4. Mai 2016, Kommission/Österreich, C‑346/14, EU:C:2016:322, Rn. 23).
9 Zum anderen kann der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
10 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über alle für die Entscheidung über die vorliegende Klage erforderlichen Informationen verfügt und dass die Klage nicht im Hinblick auf eine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung ist, oder im Hinblick auf ein vor ihm nicht erörtertes Vorbringen zu prüfen ist.
11 Folglich ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.
Zur Klage
Zur Zulässigkeit
Vorbringen der Parteien
12 Die Tschechische Republik macht die Unzulässigkeit der Klage geltend, soweit ein Verstoß gegen Art. 34 AEUV in Bezug auf „bestimmte niederländische Punzen“ behauptet werde. Diese Wendung sowie die Formulierung „insbesondere“, die die Kommission in ihren Anträgen gebrauche, wiesen darauf hin, dass der Gegenstand des Rechtsstreits auch andere niederländische Punzen als die von WaarborgHolland betreffe. Im Vorverfahren und in ihrer Klageschrift habe die Kommission aber nur versucht, die Vertragsverletzung, die sie behaupte, in Bezug auf die Punzen von WaarborgHolland darzutun. Insoweit sei es unerheblich, dass der Rechtsstreit in abstrakter Weise die Nichtanerkennung von Edelmetallen betreffe, für die es nicht möglich sei, festzustellen, ob sie in einem Drittstaat oder im Unionsgebiet punziert worden seien. Es sei daher zu konstatieren, dass es der Klageschrift an Genauigkeit fehle und dass die Klage infolgedessen nur in Bezug auf die Punzen von WaarborgHolland zulässig sei.
13 Die Kommission macht geltend, dass ihre Klage in vollem Umfang zulässig sei. In ihrem Mahnschreiben habe sie die Tschechische Republik in allgemeiner Weise darauf hingewiesen, dass sie nach Art. 34 AEUV verpflichtet sei, Waren, die zum einen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) kontrolliert und mit einer Punze versehen seien und zum anderen in einem der Mitgliedstaaten des EWR rechtmäßig in Verkehr gebracht worden seien, zu akzeptieren. In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme sei sie außerdem zu dem Ergebnis gelangt, dass die Tschechische Republik ihre Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV nicht erfülle, da sie „bestimmte niederländische Punzen nicht anerkennt“. Diese Formulierung sei in den Antrag der Klageschrift übernommen und von der Tschechischen Republik nicht beanstandet worden.
Würdigung durch den Gerichtshof
14 Da der Gerichtshof von Amts wegen prüfen kann, ob die gemäß Art. 258 AEUV für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage geltenden Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 14. Januar 2010, Kommission/Tschechische Republik, C‑343/08, EU:C:2010:14, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung) und die Klage sich nicht auf eine nationale Rechts- oder Verwaltungsvorschrift, sondern auf eine Praxis der tschechischen Garantiestelle richtet, ist vorab daran zu erinnern, dass eine Verwaltungspraxis eines Mitgliedstaats Gegenstand einer Vertragsverletzungsklage sein kann, wenn es sich um eine in einem bestimmten Grad verfestigte und allgemeine Praxis handelt (Urteile vom 29. April 2004, Kommission/Deutschland, C‑387/99, EU:C:2004:235, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. März 2009, Kommission/Spanien, C‑88/07, EU:C:2009:123, Rn. 54).
15 Im vorliegenden Fall bestreitet die Tschechische Republik nicht, dass die Praxis der tschechischen Garantiestelle, auf die die Kommission abzielt und deren Vorliegen sie dadurch belegt hat, dass sie im Anhang zu ihrer Klageschrift zwei Mitteilungen des Vorsitzenden dieser Stelle vorgelegt hat, diese Kriterien erfüllt. Dieser Mitgliedstaat bestreitet auch nicht, dass ihm diese Praxis zuzurechnen ist. Hingegen wird die Zulässigkeit der Klage bestritten, da es dieser an Klarheit und Genauigkeit fehle.
16 Nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung und der dazu ergangenen Rechtsprechung muss die Klageschrift den Streitgegenstand, die vorgebrachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung dieser Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so klar und deutlich sein, dass sie dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (Urteile vom 11. Juli 2013, Kommission/Tschechische Republik, C‑545/10, EU:C:2013:509, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 23. Februar 2016, Kommission/Ungarn, C‑179/14, EU:C:2016:108, Rn. 141).
17 Darüber hinaus ist es ständige Rechtsprechung, dass das von der Kommission im Rahmen eines nach Art. 258 AEUV eingeleiteten Verfahrens an den Mitgliedstaat gerichtete Mahnschreiben sowie ihre anschließende mit Gründen versehene Stellungnahme den Streitgegenstand abgrenzen, so dass dieser nicht mehr erweitert werden kann. Denn die Möglichkeit zur Äußerung stellt für den betreffenden Mitgliedstaat auch dann, wenn er meint, davon nicht Gebrauch machen zu sollen, eine vom Vertrag gewollte wesentliche Garantie dar, deren Beachtung ein substanzielles Formerfordernis für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens auf Feststellung der Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ist. Die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage der Kommission müssen daher auf dieselben Rügen gestützt werden wie das Mahnschreiben, mit dem das Vorverfahren eingeleitet wird (Urteile vom 29. September 1998, Kommission/Deutschland, C‑191/95, EU:C:1998:441, Rn. 55, und vom 10. September 2009, Kommission/Portugal, C‑457/07, EU:C:2009:531, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
18 Die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage müssen daher eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich gebührend verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (Urteile vom 14. Oktober 2010, Kommission/Österreich, C‑535/07, EU:C:2010:602, Rn. 42, und vom 3. März 2011, Kommission/Irland, C‑50/09, EU:C:2011:109, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Im vorliegenden Fall erfüllt die Klageschrift, soweit die Kommission durch den Gebrauch der Wendung „bestimmte niederländische Punzen“ im Antrag ihrer Klageschrift andere niederländische Punzen als die bereits dort ausdrücklich genannten, d. h. die Punzen von WaarborgHolland, einbeziehen will, nicht die Anforderungen der Verfahrensordnung und der Rechtsprechung, auf die in Rn. 16 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde, da die Identität dieser anderen Punzen in der Klageschrift nicht präzisiert wird und die Verwendung des Wortes „bestimmte“ ausschließt, dass damit alle niederländischen Punzen erfasst sein könnten.
20 Überdies bezog sich das Mahnschreiben zwar in allgemeiner Weise auf die Anwendung von Art. 34 AEUV und die einschlägige Rechtsprechung in Bezug auf Edelmetalle, ausdrücklich betraf sie aber nur die Punzen von WaarborgHolland. Was den Antrag der Klageschrift angeht, so erfasste dieser zwar wie der verfügende Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme „bestimmte niederländische Punzen“, die Begründung dieser Stellungnahme bezog sich aber nur auf die Punzen von WaarborgHolland. Somit kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die in der in den Rn. 17 und 18 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen erfüllt sind.
21 Daher ist die Klage der Kommission, soweit sie sich auf die behauptete Verweigerung der Anerkennung anderer niederländischer Punzen als der von WaarborgHolland bezieht, als unzulässig abzuweisen.
Zur Begründetheit
Vorbringen der Parteien
22 Die Kommission macht geltend, dass die Anbringung einer zusätzlichen Punze in der Tschechischen Republik auf bestimmten, aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Edelmetallen ungeachtet des Umstands, dass diese Edelmetalle bereits gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften punziert und in der Union in Verkehr gebracht worden seien, eine nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Warenverkehrs darstelle.
23 Die Tschechische Republik könne nicht zu Recht geltend machen, dass aus Drittstaaten stammende Edelmetalle, um in den Genuss des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu gelangen, nicht nur in den zollrechtlich freien Verkehr in der Union überführt worden sein müssten, sondern danach auch in einem Mitgliedstaat in Verkehr gebracht worden sein müssten, der außerdem der Mitgliedstaat sein müsse, gemäß dessen Rechtsvorschriften die Punze angebracht worden sei, d. h. im vorliegenden Fall das Königreich der Niederlande. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssten aus einem Drittstaat stammende Erzeugnisse, wenn sie in den zollrechtlich freien Verkehr in der Union überführt worden seien, in den Genuss derselben Behandlung gelangen wie aus der Union stammende Waren. Somit gelte die Freiheit des Warenverkehrs für die Edelmetalle, die in einem Drittstaat durch die Zweigniederlassung einer in einem Mitgliedstaat, hier dem Königreich der Niederlande, ansässigen Garantiestelle punziert worden seien und sich im zollrechtlich freien Verkehr in der Union befänden.
24 Das Inverkehrbringen gemäß den geltenden Rechtsvorschriften sei eines der Erfordernisse der Überführung in den freien Verkehr und somit eine Voraussetzung für den Erhalt des Status einer Unionsware, es sei kein zusätzlicher notwendiger Schritt für die Geltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Zudem könne der Mitgliedstaat der Überführung in den freien Verkehr ein anderer sein als der, dessen Rechtsvorschriften die Punzierung der fraglichen Metalle unterlegen habe. Diese Auffassung werde u. a. durch die Verordnung (EG) Nr. 764/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 zur Festlegung von Verfahren im Zusammenhang mit der Anwendung bestimmter nationaler technischer Vorschriften für Produkte, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden sind, und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 3052/95/EG (ABl. 2008, L 218, S. 21) sowie die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates (ABl. 2008, L 218, S. 30) bestätigt.
25 Da die Edelmetalle in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden seien, habe daher der Umstand, dass ihre Punzierung nicht im Gebiet der Union erfolgt sei, keinerlei Auswirkung.
26 Ferner erinnert die Kommission daran, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Mitgliedstaaten keine erneute Punzierung von Erzeugnissen verlangen dürften, die aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt würden, in dem sie rechtmäßig in den Verkehr gebracht und gemäß dessen Rechtsvorschriften sie mit einer Punze versehen worden seien, sofern die in dieser Punze enthaltenen Angaben unabhängig von deren Form den im Einfuhrmitgliedstaat vorgeschriebenen Angaben gleichwertig und für die Verbraucher in diesem Staat verständlich seien. Im vorliegenden Fall entsprächen die Punzen von WaarborgHolland, auch wenn sie in einem Drittstaat angebracht worden seien, den Rechtsvorschriften der Niederlande, und die Angaben, die sie lieferten, seien denen gleichwertig, die in der Tschechischen Republik vorgeschrieben seien, und für die Verbraucher in diesem Mitgliedstaat verständlich.
27 Im Übrigen habe die Tschechische Republik nicht nachgewiesen, dass die in Rede stehende Beschränkung geeignet sei, die Verwirklichung des Ziels des Verbraucherschutzes, das mit ihr verfolgt werde, zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehe, was erforderlich sei, um es zu erreichen. Insoweit weist die Kommission darauf hin, dass WaarborgHolland eine Garantiestelle sei, die niederländischem Recht sowie der Aufsicht der niederländischen Behörden unterliege und durch die niederländische Akkreditierungsstelle gemäß der Verordnung Nr. 765/2008 akkreditiert worden sei, und dass diese Behörden die Kontrolle der Zweigniederlassungen ihrer Garantiestellen sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in Drittstaaten gewährleisteten.
28 Die Tschechische Republik macht geltend, dass die Klage, soweit sie zulässig sei, nicht begründet sei. Nachdem dieser Mitgliedstaat klargestellt hat, dass die Punzen, auf die er sich in seinen Erklärungen beziehe, nur die von WaarborgHolland seien, macht er als Erstes geltend, dass in einem Drittstaat punzierte Edelmetalle nicht in den Genuss des von Art. 34 AEUV garantierten freien Warenverkehrs gelangten, auch wenn sie gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats punziert worden seien.
29 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erfordere für seine Anwendbarkeit, dass zwei aneinander anschließende Schritte eingehalten würden, nämlich die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr in der Union im Sinne von Art. 29 AEUV, die durch die Erfüllung der Einfuhrformalitäten und die Erhebung der in dem betreffenden Mitgliedstaat zu entrichtenden Zölle und Abgaben gleicher Wirkung bewirkt werde, sodann das Inverkehrbringen der Ware auf dem Markt dieses Mitgliedstaats nach dessen nicht zollrechtlichen Rechtsvorschriften. In der vorliegenden Rechtssache sei diese Abfolge nicht eingehalten worden, da die fraglichen Edelmetalle zwar gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften punziert worden seien, dies aber in einem Drittstaat erfolgt sei und sie nicht im niederländischen Hoheitsgebiet in den Verkehr gebracht worden seien.
30 Als Zweites vertritt die Tschechische Republik zur Beschränkung des freien Warenverkehrs der in den Niederlanden punzierten Edelmetalle die Ansicht, dass diese Beschränkung durch die Notwendigkeit des Verbraucherschutzes gerechtfertigt und in Bezug auf dieses Ziel verhältnismäßig sei. Insoweit macht sie geltend, dass es ihr nicht möglich sei, diese Edelmetalle von denen zu unterscheiden, auf denen die gleichen Punzen in einem Drittstaat angebracht worden seien. Die Anbringung einer zusätzlichen tschechischen Punze stelle für die Tschechische Republik also das einzige Mittel dar, um den Eintritt von in Drittstaaten punzierten Waren in den Markt der Union zu kontrollieren. Die Möglichkeit der niederländischen Behörden, die Punzierung in Drittstaaten zu kontrollieren, sei unzureichend; ebenso unzureichend sei auch die Kontrolle von Proben und der in diesen Drittstaaten vorgenommenen Punzierung. Die Tschechische Republik weist auch darauf hin, dass es, was die Punzierung von Edelmetallarbeiten angehe, in der Union kein System der Anerkennung für die Konformitätsbewertungsbehörden der Drittstaaten gebe.
31 Die Französische Republik, die dem Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Tschechischen Republik beigetreten ist, ist in der Hauptsache der Ansicht, dass die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf punzierte Edelmetalle einer zusätzlichen Voraussetzung unterliege, die für andere Arten von Erzeugnissen nicht gelte, nämlich der Voraussetzung, dass die Punzierung im Hoheitsgebiet des Ausfuhrmitgliedstaats durch eine in diesem Mitgliedstaat ansässige unabhängige Stelle erfolgt sei. Diese Voraussetzung erkläre sich aus der besonderen Natur der Tätigkeit der Punzierung, die sich aus der staatlichen Prärogative einer Garantie des Feingehalts ergebe. Folglich komme einem Gegenstand, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Ausfuhrmitgliedstaats oder im Gebiet eines Drittstaats mit einer Punze versehen werde, wie dies bei den Punzen von WaarborgHolland der Fall sei, der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht zugute. Allein der Umstand, dass ein solcher Gegenstand in den freien Verkehr in einem Mitgliedstaat überführt werde, reiche hierfür nicht aus. Daher sei der behauptete Verstoß gegen Art. 34 AEUV nicht nachgewiesen.
32 Hilfsweise macht die Französische Republik geltend, dass, selbst wenn der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung anwendbar sei, die Beschränkung des freien Warenverkehrs, die sich aus der Weigerung der tschechischen Behörden ergebe, die Punzen von WaarborgHolland anzuerkennen, mit Art. 34 AEUV vereinbar sei, da diese Beschränkung durch ein Ziel des Verbraucherschutzes und der Garantie der Lauterkeit des Handelsverkehrs gerechtfertigt und in Bezug auf dieses Ziel verhältnismäßig sei.
33 In ihrer Antwort hierauf macht die Kommission u. a. geltend, dass aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht hervorgehe, dass die Tätigkeit der Punzierung, um in den Genuss des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu gelangen, physisch im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats erfolgen müsse, nach dessen Rechtsvorschriften die Punze angebracht werde. Zudem seien die Mitgliedstaaten nach der Verordnung Nr. 765/2008 verpflichtet, die Gleichwertigkeit der Dienstleistungen anzuerkennen, die von einer nach dieser Verordnung akkreditierten Garantiestelle erbracht würden, selbst wenn sich die Zweigniederlassung der zugelassenen Garantiestelle, die die Punze angebracht habe, weder im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats noch im Gebiet der Union befinde. Insoweit hebt die Kommission hervor, dass die Unabhängigkeit der niederländischen Garantiestellen oder der niederländischen Akkreditierungsstelle nicht bestritten werde und dass die Unabhängigkeitsgarantien, die eine vom Ausfuhrmitgliedstaat zugelassene Kontrollstelle biete, nicht zwingend mit denen übereinstimmen müssten, die im Einfuhrmitgliedstaat vorgesehen seien.
Würdigung durch den Gerichtshof
34 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne des Art. 34 AEUV anzusehen (Urteile vom 11. Juli 1974, Dassonville, 8/74, EU:C:1974:82, Rn. 5, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 16).
35 So sind Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass von einem Mitgliedstaat auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, Vorschriften über die Voraussetzungen, denen diese Waren entsprechend müssen, angewandt werden, auch wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten, nach Art. 34 AEUV verbotene Maßnahmen gleicher Wirkung, sofern sich die Anwendung dieser Vorschriften nicht durch einen Zweck rechtfertigen lässt, der im Allgemeininteresse liegt und den Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Februar 1979, Rewe-Zentral, Cassis de Dijon, 120/78, EU:C:1979:42, Rn. 8, sowie Urteile vom 15. September 1994, Houtwipper, C‑293/93, EU:C:1994:330, Rn. 11, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 17).
36 Es ist ebenfalls daran zu erinnern, dass nach Art. 28 Abs. 2 AEUV das in den Art. 34 bis 37 AEUV enthaltene Verbot mengenmäßiger Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten sowohl für Waren gilt, die aus den Mitgliedstaaten stammen, als auch für Waren aus dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Nach Art. 29 AEUV gelten als im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich diejenigen Waren aus dritten Ländern, für die in dem betreffenden Mitgliedstaat die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind.
37 Der Gerichtshof hat daraus abgeleitet, dass, was den freien Warenverkehr innerhalb der Union angeht, Waren, die zum freien Verkehr zugelassen sind, den aus den Mitgliedstaaten stammenden Waren endgültig und vollständig gleichgestellt sind und dass folglich Art. 34 AEUV unterschiedslos für aus der Union stammende Waren und für solche gilt, die in einem Mitgliedstaat in den freien Verkehr überführt worden sind, unabhängig davon, woher sie ursprünglich stammen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1976, Donckerwolcke und Schou, 41/76, EU:C:1976:182, Rn. 17 und 18, vom 18. November 2003, Budějovický Budvar, C‑216/01, EU:C:2003:618, Rn. 95, und vom 16. Juli 2015, UNIC und Uni.co.pel, C‑95/14, EU:C:2015:492, Rn. 41).
38 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch auch, dass das Inverkehrbringen eine nach der Einfuhr liegende Phase darstellt. So wie eine rechtmäßig in der Union hergestellte Ware nicht allein aus diesem Grund in den Verkehr gebracht werden kann, beinhaltet die rechtmäßige Einfuhr einer Ware nicht, dass sie automatisch auf dem Markt zugelassen ist. Eine aus einem Drittstaat stammende Ware, die sich im freien Verkehr befindet, wird deshalb bezüglich der Abschaffung der Zölle und der Beseitigung der mengenmäßigen Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten den aus den Mitgliedstaaten stammenden Waren gleichgestellt. Soweit es allerdings keine unionsrechtliche Regelung gibt, die die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen der betreffenden Waren harmonisiert, kann sich der Mitgliedstaat, in dem sie in den freien Verkehr überführt worden sind, ihrem Inverkehrbringen widersetzen, wenn sie die unter Beachtung des Unionsrechts hierfür im nationalem Recht festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllen (Urteile vom 30. Mai 2002, Expo Casa Manta, C‑296/00, EU:C:2002:316, Rn. 31 und 32, und vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a., C‑154/04 und C‑155/04, EU:C:2005:449, Rn. 95).
39 Wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 57 und 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass – entgegen dem Vorbringen der Kommission – der von der in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf den Handel innerhalb der Union mit aus Drittländern stammenden Waren, die sich im freien Verkehr befinden, nicht angewandt werden kann, wenn diese Waren nicht vor ihrer Ausfuhr in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen, in dem sie sich im freien Verkehr befinden, im Gebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind.
40 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die vorliegende Klage nicht die Verweigerung der Anerkennung der Punzen von WaarborgHolland und die zusätzliche Punzierung betrifft, die die Tschechische Republik folglich bei der unmittelbaren Einfuhr von Edelmetallen, die mit außerhalb des Gebiets der Union angebrachten Punzen von WaarborgHolland gekennzeichnet sind, aus einem Drittstaat in ihr Hoheitsgebiet verlangen könnte. Diese Klage bezieht sich auch nicht auf die Punzen, die unter das am 15. November 1972 in Wien unterzeichnete und am 18. Mai 1988 geänderte Übereinkommen betreffend die Prüfung und Bezeichnung von Edelmetallgegenständen fallen, noch die Punzen, die unter zwischen bestimmten Mitgliedstaaten und Drittstaaten geschlossene bilaterale Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Punzen auf Edelmetallgegenständen, wie die vom Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge genannten Abkommen, fallen.
41 Hingegen rügt die Kommission mit dieser Klage die Vereinbarkeit der tschechischen Praxis mit Art. 34 AEUV, einer Praxis, die darin besteht, die Punzen von WaarborgHolland, die Garantiepunzen sind, nicht anzuerkennen und folglich eine zusätzliche Punzierung der betroffenen Edelmetalle zu verlangen, wenn in die Tschechische Republik mit diesen Punzen gekennzeichnete Edelmetalle eingeführt werden, die entweder im niederländischen Hoheitsgebiet rechtmäßig punziert und dort oder gegebenenfalls in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden sind oder im Gebiet eines Drittstaats gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften punziert worden sind und sich in einem anderen Mitgliedstaat als der Tschechischen Republik, sei es das Königreich der Niederlande oder ein sonstiger Mitgliedstaat, im freien Verkehr befinden.
42 Der Gerichtshof hat indes bereits entschieden, dass eine nationale Regelung, wonach Edelmetallarbeiten, die aus anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden, in denen sie rechtmäßig in den Verkehr gebracht und gemäß den Rechtsvorschriften dieser Staaten punziert worden sind, im Einfuhrmitgliedstaat erneut punziert werden müssen, die Einfuhren erschwert und verteuert und somit eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2001, Kommission/Irland, C‑30/99, EU:C:2001:346, Rn. 27, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 18 und 20).
43 Dies ist auch bei der hier fraglichen Praxis der Fall. Denn nach dieser Praxis können die mit Punzen von WaarborgHolland, einer niederländischen Garantiestelle, versehenen Edelmetalle – unabhängig davon, ob sie im niederländischen Hoheitsgebiet rechtmäßig punziert und auch dort oder gegebenenfalls im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verkehr gebracht worden sind oder ob sie im Gebiet eines Drittstaats gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften punziert und in einem Mitgliedstaat in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden sind und ob sie im Gebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind oder nicht – im Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik erst dann in Verkehr gebracht werden, nachdem sie in diesem Mitgliedstaat einer Kontrolle unterzogen und mit einer zusätzlichen Garantiepunze versehen worden sind, was geeignet ist, die Einfuhr dieser Waren aus anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu erschweren und zu verteuern.
44 Diese Praxis ist also von Art. 34 AEUV verboten, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt werden kann.
45 Insoweit ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine nationale Regelung, die eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV darstellt, durch einen der in Art. 36 AEUV genannten Gründe des Allgemeininteresses oder durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt sein kann (Urteile vom 10. Februar 2009, Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 6. September 2012, Kommission/Belgien, C‑150/11, EU:C:2012:539, Rn. 53).
46 Im vorliegenden Fall macht die Tschechische Republik ein zwingendes Erfordernis geltend, das sie auf die Notwendigkeit stützt, den Verbraucherschutz zu gewährleisten.
47 Hierzu hat der Gerichtshof nämlich bereits entschieden, dass die Verpflichtung des Importeurs, in Edelmetallarbeiten ein Zeichen einzustanzen, das den Feingehalt angibt, grundsätzlich geeignet sein kann, einen wirksamen Schutz der Verbraucher zu gewährleisten und die Lauterkeit des Handelsverkehrs zu fördern (Urteile vom 21. Juni 2001, Kommission/Irland, C‑30/99, EU:C:2001:346, Rn. 29, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 21).
48 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang jedoch auch entschieden, dass ein Mitgliedstaat keine erneute Punzierung von Erzeugnissen vorschreiben darf, die aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt werden, in dem sie rechtmäßig in den Verkehr gebracht und nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats mit einer Punze versehen worden sind, sofern die in dieser Punze enthaltenen Angaben unabhängig von deren Form den im Einfuhrmitgliedstaat vorgeschriebenen Angaben gleichwertig und für die Verbraucher in diesem Staat verständlich sind (Urteile vom 21. Juni 2001, Kommission/Irland, C‑30/99, EU:C:2001:346, Rn. 30, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 22).
49 Im vorliegenden Fall allerdings stehen weder die Gleichwertigkeit zwischen den in den Punzen von WaarborgHolland enthaltenen Angaben und den von der Tschechischen Republik für ihre eigenen Garantiepunzen vorgeschriebenen Angaben noch deren Verständlichkeit für die Verbraucher in diesem letztgenannten Mitgliedstaat in Rede, was die Tschechische Republik nicht bestreitet, sondern es steht das Niveau der Garantie in Rede, das die Punzierung bietet, die im Gebiet von Drittstaaten durch Zweigniederlassungen einer niederländischen Garantiestelle, hier WaarborgHolland, die nach niederländischem Recht ermächtigt ist, zumindest einen Teil ihrer Punzierungstätigkeiten außerhalb des Gebiets der Union auszuüben, vorgenommen wird.
50 Die Tschechische Republik, unterstützt durch die Französische Republik, macht nämlich geltend, dass eine solche Punze, die außerhalb des Gebiets der Union angebracht werde, selbst dann, wenn diese Kennzeichnung von Zweigniederlassungen einer unabhängigen Garantiestelle vorgenommen werde, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, dem sie unterliege, ermächtigt sei, einen Teil ihrer Tätigkeiten im Gebiet von Drittstaaten auszuüben, keine ausreichenden Garantien biete, um als einer Punze gleichwertig angesehen zu werden, die von einer unabhängigen Stelle eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats angebracht werde. Angesichts der Hindernisse, die für die Ausübung einer hinreichenden Kontrolle durch den Mitgliedstaat, zu dem diese Stelle gehöre, von deren im Gebiet von Drittstaaten ausgeübten Tätigkeiten bestünden, kann nach Ansicht dieser beiden Mitgliedstaaten die Zuverlässigkeit einer solchen außerhalb des Gebiets der Union vorgenommenen Punzierung nicht gewährleistet werden.
51 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof zu dem Erfordernis, dass die Punze von einer juristischen Person angebracht wird, die bestimmte Voraussetzungen in Bezug auf Befähigung und Unabhängigkeit erfüllt, zwar bereits entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat das Inverkehrbringen von im Ausfuhrmitgliedstaat von einer unabhängigen Stelle punzierten Edelmetallarbeiten in seinem Hoheitsgebiet nicht mit der Begründung verweigern darf, dass die Garantiefunktion der Punze nur durch die Einschaltung der zuständigen Stelle des Einfuhrmitgliedstaats gewährleistet werden kann. Denn doppelte Kontrollen, im Ausfuhrland und im Einfuhrland, können nicht gerechtfertigt sein, wenn die Ergebnisse der im Herkunftsmitgliedstaat durchgeführten Kontrolle den im Einfuhrmitgliedstaat bestehenden Anforderungen genügen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof auch entschieden, dass die Garantiefunktion der Punze erfüllt ist, wenn diese von einer unabhängigen Stelle im Ausfuhrmitgliedstaat angebracht worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 1994, Houtwipper, C‑293/93, EU:C:1994:330, Rn. 17 bis 19).
52 Angesichts der Betrugsgefahr auf dem Markt für Edelmetallarbeiten hat der Gerichtshof jedoch, da kleine Veränderungen des Feingehalts die Gewinnspanne des Herstellers ganz erheblich beeinflussen können, anerkannt, dass in Ermangelung einer Unionsregelung die Wahl geeigneter Maßnahmen, um dieser Gefahr zu begegnen, Sache der Mitgliedstaaten ist, die dabei über ein weites Ermessen verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 1994, Houtwipper, C‑293/93, EU:C:1994:330, Rn. 21 und 22).
53 In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass, wenn die Wahl zwischen der Ausübung einer vorherigen Kontrolle durch eine unabhängige Stelle und einer Regelung, die es den Erzeugern des Ausfuhrmitgliedstaats erlaubt, selbst die betreffenden Waren zu punzen, im Ermessen jedes einzelnen Mitgliedstaats stünde, ein Mitgliedstaat, nach dessen Regelung die Punze durch eine unabhängige Stelle anzubringen sei, das Inverkehrbringen von aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Edelmetallarbeiten in seinem Hoheitsgebiet nicht verweigern darf, wenn diese Arbeiten tatsächlich von einer unabhängigen Stelle im Ausfuhrmitgliedstaat punziert worden sind. Der Gerichtshof hat außerdem hervorgehoben, dass die Garantien für die Unabhängigkeit der Stelle des Ausfuhrmitgliedstaats nicht notwendigerweise mit den in der nationalen Regelung des Einfuhrmitgliedstaats vorgesehenen übereinstimmen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 1994, Houtwipper, C‑293/93, EU:C:1994:330, Rn. 20, 22, 23 und 27, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 36 und 37).
54 Der Gerichtshof hat sich jedoch noch nicht zu im Gebiet von Drittstaaten angebrachten Garantiepunzen geäußert. Angesichts der Betrugsgefahr auf den Edelmetallmärkten und des weiten Ermessens, das der Gerichtshof den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Wahl der geeigneten Maßnahmen, um dieser Gefahr zu begegnen, zuerkannt hat, ist insoweit allerdings einzuräumen, dass ein Mitgliedstaat in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung im Rahmen der Betrugsbekämpfung, die zum Schutz der Verbraucher in seinem Hoheitsgebiet unternommenen wird, berechtigt ist, es nicht zu erlauben, dass seine Garantiestelle oder seine Garantiestellen oder andere Einrichtungen, die er zur Anbringung von Garantiepunzen auf Edelmetallen in diesem Mitgliedstaat ermächtigen könnte, diese Punzen im Gebiet von Drittstaaten anbringen.
55 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ein Mitgliedstaat beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts und abgesehen von den durch ein internationales Übereinkommen geregelten Fällen, die, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, von der vorliegenden Klage nicht erfasst sind, nach der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung grundsätzlich davon ausgehen darf, dass die im Gebiet von Drittstaaten angebrachten Garantiepunzen kein Verbraucherschutzniveau bieten, das den von unabhängigen Stellen im Gebiet der Mitgliedstaaten angebrachten Garantiepunzen gleichwertig ist.
56 Insoweit kann die Kommission nicht mit Erfolg mit der Verordnung Nr. 765/2008 argumentieren, um ihren Vortrag zu stützen, dass, da WaarborgHolland eine durch die niederländische Akkreditierungsstelle akkreditierte Konformitätsbewertungsstelle nach dieser Verordnung sei, die Tschechische Republik in jedem Fall verpflichtet sei, in ihrem Hoheitsgebiet die mit Punzen dieser Bewertungsstelle gekennzeichneten Edelmetalle zuzulassen, wenn sie aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführt würden, und nicht berechtigt sei, eine Kontrolle sowie gegebenenfalls eine zusätzliche Punzierung durchzuführen.
57 Denn zum einen sieht Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 765/2008 zwar vor, dass, wenn eine Konformitätsbewertungsstelle die Akkreditierung beantragt, sie sich hierzu grundsätzlich an die nationale Akkreditierungsstelle des Mitgliedstaats wendet, in dem sie niedergelassen ist, diese Verordnung sagt aber nichts zu der Frage, in welchem Hoheitsgebiet die Konformitätsbewertungsstellen ihre Tätigkeiten ausüben können oder müssen und in welchem Umfang die Akkreditierung, die ihnen von der nationalen Akkreditierungsstelle nach dieser Verordnung erteilt wird, auch die Tätigkeiten der Konformitätsbewertungsstellen, die in deren Zweigniederlassungen im Gebiet von Drittstaaten ausgeübt werden, erfassen kann oder nicht oder erfassen muss oder nicht erfassen darf. Zum anderen und im Übrigen ist der Umstand, ob die von der Kommission beanstandete tschechische Praxis im Einklang mit der Verordnung Nr. 765/2008 steht, nicht Gegenstand der vorliegenden Klage.
58 Es ist jedoch hervorzuheben, dass das Gebrauchmachen von der den Mitgliedstaaten in Rn. 55 des vorliegenden Urteils zuerkannten Befugnis nicht gerechtfertigt ist, wenn nach der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Ergebnisse der Kontrolle, die in dem Mitgliedstaat, aus dem die fraglichen Edelmetalle ausgeführt werden, durchgeführt wird, den Anforderungen des Einfuhrmitgliedstaats genügen.
59 Das ist vorliegend bei den von WaarborgHolland im niederländischen Hoheitsgebiet punzierten und in diesem Mitgliedstaat oder gegebenenfalls im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats rechtmäßig in Verkehr gebrachten Edelmetallen gemäß der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs notwendigerweise der Fall.
60 Das ist auch der Fall bei Edelmetallen, die mit einer in einem Drittstaat angebrachten Punze von WaarborgHolland gekennzeichnet sind, die in den zollrechtlich freien Verkehr in der Union überführt worden sind und die vor ihrer Ausfuhr in die Tschechische Republik im Gebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind, der sich – wie die Tschechische Republik – dafür entschieden hat, es nicht zu erlauben, dass seine Garantiestelle oder seine Garantiestellen oder andere Einrichtungen, die er zur Anbringung von Garantiepunzen dieses Mitgliedstaats auf Edelmetallen ermächtigen könnte, diese Punzen im Gebiet von Drittstaaten anbringen. In dieser Fallgruppe ist nämlich davon auszugehen, dass die Kontrolle, die dieser Mitgliedstaat beim Inverkehrbringen der fraglichen Edelmetalle in seinem Hoheitsgebiet durchführt, den Anforderungen der Tschechischen Republik genügt, da in dieser Fallgruppe diese beiden Mitgliedstaaten gleichwertige Verbraucherschutzniveaus anstreben.
61 Es ist daher festzustellen, dass sich in den in den Rn. 59 und 60 des vorliegenden Urteils identifizierten Fallgestaltungen die Weigerung der Tschechischen Republik, die Punzen von WaarborgHolland anzuerkennen, nicht rechtfertigen lässt und die behauptete Vertragsverletzung daher nachgewiesen ist.
62 Dagegen ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass, wenn es um Edelmetalle geht, die im Gebiet eines Drittstaats mit einer Punze von WaarborgHolland gekennzeichnet worden sind, die in den zollrechtlich freien Verkehr in der Union überführt und die in die Tschechische Republik ausgeführt werden, ohne dass sie zuvor in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind, und wenn es sich um solche Waren handelt, deren rechtmäßiges Inverkehrbringen, nachdem sie in den freien Verkehr überführt worden sind, in einem Mitgliedstaat, der keine Garantiestempelung der Edelmetalle durch eine unabhängige Stelle verlangt, oder in einem Mitgliedstaat erfolgt, der diese Stempelung verlangt, aber erlaubt, dass sie im Gebiet eines Drittstaats vorgenommen wird, die Ergebnisse der Kontrolle, die der Mitgliedstaat durchführt, aus dem die fraglichen Edelmetalle ausgeführt werden, den Anforderungen der Tschechischen Republik nicht genügen.
63 Obschon die tschechische Praxis daher teilweise gerechtfertigt werden kann, insbesondere weil es sein kann, dass die fraglichen Edelmetalle den Bedingungen eines rechtmäßigen Inverkehrbringens in einem Mitgliedstaat nicht entsprechen, ist für die Zulässigkeit einer solchen Rechtfertigung gleichwohl noch erforderlich, dass diese Praxis geeignet ist, die Verwirklichung dieses Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was zu diesem Zweck erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 2009, Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 16. Januar 2014, Juvelta, C‑481/12, EU:C:2014:11, Rn. 29).
64 Es steht fest, dass die in Rede stehende tschechische Praxis die mit Punzen von WaarborgHolland gekennzeichneten Edelmetalle generell und nicht nur die Edelmetalle erfasst, die mit im Gebiet von Drittstaaten angebrachten Punzen von WaarborgHolland gekennzeichnet sind, und zwar unterschiedslos in Bezug auf die Bedingungen, unter denen diese Edelmetalle in die Tschechische Republik ausgeführt werden, d. h. insbesondere, ob sie in die Tschechische Republik ausgeführt werden, nachdem sie in einem anderen Mitgliedstaat lediglich in den zollrechtlich freien Verkehr überführt worden sind, oder aber, nachdem sie in einem anderen Mitgliedstaat auch rechtmäßig in Verkehr gebracht worden sind.
65 In diesem Zusammenhang beruft sich die Tschechische Republik darauf, dass es unmöglich sei, unter den Punzen von WaarborgHolland diejenigen, die im Gebiet von Drittstaaten angebracht worden seien, von denen zu unterscheiden, die in der Union angebracht worden seien, da diese Punzen identisch seien, unabhängig von dem Ort, an dem sie angebracht worden seien. Dieser Umstand lässt jedoch nicht die Annahme zu, dass diese Praxis, in dem Umfang, in dem sie gerechtfertigt werden kann, im Verhältnis zum angestrebten Ziel angemessen ist.
66 Es wäre nämlich möglich, beispielsweise indem vom Einführer in die Tschechische Republik ein urkundlicher Nachweis verlangt würde, der den Ort, an dem die fragliche Punze angebracht wurde, und gegebenenfalls den Ort der Überführung in den freien Verkehr und des rechtmäßigen Inverkehrbringens der fraglichen Edelmetalle in der Union bescheinigte, die Verweigerung der Anerkennung der Punzen von WaarborgHolland auf allein die Fälle zu beschränken, in denen eine zusätzliche Kontrolle dieser Metalle durch die tschechischen Behörden tatsächlich durch den Verbraucherschutz gerechtfertigt ist, was eine Maßnahme darstellen würde, die den freien Warenverkehr weniger beeinträchtigte als die generelle Weigerung, diese Punzen anzuerkennen, und die zusätzliche Punzierung aller mit diesen Punzen gekennzeichneten Edelmetalle.
67 Die Tatsache, dass in einem solchen Fall der Endverbraucher selbst nicht in der Lage wäre, nachzuprüfen, ob die von WaarborgHolland auf einem Edelmetall angebrachte Punze im Gebiet eines Drittstaats oder in der Union angebracht wurde und er folglich in Bezug auf die Qualität des Metalls irregeführt werden könnte, kann entgegen dem Vorbringen der Tschechischen Republik nicht die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Praxis nachweisen, es sei denn, es würde angenommen, ein solcher Verbraucher könnte sich nicht auf die zuständigen Behörden des Verbrauchermitgliedstaats hinsichtlich der von ihnen vorgenommenen Qualitätskontrolle, die dieser Mitgliedstaat auf seinem Markt zulässt, verlassen; davon kann jedoch nicht ausgegangen werden.
68 Daher ist festzustellen, dass die in Rede stehende tschechische Praxis, soweit sie durch den Verbraucherschutz gerechtfertigt werden kann, aufgrund ihres generellen und systematischen Charakters hinsichtlich der von ihr verfolgten Ziele nicht verhältnismäßig ist.
69 Nach alledem ist festzustellen, dass die Tschechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV verstoßen hat, dass sie sich geweigert hat, die Punzen von WaarborgHolland anzuerkennen, und die Klage im Übrigen abzuweisen.
Kosten
70 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 138 Abs. 3 Satz 1 trägt jede Partei ihre eigenen Kosten, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da die Klage der Kommission teilweise unzulässig ist, ist zu entscheiden, dass die Kommission und die Tschechische Republik ihre eigenen Kosten tragen.
71 Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, trägt die Französische Republik ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Tschechische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV verstoßen, dass sie sich geweigert hat, die Punzen der Garantiestelle WaarborgHolland anzuerkennen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Europäische Kommission, die Tschechische Republik und die Französische Republik tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Tschechisch.
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Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 15. September 2016.#Union pour l'unité (U4U) u. a. gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union.#Für in einem Drittland diensttuende Beamte geltende besondere Bestimmungen und Ausnahmen – Laufbahn von Beamten der Besoldungsgruppe Verwaltungsrat – Änderung des Statuts der Beamten der Union – Verordnung [EU, Euratom] Nr. 1023/2013 – Unregelmäßigkeiten im Verfahren zum Erlass von Rechtsakten – Fehlende Anhörung des Statutsbeirats und der Gewerkschaftsverbände.#Rechtssache T-17/14.
|
62014TJ0017
|
ECLI:EU:T:2016:489
| 2016-09-15T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62014TJ0017 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichts (Vierte Kammer) vom 14. Juli 2016.#Alcimos Consulting SMPC gegen Europäische Zentralbank.#Nichtigkeitsklage – Schadensersatzklage – Vom EZB-Rat erlassene Beschlüsse – Bereitstellung von Notfall-Liquiditätshilfe an griechische Banken – Obergrenze – Keine unmittelbare Betroffenheit – Unzulässigkeit – Verstoß gegen Formerfordernisse.#Rechtssache T-368/15.
|
62015TO0368(01)
|
ECLI:EU:T:2016:438
| 2016-07-14T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62015TO0368(01) - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 10. Juni 2016.#Artem Viktorovych Pshonka gegen Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Klagefrist – Zulässigkeit – Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste – Offensichtlich begründete Klage.#Rechtssache T-380/14.
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62014TO0380(03)
|
ECLI:EU:T:2016:363
| 2016-06-10T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TO0380(03) - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 10. Juni 2016.#Viktor Pavlovych Pshonka gegen Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Klagefrist – Zulässigkeit – Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste – Offensichtlich begründete Klage.#Rechtssache T-381/14.
|
62014TO0381(03)
|
ECLI:EU:T:2016:361
| 2016-06-10T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TO0381(03)
BESCHLUSS DES GERICHTS (Neunte Kammer)
10. Juni 2016 (*1)
„Nichtigkeitsklage — Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine — Einfrieren von Geldern — Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden — Aufnahme des Namens des Klägers — Klagefrist — Zulässigkeit — Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste — Offensichtlich begründete Klage“
In der Rechtssache T‑381/14
Viktor Pavlovych Pshonka, wohnhaft in Moskau (Russland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte C. Constantina und J.‑M. Reymond,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch V. Piessevaux und A. Vitro als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Europäische Kommission, vertreten durch S. Bartelt und D. Gauci als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 2014/119/GASP des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 26) und der Verordnung (EU) Nr. 208/2014 des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 1), soweit diese Rechtsakte den Kläger betreffen,
erlässt
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten G. Berardis (Berichterstatter) sowie der Richter O. Czúcz und A. Popescu,
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Hintergrund der vorliegenden Rechtssache sind die restriktiven Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine.
2 Der Kläger, Herr Viktor Pavlovych Pshonka, ist der frühere Generalstaatsanwalt der Ukraine.
3 Am 5. März 2014 erließ der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. 29 EUV den Beschluss 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 26, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
4 Art. 1 Abs. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses bestimmt:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
(2) Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.“
5 Die Modalitäten dieser restriktiven Maßnahmen werden in den weiteren Absätzen dieses Artikels festgelegt.
6 Am selben Tag erließ der Rat auf der Grundlage von Art. 215 Abs. 2 AEUV die Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
7 Dem angefochtenen Beschluss entsprechend schreibt die angefochtene Verordnung den Erlass der betreffenden restriktiven Maßnahmen vor und legt deren Modalitäten mit im Wesentlichen demselben Wortlaut wie der Beschluss fest.
8 Die Namen der von dem angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung betroffenen Personen sind in einer Liste im Anhang des Beschlusses und in Anhang I der Verordnung (im Folgenden: Liste) u. a. mit der Begründung für ihre Aufnahme verzeichnet.
9 Der Name des Klägers wurde mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Generalstaatsanwalt der Ukraine“ und folgender Begründung in die Liste aufgenommen:
„Person ist in der Ukraine Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung zur Untersuchung von Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland“.
10 Am 6. März 2014 veröffentlichte der Rat im Amtsblatt der Europäischen Union eine Mitteilung an die Personen, die den restriktiven Maßnahmen nach dem angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung unterliegen (ABl. 2014, C 66, S. 1). Nach dieser Mitteilung „[können d]ie betroffenen Personen … beim Rat unter Vorlage von entsprechenden Nachweisen beantragen, dass der Beschluss, sie in die … Liste aufzunehmen, überprüft wird“. In der Mitteilung werden die betroffenen Personen ferner darauf aufmerksam gemacht, „dass sie den Beschluss des Rates unter den in Artikel 275 Absatz 2 [AEUV] und Artikel 263 Absätze 4 und 6 [AEUV] genannten Voraussetzungen vor dem Gericht … anfechten können“.
11 Der angefochtene Beschluss wurde durch den am 31. Januar 2015 in Kraft getretenen Beschluss (GASP) 2015/143 des Rates vom 29. Januar 2015 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2015, L 24, S. 16) geändert. Was die Benennungskriterien für die von den betreffenden restriktiven Maßnahmen erfassten Personen angeht, ergibt sich aus Art. 1 dieses Beschlusses, dass Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses folgende Fassung erhielt:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
Für die Zwecke dieses Beschlusses zählen zu Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich erklärt wurden, Personen, die Gegenstand von Untersuchungen der ukrainischen Behörden sind
a)
wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine oder wegen Beihilfe hierzu oder
b)
wegen Amtsmissbrauchs als Inhaber eines öffentlichen Amtes, um sich selbst oder einer dritten Partei einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen und wodurch ein Verlust staatlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine verursacht wird, oder wegen Beihilfe hierzu.“
12 Mit der Verordnung (EU) 2015/138 des Rates vom 29. Januar 2015 zur Änderung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2015, L 24, S.1) wurde diese entsprechend dem Beschluss 2015/143 geändert.
13 Der angefochtene Beschluss und die angefochtene Verordnung wurden später durch den Beschluss (GASP) 2015/364 des Rates vom 5. März 2015 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2015, L 62, S. 25) und durch die Durchführungsverordnung (EU) 2015/357 des Rates vom 5. März 2015 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2015, L 62, S. 1) geändert. Mit dem Beschluss 2015/364 wurde Art. 5 des angefochtenen Beschlusses geändert, indem die restriktiven Maßnahmen, was den Kläger betrifft, bis zum 6. März 2016 verlängert wurden. Die Durchführungsverordnung 2015/357 ersetzte dementsprechend Anhang I der angefochtenen Verordnung.
14 Mit diesen Rechtsakten wurde der Name des Klägers mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Generalstaatsanwalt der Ukraine“ und mit folgender neuer Begründung auf der Liste belassen:
„Person ist Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung seitens der ukrainischen Behörden wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte.“
15 Gegen diese letztgenannten Rechtsakte hat der Kläger keine Klage erhoben.
Verfahren und Anträge der Parteien
16 Der Kläger hat mit Klageschrift, die am 30. Mai 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
17 Mit besonderem Schriftsatz, der am 9. September 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rat eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 erhoben.
18 Mit Schriftsätzen, die am 19. und 29. September 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Europäische Kommission und die Ukraine jeweils beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden.
19 Mit am 24. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichtem Schriftsatz hat die Ukraine dem Gericht mitgeteilt, dass sie ihren Streithilfeantrag zurücknehme.
20 Mit Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 7. Januar 2015 ist die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 4 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 dem Endurteil vorbehalten worden.
21 Der Rat hat am 24. Februar 2015 seine Klagebeantwortung eingereicht. Der Kläger hat keine Erwiderung eingereicht.
22 Der Präsident der Neunten Kammer des Gerichts hat mit Beschluss vom 11. März 2015 die Streichung der Ukraine als Streithelferin angeordnet.
23 Mit Beschluss vom 25. März 2015 hat der Präsident der Neunten Kammer des Gerichts die Kommission als Streithelferin zugelassen. Diese hat ihren Streithilfeschriftsatz und der Rat hat seine Stellungnahme hierzu fristgerecht eingereicht. Mit Schreiben vom 3. Juli 2015 hat der Kläger auf die Einreichung seiner Stellungnahme verzichtet.
24 Mit Schreiben vom 16. Juli 2015 hat die Kanzlei des Gerichts den Parteien mitgeteilt, dass das schriftliche Verfahren abgeschlossen sei.
25 Mit am 17. August 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem und mit Gründen versehenem Schriftsatz hat der Rat gemäß Art. 106 der Verfahrensordnung des Gerichts beantragt, in der mündlichen Verhandlung gehört zu werden.
26 Mit Schreiben vom 20. November 2015 hat die Kanzlei des Gerichts die Parteien aufgefordert, im Hinblick auf das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), mit dem das Gericht den angefochtenen Beschluss und die angefochtene Verordnung, soweit diese den Kläger in jener Rechtssache betrafen, für nichtig erklärt hat, zur Anwendbarkeit von Art. 132 der Verfahrensordnung im vorliegenden Fall Stellung zu nehmen. Die Parteien haben darauf fristgemäß geantwortet.
27 Der Kläger beantragt im Wesentlichen,
—
die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen;
—
den angefochtenen Beschluss und die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie ihn betreffen;
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
28 Der Rat beantragt,
—
die Klage als unzulässig abzuweisen;
—
hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
29 Die Kommission beantragt Klageabweisung.
Rechtliche Würdigung
30 Hat der Gerichtshof oder das Gericht bereits über eine oder mehrere Rechtsfragen entschieden, die mit den durch die Klagegründe aufgeworfenen übereinstimmen, und stellt das Gericht fest, dass der Sachverhalt erwiesen ist, so kann es gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung die Klage nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens und nach Anhörung der Parteien durch mit Gründen versehenen Beschluss, der einen Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung enthält, für offensichtlich begründet erklären.
31 Im vorliegenden Fall hat der Rat mit besonderem Schriftsatz eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, mit der das Gericht befasst bleibt, auch wenn es die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten hat. Da es sich aufgrund der Aktenlage für ausreichend unterrichtet hält, beschließt es, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.
Zur vom Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit
32 Der Rat erhebt die Einrede der Unzulässigkeit der vorliegenden Klage gegen den angefochtenen Beschluss und die angefochtene Verordnung mit der Begründung, sie sei nicht fristgerecht erhoben worden. Insbesondere bringt der Rat unter Bezugnahme auf Art. 263 Abs. 6 AEUV und auf das Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), vor, dass die zweimonatige Klagefrist mit der Mitteilung des Beschlusses über die Aufnahme seines Namens in die Liste an den Kläger zu laufen begonnen habe, wobei die Bekanntgabe mittels Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union (vgl. oben, Rn. 10) erfolgt sei, da dem Rat die Anschrift des Klägers unbekannt gewesen sei.
33 Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991, nach dem die Klagefrist mit Ablauf des vierzehnten Tages nach der Veröffentlichung der Maßnahme beginnt, gelte nur, wenn die Frist zur Klage gegen eine Maßnahme mit deren Veröffentlichung zu laufen beginne, was vorliegend nicht der Fall sei. Des Weiteren gehe aus dem Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), hervor, dass die von der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union betroffenen Personen oder Organisationen, wenn ihnen eine Maßnahme zur Kenntnis gebracht worden sei, sich nicht auf diese Veröffentlichung berufen dürften, um den Beginn der Klagefrist hinauszuzögern.
34 Demnach sei vorliegend die in Art. 263 Abs. 6 AEUV vorgesehene zweimonatige Klagefrist, verlängert um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen gemäß Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991, am 16. Mai 2014 abgelaufen. Die vorliegende am 30. Mai 2014 erhobene Klage sei daher unzulässig.
35 Der Kläger widerspricht der Argumentation des Rates und macht geltend, dass die Klage nicht verspätet sei.
36 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV die Nichtigkeitsklage binnen zwei Monaten zu erheben ist; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Veröffentlichung der angefochtenen Handlung, von ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.
37 Nach der Rechtsprechung setzt der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes voraus, dass das Unionsorgan, das einen Rechtsakt erlässt, der restriktive Maßnahmen gegenüber einer Person oder Organisation nach sich zieht, so weit wie möglich zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Rechtsakt erlassen wird, oder wenigstens so bald wie möglich danach der betreffenden Person oder Organisation die Gründe mitteilt, auf die der Rechtsakt gestützt wird, um diesen Personen oder Einrichtungen die Wahrnehmung ihres Rechts auf Rechtsschutz zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 16. November 2011, Bank Melli Iran/Rat, C‑548/09 P, EU:C:2011:735, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Dies ergibt sich aus der besonderen Natur der Rechtsakte, mit denen restriktive Maßnahmen gegenüber einer Person oder Organisationen verhängt werden. Bei ihnen handelt es sich gleichzeitig um Rechtsakte mit allgemeiner Geltung, die einer Gruppe von allgemein und abstrakt bestimmten Adressaten u. a. verbietet, den Personen und Organisationen, deren Namen in den Listen in den Anhängen dieser Rechtsakte aufgeführt sind, Gelder und wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen, und um ein Bündel von Einzelentscheidungen gegen diese Personen und Organisationen (vgl. Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall wird der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Art. 2 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses und in Art. 14 Abs. 2 der angefochtenen Verordnung konkretisiert, nach denen der Rat die betreffende Person oder Organisation über seinen Beschluss einschließlich der Gründe für die Aufnahme ihres Namens in die Liste der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen und Organisationen entweder unmittelbar, wenn deren Anschrift bekannt ist, oder durch Veröffentlichung einer Mitteilung in Kenntnis setzt, um dieser Person oder Organisation Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
40 Die Frist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt, mit dem restriktive Maßnahmen gegen eine Person oder eine Organisation verhängt werden, beginnt erst von dem Zeitpunkt an, zu dem der Betroffene von diesem Rechtsakt individuell in Kenntnis gesetzt wird, falls seine Anschrift bekannt ist, und andernfalls von der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union an zu laufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258, Rn. 59 bis 62).
41 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es dem Rat nicht freisteht, die Art der Mitteilung seiner Entscheidungen an die Betroffenen willkürlich auszuwählen. Aus Rn. 61 des Urteils vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), geht nämlich hervor, dass der Gerichtshof eine indirekte Mitteilung der Rechtsakte, mit denen restriktive Maßnahmen verhängt werden, durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union lediglich in den Fällen zulassen wollte, in denen der Rat keine individuelle Mitteilung vornehmen kann. Eine andere Sichtweise würde dem Rat erlauben, sich mit Leichtigkeit seiner Verpflichtung zur individuellen Mitteilung zu entziehen (Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 36, Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 38, und Sharif University of Technology/Rat, T‑181/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:607, Rn. 31).
42 Zudem ist es dem Rat nicht möglich, einer natürlichen oder juristischen Person oder einer Organisation einen Rechtsakt, der restriktive Maßnahmen beinhaltet, die sie betreffen, individuell mitzuteilen, wenn die Adresse der Person oder Organisation nicht allgemein bekannt ist und ihm nicht mitgeteilt wurde oder die Mitteilung an die dem Rat vorliegende Adresse versandt wurde und nicht zugestellt werden kann, obwohl er mit der gebotenen Sorgfalt alle Anstrengungen unternommen hat, um die Mitteilung zu überbringen (Urteil vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 61).
43 Hier trägt der Rat vor, zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses und der angefochtenen Verordnung von der Anschrift des Klägers keine Kenntnis gehabt zu haben, was von diesem nicht bestritten wird.
44 Da der Rat keine andere Wahl hatte, als die Aufnahme des Namens des Klägers durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt zu machen, stellt das Datum der Veröffentlichung dieser Mitteilung den Beginn der Klagefrist in der vorliegenden Rechtssache dar.
45 Hinsichtlich der Berechnung dieser Frist ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 eine Frist, wenn sie für die Erhebung einer Klage gegen eine Maßnahme eines Organs mit der Veröffentlichung der Maßnahme beginnt, vom Ablauf des vierzehnten Tages nach der Veröffentlichung der Maßnahme im Amtsblatt der Europäischen Union an zu berechnen ist. Nach Art. 102 § 2 dieser Verfahrensordnung wird diese Frist um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen verlängert.
46 In diesem Zusammenhang vermag die Argumentation des Rates, Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 sei vorliegend nicht anwendbar, nicht zu greifen.
47 Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991, dass die Verlängerung der Frist um 14 Tage auf Maßnahmen Anwendung findet, bei denen die Klagefrist mit ihrer Veröffentlichung beginnt; davon sind nur diejenigen Maßnahmen ausgenommen, die Gegenstand einer Mitteilung sind. Diese Bestimmung trifft nämlich keine Unterscheidung hinsichtlich der Art der im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Maßnahme. Daher kann darauf geschlossen werden, dass Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 anwendbar ist, sofern eine Maßnahme Gegenstand einer Veröffentlichung geworden ist und deren Datum den Ausgangspunkt für die Klagefrist gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 40 und 41, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 42 und 43).
48 Des Weiteren besteht das Ziel der in Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 vorgesehenen Frist von 14 Tagen darin, sicherzustellen, dass die Betroffenen über einen ausreichenden Zeitraum verfügen, um eine Klage gegen die veröffentlichten Maßnahmen zu erheben, und damit ihr in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankertes Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz beachtet wird (Urteil vom 26. September 2013, PPG und SNF/ECHA, C‑625/11 P, EU:C:2013:594, Rn. 35).
49 Zudem ist zu beachten, dass die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union über die Aufnahme der Namen von Personen und Organisationen, die restriktiven Maßnahmen unterworfen sind, nicht mit einer Mitteilung dieser Maßnahmen an die betroffenen Personen und Organisationen gleichgesetzt werden kann. Wird eine Handlung mitgeteilt, kann davon ausgegangen werden, dass sie ihrem Adressaten am Tag der Mitteilung verfügbar gemacht wird. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn Handlungen mit individueller Geltung wie etwa restriktive Maßnahmen den betroffenen Personen und Organisationen mittelbar durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden. Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 bestimmt aber eine vierzehntägige Frist, nach deren Ablauf vernünftigerweise angenommen werden kann, dass das Amtsblatt der Europäischen Union in allen Mitgliedstaaten und in den Drittstaaten verfügbar ist. Daher ist die Verlängerung der in dieser Bestimmung vorgesehenen vierzehntägigen Frist auf alle Handlungen anwendbar, die durch eine Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union mitgeteilt werden, einschließlich der Handlungen mit individueller Geltung, die den betroffenen Personen mittels der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden (Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 42 und 43, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 44 und 45).
50 Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Anwendung von Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Zielsetzung des Rechts der Betroffenen entspricht, dass ihnen gegen sie verhängte restriktive Maßnahmen gegebenenfalls durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden (Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 44, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 46).
51 Sind nämlich die Anschriften der von restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen oder Organisationen unbekannt, oder ist die unmittelbare Mitteilung dieser Maßnahmen unmöglich, würde die Anwendung der für individuelle Mitteilungen geltenden Regelungen für die Fristenberechnung auf derartige Maßnahmen, die mittelbar anhand der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden, den Betroffenen die Verlängerung der Klagefrist um 14 Tage ab der Veröffentlichung der Maßnahme gemäß Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 nehmen, ohne dass ihnen jedoch im Übrigen die sich aus einer unmittelbaren Mitteilung ergebenden Garantien zugutekämen. Unter diesen Umständen hätte die Verpflichtung, die restriktiven Maßnahmen mittelbar durch die Veröffentlichung einer Mitteilung bekannt zu machen, mit der grundsätzlich bezweckt wird, den Betroffenen zusätzliche Garantien einzuräumen, paradoxerweise die Wirkung, dass sie schlechter gestellt würden als bei einer einfachen Veröffentlichung der angefochtenen Rechtsakte im Amtsblatt der Europäischen Union (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Februar 2014, Syrian Lebanese Commercial Bank/Rat, T‑174/12 und T‑80/13, EU:T:2014:52, Rn. 65 und 66, vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 45, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 47).
52 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Rat seine Argumentation nicht mit Erfolg auf das Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), stützen kann, in dem der Gerichtshof gerade hervorgehoben hat, dass die Pflicht zur individuellen Mitteilung den Bürgern einen stärkeren Schutz gewähren soll. Das genannte Urteil kann daher nicht dafür herhalten, die Bürger ungünstiger zu behandeln, als wenn die Rechtsakte, die die restriktiven Maßnahmen gegen die Bürger beinhalten, lediglich veröffentlicht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Februar 2014, Syrian Lebanese Commercial Bank/Rat, T‑174/12 und T‑80/13, EU:T:2014:52, Rn. 67).
53 Im Übrigen ist auch festzustellen, dass der Rat seine Argumentation fälschlicherweise auf das Urteil vom 9. Juli 2014, Al-Tabbaa/Rat (T‑329/12 und T‑74/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:622), stützt, indem er insbesondere auf Rn. 59 dieses Urteils Bezug nimmt. In dieser Randnummer wird nämlich zunächst darauf hingewiesen, dass die fraglichen Handlungen dem Kläger mitgeteilt worden waren, zum einen mittels eines an seine Bevollmächtigten zugestellten Schreibens, und zum anderen mittels Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union, wobei diese beiden Ereignisse am selben Tag stattfanden. Anschließend hat das Gericht festgestellt, dass die Klage gegen diese Handlungen nicht verspätet war, da sie vor Ablauf der ihrer Berechnung nach kürzeren Klagefrist eingereicht worden war, nämlich der ab Zustellung an den Bevollmächtigten des Klägers berechneten Frist. In jenem Fall war es daher nicht notwendig, die Berechnung der mit der Veröffentlichung der Mitteilung beginnenden Klagefrist darzulegen, für die Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 galt.
54 Diese letzte Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Rn. 59 des Urteils vom 9. Juli 2014, Al-Tabbaa/Rat (T‑329/12 und T‑74/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:622), die Klagefristen in beiden Fällen um eine pauschale Frist von zehn Tagen gemäß Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung vom2. Mai 1991 verlängert werden. Zum einen gilt nämlich diese Bestimmung unabhängig von der Art des die Klagefrist auslösenden Ereignisses und zum anderen schließt die Anwendung dieser Bestimmung die Geltung von Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 nicht aus.
55 Im vorliegenden Fall hat der Rat eine Mitteilung über die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste im Amtsblatt der Europäischen Union vom 6. März 2014 veröffentlicht. Die zweimonatige Frist, verlängert um die vierzehntägige Frist gemäß Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 sowie die pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen gemäß dessen § 2, lief also am 30. Mai 2014 ab.
56 Da die vorliegende Klage an eben diesem Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht worden ist, ist sie innerhalb der gesetzlichen Frist erhoben worden, so dass die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen ist.
Zur Begründetheit
57 Zur Stützung der Klage macht der Kläger drei Klagegründe geltend. Im Rahmen des ersten Klagegrundes, mit dem die Unzuständigkeit des Rates und ein Eingriff in die Befugnisse des „gesetzlichen Richters“ gerügt wird, erhebt er gemäß Art. 277 AEUV eine Einrede der Rechtswidrigkeit gegen Art. 3 der angefochtenen Verordnung, da der Wortlaut dieses Artikels unter Verstoß gegen Art. 215 Abs. 2 AEUV erlassen worden sei. Der zweite Klagegrund betrifft eine offensichtlich fehlerhafte Beurteilung der Tatsachen. Der dritte, auf einen Verstoß gegen Grundrechte gerichtete Klagegrund besteht aus sieben Teilen, mit denen ein Begründungsmangel, eine Verletzung von Grundrechten, eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, eine Verletzung der Unschuldsvermutung, eine Verletzung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, eine Verletzung des Eigentumsrechts und eine schwerwiegende Schädigung des Rufs des Klägers gerügt werden.
58 Das Gericht hält es für zweckmäßig, zuerst den zweiten Klagegrund zu prüfen, den der Kläger im Wesentlichen darauf stützt, dass die restriktiven Maßnahmen gegen ihn ohne eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage erlassen worden seien.
59 Dieser Klagegrund wirft nämlich die gleiche Rechtsfrage auf wie die, über die das Gericht in seinen Urteilen vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), und vom 28. Januar 2016, Azarov/Rat (T‑331/14, EU:T:2016:49), Azarov/Rat (T‑332/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:48), Klyuyev/Rat (T‑341/14, EU:T:2016:47), Arbuzov/Rat (T‑434/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:46) und Stavytskyi/Rat (T‑486/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:45), bereits entschieden hat, die rechtskräftig geworden sind und nunmehr absolute Rechtskraft erlangt haben.
60 Nach Ansicht des Klägers enthalten der angefochtene Beschluss und die angefochtene Verordnung im vorliegenden Fall zur Rechtfertigung der Aufnahme seines Namens in die Liste nur sehr lapidare Begründungen, da sie sich auf die Angabe beschränkt hätten, dass er in der Ukraine Gegenstand von Untersuchungen wegen der Beteiligung an Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder und des illegalen Transfers dieser Gelder ins Ausland sei. Die vom Rat genannten Gründe erfüllten die vom angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung festgelegten Bedingungen nicht und seien durch keinerlei Nachweis belegt. Außerdem seien bis zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses und der angefochtenen Verordnung keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn wegen der Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine oder des illegalen Transfers solcher Vermögenswerte ins Ausland eingeleitet worden. Der Rat habe daher eine offensichtlich fehlerhafte Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts vorgenommen oder ihn willkürlich beurteilt.
61 Der Rat hält dem entgegen, dass die Gründe für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste auf einer gesicherten tatsächlichen Grundlage beruhten. Diese Gründe seien nämlich auf ein Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine an die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik vom 3. März 2014 (im Folgenden: Schreiben vom 3. März 2014) gestützt, mit dem der Rat darüber unterrichtet worden sei, dass eine Untersuchung durchgeführt werde, die die Beteiligung, u. a. des Klägers, an Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder und des illegalen Transfers dieser Gelder aus der Ukraine zum Gegenstand hätten, was der den Kläger betreffenden Begründung im angefochtenen Beschluss und in der angefochtenen Verordnung entspreche. Des Weiteren habe die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine in späteren Schreiben zusätzlich nähere Angaben zu der den Kläger betreffenden Untersuchung und zur Art der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen gemacht. Hierzu trägt der Rat vor, die Tatsache, dass gegen den Kläger kein Strafverfahren eingeleitet worden sei, hindere im Licht der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze den Rat nicht daran, den Kläger rechtswirksam als für die Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine verantwortlich zu identifizieren.
62 Wie in Rn. 38 des Urteils vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), ausgeführt, verfügt der Rat zwar über einen weiten Beurteilungsspielraum, was die im Hinblick auf den Erlass restriktiver Maßnahmen zu berücksichtigenden allgemeinen Kriterien betrifft; die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte garantierte Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle erfordert jedoch, dass der Unionsrichter, wenn er die Rechtmäßigkeit der Begründung prüft, die der Entscheidung zugrunde liegt, den Namen einer bestimmten Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen oder darin zu belassen, sich vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die in der Begründung dieser Entscheidung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um die betreffende Entscheidung zu stützen – hinreichend genau und konkret belegt sind (vgl. Urteil vom 21. April 2015, Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:248, Rn. 41 und 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
63 Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 39), ergangen ist, lautet im vorliegenden Fall das Kriterium in Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses, dass restriktive Maßnahmen gegen Personen ergehen, die als für die Veruntreuung von Geldern verantwortlich identifiziert worden sind. Aus dem zweiten Erwägungsgrund dieses Beschlusses geht ferner hervor, dass der Rat diese Maßnahmen „im Hinblick auf die Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit … in der Ukraine“ erlassen hat.
64 Der Name des Klägers wurde mit der Begründung in die Liste aufgenommen, dass er eine „Person [sei, die] in der Ukraine Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung zur Untersuchung von Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland [sei]“. Daraus geht hervor, dass der Rat davon ausging, der Kläger sei wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an der Veruntreuung staatlicher Mittel Gegenstand von Ermittlungen oder einer Voruntersuchung, die nicht (oder noch nicht) zu einer förmlichen Anklage geführt hätten.
65 Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 41), ergangen ist, beruft sich der Rat zur Begründung für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste auf das Schreiben vom 3. März 2014 sowie auf weitere Beweismittel aus der Zeit nach dem angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung.
66 Das Schreiben vom 3. März 2014 besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil heißt es, dass die „Strafverfolgungsbehörden der Ukraine“ eine Reihe von Strafverfahren eingeleitet hätten, um wegen strafbarer Handlungen zu ermitteln, die von ehemaligen hohen Amtsträgern (acht an der Zahl) begangen worden seien; hinsichtlich dieser Amtsträger seien im Zuge dieser Ermittlungen die Veruntreuung öffentlicher Gelder in erheblichem Umfang und ihr späterer illegaler Transfer aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine festgestellt worden. Die Namen dieser hohen Amtsträger, darunter der des Klägers (der einzige, dessen Name nicht geschwärzt wurde), werden unmittelbar im Anschluss auf einer Liste genannt. Im zweiten Teil heißt es weiter, dass „bei den Ermittlungen die Beteiligung anderer hoher Amtsträger früherer Regierungen an gleichartigen Straftaten geprüft [werde]“ und dass diese Personen binnen Kurzem von der Aufnahme der Ermittlungen in Kenntnis gesetzt würden. Die Namen dieser anderen hohen Amtsträger (zehn an der Zahl und alle geschwärzt) werden ebenfalls unmittelbar im Anschluss auf einer Liste genannt.
67 Es wird nicht bestritten, dass der Kläger nur auf dieser Grundlage als im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses „für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich“ identifiziert worden ist.
68 Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 42), ergangen ist, ist das Schreiben vom 3. März 2014 nämlich unter den vom Rat im vorliegenden Verfahren vorgelegten Beweisstücken das einzige, das aus der Zeit vor dem angefochtenen Beschluss und der angefochtenen Verordnung stammt.
69 Entsprechend den Feststellungen des Gerichts im Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 43 und 44), ist aber davon auszugehen, dass dieses Schreiben zwar von einer hohen Justizbehörde eines Drittlands stammt, jedoch lediglich eine allgemeine und unspezifische Behauptung enthält, die den Namen des Klägers zusammen mit den Namen anderer ehemaliger hoher Amtsträger mit einem Ermittlungsverfahren in Verbindung bringt, bei dem die Veruntreuung öffentlicher Gelder festgestellt worden sei. Dieses Schreiben enthält nämlich keine genauen Angaben hinsichtlich der Feststellung dieser Tatsachen, die im Zuge der von den ukrainischen Behörden geführten Ermittlungen verifiziert werden sollten, und erst recht keine Angaben zu einer – zumindest mutmaßlichen – entsprechenden individuellen Verantwortlichkeit des Klägers (vgl. auch in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2016, Azarov/Rat, T‑332/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:48, Rn. 46).
70 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Rat, anders als im Urteil vom 27. Februar 2014, Ezz u. a./Rat (T‑256/11, EU:T:2014:93, Rn. 57 bis 61), im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch das Urteil vom 5. März 2015, Ezz u. a./Rat (C‑220/14 P, EU:C:2015:147), auf die er sich beruft, im vorliegenden Fall zum einen nicht über Informationen zu den Tatsachen oder Handlungen verfügte, die die ukrainischen Behörden dem Kläger konkret zur Last gelegt hatten, und dass zum anderen das Schreiben vom 3. März 2014, selbst wenn es in seinem Kontext betrachtet wird, keine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage im Sinne der oben in Rn. 62 angeführten Rechtsprechung dafür darstellen kann, den Namen des Klägers mit der Begründung in die Liste aufzunehmen, dass er als für die Veruntreuung öffentlicher Gelder „verantwortlich“ identifiziert worden sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat, T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 46 bis 48).
71 Unabhängig von dem Stadium, in dem sich das Verfahren befand, von dem angenommen wurde, dass es gegen den Kläger anhängig war, durfte der Rat, ohne von den als Veruntreuung von Geldern gewerteten Tatsachen Kenntnis zu haben, die die ukrainischen Behörden speziell dem Kläger zur Last gelegt hatten, keine restriktiven Maßnahmen gegen diesen erlassen. Denn nur in Kenntnis dieser Tatsachen hätte der Rat feststellen können, ob diese möglicherweise als Veruntreuung öffentlicher Mittel einzustufen waren und die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine gefährdeten, die – wie oben in Rn. 63 ausgeführt – mit dem Erlass der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen gestärkt und unterstützt werden sollte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2016, Azarov/Rat, T‑331/14, EU:T:2016:49, Rn. 50).
72 Im Übrigen ist es im Streitfall Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person angeführten Begründung nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den Negativbeweis der fehlenden Stichhaltigkeit dieser Begründung zu erbringen (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat, T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Daher ist im Einklang mit den Feststellungen des Gerichts in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 50), ergangen ist, im Ergebnis festzuhalten, dass die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste nicht die Kriterien für die Benennung von Personen erfüllt, die von den in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen, die im angefochtenen Beschluss festgelegt sind, erfasst werden sollen.
74 Daraus folgt, dass die vorliegende Klage gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung für offensichtlich begründet zu erklären ist.
75 Die Argumente, die der Rat auf eine Frage des Gerichts (vgl. oben, Rn. 26) hin vorgebracht hat und die sich darauf richten, die Anwendung dieses Artikels im vorliegenden Fall zu beanstanden, greifen nicht durch.
76 Zunächst macht der Rat geltend, dass die Anwendung von Art. 132 der Verfahrensordnung, der eine Abweichung von primärrechtlichen Unionsvorschriften vorsehe und die Verfahrensrechte der Parteien einschränke, auf Ausnahmefälle zu beschränken sei, nämlich auf die, in denen kein Zweifel bestehe, dass die Klage begründet sei. Der Rat erhebt in diesem Zusammenhang im Wesentlichen drei Einwände. Der erste beruht darauf, dass die Rn. 38 bis 50 des Urteils vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), keine Rechtsfrage beträfen, sondern nur den Sachverhalt. Der zweite richtet sich dagegen, dass der Sachverhalt im Sinne dieses Artikels nicht erwiesen sei. Der dritte, der auch von der Kommission erhoben wird, beruht darauf, dass die Entscheidung über die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorbehalten wurde. Die vom Kläger erhobene Klage könne nämlich logischerweise nur dann für offensichtlich begründet erklärt werden, wenn die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit für offensichtlich unbegründet erklärt werde, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei.
77 Im Hinblick auf den ersten Einwand ist darauf hinzuweisen, dass die Rn. 38 bis 50 des Urteils vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), die gesamte Würdigung durch das Gericht darstellen. Die Auffassung des Rates, nach der diese Randnummern nur den Sachverhalt beträfen, würde bedeuten, dass dieses Urteil ein rein faktisches Urteil wäre. Zwar trifft es zu, dass der Hauptteil dieses Urteils aus der Prüfung des einzigen Sachverhaltselements besteht, das geprüft werden konnte, nämlich des Schreibens vom 3. März 2014, jedoch erfolgte diese Prüfung unter Bezugnahme auf bisherige Rechtsprechung und Rechtsgrundsätze und stellt den Kern der Art und Weise der durch das Gericht vorgenommenen rechtlichen Würdigung dar, in der der Rat durch Berufung auf dieses Schreiben seiner Beweispflicht nachgekommen ist. Wie des Weiteren aus Rn. 41 des Urteils vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), hervorgeht, hat der Rat das fragliche Schreiben genutzt, um nicht nur den Namen von Herrn Portnov, sondern auch die Namen der anderen hohen Amtsträger, zu denen der Kläger gehört, in die Liste aufzunehmen, und das Gericht hat festgestellt, dass dieses Schreiben keine hinreichend gesicherte tatsächlichen Grundlage im Sinne der oben in Rn. 62 genannten Rechtsprechung darstellt. Daraus folgt, dass die vom Gericht entschiedene Rechtsfrage, nämlich die hinreichend genaue und konkrete Untermauerung der für die Aufnahme in die Liste genannten Gründe, die für alle betreffenden Personen im Wesentlichen dieselben waren, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet restriktiver Maßnahmen die gleiche ist wie die, um die es im zweiten Klagegrund der vorliegenden Rechtssache geht.
78 Im Hinblick auf den zweiten Einwand macht der Rat im Wesentlichen geltend, dass Art. 132 der Verfahrensordnung auf Rechtssachen im Zusammenhang mit restriktiven Maßnahmen nur anwendbar sei, wenn das Gericht entschieden habe, dass der Rat belegt habe, dass der Sachverhalt, auf den er sich gestützt habe, erwiesen sei, und nicht auf Rechtssachen, in denen das Gericht entschieden habe, dass dies nicht der Fall sei.
79 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Feststellung, dass der Sachverhalt erwiesen ist, gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung Sache des Gerichts ist. Anders als der Rat anzunehmen scheint, muss der erwiesene Sachverhalt nicht identisch mit dem sein, der in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), ergangen ist, für maßgeblich erachtet wurde. Im vorliegenden Fall wurde jedoch das Sachverhaltselement, auf das sich der Rat bei der Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste gestützt hat, nämlich die Tatsache, dass laut dem Schreiben vom 3. März 2014 von den ukrainischen Behörden Ermittlungen oder eine Voruntersuchung im Hinblick auf den Kläger wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder durchgeführt wurden, von den Parteien nicht bestritten, so dass es als erwiesen gelten kann.
80 Der Umstand, dass ein Schreiben wie das vom 3. März 2014, das auf Ermittlungen oder Untersuchungen Bezug nimmt, für sich genommen nicht als ausreichend angesehen werden kann, um die Gründe für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste zu untermauern, stellt hingegen den Hauptbestandteil der rechtlichen Würdigung dessen dar, in welcher Art und Weise der Rat seiner Beweispflicht nachgekommen ist (vgl. oben, Rn. 77), was nicht heißt, dass der in dem Schreiben dargestellte Sachverhalt in Frage gestellt würde.
81 Im Hinblick auf den dritten Einwand ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Möglichkeit, eine Klage durch mit Gründen versehenen Beschluss und somit ohne mündliche Verhandlung als unzulässig abzuweisen, nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass das Gericht zuvor einen Beschluss erlassen hat, mit dem es die Entscheidung über eine gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 erhobene Einrede dem Endurteil vorbehalten hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 19. Februar 2008, Tokai Europe/Kommission, C‑262/07 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:95, Rn. 26 bis 28). Dieses Ergebnis muss indessen auch im Hinblick auf die Möglichkeit gelten, die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen, wenn das Gericht wie im vorliegenden Fall beabsichtigt, die Klage gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung, der ausdrücklich bestimmt, dass es nach einem bloß schriftlichen Verfahren entscheiden kann, für offensichtlich begründet zu erklären.
82 Nach alledem ist der Klage, die im Sinne von Art. 132 der Verfahrensordnung offensichtlich begründet ist, insoweit stattzugeben, als mit ihr die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, soweit er den Kläger betrifft, erwirkt werden soll.
83 Aus den gleichen Gründen ist die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie den Kläger betrifft.
Kosten
84 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Klägers die Kosten aufzuerlegen.
85 Im Übrigen tragen nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Kommission trägt daher ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
beschlossen:
1. Der Beschluss 2014/119/GASP des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine und die Verordnung (EU) Nr. 208/2014 des Rates vom 5. März 2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine werden für nichtig erklärt, soweit sie Herrn Viktor Pavlovych Pshonka betreffen.
2. Der Rat der Europäischen Union trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten von Herrn Pshonka.
3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.
Luxemburg, den 10. Juni 2016
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
G. Berardis
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 10. Juni 2016.#Oleksandr Klymenko gegen Rat der Europäischen Union.#Nichtigkeitsklage – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Klagefrist – Zulässigkeit – Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste – Offensichtlich begründete Klage.#Rechtssache T-494/14.
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62014TO0494(01)
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ECLI:EU:T:2016:360
| 2016-06-10T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TO0494(01)
BESCHLUSS DES GERICHTS (Neunte Kammer)
10. Juni 2016 (*1)
„Nichtigkeitsklage — Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine — Einfrieren von Geldern — Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden — Aufnahme des Namens des Klägers — Klagefrist — Zulässigkeit — Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste — Offensichtlich begründete Klage“
In der Rechtssache T‑494/14
Oleksandr Klymenko, wohnhaft in Kiew (Ukraine), Prozessbevollmächtigte: M. Shaw, QC, und I. Quirk, Barrister,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch A. Vitro und J.‑P. Hix als Bevollmächtigte,
Beklagter,
wegen Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses 2014/216/GASP des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung des Beschlusses 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 111, S. 91) und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 381/2014 des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 111, S. 33), soweit diese Rechtsakte den Kläger betreffen,
erlässt
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten G. Berardis (Berichterstatter) sowie der Richter O. Czúcz und A. Popescu,
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Hintergrund der vorliegenden Rechtssache sind die restriktiven Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine.
2 Der Kläger, Herr Oleksandr Klymenko, hatte das Amt des Ministers für Steuern und Zölle der Ukraine inne.
3 Am 5. März 2014 erließ der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. 29 EUV den Beschluss 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 26).
4 Art. 1 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2014/119 bestimmt:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
(2) Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.“
5 Die Modalitäten dieser restriktiven Maßnahmen werden in den weiteren Absätzen dieses Artikels festgelegt.
6 Am selben Tag erließ der Rat auf der Grundlage von Art. 215 Abs. 2 AEUV die Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine (ABl. 2014, L 66, S. 1).
7 Dem Beschluss 2014/119 entsprechend schreibt die Verordnung Nr. 208/2014 den Erlass der betreffenden restriktiven Maßnahmen vor und legt deren Modalitäten mit im Wesentlichen demselben Wortlaut wie der Beschluss fest.
8 Die Namen der von dem Beschluss 2014/119 und der Verordnung Nr. 208/2014 betroffenen Personen sind in einer Liste im Anhang des Beschlusses und in Anhang I der Verordnung (im Folgenden: Liste) u. a. mit der Begründung für ihre Aufnahme verzeichnet. Ursprünglich stand der Name des Klägers nicht auf dieser Liste.
9 Am 6. März 2014 veröffentlichte der Rat im Amtsblatt der Europäischen Union eine Mitteilung an die Personen, die den restriktiven Maßnahmen nach dem Beschluss 2014/119 und der Verordnung Nr. 208/2014 unterliegen (ABl. 2014, C 66, S. 1). Nach dieser Mitteilung „[können d]ie betroffenen Personen … beim Rat unter Vorlage von entsprechenden Nachweisen beantragen, dass der Beschluss, sie in die … Liste aufzunehmen, überprüft wird“. In der Mitteilung werden die betroffenen Personen ferner darauf aufmerksam gemacht, „dass sie den Beschluss des Rates unter den in Artikel 275 Absatz 2 [AEUV] und Artikel 263 Absätze 4 und 6 [AEUV] genannten Voraussetzungen vor dem Gericht … anfechten können“.
10 Der Beschluss 2014/119 und die Verordnung Nr. 208/2014 wurden mit dem Durchführungsbeschluss 2014/216/GASP des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2014, L 111, S. 91) und mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 381/2014 des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2014, L 111, S. 33) geändert.
11 Mit dem Durchführungsbeschluss 2014/216 und der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 wurde der Name des Klägers mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Minister für Steuern und Zölle“ und mit folgender Begründung in die Liste aufgenommen:
„Person ist in der Ukraine Gegenstand von Ermittlungen wegen der Beteiligung an Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland.“
12 Am 15. April 2014 veröffentlichte der Rat im Amtsblatt der Europäischen Union eine mit der von ihm am 6. März 2014 veröffentlichten (oben, Rn. 9) im Wesentlichen identische Mitteilung für die Personen, auf die die restriktiven Maßnahmen nach dem Beschluss 2014/119, durchgeführt durch den Durchführungsbeschluss 2014/216, sowie nach der Verordnung Nr. 208/2014, durchgeführt durch die Durchführungsverordnung Nr. 381/2014, über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine Anwendung fanden.
13 Der Beschluss 2014/119 wurde auch durch den am 31. Januar 2015 in Kraft getretenen Beschluss (GASP) 2015/143 des Rates vom 29. Januar 2015 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2015, L 24, S. 16) geändert. Was die Benennungskriterien für die von den betreffenden restriktiven Maßnahmen erfassten Personen angeht, ergibt sich aus Art. 1 dieses Beschlusses, dass Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/119 folgende Fassung erhielt:
„(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum der Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, sowie der für Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine verantwortlichen Personen und der mit ihnen verbundenen, in der Liste im Anhang aufgeführten, natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.
Für die Zwecke dieses Beschlusses zählen zu Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich erklärt wurden, Personen, die Gegenstand von Untersuchungen der ukrainischen Behörden sind
a)
wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine oder wegen Beihilfe hierzu oder
b)
wegen Amtsmissbrauchs als Inhaber eines öffentlichen Amtes, um sich selbst oder einer dritten Partei einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen und wodurch ein Verlust staatlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine verursacht wird, oder wegen Beihilfe hierzu.“
14 Mit der Verordnung (EU) 2015/138 des Rates vom 29. Januar 2015 zur Änderung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2015, L 24, S.1) wurde diese entsprechend dem Beschluss 2015/143 geändert.
15 Der Beschluss 2014/119 und die Verordnung Nr. 208/2014 wurden später durch den Beschluss (GASP) 2015/364 des Rates vom 5. März 2015 zur Änderung des Beschlusses 2014/119 (ABl. 2015, L 62, S. 25) und durch die Durchführungsverordnung (EU) 2015/357 des Rates vom 5. März 2015 zur Durchführung der Verordnung Nr. 208/2014 (ABl. 2015, L 62, S. 1) geändert. Mit dem Beschluss 2015/364 wurde Art. 5 des Beschlusses 2014/119 geändert, indem die restriktiven Maßnahmen, was den Kläger betrifft, bis zum 6. März 2016 verlängert wurden. Die Durchführungsverordnung 2015/357 ersetzte dementsprechend Anhang I der Verordnung Nr. 208/2014.
16 Mit diesen Rechtsakten wurde der Name des Klägers mit den Identifizierungsinformationen „ehemaliger Minister für Steuern und Zölle“ und mit folgender neuer Begründung auf der Liste belassen:
„Person ist Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung seitens der ukrainischen Behörden wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte und wegen Amtsmissbrauchs durch den Inhaber eines öffentlichen Amtes, um sich selbst oder einer dritten Partei einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen und wodurch ein Verlust staatlicher Gelder oder Vermögenswerte der Ukraine verursacht wird.“
17 Der Beschluss 2015/364 und die Durchführungsverordnung 2015/357 sind Gegenstand einer neuen, vom Kläger am 15. Mai 2015 beim Gericht eingereichten Klage (Rechtssache T‑245/15, Klymenko/Rat).
Verfahren und Anträge
18 Der Kläger hat mit Klageschrift, die am 30. Juni 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
19 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger beantragt, über die vorliegende Klage im beschleunigten Verfahren nach Art. 76a der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 zu entscheiden. Der Rat hat zu diesem Antrag Stellung genommen. Mit Beschluss vom 11. August 2014 hat das Gericht (Neunte Kammer) den Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren zurückgewiesen.
20 Mit besonderem Schriftsatz, der am 29. September 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rat eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 erhoben.
21 Mit Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 7. Januar 2015 ist die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 § 4 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 dem Endurteil vorbehalten worden.
22 Am 24. Februar 2015 hat der Rat gemäß Art. 18 Abs. 4 der Dienstanweisung für den Kanzler des Gerichts einen begründeten Antrag gestellt, den Inhalt bestimmter Anlagen zur Klageerwiderung in den öffentlich zugänglichen Unterlagen dieser Rechtssache nicht zu zitieren.
23 Mit Schreiben vom 15. April 2015 hat der Kläger eine prozessleitende Maßnahme beantragt, um die Dokumente zu erhalten, die der Rat noch nicht zur Akte gegeben hatte. Am 4. Mai 2015 hat der Rat die vom Kläger beantragten Dokumente zur Akte gegeben und gemäß Art. 18 Abs. 4 der Dienstanweisung für den Kanzler des Gerichts den begründeten Antrag gestellt, ihren Inhalt in den öffentlich zugänglichen Unterlagen dieser Rechtssache nicht zu zitieren.
24 Mit Schreiben vom 25. November 2015 hat die Kanzlei des Gerichts die Parteien aufgefordert, im Hinblick auf das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), mit dem das Gericht den Beschluss 2014/119 und die Verordnung Nr. 208/2014, soweit diese den Kläger in jener Rechtssache betrafen, für nichtig erklärt hat, zur Anwendbarkeit von Art. 132 der Verfahrensordnung des Gerichts im vorliegenden Fall Stellung zu nehmen. Die Parteien haben darauf fristgemäß geantwortet.
25 Der Kläger beantragt im Wesentlichen,
—
die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen;
—
den Durchführungsbeschluss 2014/216 und die Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 für nichtig zu erklären, soweit sie ihn betreffen;
—
dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
26 Der Rat beantragt,
—
die Klage als unzulässig abzuweisen;
—
hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen;
—
hilfsweise für den Fall der Nichtigerklärung, die Wirkungen des Beschlusses 2014/119 in der durch den Durchführungsbeschluss 2014/216 geänderten Fassung, soweit sie den Kläger betreffen, bis zum Wirksamwerden der teilweisen Nichtigerklärung der Verordnung Nr. 208/2014 in der durch die Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 geänderten Fassung aufrechtzuerhalten;
—
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
27 Hat der Gerichtshof oder das Gericht bereits über eine oder mehrere Rechtsfragen entschieden, die mit den durch die Klagegründe aufgeworfenen übereinstimmen, und stellt das Gericht fest, dass der Sachverhalt erwiesen ist, so kann es gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung die Klage nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens und nach Anhörung der Parteien durch mit Gründen versehenen Beschluss, der einen Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung enthält, für offensichtlich begründet erklären.
28 Im vorliegenden Fall hat der Rat mit besonderem Schriftsatz eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, mit der das Gericht befasst bleibt, auch wenn es die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten hat. Da es sich aufgrund der Aktenlage für ausreichend unterrichtet hält, beschließt es, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.
Zur vom Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit
29 Der Rat erhebt die Einrede der Unzulässigkeit der vorliegenden Klage gegen den Durchführungsbeschluss 2014/216 und die Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 mit der Begründung, sie sei nicht fristgerecht erhoben worden. Insbesondere bringt er unter Bezugnahme auf Art. 263 Abs. 6 AEUV und auf das Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), vor, dass die zweimonatige Klagefrist mit der Mitteilung des Beschlusses über die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste an den Kläger zu laufen begonnen habe, wobei die Bekanntgabe mittels Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union (siehe oben, Rn. 12) erfolgt sei, da dem Rat die Anschrift des Klägers unbekannt gewesen sei.
30 Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991, nach dem die Klagefrist mit Ablauf des vierzehnten Tages nach der Veröffentlichung der Maßnahme beginne, gelte nur, wenn die Frist zur Klage gegen eine Maßnahme mit deren Veröffentlichung zu laufen beginne, was vorliegend nicht der Fall sei. Des Weiteren gehe aus dem Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), hervor, dass die von der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union betroffenen Personen oder Organisationen, wenn ihnen eine Maßnahme zur Kenntnis gebracht worden sei, sich nicht auf diese Veröffentlichung berufen dürften, um den Beginn der Klagefrist hinauszuzögern.
31 Demnach sei vorliegend die in Art. 263 Abs. 6 AEUV vorgesehene zweimonatige, gemäß Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen verlängerte Klagefrist am 25. Juni 2014 abgelaufen. Die vorliegende am 30. Juni 2014 erhobene Klage sei daher unzulässig.
32 Der Kläger beanstandet die Argumentation des Rates und macht geltend, dass die Klage nicht verspätet sei.
33 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV die Nichtigkeitsklage binnen zwei Monaten zu erheben ist; diese Frist läuft je nach Lage des Falls von der Veröffentlichung der angefochtenen Handlung, von ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.
34 Nach der Rechtsprechung setzt der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes voraus, dass das Unionsorgan, das einen Rechtsakt erlässt, der restriktive Maßnahmen gegenüber einer Person oder Organisation nach sich zieht, so weit wie möglich zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Rechtsakt erlassen wird, oder wenigstens so bald wie möglich danach der betreffenden Person oder Organisation die Gründe mitteilt, auf die der Rechtsakt gestützt wird, um diesen Personen oder Einrichtungen die Wahrnehmung ihres Rechts auf Rechtsschutz zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 16. November 2011, Bank Melli Iran/Rat, C‑548/09 P, EU:C:2011:735, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Dies ergibt sich aus der besonderen Natur der Rechtsakte, mit denen restriktive Maßnahmen gegenüber einer Person oder Organisationen verhängt werden. Bei ihnen handelt es sich gleichzeitig um Rechtsakte mit allgemeiner Geltung, die einer Gruppe von allgemein und abstrakt bestimmten Adressaten u. a. verbietet, den Personen und Organisationen, deren Namen in den Listen in den Anhängen dieser Rechtsakte aufgeführt sind, Gelder und wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen, und um ein Bündel von Einzelentscheidungen gegen diese Personen und Organisationen (vgl. Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im vorliegenden Fall wird der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Art. 2 Abs. 2 des Beschlusses 2014/119 und in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 208/2014 konkretisiert, nach denen der Rat die betreffende Person oder Organisation über seinen Beschluss einschließlich der Gründe für die Aufnahme ihres Namens in die Liste der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen und Organisationen entweder unmittelbar, wenn deren Anschrift bekannt ist, oder durch Veröffentlichung einer Mitteilung in Kenntnis setzt, um dieser Person oder Organisation Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
37 Die Frist für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt, mit dem restriktive Maßnahmen gegen eine Person oder eine Organisation verhängt werden, beginnt erst von dem Zeitpunkt an, zu dem der Betroffene von diesem Rechtsakt individuell in Kenntnis gesetzt wird, falls seine Anschrift bekannt ist, und andernfalls von der Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union an zu laufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat, C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258, Rn. 59 bis 62).
38 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es dem Rat nicht freisteht, die Art der Mitteilung seiner Entscheidungen an die Betroffenen willkürlich auszuwählen. Aus Rn. 61 des Urteils vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), geht nämlich hervor, dass der Gerichtshof eine mittelbare Mitteilung der Rechtsakte, mit denen restriktive Maßnahmen verhängt werden, durch die Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union lediglich in den Fällen zulassen wollte, in denen der Rat keine individuelle Mitteilung vornehmen kann. Eine andere Sichtweise würde dem Rat erlauben, sich mit Leichtigkeit seiner Verpflichtung zur individuellen Mitteilung zu entziehen (Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 36, Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 38, und Sharif University of Technology/Rat, T‑181/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:607, Rn. 31).
39 Zudem ist es dem Rat nicht möglich, einer natürlichen oder juristischen Person oder einer Organisation einen Rechtsakt, der restriktive Maßnahmen beinhaltet, die sie betreffen, individuell mitzuteilen, wenn die Adresse der Person oder Organisation nicht allgemein bekannt ist und ihm nicht mitgeteilt wurde oder die Mitteilung an die dem Rat vorliegende Adresse versandt wurde und nicht zugestellt werden kann, obwohl er mit der gebotenen Sorgfalt alle Anstrengungen unternommen hat, um die Mitteilung zu überbringen (Urteil vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 61).
40 Hier trägt der Rat vor, zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchführungsbeschlusses 2014/216 und der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 von der Anschrift des Klägers keine Kenntnis gehabt zu haben, was von dem Betroffenen nicht bestritten wird.
41 Da der Rat keine andere Wahl hatte, als die Aufnahme des Namens des Klägers durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt zu machen, stellt das Datum der Veröffentlichung dieser Mitteilung den Beginn der Klagefrist in der vorliegenden Rechtssache dar.
42 Hinsichtlich der Berechnung dieser Frist ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 eine Frist, wenn sie für die Erhebung einer Klage gegen eine Maßnahme eines Organs mit der Veröffentlichung der Maßnahme beginnt, vom Ablauf des vierzehnten Tages nach der Veröffentlichung der Maßnahme im Amtsblatt der Europäischen Union an zu berechnen ist. Nach Art. 102 § 2 dieser Verfahrensordnung wird diese Frist um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen verlängert.
43 In diesem Zusammenhang vermag die Argumentation des Rates, Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 sei vorliegend nicht anwendbar, nicht zu greifen.
44 Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991, dass die Verlängerung der Frist um 14 Tage auf Maßnahmen Anwendung findet, bei denen die Klagefrist mit ihrer Veröffentlichung beginnt; davon sind nur diejenigen Maßnahmen ausgenommen, die Gegenstand einer Mitteilung sind. Diese Bestimmung trifft nämlich keine Unterscheidung hinsichtlich der Art der im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Maßnahme. Daher kann darauf geschlossen werden, dass Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 anwendbar ist, sofern eine Maßnahme Gegenstand einer Veröffentlichung geworden ist und deren Datum den Ausgangspunkt für die Klagefrist gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 40 und 41, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 42 und 43).
45 Des Weiteren besteht das Ziel der in Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 vorgesehenen Frist von 14 Tagen darin, sicherzustellen, dass die Betroffenen über einen ausreichenden Zeitraum verfügen, um eine Klage gegen die veröffentlichten Maßnahmen zu erheben, und damit ihr in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankertes Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz beachtet wird (Urteil vom 26. September 2013, PPG und SNF/ECHA, C‑625/11 P, EU:C:2013:594, Rn. 35).
46 Außerdem kann die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union über die Aufnahme der Namen von Personen und Organisationen, die restriktiven Maßnahmen unterworfen sind, nicht einer Mitteilung dieser Maßnahmen an die betroffenen Personen und Organisationen gleichgesetzt werden. Wird eine Handlung mitgeteilt, kann davon ausgegangen werden, dass sie ihrem Adressaten am Tag der Mitteilung verfügbar gemacht wird. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn Handlungen mit individueller Geltung wie etwa restriktive Maßnahmen den betroffenen Personen und Organisationen mittelbar durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden. Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 bestimmt aber eine vierzehntägige Frist, nach deren Ablauf vernünftigerweise angenommen werden kann, dass das Amtsblatt der Europäischen Union in allen Mitgliedstaaten und in den Drittstaaten verfügbar ist. Daher ist die Verlängerung der in dieser Bestimmung vorgesehenen vierzehntägigen Frist auf alle Handlungen anwendbar, die durch eine Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union mitgeteilt werden, einschließlich der Handlungen mit individueller Geltung, die den betroffenen Personen mittels der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden (Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 42 und 43, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 44 und 45).
47 Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Anwendung von Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Zielsetzung des Rechts der Betroffenen entspricht, dass ihnen gegen sie verhängte restriktive Maßnahmen gegebenenfalls durch die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden (Urteile vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 44, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 46).
48 Sind nämlich die Anschriften der von restriktiven Maßnahmen betroffenen Personen oder Organisationen unbekannt, oder ist die unmittelbare Mitteilung dieser Maßnahmen unmöglich, würde die Anwendung der für individuelle Mitteilungen geltenden Regelungen für die Fristenberechnung auf derartige Maßnahmen, die mittelbar anhand der Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden, den Betroffenen die Verlängerung der Klagefrist um 14 Tage ab der Veröffentlichung der Maßnahme gemäß Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 nehmen, ohne dass ihnen jedoch im Übrigen die sich aus einer unmittelbaren Mitteilung ergebenden Garantien zugutekämen. Unter diesen Umständen hätte die Verpflichtung, die restriktiven Maßnahmen mittelbar durch die Veröffentlichung einer Mitteilung bekannt zu machen, mit der grundsätzlich bezweckt wird, den Betroffenen zusätzliche Garantien einzuräumen, paradoxerweise die Wirkung, dass sie schlechter gestellt würden als bei einer einfachen Veröffentlichung der angefochtenen Rechtsakte im Amtsblatt der Europäischen Union (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Februar 2014, Syrian Lebanese Commercial Bank/Rat, T‑174/12 und T‑80/13, EU:T:2014:52, Rn. 65 und 66, vom 3. Juli 2014, Zanjani/Rat, T‑155/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:605, Rn. 45, und Sorinet Commercial Trust Bankers/Rat, T‑157/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:606, Rn. 47).
49 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Rat seine Argumentation nicht mit Erfolg auf das Urteil vom 23. April 2013, Gbagbo u. a./Rat (C‑478/11 P bis C‑482/11 P, EU:C:2013:258), stützen kann, in dem der Gerichtshof gerade hervorgehoben hat, dass die Pflicht zur individuellen Mitteilung den Bürgern einen stärkeren Schutz gewähren soll. Das genannte Urteil kann daher nicht dafür herhalten, die Bürger ungünstiger zu behandeln, als wenn die Rechtsakte, die die restriktiven Maßnahmen gegen die Bürger beinhalten, lediglich veröffentlicht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Februar 2014, Syrian Lebanese Commercial Bank/Rat, T‑174/12 und T‑80/13, EU:T:2014:52, Rn. 67).
50 Im Übrigen ist auch festzustellen, dass der Rat seine Argumentation fälschlicherweise auf das Urteil vom 9. Juli 2014, Al-Tabbaa/Rat (T‑329/12 und T‑74/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:622), stützt, indem er insbesondere auf Rn. 59 dieses Urteils Bezug nimmt. In dieser Randnummer wird nämlich zunächst darauf hingewiesen, dass die fraglichen Handlungen dem Kläger mitgeteilt worden waren, zum einen mittels eines an seine Bevollmächtigten zugestellten Schreibens und zum anderen mittels Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union, wobei diese beiden Ereignisse am selben Tag stattfanden. Anschließend hat das Gericht festgestellt, dass die Klage gegen diese Handlungen nicht verspätet war, da sie vor Ablauf der ihrer Berechnung nach kürzeren Klagefrist eingereicht worden war, nämlich der ab Zustellung an den Bevollmächtigten des Klägers berechneten Frist. In jenem Fall war es daher nicht notwendig, die Berechnung der mit der Veröffentlichung der Bekanntmachung beginnenden Klagefrist darzulegen, für die Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 galt.
51 Diese letzte Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Rn. 59 des Urteils vom 9. Juli 2014, Al-Tabbaa/Rat (T‑329/12 und T‑74/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:622), die Klagefristen in beiden Fällen gemäß Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 um eine pauschale Frist von zehn Tagen verlängert werden. Zum einen nämlich gilt diese Bestimmung – wie der Rat geltend macht – unabhängig von der Art des die Klagefrist auslösenden Ereignisses, und zum anderen schließt die Anwendung dieser Bestimmung die Geltung von Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 nicht aus.
52 Im vorliegenden Fall hat der Rat eine Mitteilung über die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste im Amtsblatt der Europäischen Union vom 15. April 2014 veröffentlicht. Die zweimonatige Frist, verlängert um die vierzehntägige Frist gemäß Art. 102 § 1 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 und die pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen gemäß dessen § 2, lief also am 9. Juli 2014 ab.
53 Da die vorliegende Klage am 30. Juni 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht worden ist, ist sie innerhalb der gesetzlichen Frist erhoben worden, so dass die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen ist.
Begründetheit
54 Der Kläger stützt seine Klage auf vier Klagegründe. Mit dem ersten macht er eine Verletzung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend. Mit dem zweiten rügt er einen offensichtlicher Fehler bei der Beweiswürdigung. Mit dem dritten Klagegrund, der in drei Teile gegliedert ist, wird ein Begründungsmangel, die Nichteinhaltung der Kriterien nach Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/119 sowie ein Ermessensmissbrauch gerügt. Mit dem vierten Klagegrund schließlich wird eine Verletzung des Eigentumsrechts und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beanstandet.
55 Das Gericht hält es für zweckmäßig, zuerst den zweiten Klagegrund und den zweiten Teil des dritten Klagegrundes zusammen zu prüfen, die der Kläger im Wesentlichen darauf stützt, dass die restriktiven Maßnahmen gegen ihn ohne eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage erlassen worden seien.
56 Der zweite Klagegrund und der zweite Teil des dritten Klagegrundes werfen nämlich die gleiche Rechtsfrage auf wie die, über die das Gericht in seinen Urteilen vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), und vom 28. Januar 2016, Azarov/Rat (T‑331/14, EU:T:2016:49), Azarov/Rat (T‑332/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:48), Klyuyev/Rat (T‑341/14, EU:T:2016:47), Arbuzov/Rat (T‑434/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:46) und Stavytskyi/Rat (T‑486/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:45), bereits entschieden hat, die rechtskräftig geworden sind und nunmehr absolute Rechtskraft erlangt haben.
57 Vorliegend macht der Kläger geltend, dass weder dargetan worden sei, dass er für eine Veruntreuung öffentlicher Gelder verantwortlich sei oder mit dafür für verantwortlich erklärten Personen verbunden sei, noch dass er Gegenstand von Untersuchungen sei. Der Akte ließen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die auf die maßgeblichen Tatsachen hindeuteten, auf die der Rat sich gestützt habe. Außerdem müsse angesichts dessen, dass nach der Rechtsprechung die Verteidigungsrechte die Offenlegung von Beweismitteln vor den Maßnahmen zum Einfrieren von Vermögenswerten nicht erforderten, die Existenz oder auch die Hinlänglichkeit der Beweismittel einer strengen Überprüfung durch den Unionsrichter unterliegen.
58 In seiner Erwiderung hat der Kläger, nachdem er von dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine an die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik vom 7. März 2014 (im Folgenden: Schreiben vom 7. März 2014) Kenntnis genommen hatte, geltend gemacht, dass dieses das einzige Beweismittel sei, auf das sich der Rat bei der Entscheidung, seinen Namen in die Liste aufzunehmen, habe stützen können, und dass dieses Schreiben keine ausreichende Tatsachengrundlage darstelle. Zudem stütze die Straftat, auf die sich das Schreiben vom 7. März 2014 beziehe, nämlich der Amtsmissbrauch, nicht den vorgebrachten Rechtfertigungsgrund für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste, da die Veruntreuung von Geldern nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch einen anderen Straftatbestand erfülle. Der Rat sei den durch die unionsrichterliche Rechtsprechung geforderten Nachweis schuldig geblieben, dass konkrete Beweise oder eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage existierten, die die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste rechtfertigen würden. Die Tatsache, dass im Schreiben vom 7. März 2014 in einer Zeile stehe, dass gegen den Kläger wegen „Amtsmissbrauchs“ ermittelt werde, sei hierfür nicht ausreichend. Der Rat sei nämlich gehalten, den Nachweis zu erbringen, dass er zur Überprüfung der Seriosität der von den ukrainischen Behörden durchgeführten Ermittlungen in der Lage gewesen sei.
59 Der Rat hält dem entgegen, dass die Gründe für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruhten. Diese Gründe stützten sich nämlich auf das Schreiben vom 7. März 2014, wonach der Kläger Gegenstand von Ermittlungen sei, die die Beteiligung an Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland zum Gegenstand hätten, was der den Kläger betreffenden Begründung im Durchführungsbeschluss 2014/216 und in der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 entspreche. In diesem Zusammenhang stellt der Rat klar, dass die Notwendigkeit zur Vorlage konkreter Beweise nicht so weit gehe, dass das Vorliegen der Straftaten, deren die ukrainischen Behörden den Kläger verdächtigten, bewiesen werden müsste. Es reiche nämlich aus, dass der Rat Tatsachen vortrage, die bewiesen, dass wegen mutmaßlicher Veruntreuung staatlicher Gelder der Ukraine ermittelt werde, ohne dass er Nachweise erbringe, die die tatsächliche Täterschaft des Klägers belegten, was Sache der ukrainischen Behörden sei. Im Übrigen sei in diesem Zusammenhang zu unterscheiden zwischen dem laufenden Strafverfahren (einschließlich Ermittlungen) in der Ukraine, in denen sich der Kläger nach den ukrainischen Strafprozessvorschriften verteidigen könne, und den befristeten und präventiven Maßnahmen des Einfrierens seiner Vermögenswerte auf Unionsebene, bei deren Erlass der Rat keinen Beweis für die Straftaten erbringen müsse, derentwegen der Kläger Gegenstand von Untersuchungen sei. Der Rat dürfe sich demnach bei dem Beschluss über die Verhängung restriktiver Maßnahmen auf die bloße Existenz laufender Ermittlungen stützen.
60 In der Gegenerwiderung macht der Rat geltend, dass er, anders als der Kläger vortrage, zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchführungsbeschlusses 2014/216 und der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 drei Elemente berücksichtigt habe, und zwar den besonderen Kontext der Lage in der Ukraine, das rechtfertigende Schreiben vom 7. März 2014 und [vertraulich] (1 ). Der Rat habe somit in ausreichendem Umfang Ausführungen zur Tatsachengrundlage dieser Rechtsakte gemacht und daher keinen Beurteilungsfehler begangen.
61 Wie in Rn. 38 des Urteils vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), ausgeführt worden ist, verfügt der Rat zwar über einen weiten Beurteilungsspielraum, was die im Hinblick auf den Erlass restriktiver Maßnahmen zu berücksichtigenden allgemeinen Kriterien betrifft; die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte garantierte Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle erfordert jedoch, dass der Unionsrichter, wenn er die Rechtmäßigkeit der Begründung prüft, die der Entscheidung zugrunde liegt, den Namen einer bestimmten Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen oder darin zu belassen, sich vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die in der Begründung dieser Entscheidung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um die betreffende Entscheidung zu stützen – hinreichend genau und konkret belegt sind (vgl. Urteil vom 21. April 2015, Anbouba/Rat, C‑605/13 P, EU:C:2015:248, Rn. 41 und 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
62 Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 39), ergangen ist, lautet im vorliegenden Fall das Kriterium in Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/119, dass restriktive Maßnahmen gegen Personen ergehen, die als für die Veruntreuung von Geldern verantwortlich identifiziert worden sind. Aus dem zweiten Erwägungsgrund dieses Beschlusses geht ferner hervor, dass der Rat diese Maßnahmen „im Hinblick auf die Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit … in der Ukraine“ erlassen hat.
63 Der Name des Klägers wurde mit der Begründung in die Liste aufgenommen, dass er eine „Person [sei, die] in der Ukraine Gegenstand von Ermittlungen wegen der Beteiligung an Straftaten im Zusammenhang mit der Veruntreuung öffentlicher Gelder der Ukraine und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland [sei]“. Daraus geht hervor, dass der Rat davon ausging, der Kläger sei wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an der Veruntreuung staatlicher Mittel Gegenstand von Ermittlungen oder einer Voruntersuchung, die nicht (oder noch nicht) zu einer förmlichen Anklage geführt hätten.
64 Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 41), ergangen ist, beruft sich der Rat zur Begründung für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste auf ein Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine an die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, hier das Schreiben vom 7. März 2014 (siehe oben, Rn. 58), sowie auf weitere Beweismittel aus der Zeit nach dem Durchführungsbeschluss 2014/216 und der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014.
65 In dem Schreiben vom 7. März 2014 heißt es, dass „[d]ie Strafverfolgungsbehörden der Ukraine … eine Reihe von Strafverfahren wegen von ehemaligen hohen Amtsträgern begangenen strafbaren Handlungen eingeleitet [haben]“. Der Name des Klägers wird unmittelbar danach aufgeführt unter Angabe der Straftat gemäß dem ukrainischen Strafgesetzbuch, deren er verdächtigt wird (vorliegend ein Amtsmissbrauch mit schwerwiegenden Folgen). Das Schreiben führt weiter aus, dass „[d]ie Ermittlungen zu den vorgenannten Straftaten … die Tatsachen hinsichtlich der Veruntreuung öffentlicher Gelder in erheblichem Umfang und des illegalen Transfers dieser Gelder in das Ausland [überprüfen]“.
66 Es wird nicht bestritten, dass der Kläger allein auf dieser Grundlage als im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/119 „für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich“ identifiziert worden ist.
67 Wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 42), ergangen ist, ist das Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine, hier das auf den 7. März 2014 datierte, unter den vom Rat im vorliegenden Verfahren vorgelegten Beweisstücken nämlich das einzige, das aus der Zeit vor dem Durchführungsbeschluss 2014/216 und der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 stammt.
68 Entsprechend den Feststellungen des Gerichts im Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 43 und 44), ist aber davon auszugehen, dass dieses Schreiben zwar von einer hohen Justizbehörde eines Drittlands stammt, jedoch lediglich eine allgemeine und unspezifische Behauptung enthält, die den Namen des Klägers zusammen mit den Namen anderer ehemaliger hoher Amtsträger mit einem Ermittlungsverfahren in Verbindung bringt, mit dem die Veruntreuung öffentlicher Gelder überprüft werden sollte. Obwohl das Schreiben vom 7. März 2014 die Straftat nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch angibt, deren der Kläger verdächtigt wird, und zwar ein gemäß Art. 364 Kapitel 2 des Strafgesetzbuchs strafbarer Amtsmissbrauch, enthält es nämlich keine genauen Angaben hinsichtlich der Feststellung dieser Tatsachen, die im Zuge der von den ukrainischen Behörden geführten Ermittlungen verifiziert werden sollten, und erst recht keine Angaben zu einer – zumindest mutmaßlichen – entsprechenden individuellen Verantwortlichkeit des Klägers (vgl. auch in diesem Sinne Urteile vom 28. Januar 2016, Arbuzov/Rat, T‑434/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:46, Rn. 39, und Stavytskyi/Rat, T‑486/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:45, Rn. 44).
69 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Rat, anders als im Urteil vom 27. Februar 2014, Ezz u. a./Rat (T‑256/11, EU:T:2014:93, Rn. 57 bis 61), im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch das Urteil vom 5. März 2015, Ezz u. a./Rat (C‑220/14 P, EU:C:2015:147), auf die er sich beruft, im vorliegenden Fall zum einen nicht über Informationen zu den Tatsachen oder Handlungen verfügte, die die ukrainischen Behörden dem Kläger konkret zur Last gelegt hatten, und dass zum anderen das Schreiben vom 7. März 2014, selbst wenn es in seinem Kontext betrachtet wird, keine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage im Sinne der oben in Rn. 61 angeführten Rechtsprechung dafür darstellen kann, den Namen des Klägers mit der Begründung in die Liste aufzunehmen, dass er als für die Veruntreuung öffentlicher Gelder „verantwortlich“ identifiziert worden sei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat, T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 46 bis 48).
70 Unabhängig von dem Stadium, in dem sich das Verfahren befand, von dem angenommen wurde, dass es gegen den Kläger anhängig war, durfte der Rat, ohne von den als Veruntreuung von Geldern gewerteten Tatsachen Kenntnis zu haben, die die ukrainischen Behörden speziell dem Kläger zur Last gelegt hatten, keine restriktiven Maßnahmen gegen diesen erlassen. Denn nur in Kenntnis dieser Tatsachen hätte der Rat feststellen können, ob diese möglicherweise als Veruntreuung öffentlicher Mittel einzustufen waren und die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine gefährdeten, die – wie oben in Rn. 62 ausgeführt – mit dem Erlass der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen gestärkt und unterstützt werden sollte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Januar 2016, Arbuzov/Rat, T‑434/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:46, Rn. 55, und Stavytskyi/Rat, T‑486/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:45, Rn. 48).
71 Im Übrigen ist es im Streitfall Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person angeführten Begründung nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den Negativbeweis der fehlenden Stichhaltigkeit dieser Begründung zu erbringen (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat, T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Daher ist im Einklang mit den Feststellungen des Gerichts in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 50), ergangen ist, im Ergebnis festzuhalten, dass die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste nicht die Kriterien für die Benennung von Personen erfüllt, die von den in Rede stehenden, im Durchführungsbeschluss 2014/216 festgelegten restriktiven Maßnahmen erfasst werden sollen.
73 Daraus folgt, dass die vorliegende Klage gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung für offensichtlich begründet zu erklären ist.
74 Diese Schlussfolgerung kann durch die Argumente des Rates nicht in Frage gestellt werden, die dieser auf eine Frage des Gerichts (vgl. oben, Rn. 24) hin vorgebracht hat und die sich darauf richten, die Anwendung dieses Artikels im vorliegenden Fall zu beanstanden.
75 Erstens macht der Rat geltend, dass das Gericht im Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), über die Frage entschieden habe, ob das Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage dafür darstellte, den Namen von Herrn Portnov mit der Begründung in die Liste aufzunehmen, dass er als verantwortlich für die Veruntreuung öffentlicher Gelder identifiziert worden sei, während der Rat sich im vorliegenden Fall auch auf [vertraulich] gestützt habe. Aufgrund dessen unterschieden sich Sachverhalt und Rechtsfrage, die in der Rechtssache geprüft worden seien, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), ergangen sei, von denen, die in der vorliegenden Rechtssache geprüft würden. Zweitens weist der Rat darauf hin, dass er eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben und das Gericht die Entscheidung darüber dem Endurteil vorbehalten habe.
76 Zum ersten Einwand ist zunächst festzustellen, dass das Gericht im Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), nicht die Verlässlichkeit oder Gültigkeit des Schreibens der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine angezweifelt hat, sondern den Umstand, dass dieses Beweisstück allein eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage im Sinne der oben in Rn. 61 genannten Rechtsprechung darstellen könne, um den Namen des Klägers mit der Begründung in die Liste aufzunehmen, dass er als „verantwortlich“ für die Veruntreuung öffentlicher Gelder identifiziert worden sei (vgl. oben, Rn. 66 bis 70).
77 Außerdem ergibt sich zum einen aus [vertraulich], ohne im Geringsten Erwägungen zur Art und zum Stand der Ermittlungen gegen den Kläger oder zu den seine Beschuldigung rechtfertigenden Tatsachen hinzuzufügen. [vertraulich]
78 Diese beiden Elemente vermögen jedoch die Rechtsfrage, über die das Gericht bereits im Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), und in den oben in Rn. 56 genannten Urteilen entscheiden hat, nicht von der zu unterscheiden, die mit dem zweiten Klagegrund und dem zweiten Teil des dritten Klagegrundes im vorliegenden Fall aufgeworfen wird, da sie keine Auswirkungen auf die rechtliche Würdigung der Voraussetzungen für das Vorliegen einer hinreichend gesicherten Tatsachengrundlage haben. Tatsächlich bestätigen sie nur die Gültigkeit des Schreibens vom 7. März 2014 und die behauptete Zweckdienlichkeit der gegen den Kläger erlassenen restriktiven Maßnahmen. Dieses Schreiben bleibt damit das einzige Beweisstück, um die Aufnahme der Namen der betreffenden Personen in die Liste mit der Begründung zu rechtfertigen, dass sie als „verantwortlich“ für die Veruntreuung öffentlicher Gelder identifiziert worden seien, was nach Entscheidung des Gerichts nicht für die Feststellung ausreicht, dass der Rat den ihm obliegenden Beweis erbracht hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat, T‑290/14, EU:T:2015:806, Rn. 43 bis 48, und vom 28. Januar 2016, Stavytskyi/Rat, T‑486/14, EU:T:2016:45, Rn. 43 bis 47).
79 Zum Sachverhalt ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Feststellung, dass er erwiesen ist, gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung Sache des Gerichts ist. Anders als der Rat anzunehmen scheint, muss der erwiesene Sachverhalt nicht identisch mit dem sein, der in der Rechtssache, in der das Urteil vom 26. Oktober 2015, Portnov/Rat (T‑290/14, EU:T:2015:806), ergangen ist, für maßgeblich erachtet wurde. Im vorliegenden Fall wurden die tatsächlichen Umstände, auf die sich der Rat bei der Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste gestützt hat, nämlich u. a. die Tatsache, dass laut dem Schreiben vom 7. März 2014 von den ukrainischen Behörden Ermittlungen oder eine Voruntersuchung im Hinblick auf den Kläger wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder durchgeführt wurden, von den Parteien nicht bestritten, so dass sie als erwiesen gelten können.
80 Der Umstand, dass ein Schreiben wie das vom 7. März 2014, das auf Ermittlungen oder Untersuchungen Bezug nimmt, für sich genommen nicht als ausreichend angesehen werden kann, um die Gründe für die Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste zu untermauern, stellt hingegen den Hauptbestandteil der rechtlichen Würdigung dessen dar, in welcher Art und Weise der Rat seiner Beweispflicht nachgekommen ist (vgl. oben, Rn. 78), was nicht heißt, dass der in dem Schreiben dargestellte Sachverhalt in Frage gestellt würde.
81 Im Hinblick auf den zweiten Einwand ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Möglichkeit, eine Klage durch mit Gründen versehenen Beschluss und somit ohne mündliche Verhandlung als unzulässig abzuweisen, nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass das Gericht zuvor einen Beschluss erlassen hat, mit dem es die Entscheidung über eine gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 erhobene Einrede dem Endurteil vorbehalten hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 19. Februar 2008, Tokai Europe/Kommission, C‑262/07 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:95, Rn. 26 bis 28). Dieses Ergebnis muss indessen auch im Hinblick auf die Möglichkeit gelten, die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen, wenn das Gericht wie im vorliegenden Fall beabsichtigt, die Klage gemäß Art. 132 der Verfahrensordnung, der ausdrücklich bestimmt, dass es nach einem bloß schriftlichen Verfahren entscheiden kann, für offensichtlich begründet zu erklären.
82 Nach alledem ist der Klage, die im Sinne von Art. 132 der Verfahrensordnung offensichtlich begründet ist, daher insoweit stattzugeben, als mit ihr die Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses 2014/216, soweit er den Kläger betrifft, erwirkt werden soll.
83 Aus den gleichen Gründen ist die Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 für nichtig zu erklären, soweit sie den Kläger betrifft.
Zur zeitlichen Wirkung der teilweisen Nichtigerklärung des Beschlusses 2014/119 in der Fassung des Durchführungsbeschlusses 2014/216
84 Der Rat hält es für den Fall, dass das Gericht den Beschluss 2014/119 in der Fassung des Durchführungsbeschlusses 2014/216 für nichtig erklären sollte, soweit er den Kläger betrifft, für erforderlich, dass die Wirkungen dieses Beschlusses für den Kläger gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV fortgelten, bis die teilweise Nichtigerklärung der Verordnung Nr. 208/2014 in der Fassung der Durchführungsverordnung Nr. 381/2014 wirksam wird, um die Rechtssicherheit sowie die Kohärenz und die Einheit der Rechtsordnung zu gewährleisten.
85 Der Kläger tritt diesem Vorbringen entgegen.
86 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Beschluss 2014/119 in der Fassung des Durchführungsbeschlusses 2014/216 mit dem Beschluss 2015/364 geändert worden ist, der die Liste ab dem 7. März 2015 ersetzt und die Anwendung der restriktiven Maßnahmen, soweit sie den Kläger betreffen, bis zum 6. März 2016 verlängert hat. Infolge dieser Änderungen steht der Name des Klägers mit einer neuen Begründung weiter auf der Liste (siehe oben, Rn. 16 und 17).
87 Mithin gilt gegenüber dem Kläger bis zum heutigen Tag eine neue restriktive Maßnahme. Folglich führt die Nichtigerklärung des Beschlusses 2014/119 in der Fassung des Durchführungsbeschlusses 2014/216, soweit er den Kläger betrifft, nicht dazu, dass dessen Name von der Liste verschwindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2016, Azarov/Rat, T‑331/14, EU:T:2016:49, Rn. 71).
88 Die Fortgeltung der Wirkungen des Beschlusses 2014/119 in der Fassung des Durchführungsbeschlusses 2014/216, soweit er den Kläger betrifft, ist daher nicht erforderlich.
Kosten
89 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Klägers die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
beschlossen:
1. Der Durchführungsbeschluss 2014/216/GASP des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung des Beschlusses 2014/119/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine und die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 381/2014 des Rates vom 14. April 2014 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 208/2014 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine werden für nichtig erklärt, soweit sie Herrn Oleksandr Klymenko betreffen.
2. Der Rat der Europäischen Union trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten von Herrn Klymenko.
Luxemburg, den 10. Juni 2016
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
G. Berardis
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Nicht wiedergegebene vertrauliche Daten.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juni 2016.#Strafverfahren gegen Piotr Kossowski.#Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 und 55 Abs. 1 Buchst. a – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Zulässigkeit der Strafverfolgung eines Angeschuldigten in einem Mitgliedstaat, nachdem das in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn eingeleitete Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft ohne eingehende Ermittlungen abgeschlossen wurde – Keine Prüfung in der Sache.#Rechtssache C-486/14.
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62014CJ0486
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ECLI:EU:C:2016:483
| 2016-06-29T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0486
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
29. Juni 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen — Art. 54 und 55 Abs. 1 Buchst. a — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 50 — Grundsatz ‚ne bis in idem‘ — Zulässigkeit der Strafverfolgung eines Angeschuldigten in einem Mitgliedstaat, nachdem das in einem anderen Mitgliedstaat gegen ihn eingeleitete Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft ohne eingehende Ermittlungen abgeschlossen wurde — Keine Prüfung in der Sache“
In der Rechtssache C‑486/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2014, in dem Strafverfahren gegen
Piotr Kossowski,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Hamburg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, J. L. da Cruz Vilaça und F. Biltgen, der Richter E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits und J.‑C. Bonichot, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter C. Vajda und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. September 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn P. Kossowski, vertreten durch Rechtsanwältin I. Vogel,
—
der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, vertreten durch L. von Selle und C. Rinio als Bevollmächtigte,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der französischen Regierung, vertreten durch F. X. Bréchot, D. Colas und C. David als Bevollmächtigte,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. de Ree als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka und M. Szwarc als Bevollmächtigte,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Christie als Bevollmächtigten im Beistand von J. Holmes, Barrister,
—
der Schweizer Regierung, vertreten durch R. Balzaretti als Bevollmächtigten,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 54 und 55 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ) sowie der Art. 50 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Deutschland gegen Herrn Piotr Kossowski (im Folgenden: Angeschuldigter) wegen des Vorwurfs eingeleitet wurde, am 2. Oktober 2005 im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Handlungen vorgenommen zu haben, die als schwere räuberische Erpressung eingestuft werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Charta
3 Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) der Charta lautet:
„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“
SDÜ
4 Das SDÜ wurde zur Gewährleistung der Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) geschlossen.
5 Art. 54 und 55 SDÜ gehören zu Titel III Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) dieses Übereinkommens. Art. 54 SDÜ lautet:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
6 Art. 55 SDÜ bestimmt:
„(1) Eine Vertragspartei kann bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären, dass sie in einem oder mehreren der folgenden Fälle nicht durch Artikel 54 gebunden ist:
a)
wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; im letzteren Fall gilt diese Ausnahme jedoch nicht, wenn diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist;
…
(4) Ausnahmen, die Gegenstand einer Erklärung nach Absatz 1 waren, finden keine Anwendung, wenn die betreffende Vertragspartei die andere Vertragspartei wegen derselben Tat um Verfolgung ersucht oder die Auslieferung des Betroffenen bewilligt hat.“
7 Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Ratifikation des SDÜ folgenden Vorbehalt zu Art. 54 SDÜ im Sinne des Art. 55 Abs. 1 SDÜ angebracht (BGBl. 1994 II, S. 631):
„Die Bundesrepublik Deutschland ist durch Artikel 54 des [SDÜ] nicht gebunden,
a)
wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde.“
Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Union
8 Durch das dem EU-Vertrag in seiner Fassung vor dem Vertrag von Lissabon und dem EG-Vertrag durch den Vertrag von Amsterdam beigefügte Protokoll (Nr. 2) zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1997, C 340, S. 93) wurde das SDÜ als „Schengen-Besitzstand“ im Sinne des Anhangs zu diesem Protokoll in das Unionsrecht einbezogen. Mit diesem Protokoll wurden 13 Mitgliedstaaten ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands zu begründen.
Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand
9 Durch das dem Vertrag von Lissabon beigefügte Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2010, C 83, S. 290) wurden 25 Mitgliedstaaten ermächtigt, innerhalb des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Union untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit in den zum Schengen-Besitzstand gehörenden Bereichen zu begründen. Art. 2 dieses Protokolls lautet daher:
„Der Schengen-Besitzstand ist unbeschadet des Artikels 3 der Beitrittsakte vom 16. April 2003 und des Artikels 4 der Beitrittsakte vom 25. April 2005 für die in Artikel 1 aufgeführten Mitgliedstaaten anwendbar. Der Rat tritt an die Stelle des durch die Schengener Übereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses.“
Polnisches Recht
10 Art. 327 § 2 des Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung) sieht vor:
„Ein rechtskräftig eingestelltes Ermittlungsverfahren gegen eine Person, gegen die als Tatverdächtige ein Ermittlungsverfahren geführt wurde, kann auf Anordnung der Staatsanwaltschaft … nur dann wieder eröffnet werden, wenn wesentliche Umstände bekannt werden, die zuvor unbekannt waren. …“
11 Art. 328 der Strafprozessordnung bestimmt:
„§ 1 Der Generalstaatsanwalt kann einen rechtskräftigen Beschluss über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen eine Person, gegen die als Tatverdächtige ein Ermittlungsverfahren geführt wurde, aufheben, wenn er feststellt, dass die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht begründet war …
§ 2 Nach Ablauf von sechs Monaten nach Eintritt der Rechtskraft der Einstellung des Ermittlungsverfahrens kann der Generalstaatsanwalt den Beschluss oder seine Begründung nur zugunsten des Tatverdächtigen aufheben oder ändern.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg (Deutschland) dem Angeschuldigten vorwirft, am 2. Oktober 2005 in Hamburg (Deutschland) Handlungen vorgenommen zu haben, die nach dem deutschen Strafrecht als schwere räuberische Erpressung bewertet werden und in deren Verlauf der Angeschuldigte mit dem Fahrzeug des Geschädigten des Ausgangsverfahrens flüchtete. Gegen den Angeschuldigten wurde in Hamburg ein Ermittlungsverfahren eröffnet.
13 Am 20. Oktober 2005 stellten die polnischen Behörden das von dem Angeschuldigten geführte Fahrzeug bei einer Straßenverkehrskontrolle in Kołobrzeg (Polen) sicher und nahmen den Angeschuldigten zur Vollstreckung einer in Polen gegen ihn verhängten Haftstrafe in anderer Sache fest. Nach der Durchführung von Ermittlungen hinsichtlich des von dem Angeschuldigten geführten Fahrzeugs eröffnete die Prokuratura rejonowa w Kołobrzegu (Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg, Polen) aufgrund der am 2. Oktober 2005 in Hamburg begangenen Tat gegen den Angeschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Tatvorwurfs der räuberischen Erpressung nach Art. 282 des polnischen Strafgesetzbuchs.
14 Im Rahmen der Rechtshilfe ersuchte die Prokuratura okręgowa w Koszalinie (Bezirksstaatsanwaltschaft Koszalin, Polen) die Staatsanwaltschaft Hamburg um die Übersendung von Kopien ihrer Ermittlungsakte, die im August 2006 übermittelt wurden.
15 Im Dezember 2006 übersandte die Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg der Staatsanwaltschaft Hamburg ihren Beschluss vom 22. Dezember 2006, durch den das Strafverfahren gegen den Angeschuldigten mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurde.
16 Dieser Beschluss wurde damit begründet, dass der Angeschuldigte die Aussage verweigert habe und dass der Geschädigte des Ausgangsverfahrens sowie ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hätten vernommen werden können, und dass die zum Teil ungenauen und widersprüchlichen Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können.
17 Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass den Beteiligten nach der diesem Einstellungsbeschluss beigefügten Rechtsmittelbelehrung binnen einer Notfrist von sieben Tagen ab Zustellung des Beschlusses das Recht zustehe, gegen den Beschluss Beschwerde einzulegen. Dass der Geschädigte eine solche Beschwerde eingelegt hätte, ist nicht ersichtlich.
18 Am 24. Juli 2009 stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg einen Europäischen Haftbefehl gegen den Angeschuldigten aus, nachdem sie bereits am 9. Januar 2006 einen nationalen Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg gegen den Angeschuldigten erwirkt hatte. Mit Schreiben vom 4. September 2009 wurde die Republik Polen um die Auslieferung des Angeschuldigten an die Bundesrepublik Deutschland ersucht. Mit Beschluss des Sąd Okręgowy w Koszalinie (Bezirksgericht Koszalin, Polen) vom 17. September 2009 wurde der Vollzug des Europäischen Haftbefehls abgelehnt, da der Beschluss der Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg, das Strafverfahren einzustellen, von diesem Gericht als rechtskräftig im Sinne der Strafprozessordnung eingestuft wurde.
19 Am 7. Februar 2014 wurde der Angeschuldigte, der nach wie vor in Deutschland zur Fahndung ausgeschrieben war, in Berlin (Deutschland) festgenommen. Am 17. März 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Hamburg gegen ihn Anklage. Das Landgericht Hamburg lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Begründung ab, dass durch den Einstellungsbeschluss der Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg ein Strafklageverbrauch im Sinne von Art. 54 SDÜ eingetreten sei. Daher hob es am 4. April 2014 den Haftbefehl gegen den Angeschuldigten auf, der daraufhin aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.
20 Das vorlegende Gericht, bei dem die Staatsanwaltschaft Hamburg sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt hatte, geht nach dem insoweit maßgeblichen deutschen Recht von einem hinreichenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten aus, so dass das Hauptverfahren vor dem Landgericht Hamburg zu eröffnen und die Anklage zur Hauptverhandlung zuzulassen wäre, es sei denn, dem stünde das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 SDÜ bzw. Art. 50 der Charta als Verfahrenshindernis entgegen.
21 In diesem Zusammenhang stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob der von der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ angebrachte Vorbehalt noch Geltung beanspruchen kann. Sollte dies der Fall sein, käme der Grundsatz ne bis in idem im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, da die dem Angeschuldigten vorgeworfene Tat im deutschen Hoheitsgebiet begangen wurde und die deutschen Strafverfolgungsbehörden die polnischen Behörden nicht im Sinne von Art. 55 Abs. 4 SDÜ um Verfolgung ersucht haben.
22 Für den Fall, dass dieser Vorbehalt keine Geltung beanspruchen kann, fragt sich das vorlegende Gericht aufgrund des Umstands, dass es sich bei der in Deutschland und in Polen verfolgten Tat um dieselbe Tat handelt, ob der Angeschuldigte durch den Beschluss der Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg als „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne von Art. 54 SDÜ oder als „rechtskräftig … freigesprochen“ im Sinne von Art. 50 der Charta angesehen werden kann. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts unterscheidet sich das Ausgangsverfahren von der Rechtssache, in der das Urteil vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057), ergangen ist, da dem Einstellungsbeschluss vom 22. Dezember 2006 keine eingehenden Ermittlungen vorausgegangen seien. Zudem hegt das vorlegende Gericht Zweifel darüber, ob die Rechtskraft eines solchen Beschlusses von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängt, durch die das unerlaubte Verhalten geahndet wird.
23 Unter diesen Umständen hat das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Gelten die von den Vertragsparteien bei der Ratifikation des SDÜ erklärten Vorbehalte nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ – namentlich der Vorbehalt zu Art. 54 SDÜ – nach der Überführung des Schengen-Besitzstands in den Rechtsrahmen der Union durch das Protokoll (Nr. 2) zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, beibehalten durch das Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand, fort; handelt es sich bei diesen Ausnahmen um verhältnismäßige Einschränkungen von Art. 50 der Charta im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta?
2. Sollte dies nicht der Fall sein:
Ist das in Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta enthaltene Verbot der Doppelbestrafung bzw. Doppelverfolgung dahin auszulegen, dass es der Strafverfolgung eines Angeschuldigten in einem Mitgliedstaat – hier Deutschland – entgegensteht, dessen Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat – hier Polen – von der Staatsanwaltschaft – ohne die Erfüllung ahndender Auflagen und ohne eingehende Ermittlungen – aus tatsächlichen Gründen mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurde und nur wiedereröffnet werden kann, wenn wesentliche, zuvor unbekannte Umstände bekannt geworden sind, ohne dass allerdings solche neuen Umstände konkret vorliegen?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
24 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen auf Art. 267 AEUV stützt, während die vorgelegten Fragen das SDÜ betreffen, ein unter Titel VI des EU-Vertrags in seiner Fassung vor dem Vertrag von Lissabon fallendes Übereinkommen.
25 Insoweit steht fest, dass die in Art. 267 AEUV vorgesehene Regelung auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Vorabentscheidung nach Art. 35 EU, der seinerseits bis zum 1. Dezember 2014 anzuwenden ist, unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung findet (Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 43).
26 Die Bundesrepublik Deutschland hat mit einer Erklärung gemäß Art. 35 Abs. 2 EU die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen anhand der in Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU vorgesehenen Modalitäten anerkannt, wie aus der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 (ABl. 1999, L 114, S. 56) veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam hervorgeht.
27 Daher kann der Umstand, dass die Vorlageentscheidung Art. 35 EU nicht erwähnt, sondern sich auf Art. 267 AEUV bezieht, für sich genommen nicht zur Unzuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg vorgelegten Fragen führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 45).
28 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Fragen zuständig ist.
Zu den Vorlagefragen
29 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob die Erklärung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ noch gültig ist, und zweitens, ob – falls die erste Frage verneint wird – der Angeschuldigte unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens im Sinne von Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt bzw. im Sinne von Art. 50 der Charta rechtskräftig verurteilt worden ist.
30 Da sich die Frage nach der eventuellen Anwendbarkeit der in Art. 55 Abs. 1 Buchst a SDÜ enthaltenen Ausnahme von der Regel ne bis in idem nur dann stellt, wenn eine Person unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens im Sinne von Art. 54 SDÜ „rechtskräftig abgeurteilt“ worden ist und diese Regel dann zur Anwendung kommt, ist zunächst die zweite Frage zu beantworten.
Zur zweiten Frage
31 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 35 des Urteils vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057), bereits hervorgehoben hat, dass das Recht, wegen einer Straftat nicht zweimal verfolgt oder bestraft zu werden, sowohl in Art. 54 SDÜ als auch in Art. 50 der Charta genannt wird und Art. 54 SDÜ daher in dessen Licht auszulegen ist.
32 Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage wissen möchte, ob das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen endgültig eingestellt wird, als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Vorschriften eingestuft werden kann, wenn dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden sind.
33 Wie sich aus dem Wortlaut von Art. 54 SDÜ ergibt, darf niemand in einem Vertragsstaat wegen derselben Tat wie der verfolgt werden, derentwegen er in einem anderen Vertragsstaat bereits „rechtskräftig abgeurteilt“ worden ist.
34 Der Betroffene ist wegen der ihm vorgeworfenen Tat als „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne dieser Vorschrift anzusehen, wenn als Erstes die Strafklage endgültig verbraucht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Die Beurteilung dieser ersten Voraussetzung ist auf der Grundlage des Rechts des Mitgliedstaats vorzunehmen, der die in Rede stehende strafrechtliche Entscheidung erlassen hat. Eine Entscheidung, die nach dem Recht des Vertragsstaats, der die Strafverfolgung gegen einen Betroffenen einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene nicht endgültig verbraucht, kann nämlich grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Tat gegen diesen Betroffenen in einem anderen Vertragsstaat angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Turanský, C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 36, und vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 32 und 36).
36 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass im Ausgangsverfahren der Einstellungsbeschluss der Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg nach polnischem Recht die Strafklage in Polen endgültig verbraucht.
37 Ferner ist den dem Gerichtshof vorgelegten Akten zu entnehmen, dass im polnischen Recht weder die in Art. 327 § 2 der Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit, das Ermittlungsverfahren wieder zu eröffnen, wenn wesentliche Umstände bekannt werden, die zuvor unbekannt waren, noch die Möglichkeit für den Generalstaatsanwalt, auf der Grundlage von Art. 328 der Strafprozessordnung einen rechtskräftigen Beschluss über die Einstellung des Verfahrens aufzuheben, wenn er feststellt, dass die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht begründet war, die Rechtskraft des Strafklageverbrauchs in Frage stellen.
38 Dass zum einen die Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschluss in ihrer Eigenschaft als Staatsanwaltschaft erlassen hat und zum anderen keine Sanktion vollstreckt worden ist, ist für die Beurteilung, ob durch diesen Beschluss die Strafklage verbraucht wird, nicht entscheidend.
39 Art. 54 SDÜ ist nämlich auch auf Entscheidungen einer – wie die Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg – zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege in der betreffenden nationalen Rechtsordnung berufenen Behörde anwendbar, mit denen die Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat endgültig beendet wird, auch wenn sie ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge, C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87, Rn. 28 und 38).
40 Zum Fehlen einer Sanktion ist darauf hinzuweisen, dass Art. 54 SDÜ die Voraussetzung, dass die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Herkunftsvertragsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, nur im Fall einer Verurteilung vorsieht.
41 Dass in Art. 54 SDÜ von einer Sanktion die Rede ist, darf daher nicht so ausgelegt werden, als sei dessen Anwendbarkeit – außer im Fall einer Verurteilung – von einer zusätzlichen Voraussetzung abhängig.
42 Um zu bestimmen, ob ein Beschluss wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Entscheidung darstellt, mit der eine Person im Sinne des Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt wurde, muss man sich als Zweites vergewissern, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2005, Miraglia, C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 30, und vom 5. Juni 2014, M, C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 28).
43 Zu diesem Zweck sind die Ziele, die mit der Regelung, zu der Art. 54 SDÜ gehört, verfolgt werden, sowie ihr Zusammenhang zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C‑605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der in dieser Vorschrift aufgestellte Grundsatz ne bis in idem zum einen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern soll, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, indem bei fehlender Harmonisierung oder Angleichung der strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten unanfechtbar gewordene Entscheidungen staatlicher Stellen beachtet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. September 2006, Gasparini u. a., C‑467/04, EU:C:2006:610, Rn. 27, vom 22. Dezember 2008, Turanský, C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 41, und vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 77).
45 Zum anderen wird mit Art. 54 SDÜ zwar das Ziel verfolgt, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Vertragsstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Vertragsstaat wegen derselben Tat verfolgt wird, nicht aber das Ziel, einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist (Urteil vom 22. Dezember 2008, Turanský, C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 44).
46 In diesem Zusammenhang ist Art. 54 SDÜ nämlich im Licht von Art. 3 Abs. 2 EUV auszulegen, wonach die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen bietet, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen u. a. in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.
47 Daher hat die Auslegung der Rechtskraft einer strafrechtlichen Entscheidung eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 54 SDÜ im Licht nicht nur der Notwendigkeit, die Personenfreizügigkeit zu gewährleisten, sondern auch im Licht der Notwendigkeit zu erfolgen, die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu fördern.
48 Nach alledem stellt ein Einstellungsbeschluss wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der erlassen wurde, obwohl die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage – ohne dass eingehendere Ermittlungen durchgeführt worden wären, um Beweismittel zu sammeln und zu untersuchen – allein deshalb nicht verfolgte, weil der Angeschuldigte die Aussage verweigert habe und der Geschädigte sowie ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hätten vernommen werden und die Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können, keine Entscheidung dar, der eine Prüfung in der Sache vorausgegangen ist.
49 Die Anwendung von Art. 54 SDÜ auf eine solche Entscheidung hätte nämlich die Wirkung, dass die konkrete Möglichkeit, das dem Angeschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu ahnden, erschwert oder gar ausgeschlossen würde. Zum einen wäre ein solcher Einstellungsbeschluss von den Justizbehörden eines Mitgliedstaats ohne jede eingehende Beurteilung des dem Angeschuldigten angelasteten rechtswidrigen Verhaltens erlassen worden. Zum anderen würde die Einleitung eines Strafverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat beeinträchtigt. Eine solche Konsequenz liefe dem Zweck des Art. 3 Abs. 2 EUV offensichtlich zuwider (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2005, Miraglia, C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 33 und 34).
50 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, impliziert Art. 54 SDÜ schließlich zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Vertragsstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde (Urteil vom 11. Dezember 2008, Bourquain, C‑297/07, EU:C:2008:708, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Dieses gegenseitige Vertrauen erfordert, dass die betreffenden zuständigen Behörden des zweiten Vertragsstaats eine im Hoheitsgebiet des ersten Vertragsstaats erlassene rechtskräftige Entscheidung so akzeptieren, wie sie ihnen mitgeteilt worden ist.
52 Das gegenseitige Vertrauen kann jedoch nur gedeihen, wenn der zweite Vertragsstaat in der Lage ist, sich auf der Grundlage der vom ersten Vertragsstaat übermittelten Unterlagen zu vergewissern, dass die betreffende Entscheidung der zuständigen Behörden des ersten Vertragsstaats tatsächlich eine rechtskräftige Entscheidung darstellt, die eine Prüfung in der Sache enthält.
53 Daher kann – wie der Generalanwalt in den Nrn. 74 bis 78 und 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – ein Beschluss der Staatsanwaltschaft wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren eingestellt wird, nicht als eine nach einer Prüfung in der Sache ergangene Entscheidung angesehen und daher nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Art. 54 SDÜ eingestuft werden, wenn aus ihrer Begründung hervorgeht, dass keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt wurden, da andernfalls das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander gefährdet werden könnte. In diesem Zusammenhang stellen die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz dafür dar, dass im Ausgangsverfahren keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt worden sind.
54 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Vorschriften eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären, wobei die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen darstellt.
Zur ersten Frage
55 In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage ist die erste Frage nicht zu beantworten.
Kosten
56 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung im Sinne dieser Vorschriften eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären, wobei die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen darstellt.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 7. Oktober 2015.#Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e.V. gegen Europäische Kommission.#Geschützte geografische Angabe – ‚Kołocz śląski‘ oder ‚Kołacz śląski‘ – Löschungsverfahren – Rechtsgrundlage – Verordnung (EG) Nr. 510/2006 – Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 – Löschungsgründe – Grundrechte.#Rechtssache T-49/14.
|
62014TJ0049
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ECLI:EU:T:2015:755
| 2015-10-07T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0049 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 16. Juni 2016.#Pebros Servizi Srl gegen Aston Martin Lagonda Ltd.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale civile di Bologna.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 805/2004 – Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen – Art. 3 Abs. 1 Buchst. b – Voraussetzungen für die Bestätigung – Versäumnisurteil – Begriff ‚unbestrittene Forderung‘ – Verhalten einer Partei im Verfahren, das als ‚Nichtbestreiten der Forderung‘ gelten kann.#Rechtssache C-511/14.
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62014CJ0511
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ECLI:EU:C:2016:448
| 2016-06-16T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0511
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
16. Juni 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Verordnung (EG) Nr. 805/2004 — Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen — Art. 3 Abs. 1 Buchst. b — Voraussetzungen für die Bestätigung — Versäumnisurteil — Begriff ‚unbestrittene Forderung‘ — Verhalten einer Partei im Verfahren, das als ‚Nichtbestreiten der Forderung‘ gelten kann“
In der Rechtssache C‑511/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Bologna (Gericht von Bologna, Italien) mit Entscheidung vom 6. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 14. November 2014, in dem Verfahren
Pebros Servizi Srl
gegen
Aston Martin Lagonda Ltd
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter D. Šváby, J. Malenovský, M. Safjan (Berichterstatter) und M. Vilaras,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Pebros Servizi Srl, vertreten durch N. Maione, avvocato,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Salvatorelli, avvocato dello Stato,
—
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. 2004, L 143, S. 15).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von der Pebros Servizi Srl, einer Gesellschaft mit Sitz in Italien, eingeleiteten Verfahrens zur Bestätigung eines gegen die Aston Martin Lagonda Ltd (im Folgenden: Aston Martin), eine Gesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich, ergangenen rechtskräftigen Versäumnisurteils als europäischer Vollstreckungstitel im Sinne der Verordnung Nr. 805/2004.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 5, 6, 10, 12, 17 und 20 der Verordnung Nr. 805/2004 lauten:
„(5)
Der Begriff ‚unbestrittene Forderung‘ sollte alle Situationen erfassen, in denen der Schuldner Art oder Höhe einer Geldforderung nachweislich nicht bestritten hat und der Gläubiger gegen den Schuldner entweder eine gerichtliche Entscheidung oder einen vollstreckbaren Titel, der die ausdrückliche Zustimmung des Schuldners erfordert, wie einen gerichtlichen Vergleich oder eine öffentliche Urkunde, erwirkt hat.
(6) Ein fehlender Widerspruch seitens des Schuldners im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b) liegt auch dann vor, wenn dieser nicht zur Gerichtsverhandlung erscheint oder einer Aufforderung des Gerichts, schriftlich mitzuteilen, ob er sich zu verteidigen beabsichtigt, nicht nachkommt.
…
(10) Auf die Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung in einem Verfahren ergangen ist, auf das sich der Schuldner nicht eingelassen hat, kann nur dann verzichtet werden, wenn eine hinreichende Gewähr besteht, dass die Verteidigungsrechte beachtet worden sind.
…
(12) Für das gerichtliche Verfahren sollten Mindestvorschriften festgelegt werden, um sicherzustellen, dass der Schuldner so rechtzeitig und in einer Weise über das gegen ihn eingeleitete Verfahren, die Notwendigkeit seiner aktiven Teilnahme am Verfahren, wenn er die Forderung bestreiten will, und über die Folgen seiner Nichtteilnahme unterrichtet wird, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung treffen kann.
…
(17) Die für die Nachprüfung der Einhaltung der prozessualen Mindestvorschriften zuständigen Gerichte sollten gegebenenfalls eine einheitliche Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel ausstellen, aus der die Nachprüfung und deren Ergebnis hervorgeht.
…
(20) Dem Gläubiger sollte es frei stehen, eine Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen zu beantragen oder sich für das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] oder für andere Gemeinschaftsrechtsakte zu entscheiden.“
4 Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 805/2004 lautet:
„Mit dieser Verordnung wird ein Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen eingeführt, um durch die Festlegung von Mindestvorschriften den freien Verkehr von Entscheidungen, gerichtlichen Vergleichen und öffentlichen Urkunden in allen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ohne dass im Vollstreckungsmitgliedstaat ein Zwischenverfahren vor der Anerkennung und Vollstreckung angestrengt werden muss.“
5 Art. 3 („Vollstreckungstitel, die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Diese Verordnung gilt für Entscheidungen, gerichtliche Vergleiche und öffentliche Urkunden über unbestrittene Forderungen.
Eine Forderung gilt als ‚unbestritten‘, wenn
a)
der Schuldner ihr im gerichtlichen Verfahren ausdrücklich durch Anerkenntnis oder durch einen von einem Gericht gebilligten oder vor einem Gericht im Laufe eines Verfahrens geschlossenen Vergleich zugestimmt hat oder
b)
der Schuldner ihr im gerichtlichen Verfahren zu keiner Zeit nach den maßgeblichen Verfahrensvorschriften des Rechts des Ursprungsmitgliedstaats widersprochen hat oder
c)
der Schuldner zu einer Gerichtsverhandlung über die Forderung nicht erschienen oder dabei nicht vertreten worden ist, nachdem er zuvor im gerichtlichen Verfahren der Forderung widersprochen hatte, sofern ein solches Verhalten nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats als stillschweigendes Zugeständnis der Forderung oder des vom Gläubiger behaupteten Sachverhalts anzusehen ist oder
d)
der Schuldner die Forderung ausdrücklich in einer öffentlichen Urkunde anerkannt hat.“
6 Art. 6 („Voraussetzungen für die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Eine in einem Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung ergangene Entscheidung wird auf jederzeitigen Antrag an das Ursprungsgericht als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt, wenn
a)
die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist und
b)
die Entscheidung nicht im Widerspruch zu den Zuständigkeitsregeln in Kapitel II Abschnitte 3 und 6 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 steht und
c)
das gerichtliche Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat im Fall einer unbestrittenen Forderung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b) oder c) den Voraussetzungen des Kapitels III entsprochen hat …“
7 Art. 9 („Ausstellung der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel“) der Verordnung Nr. 805/2004 bestimmt in Abs. 1:
„Die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel wird unter Verwendung des Formblatts in Anhang I ausgestellt.“
8 Kapitel III der Verordnung Nr. 805/2004, in dem sich ihre Art. 12 bis 19 befinden, enthält Mindestvorschriften für Verfahren über unbestrittene Forderungen. Diese Vorschriften, die dem Schutz der Verteidigungsrechte des Schuldners dienen, betreffen nicht nur die Zustellungsformen des verfahrenseinleitenden Schriftstücks und sonstiger Schriftstücke, sondern auch den informativen Inhalt dieses Schriftstücks, wobei der Schuldner über die Forderung sowie das Verfahren zu ihrem Bestreiten informiert werden muss. Art. 12 („Anwendungsbereich der Mindestvorschriften“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:
„Eine Entscheidung über eine unbestrittene Forderung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b) oder c) kann nur dann als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden, wenn das gerichtliche Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat den verfahrensrechtlichen Erfordernissen nach diesem Kapitel genügt hat.“
9 Art. 27 („Verhältnis zur Verordnung [EG] Nr. 44/2001“) der Verordnung Nr. 805/2004 lautet:
„Diese Verordnung berührt nicht die Möglichkeit, die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung über eine unbestrittene Forderung, eines gerichtlichen Vergleichs oder einer öffentlichen Urkunde gemäß der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 zu betreiben.“
Italienisches Recht
10 Im italienischen Recht wird das Versäumnisverfahren in Kapitel VI des Titels I von Buch II des Codice di procedura civile (Zivilprozessordnung) geregelt. Dieses Kapitel umfasst die Art. 290 bis 294 der Zivilprozessordnung.
11 Art. 291 („Säumnis des Beklagten“) der Zivilprozessordnung bestimmt in Abs. 1:
„Lässt sich der Beklagte nicht in den Rechtsstreit ein und stellt der Instruktionsrichter einen die Nichtigkeit bewirkenden Fehler bei der Zustellung der Klage fest, so setzt er dem Kläger eine Ausschlussfrist für die neuerliche Zustellung. Die neuerliche Zustellung verhindert jede Verwirkung.“
12 Art. 293 („Einlassung des Säumigen in den Rechtsstreit“) der Zivilprozessordnung sieht vor:
„Die für säumig erklärte Partei kann sich in jeder Lage des Verfahrens bis zur Verhandlung, in der die Klageanträge präzisiert werden, in den Rechtsstreit einlassen.
Die Streiteinlassung kann durch Hinterlegung eines Schriftsatzes, der Vollmacht und der Urkunden in der Kanzlei oder durch das Erscheinen bei einer Verhandlung erfolgen.
Der Säumige, der sich in den Rechtsstreit einlässt, kann jedenfalls in der ersten Verhandlung oder innerhalb einer ihm vom Instruktionsrichter eingeräumten Frist die gegen ihn eingereichten Schriftsätze bestreiten.“
13 Art. 294 („Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“) der Zivilprozessordnung bestimmt in Abs. 1:
„Der Säumige, der sich in den Rechtsstreit einlässt, kann beim Instruktionsrichter die Zulassung zur Vornahme von Handlungen, von denen er ausgeschlossen wäre, beantragen, wenn er nachweist, dass die Nichtigkeit der Klage oder ihrer Zustellung ihn daran gehindert hat, vom Verfahren Kenntnis zu erlangen, oder dass er an der Streiteinlassung durch Umstände gehindert war, die ihm nicht angelastet werden können.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
14 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Pebros Servizi beim Tribunale di Bologna (Gericht von Bologna, Italien) gegen mehrere Gesellschaften, darunter Aston Martin, Klage erhob.
15 Das Verfahren zwischen Pebros Servizi und Aston Martin vor diesem Gericht fand in Abwesenheit von Aston Martin statt, obwohl ihr die Ladung nach den Angaben in der Vorlageentscheidung ordnungsgemäß zugestellt wurde und sie in die Lage versetzt wurde, am Verfahren teilzunehmen.
16 Mit dem dieses Verfahren abschließenden Urteil vom 24. Januar 2014 verurteilte das vorlegende Gericht Aston Martin, an Pebros Servizi einen Betrag von 18000 Euro zuzüglich der von der Verkündung des Urteils bis zur Begleichung des Betrags aufgelaufenen gesetzlichen Zinsen sowie Beträge von 835 Euro und 9500 Euro als Kosten der Verfahrenseinleitung und Anwaltshonorare zuzüglich Umsatzsteuer und weiterer im innerstaatlichen Recht vorgesehener Sozialversicherungskosten zu zahlen.
17 Da das Urteil nicht angefochten wurde, wurde es rechtskräftig.
18 Am 14. Oktober 2014 beantragte Pebros Servizi beim vorlegenden Gericht die Bestätigung dieses Urteils als Europäischer Vollstreckungstitel im Sinne der Verordnung Nr. 805/2004, um das Vollstreckungsverfahren zur Beitreibung ihrer Forderung einleiten zu können.
19 Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 805/2004 im Ausgangsverfahren, da im italienischen Rechtssystem die Abwesenheit vom Verfahren nicht als Zustimmung des Beklagten zu dem gegen ihn gerichteten Antrag gilt. Daher stelle sich die Frage, ob ein Versäumnisurteil einer Verurteilung wegen einer unbestrittenen Forderung gleichgestellt werden könne.
20 In diesem Zusammenhang weist es darauf hin, dass zwei Auslegungen des Begriffs „unbestritten“ denkbar seien. Die erste, vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene und auf das nationale Recht gestützte Auslegung würde die Anwendung der Verordnung Nr. 805/2004 ausschließen, da das in der italienischen Rechtsordnung vorgesehene Versäumnisverfahren einem Nichtbestreiten der Forderung nicht gleichzusetzen sei. Nach der zweiten Auslegung werde der Begriff „unbestritten“ hingegen im Unionsrecht autonom definiert und umfasse auch die Abwesenheit vom Verfahren.
21 Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Bologna (Gericht von Bologna) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist im Fall eines (in Abwesenheit ergangenen) Versäumnisurteils, mit dem der säumige/abwesende Beklagte verurteilt wird, ohne dass er jedoch den Anspruch ausdrücklich anerkennt,
nach nationalem Recht zu entscheiden, ob ein solches prozessuales Verhalten als Nichtbestreiten im Sinne der Verordnung Nr. 805/2004 gilt, gegebenenfalls mit der Folge, dass nach nationalem Recht der Charakter als unbestrittene Forderung verneint wird,
oder
impliziert ein Versäumnis‑/Abwesenheitsurteil allein wegen seiner Art aufgrund des Unionsrechts ein Nichtbestreiten, so dass unabhängig von der Bewertung durch den nationalen Richter die Verordnung Nr. 805/2004 anzuwenden ist?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und der Vorlagefrage
22 Die italienische Regierung hält sowohl das Vorabentscheidungsersuchen als auch die Vorlagefrage für unzulässig.
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
23 Nach Ansicht der italienischen Regierung wird das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV tätig, da das von ihm bei der Entscheidung über einen Antrag auf Bestätigung einer gerichtlichen Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel angewandte Verfahren nicht die Kriterien für die Einstufung als Rechtsprechungstätigkeit erfülle; es sei vielmehr einem reinen Verwaltungsverfahren oder einem nicht streitigen Verfahren gleichzustellen.
24 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dessen Anrufung gemäß Art. 267 AEUV zwar nicht davon abhängt, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorlagefrage stellt, streitigen Charakter hat, doch können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (Urteil vom 25. Juni 2009, Roda Golf & Beach Resort, C‑14/08, EU:C:2009:395, Rn. 33 und 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Dies ist bei dem Verfahren, das zur Bestätigung einer gerichtlichen Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel führt, der Fall. Der Gerichtshof hat insoweit bereits klargestellt, dass dieses Verfahren eine gerichtliche Prüfung der in der Verordnung Nr. 805/2004 vorgesehenen Voraussetzungen erfordert, um zu beurteilen, ob die Mindestvorschriften zur Gewährleistung der Wahrung der Verteidigungsrechte des Schuldners eingehalten werden (Urteil vom 17. Dezember 2014, Imtech Marine Belgium, C‑300/14, EU:C:2015:825, Rn. 46 und 47).
26 So verpflichtet die Verordnung Nr. 805/2004 das Organ, das die Bestätigung einer gerichtlichen Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel vornimmt, zur Durchführung einer ganzen Reihe von Prüfungen, die im Formular in Anhang I der Verordnung aufgezählt sind. Die vom Gericht im Stadium dieser Bestätigung vorgenommene Kontrolle der Rechtmäßigkeit des gerichtlichen Verfahrens, das zum Erlass der zu bestätigenden Entscheidung geführt hat, unterscheidet sich, wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht von den Prüfungen mit Rechtsprechungscharakter, die es vor dem Erlass seiner gerichtlichen Entscheidungen in anderen Verfahren vorzunehmen hat. Außerdem ist es nach Art. 6 der Verordnung verpflichtet, über die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des vorangegangenen gerichtlichen Verfahrens und der Einhaltung der Zuständigkeitsregeln hinaus insbesondere die Vollstreckbarkeit der ergangenen Entscheidung und die Art der Forderung zu prüfen.
27 Überdies findet das Bestätigungsverfahren zwar erst statt, nachdem die das Verfahren beendende gerichtliche Entscheidung über den Rechtsstreit ergangen ist, doch kann diese Entscheidung, wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ohne ihre Bestätigung noch nicht frei im europäischen Rechtsraum zirkulieren.
28 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Erlass seines Urteils“ im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV das gesamte zur Entscheidung des vorlegenden Gerichts führende Verfahren umfasst und weit auszulegen ist, um zu verhindern, dass zahlreiche Verfahrensfragen als unzulässig angesehen werden und nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof sein können und dass er nicht über die Auslegung aller vom vorlegenden Gericht anzuwendenden Vorschriften des Unionsrechts entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Februar 2011, Weryński, C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 41 und 42, und vom 11. Juni 2015, Fahnenbrock u. a., C‑226/13, C‑245/13, C‑247/13 und C‑578/13, EU:C:2015:383, Rn. 30).
29 Daher stellt sich das Verfahren zur Bestätigung einer gerichtlichen Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel aus funktioneller Sicht nicht als ein vom vorangegangenen gerichtlichen Verfahren gesondertes Verfahren dar, sondern als dessen letzte Phase, die zur Gewährleistung seiner vollen Wirksamkeit erforderlich ist, indem dem Gläubiger die Beitreibung seiner Forderung ermöglicht wird.
30 Nach alledem ist festzustellen, dass das nationale Gericht, wenn es eine gerichtliche Entscheidung als Europäischen Vollstreckungstitel bestätigt, als Gericht tätig wird und befugt ist, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur Zulässigkeit der Vorlagefrage
31 Die italienische Regierung hält die Vorlagefrage für unzulässig, weil sie mangels zwingender Anwendung der Verordnung Nr. 805/2004 im Ausgangsverfahren unerheblich sei. Das im vorliegenden Rechtsstreit auftretende Problem der Definition einer unbestrittenen Forderung könne nämlich durch die Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) vermieden werden, weil diese Verordnung keine Bezugnahme auf nationale Verfahrensvorschriften enthalte.
32 Insoweit genügt der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zur Auslegung des Unionsrechts spricht, so dass er die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur ablehnen kann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 11. Juni 2015, Fahnenbrock u. a., C‑226/13, C‑245/13, C‑247/13 und C‑578/13, EU:C:2015:383, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Im vorliegenden Fall hat Pebros Servizi in Anwendung der Verordnung Nr. 805/2004 die Bestätigung eines Urteils als Europäischer Vollstreckungstitel beantragt. Somit muss das mit diesem Antrag befasste Gericht prüfen, ob die in dieser Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Unabhängig davon, dass die Verordnung Nr. 1215/2012 in zeitlicher Hinsicht nicht auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist, da dessen Sachverhalt in der Zeit vor ihrem Inkrafttreten liegt, hat der Umstand, dass Pebros Servizi im Fall der Ablehnung eines solchen Antrags nach Ansicht der italienischen Regierung das in der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehene Vollstreckungsverfahren einleiten oder unmittelbar dieses Verfahren wählen könnte, keinen Einfluss auf die Erheblichkeit der Vorlagefrage.
34 Folglich ist die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage zulässig.
Zur Beantwortung der Frage
35 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Voraussetzungen, unter denen im Fall eines Versäumnisurteils eine Forderung als „unbestritten“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 gilt, nach dem Recht am Gerichtsstand oder autonom, allein anhand dieser Verordnung, zu bestimmen sind.
36 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 5. Dezember 2013, Vapenik, C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Insoweit ist festzustellen, dass der Begriff „unbestrittene Forderung“ in der Verordnung Nr. 805/2004 nicht unter Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten definiert wird. Vielmehr ergibt sich aus Art. 3 der Verordnung im Licht ihres fünften Erwägungsgrundes, dass dieser Begriff ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist. Der Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b und c der Verordnung bezieht sich nicht auf die Merkmale dieses Begriffs, sondern betrifft spezielle Elemente seiner Anwendung.
38 Im fünften Erwägungsgrund der Verordnung heißt es, dass der Begriff „unbestrittene Forderung“ alle Situationen erfassen sollte, in denen der Schuldner Art oder Höhe einer Geldforderung nachweislich nicht bestritten hat und der Gläubiger gegen den Schuldner eine gerichtliche Entscheidung erwirkt hat.
39 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, blieb Aston Martin, die als Schuldnerin ordnungsgemäß informiert und in die Lage versetzt wurde, am gerichtlichen Verfahren teilzunehmen, während des gesamten Verfahrens untätig und beteiligte sich zu keinem Zeitpunkt an ihm. Aus diesem Grund erging gegen sie ein Versäumnisurteil. Folglich liegt bei ihr der Fall von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 vor, wonach eine Forderung als unbestritten gilt, wenn „der Schuldner ihr im gerichtlichen Verfahren zu keiner Zeit nach den maßgeblichen Verfahrensvorschriften des Rechts des Ursprungsmitgliedstaats widersprochen hat“.
40 Im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung heißt es hierzu, dass ein fehlender Widerspruch seitens des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung auch dann vorliegt, wenn er nicht zur Gerichtsverhandlung erscheint oder einer Aufforderung des Gerichts, schriftlich mitzuteilen, ob er sich zu verteidigen beabsichtigt, nicht nachkommt.
41 Infolgedessen kann eine Forderung als „unbestritten“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 angesehen werden, wenn der Schuldner nicht tätig wird, um ihr zu widersprechen, weil er der Aufforderung des Gerichts, schriftlich mitzuteilen, ob er sich zu verteidigen beabsichtigt, nicht nachkommt oder nicht zur Gerichtsverhandlung erscheint.
42 Daher ist es für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage unerheblich, dass nach italienischem Recht ein Versäumnisurteil einer Verurteilung wegen einer unbestrittenen Forderung nicht gleichzusetzen ist. Der ausdrückliche Verweis auf die Verfahrensvorschriften des Mitgliedstaats in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 betrifft nicht die Rechtsfolgen der Abwesenheit des Schuldners vom Verfahren – die nach der Verordnung autonom zu qualifizieren sind –, sondern ausschließlich die Verfahrensmodalitäten, nach denen der Schuldner der Forderung wirksam widersprechen kann.
43 Die Verordnung Nr. 805/2004 sieht nämlich nur die zur Wahrung der Verteidigungsrechte des säumigen Schuldners notwendigen prozessualen Mindestvorschriften vor, ohne jedoch alle Aspekte der Bestreitung der Forderung zu regeln, wie insbesondere die Form einer Bestreitungshandlung, die am Bestreitungsverfahren beteiligten Organe oder die anwendbaren Fristen. Daher muss der Schuldner eine Forderung in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den dort geltenden Zivilverfahrensregeln bestreiten.
44 Die in Kapitel III der Verordnung enthaltenen und in der vorstehenden Randnummer angesprochenen prozessualen Mindestvorschriften, die nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung eingehalten worden sein müssen, damit eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung über eine unbestrittene Forderung als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt werden kann, sollen gemäß dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung sicherstellen, dass der Schuldner so rechtzeitig und in einer Weise über das gegen ihn eingeleitete Verfahren, die Notwendigkeit seiner aktiven Teilnahme am Verfahren, wenn er die betreffende Forderung bestreiten will, und die Folgen seiner Nichtteilnahme am Verfahren unterrichtet wird, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung treffen kann. In dem besonderen Fall eines Versäumnisurteils im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 805/2004 sollen diese prozessualen Mindestvorschriften das Vorliegen hinreichender Garantien für die Wahrung der Verteidigungsrechte sicherstellen.
45 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Voraussetzungen, unter denen im Fall eines Versäumnisurteils eine Forderung als „unbestritten“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 gilt, autonom, allein anhand dieser Verordnung, zu bestimmen sind.
Kosten
46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Die Voraussetzungen, unter denen im Fall eines Versäumnisurteils eine Forderung als „unbestritten“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen gilt, sind autonom, allein anhand dieser Verordnung, zu bestimmen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 9. Juni 2016.#Verfahren auf Betreiben von István Balogh.#Vorabentscheidungsersuchen des Budapest Környéki Törvényszék.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Recht auf Dolmetschleistungen – Richtlinie 2010/64/EU – Anwendungsbereich – Begriff ‚Strafverfahren‘ – In einem Mitgliedstaat vorgesehenes Verfahren zur Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats in Strafsachen und zur Eintragung einer von diesem Gericht ausgesprochenen Verurteilung in das Strafregister – Kosten der Übersetzung dieser Entscheidung – Rahmenbeschluss 2009/315/JI – Beschluss 2009/316/JI.#Rechtssache C-25/15.
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62015CJ0025
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ECLI:EU:C:2016:423
| 2016-06-09T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0025
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
9. Juni 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Recht auf Dolmetschleistungen — Richtlinie 2010/64/EU — Anwendungsbereich — Begriff ‚Strafverfahren‘ — In einem Mitgliedstaat vorgesehenes Verfahren zur Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats in Strafsachen und zur Eintragung einer von diesem Gericht ausgesprochenen Verurteilung in das Strafregister — Kosten der Übersetzung dieser Entscheidung — Rahmenbeschluss 2009/315/JI — Beschluss 2009/316/JI“
In der Rechtssache C‑25/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Budapest Környéki Törvényszék (Bezirksgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 5. Januar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Januar 2015, in dem Verfahren gegen
István Balogh
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer, der Richter F. Biltgen und A. Borg Barthet sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Dezember 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. Bóra als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard, F. Zeder und B. Trefil als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sipos und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1).
2 Es ergeht in einem Verfahren vor dem Budapest Környéki Törvényszék (Bezirksgericht Budapest, Ungarn) zur Anerkennung der Wirkungen eines rechtskräftigen Urteils eines anderen Mitgliedstaats, mit dem Herr István Balogh wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe und zur Tragung der Kosten des Verfahrens verurteilt wurde, in Ungarn.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2009/315/JI
3 In den Erwägungsgründen 2, 3, 5 und 17 des Rahmenbeschlusses 2009/315/JI des Rates vom 26. Februar 2009 über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2009, L 93, S. 23) heißt es:
„(2)
Am 29. November 2000 hat der Rat … ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen … angenommen. Der vorliegende Rahmenbeschluss trägt dazu bei, die in Maßnahme Nr. 3 des Programms genannten Ziele zu erreichen …
(3) Im Schlussbericht über die erste Begutachtungsrunde zur Rechtshilfe in Strafsachen … wurden die Mitgliedstaaten ersucht, die Verfahren für die Übermittlung von Dokumenten zwischen Staaten zu vereinfachen; hierzu sollten gegebenenfalls Standardformulare verwendet werden, die der Erleichterung der Rechtshilfe dienen sollen.
…
(5) Mit Blick auf die Verbesserung des Informationsaustauschs aus den Strafregistern zwischen den Mitgliedstaaten werden die zur Verwirklichung dieses Ziels entwickelten Projekte begrüßt. … Die … gesammelte Erfahrung hat … gezeigt, dass der gegenseitige Austausch von Informationen über Verurteilungen zwischen den Mitgliedstaaten weiter vereinfacht werden muss.
…
(17) … Die gegenseitige Verständigung kann verbessert werden, indem ein ‚europäisches Standardformat‘ entwickelt wird, das den Austausch der Informationen in einer einheitlichen, elektronischen Form ermöglicht, die die automatisierte Übersetzung dieser Informationen erleichtert. …“
4 Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/315, der dessen Ziel umschreibt, lautet:
„Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es
a)
die Modalitäten festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat, in dem eine Verurteilung gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ergangen ist (nachstehend ‚Urteilsmitgliedstaat‘ genannt), die Informationen über eine solche Verurteilung dem Mitgliedstaat übermittelt, dessen Staatsangehörigkeit die verurteilte Person besitzt (nachstehend ‚Herkunftsmitgliedstaat‘ genannt);
b)
die Pflichten des Herkunftsmitgliedstaats für das Speichern dieser Informationen und die Modalitäten für die Beantwortung eines Ersuchens um Informationen aus dem Strafregister zu bestimmen;
c)
die Rahmenbedingungen für den Auf- und Ausbau eines elektronischen Systems zum Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen zwischen den Mitgliedstaaten auf der Grundlage dieses Rahmenbeschlusses und des späteren Beschlusses nach Artikel 11 Absatz 4 festzulegen.“
5 Art. 4 („Pflichten des Urteilsmitgliedstaats“) des Rahmenbeschlusses 2009/315 bestimmt:
„…
(2) Die Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats unterrichtet die Zentralbehörden der anderen Mitgliedstaaten so schnell wie möglich über die im Hoheitsgebiet des Urteilsmitgliedstaats ergangenen und in das Strafregister eingetragenen Verurteilungen von Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten.
…
(3) Auskünfte über eine spätere Änderung oder Streichung von Informationen im Strafregister werden von der Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats unverzüglich an die Zentralbehörde des jeweiligen Herkunftsmitgliedstaats übermittelt.
(4) Jeder Mitgliedstaat, der gemäß den Absätzen 2 und 3 Informationen bereitgestellt hat, übermittelt der Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats auf deren Ersuchen im Einzelfall eine Abschrift der in Betracht kommenden Urteile und nachfolgenden Maßnahmen sowie alle weiteren diesbezüglichen Auskünfte, um ihr die Prüfung zu ermöglichen, ob dadurch eine Maßnahme auf nationaler Ebene erforderlich wird.“
6 Art. 5 („Pflichten des Herkunftsmitgliedstaats“) des Rahmenbeschlusses 2009/315 bestimmt in Abs. 1:
„Die Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats speichert gemäß Artikel 11 Absätze 1 und 2 alle ihr nach Artikel 4 Absätze 2 und 3 übermittelten Informationen für die Zwecke der Weiterübermittlung nach Artikel 7.“
7 Art. 11 („Format und sonstige Modalitäten für die Durchführung und Erleichterung des Informationsaustauschs über Verurteilungen“) des Rahmenbeschlusses 2009/315 sieht vor:
„(1) Bei der Übermittlung von Informationen nach Artikel 4 Absätze 2 und 3 übermittelt die Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats die folgenden Informationen:
a)
Informationen, die in jedem Fall zu übermitteln sind, … (obligatorische Informationen):
i)
Informationen zu der Person, gegen die die Verurteilung ergangen ist (vollständiger Name, Geburtsdatum, Geburtsort …, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und – gegebenenfalls – frühere/r Name/n),
ii)
Informationen zur Art der Verurteilung (Datum der Verurteilung, Bezeichnung des Gerichts, Datum, an dem die Entscheidung rechtskräftig wurde),
iii)
Informationen über die der Verurteilung zugrunde liegende Straftat (Datum der … Straftat und Bezeichnung oder rechtliche Qualifikation der Straftat sowie Bezugnahme auf die anwendbaren gesetzlichen Vorschriften) und
iv)
Informationen zum Inhalt der Verurteilung, insbesondere Hauptstrafe und etwaige zusätzliche Strafen, Maßnahmen der Besserung und Sicherung und Folgeentscheidungen, die die Vollstreckung der Strafe abändern;
b)
Informationen, die übermittelt werden, wenn sie in das Strafregister eingetragen sind (fakultative Informationen):
i)
die Namen der Eltern der verurteilten Person,
ii)
das Aktenzeichen des Urteils,
iii)
der Ort der Tatbegehung und
iv)
Rechtsverluste, die sich aus der Verurteilung ergeben;
c)
Informationen, die übermittelt werden, wenn sie den Zentralbehörden zur Verfügung stehen (zusätzliche Informationen):
i)
die Identitätsnummer der verurteilten Person …,
ii)
Fingerabdrücke der betreffenden Person und
iii)
gegebenenfalls Pseudonym und/oder Aliasname(n).
Zusätzlich kann die Zentralbehörde alle anderen Informationen über Verurteilungen übermitteln, die in das Strafregister eingetragen sind.
(2) Die Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats speichert alle Informationen der in Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Kategorien, die sie nach Artikel 5 Absatz 1 zum Zweck der Weiterübermittlung nach Artikel 7 erhalten hat. Sie kann die Informationen der in Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe c und Unterabsatz 2 genannten Kategorien zu demselben Zweck speichern.
(3) …
Nach Ablauf der Frist nach Absatz 7 übermitteln die Zentralbehörden der Mitgliedstaaten einander diese Informationen auf elektronischem Wege in einem Standardformat.
(4) Das Format nach Absatz 3 sowie die sonstigen Modalitäten für die Durchführung und Erleichterung des Austauschs von Informationen über Verurteilungen zwischen den Zentralbehörden der Mitgliedstaaten werden vom Rat … festgelegt.
Die sonstigen Modalitäten umfassen:
a)
die Festlegung sämtlicher Modalitäten, die das Verständnis der übermittelten Informationen und ihre automatische Übersetzung erleichtern;
…“
Beschluss 2009/316/JI
8 In den Erwägungsgründen 2, 6 und 12 des Beschlusses 2009/316/JI des Rates vom 6. April 2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) gemäß Artikel 11 des Rahmenbeschlusses 2009/315 (ABl. 2009, L 93, S. 33) heißt es:
„(2)
Auf der derzeitigen Grundlage des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 findet kein effizienter Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen, die gegen Staatsangehörige der Mitgliedstaaten in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, statt. Es bedarf daher auf der Ebene der Europäischen Union effizienterer und einfacherer Verfahren für einen solchen Informationsaustausch.
…
(6) Mit diesem Beschluss soll der Rahmenbeschluss [2009/315] durchgeführt werden, damit ein elektronisches System für den Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen zwischen den Mitgliedstaaten errichtet und weiterentwickelt werden kann. … Es sollte … ein Standardformat eingeführt werden, das den Austausch der Informationen in einer einheitlichen, elektronischen und einer leicht elektronisch übersetzbaren Form ermöglicht, und es sollten weitere Vorkehrungen getroffen werden, um den elektronischen Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen zwischen den zentralen Behörden der Mitgliedstaaten zu organisieren und zu erleichtern.
…
(12) Die Referenztabellen mit Kategorien von Straftatbeständen und Kategorien von Strafen und Maßnahmen in diesem Beschluss sollen durch Nutzung eines Codesystems die automatische Übersetzung erleichtern und das übereinstimmende Verständnis der übermittelten Informationen ermöglichen. …“
9 Art. 1 des Beschlusses 2009/316, der dessen Gegenstand definiert, sieht vor:
„Mit diesem Beschluss wird das Europäische Strafregisterinformationssystem (ECRIS) eingerichtet.
Er legt außerdem Elemente eines Standardformats für den elektronischen Austausch von Strafregisterinformationen zwischen den Mitgliedstaaten fest, das insbesondere Angaben über die Straftat, die der Verurteilung zugrunde liegt, sowie über die Verurteilung selbst … enthält …“
10 Art. 3 („Europäisches Strafregisterinformationssystem [ECRIS]“) des Beschlusses 2009/316 sieht in Art. 1 vor:
„ECRIS ist ein dezentrales Informationstechnologiesystem, das auf den Strafregisterdatenbanken der einzelnen Mitgliedstaaten beruht. Es setzt sich aus folgenden Elementen zusammen:
a)
einer … Verbindungssoftware, die den Austausch von Informationen zwischen den Strafregisterdatenbanken der Mitgliedstaaten ermöglicht;
…“
11 Art. 4 („Datenübertragungsformat“) des Beschlusses 2009/316 bestimmt:
„(1) Bei der Übermittlung von Informationen gemäß Artikel 4 Absätze 2 und 3 und Artikel 7 des Rahmenbeschlusses [2009/315] betreffend die Bezeichnung oder die Qualifikation einer Straftat und die geltenden Rechtsvorschriften nehmen die Mitgliedstaaten Bezug auf den entsprechenden Code für jeden der in der Übermittlung genannten Straftatbestände, wie er in der Tabelle der Straftatbestände in Anhang A vorgesehen ist. …
Die Mitgliedstaaten können auch vorliegende Informationen über den Grad der Tatbestandsverwirklichung und den Grad der Beteiligung an einer Straftat und gegebenenfalls über das Vorliegen einer Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit oder über Rückfalltaten zur Verfügung stellen.
(2) Bei der Übermittlung von Informationen gemäß Artikel 4 Absätze 2 und 3 und Artikel 7 des Rahmenbeschlusses [2009/315], die die Verurteilung selbst, insbesondere die Hauptstrafe, sowie mögliche Nebenstrafen, Maßregeln der Besserung und Sicherung und Folgeentscheidungen, die die Vollstreckung der Strafe abändern, betreffen, nehmen die Mitgliedstaaten Bezug auf den entsprechenden Code für die in der Übermittlung genannten einzelnen Strafen und Maßnahmen, wie er in der Tabelle der Strafen und Maßnahmen in Anhang B vorgesehen ist. …
Die Mitgliedstaaten erteilen gegebenenfalls auch vorliegende Informationen über die Art und/oder die Bedingungen für die Vollstreckung der verhängten Strafen und Maßnahmen, wie sie in den Parametern des Anhangs B vorgesehen sind. …“
Richtlinie 2010/64
12 Die Erwägungsgründe 14, 17 und 22 der Richtlinie 2010/64 lauten:
„(14)
Das Recht von Personen, die die Verfahrenssprache des Gerichts nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ergibt sich aus Artikel 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] in dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie erleichtert die praktische Anwendung dieses Rechts. Zu diesem Zweck zielt diese Richtlinie darauf ab, das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren im Hinblick auf die Wahrung des Rechts dieser Personen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten.
…
(17) Diese Richtlinie sollte gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.
…
(22) Dolmetschleistungen und Übersetzungen nach dieser Richtlinie sollten in der Muttersprache der verdächtigen oder beschuldigten Personen oder einer anderen Sprache, die sie sprechen oder verstehen, zur Verfügung gestellt werden, damit sie ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“
13 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2010/64 sieht in den Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Diese Richtlinie regelt das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.
(2) Das in Absatz 1 genannte Recht gilt für Personen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“
14 Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/64 lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
(2) Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil.“
15 Art. 4 der Richtlinie 2010/64 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten kommen unabhängig vom Verfahrensausgang für die in Anwendung [von Art. 3] entstehenden … Übersetzungskosten auf.“
Ungarisches Recht
16 Art. 46 Abs. 1a des A nemzetközi bűnügyi jogsegélyről szóló 1996. évi XXXVIII. Törvény (Gesetz Nr. XXXVIII von 1996 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, im Folgenden: Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen) bestimmt, dass für das besondere Verfahren zur Anerkennung der Wirksamkeit eines ausländischen Urteils das Gericht am Wohn- oder Aufenthaltsort der beschuldigten Person sachlich und örtlich zuständig ist. Nach Art. 46 Abs. 3 dieses Gesetzes kommen in diesem Verfahren die allgemeinen Vorschriften des A büntetőeljárásról szóló 1998 évi XIX. törvény (Gesetz Nr. XIX von 1998 zur Einführung der Strafprozessordnung, im Folgenden: Strafprozessordnung) über besondere Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende zur Anwendung.
17 Art. 9 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor, dass Ungarisch die Sprache des Strafverfahrens ist.
18 Nach Art. 339 Abs. 1 der Strafprozessordnung trägt der Staat die Kosten, zu deren Tragung die beschuldigte Person nicht verpflichtet ist. Diese wird gemäß Art. 338 Abs. 1 der Strafprozessordnung zur Tragung der Kosten verurteilt, wenn sie schuldig gesprochen wird oder wenn festgestellt wird, dass sie für eine Ordnungswidrigkeit verantwortlich ist.
19 Gemäß Art. 555 Abs. 2 Buchst. j der Strafprozessordnung trägt die beschuldigte Person in den besonderen Verfahren die Kosten, sofern sie zur Tragung der Kosten des Hauptsacheverfahrens verurteilt worden ist.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
20 Mit Urteil vom 13. Mai 2014, das am 8. Oktober 2014 rechtskräftig wurde, verurteilte das Landesgericht Eisenstadt (Österreich) Herrn Balogh, einen ungarischen Staatsangehörigen, wegen schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch zu einer Freiheitsstrafe und erlegte ihm die Kosten des Verfahrens auf. Die zuständigen österreichischen Behörden unterrichteten die Igazságügyi Minisztérium Nemzetközi Büntetőjogi Osztálya (Abteilung für Internationales Strafrecht des ungarischen Justizministeriums, im Folgenden: Abteilung) über den Inhalt dieses Urteils und übersandten es ihr anschließend auf ihr Ersuchen.
21 Die Abteilung übermittelte dieses Urteil dem vorlegenden Gericht in dessen Eigenschaft als das für die Anerkennung seiner Wirksamkeit in Ungarn zuständige Gericht im Einklang mit dem besonderen Verfahren nach dem in Rn. 16 des vorliegenden Urteils angeführten Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Dieses besondere Verfahren, mit dem weder eine erneute Würdigung der Tatsachen oder der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Verurteilten noch eine erneute Verurteilung verbunden ist, dient allein dazu, dem Urteil des ausländischen Gerichts dieselbe Bedeutung zuzuerkennen, die es hätte, wenn es von einem ungarischen Gericht erlassen worden wäre, und ist hierfür unerlässlich.
22 Da das fragliche Urteil in deutscher Sprache abgefasst ist, hat das vorlegende Gericht im Einklang mit dem betreffenden besonderen Verfahren für seine Übersetzung in die Verfahrenssprache, im vorliegenden Fall das Ungarische, zu sorgen.
23 In Anwendung insbesondere von Art. 555 Abs. 2 Buchst. j der Strafprozessordnung, der gemäß Art. 46 Abs. 3 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen auf das betreffende Verfahren anwendbar ist, und Art. 338 Abs. 1 der Strafprozessordnung trägt die zur Tragung der Kosten des Hauptsacheverfahrens verurteilte Person die Kosten der besonderen Verfahren.
24 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass sich in Ungarn in Bezug auf die Übernahme der Übersetzungskosten, die mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besonderen Verfahren verbunden sind, zwei unterschiedliche gerichtliche Praktiken herausgebildet haben.
25 So wurde zum einen angenommen, dass die in der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Unentgeltlichkeit der Übersetzung die besonderen Bestimmungen des ungarischen Rechts unanwendbar mache, so dass an deren Stelle die allgemeine Vorschrift in Art. 9 der Strafprozessordnung trete, wonach einem Beschuldigten ungarischer Staatsangehörigkeit das Recht zustehe, seine Muttersprache zu verwenden. Daraus folge, dass der Staat gemäß Art. 339 Abs. 1 der Strafprozessordnung die Kosten für die Übersetzung der ausländischen Entscheidung zu tragen habe.
26 Zum anderen wurde auch die Auffassung vertreten, dass sich das Hauptsacheverfahren, das mit der Verurteilung des Beschuldigten geendet habe, von dem besonderen Verfahren zur Anerkennung der Wirkungen des Urteils in Ungarn unterscheide, das akzessorischen Charakter habe. Daher müsse der Beschuldigte zwar im Hauptsacheverfahren unentgeltliche sprachliche Unterstützung erhalten, wenn er der Sprache, in der es geführt werde, nicht mächtig sei, doch gelte dies nicht im Rahmen eines akzessorischen Verfahrens für die Übersetzung eines von einem ausländischen Gericht erlassenen Urteils in die Sprache dieses Verfahrens, die der Betroffene beherrsche, denn diese Übersetzung sei für Zwecke des betreffenden Verfahrens und nicht zum Schutz der Rechte des Verurteilten erforderlich.
27 Unter diesen Umständen hat das Budapest Környéki Törvényszék (Bezirksgericht Budapest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Bedeutet die in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 enthaltene Formulierung „Diese Richtlinie regelt das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“, dass die ungarischen Gerichte diese Richtlinie auch in einem besonderen Verfahren (Kapitel XXIX der Strafprozessordnung) anwenden müssen, d. h., dass das im ungarischen Recht vorgesehene besondere Verfahren unter den Begriff „Strafverfahren“ zu subsumieren ist, oder sind unter diesem Begriff nur solche Verfahren zu verstehen, die mit einer rechtskräftigen Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten abgeschlossen werden?
Zur Vorlagefrage
28 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung, um dem Gericht, das ihm eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, eine sachdienliche Antwort zu geben, veranlasst sehen kann, auf unionsrechtliche Vorschriften einzugehen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Außerdem hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2014, SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 23, und vom 11. Februar 2015, Marktgemeinde Straßwalchen u. a., C‑531/13, EU:C:2015:79, Rn. 37).
29 Wie die österreichische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben haben, kann der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unter den Rahmenbeschluss 2009/315 und den Beschluss 2009/316 fallen.
30 Aus der Akte ergibt sich nämlich zum einen, dass die zuständigen österreichischen Behörden im Ausgangsverfahren die Abteilung im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2009/315 im Wege des durch den Beschluss 2009/316 eingeführten ECRIS über die Verurteilung von Herrn Balogh durch das Landesgericht Eisenstadt unterrichteten, damit Ungarn die übermittelten Informationen gemäß Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses speichert.
31 Zum anderen ersuchte die Abteilung die genannten Behörden um Übersendung des vom Landesgericht erlassenen Urteils und übermittelte das Urteil nach dessen Erhalt nach dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besonderen Verfahren im Hinblick auf seine Anerkennung in Ungarn und die Eintragung der Verurteilung in das ungarische Strafregister des Budapest Környéki Törvényszék (Bezirksgericht Budapest). Nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften ist die Durchführung dieses Verfahrens hierfür nämlich unerlässlich.
32 Gemäß Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/315 besteht dessen Zweck gerade darin, u. a. die Modalitäten festzulegen, nach denen der Urteilsmitgliedstaat dem Herkunftsmitgliedstaat Informationen über die in seinem Hoheitsgebiet gegen einen Staatsangehörigen des letztgenannten Mitgliedstaats ergangenen, in das Strafregister des Urteilsmitgliedstaats eingetragenen Verurteilungen für ihre Speicherung durch den Herkunftsmitgliedstaat übermittelt. Ferner besteht der Gegenstand des Beschlusses 2009/316 nach dessen Art. 1 darin, die Elemente des Standardformats für den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten festzulegen.
33 Unter diesen Umständen ist, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, nicht nur der Richtlinie 2010/64, sondern auch dem Rahmenbeschluss 2009/315 und dem Beschluss 2009/316 Rechnung zu tragen, und die Vorlagefrage ist im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen umzuformulieren.
34 Folglich ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, ob die Richtlinie 2010/64 sowie der Rahmenbeschluss 2009/315 und der Beschluss 2009/316 dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass für die Anerkennung, durch das Gericht eines Mitgliedstaats, einer rechtskräftigen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, mit der eine Person wegen der Begehung einer Straftat verurteilt wurde, ein besonderes Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verfahren gilt und dass insbesondere die Kosten für die Übersetzung der fraglichen Entscheidung im Rahmen des betreffenden Verfahrens von dieser Person zu tragen sind.
35 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 21. Mai 2015, Rosselle, C‑65/14, EU:C:2015:339, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Richtlinie 2010/64
36 Zur Auslegung der Richtlinie 2010/64 ist erstens festzustellen, dass sie nach ihrem Art. 1 Abs. 1 das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls regelt. Nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie gilt dieses Recht für die betreffende Person ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt wird, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt ist, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.
37 Ein besonderes Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das die Anerkennung einer rechtskräftigen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats zum Gegenstand hat, findet definitionsgemäß nach der endgültigen Klärung der Frage statt, ob die verdächtige oder beschuldigte Person die Straftat begangen hat, und gegebenenfalls nach ihrer Verurteilung.
38 Zweitens ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2010/64, wie sich insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 14, 17 und 22 ergibt, das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Verfahrenssprache nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen gewährleisten soll, indem die praktische Anwendung dieses Rechts erleichtert wird, um für ein faires Verfahren zu sorgen. Daher haben die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sicherzustellen, dass solche Personen innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller wesentlichen Unterlagen, u. a. des gegen sie ergangenen Urteils, erhalten, damit sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
39 Wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof erläutert hat, wurde Herrn Balogh im August 2015 die Übersetzung des Urteils des Landesgerichts Eisenstadt zugestellt. Unter diesen Umständen war eine erneute Übersetzung dieses Urteils im Rahmen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, zu seiner Anerkennung in Ungarn und zur Eintragung der Verurteilung in das ungarische Strafregister dienenden besonderen Verfahrens zum Schutz der Verteidigungsrechte von Herrn Balogh oder seines Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht erforderlich und folglich nicht aufgrund der mit der Richtlinie 2010/64 verfolgten Ziele gerechtfertigt.
40 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Richtlinie 2010/64 auf ein besonderes Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar ist.
Rahmenbeschluss 2009/315 und Beschluss 2009/316
41 Bei der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2009/315 und des Beschlusses 2009/316 ist insbesondere der Inhalt der Art. 4, 5 und 11 des Rahmenbeschlusses sowie der Inhalt der Art. 3 und 4 des Beschlusses heranzuziehen.
42 Nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/315 unterrichtet die Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats die Zentralbehörden der anderen Mitgliedstaaten so schnell wie möglich über die im Hoheitsgebiet des Urteilsmitgliedstaats ergangenen und dort in das Strafregister eingetragenen Verurteilungen von Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten. Art. 5 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sehen vor, dass die Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats die erhaltenen Informationen speichert.
43 Die Liste der Informationen, die der Urteilsmitgliedstaat dem Herkunftsmitgliedstaat übermittelt, ist in Art. 11 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses enthalten; von der Entscheidung der Gerichte des Urteilsmitgliedstaats ist dort keine Rede.
44 Zudem werden diese Informationen nach Art. 11 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2009/315 zwischen den Mitgliedstaaten auf elektronischem Weg in einem Standardformat ausgetauscht. In den Art. 3 und 4 des Beschlusses 2009/316 heißt es hierzu, dass die Informationen über die Bezeichnung oder die rechtliche Qualifikation der Straftat sowie die Informationen zum Inhalt der Verurteilung zwischen den Zentralbehörden der Mitgliedstaaten mittels des ECRIS in Form der entsprechenden Codes für die in der Übermittlung genannten Straftatbestände und Strafen übermittelt werden.
45 Art. 4 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2009/315 sieht zwar vor, dass der Urteilsmitgliedstaat der Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats auf deren Ersuchen im Einzelfall eine Abschrift der in Betracht kommenden Urteile und nachfolgenden Maßnahmen sowie alle weiteren diesbezüglichen Auskünfte übermittelt, um ihr die Prüfung zu ermöglichen, ob dadurch eine Maßnahme auf nationaler Ebene erforderlich wird.
46 Sowohl aus dem Wortlaut dieser Bestimmung als auch aus der Systematik des gesamten Art. 4 sowie von Art. 11 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ergibt sich jedoch, dass das Urteil nur dann der Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats übermittelt wird, wenn besondere Umstände dies erfordern, und dass die Übermittlung nicht systematisch zwecks Eintragung der Verurteilung in das Strafregister dieses Mitgliedstaats verlangt werden kann.
47 Aus den Angaben der ungarischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergibt sich aber, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende besondere Verfahren systematisch angewandt wird und dass im vorliegenden Fall kein besonderer Umstand die Anwendung dieses Verfahrens auf die Anerkennung des vom Landesgericht Eisenstadt gegen Herrn Balogh erlassenen Urteils – und in diesem Rahmen ein Ersuchen um dessen Übermittlung – rechtfertigte. Daher ließ sich das Ersuchen nicht mit Art. 4 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2009/315 rechtfertigen.
48 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Zentralbehörde des Herkunftsmitgliedstaats nach dem Rahmenbeschluss 2009/315 und dem Beschluss 2009/316 Verurteilungen durch die Gerichte des Urteilsmitgliedstaats unmittelbar auf der Grundlage der hierzu in Form von Codes von der Zentralbehörde des Urteilsmitgliedstaats über das ECRIS übermittelten Angaben in das Strafregister eintragen muss.
49 Unter diesen Umständen darf die Eintragung nicht von der vorherigen Durchführung eines Verfahrens zur gerichtlichen Anerkennung der Verurteilungen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besonderen Verfahren und erst recht nicht von der Übermittlung des Urteils an den Herkunftsmitgliedstaat zum Zweck einer solchen Anerkennung abhängen.
50 Diese Auslegung wird durch die mit dem Rahmenbeschluss 2009/315 und dem Beschluss 2009/316 verfolgten Ziele bestätigt.
51 Wie sich nämlich insbesondere aus den Erwägungsgründen 2, 3, 5 und 17 des Rahmenbeschlusses sowie aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 12 des Beschlusses ergibt, bestehen die Ziele des durch diese Rechtsakte eingeführten Systems zum Informationsaustausch darin, zur Erleichterung der Rechtshilfe und zur Gewährleistung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen die Verfahren für die Übermittlung von Dokumenten zwischen den Mitgliedstaaten zu vereinfachen, den Austausch von Informationen aus dem Strafregister zwischen ihnen zu verbessern und weiter zu vereinfachen und die Wirksamkeit dieses Austausches zu verstärken; hierfür soll ein europäisches Standardformat entwickelt werden, das den Austausch der Informationen in einer einheitlichen, elektronischen und verständlichen Form ermöglicht, die eine automatisierte Übersetzung dieser Informationen mit Hilfe von Standardformblättern und Codes erleichtert.
52 Wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zielen der Rahmenbeschluss 2009/315 und der Beschluss 2009/316 somit auf die Einführung eines schnellen und effizienten Systems zum Austausch von Informationen über die in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Union ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen ab.
53 Ein Verfahren zur Anerkennung von Verurteilungen durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das der Eintragung dieser Verurteilungen in das Strafregister vorausgeht und zudem die Übermittlung und Übersetzung dieser Entscheidungen voraussetzt, kann aber die Eintragung erheblich verzögern, den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erschweren, dem im Beschluss 2009/316 vorgesehenen Übersetzungsmechanismus seinen Nutzen nehmen und dadurch die Verwirklichung der mit dem Rahmenbeschluss 2009/315 und dem Beschluss 2009/316 verfolgten Ziele gefährden.
54 Außerdem verstößt ein solches Verfahren generell gegen den in Art. 82 Abs. 1 AEUV – der Art. 31 EU ersetzt hat, auf den sich der Rahmenbeschluss 2009/315 und der Beschluss 2009/316 stützen – vorgesehenen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen in Strafsachen. Zu diesem Grundsatz steht es nämlich in Widerspruch, wenn die Anerkennung von Entscheidungen der Gerichte eines Mitgliedstaats durch einen anderen Mitgliedstaat dort von der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besonderen Verfahrens abhängig gemacht wird.
55 Aus alledem folgt, dass der Rahmenbeschluss 2009/315 und der Beschluss 2009/316 der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstehen, mit der für die Anerkennung einer von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassenen Entscheidung ein besonderes Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende geschaffen wird.
56 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:
—
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 ist dahin auszulegen, dass die Richtlinie nicht auf ein besonderes innerstaatliches Verfahren für die Anerkennung, durch das Gericht eines Mitgliedstaats, einer rechtskräftigen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden ist, mit der eine Person wegen der Begehung einer Straftat verurteilt wurde.
—
Der Rahmenbeschluss 2009/315 und der Beschluss 2009/316 sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung einer nationalen Regelung, mit der ein solches besonderes Verfahren geschaffen wird, entgegenstehen.
Kosten
57 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass die Richtlinie nicht auf ein besonderes innerstaatliches Verfahren für die Anerkennung, durch das Gericht eines Mitgliedstaats, einer rechtskräftigen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden ist, mit der eine Person wegen der Begehung einer Straftat verurteilt wurde.
Der Rahmenbeschluss 2009/315/JI des Rates vom 26. Februar 2009 über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten und der Beschluss 2009/316/JI des Rates vom 6. April 2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) gemäß Artikel 11 des Rahmenbeschlusses 2009/315 sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung einer nationalen Regelung, mit der ein solches besonderes Verfahren geschaffen wird, entgegenstehen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 26. Mai 2016.#Charles Kohll und Sylvie Kohll-Schlesser gegen Directeur de l'administration des contributions directes.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal administratif.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 21 und 45 AEUV – Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Personen und Arbeitnehmer – Einkommensteuer – Ruhegehalt – Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger – Voraussetzungen für die Gewährung – Besitz einer von der nationalen Verwaltung ausgestellten Lohnsteuerkarte.#Rechtssache C-300/15.
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62015CJ0300
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ECLI:EU:C:2016:361
| 2016-05-26T00:00:00 |
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0300
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
26. Mai 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 21 und 45 AEUV — Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Personen und Arbeitnehmer — Einkommensteuer — Ruhegehalt — Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger — Voraussetzungen für die Gewährung — Besitz einer von der nationalen Verwaltung ausgestellten Lohnsteuerkarte“
In der Rechtssache C‑300/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) mit Entscheidung vom 16. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2015, in dem Verfahren
Charles Kohll,
Sylvie Kohll-Schlesser
gegen
Directeur de l’administration des contributions directes
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter A. Borg Barthet und E. Levits (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und C. Soulay als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2016
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 45 AEUV.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei in Luxemburg ansässigen Ruhegehaltsempfängern, Herrn Charles Kohll und Frau Sylvie Kohll-Schlesser, einerseits und dem Directeur de l’administration des contributions directes (Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben, im Folgenden: Directeur) andererseits wegen dessen Weigerung, Herrn Kohll eine Steuergutschrift für die Steuerjahre 2009 bis 2011 zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Luxemburgisches Recht
3 Art. 96 Abs. 1 des geänderten Gesetzes vom 4. Dezember 1967 über die Einkommensteuer (Memorial A 1967, S. 1228, im Folgenden: LIR) bestimmt in der für den Ausgangssachverhalt maßgeblichen Fassung:
„Als Einkünfte aus Pensionen oder Renten gelten:
1. Ruhegelder und Überlebensrenten aus einem früheren Dienstverhältnis und sonstige Bezüge und Vorteile aus einem früheren Dienstverhältnis, selbst wenn diese nicht laufend oder wenn diese freiwillig gewährt werden;
2. Renten, Pensionen oder sonstige wiederkehrende Bezüge und Nebenleistungen aus einer autonomen Pensionskasse, die ganz oder zum Teil mit Beiträgen der Versicherten gespeist wurde, sowie die Erziehungspauschale und die in Artikel 96a genannten Renten;
…“
4 Art. 139ter LIR, der in dieses Gesetz durch Art. 1 Nr. 24 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 (Memorial A 2008, S. 2622) eingefügt wurde, lautet:
„(1)
Jedem Steuerpflichtigen, der in Luxemburg zu versteuernde Einkünfte aus Pensionen oder Renten im Sinne von Artikel 96 [Absatz 1 Ziffern] 1 und 2 erzielt und im Besitz einer Lohnsteuerkarte ist, wird eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (crédit d’impôt pour pensionnés, CIP) erteilt. Die Steuergutschrift wird für alle dem Steuerpflichtigen gewährten Pensionen und Renten insgesamt nur einmal gewährt.
(2) Die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger beträgt 300 Euro jährlich. Der Monatsbetrag beläuft sich auf 25 Euro. Die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger ist auf den Zeitraum begrenzt, in dem der Steuerpflichtige Einkünfte aus Pensionen oder Renten im Sinne und unter den Voraussetzungen [von Absatz 1] erzielt. Sie wird von der Pensionskasse oder einem anderen Pensionsschuldner in dem Steuerjahr, auf das sie sich bezieht, nach den Modalitäten der [in Absatz] 4 genannten Großherzoglichen Verordnung gezahlt. Für Einkünfte unter 300 Euro jährlich oder 25 Euro monatlich wird keine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger gewährt. Der Ruhegehaltsempfänger hat ausschließlich im Rahmen des von der Pensionskasse oder einem anderen Pensionsschuldner ordnungsgemäß aufgrund einer Lohnsteuerkarte vorgenommenen Steuerabzugs von Löhnen und Gehältern Anspruch auf Anrechnung und Erstattung der Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger.
(3) Die Pensionskasse oder der andere Pensionsschuldner, die bzw. der die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger und die Steuergutschrift für Alleinerziehende erteilt hat, ist berechtigt, die Gutschriften mit dem Saldo der einbehaltenen Steuern zu verrechnen oder gegebenenfalls die Rückgewähr der im Voraus erteilten Steuergutschriften entsprechend den Modalitäten der [in Absatz] 4 genannten Großherzoglichen Verordnung zu verlangen.
(4) Die Modalitäten der Anwendung des vorliegenden Artikels können in einer Großherzoglichen Verordnung näher bestimmt werden.“
5 In Art. 143 Abs. 1 LIR heißt es:
„Außer in den durch Großherzogliche Verordnung vorzusehenden Fällen wird für jeden Arbeitnehmer eine Lohnsteuerkarte mit den für die Anwendung des Steuersatzes erforderlichen Angaben ausgestellt, in die Folgendes eingetragen wird:
a)
von der Steuerverwaltung die bei der Festsetzung der Steuer zu beachtenden Sondervorschriften;
b)
vom Arbeitgeber die gewährten Vergütungen, vorgenommenen Einbehalte und erteilten Steuergutschriften.
…“
6 Art. 144 LIR sieht vor:
„Die Bestimmungen der Artikel 136 bis 143 gelten entsprechend für die in Artikel 96 [Absatz 1] Ziffern 1 und 2 genannten Renten und Pensionen. Die Anpassungsmaßnahmen werden durch Großherzogliche Verordnung festgelegt.“
7 In Art. 1 Abs. 1 der Großherzoglichen Verordnung vom 19. Dezember 2008 zur Regelung der Anwendungsmodalitäten für die Gewährung der Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (Memorial A 2008, S. 2645) heißt es:
„Die Pensionskasse oder der andere Pensionsschuldner gewährt die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (CIP) den Ruhegehaltsempfängern, die über eine Lohnsteuerkarte verfügen, in der die CIP eingetragen ist. Ist in der Lohnsteuerkarte keine Steuergutschrift eingetragen oder verfügt der Ruhegehaltsempfänger nicht über eine Lohnsteuerkarte, darf die Pensionskasse oder der andere Pensionsschuldner keine Steuergutschrift gewähren.
…“
Abkommen zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
8 Das am 8. Mai 1968 in Den Haag unterzeichnete Abkommen zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerflucht auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen in der für den Ausgangssachverhalt maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Doppelbesteuerungsabkommen) sieht in Art. 19 vor, dass vorbehaltlich des Art. 20 Abs. 1 des Abkommens Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen, die einer in einem der Staaten ansässigen Person für frühere unselbständige Arbeit gezahlt werden, nur in diesem Staat besteuert werden können.
9 Nach Art. 20 Abs. 1 des Abkommens werden Vergütungen einschließlich Ruhegehältern, die einer natürlichen Person von einem Vertragsstaat, dessen politischen Untergliederungen, Gebietskörperschaften oder anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts unmittelbar oder aus von ihnen gebildeten Vermögen für die diesem Staat, dieser Untergliederung, dieser Gebietskörperschaft oder dieser anderen Person des öffentlichen Rechts in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben geleisteten Dienste gezahlt werden, in diesem Staat besteuert.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
10 Herr Kohll und seine Ehefrau Sylvie Kohll-Schlesser besitzen beide die luxemburgische Staatsangehörigkeit und sind in Luxemburg ansässig. Herr Kohll bezieht zwei Ruhegehälter aus den Niederlanden, eines von der Shell International BV und eines von der Sociale Verzekeringsbank (Sozialversicherungsanstalt). Frau Kohll-Schlesser bezieht ebenfalls ein Ruhegehalt von der Sozialversicherungsanstalt.
11 Am 20. Februar 2013 legte Herr Kohll gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2009 bis 2011 Einspruch ein, weil ihm die luxemburgische Steuerverwaltung die in Art. 139ter LIR vorgesehene Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (im Folgenden: Steuergutschrift) nicht gewährt hatte.
12 Mit Entscheidung vom 23. September 2013 wies der Directeur den Einspruch von Herrn Kohll zurück, und zwar in Bezug auf die Einkünfte des Jahres 2009 als verspätet und folglich unzulässig und in Bezug auf die Einkünfte der Jahre 2010 und 2011 mit der Begründung, dass Herr Kohll keinen Anspruch auf die Steuergutschrift habe. Für diese Jahre erhob er Einkommensteuer von ihm nach.
13 Am 10. Dezember 2013 erhoben Herr Kohll und Frau Kohll-Schlesser beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg), Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung des Directeur.
14 Das vorlegende Gericht hält die Klage von Frau Kohll-Schlesser, die zuvor selbst keinen Einspruch beim Directeur eingelegt hatte, für unzulässig, die Klage von Herrn Kohll aber für zulässig. Herr Kohll macht u. a. geltend, dass Art. 139ter LIR nicht mit dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEUV vereinbar sei.
15 Das vorlegende Gericht führt aus, die Steuergutschrift werde jedem Steuerpflichtigen erteilt, der Einkünfte aus Pensionen oder Renten im Sinne von Art. 96 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 LIR erziele, sofern diese im Großherzogtum Luxemburg zu versteuern seien und der Steuerpflichtige im Besitz einer Lohnsteuerkarte sei.
16 Zwar seien die Pensionen, um die es in der bei ihm anhängigen Rechtssache gehe, in Luxemburg zu versteuern, doch sei Herrn Kohll unstreitig keine Lohnsteuerkarte für die Pensionen ausgestellt worden, für die er Anspruch auf die Steuergutschrift erhebe.
17 Insoweit könne Art. 139ter LIR zu einer mittelbaren Diskriminierung führen, da er die Gewährung der Steuergutschrift davon abhängig mache, dass der potenzielle Empfänger eine Lohnsteuerkarte besitze. Die Steuergutschrift werde jedoch Personen, die Arbeitsentgelte oder Pensionen ohne Quellensteuerabzug, wie etwa Pensionen ausländischen Ursprungs, bezögen, nicht gewährt.
18 Unter diesen Voraussetzungen hat das Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht der namentlich in Art. 45 AEUV niedergelegte Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer Art. 139ter Abs. 1 LIR entgegen, soweit die darin geregelte Steuergutschrift Personen vorbehalten ist, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind?
Zur Vorlagefrage
19 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Steuervorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen nur Steuerpflichtige, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind, eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger erhalten.
Zu der in Rede stehenden Freiheit
20 Zunächst ist zu prüfen, ob Art. 45 AEUV, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens herangezogen werden kann, in dem es darum geht, wie Ruhegehälter, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Schuldner bezieht, im erstgenannten Mitgliedstaat steuerlich zu behandeln sind.
21 Die luxemburgische Regierung zweifelt nämlich daran, ob diese Bestimmung im Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, und die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass sie nur anwendbar wäre, wenn Herr Kohll vor seinem Eintritt in den Ruhestand in Luxemburg ansässig geworden wäre, um in diesem Mitgliedstaat eine Beschäftigung zu suchen oder auszuüben. Art. 45 AEUV sei nicht auf die Situation von Herrn Kohll anwendbar, wenn er zum Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes nach Luxemburg bereits Ruhegehaltsempfänger gewesen sei und nicht beabsichtigt habe, dort eine Berufstätigkeit auszuüben.
22 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass jeder Unionsbürger, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV fällt (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen, C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Hinsichtlich des Ruhegehalts, das Herr Kohll von Shell International bezieht, ist unstreitig, dass er es aufgrund seiner früheren unselbständigen Beschäftigung in den Niederlanden – einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehört und in dem er zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit wohnte – erhält.
24 Da Herr Kohll eine unselbständige Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat ausübte, hat er von dem in Art. 45 AEUV vorgesehenen Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht.
25 Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Umstand, dass eine Person nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis steht, die Garantie bestimmter, mit der Arbeitnehmereigenschaft zusammenhängender Rechte nicht beeinträchtigt und dass eine Altersrente, deren Gewährung vom früheren Bestehen eines Arbeitsverhältnisses abhängig ist, unter diese Kategorie von Rechten fällt. Das Recht auf die Rente steht nämlich in unauflöslichem Zusammenhang mit der objektiven Arbeitnehmereigenschaft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2000, Sehrer, C‑302/98, EU:C:2000:322, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Die Situation eines Steuerpflichtigen wie Herr Kohll, der ein Ruhegehalt bezieht, das aufgrund der von ihm in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehört und in dem er zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit wohnte, ausgeübten unselbständigen Beschäftigung gezahlt wird, unterscheidet sich somit von der einer Person, die ihre gesamte berufliche Laufbahn in dem Mitgliedstaat, dem sie angehört, zurückgelegt und vom Recht zum Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erst nach ihrem Eintritt in den Ruhestand Gebrauch gemacht hat und die sich daher nicht auf die durch Art. 45 AEUV garantierte Freizügigkeit berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2006, Turpeinen, C‑520/04, EU:C:2006:703, Rn. 16).
27 Diese Erwägung steht auch nicht im Widerspruch zum Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C‑632/13, EU:C:2015:765), in dessen Rn. 21 der Gerichtshof entschieden hat, dass sich ein Rentner, der den Mitgliedstaat, in dem er sein gesamtes Erwerbsleben verbracht hat, verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, auf sein Recht auf Freizügigkeit als Unionsbürger gemäß Art. 21 AEUV berufen kann, wenn seine Situation nicht unter die durch Art. 45 AEUV gewährleistete Freizügigkeit fällt.
28 Folglich kann sich ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Bürger wie Herr Kohll in Bezug auf ein Ruhegehalt aufgrund seiner früheren unselbständigen Beschäftigung in einem Mitgliedstaat, dem er nicht angehört und in dem er zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit wohnte, auf Art. 45 AEUV berufen, unabhängig davon, ob er sich, nachdem er in diesem anderen Mitgliedstaat tätig war, in seinem Herkunftsmitgliedstaat niedergelassen hat, um dort eine Beschäftigung zu suchen oder auszuüben.
29 In Bezug auf das Herrn Kohll von der Sozialversicherungsanstalt gezahlte Ruhegehalt geht aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte hervor, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens unterschiedlicher Auffassung darüber sind, auf welcher Rechtsgrundlage dieses Ruhegehalt dem Betroffenen gewährt wird und ob das Großherzogtum Luxemburg es in Anbetracht von Art. 20 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens besteuern darf.
30 Das vorlegende Gericht führt aus, dieses Ruhegehalt werde jeder Person gewährt, die in den Niederlanden ansässig gewesen sei, unabhängig davon, ob sie einer unselbständigen Beschäftigung nachgegangen sei. Gleichwohl fällt es seiner Ansicht nach unter Art. 19 des Doppelbesteuerungsabkommens, obwohl diese Bestimmung die für eine unselbständige Beschäftigung gezahlten Ruhegehälter betrifft.
31 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die Rechtsgrundlage zu bestimmen, aufgrund deren die Sozialversicherungsanstalt Herrn Kohll dieses Ruhegehalt zahlt, und insbesondere zu prüfen, ob es, auch wenn es a priori jeder in den Niederlanden ansässigen Person gewährt wird, Herrn Kohll im vorliegenden Fall gleichwohl aufgrund seiner unselbständigen Beschäftigung in den Niederlanden gewährt wurde oder ob seine Höhe von der Arbeitnehmereigenschaft des Betroffenen abhängt. Falls dies zu bejahen ist, könnte im Ausgangsrechtsstreit aus den in den Rn. 23 bis 28 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen Art. 45 AEUV herangezogen werden.
32 Sollte dagegen weder die Pflicht der Sozialversicherungsanstalt, Herrn Kohll ein Ruhegehalt zu zahlen, noch dessen Höhe von der Arbeitnehmereigenschaft des Betroffenen abhängen, sondern davon, dass er in den Niederlanden ansässig war, könnte Art. 21 AEUV herangezogen werden, der allgemein vorsieht, dass jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.
33 Da im Ausgangsrechtsstreit sowohl Art. 21 AEUV als auch Art. 45 AEUV anwendbar sein können, sind beide Bestimmungen auszulegen.
34 Insoweit hindert der Umstand, dass das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage nur Art. 45 AEUV angeführt hat, den Gerichtshof nicht daran, auch Art. 21 AEUV auszulegen.
35 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann er nämlich, um dem Gericht, das um Vorabentscheidung ersucht, sachdienlich zu antworten, auf unionsrechtliche Vorschriften eingehen, die das nationale Gericht in seinen Vorlagefragen nicht angeführt hat (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen, C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum Vorliegen einer Beschränkung
36 Erstens ist in Bezug auf Art. 45 AEUV darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, auch wenn sie nach ihrem Wortlaut insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, es zugleich verbieten, dass der Herkunftsmitgliedstaat die freie Annahme und Ausübung einer Beschäftigung durch einen seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen, C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im vorliegenden Fall wird nach dem nationalen Recht die Steuergutschrift Steuerpflichtigen gewährt, die Einkünfte aus einem in Luxemburg zu versteuernden Ruhegehalt in Höhe von mindestens 300 Euro jährlich oder 25 Euro monatlich erzielen und im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind.
38 Wie das vorlegende Gericht klargestellt hat, wird dem Empfänger eines Ruhegehalts aber keine Lohnsteuerkarte ausgestellt, wenn es zwar in Luxemburg zu versteuern ist, in diesem Mitgliedstaat aber keiner Quellenbesteuerung unterliegt, insbesondere weil der Schuldner des Ruhegehalts in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.
39 Folglich wird der in der Steuergutschrift bestehende Steuervorteil den in Luxemburg ansässigen Steuerpflichtigen, deren in diesem Mitgliedstaat zu versteuernde Ruhegehälter aus einem anderen Mitgliedstaat stammen, nicht gewährt.
40 Indem die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die in Luxemburg ansässigen Steuerpflichtigen je nach dem Mitgliedstaat, aus dem die von ihnen bezogenen und in Luxemburg zu versteuernden Ruhegehälter stammen, unterschiedlich behandeln und Steuerpflichtigen, deren Ruhegehaltsschuldner im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig ist, den Vorteil der Steuergutschrift verweigern, sind sie geeignet, Arbeitnehmer davon abzuhalten, eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Großherzogtum Luxemburg zu suchen oder anzunehmen.
41 Solche Rechtsvorschriften stellen daher eine nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar.
42 Zweitens geht in Bezug auf Art. 21 AEUV aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass nationale Rechtsvorschriften, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligen, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten darstellen, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C‑359/13, EU:C:2015:118, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Die vom Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen könnten nämlich nicht ihre volle Wirkung entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die ihn allein deshalb ungünstiger stellt, weil er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat (Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C‑359/13, EU:C:2015:118, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Da im vorliegenden Fall der in der Steuergutschrift bestehende Steuervorteil dem luxemburgischen Steuerpflichtigen verweigert wird, der von seiner Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat als den, dem er angehört, zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat und aufgrund seines Aufenthalts im anderen Mitgliedstaat ein von einem dort ansässigen Schuldner gezahltes Ruhegehalt bezieht, wird dieser luxemburgische Steuerpflichtige gegenüber Steuerpflichtigen benachteiligt, die von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, keinen Gebrauch gemacht haben. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften, die eine solche Ungleichbehandlung bewirken, sind geeignet, einen Steuerpflichtigen davon abzuhalten, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, und stellen daher eine Beschränkung der durch Art. 21 AEUV anerkannten Freiheiten dar.
Zum Vorliegen einer Rechtfertigung
45 Solche Beschränkungen sind nur statthaft, wenn sie Situationen betreffen, die nicht objektiv vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind (vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2015, Timac Agro Deutschland, C‑388/14, EU:C:2015:829, Rn. 26).
46 Zur objektiven Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen ist darauf hinzuweisen, dass die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, X Holding, C‑337/08, EU:C:2010:89, Rn. 22, und vom 6. September 2012, Philips Electronics UK, C‑18/11, EU:C:2012:532, Rn. 17).
47 Insoweit macht die luxemburgische Regierung geltend, die Steuergutschrift sei eingeführt worden, um eine selektive Steuerpolitik zugunsten der Personen aus den schutzbedürftigsten Bevölkerungsschichten zu verfolgen, indem ihnen durch den Steuervorteil ein höheres verfügbares Einkommen verschafft werde.
48 Ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der ein aus einem anderen Mitgliedstaat stammendes Ruhegehalt bezieht, befindet sich im Hinblick auf dieses Ziel aber nicht zwingend in einer anderen Situation als ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der ein solches Ruhegehalt von einem in seinem Wohnsitzstaat ansässigen Schuldner bezieht, da beide Steuerpflichtige zu den schutzbedürftigsten Bevölkerungsschichten gehören können.
49 Die Rechtfertigung der Beschränkung kann sich deshalb nur aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses ergeben. In diesem Fall muss die Beschränkung zudem geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 17. Dezember 2015, Timac Agro Deutschland, C‑388/14, EU:C:2015:829, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Insoweit macht die luxemburgische Regierung geltend, das System der Steuergutschrift sei durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Kohärenz des nationalen Steuersystems zu wahren, indem es vorsehe, dass eine anrechenbare und erstattbare Steuergutschrift in effektiver, gerechter und durchführbarer Weise gewährt werde, ohne insbesondere einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu verursachen.
51 Zum einen sei allein dieses System der Steuergutschrift praktikabel, ohne übermäßige administrative Zwänge für die Behörden, die Schuldner der fraglichen Einkünfte und die Bürger zu verursachen. Denn nur die mit der Zahlung der Ruhegehälter und der Abführung des Steuerabzugs an die Staatskasse betrauten nationalen Einrichtungen verfügten über Informationen auf dem neuesten Stand, die eine effektive, gerechte und angemessene Gewährung der Steuergutschrift ermöglichten, und seien in der Lage, die Steuergutschrift den betreffenden Steuerpflichtigen unmittelbar und effektiv anzurechnen oder zu erstatten.
52 Zum anderen sei dieses System zur Wahrung der Kohärenz des nationalen Steuersystems als Ganzes notwendig; im luxemburgischen Recht bestehe eine Verbindung zwischen dem System zur Erhebung der Steuer, im vorliegenden Fall dem Steuerabzug bei Einkünften aus Pensionen im Sinne von Art. 96 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 LIR, und der Steuergutschrift.
53 Was erstens die von der luxemburgischen Regierung angeführten administrativen und praktischen Erwägungen anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in der Tat bereits entschieden hat, dass den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit abgesprochen werden kann, legitime Ziele durch die Einführung von Vorschriften zu verfolgen, die von den zuständigen Behörden einfach gehandhabt und kontrolliert werden können (Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora, C‑512/13, EU:C:2015:108, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Im Ausgangsverfahren wird jedoch weder das auf der Quellenbesteuerung beruhende System noch die Angemessenheit und Praktikabilität der Ausstellung einer Lohnsteuerkarte angefochten, sondern es geht darum, dass dem betreffenden Steuerpflichtigen, wenn er keine Lohnsteuerkarte vorlegen kann, ein Steuervorteil kategorisch versagt wird, selbst wenn er die übrigen Voraussetzungen für dessen Erlangung erfüllt.
55 Es lässt sich aber nicht von vornherein ausschließen, dass ein Steuerpflichtiger Belege vorlegen kann, anhand deren die Finanzbehörden des Besteuerungsmitgliedstaats eindeutig und genau prüfen können, ob und welche Ruhegehaltseinkünfte aus einem anderen Mitgliedstaat bezogen wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Januar 2009, Persche, C‑318/07, EU:C:2009:33, Rn. 53).
56 Nichts würde nämlich die beteiligten Finanzbehörden daran hindern, vom Steuerpflichtigen alle Belege zu verlangen, die ihnen für die Beurteilung der Frage notwendig erscheinen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung des genannten Vorteils nach den einschlägigen Rechtsvorschriften erfüllt sind und ob der verlangte Vorteil demnach gewährt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Januar 2009, Persche, C‑318/07, EU:C:2009:33, Rn. 54).
57 Die luxemburgische Regierung hat insoweit nicht angegeben, aus welchen Gründen es nicht möglich sein soll, sich auf die von einem Steuerpflichtigen, der die Steuergutschrift beansprucht, gegebenen Informationen zu stützen.
58 Zudem hat sich die luxemburgische Regierung, wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zwar auf administrative Zwänge und deren Unverhältnismäßigkeit berufen, ist aber hinsichtlich deren genauer Art vage geblieben.
59 Der Gerichtshof hat jedenfalls bereits entschieden, dass praktische Schwierigkeiten allein keine Verletzung einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen können (Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C‑233/09, EU:C:2010:397, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Zweitens kann die Notwendigkeit, die Kohärenz eines Steuersystems zu wahren, zwar eine Beschränkung der Ausübung der vom Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten rechtfertigen, doch kann ein auf diesen Rechtfertigungsgrund gestütztes Argument nur dann Erfolg haben, wenn zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, wobei die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs anhand des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels beurteilt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C‑233/09, EU:C:2010:397, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Im vorliegenden Fall hat die luxemburgische Regierung aber nicht geltend gemacht, dass zwischen der Steuergutschrift und einer bestimmten steuerlichen Belastung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, da die aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Ruhegehälter ebenso wie Ruhegehälter luxemburgischen Ursprungs in Luxemburg zu versteuern sind. Sie stützt sich vielmehr auf das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen der Steuergutschrift und einer Steuererhebungstechnik – der Quellenbesteuerung –, die nur auf Ruhegehälter angewandt wird, deren Schuldner in Luxemburg ansässig ist. Folglich wird der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuervorteil nicht im Sinne der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung durch eine bestimmte steuerliche Belastung ausgeglichen.
62 Daher ist festzustellen, dass die nach den Art. 21 und 45 AEUV grundsätzlich verbotenen Beschränkungen, die sich aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Steuervorschriften ergeben, nicht mit den von der luxemburgischen Regierung angegebenen Gründen gerechtfertigt werden können.
63 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 21 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Steuervorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen nur Steuerpflichtige, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind, eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger erhalten.
Kosten
64 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 21 und 45 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Steuervorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen nur Steuerpflichtige, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind, eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger erhalten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 7. April 2016.#Office national de l'emploi (ONEm) gegen M. und M. gegen Office national de l’emploi (ONEm) und Caisse auxiliaire de paiement des allocations de chômage (CAPAC).#Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Bruxelles.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 45 und 48 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 2 – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 67 Abs. 3 – Soziale Sicherheit – Arbeitslosengeld zur Ergänzung des Einkommens aus einer Teilzeitbeschäftigung – Gewährung dieser Leistung – Zurücklegung von Beschäftigungszeiten – Zusammenrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten – Berücksichtigung von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten.#Rechtssache C-284/15.
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62015CJ0284
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ECLI:EU:C:2016:220
| 2016-04-07T00:00:00 |
Gerichtshof, Wahl
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62015CJ0284
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
7. April 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 45 AEUV und 48 AEUV — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 15 Abs. 2 — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 67 Abs. 3 — Soziale Sicherheit — Arbeitslosengeld zur Ergänzung des Einkommens aus einer Teilzeitbeschäftigung — Gewährung dieser Leistung — Zurücklegung von Beschäftigungszeiten — Zusammenrechnung der Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeiten — Berücksichtigung von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeiten“
In der Rechtssache C‑284/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Bruxelles (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 27. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juni 2015, in dem Verfahren
Office national de l’emploi (ONEm)
gegen
M.
und
M.
gegen
Office national de l’emploi (ONEm),
Caisse auxiliaire de paiement des allocations de chômage (CAPAC)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter S. Rodin (Berichterstatter) und E. Regan,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
—
der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. S. Wolff als Bevollmächtigte,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch O. Segnana und A. Norberg als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 67 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), sowie die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit den Art. 45 AEUV, 48 AEUV und 15 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen zweier vor dem vorlegenden Gericht verbundener Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Office national de l’emploi (ONEm) (im Folgenden: ONEm) und Herrn M. sowie diesem und dem ONEm und der Caisse auxiliaire de paiement des allocations de chômage (CAPAC) wegen der Zahlung von Arbeitslosengeld und einer Zulage zur Gewährleistung des Einkommens.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 3 („Gleichbehandlung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
„Die Personen, für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“
4 Art. 67 („Zusammenrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten“) dieser Verordnung hat folgenden Wortlaut:
„(1) Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, die Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als handelte es sich um Versicherungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind; für Beschäftigungszeiten gilt dies jedoch unter der Voraussetzung, dass sie als Versicherungszeiten gegolten hätten, wenn sie nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären.
(2) Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Beschäftigungszeiten abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, die Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeiten, die als Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als handelte es sich um Beschäftigungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind.
(3) Absätze 1 und 2 gelten außer in den in Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe a) Ziffer ii) und Buchstabe b) Ziffer ii) genannten Fällen nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person unmittelbar zuvor
—
im Fall des Absatzes 1 Versicherungszeiten,
—
im Fall des Absatzes 2 Beschäftigungszeiten
nach den Rechtsvorschriften zurückgelegt hat, nach denen die Leistungen beantragt werden.
(4) Ist die Dauer der Leistungsgewährung von der Dauer von Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten abhängig, so findet Absatz 1 oder Absatz 2 entsprechend Anwendung.“
Belgisches Recht
5 Art. 29 Abs. 2 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit (Arrêté royal portant réglementation du chômage, Moniteur belge vom 31. Dezember 1991, S. 29888) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Königliche Verordnung vom 25. November 1991) lautet wie folgt:
„Als Teilzeitbeschäftigter unter Wahrung der Rechtsansprüche gilt ab Aufnahme seiner Teilzeitbeschäftigung ein Arbeitnehmer, der in ein Arbeitsverhältnis eingetreten ist, das nicht unter Art. 28 Abs. 1 oder 3 fällt und dessen Wochenarbeitszeit der Regelung des Art. 11bis Abs. 4 ff. des Gesetzes vom 3. Juli 1978 über Arbeitsverträge entspricht, sofern
1°
a)
zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Teilzeitbeschäftigung aufgenommen hat, alle Voraussetzungen für die Zulässigkeit und Bewilligung der Geldleistungen als Vollzeitbeschäftigter erfüllt waren …
…“
6 Das belgische Recht unterwirft die Bewilligung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld als Vollzeitbeschäftigter bestimmten Voraussetzungen, darunter in Art. 30 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 die Erfüllung einer bestimmten Anzahl von Arbeitstagen innerhalb eines Bezugszeitraums vor dem Antrag auf Arbeitslosengeld.
7 Art. 37 Abs. 2 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 sieht vor:
„Im Ausland geleistete Arbeit wird berücksichtigt, wenn sie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses geleistet wurde, das in Belgien zur Einbehaltung von Abgaben für die Sozialversicherung, einschließlich solcher für den Sektor Arbeitslosigkeit, führen würde.
Abs. 1 gilt jedoch nur, wenn der Arbeitnehmer, nachdem er im Ausland gearbeitet hat, Arbeitszeiten als abhängig Beschäftigter nach den belgischen Rechtsvorschriften zurückgelegt hat.“
8 Nach Art. 131bis Abs. 1 der Königlichen Verordnung vom 25. November 1991 kann der Teilzeitbeschäftigte unter Wahrung der Rechtsansprüche während der Dauer seiner Teilzeitbeschäftigung unter bestimmten Voraussetzungen eine besondere Zulage erhalten, die „Zulage zur Gewährleistung des Einkommens“ genannt wird.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 Herr M., ein Musiker mit tschechischer Staatsangehörigkeit, war bis zum 27. April 2008 in der Tschechischen Republik auf der Grundlage eines Vollzeitarbeitsvertrags beschäftigt. Nach seinem Umzug nach Belgien ließ er sich am 10. Mai 2008 in diesem Mitgliedstaat als Arbeitsuchender registrieren.
10 Am 27. Mai 2008 beantragte Herr M. die Zahlung von Arbeitslosengeld ab dem 13. Mai 2008, dem jedoch nicht stattgegeben wurde.
11 Am 9. September 2008 beantragte Herr M. die Zulage zur Gewährleistung des Einkommens ab dem 8. September 2008 für die Stunden seiner Beschäftigungslosigkeit, nachdem er auf der Grundlage eines Teilzeitarbeitsvertrags mit 2,5 Wochenstunden als Violin- und Gitarrenlehrer angestellt worden war.
12 Am Tag nach dem Ende seines Teilzeitarbeitsvertrags, d. h. am 24. Juni 2009, stellte Herr M. mangels jeder beruflichen Tätigkeit einen Antrag auf Arbeitslosengeld für den Zeitraum ab diesem Datum. Da er erneut auf Teilzeitbasis eingestellt worden war, stellte er daraufhin am 22. Oktober 2009 einen zweiten Antrag auf eine Zulage zur Gewährleistung des Einkommens für den Zeitraum ab dem 7. September 2009.
13 Das ONEm entschied über die verschiedenen Anträge von Herrn M. wie folgt:
—
Der Antrag auf eine Zulage zur Gewährleistung des Einkommens für den Zeitraum ab dem 8. September 2008 wurde zweimal, am 3. und am 22. Juli 2009, abgelehnt, da seine in der Tschechischen Republik erbrachten Arbeitsleistungen, weil sie nicht durch Arbeitsleistungen in Belgien fortgesetzt worden seien, nicht berücksichtigt werden könnten.
—
Der Antrag auf Arbeitslosengeld für den Zeitraum ab dem 24. Juni 2009 wurde am 26. August 2009 mit der Begründung abgelehnt, dass einem Teilzeitbeschäftigten, der jede Tätigkeit eingestellt habe, nur dann Arbeitslosengeld bewilligt werden könne, wenn die zuvor ausgeübten Beschäftigungen einen Umfang von mindestens zwölf Wochenstunden gehabt hätten.
—
Der Antrag auf eine Zulage zur Gewährleistung des Einkommens für den Zeitraum ab dem 7. September 2009 wurde abgelehnt.
14 Herr M. erhob gegen alle Bescheide vom ONEm Klage beim Tribunal de travail Bruxelles (Arbeitsgericht Brüssel). Dieses erklärte mit Entscheidung vom 11. September 2012 die Klage von Herrn M. für teilweise begründet.
15 Das ONEm und Herr M. legten gegen diese Entscheidung am 16. und am 18. Oktober 2012 bei der Cour du travail de Bruxelles (Arbeitsgerichtshof Brüssel) Berufung ein.
16 Mit Entscheidung vom 24. Dezember 2014 bestätigte dieses Gericht, dass Herr M. mangels jeder Tätigkeit für den Zeitraum vom 24. Juni bis zum 6. September 2009 Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, dann ab dem 7. September 2009 Anspruch auf die Zulage zur Gewährleistung des Einkommens. Darüber hinaus ordnete es im Hinblick auf die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 8. September 2008 die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens an, um den Parteien des Ausgangsverfahrens zu ermöglichen, ihre Stellungnahmen zur Anwendung von Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 einzureichen. Zu diesem Zweck fand am 29. April 2015 eine Sitzung statt.
17 Das vorlegende Gericht führt aus, dass vor ihm als einziger Punkt die Frage streitig sei, ob Herr M. zum Zeitpunkt des 8. September 2008 Arbeitslosengeld als Vollzeitbeschäftigter hätte bewilligt werden können.
18 Hierzu merkt es an, dass die Zulage zur Gewährleistung des Einkommens nur Beschäftigten in Teilzeit unter Wahrung der Rechtsansprüche gewährt werde. Um einen solchen Status zu rechtfertigen, muss ein Arbeitnehmer wie Herr M. in der Lage sein, nachzuweisen, dass er zum Zeitpunkt der Aufnahme seiner Teilzeitbeschäftigung alle Voraussetzungen für die Bewilligung von Arbeitslosengeld als Vollzeitbeschäftigter erfüllte.
19 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass Herr M. zum einen diese Voraussetzungen nicht zu erfüllen scheine, da die in der Tschechischen Republik erbrachten Arbeitsleistungen nicht berücksichtigt werden könnten, und dass er zum anderen am 8. September 2008 noch keine Beschäftigungszeiten als unselbständig Beschäftigter nach den belgischen Rechtsvorschriften zurückgelegt habe.
20 Das Gericht äußert jedoch Zweifel an der Gültigkeit von Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71, da er als ungerechtfertigtes Hindernis für die Freizügigkeit der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten angesehen werden könnte, die in Belgien einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen wollten.
21 Es verweist insoweit darauf, dass sich die vorliegende Rechtssache von der Rechtssache zu unterscheiden scheine, in der das Urteil van Noorden (C‑272/90, EU:C:1991:219) ergangen sei, in dem der Gerichtshof für Recht erkannt habe, dass Art. 67 Abs. 3 dieser Verordnung der Weigerung eines Mitgliedstaats, einem Arbeitnehmer Arbeitslosenunterstützung zu gewähren, nicht entgegenstehe, wenn der Arbeitnehmer nicht unmittelbar zuvor Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeiten in diesem Mitgliedstaat zurückgelegt habe. Denn in jener Rechtssache habe der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht seine Absicht bekundet, eine Teilzeitbeschäftigung aufzunehmen.
22 Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Bruxelles (Arbeitsgerichtshof Brüssel) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71, dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, die Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten abzulehnen, die für die Bewilligung von Arbeitslosengeld zur Ergänzung des Einkommens aus einer Teilzeitbeschäftigung erforderlich ist, wenn dieser Teilzeitbeschäftigung keine Versicherungs- oder Beschäftigungszeit in diesem Mitgliedstaat vorausgegangen ist?
2. Bei Verneinung der ersten Frage: Ist Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vereinbar insbesondere mit
—
Art. 48 AEUV, da die in Art. 67 Abs. 3 normierte Voraussetzung für die Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten geeignet ist, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihren Zugang zu bestimmten Teilzeitbeschäftigungen zu beschränken;
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Art. 45 AEUV, der „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“ sowie das Recht der Arbeitnehmer vorsieht, sich in den anderen Mitgliedstaaten „um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben“ (einschließlich Teilzeitbeschäftigungen), „sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen“ und sich dort aufzuhalten, „um dort nach den für die Arbeitnehmer [des jeweiligen] Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben“;
—
Art. 15 Abs. 2 der Charta, wonach „alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger … die Freiheit [haben], in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen [und] zu arbeiten“?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
23 Es ist zum einen festzustellen, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass derjenige, der das Arbeitslosengeld zur Ergänzung des Einkommens aus einer Teilzeitbeschäftigung, d. h. die im belgischen Recht vorgesehene Zulage zur Gewährleistung des Einkommens, beantragt, die Bewilligungsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld als Vollzeitbeschäftigter erfüllen muss.
24 Zum anderen geht aus den schriftlichen Erklärungen der belgischen Regierung hervor, dass die Zulage zur Gewährleistung des Einkommens eingeführt wurde, um zu vermeiden, dass Personen, die Anspruch auf Arbeitslosengeld als Vollzeitbeschäftigter haben, aufgrund der Tatsache, dass das Arbeitslosengeld höher ist als das Arbeitsentgelt für diese Beschäftigung, davon abgehalten werden, eine Teilzeitbeschäftigung anzunehmen.
25 Wenn daher eine Person, die die Voraussetzungen für die Bewilligung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht erfüllt, auch keine Zulage für die Gewährleistung des Einkommens erhalten kann, ist zu prüfen, ob Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71, der in zeitlicher Hinsicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, dem entgegensteht, dass die Beschäftigungszeiten, deren Zurücklegung eine Voraussetzung für die Bewilligung dieser Leistungen ist, nicht zusammengerechnet werden, wenn keine Beschäftigungs‑ oder Versicherungszeiten in dem Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, in dem ein Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt wird.
26 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Arbeitsuchender, für den das Sozialrecht des Mitgliedstaats, in dem er Leistungen bei Arbeitslosigkeit beantragt, nie gegolten hat und der somit unmittelbar zuvor keine Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats zurückgelegt hat, Leistungen bei Arbeitslosigkeit nicht nach Art. 67 dieser Verordnung erhalten (vgl. Urteile van Noorden, C‑272/90, EU:C:1991:219, Rn. 10, Martínez Losada u. a., C‑88/95, C‑102/95 und C‑103/95, EU:C:1997:69, Rn. 36, sowie Beschluss Verwayen-Boelen, C‑175/00, EU:C:2002:133, Rn. 26).
27 Im Übrigen kann dem Vorbringen der Europäischen Kommission, wonach im Rahmen der vorliegenden Rechtssache zu prüfen wäre, ob die belgischen Rechtsvorschriften über die Zulage zur Gewährleistung des Einkommens zu einer nach Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung verbotenen mittelbaren Diskriminierung führen könnten, nicht gefolgt werden.
28 Es ist nämlich außerdem daran zu erinnern, dass sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 die Berücksichtigung von Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeiten, die die betreffende Person nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt hat, durch einen Mitgliedstaat für die Zwecke der Gewährung einer Leistung bei Arbeitslosigkeit nur nach Art. 67 der Verordnung Nr. 1408/71 richtet (vgl. Urteil Martínez Losada u. a., C‑88/95, C‑102/95 und C‑103/95, EU:C:1997:69, Rn. 27, und Beschluss Verwayen-Boelen, C‑175/00, EU:C:2002:133, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher findet Art. 3 dieser Verordnung für den Fall keine Anwendung, dass diese Verordnung besondere Bestimmungen wie etwa Art. 67 enthält, der den Anspruch eines Arbeitslosen auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil Adanez-Vega, C‑372/02, EU:C:2004:705, Rn. 57).
29 Unter diesen Umständen ergibt sich aus alledem, dass Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, die Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten abzulehnen, die für die Bewilligung von Arbeitslosengeld zur Ergänzung des Einkommens aus einer Teilzeitbeschäftigung erforderlich ist, wenn dieser Teilzeitbeschäftigung keine Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeit in diesem Mitgliedstaat vorausgegangen ist.
Zur zweiten Frage
30 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 im Hinblick auf die Art. 45 AEUV und 48 AEUV sowie Art. 15 Abs. 2 der Charta gültig ist.
31 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 48 AEUV dem Unionsgesetzgeber nicht untersagt, die zur Verwirklichung der durch Art. 45 AEUV gewährleisteten Freizügigkeit der Arbeitnehmer eingeräumten Vergünstigungen von Voraussetzungen abhängig zu machen und ihre Grenzen festzulegen, und zweitens, dass der Rat der Europäischen Union mit der Festlegung von Voraussetzungen, insbesondere in Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71, die zum Ziel haben, die Arbeitsuche in dem Mitgliedstaat zu fördern, in dem der Betreffende unmittelbar zuvor Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat, und diesen Staat die Leistungen bei Arbeitslosigkeit tragen zu lassen, von seinem Ermessensspielraum in zulässiger Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Gray, C‑62/91, EU:C:1992:177, Rn. 11 und 12).
32 Daher ist festzustellen, dass die Prüfung der zweiten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 67 Abs. 3 dieser Verordnung im Hinblick auf die Art. 45 AEUV und 48 AEUV beeinträchtigen könnte.
33 Zur Vereinbarkeit von Art. 67 Abs. 3 dieser Verordnung mit Art. 15 Abs. 2 der Charta ist darauf hinzuweisen, dass Art. 52 Abs. 2 der Charta vorsieht, dass die Ausübung der durch diese anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, im Rahmen der darin festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt. Dies trifft auf Art. 15 Abs. 2 der Charta zu, der, wie in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) zu dieser Vorschrift bestätigt wird, u. a die durch Art. 45 AEUV verbürgte Arbeitnehmerfreizügigkeit wieder aufnimmt (vgl. Urteil Gardella, C‑233/12, EU:C:2013:449, Rn. 39).
34 Daraus folgt, dass Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71, da er mit den Art. 45 AEUV und 48 AEUV im Einklang steht, auch mit Art. 15 Abs. 2 der Charta vereinbar ist.
35 Nach alledem hat die Prüfung der zweiten Vorlagefrage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 beeinträchtigen könnte.
Kosten
36 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 67 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008, ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, die Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten abzulehnen, die für die Bewilligung von Arbeitslosengeld zur Ergänzung des Einkommens aus einer Teilzeitbeschäftigung erforderlich ist, wenn dieser Teilzeitbeschäftigung keine Versicherungs‑ oder Beschäftigungszeit in diesem Mitgliedstaat vorausgegangen ist.
2. Die Prüfung der zweiten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 67 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 592/2008, beeinträchtigen könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 3. März 2016.#Königreich Spanien gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 – Gemeinsame Marktorganisation im Landwirtschaftssektor – Durchführungsverordnung (EU) Nr. 543/2011 – Anhang I Teil B 2 Ziff. VI Abschnitt D fünfter Gedankenstrich – Sektoren Obst und Gemüse und Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse – Zitrusfrüchte – Vermarktungsnormen – Bestimmungen betreffend die Kennzeichnung – Angabe der zur Behandlung nach der Ernte verwendeten Konservierungsmittel oder sonstigen chemischen Stoffe.#Rechtssache C-26/15 P.
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62015CJ0026
|
ECLI:EU:C:2016:132
| 2016-03-03T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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EUR-Lex - CELEX:62015CJ0026 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 28. Januar 2016.#Edward Stavytskyi gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Nachweis der sachlichen Richtigkeit der Aufnahme in die Liste.#Rechtssache T-486/14.
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62014TJ0486
|
ECLI:EU:T:2016:45
| 2016-01-28T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TJ0486 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 21. Januar 2016.#"Eturas" UAB u. a. gegen Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba.#Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Kartelle – Aufeinander abgestimmte Verhaltensweise – Reisebüros, die an einem gemeinsamen rechnergestützten System für Reiseangebote beteiligt sind – Automatische Beschränkung der Rabattsätze für Online-Reisebuchungen – Mitteilung des Systemadministrators zu dieser Beschränkung – Stillschweigende Zustimmung, die als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise eingestuft werden kann – Tatbestandsmerkmale einer Vereinbarung und einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise – Beweiswürdigung und Beweismaß – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Effektivitätsgrundsatz – Unschuldsvermutung.#Rechtssache C-74/14.
|
62014CJ0074
|
ECLI:EU:C:2016:42
| 2016-01-21T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
|
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62014CJ0074
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
21. Januar 2016 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Wettbewerb — Kartelle — Aufeinander abgestimmte Verhaltensweise — Reisebüros, die an einem gemeinsamen rechnergestützten System für Reiseangebote beteiligt sind — Automatische Beschränkung der Rabattsätze für Online-Reisebuchungen — Mitteilung des Systemadministrators zu dieser Beschränkung — Stillschweigende Zustimmung, die als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise eingestuft werden kann — Tatbestandsmerkmale einer Vereinbarung und einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise — Beweiswürdigung und Beweismaß — Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten — Effektivitätsgrundsatz — Unschuldsvermutung“
In der Rechtssache C‑74/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberster Verwaltungsgerichtshof von Litauen) mit Entscheidung vom 17. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2014, in dem Verfahren
„Eturas“ UAB,
„AAA Wrislit“ UAB,
„Baltic Clipper“ UAB,
„Baltic Tours Vilnius“ UAB,
„Daigera“ UAB,
„Ferona“ UAB,
„Freshtravel“ UAB,
„Guliverio kelionės“ UAB,
„Kelionių akademija“ UAB,
„Kelionių gurmanai“ UAB,
„Kelionių laikas“ UAB,
„Litamicus“ UAB,
„Megaturas“ UAB,
„Neoturas“ UAB,
„TopTravel“ UAB,
„Travelonline Baltics“ UAB,
„Vestekspress“ UAB,
„Visveta“ UAB,
„Zigzag Travel“ UAB,
„ZIP Travel“ UAB
gegen
Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba,
Beteiligte:
„Aviaeuropa“ UAB,
„Grand Voyage“ UAB,
„Kalnų upė“ UAB,
„Keliautojų klubas“ UAB,
„Smaragdas travel“ UAB,
„700LT“ UAB,
„Aljus ir Ko“ UAB,
„Gustus vitae“ UAB,
„Tropikai“ UAB,
„Vipauta“ UAB,
„Vistus“ UAB,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Šváby, A. Rosas, E. Juhász (Berichterstatter) und C. Vajda,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der „AAA Wrislit“ UAB, vertreten durch L. Darulienė und T. Blažys, advokatai,
—
der „Baltic Clipper“ UAB, vertreten durch J. Petrulionis, L. Šlepaitė und M. Juonys, advokatai,
—
der „Baltic Tours Vilnius“ UAB und der „Kelionių laikas“ UAB, vertreten durch P. Koverovas und R. Moisejevas, advokatai,
—
der „Guliverio kelionės“ UAB, vertreten durch M. Juonys und L. Šlepaitė, advokatai,
—
der „Kelionių akademija“ UAB und der „Travelonline Baltics“ UAB, vertreten durch L. Darulienė, advokatė,
—
der „Megaturas“ UAB, vertreten durch E. Kisielius, advokatas,
—
der „Vestekspress“ UAB, vertreten durch L. Darulienė, R. Moisejevas und P. Koverovas, advokatai,
—
der „Visveta“ UAB, vertreten durch T. Blažys, advokatas,
—
des Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba, vertreten durch E. Pažėraitė und S. Tolušytė als Bevollmächtigte,
—
der „Keliautojų klubas“ UAB, vertreten durch E. Burgis und I. Sodeikaitė, advokatai,
—
der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas, K. Dieninis und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,
—
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan, V. Bottka und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juli 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Eturas“ UAB (im Folgenden: Eturas), der „AAA Wrislit“ UAB, der „Baltic Clipper“ UAB, der „Baltic Tours Vilnius“ UAB, der „Daigera“ UAB, der „Ferona“ UAB, der „Freshtravel“ UAB, der „Guliverio Kelionės“ UAB, der „Kelionių akademija“ UAB, der „Kelionių gurmanai“ UAB, der „Kelionių laikas“ UAB, der „Litamicus“ UAB, der „Megaturas“ UAB, der „Neoturas“ UAB, der „Top Travel“ UAB, der „Travelonline Baltics“ UAB, der „Vestekspress“ UAB, der „Visveta“ UAB, der „Zigzag Travel“ UAB und der „ZIP Travel“ UAB, bei denen es sich um Reisebüros handelt, auf der einen und dem Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba (Wettbewerbsrat der Republik Litauen, im Folgenden: Wettbewerbsrat) auf der anderen Seite über einen Beschluss, mit dem der Wettbewerbsrat diese Reisebüros wegen Vereinbarung von und Beteiligung an wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zur Zahlung von Geldbußen verurteilt hat.
Rechtlicher Rahmen
3 Der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102] des [AEU‑]Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, (ABl. 2003 L 1, S. 1) lautet:
4 Art. 2 („Beweislast“) der Verordnung bestimmt:
„In allen einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen Verfahren zur Anwendung der Artikel [101] und [102] des Vertrags obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101] Absatz 1 oder Artikel [102] des Vertrags der Partei oder der Behörde, die diesen Vorwurf erhebt. Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Artikels [101] Absatz 3 des Vertrags vorliegen, obliegt den Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, die sich auf diese Bestimmung berufen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
5 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass Eturas ausschließliche Rechte an dem rechnergestützten System E-TURAS hat und auch dessen Administrator ist.
6 Bei dieser Software handelt es sich um ein gemeinsames Online-Reisebuchungssystem. Es ermöglicht Reisebüros, die vertraglich eine Nutzungslizenz bei Eturas erworben haben, in einer einheitlichen und von Eturas festgelegten Buchungsform Reisen über ihre Website anzubieten. Der oben erwähnte Lizenzvertrag enthält keine Klausel, die es dem Administrator dieses rechnergestützten Systems erlauben würde, die Preisgestaltung der Reisebüros, die dieses System für die von ihnen vertriebenen Dienstleistungen nutzen, zu ändern.
7 Jedes Reisebüro besitzt im rechnergestützten System E-TURAS ein individuelles Benutzerkonto, in das es sich mit einem Kennwort, das ihm zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Lizenzvertrags zugeteilt wurde, einloggen kann. In diesem Benutzerkonto haben die Reisebüros Zugang zu einem speziell für das Buchungssystem E-TURAS eingerichteten Mitteilungssystem, das wie ein elektronischer Mitteilungsdienst funktioniert. Die über dieses Mitteilungssystem versandten Mitteilungen werden somit wie E-Mails gelesen und müssen folglich zuerst von ihrem Adressaten geöffnet werden, bevor sie gelesen werden können.
8 Im Jahr 2010 leitete der Wettbewerbsrat auf der Grundlage von Angaben eines der Reisebüros, die das Buchungssystem E-TURAS nutzten, darüber, dass die Reisebüros die Preisnachlässe auf die mittels dieses Systems vertriebenen Reisen untereinander abstimmten, eine Untersuchung ein.
9 Diese Untersuchung ergab, dass der Geschäftsführer von Eturas am 25. August 2009 an mehrere Reisebüros, jedenfalls zumindest eines, eine elektronische Mitteilung mit dem Betreff „Abstimmung“ versandte, mit der der Adressat aufgefordert wurde, dazu Stellung zu nehmen, ob der Internet-Rabattsatz von 4 % auf eine Spanne von 1 % bis 3 % herabgesetzt werden solle.
10 Am 27. August 2009 um 12.20 Uhr versandte der Systemadministrator von E-TURAS über den internen Mitteilungsdienst dieses rechnergestützten Systems jedenfalls an zumindest zwei der betreffenden Reisebüros eine Nachricht mit dem Betreff „Mitteilung zur Herabsetzung des Preisnachlasses für Online-Reisebuchungen [auf] zwischen 0 und 3 %“ (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Mitteilung), die folgendermaßen lautete:
11 Nach dem 27. August 2009 wiesen die Websites von acht Reisebüros auf Werbebotschaften mit einem Preisnachlass von 3 % auf die angebotenen Reisen hin. Wenn eine Buchung vorgenommen wurde, öffnete sich ein Fenster und zeigte an, dass auf die gewählte Reise ein Preisnachlass von 3 % gewährt wurde.
12 Bei der vom Wettbewerbsrat durchgeführten Untersuchung wurde festgestellt, dass die im Anschluss an die Versendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung vorgenommenen technischen Änderungen des rechnergestützten Systems E-TURAS dazu führten, dass die betreffenden Reisebüros zwar nicht gehindert waren, ihren Kunden Preisnachlässe von mehr als 3 % zu gewähren, dass aber die Gewährung solcher Preisnachlässe die Abwicklung zusätzlicher technischer Formalitäten erforderlich machte.
13 In seinem Beschluss vom 7. Juni 2012 vertrat der Wettbewerbsrat die Auffassung, dass 30 Reisebüros sowie Eturas zwischen dem 27. August 2009 und Ende März 2010 an einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise hinsichtlich der Preisnachlässe auf mittels des rechnergestützten Systems E-TURAS erfolgte Buchungen beteiligt gewesen seien.
14 Nach diesem Beschluss begann die wettbewerbswidrige Verhaltensweise an dem Tag, an dem die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Mitteilung betreffend die Herabsetzung des Rabattsatzes im Buchungssystem E-TURAS erschienen und die systematische Beschränkung dieses Rabattsatzes im Rahmen der Nutzung dieses Systems durchgeführt worden sei.
15 Nach Ansicht des Wettbewerbsrats sind die Reisebüros, die das Buchungssystem E-TURAS während des fraglichen Zeitraums genutzt und keine Einwände erhoben hätten, für eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln zur Verantwortung zu ziehen, da sie vernünftigerweise hätten annehmen können, dass alle anderen Nutzer dieses Systems ihre Preisnachlässe ebenfalls auf höchstens 3 % begrenzen würden. Er leitete daraus ab, dass diese Reisebüros die Preisnachlässe, die sie künftig anzuwenden gedachten, auch einander mitgeteilt hätten und somit mittelbar, durch konkludente oder stillschweigende Zustimmung, ihren gemeinsamen Willen betreffend ihr Vorgehen auf dem relevanten Markt zum Ausdruck gebracht hätten. Er zog daraus die Schlussfolgerung, dass dieses Vorgehen der Reisebüros auf dem relevanten Markt als aufeinander abgestimmte Verhaltensweise einzustufen sei, und war der Auffassung, dass Eturas auf dem relevanten Markt zwar nicht aktiv gewesen sei, aber eine aktive Rolle bei der Erleichterung dieser Verhaltensweise gespielt habe.
16 Der Wettbewerbsrat befand daher, dass Eturas und die betreffenden Reisebüros u. a. eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV begangen hätten, und verhängte Geldbußen gegen sie. Dem Reisebüro, das den Wettbewerbsrat vom Vorliegen dieser Zuwiderhandlung in Kenntnis gesetzt hatte, wurde aufgrund der Kronzeugenregelung die Geldbuße erlassen.
17 Die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens fochten den Beschluss des Wettbewerbsrats vor dem Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwaltungsgericht Vilnius) an. Mit Urteil vom 8. April 2013 gab dieses Gericht den Klagen teilweise statt und setzte die verhängten Geldbußen herab.
18 Sowohl die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens als auch der Wettbewerbsrat legten gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberster Verwaltungsgerichtshof von Litauen) ein.
19 Die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass sie nicht an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV oder der entsprechenden Vorschriften des nationalen Rechts beteiligt gewesen seien. Für die einseitigen Handlungen von Eturas könnten sie nicht verantwortlich gemacht werden. Einige von ihnen behaupten, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Mitteilung nicht erhalten oder nicht gelesen zu haben, da die Nutzung des rechnergestützten Systems E-TURAS nur einen winzigen Anteil an ihrem Umsatz ausmache und sie den Änderungen dieses Systems keine Aufmerksamkeit schenkten. Sie hätten das Informationssystem auch nach der technischen Umsetzung der Obergrenze des Preisnachlasses weiterhin genutzt, da es kein anderes Informationssystem gegeben habe und es zu teuer gewesen wäre, selbst eines zu entwickeln. Schließlich behaupten sie, dass die Preisnachlässe im Grunde nicht beschränkt gewesen seien, da die betreffenden Reisebüros noch immer die Möglichkeit gehabt hätten, den Kunden zusätzliche individuelle Treuerabatte zu gewähren.
20 Der Wettbewerbsrat trägt vor, dass das Buchungssystem E-TURAS den Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens als Instrument zur Koordinierung ihres Vorgehens gedient und Zusammenkünfte überflüssig gemacht habe. Hierzu hätten ihnen zum einen die Bedingungen für die Nutzung dieses Systems ermöglicht, auch ohne unmittelbaren Kontakt zu einer „Willensübereinstimmung“ hinsichtlich der Beschränkung von Preisnachlässen zu kommen, und zum anderen komme es einer stillschweigenden Zustimmung gleich, wenn den Preisnachlassbeschränkungen nicht widersprochen werde. Das System habe zu einheitlichen Bedingungen funktioniert und sei auf den Websites der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Reisebüros, auf denen die Informationen über die gewährten Preisnachlässe veröffentlicht worden seien, ohne Weiteres erkennbar gewesen. Diese Reisebüros hätten den so auferlegten Rabattbeschränkungen nicht widersprochen und einander auf diese Weise zu verstehen gegeben, dass sie die begrenzten Preisnachlässe anwendeten, und jede Ungewissheit in Bezug auf den Rabattsatz beseitigt. Nach Ansicht des Wettbewerbsrats waren die Rechtsmittelführerinnen des Ausgangsverfahrens zu einem umsichtigen und verantwortungsbewussten Verhalten verpflichtet und hätten Mitteilungen über die in ihrem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich eingesetzten Instrumente nicht ignorieren und außer Acht lassen dürfen.
21 Das vorlegende Gericht hat Fragen zur Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV und insbesondere zur Beweislastverteilung für Zwecke der Anwendung dieser Bestimmung. Es hegt nämlich Zweifel, ob hinreichende Kriterien vorliegen, die geeignet seien, im konkreten Fall die Beteiligung der betreffenden Reisebüros an einer horizontalen abgestimmten Verhaltensweise nachzuweisen.
22 Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, dass im vorliegenden Fall der Hauptbeweis, auf den sich eine Verurteilung stützen könne, bloß in einer Vermutung bestehe, dass die betreffenden Reisebüros die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Mitteilung gelesen hätten oder hätten lesen müssen und alle Implikationen der Entscheidung hinsichtlich der Beschränkung der Rabattsätze auf die angebotenen Reisen hätten verstehen müssen. Hierzu erwähnt es, dass im Rahmen der Verfolgung von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht die Unschuldsvermutung gelte, und äußert Zweifel, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Reisebüros allein auf der Grundlage der erstgenannten Vermutung verurteilt werden könnten, zumal einige von ihnen bestritten hätten, von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung Kenntnis erlangt zu haben, während andere ihre erste Reise erst vertrieben hätten, nachdem die technischen Änderungen erfolgt seien, oder auch über das Buchungssystem E‑TURAS überhaupt keine Reise vertrieben hätten.
23 Gleichzeitig stellt das vorlegende Gericht fest, dass es den Reisebüros, die das Buchungssystem E-TURAS nutzten, bekannt gewesen sei oder zwangsläufig hätte bekannt sein müssen, dass ihre Mitbewerber ebenfalls dieses System nutzten, weshalb davon ausgegangen werden könne, dass diese Reisebüros sowohl zu Vorsicht als auch zu Sorgfalt verpflichtet gewesen seien und es daher nicht hätten unterlassen dürfen, die bei ihnen eingegangenen Mitteilungen zu lesen. Hierzu weist es darauf hin, dass ein Teil der vom Wettbewerbsrat mit einer Geldbuße belegten Reisebüros zugegeben habe, vom Inhalt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung Kenntnis erlangt zu haben.
24 Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob unter den in der bei ihm anhängigen Rechtssache gegebenen Umständen das bloße Versenden einer Mitteilung über eine Beschränkung des Rabattsatzes ein hinreichender Beweis sein könnte, um festzustellen oder vermuten zu können, dass die an dem Buchungssystem E-TURAS beteiligten Wirtschaftsteilnehmer von dieser Beschränkung wussten oder zwangsläufig wissen mussten, obwohl mehrere von ihnen vorbringen, von dieser Beschränkung nichts gewusst zu haben, einige die tatsächlichen Rabattsätze nicht geändert hätten und wieder andere im fraglichen Zeitraum nicht eine einzige Reise über dieses System vertrieben hätten.
25 Vor diesem Hintergrund hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberster Verwaltungsgerichtshof von Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem Wirtschaftsteilnehmer an einem gemeinsamen rechnergestützten Informationssystem der hier beschriebenen Art beteiligt sind und der Wettbewerbsrat nachgewiesen hat, dass eine Systemmitteilung über die Rabattbeschränkung und eine technische Beschränkung der Eingabe von Rabattsätzen in das System eingeführt wurden, davon ausgegangen werden kann, dass diese Wirtschaftsteilnehmer von der in das rechnergestützte Informationssystem eingeführten Systemmitteilung wussten oder zwangsläufig wissen mussten und dadurch, dass sie der Anwendung einer solchen Rabattbeschränkung nicht widersprachen, ihre stillschweigende Zustimmung zu der Preisnachlassbeschränkung erklärten und aus diesem Grund wegen Beteiligung an aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV zur Verantwortung gezogen werden können?
2. Falls die erste Frage verneint wird: Welche Faktoren sind bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen, ob an einem gemeinsamen rechnergestützten Informationssystem beteiligte Wirtschaftsteilnehmer unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens sich an aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV beteiligt haben?
Zu den Vorlagefragen
26 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass, wenn der Administrator eines Informationssystems, das Reisebüros ermöglichen soll, in einheitlicher Buchungsform Reisen auf ihrer Website zu vertreiben, diesen Wirtschaftsteilnehmern über einen individuellen elektronischen Mitteilungsdienst eine Mitteilung sendet, in der sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass für die Preisnachlässe auf die mittels dieses Systems vertriebenen Produkte fortan eine Obergrenze gelte und dass im Anschluss an die Verbreitung dieser Mitteilung technische Änderungen an dem betreffenden System vorgenommen würden, die für die Durchführung dieser Maßnahme erforderlich seien, vermutet werden kann, dass diese Wirtschaftsteilnehmer von dieser Mitteilung Kenntnis erlangt haben oder zwangsläufig Kenntnis von ihr hätten erlangen müssen und sich, wenn sie keine Einwände gegen diese Verhaltensweise erhoben haben, an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne dieser Bestimmung beteiligt haben.
27 Einleitend sei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen, wonach jeder Wirtschaftsteilnehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt. Dieses Erfordernis der Selbständigkeit steht streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen solchen Wirtschaftsteilnehmern entgegen, die geeignet ist, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Wettbewerber über das Verhalten ins Bild zu setzen, zu dem man selbst auf dem betreffenden Markt entschlossen ist oder das man in Erwägung zieht, wenn diese Kontakte bezwecken oder bewirken, dass Wettbewerbsbedingungen entstehen, die nicht den normalen Bedingungen des betreffenden Marktes entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 32 und 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Der Gerichtshof hat ebenfalls bereits festgestellt, dass passive Formen der Beteiligung an der Zuwiderhandlung, wie die Teilnahme eines Unternehmens an Sitzungen, bei denen, ohne dass es sich offen dagegen ausgesprochen hat, wettbewerbswidrige Vereinbarungen getroffen wurden, eine Komplizenschaft zum Ausdruck bringen, die geeignet ist, die Verantwortlichkeit des Unternehmens im Rahmen von Art. 101 AEUV zu begründen, da die stillschweigende Billigung einer rechtswidrigen Initiative, ohne sich offen von deren Inhalt zu distanzieren oder sie bei den Behörden anzuzeigen, dazu führt, dass die Fortsetzung der Zuwiderhandlung begünstigt und ihre Entdeckung verhindert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Als Erstes ist, soweit sich das vorlegende Gericht die Frage stellt, ob das Versenden einer Mitteilung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein hinreichender Beweis dafür sein kann, dass die am System beteiligten Wirtschaftsteilnehmer deren Inhalt kannten oder zwangsläufig kennen mussten, darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 in allen einzelstaatlichen Verfahren zur Anwendung des Art. 101 AEUV die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV der Partei oder der Behörde obliegt, die diesen Vorwurf erhebt.
30 Art. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 regelt zwar ausdrücklich die Beweislastverteilung, doch enthält diese Verordnung keine Bestimmungen zu spezielleren Verfahrensfragen. So enthält sie insbesondere keine Bestimmung zu den Grundsätzen für die Beweiswürdigung und das Beweismaß im Rahmen eines einzelstaatlichen Verfahrens zur Anwendung von Art. 101 AEUV.
31 Diese Schlussfolgerung wird durch den fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 untermauert, der ausdrücklich vorsieht, dass diese Verordnung die nationalen Rechtsvorschriften über das Beweismaß nicht berührt.
32 Nach ständiger Rechtsprechung ist es aber mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, entsprechende Regeln festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteile VEBIC, C‑439/08, EU:C:2010:739, Rn. 63 und Nike European Operations Netherlands, C‑310/14, EU:C:2015:690, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Der Gerichtshof hat zwar entschieden, dass sich die Vermutung eines Kausalzusammenhangs zwischen einer Abstimmung von Verhaltensweisen und dem Marktverhalten der daran beteiligten Unternehmen, wonach diese Unternehmen, wenn sie weiterhin auf diesem Markt tätig bleiben, die mit ihren Wettbewerbern ausgetauschten Informationen bei der Festlegung ihres Marktverhaltens berücksichtigen, aus Art. 101 Abs. 1 AEUV ergibt und daher integraler Bestandteil des Unionsrechts ist, das das nationale Gericht anzuwenden hat (vgl. in diesem Sinne Urteil T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, EU:C:2009:343, Rn. 51 bis 53).
34 Jedoch ergibt sich im Unterschied zu dieser Vermutung die Antwort auf die Frage, ob das bloße Versenden einer Mitteilung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Hinblick auf sämtliche dem vorlegenden Gericht unterbreiteten Umstände ein hinreichender Beweis dafür sein kann, dass ihre Adressaten deren Inhalt kannten oder zwangsläufig kennen mussten, nicht aus dem Begriff der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweise“ und hängt auch nicht untrennbar mit ihm zusammen. Diese Frage ist nämlich als eine solche anzusehen, die sich auf die Beweiswürdigung und das Beweismaß bezieht, so dass sie nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie und vorbehaltlich des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes das nationale Recht betrifft.
35 Der Effektivitätsgrundsatz verlangt allerdings, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die die Beweiswürdigung und das Beweismaß regeln, die Durchführung der Wettbewerbsregeln der Union nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen und insbesondere nicht die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 24).
36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Vorliegen einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise oder einer Vereinbarung in den meisten Fällen aus einer Reihe von Koinzidenzen und Indizien abgeleitet werden muss, die bei einer Gesamtbetrachtung mangels einer anderen schlüssigen Erklärung den Beweis für eine Verletzung der Wettbewerbsregeln darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Total Marketing Services, C‑634/13 P, EU:C:2015:614, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Daher verlangt der Effektivitätsgrundsatz, dass der Beweis für einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union nicht nur durch unmittelbare Beweise erbracht werden kann, sondern auch mittels Indizien, sofern diese objektiv und übereinstimmend sind.
38 Soweit das vorlegende Gericht Zweifel hegt, ob im Hinblick auf die Unschuldsvermutung festgestellt werden kann, dass die Reisebüros von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung wussten oder wissen mussten, ist darauf hinzuweisen, dass die Unschuldsvermutung ein – nunmehr in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegter – allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil E.ON Energie/Kommission, C‑89/11 P, EU:C:2012:738, Rn. 72), zu dessen Einhaltung die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Wettbewerbsrechts der Union verpflichtet sind (vgl. in diesem Sinne Urteile VEBIC, C‑439/08, EU:C:2010:739, Rn. 63, und N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 41).
39 Die Unschuldsvermutung versagt es dem vorlegenden Gericht, aus dem bloßen Versenden der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung abzuleiten, dass die betreffenden Reisebüros zwangsläufig deren Inhalt kennen mussten.
40 Allerdings hindert die Unschuldsvermutung das vorlegende Gericht nicht, davon auszugehen, dass das Versenden der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung im Hinblick auf andere objektive und übereinstimmende Indizien die Vermutung begründen kann, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Reisebüros ab dem Zeitpunkt der Versendung dieser Mitteilung deren Inhalt kannten, sofern diesen Reisebüros die Möglichkeit bleibt, diese Vermutung zu widerlegen.
41 An die Widerlegung dieser Vermutung darf das vorlegende Gericht keine übertriebenen oder unrealistischen Anforderungen stellen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Reisebüros müssen die Möglichkeit haben, die Vermutung, dass sie den Inhalt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung ab dem Zeitpunkt der Versendung dieser Mitteilung kannten, z. B. dadurch zu widerlegen, dass sie nachweisen, diese Mitteilung nicht erhalten zu haben oder die betreffende Rubrik nicht oder erst eingesehen zu haben, als seit dem Versenden der Mitteilung bereits eine gewisse Zeit verstrichen war.
42 Als Zweites ist in Bezug auf die Beteiligung der betreffenden Reisebüros an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV zum einen darauf hinzuweisen, dass bei der Anwendung dieser Vorschrift der Begriff der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweise“ über die Abstimmung zwischen den betreffenden Unternehmen hinaus ein dieser entsprechendes Marktverhalten und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden voraussetzt (Urteil Dole Food und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, C‑286/13 P, EU:C:2015:184, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass das Ausgangsverfahren, wie es sich nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts darstellt, dadurch gekennzeichnet ist, dass der Administrator des fraglichen Informationssystems eine Mitteilung versandte, die ein gemeinsames wettbewerbswidriges Vorgehen der an diesem System beteiligten Reisebüros bezweckte, wobei diese Mitteilung nur unter der Rubrik „Informationsmitteilung“ in dem betreffenden Informationssystem eingesehen werden konnte und diese Reisebüros auf sie nicht ausdrücklich geantwortet haben. Im Anschluss an die Versendung dieser Mitteilung wurde eine technische Beschränkung eingeführt, mit der die Preisnachlässe, die auf Buchungen im System gewährt werden konnten, auf 3 % beschränkt wurden. Diese Beschränkung hinderte die betreffenden Reisebüros zwar nicht daran, ihren Kunden Preisnachlässe von mehr als 3 % zu gewähren, machte hierfür jedoch die Abwicklung zusätzlicher technischer Formalitäten erforderlich.
44 Solche Umstände sind geeignet, eine Abstimmung der Verhaltensweisen zwischen den Reisebüros, die den Inhalt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung kannten, zu begründen, da von diesen angenommen werden darf, dass sie eine gemeinsame wettbewerbswidrige Verhaltensweise stillschweigend gebilligt haben, sofern die beiden anderen in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Tatbestandsmerkmale einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise ebenfalls vorliegen. Nach Maßgabe der Beweiswürdigung durch das vorlegende Gericht kann von einem Reisebüro vermutet werden, dass es sich ab dem Zeitpunkt, zu dem es vom Inhalt dieser Mitteilung Kenntnis erlangte, an dieser Abstimmung der Verhaltensweisen beteiligt hat.
45 Kann hingegen nicht festgestellt werden, ob ein Reisebüro von dieser Mitteilung Kenntnis erlangt hat, darf seine Beteiligung an einer Abstimmung der Verhaltensweisen nicht allein aus der Existenz der technischen Beschränkung, die in das im Ausgangsverfahren in Rede stehende System eingeführt wurde, abgeleitet werden, ohne dass auf der Grundlage anderer objektiver und übereinstimmender Indizien festgestellt wird, dass es stillschweigend ein wettbewerbswidriges Vorgehen gebilligt hat.
46 Als Drittes ist festzustellen, dass ein Reisebüro die Vermutung seiner Beteiligung an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise widerlegen kann, indem es nachweist, dass es sich öffentlich von dieser Verhaltensweise distanziert oder sie bei den Behörden angezeigt hat. Außerdem stellen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem keine Rede von einem kollusiven Treffen ist, die öffentliche Distanzierung oder die Anzeige bei den Behörden nicht die einzigen Mittel dar, um die Vermutung der Beteiligung eines Unternehmens an einer Zuwiderhandlung zu widerlegen, sondern es können hierzu auch andere Beweise vorgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Total Marketing Services/Kommission, C‑634/13 P, EU:C:2015:614, Rn. 23 und 24).
47 In Bezug auf die Prüfung der Frage, ob sich die betreffenden Reisebüros öffentlich von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufeinander abgestimmten Verhaltensweise distanziert haben, ist festzustellen, dass unter besonderen Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens nicht verlangt werden kann, dass die Erklärung eines Reisebüros, das die Absicht hat, sich zu distanzieren, hinsichtlich aller Wettbewerber erfolgt, die Adressaten der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung waren, da ein solches Reisebüro faktisch nicht in der Lage ist, diese Adressaten zu kennen.
48 In diesem Fall kann das vorlegende Gericht akzeptieren, dass eine an den Administrator des rechnergestützten Systems E-TURAS gerichtete klare und ausdrückliche Beanstandung diese Vermutung widerlegen kann.
49 Zur Möglichkeit, die Vermutung der Beteiligung an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise mittels anderer Beweise als dem einer öffentlichen Distanzierung oder einer Anzeige bei den Behörden zu widerlegen, ist festzustellen, dass unter Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens die in Rn. 33 des vorliegenden Urteils erwähnte Vermutung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Abstimmung der Verhaltensweisen und dem Marktverhalten der daran beteiligten Unternehmen, durch den Nachweis der systematischen Gewährung eines über die fragliche Obergrenze hinausgehenden Preisnachlasses widerlegt werden könnte.
50 Nach alledem sind die Vorlagefragen folgendermaßen zu beantworten:
—
Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass, wenn der Administrator eines Informationssystems, das Reisebüros ermöglichen soll, in einheitlicher Buchungsform Reisen auf ihrer Website zu vertreiben, diesen Wirtschaftsteilnehmern über einen individuellen elektronischen Mitteilungsdienst eine Mitteilung sendet, in der sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass für die Preisnachlässe auf die mittels dieses Systems vertriebenen Produkte fortan eine Obergrenze gelte und im Anschluss an die Verbreitung dieser Mitteilung an dem fraglichen System technische Änderungen vorgenommen würden, die für die Durchführung dieser Maßnahme erforderlich seien, vermutet werden kann, dass diese Wirtschaftsteilnehmer ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von der vom Systemadministrator versandten Mitteilung Kenntnis erlangten, sich an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne dieser Bestimmung beteiligt haben, wenn sie es unterlassen haben, sich öffentlich von dieser Verhaltensweise zu distanzieren, sie nicht bei den Behörden angezeigt haben oder keine anderen Beweise zur Widerlegung dieser Vermutung wie etwa den Nachweis einer systematischen Gewährung eines über die fragliche Obergrenze hinausgehenden Preisnachlasses vorgelegt haben.
—
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften über die Beweiswürdigung und das Beweismaß zu prüfen, ob im Hinblick auf sämtliche ihm unterbreiteten Umstände das Versenden einer Mitteilung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein hinreichender Beweis dafür sein kann, dass ihre Adressaten deren Inhalt kannten. Die Unschuldsvermutung versagt dem vorlegenden Gericht, davon auszugehen, dass das bloße Versenden dieser Mitteilung ein hinreichender Beweis dafür sein könne, dass ihre Adressaten zwangsläufig deren Inhalt kennen mussten.
Kosten
51 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass, wenn der Administrator eines Informationssystems, das Reisebüros ermöglichen soll, in einheitlicher Buchungsform Reisen auf ihrer Website zu vertreiben, diesen Wirtschaftsteilnehmern über einen individuellen elektronischen Mitteilungsdienst eine Mitteilung sendet, in der sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass für die Preisnachlässe auf die mittels dieses Systems vertriebenen Produkte fortan eine Obergrenze gelte und im Anschluss an die Verbreitung dieser Mitteilung an dem fraglichen System technische Änderungen vorgenommen würden, die für die Durchführung dieser Maßnahme erforderlich seien, vermutet werden kann, dass diese Wirtschaftsteilnehmer ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von der vom Systemadministrator versandten Mitteilung Kenntnis erlangten, sich an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne dieser Bestimmung beteiligt haben, wenn sie es unterlassen haben, sich öffentlich von dieser Verhaltensweise zu distanzieren, sie nicht bei den Behörden angezeigt haben oder keine anderen Beweise zur Widerlegung dieser Vermutung wie etwa den Nachweis einer systematischen Gewährung eines über die fragliche Obergrenze hinausgehenden Preisnachlasses vorgelegt haben.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften über die Beweiswürdigung und das Beweismaß zu prüfen, ob im Hinblick auf sämtliche ihm unterbreiteten Umstände das Versenden einer Mitteilung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein hinreichender Beweis dafür sein kann, dass ihre Adressaten deren Inhalt kannten. Die Unschuldsvermutung versagt dem vorlegenden Gericht, davon auszugehen, dass das bloße Versenden einer Mitteilung ein hinreichender Beweis dafür sein könne, dass deren Adressaten zwangsläufig deren Inhalt kennen mussten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Litauisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 14. Januar 2016.#The Royal County of Berkshire Polo Club Ltd gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM).#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Gemeinschaftsmarke – Anmeldung der Gemeinschaftsbildmarke mit den Wortbestandteilen ‚Royal County of Berkshire POLO CLUB‘ und der Abbildung eines Polospielers zu Pferde – Widerspruch der Inhaberin der älteren Gemeinschaftsbildmarken mit den Wortbestandteilen ‚BEVERLY HILLS POLO CLUB‘ – Verordnung (EG) Nr. 207/2009 – Art. 8 Abs. 1 Buchst. b – Verwechslungsgefahr – Teilweise Zurückweisung der Anmeldung – Teils offensichtlich unzulässiges und teils offensichtlich unbegründetes Rechtsmittel.#Rechtssache C-278/15 P.
|
62015CO0278
|
ECLI:EU:C:2016:20
| 2016-01-14T00:00:00 |
Wahl, Gerichtshof
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Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 16. Dezember 2015.#Volžskij trubnyi zavod OAO (VTZ OAO) u. a. gegen Rat der Europäischen Union.#Dumping – Einfuhren bestimmter nahtloser Rohre aus Eisen oder Stahl mit Ursprung in Russland – Endgültiger Antidumpingzoll – Betroffene Ware.#Rechtssache T-108/13.
|
62013TJ0108
|
ECLI:EU:T:2015:980
| 2015-12-16T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0108 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 23. Dezember 2015.#Scotch Whisky Association u. a. gegen The Lord Advocate und The Advocate General for Scotland.#Vorabentscheidungsersuchen des Court of Session (Scotland).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse – Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 – Freier Warenverkehr – Art. 34 AEUV – Mengenmäßige Beschränkungen – Maßnahmen gleicher Wirkung – Mindestpreis für alkoholische Getränke, der sich nach der Alkoholmenge in dem Erzeugnis errechnet – Rechtfertigung – Art. 36 AEUV – Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen – Beurteilung durch das nationale Gericht.#Rechtssache C-333/14.
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62014CJ0333
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ECLI:EU:C:2015:845
| 2015-12-23T00:00:00 |
Bot, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0333
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
23. Dezember 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse — Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 — Freier Warenverkehr — Art. 34 AEUV — Mengenmäßige Beschränkungen — Maßnahmen gleicher Wirkung — Mindestpreis für alkoholische Getränke, der sich nach der Alkoholmenge in dem Erzeugnis errechnet — Rechtfertigung — Art. 36 AEUV — Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen — Beurteilung durch das nationale Gericht“
In der Rechtssache C‑333/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Session (Scotland) (Oberster Gerichtshof Schottlands, Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 3. Juli 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2014, in dem Verfahren
Scotch Whisky Association,
spiritsEUROPE,
Comité de la Communauté économique européenne des Industries et du Commerce des Vins, Vins aromatisés, Vins mousseux, Vins de liqueur et autres Produits de la Vigne (CEEV)
gegen
Lord Advocate,
Advocate General for Scotland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Ersten Kammer R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, A. Arabadjiev, C. Lycourgos (Berichterstatter) und J.‑C. Bonichot,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Scotch Whisky Association, der Vereinigung spiritsEUROPE und des Comité de la Communauté économique européenne des Industries et du Commerce des Vins, Vins aromatisés, Vins mousseux, Vins de Liqueur et autres Produits de la Vigne (CEEV), vertreten durch C. Livingstone, advocate, Rechtsanwalt G. McKinlay, A. O’Neill, QC, J. Holmes und M. Ross, Barristers,
—
des Lord Advocate, vertreten durch S. Bathgate als Bevollmächtigte im Beistand von C. Pang und L. Irvine, advocates, und G. Moynihan, QC,
—
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. R. Brodie, S. Behzadi-Spencer und M. Holt als Bevollmächtigte im Beistand von A. Carmichael, Barrister,
—
der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova und D. Drambozova als Bevollmächtigte,
—
von Irland, vertreten durch E. Creedon, A. Joyce und B. Counihan als Bevollmächtigte im Beistand von B. Doherty, Barrister,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
—
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,
—
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Szwarc, M. Załęska und D. Lutostańska als Bevollmächtigte,
—
der portugiesischen Regierung, vertreten durch A. Gameiro und L. Inez Fernandes als Bevollmächtigte,
—
der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
—
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, N. Otte Widgren, E. Karlsson und L. Swedenborg als Bevollmächtigte,
—
der norwegischen Regierung, vertreten durch K. Nordland Hansen und M. Schei als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers und G. Wilms als Bevollmächtigte,
—
der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch J. T. Kaasin, M. Moustakali und A. Lewis als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 (ABl. L 347, S. 671) sowie der Art. 34 AEUV und 36 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Scotch Whisky Association, spiritsEUROPE sowie dem Comité de la Communauté économique européenne des Industries et du Commerce des Vins, Vins aromatisés, Vins mousseux, Vins de liqueur et autres Produits de la Vigne (CEEV) einerseits und dem Lord Advocate sowie dem Advocate General for Scotland andererseits über die Zulässigkeit des nationalen Gesetzes und des Entwurfs einer Verordnung, mit denen in Schottland für den Verkauf alkoholischer Getränke im Einzelhandel ein Mindestpreis pro Alkoholeinheit (im Folgenden: MPA) eingeführt werden soll.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In den Erwägungsgründen 15, 43, 172 und 174 der Verordnung Nr. 1308/2013 heißt es:
„(15)
In dieser Verordnung sollte die Möglichkeit des Absatzes von zur öffentlichen Intervention angekauften Erzeugnissen vorgesehen werden. Entsprechende Maßnahmen sind so zu ergreifen, dass Marktstörungen vermieden und gleicher Zugang zu den Waren sowie die Gleichbehandlung der Käufer gewährleistet werden.
...
(43) Im Weinsektor sollten Stützungsmaßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsstrukturen vorgesehen werden. …
...
(172) In Anbetracht der besonderen Merkmale des landwirtschaftlichen Sektors und dessen Abhängigkeit vom guten Funktionieren der gesamten Lebensmittelversorgungskette, einschließlich der wirksamen Anwendung der Wettbewerbsregeln in allen verwandten Sektoren entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette, in denen es eine starke Konzentration geben kann, sollte der Anwendung der Wettbewerbsregeln gemäß Artikel 42 AEUV besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. …
...
(174) Eine besondere Herangehensweise ist in Bezug auf landwirtschaftliche Erzeugerbetriebe oder Erzeugerorganisationen oder deren Vereinigungen zulässig, soweit sie insbesondere die gemeinsame Produktion oder Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder die Nutzung gemeinsamer Einrichtungen zum Gegenstand haben, es sei denn, ein solches gemeinsames Handeln schließt den Wettbewerb aus …“
4 Art. 167 („Vermarktungsregeln zur Verbesserung und Stabilisierung des gemeinsamen Marktes für Weine“) der Verordnung Nr. 1308/2013 sieht in seinem Abs. 1 vor :
„Im Hinblick auf ein besseres und stabileres Funktionieren des gemeinsamen Marktes für Weine, einschließlich der Weintrauben, Traubenmoste und Weine, von denen sie stammen, können die Erzeugermitgliedstaaten insbesondere mittels Durchführung der Beschlüsse der gemäß Artikel 157 und 158 anerkannten Branchenverbände Vermarktungsregeln zur Steuerung des Angebots festlegen.
Diese Regeln müssen im Verhältnis zu dem angestrebten Ziel angemessen sein und dürfen
a)
sich nicht auf Operationen nach der Erstvermarktung des betreffenden Erzeugnisses beziehen;
b)
keine Preisfestsetzung erlauben, sei es auch nur als Orientierung oder Empfehlung;
...“
Das Recht des Vereinigten Königreichs
5 Das Gesetz von 2012 über Mindestpreise für Alkohol in Schottland (Alcohol [Minimum Pricing] [Scotland] Act 2012, im Folgenden: Gesetz von 2012) sieht die Festlegung eines MPA vor, den jeder Inhaber der Konzession, die in Schottland für den Verkauf von alkoholischen Getränken im Einzelhandel erforderlich ist, beachten muss.
6 Das Gesetz von 2012 bestimmt, dass die schottische Regierung den MPA durch eine Verordnung festlegt. Zu diesem Zweck hat die schottische Regierung den Entwurf einer vom schottischen Parlament zu billigenden Verordnung ausgearbeitet, nämlich der Verordnung von 2013 über den Mindestpreis pro Alkoholeinheit in Schottland (The Alcohol [Minimum Price per Unit] [Scotland] Order 2013, im Folgenden: MPA-Verordnung).
7 In dieser Verordnung wird der MPA mit 0,50 Pfund Sterling (GBP) (ungefähr 0,70 Euro) festgesetzt. Der Mindestverkaufspreis eines Erzeugnisses bestimmt sich anschließend nach folgender Formel: MPA x K x V x 100, wobei „MPA“ den Mindestpreis pro Einheit, „K“ den Alkoholgehalt und „V“ das Volumen des Alkohols in Litern bezeichnet.
8 Das Gesetz von 2012 verpflichtet die schottische Regierung dazu, die Auswirkungen der Festsetzung eines MPA zu bewerten, um dem Parlament innerhalb von fünf Jahren nach dem Inkrafttreten der Regelung einen Bericht vorzulegen. Das Gesetz sieht außerdem vor, dass die Festsetzung eines MPA sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der MPA-Verordnung auslaufen soll, es sei denn, das Parlament beschließt, den MPA beizubehalten.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 Das Gesetz von 2012 wurde vom schottischen Parlament verabschiedet, aber nur einige seiner „formellen Teile“ sind am 29. Juni 2012 in Kraft getreten. Gemäß dem Gesetz erließen die schottischen Minister die MPA-Verordnung, in der der MPA mit 0,50 Pfund Sterling (GBP) (ungefähr 0,70 Euro) festgesetzt wird.
10 Am 25. Juni 2012 unterrichteten die schottischen Minister die Europäische Kommission nach Maßgabe der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (ABl. L 204, S. 37) über die MPA-Verordnung. In einer Stellungnahme vom 25. September 2012 vertrat die Kommission die Auffassung, dass die nationale Maßnahme eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV darstelle, die sich nicht gemäß Art. 36 AEUV rechtfertigen lasse.
11 Am 19. Juli 2012 initiierten die Kläger des Ausgangsverfahrens ein gerichtliches Normenkontrollverfahren zur Prüfung des Gesetzes von 2012 und der MPA-Verordnung. Nachdem sie in erster Instanz unterlegen waren, legten sie beim Court of Session (Scotland) (Oberster Gerichtshof Schottlands) dagegen Berufung ein. Die schottischen Minister haben sich im Übrigen dazu verpflichtet, die Bestimmungen über den MPA nicht vor dem Abschluss dieses Verfahrens in Kraft treten zu lassen.
12 Unter diesen Umständen hat der Court of Session (Scotland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist es nach dem Unionsrecht über die Gemeinsame Marktordnung für Wein und insbesondere der Verordnung Nr. 1308/2013 zulässig, wenn ein Mitgliedstaat eine nationale Maßnahme erlässt, durch die für Wein ein an den Alkoholgehalt in dem verkauften Erzeugnis anknüpfender Mindestverkaufspreis im Einzelhandel festgelegt wird und die damit von dem an sich auf dem Weinmarkt geltenden Grundsatz der freien Preisbildung durch Marktkräfte abweicht?
2. Wenn im Sinne einer Rechtfertigung nach Art. 36 AEUV
i)
ein Mitgliedstaat zu der Ansicht gelangt ist, dass es zum Schutz der menschlichen Gesundheit zweckmäßig ist, die Kosten des Konsums von Waren – hier alkoholischen Getränken – für Verbraucher oder eine Gruppe von Verbrauchern zu erhöhen, und
ii)
es dem Mitgliedstaat freisteht, Verbrauch- oder andere Steuern auf diese Waren zu erheben (einschließlich Steuern oder Abgaben, die auf dem Alkoholgehalt, der Menge oder dem Wert beruhen, bzw. einer Kombination solcher steuerlichen Maßnahmen),
ist es dann unionsrechtlich zulässig – und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen –, dass sich der Mitgliedstaat gegen solche steuerlichen Mittel zur Erhöhung des Verbraucherpreises und stattdessen für gesetzgeberische Maßnahmen entscheidet, durch die ein Mindestpreis im Einzelhandel festgelegt wird und die den Handel und den Wettbewerb innerhalb der Union verfälschen?
3. Wird ein Gericht in einem Mitgliedstaat mit der Entscheidung der Frage befasst, ob eine gesetzgeberische Maßnahme, die eine mit Art. 34 AEUV unvereinbare mengenmäßige Beschränkung darstellt, jedoch nach Art. 36 AEUV zum Schutz der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt sein kann, hat sich das nationale Gericht dann allein auf die Angaben, Beweismittel oder sonstigen Unterlagen zu beschränken, die dem Gesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorschriften zur Verfügung gestanden haben und von diesem berücksichtigt worden sind? Falls nein, welchen anderen Beschränkungen könnte die Befugnis des nationalen Gerichts unterliegen, alle Unterlagen oder Beweismittel zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zur Verfügung stehen und von den Parteien vorgelegt werden?
4. Wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats bei seiner Auslegung und Anwendung des Unionsrechts das Vorbringen der nationalen Behörden zu prüfen hat, dass eine Maßnahme, die an sich eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV darstellt, zum Schutz der menschlichen Gesundheit als Ausnahme nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt sei, inwieweit ist das nationale Gericht dann verpflichtet oder berechtigt, sich auf der Grundlage der ihm vorliegenden Unterlagen eine objektive Meinung von der Geeignetheit der Maßnahme zur Erreichung des angegebenen Ziels, von der Verfügbarkeit mindestens gleichwertiger alternativer Maßnahmen, die den Wettbewerb innerhalb der Union weniger beeinträchtigen, und von der allgemeinen Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu bilden?
5. Darf (im Rahmen einer Meinungsverschiedenheit darüber, ob eine Maßnahme nach Art. 36 AEUV zum Schutz der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt ist) bei der Prüfung der Frage, ob es eine alternative Maßnahme gibt, die den Handel und den Wettbewerb innerhalb der Union nicht oder zumindest weniger beeinträchtigt, diese alternative Maßnahme mit der Begründung von der Hand gewiesen werden, dass ihre Wirkungen möglicherweise nicht genau den Wirkungen der nach Art. 34 AEUV verbotenen Maßnahme entsprechen, sondern in weiteren, zusätzlichen Vorteilen bestehen können und der Erreichung eines umfassenderen, allgemeinen Ziels förderlich sein können?
6. Inwieweit darf bei der Beurteilung einer nationalen Maßnahme, die anerkanntermaßen oder nach den Feststellungen eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV darstellt, für die ein Rechtfertigungsgrund nach Art. 36 AEUV geltend gemacht wird, und insbesondere bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ein mit dieser Aufgabe betrautes Gericht seine eigene Beurteilung des Wesens und des Ausmaßes des Verstoßes der als mengenmäßige Beschränkung nach Art. 34 AEUV verbotenen Maßnahme zugrunde legen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
13 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die für den Verkauf von Wein im Einzelhandel einen MPA vorgibt.
14 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte (im Folgenden: GMO) gemäß Art. 40 Abs. 2 AEUV alle zur Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) im Sinne von Art. 39 AEUV erforderlichen Maßnahmen, insbesondere Preisregelungen, einschließen kann.
15 Außerdem soll mit der Verordnung Nr. 1308/2013, wie aus ihrem Erwägungsgrund 3 hervorgeht, eine GMO für alle in Anhang I des EUV und des AEUV aufgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse, zu denen Wein gehört, geschaffen werden.
16 Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der in den 80er Jahren in der Europäischen Gemeinschaft geltenden GMO für Wein vertreten die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens die Ansicht, dass die Verordnung Nr. 1308/2013 ein vollständiges Regelungssystem für den gemeinsamen Weinmarkt, insbesondere hinsichtlich der Preise, darstelle. Unter diesen Umständen dürften die Mitgliedstaaten keine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige erlassen. Speziell das Verbot für die Mitgliedstaaten, einseitig Maßnahmen zur Festsetzung der Einzelhandelspreise für Weine zu ergreifen, ergebe sich ausdrücklich aus Art. 167 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung.
17 Die Verordnung Nr. 1308/2013 enthält jedoch – wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zutreffend ausgeführt hat – weder Vorschriften, die die Festsetzung der Einzelhandelspreise für Weine, sei es auf nationaler Ebene oder auf Unionsebene, erlauben, noch Vorschriften, die den Mitgliedstaaten den Erlass nationaler Maßnahmen zur Festlegung solcher Preise verbieten.
18 Denn Art. 167 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung sieht zwar ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten keine Preisfestsetzung erlauben dürfen, sei es auch nur als Orientierung oder Empfehlung. Dies gilt jedoch allein im Rahmen der Festlegung von Vermarktungsregeln zur Steuerung des Angebots auf dem gemeinsamen Markt für Weine, insbesondere mittels Durchführung der Beschlüsse der Branchenverbände.
19 Folglich bleiben die Mitgliedstaaten grundsätzlich für den Erlass bestimmter Maßnahmen zuständig, die nicht in der Verordnung Nr. 1308/2013 vorgesehen sind, sofern diese Maßnahmen nicht so beschaffen sind, dass sie von der Verordnung Nr. 1308/2013 abweichen oder diese Verordnung beeinträchtigen oder deren ordnungsgemäßes Funktionieren behindern (vgl. in diesem Sinne Urteil Kuipers, C‑283/03, EU:C:2005:314, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Was die Festsetzung eines Mindestpreises betrifft, ist – wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 und 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – mangels eines Preisfestsetzungsmechanismus die freie Bestimmung der Verkaufspreise auf der Grundlage des freien Wettbewerbs einer der Bestandteile der Verordnung Nr. 1308/2013 und Ausdruck des Grundsatzes des freien Warenverkehrs unter Bedingungen wirksamen Wettbewerbs.
21 Im Ausgangsverfahren hat die Vorgabe eines MPA zur Folge, dass der Einzelhandelspreis örtlich erzeugter oder eingeführter Weine unter keinen Umständen unter diesem verbindlichen Mindestpreis liegen darf. Eine derartige Maßnahme kann daher die Wettbewerbsverhältnisse beeinträchtigen, indem sie bestimmte Hersteller oder Einführer daran hindert, niedrigere Gestehungskosten auszunutzen, um günstigere Einzelhandelspreise anzubieten (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Frankreich, C‑197/08, EU:C:2010:111, Rn. 37, und Kommission/Irland, C‑221/08, EU:C:2010:113, Rn. 40).
22 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die gemeinsamen Marktorganisationen auf dem Grundsatz eines offenen Marktes beruhen, zu dem jeder Erzeuger unter Bedingungen eines wirksamen Wettbewerbs freien Zugang hat (Urteil Milk Marque und National Farmers’ Union, C‑137/00, EU:C:2003:429, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf den Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse ist im Übrigen eines der Ziele der GAP (Urteil Panellinios Syndesmos Viomichanion Metapoiisis Kapnou, C‑373/11, EU:C:2013:567, Rn. 37), was sich in mehreren Erwägungsgründen der Verordnung Nr. 1308/2013 widerspiegelt, etwa in den Erwägungsgründen 15, 43, 172 und 174.
24 Folglich ist die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung, die für den Verkauf von Wein im Einzelhandel einen MPA vorgibt, geeignet, die Verordnung Nr. 1308/2013 zu beeinträchtigen, da eine solche Maßnahme dem Grundsatz zuwiderläuft, auf den sich die Verordnung gründet, dass sich die Verkaufspreise für Agrarzeugnisse auf der Grundlage eines freien Wettbewerbs frei bilden sollen.
25 Der Lord Advocate macht jedoch geltend, dass die Verordnung Nr. 1308/2013 die schottischen Behörden nicht daran hindere, die im Ausgangsverfahren streitige Maßnahme zu erlassen, da diese Maßnahme das Ziel verfolge, durch die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, und damit ein Ziel, das nicht unmittelbar von der Verordnung Nr. 1308/2013 erfasst werde.
26 Insoweit ist festzustellen, dass die Schaffung einer GMO es den Mitgliedstaaten tatsächlich nicht verwehrt, nationale Regelungen anzuwenden, die ein im Allgemeininteresse liegendes anderes Ziel als die von der betreffenden GMO erfassten Ziele verfolgt, selbst wenn diese Regelung einen Einfluss auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes im betroffenen Wirtschaftsbereich hat (vgl. Urteil Hammarsten, C-462/01, EU:C:2003:33, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Demnach darf sich ein Staat auf das Ziel berufen, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, um eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren streitige zu rechtfertigen, die das System der freien Preisbildung unter wirksamen Wettbewerbsbedingungen beeinträchtigt, auf das sich die Verordnung Nr. 1308/2013 gründet.
28 Eine beschränkende Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren nach der streitigen nationalen Regelung vorgesehene, muss jedoch den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen, d. h., sie muss geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. entsprechend Urteil Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 64). Dies wird der Gerichtshof im Rahmen der zweiten bis sechsten Frage prüfen, in denen es speziell um die Verhältnismäßigkeit dieser Regelung geht. In jedem Fall muss die Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung insbesondere der Ziele der GAP und des guten Funktionierens der GMO erfolgen, was einen Ausgleich zwischen diesen Zielen und dem von der nationalen Regelung verfolgten Ziel, dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, erfordert.
29 Demzufolge ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, die für den Verkauf von Wein im Einzelhandel einen MPA vorgibt, sofern diese Maßnahme tatsächlich geeignet ist, das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, zu gewährleisten, und unter Berücksichtigung der Ziele der GAP sowie des guten Funktionierens der GMO nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um das genannte Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, zu erreichen.
Zur zweiten und zur fünften Frage
30 Mit seiner zweiten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 34 AEUV und 36 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, dass er sich, wenn er das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, dadurch erreichen möchte, dass er den Alkoholkonsum verteuert, für eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige entscheidet, die für den Verkauf alkoholischer Getränke im Einzelhandel einen MPA vorgibt, und von einer Maßnahme wie einer Verbrauchsteuer, die den Handelsverkehr und den Wettbewerb innerhalb der Union weniger einschränken würde, aus dem Grund Abstand nimmt, dass die letztgenannte Maßnahme geeignet ist, weitere, zusätzliche Vorteile mit sich zu bringen und einem umfassenderen, allgemeineren Ziel zu dienen als die gewählte Maßnahme.
31 Nach ständiger Rechtsprechung ist jede Maßnahme eines Mitgliedstaats, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen im Sinne des Art. 34 AEUV anzusehen (vgl. u. a. Urteile Dassonville, 8/74, EU:C:1974:82, Rn. 5, und Juvelta, C-481/12, EU:C:2014:11, Rn. 16).
32 Wie der Generalanwalt in den Rn. 59 und 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die im Ausgangsverfahren streitige Regelung allein deshalb, weil sie verhindert, dass sich niedrigere Gestehungskosten eingeführter Erzeugnisse im Endverkaufspreis niederschlagen können, geeignet, alkoholhaltigen Getränken, die in anderen Mitgliedstaaten als dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland rechtmäßig vertrieben werden, den Zugang zum britischen Markt zu erschweren, und stellt somit eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV dar (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 37, ANETT,C‑456/10, EU:C:2012:241, Rn. 35, und Vilniaus energija, C‑423/13, EU:C:2014:2186, Rn. 48), was im Übrigen weder vom vorlegenden Gericht noch von einer der Parteien, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, in Abrede gestellt wird.
33 Nach ständiger Rechtsprechung lässt sich eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung nur dann u. a. mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV rechtfertigen, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das dazu Erforderliche hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil ANETT, C‑456/10, EU:C:2012:241, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Was das Ziel betrifft, das mit der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung verfolgt wird, führt das vorlegende Gericht aus, dass aus der Begründung des dem schottischen Parlament vorgelegten Entwurfs des Gesetzes von 2012 sowie einer unlängst durchgeführten Untersuchung mit dem Titel „Business and Regulatory Impact Assessment“ hervorgehe, dass diese ein doppeltes Ziel verfolge, nämlich eine zielgerichtete Verringerung des Alkoholkonsums sowohl bei Verbrauchern mit einem gefährlichen oder schädigenden Trinkverhalten als auch in der Bevölkerung allgemein. In der mündlichen Verhandlung hat der Lord Advocate dieses doppelte Ziel bestätigt, das, indem es die gesamte Bevölkerung in den Fokus nimmt, als Zielgruppe, wenn auch nicht vorrangig, Verbraucher mit gemäßigtem Alkoholkonsum einschließt.
35 Somit ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren streitige Regelung – allgemeiner ausgedrückt – das Ziel verfolgt, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, und damit ein Ziel, das unter den von Art. 36 AEUV geschützten Gütern und Interessen den ersten Rang einnimmt. Insoweit ist es Sache der Mitgliedstaaten, in den durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu bestimmen, auf welchem Niveau sie diesen Schutz gewährleisten wollen (Urteil Rosengren u. a., C‑170/04, EU:C:2007:313, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Was die Frage betrifft, ob diese Regelung geeignet ist, das genannte Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, zu erreichen, so erscheint es, wie der Generalanwalt in Rn. 127 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht unschlüssig, anzunehmen, dass eine Maßnahme, mit der ein Mindestpreis für alkoholische Getränke festgesetzt wird, der ganz speziell eine Anhebung des Preises für billige alkoholische Getränke bezweckt, geeignet ist, den Alkoholkonsum im Allgemeinen und den gefährlichen und schädigenden Konsum im Besonderen zu vermindern, da Personen mit einem entsprechenden Konsumverhalten in großem Umfang billige alkoholische Getränke kaufen.
37 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung nur dann als geeignet angesehen werden kann, die Verwirklichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kakavetsos‑Fragkopoulos, C‑161/09, EU:C:2011:110, Rn. 42, sowie entsprechend Urteil Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 64).
38 Aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten, den Erklärungen des Lord Advocate sowie den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung ergibt sich insoweit, dass die im Ausgangsverfahren streitige Regelung Teil einer allgemeineren politischen Strategie ist, mit der die zerstörerischen Auswirkungen des Alkohols bekämpft werden sollen. Der von dieser Regelung vorgesehene verbindliche MPA ist nämlich eine von 40 Maßnahmen, die bezwecken, den Konsum von Alkohol in der schottischen Bevölkerung insgesamt – unabhängig davon, wo und wie er stattfindet – in kohärenter und systematischer Weise zu reduzieren.
39 Die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung stellt sich folglich als zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet dar.
40 Die Prüfung der Frage, ob diese nationale Regelung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Gesundheit und das Leben von Menschen wirksam zu schützen, muss im vorliegenden Fall – wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt – auch unter Berücksichtigung der Ziele der GAP und des guten Funktionierens der GMO erfolgen. In Anbetracht der vorliegend untersuchten Fragestellung muss diese Prüfung aber als Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von Art. 36 AEUV durchgeführt werden und darf somit nicht gesondert erfolgen.
41 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung oder Praxis nicht unter die Ausnahme nach Art. 36 AEUV fällt, wenn die Gesundheit und das Leben von Menschen genauso wirksam durch Maßnahmen geschützt werden können, die den Handelsverkehr innerhalb der Union weniger beschränken (Urteil Rosengren u. a., C‑170/04, EU:C:2007:313, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 In diesem Zusammenhang nennt das vorlegende Gericht konkret eine steuerliche Maßnahme wie eine erhöhte Besteuerung alkoholischer Getränke, von der es meint, dass sich mit ihr das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, ebenso wirksam erreichen ließe wie mit einer Maßnahme, die einen MPA festsetzt, dass sie aber den freien Warenverkehr weniger einschränken würde. Hierüber sind sich die Parteien, die Erklärungen abgegeben haben, jedoch uneins.
43 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, wie es der Generalanwalt in Nr. 143 seiner Schlussanträge getan hat, dass das Unionsrecht grundsätzlich einer erhöhten Besteuerung alkoholischer Getränke nicht entgegensteht. Den Mitgliedstaaten verbleibt daher hinreichend Gestaltungsspielraum, um insbesondere die Verwirklichung spezieller Ziele der öffentlichen Gesundheit zu verfolgen.
44 Ferner ist festzustellen, dass eine Steuerregelung ein wichtiges und wirksames Instrument zur Bekämpfung des Konsums alkoholischer Getränke und damit zum Schutz der öffentlichen Gesundheit darstellt. Das Ziel, sicherzustellen, dass für diese Getränke hohe Preise festgesetzt werden, kann in angemessener Weise durch ihre erhöhte Besteuerung verfolgt werden, da sich die Verbrauchsteuererhöhungen früher oder später in einer Erhöhung der Einzelhandelspreise niederschlagen müssen, ohne dass dies den Grundsatz der freien Preisfestsetzung antasten würde (vgl. in diesem Zusammenhang Urteile Kommission/Griechenland, C‑216/98, EU:C:2000:571, Rn. 31, und Kommission/Frankreich, C‑197/08, EU:C:2010:111, Rn. 52).
45 Entgegen dem Vorbringen des Lord Advocate spricht der Umstand, dass die in der vorstehenden Randnummer angeführte Rechtsprechung Tabakwaren betrifft, nicht gegen die Übertragung dieser Rechtsprechung auf das Ausgangsverfahren, in dem es um den Vertrieb alkoholischer Getränke geht. Im Rahmen nationaler Maßnahmen, die den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen bezwecken, und unabhängig von den Eigenheiten des jeweiligen Erzeugnisses lässt sich nämlich bei alkoholischen Getränken ebenso wie bei Tabakwaren eine Preisanhebung durch eine erhöhte Besteuerung erreichen.
46 Eine fiskalische Maßnahme, mit der die Steuern auf alkoholische Getränke erhöht werden, kann für den Handel mit diesen Waren innerhalb der Union weniger einschränkend sein als eine Maßnahme, mit der ein MPA vorgegeben wird. Denn die letztgenannte Maßnahme schränkt, wie in Rn. 21 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Gegensatz zu einer Erhöhung der auf diese Waren erhobenen Steuer die Freiheit der Wirtschaftsteilnehmer, ihre Einzelhandelspreise zu bestimmen, erheblich ein und stellt infolgedessen ein ernsthaftes Hindernis für den Zugang alkoholhaltiger Getränke, die in anderen Mitgliedstaaten als dem Vereinigten Königreich rechtmäßig vertrieben werden, zum britischen Markt sowie für den freien Wettbewerb auf diesem Markt dar.
47 Was schließlich die Frage betrifft, ob es möglich ist, von steuerlichen Maßnahmen abzusehen und stattdessen einen MPA einzuführen, weil sich das angestrebte Ziel mit steuerlichen Maßnahmen nicht ebenso wirksam erreichen lasse, so ist festzustellen, dass der Umstand, dass eine erhöhte Besteuerung alkoholischer Getränke eine allgemeine Anhebung der Preise für diese Getränke nach sich zieht, die sowohl Verbraucher mit einem moderaten Alkoholkonsum als auch solche mit einem gefährlichen oder schädigenden Trinkverhalten trifft, im Hinblick auf das in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannte doppelte Ziel, das mit der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung verfolgt wird, nicht zu dem Schluss führen kann, dass eine solche erhöhte Besteuerung weniger wirksam wäre als die gewählte Maßnahme.
48 Vielmehr könnte unter den gegebenen Umständen, worauf der Generalanwalt in Nr. 150 seiner Schlussanträge hingewiesen hat, die Tatsache, dass eine Maßnahme der erhöhten Besteuerung im Vergleich zur Vorgabe eines MPA möglicherweise zusätzliche Vorteile mit sich bringt, weil sie zur Verwirklichung des allgemeinen Ziels der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs beiträgt, nicht nur keinen Grund darstellen, von einer solchen Maßnahme Abstand zu nehmen, sondern in ihr läge gerade ein Gesichtspunkt, der dafür spräche, auf diese Maßnahme anstatt auf die Vorgabe eines MPA zurückzugreifen.
49 Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, dem allein alle rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens kennzeichnen, zugänglich sind, die Frage zu klären, ob eine andere Maßnahme als die im Ausgangsverfahren nach der streitigen Regelung vorgesehene – wie eine erhöhte Besteuerung alkoholischer Getränke – geeignet ist, die Gesundheit und das Leben von Menschen ebenso wirksam zu schützen wie diese Regelung, gleichzeitig aber den Handel mit diesen Waren innerhalb der Union weniger einschränkt.
50 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass auf die zweite und die fünfte Frage zu antworten ist, dass die Art. 34 AEUV und 36 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, dass er sich, wenn er das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, dadurch erreichen möchte, dass er den Alkoholkonsum verteuert, für eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige entscheidet, die für den Verkauf alkoholischer Getränke im Einzelhandel einen MPA vorgibt, und von einer Maßnahme wie einer Verbrauchsteuer Abstand nimmt, die den Handelsverkehr und den Wettbewerb innerhalb der Union möglicherweise weniger einschränken würde. Ob dies wirklich der Fall ist, hat das vorlegende Gericht anhand einer eingehenden Prüfung aller einschlägigen Gesichtspunkte der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermitteln. Die Tatsache allein, dass die letztgenannte Maßnahme geeignet ist, weitere, zusätzliche Vorteile mit sich zu bringen und dem Ziel der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs in einer umfassenderen Weise zu dienen, vermag es nicht zu rechtfertigen, von dieser Maßnahme Abstand zu nehmen.
Zur vierten und zur sechsten Frage
51 Mit seiner vierten und seiner sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Anforderungen Art. 36 AEUV an die Intensität der Verhältnismäßigkeitskontrolle stellt, die das vorlegende Gericht vornehmen muss, wenn es prüft, ob eine nationale Regelung wegen des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach diesem Artikel gerechtfertigt ist.
52 Nach der in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist es Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen, wobei die Erfordernisse des freien Warenverkehrs innerhalb der Union zu berücksichtigen sind.
53 Da ein Verbot, wie es sich aus der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung ergibt, eine Ausnahme vom Grundsatz des freien Warenverkehrs darstellt, haben die nationalen Behörden darzutun, dass diese Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, d. h., dass sie erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen, und dass sich das angestrebte Ziel nicht durch Verbote oder Beschränkungen erreichen ließe, die weniger weit gehen oder den Handel innerhalb der Union weniger beeinträchtigen würden (vgl. in diesem Sinne Urteile Franzén, C‑189/95, EU:C:1997:504, Rn. 75 und 76, und Rosengren u. a., C‑170/04, EU:C:2007:313, Rn. 50).
54 Insoweit müssen die Rechtfertigungsgründe, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, von geeigneten Beweisen oder einer Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat erlassenen beschränkenden Maßnahme sowie von genauen Angaben zur Stützung seines Vorbringens begleitet sein (vgl. in diesem Sinne Urteile Lindman, C‑42/02, EU:C:2003:613 Rn. 25, Kommission/Belgien,C‑227/06, EU:C:2008:160, Rn. 63, und ANETT, C‑456/10, EU:C:2012:241, Rn. 50).
55 Diese Beweislast darf allerdings nicht so weit gehen, dass die nationalen Behörden, wenn sie eine nationale Regelung, mit der eine Maßnahme wie ein MPA vorgegeben wird, positiv belegen müssten, dass sich dieses Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 66).
56 In diesem Zusammenhang obliegt es dem vorlegenden Gericht, das mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der betreffenden nationalen Regelung befasst ist, die Stichhaltigkeit der von den zuständigen nationalen Behörden vorgelegten Beweise zu prüfen, damit es feststellen kann, ob die nationale Regelung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Auf der Grundlage dieser Beweise muss das vorlegende Gericht insbesondere objektiv untersuchen, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken.
57 Im vorliegenden Fall darf das vorlegende Gericht im Rahmen einer solchen Prüfung mögliche wissenschaftliche Unsicherheiten hinsichtlich der konkreten und tatsächlichen Auswirkungen einer Maßnahme wie des MPA für die Erreichung des verfolgten Ziels berücksichtigen. Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist der Umstand, dass die nationale Regelung vorsieht, dass die Festsetzung eines MPA sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der MPA-Verordnung auslaufen soll, sofern das schottische Parlament nicht seine Beibehaltung beschließt, ein Gesichtspunkt, den das vorlegende Gericht gleichfalls berücksichtigen kann.
58 Das vorlegende Gericht muss außerdem bei seinem Vergleich mit anderen möglichen Maßnahmen, die den Handel innerhalb der Union weniger beeinträchtigen, die Art und den Umfang der Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit, die sich aus einer Maßnahme wie dem MPA ergibt, sowie die Auswirkungen einer solchen Maßnahme auf die GMO beurteilen, da diese Beurteilung zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit gehört.
59 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 36 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, wenn es eine nationale Regelung darauf prüft, ob sie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach diesem Artikel gerechtfertigt ist, objektiv prüfen muss, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr und die GMO weniger einschränken.
Zur dritten Frage
60 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 36 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren streitigen auf die Angaben, Beweismittel oder sonstigen Unterlagen beschränkt ist, die dem Gesetzgeber bei ihrem Erlass zur Verfügung gestanden haben.
61 Dem vorlegenden Gericht zufolge sind die Parteien des Ausgangsverfahrens uneins darüber, auf welchen Zeitpunkt bei der Würdigung der Rechtmäßigkeit der betreffenden nationalen Maßnahme abzustellen ist. Das vorlegende Gericht fragt sich, welche Unterlagen und Beweismittel bei der Beurteilung, ob diese Maßnahme nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt ist, von ihm geprüft werden müssen, wenn ihm nunmehr neue Studien zur Verfügung stehen, die vom nationalen Gesetzgeber beim Erlass der Maßnahme nicht berücksichtigt wurden.
62 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Erfordernisse des Unionsrechts jederzeit zu beachten sind, sei es zum Zeitpunkt des Erlasses einer Maßnahme, zum Zeitpunkt ihrer Durchführung oder zum Zeitpunkt ihrer Anwendung auf den konkreten Einzelfall (Urteil Seymour-Smith und Perez, C‑167/97, EU:C:1999:60, Rn. 45).
63 Im vorliegenden Fall ist das nationale Gericht damit betraut, die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu prüfen, obgleich die betreffende Regelung in der nationalen Rechtsordnung nicht in Kraft getreten ist. Folglich muss es die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung beurteilen.
64 Bei dieser Beurteilung muss das vorlegende Gericht alle Angaben, Beweismittel und sonstigen einschlägigen Unterlagen berücksichtigen, von denen es gemäß den Bedingungen seines nationalen Rechts Kenntnis hat. Eine solche Beurteilung ist erst recht geboten, wenn – wie im Ausgangsverfahren – hinsichtlich der tatsächlichen Wirkungen der Maßnahmen, die die nationale Regelung vorsieht, deren Rechtmäßigkeit der Kontrolle durch das vorlegende Gericht unterliegt, wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen.
65 Demzufolge ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 36 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht auf die Angaben, Beweismittel oder sonstigen Unterlagen beschränkt ist, die dem Gesetzgeber bei ihrem Erlass zur Verfügung gestanden haben. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens muss die Kontrolle der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Unionsrecht auf der Grundlage der Angaben, Beweismittel und sonstigen Unterlagen erfolgen, die dem nationalen Gericht gemäß den Bedingungen seines nationalen Rechts zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zur Verfügung stehen.
Kosten
66 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, die für den Verkauf von Wein im Einzelhandel einen Mindestpreis pro Alkoholeinheit vorgibt, sofern diese Maßnahme tatsächlich geeignet ist, das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, zu gewährleisten und unter Berücksichtigung der Ziele der Gemeinsamen Agrarpolitik sowie des guten Funktionierens der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um das genannte Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, zu erreichen.
2. Die Art. 34 AEUV und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, dass er sich, wenn er das Ziel, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen, dadurch erreichen möchte, dass er den Alkoholkonsum verteuert, für eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige entscheidet, die für den Verkauf alkoholischer Getränke im Einzelhandel einen Mindestpreis pro Alkoholeinheit vorgibt, und von einer Maßnahme wie einer Verbrauchsteuer Abstand nimmt, die den Handelsverkehr und den Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union weniger einschränken würde. Ob dies der Fall ist, hat das vorlegende Gericht anhand einer eingehenden Prüfung aller einschlägigen Gesichtspunkte der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermitteln. Die Tatsache allein, dass die letztgenannte Maßnahme geeignet ist, weitere, zusätzliche Vorteile mit sich zu bringen und dem Ziel der Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs in einer umfassenderen Weise zu dienen, vermag es nicht zu rechtfertigen, von dieser Maßnahme Abstand zu nehmen.
3. Art. 36 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn es eine nationale Regelung darauf prüft, ob sie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach diesem Artikel gerechtfertigt ist, objektiv prüfen muss, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr und die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte weniger einschränken.
4. Art. 36 AEUV ist dahin auszulegen, dass die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht auf die Angaben, Beweismittel oder sonstigen Unterlagen beschränkt ist, die dem Gesetzgeber bei ihrem Erlass zur Verfügung gestanden haben. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens muss die Kontrolle der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Unionsrecht auf der Grundlage der Angaben, Beweismittel und sonstigen Unterlagen erfolgen, die dem nationalen Gericht gemäß den Bedingungen seines nationalen Rechts zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zur Verfügung stehen.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Englisch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 1. Dezember 2015.#Aguy Clement Georgias u. a. gegen Rat der Europäischen Union und Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Schadensersatzklage – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in Simbabwe – Streichung des Betroffenen von der Liste der in Rede stehenden Personen und Organisationen – Ersatz des angeblich entstandenen Schadens.#Rechtssache C-545/14 P.
|
62014CO0545
|
ECLI:EU:C:2015:791
| 2015-12-01T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
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EUR-Lex - CELEX:62014CO0545 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 23. November 2015. # Carsten René Beul gegen Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union. # Nichtigkeitsklage - Funktionieren der Finanzmärkte - Verordnung (EU) Nr. 537/2014 - Gesetzgebungsakt - Keine individuelle Betroffenheit - Unzulässigkeit. # Rechtssache T-640/14.
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62014TO0640
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ECLI:EU:T:2015:907
| 2015-11-23T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TO0640
BESCHLUSS DES GERICHTS (Neunte Kammer)
23. November 2015 (*1)
„Nichtigkeitsklage — Funktionieren der Finanzmärkte — Verordnung (EU) Nr. 537/2014 — Gesetzgebungsakt — Keine individuelle Betroffenheit — Unzulässigkeit“
In der Rechtssache T‑640/14
Carsten René Beul, wohnhaft in Neuwied (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwalt K.-G. Stümper, dann Rechtsanwälte H.-M. Pott und T. Eckhold,
Kläger,
gegen
Europäisches Parlament, vertreten durch P. Schonard und D. Warin als Bevollmächtigte,
und
Rat der Europäischen Union, vertreten durch R. Wiemann und N. Rouam als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission (ABl. L 158, S. 77)
erlässt
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten G. Berardis sowie der Richter O. Czúcz (Berichterstatter) und A. Popescu,
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
Sachverhalt, Verfahren und Anträge der Parteien
1 Der Kläger, Herr Carsten René Beul, ist ein nach dem Gesetz über eine Berufsordnung der Wirtschaftsprüfer (Wirtschaftsprüferordnung) zugelassener Wirtschaftsprüfer. Damit ist er nach deutschem Recht zur Durchführung der Abschlussprüfung bei Unternehmen, einschließlich Unternehmen von öffentlichem Interesse, befugt.
2 Am 16. April 2014 erließen das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Verordnung (EU) Nr. 537/2014 über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission (ABl. L 158, S. 77, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
3 Nach Art. 1 der angefochtenen Verordnung, der deren Gegenstand festlegt, enthält diese Verordnung Anforderungen an die Prüfung von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen bei Unternehmen von öffentlichem Interesse, Vorschriften für die Organisation von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften und für deren Auswahl durch Unternehmen von öffentlichem Interesse mit dem Ziel, deren Unabhängigkeit und die Vermeidung von Interessenkonflikten zu fördern, sowie Vorschriften für die Überwachung der Einhaltung dieser Anforderungen durch Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften.
4 Mit Klageschrift, die am 20. August 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.
5 Mit besonderen Schriftsätzen, die am 27. bzw. 28. November 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben das Parlament und der Rat jeweils eine Einrede der Unzulässigkeit nach Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 erhoben. Der Kläger hat seine Stellungnahme zu diesen Einreden am 12. Januar 2015 eingereicht.
6 Die Europäische Kommission hat mit Schriftsatz, der am 18. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Parlaments und des Rates zugelassen zu werden.
7 Das Parlament hat mit Schriftsatz, der am 22. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, mitgeteilt, dass es keine Einwände gegen den Antrag der Kommission auf Zulassung zur Streithilfe habe. Der Kläger und der Rat haben keine Stellungnahmen zu diesem Antrag abgegeben.
8 Der Kläger beantragt, die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären.
9 Das Parlament beantragt,
—
die Klage als unzulässig abzuweisen;
—
hilfsweise, für den Fall, dass das Gericht die Einrede verwerfen oder die Entscheidung über die Zulässigkeit dem Endurteil vorbehalten sollte, dem Parlament eine neue Frist zur Einlassung, einschließlich zur Frage der Begründetheit, zu setzen;
—
dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
10 Der Rat beantragt,
—
die Klage als unzulässig abzuweisen;
—
dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
11 Gemäß Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts kann dieses auf Antrag des Beklagten über die Unzulässigkeit oder die Unzuständigkeit vorab entscheiden. Im vorliegenden Fall hält sich das Gericht für durch die Aktenstücke der Rechtssache hinreichend unterrichtet und beschließt, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.
12 Das Parlament und der Rat machen geltend, dass die angefochtene Verordnung ein Gesetzgebungsakt sei und daher keinen Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV darstelle. Darüber hinaus sind sie der Ansicht, dass der Kläger von der angefochtenen Verordnung weder unmittelbar noch individuell betroffen sei. Deshalb könne die Klage gemäß Art. 263 AEUV nicht zulässig sein.
13 Der Kläger hält sich für von der angefochtenen Verordnung unmittelbar und individuell betroffen, da diese eine strukturelle Änderung der für die Beaufsichtigung seiner beruflichen Tätigkeit zuständigen Einrichtung bewirke.
14 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 263 Abs. 4 AEUV „[j]ede natürliche oder juristische Person … unter den Bedingungen nach den Absätzen 1 und 2 gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben [kann]“.
15 Die angefochtene Verordnung ist nicht an den Kläger gerichtet. Mithin ist er nicht nach der ersten in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannten Variante klagebefugt.
16 Ferner geht aus der Präambel der angefochtenen Verordnung hervor, dass deren Rechtsgrundlage Art. 114 AEUV ist, der die Angleichung der Rechtsvorschriften betrifft, und dass sie von Parlament und Rat gemeinsam im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angenommen wurde.
17 Insoweit ergibt sich aus Art. 289 Abs. 1 und 3 AEUV, dass die Rechtsakte, die nach dem in Art. 294 AEUV festgelegten sogenannten „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ angenommen werden, Gesetzgebungsakte darstellen.
18 Daraus folgt, dass die angefochtene Verordnung ein Gesetzgebungsakt ist.
19 Nach der Rechtsprechung umfasst der Begriff „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV jedoch keine Gesetzgebungsakte (Urteile vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, Slg, EU:C:2013:625, Rn. 61, und vom 25. Oktober 2011, Microban International und Microban [Europe]/Kommission, T‑262/10, Slg, EU:T:2011:623, Rn. 21).
20 Folglich ist der Kläger auch nicht nach der dritten in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannten Variante klagebefugt.
21 Daher ist die vorliegende Klage nur zulässig, soweit der Kläger gemäß der zweiten in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannten Variante von der angefochtenen Verordnung unmittelbar und individuell betroffen ist.
22 Das Gericht hält es für sachdienlich, die Prüfung der Zulässigkeit der Klage mit der Prüfung der individuellen Betroffenheit des Klägers zu beginnen.
Zur individuellen Betroffenheit des Klägers von der angefochtenen Verordnung
23 Es ist darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Verordnung Vorschriften enthält, mit denen die Unabhängigkeit der Behörden gewährleistet werden soll, die für die Beaufsichtigung der Tätigkeiten der Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften, die die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse durchführen, zuständig sind. Art. 21 dieser Verordnung bestimmt:
„Die zuständigen Behörden müssen von Abschlussprüfern und Prüfungsgesellschaften unabhängig sein.
…
Mitglied des Leitungsorgans oder verantwortlich für die Entscheidungsfindung dieser Behörden darf keine Person sein, die während ihrer Beteiligung oder im Laufe der drei vorausgegangenen Jahre
a)
Abschlussprüfungen durchgeführt hat,
b)
Stimmrechte an einer Prüfungsgesellschaft gehalten hat,
c)
Mitglied des Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgans einer Prüfungsgesellschaft war,
d)
ein Partner oder Angestellter einer Prüfungsgesellschaft oder anderweitig von ihr beauftragt war.
…“
24 In ihren Unzulässigkeitseinreden machen das Parlament und der Rat geltend, der Kläger sei von der angefochtenen Verordnung nicht individuell betroffen. Er gehöre nicht zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern und gebe keinen besonderen Umstand an, der ihn nach den von der Rechtsprechung entwickelten Regeln individualisieren könnte.
25 Der Kläger macht geltend, dass er von der angefochtenen Verordnung individuell betroffen sei und dass deren Erlass ihn aufgrund des Wechsels der für die Beaufsichtigung seiner beruflichen Tätigkeit zuständigen Einrichtung berühre.
26 Aus Art. 21 der angefochtenen Verordnung leitet er ab, dass dieser seine Rechtsstellung ändere. Vor dem Inkrafttreten der angefochtenen Verordnung sei nämlich die Wirtschaftsprüferkammer (im Folgenden: WPK) die Einrichtung gewesen, die für die Überwachung und Prüfung seiner Tätigkeit, einschließlich derjenigen betreffend die Bescheinigung der Abschlüsse von Unternehmen von öffentlichem Interesse, zuständig gewesen sei. Die WPK habe sich selbst verwaltet und aus demokratisch gewählten Angehörigen des Berufsstands der Wirtschaftsprüfer bestanden.
27 Art. 21 der angefochtenen Verordnung sehe dagegen ausdrücklich vor, dass Angehörige des Berufsstands der Wirtschaftsprüfer keinerlei Funktion bei der Überwachung der Prüfung von Unternehmen von öffentlichem Interesse ausüben könnten.
28 Indem die angefochtene Verordnung zwangsläufig einen Wechsel in der Zusammensetzung der Behörde bewirke, die für die Beaufsichtigung der Tätigkeit der Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse zuständig sei, verändere sie daher den rechtlichen Rahmen, in dem er diese Tätigkeit ausübe. Diese Veränderung stelle einen Eingriff in sein in Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankertes Grundrecht auf Berufsfreiheit dar, da sie die Selbstverwaltung des Systems der beruflichen Überwachung berühre.
29 Der Kläger fügt hinzu, er müsse sich, um seine Tätigkeit auszuüben, bei dem jeweils zuständigen Organ der zu prüfenden Gesellschaften und anderen Unternehmen um den Prüfungsauftrag bemühen. Wegen der Geltung der angefochtenen Verordnung könnten ihm diese Organe einen Auftrag nur erteilen, wenn er ihnen nachweise, dass er der Überwachung durch die zuständige Stelle unterliege, deren Zusammensetzung infolge des Inkrafttretens der angefochtenen Verordnung dann verändert sein werde. Daher zwinge ihn die angefochtene Verordnung, sich der Überwachung durch die neue zuständige Behörde zu unterwerfen. Wenn er nach der Errichtung dieser neuen Behörde bei der Ausübung seines Berufs Fragen zur Prüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse habe, müsse er sich an diese neue Behörde wenden, und die WPK könne ihm keine Antwort erteilen. Für die allgemeine Überwachung, die repressive Behandlung von Verstößen und die autoritative Beratung der Angehörigen des Berufsstands der Wirtschaftsprüfer sei allein die neue Behörde zuständig.
30 Insbesondere hält sich der Kläger für von der angefochtenen Verordnung individuell betroffen, da sein Recht, seine berufliche Tätigkeit unter der Überwachung durch eine Einrichtung der Selbstverwaltung auszuüben, beseitigt werde. Er verweist insoweit auf das Urteil vom 18. Mai 1994, Codorniu/Rat (C‑309/89, Slg, EU:C:1994:197, Rn. 21 und 22), und leitet aus diesem ab, dass es für die individuelle Betroffenheit ausreiche, dass die angefochtene Handlung in eine feststehende Rechtsposition der Partei eingreife, die die Nichtigerklärung dieser Handlung verfolge.
31 Eingangs ist daran zu erinnern, dass eine natürliche oder juristische Person von einer nicht an sie gerichteten Handlung nur dann individuell betroffen ist, wenn die fragliche Handlung sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder wegen besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission, 25/62, Slg, EU:C:1963:17, S. 213, 238, und vom 25. Juli 2002, Unión de Pequeños Agricultores/Rat, C‑50/00 P, Slg, EU:C:2002:462, Rn. 36).
32 Nach der Rechtsprechung hat eine Handlung allgemeine Geltung, wenn sie für objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen entfaltet (Beschluss vom 6. September 2011, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, T‑18/10, Slg, EU:T:2011:419, Rn. 63).
33 Das ist hier der Fall. Gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV hat die Verordnung nämlich allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
34 Im Hinblick auf die Kriterien gemäß der oben in Rn. 32 angeführten Rechtsprechung ist festzustellen, dass die angefochtene Verordnung in Bezug auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse spezifische Anforderungen mit allgemeiner Geltung aufstellt, um die Angleichung der Rechtsvorschriften und der Verwaltungspraxis der Mitgliedstaaten in diesem Bereich sicherzustellen. Das gilt auch für den vom Kläger beanstandeten Art. 21 dieser Verordnung, der die Voraussetzungen festlegt, mit denen die Unabhängigkeit der Behörden, die für die Beaufsichtigung der Tätigkeiten der Abschlussprüfer hinsichtlich der Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse zuständig sind, gewährleistet werden soll. Sämtliche in der angefochtenen Verordnung enthaltenen Vorschriften gelten in allen Mitgliedstaaten unmittelbar.
35 Außerdem sind die Situationen und die Personen, für die die angefochtene Verordnung gilt, objektiv bestimmt, da in Art. 2 der angefochtenen Verordnung klargestellt wird, dass sie einerseits für Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften, die bei Unternehmen von öffentlichem Interesse die Abschlussprüfung durchführen, und andererseits für Unternehmen von öffentlichem Interesse gilt. Ebenso verhält es sich mit Art. 21 der Verordnung, der die Anforderungen an die Zusammensetzung der Aufsichtsbehörden festlegt, wobei es sich um Anforderungen handelt, die die Mitgliedstaaten bei der Errichtung dieser Behörden beachten müssen.
36 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Personengruppen, für die die angefochtene Verordnung gilt, ebenfalls allgemein und abstrakt umschrieben sind.
37 Daraus folgt, dass die angefochtene Verordnung und insbesondere ihr Art. 21 allgemeine Geltung haben.
38 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass eine Vorschrift ihrer Natur und ihrer Tragweite nach eine generelle Norm ist, da sie für sämtliche betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gilt, es nicht ausschließt, dass sie einige von ihnen individuell betrifft (Urteile vom 22. Juni 2006, Belgien und Forum 187/Kommission, C‑182/03 und C‑217/03, Slg, EU:C:2006:416, Rn. 58, und vom 23. April 2009, Sahlstedt u. a./Kommission, C‑362/06 P, Slg, EU:C:2009:243, Rn. 29).
39 Insoweit ist erstens daran zu erinnern, dass der Umstand, dass die angefochtene Handlung für in ihren eigenen Vorschriften objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt umschriebenen Personengruppen entfaltet, belegt, dass keine individuelle Betroffenheit gegeben ist (Urteil Sahlstedt u. a./Kommission, oben in Rn. 38 angeführt, EU:C:2009:243, Rn. 31; vgl. in diesem Sinne Beschluss Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 32 angeführt, EU:T:2011:419, Rn. 89).
40 Im vorliegenden Fall ist der Kläger von der angefochtenen Verordnung allein in seiner Eigenschaft als Abschlussprüfer, der die Tätigkeit der Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse ausübt, betroffen. Das ist eine Situation, auf die die angefochtene Verordnung objektiv abstellt, ohne dass der Gesetzgeber die individuelle Situation der Angehörigen dieses Berufsstands in irgendeiner Weise berücksichtigt hätte. Darüber hinaus sind die Anforderungen in Bezug auf die Zusammensetzung der Einrichtungen, die mit der Beaufsichtigung der eine solche Tätigkeit ausübenden Abschlussprüfer betraut sind, allgemein formuliert und gelten unterschiedslos für jeden Wirtschaftsteilnehmer und für jede Behörde, die in den Geltungsbereich der angefochtenen Verordnung fallen.
41 Zweitens können nach der Rechtsprechung, wenn die angefochtene Handlung eine Gruppe von Personen berührt, deren Identität zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Handlung aufgrund von Kriterien, die den Mitgliedern dieser Gruppe eigen waren, feststand oder feststellbar war, diese Personen von der Handlung insoweit individuell betroffen sein, als sie zu einem beschränkten Kreis von Wirtschaftsteilnehmern gehören; dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Handlung in Rechte eingreift, die der Einzelne vor ihrem Erlass erworben hat (Urteil vom 27. Februar 2014, Stichting Woonpunt u. a./Kommission, C‑132/12 P, Slg, EU:C:2014:100, Rn. 59).
42 Im vorliegenden Fall standen die Personen, die von den in Art. 21 der angefochtenen Verordnung beschriebenen Anforderungen berührt werden, zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Verordnung aber weder fest, noch waren sie feststellbar.
43 Nach ihrem Art. 44 gilt die angefochtene Verordnung nämlich ab dem 17. Juni 2016. Daher ist dies der Stichtag, bis zu dem die Mitgliedstaaten die fraglichen zuständigen Behörden gegebenenfalls umstrukturieren müssen, um die in Art. 21 der angefochtenen Verordnung beschriebenen Anforderungen zu erfüllen.
44 Hierzu erklärt der Kläger selbst, dass die WPK zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch immer für die Beaufsichtigung der Abschlussprüfer im Bereich der Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse zuständig gewesen sei und dass sich hieran bis zur Übertragung der Aufsichtszuständigkeit der WPK auf eine Einrichtung, die die in Art. 21 der angefochtenen Verordnung festgelegten Kriterien erfülle, nichts ändern werde. Daher befindet sich jeder deutsche Abschlussprüfer, der Tätigkeiten der Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse nach dem Erlass der angefochtenen Verordnung, aber vor der Übertragung der Aufsichtszuständigkeit aufgenommen hat oder aufnimmt, in genau derselben Situation wie der Kläger: Die Beaufsichtigung seiner Tätigkeit würde von der WPK, die aus Angehörigen des Berufsstands der Wirtschaftsprüfer besteht, auf eine andere Einrichtung übergehen, die die in Art. 21 der angefochtenen Verordnung beschriebenen Anforderungen erfüllt, d. h. eine Einrichtung, zu deren Mitgliedern des Leitungsorgans oder Verantwortlichen für die Entscheidungsfindung insbesondere keine Abschlussprüfer gehören dürfen, die diesen Beruf ausüben oder in den drei vorausgegangenen Jahren ausgeübt haben.
45 Daher kann zu der Personengruppe, der der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung angehörte, eine unbekannte Zahl von Wirtschaftsteilnehmern hinzukommen, so dass diese Gruppe nicht als beschränkter Kreis eingestuft werden kann. Vielmehr handelt es sich damit um eine unbestimmte und unbestimmbare Vielzahl von Wirtschaftsteilnehmern, deren Kreis sich nach dem Erlass der angefochtenen Verordnung ausweiten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 1984, Intermills/Kommission, 323/82, Slg, EU:C:1984:345, Rn. 16, und Beschluss vom 3. April 2014, CFE-CGC France Télécom-Orange/Kommission, T‑2/13, EU:T:2014:226, Rn. 51).
46 Die einer solchen offenen Gruppe angehörenden Wirtschaftsteilnehmer sind aber von der in Rede stehenden Handlung nicht individuell betroffen (vgl. in diesem Sinne Beschluss CFE-CGC France Télécom-Orange/Kommission, oben in Rn. 45 angeführt, EU:T:2014:226, Rn. 52).
47 Drittens ist hervorzuheben, dass der Kläger keinen in der Rechtsprechung anerkannten Faktor geltend macht, der ihn individualisieren könnte. Er nimmt Bezug darauf, dass ein erworbenes Recht bestehen soll, von einer selbstverwalteten berufsständischen Einrichtung überwacht zu werden, die sich aus Angehörigen seines Berufsstands zusammensetze. Selbst wenn man unterstellt, dass ein solches Recht besteht und für die Beurteilung der individuellen Betroffenheit berücksichtigt werden kann, ist zu betonen, dass jeder andere deutsche Abschlussprüfer dieses Recht innehat und es, was die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse betrifft, mit der Übertragung der Aufsichtszuständigkeit auf eine andere, die Kriterien des Art. 21 der angefochtenen Verordnung erfüllende Einrichtung für alle genannten Prüfer unterschiedslos wegfällt.
48 Mithin unterscheidet sich der sachliche Kontext des vorliegenden Falles von demjenigen der Rechtssache, in der das Urteil Codorniu/Rat, oben in Rn. 30 angeführt (EU:C:1994:197), ergangen ist. In jener Rechtssache wurde die Klägerin nämlich dadurch individualisiert, dass sie Inhaberin der Marke „Gran Cremant de Codorníu“ war, und die fragliche Verordnung hinderte sie an der Nutzung dieser Marke, da sie das Recht zur Verwendung des Begriffs „crémant“ allein den französischen und luxemburgischen Erzeugern vorbehielt. Der Gerichtshof hob hervor, dass dies die Klägerin gegenüber allen anderen Wirtschaftsteilnehmern individualisierte (Urteil Codorniu/Rat, oben in Rn. 30 angeführt, EU:C:1994:197, Rn. 21 und 22). Im vorliegenden Fall handelt es sich indessen nicht um die Nutzung einer Marke, die naturgemäß individuell sein muss, sondern um ein angebliches Recht, von einer berufsständischen Einrichtung überwacht zu werden, die sich aus Mitgliedern zusammensetzt, die den Beruf des Wirtschaftsprüfers ausüben. Selbst wenn ein solches Recht als erwiesen unterstellt würde, individualisiert es den Kläger in keiner Weise gegenüber der unbestimmten und unbestimmbaren Vielzahl der diesen Beruf ausübenden Wirtschaftsteilnehmer, die die Abschlüsse bei Unternehmen von öffentlichem Interesse prüfen.
49 Angesichts dieser Erwägungen ist die Schlussfolgerung geboten, dass der Kläger weder von der angefochtenen Verordnung allgemein noch von ihrem Art. 21, den er in seiner Klageschrift beanstandet, individuell betroffen ist.
50 Da die Kriterien der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit kumulative Kriterien für die Zulässigkeit sind, wenn diese im Hinblick auf die zweite in Art. 263 Abs. 4 AEUV genannte Variante geprüft wird, ist es folglich überflüssig, die unmittelbare Betroffenheit des Klägers von der angefochtenen Verordnung zu prüfen.
51 Nach alledem ist der Kläger nicht gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV klagebefugt.
Zum Recht des Klägers auf einen wirksamen Rechtsbehelf
52 Der Kläger beruft sich auf Art. 19 EUV sowie Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte und leitet daraus ab, dass nach diesen Bestimmungen sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf die Zulässigkeit der vorliegenden Klage impliziere.
53 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die gerichtliche Kontrolle der Wahrung der Rechtsordnung der Europäischen Union, wie sich aus Art. 19 Abs. 1 EUV ergibt, durch den Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleistet wird (Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 19 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 90).
54 Nach der Rechtsprechung hat der AEU-Vertrag mit den Art. 263 AEUV und 277 AEUV einerseits und mit Art. 267 AEUV andererseits ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Unionshandlungen gewährleisten soll, mit der der Unionsrichter betraut wird (Urteile Unión de Pequeños Agricultores/Rat, oben in Rn. 31 angeführt, EU:C:2002:462, Rn. 40, und Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 19 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 92).
55 So sind natürliche oder juristische Personen, die Handlungen der Union mit allgemeiner Geltung wegen der in Art. 263 Abs. 4 AEUV festgelegten Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht unmittelbar anfechten können, dagegen geschützt, dass solche Handlungen auf sie angewandt werden. Obliegt die Durchführung dieser Handlungen den Unionsorganen, können diese Personen unter den in Art. 263 Abs. 4 AEUV festgelegten Voraussetzungen vor den Unionsgerichten Klage gegen die Durchführungsrechtsakte erheben und sich zur Begründung dieser Klage nach Art. 277 AEUV auf die Rechtswidrigkeit der betreffenden allgemeinen Handlung berufen. Obliegt diese Durchführung den Mitgliedstaaten, können die besagten Personen die Ungültigkeit der betreffenden Handlung der Union vor den nationalen Gerichten geltend machen und diese veranlassen, sich insoweit gemäß Art. 267 AEUV mit Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof zu wenden (Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 19 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 93).
56 Insoweit ist klarzustellen, dass den Betroffenen im Rahmen eines nationalen Verfahrens das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union mit allgemeiner Geltung auf sie angewandt wird, vor Gericht in Abrede zu stellen und sich dabei auf die Ungültigkeit der Unionshandlung zu berufen (Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 19 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 94).
57 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zur Beurteilung der Gültigkeit in gleicher Weise wie die Nichtigkeitsklage eine Form der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Unionshandlungen (Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 19 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 95).
58 Dagegen ist im Hinblick auf den durch Art. 47 der Charta der Grundrechte gewährten Schutz darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel nicht darauf abzielt, das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit direkter Klagen bei den Unionsgerichten zu ändern (Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 19 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 97).
59 Somit kann der Kläger nicht mit Erfolg behaupten, dass die vorliegende Nichtigkeitsklage auf der Grundlage von Art. 47 der Charta der Grundrechte zulässig sein müsse, obwohl er keine Klagebefugnis aus Art. 263 Abs. 4 AEUV hat.
60 Das entsprechende Vorbringen ist daher zurückzuweisen.
61 Nach alledem ist der vom Parlament und vom Rat erhobenen Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und sonach die Klage als unzulässig abzuweisen.
62 Daraus folgt auch, dass über den Antrag der Kommission auf Zulassung zur Streithilfe nicht entschieden zu werden braucht.
Kosten
63 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
64 Da der Kläger mit seiner Klage unterlegen ist, sind ihm gemäß den Anträgen des Parlaments und des Rates neben seinen eigenen Kosten deren Kosten aufzuerlegen.
65 Im Übrigen tragen nach Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung die Kommission und das Parlament ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten. Wie sich aus Rn. 7 oben ergibt, sind dem Kläger und dem Rat insoweit keine Kosten entstanden.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Neunte Kammer)
beschlossen:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Über den Antrag der Europäischen Kommission auf Zulassung zur Streithilfe braucht nicht entschieden zu werden.
3. Herr Carsten René Beul trägt seine eigenen Kosten sowie die Kosten des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union.
4. Die Kommission und das Parlament tragen ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
Luxemburg, den 23. November 2015
Der Kanzler
E. Coulon
Der Präsident
G. Berardis
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 3. Dezember 2015.#Italienische Republik gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Regionalpolitik – Regionales operationelles Programm für die Region Apulien (Italien) 2000 – 2006, Ziel 1 – Kürzung des ursprünglich gewährten Zuschusses des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung.#Rechtssache C-280/14 P.
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62014CJ0280
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ECLI:EU:C:2015:792
| 2015-12-03T00:00:00 |
Gerichtshof, Cruz Villalón
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0280
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
3. Dezember 2015 (*
)
„Rechtsmittel — Regionalpolitik — Regionales operationelles Programm für die Region Apulien (Italien) 2000–2006, Ziel 1 — Kürzung des ursprünglich gewährten Zuschusses des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung“
In der Rechtssache C‑280/14 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 9. Juni 2014,
Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
Rechtsmittelführerin,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch D. Recchia und A. Steiblytė als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer T. von Danwitz (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Šváby, A. Rosas, E. Juhász und C. Vajda,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Mai 2015,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Italienische Republik die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 28. März 2014, Italien/Kommission (T‑117/10, EU:T:2014:165, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem dieses ihre Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung C (2009) 10350 final der Europäischen Kommission vom 22. Dezember 2009 betreffend die Kürzung des der Italienischen Republik gemäß der Entscheidung C (2000) 2349 der Kommission vom 8. August 2000 über die Genehmigung des Regionalen operationellen Programms für die Region Apulien für den Zeitraum 2000–2006, Ziel 1, gewährten Zuschusses des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (im Folgenden: streitige Entscheidung) abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
2 Art. 38 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates vom 21. Juni 1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds (ABl. L 161, S. 1) bestimmt:
„Unbeschadet der Zuständigkeit der Kommission für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen [Union] übernehmen in erster Linie die Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Finanzkontrolle der Interventionen. Zu diesem Zweck treffen sie unter anderem folgende Maßnahmen:
a)
Sie vergewissern sich, dass Verwaltungs- und Kontrollsysteme vorhanden sind und einwandfrei funktionieren, so dass eine effiziente und ordnungsgemäße Verwendung der Gemeinschaftsmittel sichergestellt ist.
b)
Sie übermitteln der Kommission eine Beschreibung dieser Systeme.
c)
Sie stellen sicher, dass die Interventionen in Übereinstimmung mit allen geltenden Gemeinschaftsvorschriften verwaltet und die für sie eingesetzten Fondsmittel nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung verwendet werden.
…“
3 In Art. 39 Abs. 1 bis 3 dieser Verordnung heißt es:
„(1) Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, bei Unregelmäßigkeiten Nachforschungen anzustellen, bei nachgewiesenen erheblichen Veränderungen der Art oder der Durchführungs- und Kontrollbedingungen einer Intervention tätig zu werden und die erforderlichen Finanzkorrekturen vorzunehmen.
Der Mitgliedstaat nimmt die in Bezug auf die individuelle oder systematische Unregelmäßigkeit erforderlichen Finanzkorrekturen vor. Die von dem Mitgliedstaat vorgenommenen Korrekturen bestehen in der Streichung oder Kürzung der Gemeinschaftsbeteiligung …
(2) Wenn die Kommission nach Abschluss der erforderlichen Überprüfungen feststellt, dass
…
c)
bei den Verwaltungs- und Kontrollsystemen beträchtliche Mängel vorliegen, die zu systematischen Unregelmäßigkeiten führen könnten,
so setzt die Kommission die ausstehenden Zwischenzahlungen aus und fordert den Mitgliedstaat unter Angabe ihrer Gründe auf, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu äußern und gegebenenfalls alle erforderlichen Korrekturen vorzunehmen.
Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die Bemerkungen der Kommission, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in Zusammenarbeit auf der Grundlage der Partnerschaft bemüht sind, zu einer Einigung über die Bemerkungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.
(3) Kommt nach Ablauf des von der Kommission festgelegten Zeitraums keine Einigung zustande und hat der Mitgliedstaat bis dahin keine Korrekturen vorgenommen, so kann die Kommission unter Berücksichtigung etwaiger Bemerkungen des Mitgliedstaats innerhalb von drei Monaten beschließen,
…
b)
die erforderlichen Finanzkorrekturen vorzunehmen und die Fondsbeteiligung für die betreffende Intervention ganz oder teilweise zu streichen.
Die Kommission setzt den Betrag einer Korrektur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung der Art der Unregelmäßigkeit oder der Änderung sowie des Umfangs und der finanziellen Auswirkungen der festgestellten Mängel der Verwaltungs- oder Kontrollsysteme der Mitgliedstaaten fest.
…“
4 Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 438/2001 der Kommission vom 2. März 2001 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates in Bezug auf die Verwaltungs- und Kontrollsysteme bei Strukturfondsinterventionen (ABl. L 63, S. 21) bestimmt:
„Verwaltungs- und Kontrollsysteme schließen Verfahren ein, um die Erbringung der kofinanzierten Wirtschaftsgüter oder Dienstleistungen und die Richtigkeit der in Rechnung gestellten Ausgaben zu prüfen und die Einhaltung der Bedingungen der einschlägigen Entscheidung der Kommission nach Artikel 28 der Verordnung … Nr. 1260/1999 und der einschlägigen nationalen und Gemeinschaftsvorschriften … sicherzustellen.
Die Verfahren schreiben vor, dass über die Prüfung einzelner Operationen vor Ort Aufzeichnungen zu erstellen sind. In den Aufzeichnungen sind die dabei verrichteten Prüfvorgänge, die Ergebnisse der Prüfung sowie die Maßnahmen aufzuführen, die bei vorgefundenen Abweichungen getroffen wurden. Sofern physische oder Akten-Prüfungen nicht erschöpfend sind, sondern aufgrund von Stichproben von Operationen durchgeführt werden, so sind in den Aufzeichnungen die ausgewählten Operationen anzugeben und die Stichprobenmethode darzulegen.“
5 Art. 8 dieser Verordnung hat folgenden Wortlaut:
„Die Verwaltungsbehörde oder die Zahlstelle führt Buch über alle Beträge, die von bereits getätigten Zahlungen aus Gemeinschaftszuschüssen wiedereinzuziehen sind und stellt sicher, dass die Beträge ohne unberechtigte Verzögerungen eingezogen werden. Nach Wiedereinziehung erstattet die Zahlstelle die zu Unrecht geleisteten, wiedereingezogenen Zahlungen samt erhaltenen Verzugszinsen, indem sie ihre nächste Ausgabenerklärung und den entsprechenden Zahlungsantrag an die Kommission um die betreffenden Beträge verringert oder, wenn dies nicht ausreicht, indem sie den fehlenden Betrag an die Gemeinschaft zurückzahlt …“
6 Art. 9 („Ausgabenbescheinigungen“) dieser Verordnung sieht vor, dass die Bescheinigungen der Ausgaben zu Zwischen- und Abschlusszahlungen von einer Person oder Abteilung der Zahlstelle erstellt werden, die in ihrer Funktion von allen Dienststellen, die Zahlungsanträge bewilligen, unabhängig ist. Darüber hinaus stellt dieser Artikel insbesondere klar, welche Prüfungen diese Behörde vornehmen muss, bevor sie die Ausgaben bescheinigt.
7 Art. 10 („Stichprobenkontrollen bei Operationen“) der Verordnung bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen für die Durchführung von Kontrollen der Operationen anhand angemessener Stichproben, um insbesondere
a)
die Wirksamkeit der vorhandenen Verwaltungs- und Kontrollsysteme nachzuprüfen;
b)
die auf den verschiedenen Ebenen ausgestellten Ausgabenerklärungen selektiv auf der Grundlage einer Risikoanalyse nachzuprüfen.
(2) Die Kontrollen, die vor Abschluss jeder Intervention durchgeführt werden, betreffen mindestens 5 % der gesamten zuschussfähigen Ausgaben aufgrund einer repräsentativen Stichprobe der genehmigten Operationen, wobei die Anforderungen von Absatz 3 zu beachten sind. Die Mitgliedstaaten bemühen sich, die Durchführung der Kontrollen gleichmäßig über den betreffenden Zeitraum zu verteilen. Sie gewährleisten eine angemessene Trennung der Aufgaben zwischen solchen Kontrollen einerseits und den Durchführungs- oder Auszahlungsverfahren in Bezug auf Operationen andererseits.
(3) Bei der Auswahl der Stichprobe von Operationen, die kontrolliert werden sollen, wird Folgendes berücksichtigt:
a)
die Notwendigkeit, in angemessenem Verhältnis Vorhaben unterschiedlicher Art und Größe zu prüfen;
b)
etwaige Risikofaktoren, die bei nationalen oder Gemeinschaftskontrollen festgestellt wurden;
c)
die Konzentration von Operationen bei bestimmten zwischengeschalteten Stellen oder Endbegünstigten, damit die wichtigsten zwischengeschalteten Stellen und Endbegünstigten vor Abschluss jeder Intervention mindestens einmal kontrolliert werden.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
8 Mit der Entscheidung C (2000) 2349 vom 8. August 2000 genehmigte die Kommission das Regionale operationelle Programm für die Region Apulien für den Zeitraum 2000–2006, Ziel 1, (im Folgenden: Programm ROP Apulien) und stellte den italienischen Behörden einen Betrag von 1721827000 Euro aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) zur Verfügung.
9 Im Laufe des Jahres 2007 führte die Kommission Prüfungen der Verwaltungs- und Kontrollsysteme durch, die die für dieses Programm verantwortlichen Behörden eingeführt hatten, und gelangte zu dem Schluss, dass diese Behörden keine Verwaltungs- und Kontrollsysteme eingeführt hätten, die eine ordnungsgemäße finanzielle Verwaltung der Intervention des EFRE sicherstellten, und dass die vorhandenen Systeme die Genauigkeit, Rechtmäßigkeit und Zuschussfähigkeit der Zahlungsanträge nicht ausreichend gewährleisteten.
10 Die Kommission war der Ansicht, dass die Italienische Republik ihren Verpflichtungen aus den Art. 4 und 8 bis 10 der Verordnung Nr. 438/2001 nicht nachgekommen sei und dass die bei den Verwaltungs- und Kontrollsystemen festgestellten Mängel zu systematischen Unregelmäßigkeiten führen könnten. Daher setzte sie mit der Entscheidung C (2008) 3340 vom 1. Juli 2008 die Zwischenzahlungen des EFRE für das Programm ROP Apulien aus. Sie setzte der Italienischen Republik eine Frist von drei Monaten, um Kontrollen durchzuführen und die Korrekturen vorzunehmen, die erforderlich seien, um zu gewährleisten, dass allein zuschussfähige Ausgaben von der Beteiligung des EFRE gedeckt seien.
11 Bei einem im Januar 2009 durchgeführten Prüfungsauftrag stellte die Kommission fest, dass die in dieser Entscheidung formulierten Anforderungen innerhalb der gesetzten Fristen nicht eingehalten worden seien. Die Prüfer der Union entdeckten mehrere Unregelmäßigkeiten bei den Kontrollen der Verwaltungsbehörde gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 438/2001 (im Folgenden: Kontrollen der ersten Ebene), beim Funktionieren der Zahlstelle und bei den Kontrollen der Kontrollstelle gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 438/2001 (im Folgenden: Kontrollen der zweiten Ebene). Die Kommission folgerte daraus, dass eine angemessene Gewähr dafür fehle, dass die Verwaltungs- und Kontrollsysteme für das Programm ROP Apulien so effizient funktionierten, dass die Rechtmäßigkeit, die Ordnungsgemäßheit und die Genauigkeit der erklärten Ausgaben für den Zeitraum vom Beginn des Programmplanungszeitraums bis zum Zeitpunkt der Aussetzung der Zwischenzahlungen sichergestellt seien.
12 Mit Schreiben vom 3. April 2009 teilte die Kommission den italienischen Behörden ihre Schlussfolgerungen mit und informierte sie darüber, dass sie eine Korrektur des Zuschusses des EFRE in Höhe von 10 % unter Berücksichtigung der für das fragliche Programm erklärten Ausgaben bis zum Zeitpunkt der Aussetzung der Zwischenzahlungen vorzuschlagen beabsichtige. Die Italienische Republik widersprach der Anwendung dieser pauschalen Korrektur und beantragte die Aufhebung der Aussetzung der Zwischenzahlungen. Gemäß Art. 39 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1260/1999 fand am 30. September 2009 eine Anhörung statt.
13 Mit der streitigen Entscheidung kürzte die Kommission den aus dem EFRE für das Programm ROP Apulien für den Zeitraum 2000–2006 gewährten Zuschuss und wandte dabei eine pauschale Korrektur von 10 % auf die bis zum Zeitpunkt der Aussetzung der Zwischenzahlungen bescheinigten Ausgaben an. Nach Art. 1 dieser Entscheidung wurde der aus dem EFRE zugewiesene Zuschuss um den Betrag von 79335741,11 Euro gekürzt.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
14 Mit Klageschrift, die am 5. März 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Italienische Republik Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung.
15 Sie stützte ihre Klage auf vier Gründe. Mit dem ersten und dem zweiten Klagegrund wurde eine Verfälschung der Tatsachen und ein Verstoß gegen Art. 39 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 der Verordnung Nr. 1260/1999 in Bezug auf die Kontrollen der ersten Ebene, das Funktionieren der Zahlstelle und die Kontrollen der zweiten Ebene geltend gemacht. Mit dem dritten Klagegrund machte der Mitgliedstaat einen Begründungsmangel und einen Verstoß gegen Art. 39 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1260/1999 geltend. Der vierte Klagegrund betraf einen Verstoß gegen Art. 12 der Verordnung Nr. 1260/1999 und Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 438/2001 und die Unzuständigkeit der Kommission.
16 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Klage abgewiesen und der Italienischen Republik die Kosten auferlegt.
Anträge der Parteien
17 Die Italienische Republik beantragt,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben;
—
die streitige Entscheidung nach Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
18 Die Kommission beantragt, die Klage abzuweisen und der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
19 Die Italienische Republik stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe.
Zum ersten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
20 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Italienische Republik geltend, dass das Gericht in den Rn. 37 und 50 ff. des angefochtenen Urteils gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und die Begründungspflicht verstoßen habe, da es den ersten und den zweiten Klagegrund zur Effizienz und Zuverlässigkeit zum einen der von der Verwaltungsbehörde und der Zahlstelle vorgenommenen Kontrollen der ersten Ebene und zum anderen der von der Kontrollstelle durchgeführten Kontrollen der zweiten Ebene zusammen geprüft habe.
21 Der Mitgliedstaat macht geltend, dass das Gericht nach dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verpflichtet gewesen sei, diese beiden Klagegründe, die verschiedene Tatsachenfragen in Bezug auf die Arbeit unterschiedlicher Stellen und in der streitigen Entscheidung aufgeführte sehr unterschiedliche Unregelmäßigkeiten aufgeworfen hätten, getrennt zu prüfen. Darüber hinaus habe das Gericht mit einer gemeinsamen Prüfung dieser beiden Klagegründe die Begründung für den einen Klagegrund automatisch auf den jeweils anderen übertragen.
22 Indem es den ersten und den zweiten Klagegrund zusammen geprüft habe, habe das Gericht auch gegen die ihm obliegende Pflicht zur Begründung seiner Entscheidungen verstoßen. Es habe nämlich unterlassen, ebenso ausführlich, wie dies in der Klageschrift geschehen sei, die Gründe darzulegen, aus denen es das Vorbringen der Italienischen Republik zur Anfechtung jeder einzelnen der Unregelmäßigkeiten, die in ihrer Gesamtheit die Grundlage der streitigen Entscheidung darstellten, für unbegründet befunden habe.
23 Die Kommission hält die Argumente der Italienischen Republik für nicht stichhaltig.
Würdigung durch den Gerichtshof
24 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens im Allgemeinen das Recht der Verfahrensbeteiligten, zu den Tatsachen und Schriftstücken Stellung nehmen zu können, auf die eine gerichtliche Entscheidung gestützt wird, und die dem Gericht vorgelegten Beweise und Erklärungen sowie die rechtlichen Gesichtspunkte zu erörtern, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt hat und auf die es seine Entscheidung gründen möchte (Urteile Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 52 und 55, sowie Überprüfung M/EMEA, C‑197/09 RX‑II, EU:C:2009:804, Rn. 41).
25 Hierzu ist festzustellen, dass die Italienische Republik vor dem Gericht zu den in der streitigen Entscheidung hinsichtlich der Kontrollen der ersten Ebene, des Funktionierens der Zahlstelle und der Kontrollen der zweiten Ebene festgestellten Unregelmäßigkeiten wirksam Stellung nehmen konnte. Des Weiteren ergibt sich insbesondere aus den Rn. 40, 48 und 60 bis 66 des angefochtenen Urteils, dass das Gericht auch das Vorbringen berücksichtigt hat, mit dem dieser Mitgliedstaat das tatsächliche Vorliegen dieser Unregelmäßigkeiten bestritten hat.
26 Was die Begründungspflicht angeht, kann dem Gericht nicht vorgeworfen werden, es sei nicht auf alle Einzelheiten des Vorbringens eingegangen, mit dem die Italienische Republik den in der streitigen Entscheidung festgestellten Unregelmäßigkeiten entgegengetreten sei. Nach ständiger Rechtsprechung bedeutet die dem Gericht gemäß Art. 36 und Art. 53 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union obliegende Pflicht zur Begründung der Urteile nämlich nicht, dass das Gericht bei seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend behandeln müsste. Die Begründung kann daher auch implizit erfolgen, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe zu erkennen, auf denen das angefochtene Urteil beruht, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben an die Hand gibt, damit er seine Kontrollaufgabe im Rahmen eines Rechtsmittels wahrnehmen kann (Urteile Coop de France bétail et viande u. a./Kommission, C‑101/07 P und C‑110/07 P, EU:C:2008:741, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung, A2A/Kommission, C‑318/09 P, EU:C:2011:856, Rn. 97, und Frankreich/Kommission, C‑559/12 P, EU:C:2014:217, Rn. 86).
27 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die in den Rn. 69 bis 77 und 79 bis 92 des angefochtenen Urteils enthaltene Begründung es der Italienischen Republik ermöglicht, die Gründe zu erkennen, aus denen das Gericht das gesamte Vorbringen zurückgewiesen hat, mit dem sie die Verzögerungen bei der Durchführung der Kontrollen der ersten und der zweiten Ebene, die fehlende Zuverlässigkeit der vorgeschlagenen Korrekturen und das schlechte Funktionieren der Zahlstelle bestritten hat, und dem Gerichtshof auch ausreichende Angaben an die Hand gibt, um seine Kontrollaufgabe wahrzunehmen. Darüber hinaus hat das Gericht in den Rn. 60 bis 63 des angefochtenen Urteils die Gründe erläutert, die es dazu veranlasst haben, nicht über das behauptete Fehlen jeder einzelnen der spezifischen Unregelmäßigkeiten zu entscheiden, die die Prüfer der Union im Januar 2009 hinsichtlich der Kontrollen der ersten und der zweiten Ebene festgestellt hatten. Damit ist auch das Argument eines Verstoßes des Gerichts gegen die ihm obliegende Pflicht, seine Entscheidungen zu begründen, als unbegründet zurückzuweisen.
28 Zu dem Vorwurf, das Gericht habe die gleichen Erwägungen auf verschiedene Sach- und Rechtsfragen angewandt, ist festzustellen, dass dieser Vorwurf auf einem offensichtlich fehlerhaften Verständnis des angefochtenen Urteils beruht. Denn entgegen dem Vorbringen der Italienischen Republik hat das Gericht detailliert und jeweils getrennt voneinander zunächst die Sach- und Rechtsfragen hinsichtlich der Kontrollen der ersten Ebene in den Rn. 69 bis 71 und 79 bis 81 des angefochtenen Urteils, dann jene hinsichtlich der Kontrollen der zweiten Ebene in den Rn. 72 bis 77 und 82 bis 87 und schließlich die Fragen im Zusammenhang mit der Zahlstelle in den Rn. 88 bis 92 dieses Urteils geprüft.
29 Folglich ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten und zum dritten Rechtsmittelgrund
Vorbringen der Parteien
30 Der zweite Rechtsmittelgrund kann ungeachtet des wenig strukturierten Charakters der Erwägungen dahin verstanden werden, dass er in vier Teile unterteilt ist.
31 Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht die Italienische Republik geltend, dass das Gericht in den Rn. 40, 63 und 88 bis 93 des angefochtenen Urteils die vor ihm vorgelegten Tatsachen und Beweismittel verfälscht habe. Die diesen Randnummern des angefochtenen Urteils anhaftende Verfälschung bedeute, dass das Gericht auch gegen Art. 39 der Verordnung Nr. 1260/1999, Art. 9 der Verordnung Nr. 438/2001 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Partnerschaft verstoßen habe.
32 Im Rahmen des zweiten Teils dieses Rechtsmittelgrundes macht die Italienische Republik geltend, dass das Gericht in den Rn. 60 bis 63 des angefochtenen Urteils zu Unrecht davon ausgegangen sei, es sei nicht erforderlich, die Beweismittel zu prüfen, die vorgelegt worden seien, um das Bestreiten des Vorliegens der Unregelmäßigkeiten zu stützen, die von den Prüfern der Union in einer im Januar 2009 geprüften Stichprobe von Kontrollen der ersten Ebene festgestellt worden seien. Aus Rn. 40 der Gründe der streitigen Entscheidung, in der hervorgehoben werde, dass die italienischen Behörden diese Unregelmäßigkeiten nicht beseitigt hätten, ergebe sich nämlich, dass die Kommission diese Unregelmäßigkeiten im Rahmen der streitigen Entscheidung tatsächlich berücksichtigt habe. Darüber hinaus habe das Gericht selbst in den Rn. 78 bis 81 des angefochtenen Urteils diese angeblichen Unregelmäßigkeiten für die Feststellung herangezogen, dass die Kontrollen der ersten und der zweiten Ebene nicht zuverlässig seien.
33 Mangels eines Beweises für das Vorliegen der in der von der Kommission im Januar 2009 durchgeführten Prüfung festgestellten spezifischen Unregelmäßigkeiten in Bezug auf die Kontrollen der ersten Ebene hätte das Gericht feststellen müssen, dass die streitige Entscheidung gegen Art. 39 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1260/1999 verstoße, und insbesondere, dass die pauschale Korrektur von 10 % offensichtlich unverhältnismäßig sei.
34 Mit dem dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht die Italienische Republik geltend, dass die streitige Entscheidung gegen die in Art. 39 der Verordnung Nr. 1260/1999 niedergelegten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Partnerschaft verstoße, da sie eine pauschale Korrektur von 10 % auch für die Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Vergabe zusätzlicher Arbeiten oder durchgeführter Ingenieurdienstleistungen vorsehe, obschon die italienischen Behörden für diese Unregelmäßigkeiten pauschale Korrekturen in Höhe von 25 % vorgeschlagen hätten. Daher hätte sich das Gericht in Rn. 60 des angefochtenen Urteils nicht auf die Feststellung darauf beschränken dürfen, dass diese Korrekturen von der Kommission im Rahmen der Berechnung des Endbetrags der Kürzung des Zuschusses des EFRE berücksichtigt worden seien.
35 Schließlich beruft sich die Italienische Republik mit dem vierten Teil dieses Rechtsmittelgrundes auf einen Verstoß gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 438/2001 und die Grundsätze der Beweislast.
36 Der dritte Rechtsmittelgrund kann so verstanden werden, dass er in vier Teile unterteilt ist.
37 Der erste Teil dieses Rechtsmittelgrundes wird auf eine den Rn. 72 bis 74 des angefochtenen Urteils anhaftende Verfälschung der Tatsachen und Beweismittel gestützt. Diese Verfälschung bedeute, so die Italienische Republik, dass das Gericht auch gegen Art. 39 der Verordnung Nr. 1260/1999, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Partnerschaft sowie gegen Art. 10 der Verordnung Nr. 438/2001 verstoßen habe.
38 Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes macht die Italienische Republik geltend, das Gericht habe gegen Art. 10 verstoßen, indem es davon ausgegangen sei, dass die Kontrollen der zweiten Ebene den in diesem Artikel vorgesehenen Prozentsatz erreicht haben müssten. Aus dem Wortlaut dieses Artikels, wonach die Kontrollen der zweiten Ebene für mindestens 5 % der bescheinigten Ausgaben „vor Abschluss jeder Intervention“ durchzuführen seien, ergebe sich nämlich, dass das System der Kontrollen der zweiten Ebene vor allem zum Zeitpunkt dieses Abschlusses zu bewerten sei.
39 Ferner wirft die Italienische Republik dem Gericht im Rahmen des dritten Teils dieses Rechtsmittelgrundes vor, in den Rn. 84 bis 86 des angefochtenen Urteils befunden zu haben, dass das Vorbringen, wonach sich die auf die Kontrollen der zweiten Ebene folgenden Korrekturen nicht auf 30950978,33 Euro, sondern auf 59186909 Euro belaufen hätten, ins Leere gehe, weil die Kommission im Rahmen ihrer Beurteilung des aus den zusammen betrachteten Kontrollen der ersten und der zweiten Ebene folgenden Gesamtbetrags von 95672043,08 Euro alle Korrekturen berücksichtigt habe.
40 Der vierte Teil des dritten Rechtsmittelgrundes wird auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Beweislast gestützt.
41 Die Kommission wendet die Unzulässigkeit des zweiten und des dritten Rechtsmittelgrundes ein, die lediglich eine Wiederholung der im ersten Rechtszug geltend gemachten Argumente seien und daher tatsächlich darauf abzielten, eine zweite Prüfung des Sachverhalts dieser Rechtssache durch den Gerichtshof zu erwirken. Jedenfalls entbehrten diese Rechtsmittelgründe jeder Grundlage.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zur Zulässigkeit des zweiten und des dritten Rechtsmittelgrundes
42 Nach ständiger Rechtsprechung geht aus Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV, Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 168 Abs. 1 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hervor, dass ein Rechtsmittel die beanstandeten Teile des Urteils, dessen Aufhebung beantragt wird, sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen, genau bezeichnen muss (vgl. u. a. Urteile Spanien/Kommission, C‑197/13 P, EU:C:2014:2157, Rn. 43, sowie Ezz u. a./Rat, C‑220/14 P, EU:C:2015:147, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insoweit wird in Art. 169 Abs. 2 der Verfahrensordnung klargestellt, dass die geltend gemachten Rechtsgründe und ‑argumente die beanstandeten Punkte der Begründung der Entscheidung des Gerichts genau bezeichnen müssen.
43 Ein Rechtsmittel, das nur die bereits vor dem Gericht geltend gemachten Klagegründe oder Argumente wiederholt oder wörtlich wiedergibt, genügt somit nicht den Begründungserfordernissen, die sich aus diesen Vorschriften ergeben. Jedoch können die im ersten Rechtszug geprüften Rechtsfragen im Rechtsmittelverfahren erneut aufgeworfen werden, wenn der Rechtsmittelführer die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts durch das Gericht beanstandet. Könnte nämlich ein Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel nicht in dieser Weise auf bereits vor dem Gericht geltend gemachte Klagegründe und Argumente stützen, so würde dies dem Rechtsmittelverfahren einen Teil seiner Bedeutung nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 46 und 47, sowie Spanien/Kommission, C‑197/13 P, EU:C:2014:2157, Rn. 44 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Was die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit angeht, ist festzustellen, dass die Italienische Republik mit ihrem zweiten und ihrem dritten Rechtsmittelgrund nicht nur auf eine bloße Überprüfung der beim Gericht eingereichten Klage abzielt, sondern auch dessen Feststellungen in bestimmten Randnummern des angefochtenen Urteils rügt, denen ihrer Ansicht nach eine Verfälschung der Tatsachen und Beweismittel sowie andere Rechtsfehler anhaften. Entgegen dem Vorbringen der Kommission stellen der erste und der dritte Rechtsmittelgrund somit nicht schlicht eine Wiederholung der bereits im ersten Rechtszug geltend gemachten Argumente dar, sondern sie richten sich in Wirklichkeit gegen einen wesentlichen Teil der Begründung des angefochtenen Urteils und ermöglichen es dem Gerichtshof folglich, seine Kontrollaufgabe wahrzunehmen.
45 Die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen.
46 Hinsichtlich des im Rahmen des vierten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes geltend gemachten Verstoßes gegen Art. 4 der Verordnung Nr. 438/2001 und des Verstoßes gegen die Grundsätze der Beweislast, der sowohl im Rahmen des vierten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes als auch im vierten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes geltend gemacht wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Italienische Republik diese Rechtsfehler zwar in der Überschrift vor ihren Darlegungen zum zweiten und zum dritten Rechtsmittelgrund erwähnt, diese Darlegungen aber keinerlei Angabe der Randnummern des angefochtenen Urteils enthalten, denen diese Rechtsfehler anhaften sollen, und auch keine Argumentation, mit der dargetan würde, wodurch das Gericht diese Rechtsfehler begangen haben soll. Diese Teile des zweiten und des dritten Rechtsmittelgrundes sind folglich unzulässig.
47 Was den dritten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes angeht, so beanstandet die Italienische Republik zwar die in den Rn. 84 bis 86 des angefochtenen Urteils enthaltenen Feststellungen aus einem anderen Grund als dem der Verfälschung der Angaben, gleichwohl bezeichnet sie nicht den Rechtsgrundsatz oder die Rechtsvorschrift, die das Gericht dadurch verletzt haben soll, dass es davon ausgegangen ist, dass die Rechtmäßigkeit der Entscheidung von einem etwaigen Fehler der Kommission bei der Identifizierung bestimmter Korrekturen, die die italienischen Behörden als aus den Kontrollen der zweiten Ebene folgende Korrekturen vorgeschlagen hatten, nicht beeinträchtigt sei, da die Kommission die Gesamtheit dieser Korrekturen in der streitigen Entscheidung berücksichtigt habe.
48 Mithin sind der vierte Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes und der dritte Teil des dritten Rechtsmittelgrundes, soweit mit dem Letzteren keine Verfälschung der Angaben geltend gemacht wird, und der vierte Teil des dritten Rechtsmittelgrundes als unzulässig zurückzuweisen.
49 Was im Übrigen die Argumente betrifft, mit denen die Italienische Republik Kritik am Gericht übt, weil es den Inhalt des Schreibens vom 15. Juni 2009 verfälscht habe, ist darauf hinzuweisen, dass sie die Randnummern des angefochtenen Urteils, auf die sich diese Beanstandungen beziehen, nicht genau angibt. Diese Argumente sind demnach ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen.
– Zur Begründetheit des ersten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes und des ersten und des dritten Teils des dritten Rechtsmittelgrundes
50 Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes und dem ersten und dem dritten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes, die zusammen zu prüfen sind, macht die Italienische Republik geltend, dass die in den Rn. 40, 63, 72 bis 74, 84 bis 86 und 88 bis 93 des angefochtenen Urteils enthaltenen Feststellungen von einem falschen Verständnis ihrer Klage zeugten und ihnen eine Verfälschung der Tatsachen und Beweismittel anhafte. Diese Verfälschung führe dazu, dass das Gericht auch gegen Art. 39 der Verordnung Nr. 1260/1999, die Art. 9 und 10 der Verordnung Nr. 438/2001 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Partnerschaft verstoßen habe.
51 Gemäß Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs ist allein das Gericht dafür zuständig, die Tatsachen festzustellen – sofern sich nicht aus den Prozessakten ergibt, dass seine Feststellungen tatsächlich falsch sind – und sie zu würdigen (vgl. Urteil Kommission/Aalberts Industries u. a., C‑287/11 P, EU:C:2013:445, Rn. 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Beurteilung ist somit, sofern die Beweismittel nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt (vgl. Urteile Lafarge/Kommission, C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 15, und Activision Blizzard Germany/Kommission, C‑260/09 P, EU:C:2011:62, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Eine solche Verfälschung liegt vor, wenn ohne Erhebung neuer Beweise die Würdigung der vorliegenden Beweismittel offensichtlich unzutreffend ist (Urteil Comitato Venezia vuole vivere u. a./Kommission, C‑71/09 P, C‑73/09 P und C‑76/09 P, EU:C:2011:368, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Verfälschung muss sich jedoch in offensichtlicher Weise aus den Prozessakten ergeben, ohne dass es einer erneuten Würdigung der Tatsachen und Beweise bedarf (Urteil General Motors/Kommission, C‑551/03 P, EU:C:2006:229, Rn. 54). Außerdem muss ein Rechtsmittelführer, der eine Verfälschung von Beweismitteln durch das Gericht behauptet, genau angeben, welche Beweismittel das Gericht verfälscht haben soll, und die Beurteilungsfehler darlegen, die das Gericht seines Erachtens zu dieser Verfälschung veranlasst haben (vgl. in diesem Sinne Urteile Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 50, und PepsiCo/Grupo Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 78).
53 Es ist festzustellen, dass den Argumenten, die sich gegen die Rn. 40, 63 und 72 des angefochtenen Urteils richten, ein offensichtliches Fehlverständnis dieses Urteils zugrunde liegt. Hinsichtlich der Rn. 40 und 72 kann dem Gericht nicht vorgeworfen werden, es habe den Inhalt der Klage der Italienischen Republik verkannt, indem es davon ausgegangen sei, dass sie keine der Unregelmäßigkeiten, die in einer im Januar 2009 geprüften Stichprobe von Kontrollen der ersten und der zweiten Ebene festgestellt worden seien, bestreite oder dass sie nur einige davon bestreite. Im Gegenteil ergibt sich insbesondere aus den Rn. 60 bis 64 des angefochtenen Urteils, dass das Gericht den Umstand, dass die Italienische Republik alle diese Unregelmäßigkeiten bestritten hat, durchaus berücksichtigt hat.
54 Entgegen dem Vorbringen der Italienischen Republik kann aus Rn. 63 des angefochtenen Urteils nicht abgeleitet werden, das Gericht sei der Ansicht, dass die streitige Entscheidung nicht auf diesen Unregelmäßigkeiten beruhe. Das Gericht hat nämlich in der genannten Rn. 63 ausdrücklich festgestellt, dass die von den Prüfern der Union im Januar 2009 festgestellten spezifischen Unregelmäßigkeiten „eine der Rügen“ darstellten, die in Bezug auf das Funktionieren des für das Programm ROP Apulien vorhandenen Verwaltungs- und Kontrollsystems erhoben worden seien.
55 Hinsichtlich der in den Rn. 73 und 74, 84 bis 86 und 88 bis 93 des angefochtenen Urteils enthaltenen Feststellungen ist darauf hinzuweisen, dass die Italienische Republik nicht nachgewiesen hat, inwiefern die Feststellungen des Gerichts eine Verfälschung der Unterlagen, auf die sie sich bezieht, darstellen sollen.
56 Folglich sind sämtliche Argumente wegen einer Verfälschung der Tatsachen und Beweismittel als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen.
57 Unter diesen Umständen können die Argumente, mit denen ein Verstoß gegen Art. 39 der Verordnung Nr. 1260/1999, die Art. 9 und 10 der Verordnung Nr. 438/2001 und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Partnerschaft geltend gemacht wird, Argumente, die die Italienische Republik auf die angebliche, in Bezug auf die Rn. 40, 63, 72 bis 74 und 88 bis 93 des angefochtenen Urteils geltend gemachte Verfälschung stützt, ebenfalls nicht durchgreifen.
58 Mithin sind der erste Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes und der erste und der dritte Teil des dritten Rechtsmittelgrundes als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Begründetheit des zweiten Teils des dritten Rechtsmittelgrundes
59 Mit dem zweiten Teil des dritten Rechtsmittelgrundes wirft die Italienische Republik dem Gericht vor, in Rn. 76 des angefochtenen Urteils Art. 10 der Verordnung Nr. 438/2001 falsch ausgelegt zu haben, indem es davon ausgegangen sei, es sei nicht ausreichend, nachzuweisen, dass der in diesem Artikel vorgesehene Prozentsatz der Kontrollen zum Zeitpunkt des Abschlusses der Intervention des EFRE im Programm ROP Apulien nicht erreicht sei, um die Zweifel an der Zuverlässigkeit des in Rede stehenden Verwaltungs- und Kontrollsystems zu entkräften.
60 Hierzu genügt der Hinweis darauf, dass aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 2 der Verordnung Nr. 438/2001, wonach sich die Mitgliedstaaten bemühen, die Kontrollen, die vor Abschluss der Intervention des EFRE durchzuführen sind, gleichmäßig über den betreffenden Zeitraum zu verteilen, hervorgeht, dass die Kontrollen der zweiten Ebene während der gesamten Dauer dieser Intervention und nicht nur zum Zeitpunkt ihres Abschlusses funktionieren müssen.
61 Folglich ist der zweite Teil des dritten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Begründetheit des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes
62 Mit dem zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes beanstandet die Italienische Republik die in den Rn. 60 bis 63 des angefochtenen Urteils enthaltenen Feststellungen. Sie macht geltend, da die streitige Entscheidung auch auf den Unregelmäßigkeiten beruhe, die von den Prüfern der Union in einer im Januar 2009 geprüften Stichprobe von Kontrollen der ersten Ebene festgestellt worden seien, habe das Gericht nicht über die Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidung im Hinblick auf Art. 39 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1260/1999 und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entscheiden können, ohne das Vorbringen geprüft zu haben, mit dem sie das Vorliegen dieser Unregelmäßigkeiten bestritten habe. Darüber hinaus habe das Gericht selbst in den Rn. 78 bis 81 des angefochtenen Urteils diese Unregelmäßigkeiten für die Feststellung herangezogen, dass die Kontrollen der ersten Ebene nicht zuverlässig seien.
63 Insoweit ist auf die ständige Rechtsprechung zum Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) hinzuweisen. Danach hat die Kommission zum Nachweis des Vorliegens einer Verletzung der Regeln der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte nicht die Unzulänglichkeit der von den nationalen Verwaltungen durchgeführten Kontrollen oder die Unrichtigkeit der von ihnen übermittelten Zahlen umfassend darzulegen, sondern darzutun, dass in Bezug auf diese Kontrollen oder diese Zahlen ernsthafte und berechtigte Zweifel bestehen, da der betroffene Mitgliedstaat am besten in der Lage ist, die für den Rechnungsabschluss des EAGFL erforderlichen Angaben zu sammeln und nachzuprüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Griechenland/Kommission, C‑300/02, EU:C:2005:103, Rn. 34 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Dänemark/Kommission, C‑417/12 P, EU:C:2014:2288, Rn. 80 und 81).
64 Der betroffene Mitgliedstaat kann seinerseits die Feststellungen, die den ernsthaften und berechtigten Zweifeln der Kommission zugrunde liegen, nur dadurch erschüttern, dass er seine Behauptungen auf Umstände stützt, mit denen das Vorhandensein eines zuverlässigen und funktionierenden Kontrollsystems nachgewiesen wird. Gelingt ihm nicht der Nachweis, dass die Feststellungen der Kommission unzutreffend sind, so können diese Feststellungen ernsthafte Zweifel begründen, ob ein angemessenes und wirksames System von Maßnahmen zur Überwachung und Kontrolle eingeführt worden ist (vgl. Urteil Dänemark/Kommission, C‑417/12 P, EU:C:2014:2288, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Folglich obliegt es dem Mitgliedstaat, die Richtigkeit seiner Kontrollen oder seiner Zahlen möglichst eingehend und vollständig nachzuweisen und so gegebenenfalls die Fehlerhaftigkeit der Feststellungen der Kommission darzutun (Urteile Griechenland/Kommission, C‑300/02, EU:C:2005:103, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Dänemark/Kommission, C‑417/12 P, EU:C:2014:2288, Rn. 83).
66 Die aus dieser Rechtsprechung abzuleitenden Grundsätze sind auf den EFRE entsprechend anwendbar, was die Italienische Republik in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof nicht bestritten hat. Angesichts der Struktur des gemäß Art. 38 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1260/1999 eingeführten Verwaltungs- und Kontrollsystems, wonach in erster Linie die Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Finanzkontrolle der Interventionen übernehmen, sind diese in der Tat am besten in der Lage, die Angaben zu diesen Interventionen zu sammeln und nachzuprüfen.
67 Im vorliegenden Fall beanstandet die Italienische Republik, dass das Gericht die Gesichtspunkte nicht berücksichtigt habe, mit denen sie das Vorliegen der Unregelmäßigkeiten bestritten habe, die von den Prüfern der Union in einer im Januar 2009 geprüften Stichprobe von Kontrollen der ersten und der zweiten Ebene festgestellt worden seien. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese spezifischen Unregelmäßigkeiten nach den Feststellungen des Gerichts in Rn. 63 des angefochtenen Urteils nur eine der Rügen darstellten, die in Bezug auf das für das Programm ROP Apulien eingeführte Verwaltungs- und Kontrollsystem erhoben wurden und dass die streitige Entscheidung auch auf andere diesem System immanente Lücken gestützt war, die ernsthafte und berechtigte Zweifel an seiner Zuverlässigkeit und Angemessenheit aufkommen lassen konnten.
68 Aus der Prüfung des ersten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes und des ersten und des dritten Teils des dritten Rechtsmittelgrundes, deren Ergebnisse in den Rn. 58 und 61 des vorliegenden Urteils enthalten sind, ergibt sich, dass das Gericht das gesamte Vorbringen der Italienischen Republik, mit dem sie den Feststellungen entgegengetreten ist, die diesen weiteren – sich aus den Verzögerungen bei der Durchführung der Kontrollen der ersten Ebene, der fehlenden Zuverlässigkeit der vorgeschlagenen Korrekturen und dem schlechten Funktionieren der Zahlstelle ergebenden – Mängeln des für das Programm ROP Apulien eingeführten Verwaltungs- und Kontrollsystems zugrunde lagen, rechtsfehlerfrei zurückgewiesen hat.
69 Daher ist das Gericht im Einklang mit der in den Rn. 63 bis 65 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung in Rn. 63 des angefochtenen Urteils davon ausgegangen, dass es nicht erforderlich sei, über das – von der Italienischen Republik bestrittene – Vorliegen der in der im Januar 2009 durchgeführten Prüfung festgestellten spezifischen Unregelmäßigkeiten zu entscheiden.
70 Hinzuzufügen ist, dass die Italienische Republik in ihrem Rechtsmittel die Rn. 109 bis 118 des angefochtenen Urteils nicht beanstandet hat. In diesen hat das Gericht die Verhältnismäßigkeit der angewandten pauschalen Korrektur bejaht und sich hierfür auf die Mängel dieses Verwaltungs- und Kontrollsystems im Zusammenhang mit den Verzögerungen bei der Durchführung der Kontrollen der ersten Ebene, der fehlenden Zuverlässigkeit der vorgeschlagenen Korrekturen und dem schlechten Funktionieren der Zahlstelle gestützt, die ernsthafte und berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit und Angemessenheit dieses Systems aufkommen lassen konnten.
71 Was den Vorwurf angeht, das Gericht selbst habe in den Rn. 78 bis 81 des angefochtenen Urteils die spezifischen Unregelmäßigkeiten, die in einer im Januar 2009 geprüften Stichprobe von Kontrollen der ersten Ebene festgestellt worden seien, berücksichtigt, ist zu bemerken, dass Gegenstand dieser Randnummern nicht diese spezifischen Unregelmäßigkeiten sind, sondern die Zweifel in Bezug auf die Praxis der italienischen Behörden bei finanziellen Korrekturen.
72 Demnach kann dem Gericht vorgeworfen werden, in den Rn. 78 bis 81 des angefochtenen Urteils die Feststellungen der Kommission zur Zuverlässigkeit der von den italienischen Behörden vorgeschlagenen finanziellen Korrekturen berücksichtigt zu haben, nachdem es in den Rn. 60 bis 63 dieses Urteils davon ausgegangen ist, dass es nicht erforderlich sei, über das Vorliegen der von den Prüfern der Union in einer im Januar 2009 geprüften Stichprobe festgestellten Unregelmäßigkeiten zu entscheiden.
73 Daher ist der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen.
– Zur Begründetheit des dritten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes
74 Mit dem dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes beanstandet die Italienische Republik die in Rn. 60 des angefochtenen Urteils enthaltene Feststellung, da es gegen die in Art. 39 der Verordnung Nr. 1260/1999 niedergelegten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Partnerschaft verstoße, eine pauschale Korrektur von 10 % vorzuschreiben, obschon die italienischen Behörden für die Unregelmäßigkeiten, die von den Prüfern der Union im Januar 2009 im Zusammenhang mit der Vergabe zusätzlicher Arbeiten oder Ingenieurdienstleistungen festgestellt worden seien, pauschale Korrekturen von 25 % vorgeschlagen hätten.
75 Hierzu ist festzustellen, dass diese von den italienischen Behörden vorgeschlagenen Korrekturen nur bestimmte der spezifischen Unregelmäßigkeiten betreffen, die von den Prüfern der Union im Januar 2009 festgestellt worden waren. Wie indes aus Rn. 69 des vorliegenden Urteils hervorgeht, konnte das Gericht rechtsfehlerfrei davon ausgehen, dass das behauptete Nichtvorliegen dieser spezifischen Unregelmäßigkeiten die Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidung nicht beeinträchtigte. Unter diesen Umständen hat das Gericht ohne Verstoß gegen die in der vorstehenden Randnummer erwähnten Grundsätze in den Rn. 60 und 62 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass das auf diese Korrekturen, die die Kommission bei der Berechnung des Endbetrags der Kürzung des Zuschusses des EFRE berücksichtigt hatte, gestützte Vorbringen ins Leere gehe, soweit mit ihm eine Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung angestrebt werde.
76 Daher ist der dritte Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen.
77 Nach alledem ist das Rechtsmittel insgesamt als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen.
Kosten
78 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach Art. 184 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Italienische Republik trägt die Kosten.
Unterschriften
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) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 24. November 2015. # Königreich der Niederlande gegen Europäische Kommission. # Rechtssache T-126/14.
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62014TJ0126
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ECLI:EU:T:2015:875
| 2015-11-24T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014TJ0126
URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
24. November 2015 (*1)
„EAGFL — Abteilung Garantie — EGFL und ELER — Finanzielle Berichtigung wegen Nichtangabe von Zinsen — Begründungspflicht — Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen — Art. 32 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 — Grundsatz der Äquivalenz — Sorgfaltspflicht“
In der Rechtssache T‑126/14
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman, J. Langer und M. Noort als Bevollmächtigte,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch H. Kranenborg und P. Rossi als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen teilweiser Nichtigerklärung des Durchführungsbeschlusses 2013/763/EU der Kommission vom 12. Dezember 2013 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 338, S. 81),
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2015
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
Grundlegende Rechtsvorschriften: Verordnung (EWG) Nr. 729/70 und Verordnungen (EG) Nrn. 1258/99 und 1290/2005
1 Die grundlegenden Rechtsvorschriften über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik finden sich, was die Ausgaben der Mitgliedstaaten seit dem 16. Oktober 2006 und die Ausgaben der Kommission der Europäischen Gemeinschaften seit dem 1. Januar 2007 betrifft, in der Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 vom 21. Juni 2005 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 209, S. 1). Durch diese Verordnung wurde die Verordnung (EG) Nr. 1258/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 209, S. 1) aufgehoben, die bezüglich der seit dem 1. Januar 2000 getätigten Ausgaben an die Stelle der Verordnung (EWG) Nr. 729/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik (ABl. L 94, S. 13) getreten war.
2 Nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnungen Nrn. 729/70 und 1258/1999 war der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) ein Teil des Haushaltsplans der Gemeinschaften und finanzierte durch seine Abteilung Garantie die Erstattungen bei der Ausfuhr nach Drittländern.
3 Nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnungen Nrn. 729/70 und 1258/1999 trafen die Mitgliedstaaten gemäß ihren Rechts- und Verwaltungsvorschriften die erforderlichen Maßnahmen, um die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen abgeflossenen Beträge wieder einzuziehen. Erfolgte keine vollständige Wiedereinziehung, so trug gemäß Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Verordnungen die Gemeinschaft die finanziellen Folgen der Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse; dies galt nicht für Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse, die den Verwaltungen oder Einrichtungen der Mitgliedstaaten anzulasten waren. Schließlich ergab sich sowohl aus Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1287/95 des Rates vom 22. Mai 1995 zur Änderung der Verordnung Nr. 729/70 (ABl. L 125, S. 1), die ab dem am 16. Oktober 1995 beginnenden Haushaltsjahr anwendbar war, als auch aus Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1258/1999, dass namentlich die Zinsen für wieder eingezogene oder zu spät entrichtete Beträge dem EAGFL zuflossen.
4 Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1290/2005 werden aus dem Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) in einer zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union geteilten Mittelverwaltung die Erstattungen bei der Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse in Drittländer finanziert.
5 Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 1290/2005 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission für die Aktionen im Zusammenhang mit den u. a. aus dem EGFL finanzierten Maßnahmen die Jahresrechnungen der zugelassenen Zahlstellen, ergänzt durch eine vom Leiter der zugelassenen Zahlstelle unterzeichnete Zuverlässigkeitserklärung, zusammen mit den für den Abschluss notwendigen Informationen sowie einem Bescheinigungsbericht der bescheinigenden Stelle.
6 Art. 31 („Konformitätsabschluss“) der Verordnung Nr. 1290/2005 bestimmt:
„(1) Die Kommission entscheidet nach dem in Artikel 41 Absatz 3 genannten Verfahren, welche Beträge von der … Finanzierung [durch die Union] auszuschließen sind, wenn sie feststellt, dass Ausgaben nach Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 4 nicht in Übereinstimmung mit den [Unions]vorschriften getätigt worden sind.
(2) Die Kommission bemisst die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung des Umfangs der festgestellten Nichtübereinstimmung. Sie trägt dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der [Union] entstandenen finanziellen Schaden Rechnung.
(3) Vor jeder Entscheidung über eine Ablehnung der Finanzierung werden die Ergebnisse der Überprüfungen der Kommission sowie die Antworten des betreffenden Mitgliedstaats jeweils schriftlich übermittelt; danach bemühen sich beide Parteien um eine Einigung über das weitere Vorgehen.
Gelingt dies nicht, so kann der Mitgliedstaat die Einleitung eines Verfahrens beantragen, in dem versucht wird, innerhalb von vier Monaten eine Einigung herbeizuführen; die Ergebnisse dieses Verfahrens werden in einem Bericht erfasst, der an die Kommission übermittelt und von dieser geprüft wird, bevor sie entscheidet, ob sie die Finanzierung ablehnt.
(4) Die Ablehnung der Finanzierung kann folgende Ausgaben nicht betreffen:
a)
Ausgaben nach Artikel 3 Absatz 1, die über 24 Monate vor dem Zeitpunkt getätigt wurden, zu dem die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat die Ergebnisse ihrer Überprüfungen schriftlich mitgeteilt hat;
b)
Ausgaben, die mehrjährige Maßnahmen betreffen und Teil der Ausgaben nach Artikel 3 Absatz 1 oder der Ausgaben im Rahmen der Programme nach Artikel 4 sind, für die die letzte Verpflichtung des Begünstigten über 24 Monate vor dem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat die Ergebnisse ihrer Überprüfungen schriftlich mitgeteilt hat;
c)
nicht unter Buchstabe b fallende Ausgaben für Maßnahmen im Rahmen der Programme nach Artikel 4, für die die Zahlung oder gegebenenfalls die Restzahlung von der Zahlstelle über 24 Monate vor dem Zeitpunkt getätigt wurde, zu dem die Kommission dem betroffenen Mitgliedstaat die Ergebnisse ihrer Überprüfungen schriftlich mitgeteilt hat.
(5) Absatz 4 gilt jedoch nicht für die finanziellen Auswirkungen:
a)
der in den Artikeln 32 und 33 genannten Unregelmäßigkeiten,
…“
7 Art. 32 („Besondere Bestimmungen für den EGFL“) der Verordnung Nr. 1290/2005 bestimmt in den Abs. 1 und 3 bis 6:
„(1) Die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen wieder eingezogenen Beträge einschließlich der Zinsen darauf werden den Zahlstellen gutgeschrieben und von diesen als Einnahme verbucht, die dem EGFL im Monat ihrer tatsächlichen Einziehung zugewiesen wird.
…
(3) Bei der Übermittlung der Jahresrechnungen nach Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c Ziffer iii übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission auch eine zusammenfassende Übersicht über die infolge von Unregelmäßigkeiten eingeleiteten Wiedereinziehungsverfahren mit Aufschlüsselung der noch nicht wieder eingezogenen Beträge nach Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren und dem Jahr der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung der Unregelmäßigkeit.
Die Mitgliedstaaten halten eine detaillierte Aufstellung der einzelnen Wiedereinziehungsverfahren sowie der noch nicht wieder eingezogenen Einzelbeträge zur Verfügung der Kommission.
(4) Nachdem die Kommission das Verfahren nach Artikel 31 Absatz 3 durchgeführt hat, kann sie beschließen, die wieder einzuziehenden Beträge dem betreffenden Mitgliedstaat anzulasten:
a)
wenn der Mitgliedstaat nicht alle in den nationalen und [Unions‑]Rechtsvorschriften vorgesehenen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zur Wiedereinziehung in dem auf die erste amtliche oder gerichtliche Feststellung folgenden Jahr eingeleitet hat;
b)
wenn die erste amtliche oder gerichtliche Feststellung nicht oder mit solcher Verspätung erfolgt ist, dass die Wiedereinziehung gefährdet ist, oder wenn die Unregelmäßigkeit nicht im Jahr der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung in der zusammenfassenden Übersicht nach Absatz 3 Unterabsatz 1 dieses Artikels aufgeführt ist.
(5) Ist die Wiedereinziehung nicht innerhalb einer Frist von vier Jahren ab der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung erfolgt bzw., wenn sie Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten ist, innerhalb einer Frist von acht Jahren, so werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom [Unions]haushalt getragen.
Der betreffende Mitgliedstaat gibt die Beträge, bei denen die Wiedereinziehung nicht innerhalb der Fristen nach Unterabsatz 1 dieses Absatzes erfolgt ist, in der zusammenfassenden Übersicht nach Absatz 3 Unterabsatz 1 getrennt an.
Die Aufteilung der Finanzlast infolge der Nichtwiedereinziehung nach Unterabsatz 1 erfolgt unbeschadet der Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, die Wiedereinziehungsverfahren nach Artikel 9 Absatz 1 dieser Verordnung fortzusetzen. Die so wieder eingezogenen Beträge werden dem EGFL nach Einbehaltung des Betrages gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels zu 50 % gutgeschrieben.
Wird im Rahmen des Wiedereinziehungsverfahrens amtlich oder gerichtlich endgültig festgestellt, dass keine Unregelmäßigkeit vorliegt, so meldet der betreffende Mitgliedstaat die nach Unterabsatz 1 von ihm zu tragende finanzielle Belastung dem EGFL als Ausgabe.
Konnte die Wiedereinziehung jedoch aus Gründen, die dem betreffenden Mitgliedstaat nicht anzulasten sind, nicht innerhalb der in Unterabsatz 1 genannten Fristen erfolgen, so kann die Kommission, wenn der wieder einzuziehende Betrag 1 Mio. EUR überschreitet, auf Antrag des Mitgliedstaats die Fristen um höchstens 50 % der ursprünglichen Fristen verlängern.
(6) In hinreichend begründeten Fällen können die Mitgliedstaaten beschließen, die Wiedereinziehung nicht fortzusetzen. Diese Entscheidung kann nur in folgenden Fällen getroffen werden:
a)
wenn die bereits aufgewendeten Kosten und die voraussichtlichen Wiedereinziehungskosten zusammen den wieder einzuziehenden Betrag überschreiten;
b)
wenn die Wiedereinziehung wegen nach nationalem Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgestellter Zahlungsunfähigkeit des Schuldners oder der für die Unregelmäßigkeit rechtlich verantwortlichen Personen unmöglich ist.
Der betreffende Mitgliedstaat gibt die Beträge, bei denen er die Einstellung der Wiedereinziehungsverfahren beschlossen hat, und die Begründung seiner Entscheidung in der zusammenfassenden Übersicht gemäß Absatz 3 Unterabsatz 1 getrennt an.“
8 Nach Art. 34 Abs. 1 Buchst. a („Zweckbindung der Einnahmen aus den Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1290/2005 gelten die Beträge, die nach den Art. 31 bis 33 dieser Verordnung einschließlich Zinsen dem Unionshaushalt zuzuführen sind, als zweckgebundene Einnahmen im Sinne von Art. 18 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 248, S. 1).
9 Die Verordnung Nr. 1290/2005 gilt gemäß ihrem Art. 49 Abs. 2 ab dem 1. Januar 2007. Nach Art. 49 Abs. 3 zweiter Gedankenstrich dieser Verordnung gilt jedoch ab dem 16. Oktober 2006 Art. 32 dieser Verordnung für die im Rahmen von Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 595/91 des Rates vom 4. März 1991 betreffend Unregelmäßigkeiten und die Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge im Rahmen der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik sowie die Einrichtung eines einschlägigen Informationssystems und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 283/72 (ABl. L 67, S. 11) mitgeteilten Fälle, bei denen die vollständige Wiedereinziehung am 16. Oktober 2006 noch nicht erfolgt ist.
Durchführungsverordnungen
Verordnung Nr. 595/91
10 Nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 595/91 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission in den auf das Ende jedes Vierteljahrs folgenden zwei Monaten eine Aufstellung über die Unregelmäßigkeiten, die Gegenstand einer ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung gewesen sind.
11 Ferner sieht Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 595/91, der durch die Verordnung Nr. 1290/2005 aufgehoben wurde, eine besondere Mitteilung vor, in der ein Mitgliedstaat, der der Auffassung ist, dass die vollständige Wiedereinziehung eines Betrags nicht vorgenommen oder nicht erwartet werden kann, der Kommission den nicht wiedereingezogenen Betrag und die Gründe mitteilt, aus denen nach seiner Auffassung dieser Betrag zulasten der Gemeinschaft oder des Mitgliedstaats geht.
12 Die Verordnung Nr. 595/91 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1848/2006 der Kommission vom 14. Dezember 2006 betreffend Unregelmäßigkeiten und die Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge im Rahmen der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik sowie die Einrichtung eines einschlägigen Informationssystems und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 595/91 des Rates (ABl. L 355, S. 56) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben.
Verordnung Nr. 885/2006
13 Nach Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 885/2006 der Kommission vom 21. Juni 2006 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1290/2005 des Rates hinsichtlich der Zulassung der Zahlstellen und anderen Einrichtungen sowie des Rechnungsabschlusses für den EGFL und den ELER (ABl. L 171, S. 90) ist in den Jahresrechnungen gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 1290/2005 u. a. die Übersicht der bis zum Ende des Haushaltsjahrs wieder einzuziehenden Beträge entsprechend dem Muster in Anhang III (im Folgenden: Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006) aufgeführt.
14 Die Kommission erließ Leitlinien für die Einreichung der Übersichten nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 für die Haushaltsjahre 2006 und 2007 in dem Dokument „Mitteilung an den Ausschuss der Agrarfonds – Leitlinien für die Übersendung der Übersicht 5 nach Anhang III der Verordnung [Nr. 885/2006] an die Kommission bis zum 10. Februar 2007“ (im Folgenden: Leitlinien von 2006) und in dem Dokument „Mitteilung an den Ausschuss der Agrarfonds – Leitlinien für die Übersendung der Übersichten 1 bis 6 nach Anhang III der Verordnung [Nr. 885/2006] an die Kommission bis zum 8. Februar 2008“ (im Folgenden: Leitlinien von 2007).
15 Art. 11 der Verordnung Nr. 885/2006 regelt die Modalitäten des in Art. 31 der Verordnung Nr. 1290/2005 vorgesehenen Konformitätsabschlussverfahrens. Ferner enthält Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006 die Modalitäten des Schlichtungsverfahrens.
Sektorbezogene Verordnungen
Verordnung (EWG) Nr. 3665/87
16 Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission vom 27. November 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 351, S. 1) regelte in seiner durch die Verordnung (EG) Nr. 2945/94 der Kommission vom 2. Dezember 1994 zur Änderung der Verordnung Nr. 3665/87 (ABl. L 310, S. 57) geänderten Fassung die Modalitäten der Wiedereinziehung von unrechtmäßig gezahlten Ausfuhrerstattungen, die insoweit zu verhängenden Sanktionen sowie die Möglichkeit, im Fall höherer Gewalt auf bestimmte Sanktionen zu verzichten. Art. 11 Abs. 3 bestimmte insbesondere, dass der Begünstigte, wenn eine Ausfuhrerstattung unrechtmäßig gewährt wurde, den unrechtmäßig erhaltenen Betrag zuzüglich Zinsen für die Zeit zwischen der Gewährung der Erstattung und ihrer Rückerstattung zu erstatten hatte.
17 Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2945/94 betraf diese Verordnung Ausfuhren, für die die in Art. 3 oder Art. 25 der Verordnung Nr. 3665/87 genannten Formalitäten nach dem 1. April 1995 erfüllt wurden.
18 Die Verordnung Nr. 3665/87 wurde aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 800/1999 der Kommission vom 15. April 1999 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 102, S. 11), die später ihrerseits durch die Verordnung (EG) Nr. 612/2009 der Kommission vom 7. Juli 2009 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 186, S. 1) aufgehoben und ersetzt wurde.
Verordnung (EWG) Nr. 536/93
19 Die Verordnung (EWG) Nr. 536/93 der Kommission vom 9. März 1993 mit Durchführungsbestimmungen zur Zusatzabgabe im Milchsektor (ABl. L 57, S. 12, im Folgenden zusammen mit der Verordnung Nr. 3665/87 als „sektorbezogene Verordnungen“ bezeichnet) hob die Verordnung (EWG) Nr. 1546/88 der Kommission vom 3. Juni 1988 mit den Durchführungsbestimmungen für die Zusatzabgabe nach Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 (ABl. L 139, S. 12) auf und trat an deren Stelle.
20 Nach Art. 3 Abs. 4 und Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 536/93 zahlen der Abnehmer bzw. der Erzeuger vor dem 1. September jedes Jahres der zuständigen Stelle den geschuldeten Betrag nach den vom Mitgliedstaat festgelegten Modalitäten. Bei Nichteinhaltung der Zahlungsfrist werden auf die geschuldeten Beträge Jahreszinsen erhoben, deren Satz vom Mitgliedstaat festgesetzt wird und der nicht unter dem Zinssatz liegen darf, den der Mitgliedstaat bei der Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge anwendet.
21 Die Verordnung Nr. 536/93 galt nach ihrem Art. 10 Abs. 2 ab dem am 1. April 1993 beginnenden Zwölfmonatszeitraum.
22 Die Verordnung Nr. 536/93 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1392/2001 der Kommission vom 9. Juli 2001 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EWG) Nr. 3950/92 des Rates über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor (ABl. L 187, S. 19) aufgehoben und ersetzt. Diese wurde ihrerseits durch die Verordnung (EG) Nr. 595/2004 der Kommission vom 30. März 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1788/2003 des Rates über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor (ABl. L 94, S. 22) aufgehoben und ersetzt.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
23 Am 10. Juli 2003 richtete das Königreich der Niederlande eine besondere Mitteilung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 595/91 an die Kommission (im Folgenden: besondere Mitteilung vom 10. Juli 2003). Darin teilten die niederländischen Behörden der Kommission mit, dass wegen der Insolvenz und der Zahlungsunfähigkeit der betroffenen Schuldner die Wiedereinziehung der im Rahmen des Verfahrens NL/98/039-Centramelk (im Folgenden: Verfahren Centramelk) geschuldeten Beträge nicht mehr vorgenommen oder erwartet werden könne, und ersuchten sie, den Restbetrag der Europäischen Gemeinschaft anzulasten. Dieses Verfahren, das bereits Gegenstand einer Mitteilung nach Art. 3 der Verordnung Nr. 595/91 gewesen war, betrifft neun zwischen 1989 und 1990 aufgedeckte einzelne Betrugsfälle bei der Entrichtung von Zusatzabgaben im Milchsektor durch Abnehmer von Rohmilch.
24 Mit Schreiben vom 21. Februar 2006 teilte die Kommission den niederländischen Behörden u. a. mit, dass ihre Entscheidung im Verfahren Centramelk aufgeschoben werde, da nach Auskunft ihrer Dienststellen die Wiedereinziehung der fraglichen Forderungen noch nicht abgeschlossen sei.
25 Mit Schreiben vom 4. Oktober 2006 machten die niederländischen Behörden die Kommission auf die Einstellung des Verfahrens Centramelk aufmerksam und ersuchten sie, bis zum 16. Oktober 2006 eine Entscheidung in diesem Verfahren zu treffen und diese Angelegenheit nicht nach Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005, sondern nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1258/1999 zu behandeln.
26 Mit Schreiben vom 23. Oktober 2006 unterrichtete die Kommission die niederländischen Behörden namentlich darüber, dass sie im Verfahren Centramelk noch keine Entscheidung getroffen habe und dass sie auf die Fälle, die nicht bis zum 16. Oktober 2006 entschieden worden seien, Art. 32 der Verordnung Nr. 1290/2005 anwenden werde.
27 Am 27. April 2007 erließ die Kommission die Entscheidung 2007/327/EG über den Rechnungsabschluss der Zahlstellen der Mitgliedstaaten für die vom EAGFL, Abteilung Garantie, im Haushaltsjahr 2006 finanzierten Ausgaben (ABl. L 122, S. 51), in der sie u. a. auf die im Verfahren Centramelk betroffenen Forderungen die in Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 aufgestellte Regel anwandte. Das Königreich der Niederlande hat gegen diese Entscheidung keine Nichtigkeitsklage erhoben.
28 Vom 15. bis zum 17. September 2008 führten die Dienststellen der Kommission bei der niederländischen Zahlstelle Dienst Regelingen eine Untersuchung durch.
29 Die Kommission informierte die niederländischen Behörden mit Schreiben vom 17. Juni 2009 (im Folgenden: erste Mitteilung) gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 885/2006 von dem Ergebnis der vom 15. bis zum 17. September 2008 durchgeführten Untersuchung. Das Schreiben enthielt einen Anhang mit der Überschrift „Bemerkungen und Auskunftsersuchen“, der die Schlussfolgerungen der Untersuchung enthielt.
30 In der ersten Mitteilung vertrat die Kommission namentlich die Auffassung, dass die niederländischen Behörden die Anforderungen des Unionsrechts nicht in vollem Umfang beachtet hätten und dass Abhilfemaßnahmen erforderlich seien, um künftig die Beachtung dieser Anforderungen sicherzustellen. Die Kommission bat um Unterrichtung über die bereits erlassenen und die geplanten Abhilfemaßnahmen und den für ihre Anwendung vorgesehenen Zeitplan. Ferner wies sie darauf hin, dass sie alle oder einen Teil der vom EAGFL, Abteilung Garantie, und vom EGFL (im Folgenden zusammen als die Fonds bezeichnet) finanzierten Ausgaben gemäß den Art. 31 und 32 der Verordnung Nr. 1290/2005 von der Finanzierung durch die Union ausschließen könnte und dass die festgestellten Mängel im Übrigen als Grundlage der Berechnung der finanziellen Berichtigungen für die Ausgaben bis zur Anwendung geeigneter Abhilfemaßnahmen dienen würden.
31 In den Bemerkungen und Empfehlungen im Anhang der ersten Mitteilung wies die Kommission insbesondere darauf hin, dass das Debitorenbuch und damit auch die für die Haushaltsjahre 2006 und 2007 angefertigten Übersichten nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 nicht die auf die offenstehenden Beträge entfallenden Zinsen enthielten, da diese vom Dienst Regelingen erst bei ihrer Einziehung verbucht würden. Sie müssten aber in diese Übersichten aufgenommen werden, da andernfalls die Beträge, auf die die Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 angewandt werde, zu niedrig angesetzt würden. Die Kommission bemerkte weiter, dass der Dienst Regelingen Bescheinigungen über Zinszahlungen erst nach Einziehung der Hauptbeträge ausstelle, und dies auch nur für die nach dem 16. Oktober 2007 eingezogenen Beträge. Die Nichtverbuchung von Zinsen für die vor diesem Datum eingezogenen Beträge führe jedoch zu einem Verlust für die Fonds. Im Übrigen bat die Kommission die niederländischen Behörden um bestimmte Informationen.
32 Die niederländischen Behörden antworteten mit Schreiben vom 21. Juli 2009 auf die von der Kommission in der ersten Mitteilung getroffenen Feststellungen.
33 Die Kommission forderte die niederländischen Behörden mit Schreiben vom 7. September 2010 auf, zur Vorbereitung einer für den 5. Oktober 2010 anberaumten bilateralen Besprechung zu den streitigen Fragen Stellung zu nehmen, und ersuchte sie im Übrigen, den Gesamtbetrag der Zinsen für alle in den Haushaltsjahren 2006 bis 2009 wieder einzuziehenden Beträge zu berechnen, auf die die Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 anwendbar war.
34 Die bilaterale Besprechung der Dienststellen der Kommission mit den niederländischen Behörden fand am 5. Oktober 2010 in Brüssel (Belgien) statt. Das Protokoll der Besprechung wurde diesen Behörden am 14. Dezember 2010 übersandt.
35 Aus dem Protokoll der bilateralen Besprechung geht hervor, dass die Kommission nach dieser Besprechung ihre in der ersten Mitteilung gezogenen Schlussfolgerungen im Wesentlichen aufrechterhielt, indem sie ausführte, dass für die vor dem 16. Oktober 2007 zurückgezahlten Beträge keine Zinsen erhoben worden seien, was für die Fonds zu finanziellen Verlusten geführt habe, und dass die in den Übersichten nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 aufgeführten Zinsen zu niedrig angesetzt worden seien. Es seien keine oder falsch berechnete Zinsen angegeben worden, so dass beim Rechnungsabschluss in den Jahren 2006 und 2007 für die Forderungen, auf die Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 angewandt worden sei, kein korrekter Zinsbetrag angegeben worden sei. Deshalb kündigte sie an, dass sie eine finanzielle Berichtigung vorschlagen werde, und zwar einerseits für die nicht verlangten Zinsen auf die in den Jahren 2006 und 2007 wieder eingezogenen Forderungen (im Folgenden: nicht verlangte Zinsen) und zum anderen für die nicht angegebenen Zinsen auf die in den Haushaltsjahren 2006 und 2007 nicht wieder eingezogenen Forderungen, die der Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 unterlägen (im Folgenden: nicht angegebene Zinsen). Unter diesen Umständen ersuchte die Kommission die niederländischen Behörden, den vom Dienst Regelingen für die nicht verlangten Zinsen genannten Betrag von 60779 Euro zu bestätigen und für den Betrag der nicht angegebenen Zinsen eine Berechnung oder eine möglichst genaue Schätzung abzugeben.
36 Die niederländischen Behörden bestätigten mit Schreiben vom 11. Februar 2011 erstens die Richtigkeit des Betrags von 60779 Euro für die nicht verlangten Zinsen und legten zweitens ihre Berechnung der Summe der nicht angegebenen Zinsen vor, die sich ihrer Meinung nach für die Jahre 2006 bis 2009 auf einen Gesamtbetrag von 513566,65 Euro beliefen. Dabei wiesen sie darauf hin, dass bei dieser Berechnung zwei Posten unberücksichtigt geblieben seien, nämlich die vor dem 1. April 1993 entstandenen Forderungen, die sich auf verspätet gezahlte Zusatzabgaben bezögen (im Folgenden: die Zusatzabgaben betreffende Altforderungen), sowie die vor dem 1. April 1995 entstandenen Forderungen, die zu Unrecht gezahlte Ausfuhrerstattungen beträfen (im Folgenden: die Ausfuhrerstattungen betreffende Altforderungen, zusammen mit den die Zusatzabgaben betreffenden Altforderungen als „Altforderungen“ bezeichnet).
37 Am 25. November 2011 übersandte die Kommission den niederländischen Behörden eine förmliche Mitteilung gemäß Art. 11 Abs. 2 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 885/2006, in der sie ihre Auffassung bekräftigte, dass, soweit die Haushaltsjahre 2006 bis 2009 betroffen seien, das System der Verwaltung der Forderungen und die Erklärung der Unregelmäßigkeiten in der Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 mit dem Unionsrecht unvereinbar seien. Sie führte erstens im Anhang dieses Schreibens aus, dass die niederländischen Behörden zu Unrecht keine Zinsen erhoben hätten, und wies darauf hin, dass nach den Leitlinien von 2006 und 2007, wie das Gericht im Urteil vom 22. April 2010, Italien/Kommission (T‑274/08 und T‑275/08, Slg, EU:T:2010:154), bestätigt habe, die Zinsen auf ausstehende Beträge in der Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 angegeben werden müssten und dass die Nichtangabe von Zinsen gegen Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 verstoße und zu einem Verlust für den Unionshaushalt führe. Zweitens bemerkte die Kommission zum Ausschluss der Altforderungen bei der Berechnung der Zinsen durch die niederländischen Behörden, dass Forderungen der Union nicht ungünstiger behandelt werden dürften als inländische Forderungen, auch wenn die Betroffenen nach den sektorbezogenen Verordnungen nicht zur Erhebung von Zinsen verpflichtet seien. Folglich müsse, wenn das Königreich der Niederlande zur entscheidungserheblichen Zeit auf inländische Forderungen wie Steuerschulden oder zu Unrecht aus dem nationalen Haushalt gezahlte Subventionen Zinsen erhoben habe, für die Forderungen der Union dasselbe gelten. Aus diesem Grund müssten ab 2006 allen in der Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 aufgeführten Beträgen Zinsen hinzugefügt werden, auch soweit es sich um Altforderungen handele, die Ausfuhrerstattungen beträfen, und soweit Altforderungen betroffen seien, die Zusatzabgaben beträfen und Gegenstand eines Rechnungsabschlusses im Jahr 2006 oder 2007 gewesen seien.
38 Deshalb schlug die Kommission vor, den Betrag von 5277577,43 Euro von der Finanzierung durch die Union auszuschließen.
39 Die niederländischen Behörden stellten mit Schreiben vom 3. Januar 2012 gemäß Art. 16 der Verordnung Nr. 885/2006 einen Antrag auf Schlichtung bei der Schlichtungsstelle. Darauf übersandte die Kommission der Schlichtungsstelle eine zusammenfassende Darstellung ihres Standpunkts.
40 Die Schlichtungsstelle gab am 30. April 2012 ihren Abschlussbericht bekannt. Darin führte sie namentlich aus, dass es ihr nicht möglich gewesen sei, die Standpunkte der Kommission und der niederländischen Behörden einander anzunähern. Sie ersuchte die Kommission, zu prüfen, ob die Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz auf einer tatsächlichen Grundlage beruhte, die ausreichte, um die vorgeschlagene finanzielle Berichtigung zu rechtfertigten, und ob es möglich sei, die Berechnung der Zinsen im Verfahren Centramelk auf den einzigen Betrugsfall zu beschränken, für den im Jahr 2006 tatsächlich ein Wiedereinziehungsverfahren durchgeführt worden sei.
41 Die Kommission übermittelte den niederländischen Behörden mit Schreiben vom 2. April 2013 ihre endgültigen Schlussfolgerungen (im Folgenden: abschließende Stellungnahme). Darin bekräftigte sie ihre oben in den Rn. 37 und 38 dargelegte Auffassung betreffend die festgestellten Unregelmäßigkeiten und die geplanten finanziellen Berichtigungen. In Beantwortung der Schlussfolgerungen der Schlichtungsstelle führte sie aus, dass nach dem Grundsatz der Äquivalenz die Wiedereinziehung der in Rede stehenden Forderungen der Union auf die gleiche Weise erfolgen müsse wie die von nicht entrichteten inländischen Abgaben. Zum Verfahren Centramelk bemerkte sie, da die dort aufgetretenen einzelnen Betrugsfälle nach der Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 behandelt werden müssten und die Zinsen als gegenüber der Hauptforderung akzessorische Beträge derselben Regelung zu unterwerfen seien, müsse für die Zinsen, die nicht Gegenstand eines Rechnungsabschlusses für das Haushaltsjahr 2006 gewesen seien, eine finanzielle Berichtigung nach dieser Regel erfolgen.
42 Die niederländischen Behörden widersprachen der abschließenden Stellungnahme in am 15. April 2013 übersandten Erklärungen.
43 Am 18. November 2013 übermittelte die Kommission dem Königreich der Niederlande einen zusammenfassenden Bericht über die Ergebnisse der vom 15. bis zum 17. September 2008 durchgeführten Untersuchung.
44 Vor diesem Hintergrund erließ die Kommission am 12. Dezember 2013 den Durchführungsbeschluss 2013/763/EU über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des EAGFL, Abteilung Garantie, des EGFL und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union (ABl. L 338, S. 81, im Folgenden: angefochtener Beschluss), durch den sie namentlich eine finanzielle Berichtigung wegen der nicht angegebenen Zinsen auf die hier in Rede stehenden Altforderungen anwandte.
Verfahren und Anträge der Parteien
45 Mit am 21. Februar 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift hat das Königreich der Niederlande die vorliegende Klage erhoben.
46 Das Gericht (Zweite Kammer) hat auf Bericht der Berichterstatterin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
47 Die Parteien haben in der Sitzung vom 21. April 2015 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
48 Das Königreich der Niederlande beantragt,
—
Art. 1 und den Anhang des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, soweit sich diese auf Zinsen in Höhe von 4703231,78 Euro beziehen, die es nicht auf eine Reihe von Forderungen betreffend verspätet gezahlte Zusatzabgaben und zu Unrecht gezahlte Ausfuhrerstattungen berechnet habe;
—
hilfsweise, Art. 1 und den Anhang des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, soweit sich diese auf Zinsen in Höhe von 3208935,04 Euro beziehen, die es nicht auf eine Reihe von Forderungen betreffend verspätet gezahlte Zusatzabgaben berechnet habe;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
49 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen,
—
dem Königreich der Niederlande die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
50 Das Königreich der Niederlande stützt seine Klage auf drei Gründe. Mit dem ersten wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht geltend gemacht. Mit dem zweiten, hilfsweise geltend gemachten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 EUV bzw. eine unrichtige Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz gerügt. Mit dem dritten, äußerst hilfsweise vorgebrachten Klagegrund wird eine Verletzung der Sorgfaltspflicht in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 595/91 gerügt.
51 Wie sich aus den Schriftsätzen des Königreichs der Niederlande ergibt und wie dieses in seiner im Sitzungsprotokoll vermerkten Antwort auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, hat es den ersten und den zweiten Klagegrund zur Stützung des hauptsächlichen Klageantrags (siehe oben, Rn. 48) geltend gemacht. Dagegen wird der dritte Nichtigkeitsgrund, der sich nur auf die das Verfahren Centramelk betreffenden finanziellen Berichtigungen bezieht, zur Stützung des zweiten, hilfsweise gestellten Klageantrags (siehe oben, Rn. 48) vorgebracht.
52 Ferner hat das Königreich der Niederlande in Beantwortung einer vom Gericht in der mündlichen Verhandlung gestellten Frage klargestellt, dass es mit dem ersten Klagegrund, mit dem es formal eine Verletzung der der Kommission obliegenden Begründungspflicht geltend gemacht hat, in Wirklichkeit nicht die förmliche Begründung des angefochtenen Beschlusses, sondern deren Stichhaltigkeit habe rügen wollen. Diese Klarstellung ist im Sitzungsprotokoll vermerkt worden.
53 Somit überschneidet sich der erste Klagegrund, mit dem letztlich die Begründetheit des angefochtenen Beschlusses in Frage gestellt werden soll, inhaltlich mit dem zweiten vom Königreich der Niederlande vorgebrachten Klagegrund. Angesichts dieser Klarstellung in der mündlichen Verhandlung erübrigt sich die Prüfung des Klagegrundes der Verletzung der in Art. 296 AEUV verankerten Begründungspflicht.
54 Somit ist sogleich der vom Königreich der Niederlande vorgebrachte zweite Klagegrund zu prüfen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 EUV bzw. unrichtige Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz
55 Mit dem zweiten Klagegrund wirft das Königreich der Niederlande der Kommission vor, Art. 13 Abs. 2 EUV falsch ausgelegt bzw. den Grundsatz der Äquivalenz unrichtig angewandt zu haben. Dieser Klagegrund gliedert sich in zwei Teile.
56 Im ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes macht das Königreich der Niederlande geltend, die Kommission habe ihre Befugnisse unter Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 EUV dadurch überschritten, dass sie eine finanzielle Berichtigung wegen Nichtangabe der auf die Altforderungen entfallenden Zinsen vorgenommen habe, obwohl die Union dafür keine Zuständigkeit besitze und auch keine unionsrechtliche Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen bestehe. Denn erstens hätten die sektorbezogenen Verordnungen zur Zeit der Entstehung der Altforderungen keine Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen enthalten, und zweitens ergebe sich eine solche Verpflichtung auch nicht aus Art. 32 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 1290/2005, wie der Gerichtshof im Übrigen in seiner Rechtsprechung bestätigt habe. Drittens könne das Vorbringen der Kommission, bei der Rückforderung nicht geschuldeter Beträge müssten selbstverständlich Zinsen verlangt werden, keine Rechtsgrundlage bilden. Diese müsse vielmehr ausdrücklich vorgesehen sein.
57 Mit dem zweiten Teil des vorliegenden Klagegrundes wirft das Königreich der Niederlande der Kommission vor, den Grundsatz der Äquivalenz unrichtig angewandt zu haben, denn das niederländische Recht habe zur entscheidungserheblichen Zeit keine Verpflichtung enthalten, in gleichartigen innerstaatlichen Rechtsstreitigkeiten, nämlich im Fall der Wiedereinziehung von zu Unrecht gewährten staatlichen Subventionen, Zinsen zu verlangen. Die Auffassung der Kommission, dass die Altforderungen mit Steuerschulden vergleichbar seien, bei denen nach niederländischem Recht eine Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen bestanden habe, sei unrichtig. Denn zum einen unterschieden sich Altforderungen und Steuerschulden sowohl nach ihrer Natur als auch nach ihrem Zweck. Zum anderen laufe das Vorbringen der Kommission, die Wiedereinziehung von Altforderungen habe dasselbe Ziel wie die Einziehung von Steuerschulden, darauf hinaus, dass die Verwendung der sich aus der Wiedereinziehung ergebenden Einnahmen auf europäischer Ebene für die Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz – wonach vergleichbare staatliche und europäische Forderungen auf nationaler Ebene gleich behandelt werden müssten – keine Rolle spiele. Deshalb habe das Königreich der Niederlande dadurch, dass es Altforderungen und Steuerschulden unterschiedlich behandelt habe, nicht gegen den Grundsatz der Äquivalenz verstoßen.
58 Die Kommission tritt diesem Vorbringen des Königreichs der Niederlande entgegen.
59 Zum ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes weist sie hauptsächlich darauf hin, dass sich die Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen aus Art. 32 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 in Verbindung mit dem Grundsatz der Äquivalenz ergebe. Logischerweise und selbstverständlich müssten bei der Rückforderung eines zu Unrecht gezahlten Betrags auch Zinsen verlangt werden, wie dies durch die Rechtsprechung und durch Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 in der Fassung der Verordnung Nr. 1287/95 bestätigt werde. Durch die Nichteinziehung von Zinsen auf die Altforderungen entstehe den Fonds ein Schaden.
60 Zum zweiten Teil des vorliegenden Klagegrundes macht die Kommission im Wesentlichen geltend, der Grundsatz der Äquivalenz verpflichte dazu, für Altforderungen Zinsen in derselben Höhe zu berechnen wie die, welche die niederländischen Behörden im Rahmen der Einziehung von Steuerschulden verlangten. Die Einziehung einer nicht gezahlten Steuer sei vergleichbar mit der Rückforderung einer zu Unrecht gewährten Agrarsubvention. Es sei eigenartig, dass das niederländische Recht zur entscheidungserheblichen Zeit keine Verpflichtung enthalten habe, bei der Rückforderung von staatlichen Agrarsubventionen Zinsen zu erheben. Die vom Königreich der Niederlande vertretene enge Auslegung des Begriffs der innerstaatlichen Verpflichtung gleicher Art sei angesichts des Schadens, der den Fonds durch die Nichterhebung von Zinsen auf die Altforderungen entstanden sei, unhaltbar. Im Übrigen bestätige Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 in der Fassung der Verordnung Nr. 1287/95 eine Selbstverständlichkeit, nämlich dass bei der Rückforderung eines zu Unrecht gezahlten Betrags Zinsen berechnet werden müssten.
61 Aus dem in den Rn. 55 bis 60 dargelegten Vorbringen der Parteien ergibt sich, dass die beiden Zweige des vorliegenden Klagegrundes untrennbar miteinander verbunden sind. Denn zum einen wendet sich das Königreich der Niederlande in beiden Teilen gegen die Grundlage der wegen Nichtangabe von Zinsen auf die Altforderungen vorgenommenen finanziellen Berichtigung mit der Begründung, dass zur Zeit der Entstehung dieser Forderungen weder im Unionsrecht (erster Teil) noch nach dem Grundsatz der Äquivalenz (zweiter Teil) eine Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen auf diese Forderungen bestanden habe. Zum anderen könnte entgegen der vom Königreich der Niederlande in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts vertretenen Auffassung das im ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes vorgebrachte Argument, dass die finanzielle Berichtigung der Rechtsgrundlage ermangele, da es im Unionsrecht keine Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen gebe, auch wenn ihm beizupflichten wäre, nur dann zur teilweisen Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen, wenn die Prüfung des zweiten Teils dieses Klagegrundes ergeben würde, dass das Königreich der Niederlande auch nach dem Grundsatz der Äquivalenz nicht zur Erhebung von Zinsen verpflichtet war.
62 Deshalb sind die beiden Teile des vorliegenden Klagegrundes zusammen zu prüfen, wogegen das Königreich der Niederlande in Beantwortung einer Frage des Gerichts auch keine Einwände erhoben hat.
63 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie aus ihren Schriftsätzen hervorgeht und wie sie auf eine vom Gericht in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage bestätigt hat, die gegenüber dem Königreich der Niederlande wegen Nichtangabe von Zinsen vorgenommene finanzielle Berichtigung auf die Bestimmungen des Art. 32 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 in Verbindung mit dem Grundsatz der Äquivalenz gestützt hat. Ihrer Meinung nach ergibt sich aus diesen Bestimmungen und aus diesem Grundsatz die Verpflichtung dieses Mitgliedstaats, Zinsen auf die Altforderungen zu erheben.
64 Im Einzelnen vertrat die Kommission im Rechnungsabschlussverfahren zu der Verpflichtung, Zinsen auf die Altforderungen zu erheben, die Auffassung, dass diese Zinsen in der Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 hätten angegeben werden müssen und dass das Königreich der Niederlande gehalten gewesen sei, gemäß dem Grundsatz der Äquivalenz Zinsen auf die Altforderungen zu erheben. Genauer ergibt sich aus der abschließenden Stellungnahme, dass die Einziehung der fraglichen Beträge nach Auffassung der Kommission auf die gleiche Weise erfolgen muss wie die von unbezahlten staatlichen Steuern, bei der das niederländische Recht die Erhebung von Zinsen vorsehe. Die vom Königreich der Niederlande vorgenommene Unterscheidung zwischen den Ausfuhrerstattungen und den Zusatzabgaben einerseits und den staatlichen Steuern andererseits wegen der verschiedenen rechtlichen Regelungen und Zielsetzungen sei rein formalistisch und geeignet, die praktische Wirksamkeit des Grundsatzes der Äquivalenz zu beeinträchtigen. Ganz im Gegenteil unterschieden sich die Ausfuhrerstattungen und die Zusatzabgaben zwar zunächst von den staatlichen Steuern; sobald jedoch festgestellt werde, dass sie zu Unrecht gezahlt worden seien, ändere sich die Natur der Ersteren, und sie stellten nunmehr Beträge dar, die wieder eingezogen und dem Unionshaushalt als Einnahmen zugeführt werden müssten, so dass sie diesem Haushalt ebenso zuflössen wie die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Abgaben dies täten. Die Kommission verweist dazu auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung Nr. 1605/2002. Bezüglich der Zusatzabgaben auf Milch fügt sie hinzu, dass die sich daraus ergebenden Einnahmen eigene Mittel der Gemeinschaft im Sinne des Art. 2 des Beschlusses 70/243/EGKS, EWG, Euratom vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (ABl. L 94, S. 19) darstellten. Die Einziehung der Zusatzabgaben und der zu Unrecht gezahlten Ausfuhrerstattungen habe deshalb nach Meinung der Union denselben Zweck wie die Einziehung staatlicher Steuern, was eine Äquivalenz der Verfahren zur Folge habe.
65 Aus diesen Gründen nahm die Kommission eine finanzielle Berichtigung wegen der nicht angegebenen Zinsen auf die Altforderungen vor, da diese Zinsen, die nicht in die Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 aufgenommen worden waren, beim Rechnungsabschluss betreffend die Hauptbeträge der Altforderungen gemäß Art. 32 Abs. 5 der Verordnung. Nr. 1290/2005 unberücksichtigt geblieben waren.
66 Mit dem vorliegenden Klagegrund wendet sich das Königreich der Niederlande hauptsächlich gegen die Grundlage dieser finanziellen Berichtigung, indem es bestreitet, zur Erhebung von Zinsen auf die Altforderungen verpflichtet gewesen zu sein. Mangels einer solchen Verpflichtung sei die Kommission nicht berechtigt gewesen, ihm gegenüber eine finanzielle Berichtigung wegen dieser nicht angegebenen Zinsen vorzunehmen.
67 Für die in der Sache selbst vorzunehmende Prüfung der Begründetheit des angefochtenen Beschlusses anhand dieser Argumente ist deshalb zu untersuchen, ob das Königreich der Niederlande verpflichtet war, Zinsen auf die Altforderungen zu erheben.
68 An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die sektorbezogenen Verordnungen, wie zwischen den Parteien unstreitig ist und wie sie ausweislich des Sitzungsprotokolls in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts bestätigt haben, in ihren zur Zeit der Entstehung der Altforderungen geltenden Fassungen keine Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen auf diese Forderungen vorsahen.
69 Tatsächlich ist darauf hinzuweisen, dass die die Zusatzabgaben betreffenden Altforderungen vor dem 1. April 1993 entstanden sind. Die die Ausfuhrerstattungen betreffenden Altforderungen sind vor dem 1. April 1995 entstanden.
70 Hinsichtlich der Zusatzabgaben im Milchsektor wurde erst in Art. 3 Abs. 4 und Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 536/93 bestimmt, dass bei Nichteinhaltung der dort vorgesehenen Zahlungsfrist auf die geschuldeten Beträge Jahreszinsen erhoben werden, deren Satz vom Mitgliedstaat festgesetzt wird und der nicht unter dem Zinssatz liegen darf, den der Mitgliedstaat bei der Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge anwendet. Diese Verordnung galt nach ihrem Art. 10 Abs. 2 ab dem am 1. April 1993 beginnenden Zwölfmonatszeitraum. Die Verordnung Nr. 1546/88, die durch die Verordnung Nr. 536/93 aufgehoben und ersetzt wurde, enthielt dagegen keine Bestimmung über die Erhebung von Zinsen bei der Wiedereinziehung verspätet gezahlter Zusatzabgaben.
71 Bezüglich der Ausfuhrerstattungen wurde die Verpflichtung des Begünstigten, im Fall zu Unrecht gewährter Erstattungen außer dem zu Unrecht gezahlten Betrag Zinsen auf diesen Betrag zu zahlen, durch Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 3665/87 in der Fassung der Verordnung Nr. 2945/94 eingeführt. Diese Verordnung betraf nach ihrem Art. 2 Abs. 2 Ausfuhren, für welche die in Art. 3 oder Art. 25 der Verordnung Nr. 3665/87 genannten Formalitäten nach dem 1. April 1995 erfüllt wurden. Dagegen enthielt die Verordnung Nr. 3665/87 für die zu Unrecht gewährten Ausfuhrerstattungen, für welche die genannten Formalitäten vor dem 1. April 1995 vorgenommen worden waren, keine Verpflichtung des Begünstigten, Zinsen auf die zu Unrecht erhaltenen Beträge zu zahlen.
72 An zweiter Stelle ist zu Art. 32 der Verordnung Nr. 1290/2005 in erster Linie darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel die Pflichten der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wiedereinziehung von Beträgen bei Begünstigten, denen Unregelmäßigkeiten oder Versäumnisse anzulasten sind, betrifft (Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154, Rn. 35).
73 Genauer werden zum einen nach Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 die infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen wieder eingezogenen Beträge einschließlich der Zinsen darauf den Zahlstellen gutgeschrieben und von diesen als Einnahme verbucht, die dem EGFL im Monat ihrer tatsächlichen Einziehung zugewiesen wird.
74 So bestimmt Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 der Rechtsprechung zufolge, dass die Zinsen auf infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen wieder eingezogene Beträge den Zahlstellen gutgeschrieben und von diesen als Einnahme verbucht werden, die dem EGFL im Monat ihrer tatsächlichen Einziehung zugewiesen wird. Mit dieser Bestimmung wird aber nur die haushaltsmäßige Verbuchung solcher Einnahmen geregelt; sie sieht keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, auf solche wiedereingezogenen Beträge Zinsen zu erheben (Urteil vom 29. März 2012, Pfeifer & Langen, C‑564/10, Slg, EU:C:2012:190, Rn. 44).
75 Zum anderen bezieht sich Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auf die Sonderfälle, in denen der Mitgliedstaat die Beträge nicht innerhalb einer Frist von vier Jahren ab der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung oder, wenn die Wiedereinziehung Gegenstand eines Verfahrens vor den nationalen Gerichten ist, nicht innerhalb von acht Jahren wieder eingezogen hat. In diesen Fällen werden die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung dieser Bestimmung zufolge zu 50 % von dem betreffenden Mitgliedstaat und zu 50 % vom Unionshaushalt getragen (Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154, Rn. 36).
76 Die in Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 geregelte Aufteilung der finanziellen Verantwortung zu gleichen Teilen zwischen dem betroffenen Mitgliedstaat und dem Unionshaushalt gilt nach der Rechtsprechung für alle Auswirkungen finanzieller Art, die mit der Nichtwiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge zusammenhängen, zu denen namentlich die Hauptbeträge und die darauf entfallenden Zinsen gehören, die nach Art. 32 Abs. 1 dieser Verordnung hätten gezahlt werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154, Rn. 39, 41 und 44).
77 Folglich ist die Kommission grundsätzlich befugt, in die nach Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 geschuldeten Beträge Zinsen auf Forderungen einzubeziehen, für die die Wiedereinziehung nicht innerhalb der dort festgesetzten Frist von vier bzw. acht Jahren erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154, Rn. 46).
78 Die Einbeziehung von Zinsen auf Forderungen, für die die Wiedereinziehung nicht innerhalb der in dieser Bestimmung festgesetzten Frist von vier bzw. acht Jahren erfolgt ist, in die nach Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 geschuldeten Beträge hängt jedoch zwangsläufig davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat im konkreten Fall verpflichtet war, Zinsen auf die fraglichen Beträge zu verlangen. Unter Berücksichtigung der oben in Rn. 76 angeführten Rechtsprechung können nämlich die finanziellen Folgen der Nichtwiedereinziehung der fraglichen Beträge im Sinne dieser Bestimmung nur bei Bestehen einer solchen Verpflichtung außer dem Grundbetrag auch die Zinsen umfassen.
79 Die Vornahme einer finanziellen Berichtigung wegen nicht angemeldeter Zinsen auf die Altforderungen hängt folglich im vorliegenden Fall vom Bestehen einer solchen Verpflichtung des Königreichs der Niederlande ab.
80 In zweiter Linie ist festzustellen, dass Art. 32 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, Zinsen auf die wieder einzuziehenden Forderungen zu erheben.
81 Denn erstens regelt, wie bereits oben in Rn. 74 dargelegt, Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 wie schon Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 in der Fassung der Verordnung Nr. 1287/95, auf den die Kommission verweist, nur die haushaltsmäßige Verbuchung der aufgrund einer Unregelmäßigkeit oder eines Versäumnisses wieder eingezogenen Beträge; er sieht dagegen keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, auf solche wiedereingezogenen Beträge Zinsen zu erheben.
82 Auch Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 begründet keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, Zinsen auf die wieder einzuziehenden Beträge zu erheben, denn er regelt lediglich die Aufteilung der finanziellen Verantwortung für die Folgen der Nichtwiedereinziehung der fraglichen Beträge nach Ablauf der dort festgesetzten Fristen.
83 Diese Auslegung des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 ist umso zwingender, als diese Bestimmung nach der Rechtsprechung im Licht von Art. 32 Abs. 1 der Verordnung zu sehen ist, der den allgemeinen Rahmen für die Rückzahlung von infolge von Unregelmäßigkeiten oder Versäumnissen bei der Mittelverwendung geschuldeten Beträgen an die Union bildet (Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154, Rn. 41). Wie sich aus den Rn. 74 und 81 dieses Urteils ergibt, kann diese Bestimmung jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Mitgliedstaaten verpflichtet, Zinsen auf die wieder eingezogenen Beträge zu erheben.
84 Zweitens stehen dieser Auslegung des Art. 32 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auch nicht die Ausführungen in Rn. 44 des Urteils Italien/Kommission (oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154) entgegen, auf die sich die Kommission beruft.
85 Zwar hat das Gericht in Rn. 44 des Urteils Italien/Kommission (oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154) ausgeführt, dass der Präambel der Verordnung Nr. 1290/2005 und insbesondere ihren Erwägungsgründen 25 und 26 zu entnehmen ist, dass das mit Art. 32 Abs. 5 dieser Verordnung eingerichtete System der gemeinsamen finanziellen Verantwortung den Schutz der finanziellen Interessen der Union bezweckt, indem dem betroffenen Mitgliedstaat ein Teil der Beträge angelastet wird, die aufgrund von Unregelmäßigkeiten geschuldet werden und nicht innerhalb einer angemessenen Frist wieder eingezogen wurden, und dass die Verpflichtung zur Einziehung der Zinsen, die zwischen der Feststellung der Unregelmäßigkeit und der tatsächlichen Wiedereinziehung der fraglichen Beträge aufgelaufen sind, Ausgleichscharakter hat, da sich die Zinsen auf den Schaden beziehen, der dem Unionshaushalt vorübergehend dadurch entstanden ist, dass kein Guthaben zu seinen Gunsten verbucht worden ist. Das Gericht hat daraus hergeleitet, dass der Ausschluss der Zinsen aus dem wieder einzuziehenden Betrag und damit die Minderung des zulasten des betroffenen Mitgliedstaats verbuchten Betrags mit dem Schutz der finanziellen Interessen der Union unvereinbar wäre, da diese dann den überwiegenden Teil der finanziellen Folgen trüge, die sich daraus ergäben, dass infolge von Unregelmäßigkeiten geschuldete Beträge nicht innerhalb angemessener Fristen wieder eingezogen werden.
86 Aus diesen Überlegungen lässt sich jedoch nicht, wie die Kommission meint, ein allgemeiner Grundsatz herleiten, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, bei der Wiedereinziehung von infolge von Unregelmäßigkeiten geschuldeten Beträgen Zinsen zu verlangen, die bei der Anwendung des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 zu berücksichtigen wären. Wie sich nämlich aus Rn. 48 des genannten Urteils Italien/Kommission (oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154) ergibt, hat das Gericht in diesem Urteil allein auf die Frage geantwortet, ob im Rahmen des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 Zinsen zu berücksichtigen sind, ohne dass es Veranlassung gehabt hätte, zur Grundlage der Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen Stellung zu nehmen.
87 Die Kommission kann sich auch nicht auf Rn. 45 des Urteils Italien/Kommission (oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154) stützen. Zwar hat das Gericht ausgeführt, „dass dem Grundsatz, wonach die Zinsen akzessorisch zum Grundbetrag sind und buchmäßig wie dieser behandelt werden, im Rahmen der Regelung über den [Unions]haushalt allgemeine Geltung zukommt, wie die … Regelung des Art. 86 Abs. 1 der Verordnung [(EG, Euratom)] Nr. 2342/2002 belegt, nach der ‚[u]nbeschadet der besonderen Bestimmungen, die aus der Anwendung sektorspezifischer Regelungen resultieren, … für jede … nicht beglichene Schuld Zinsen … zu zahlen [sind]‘“. Allein der Umstand, dass die Zinsen zum Grundbetrag akzessorisch sind, kann jedoch im vorliegenden Fall keine Verpflichtung des Königreichs der Niederlande zur Erhebung von Zinsen begründen. Zudem hat die Kommission, wie für alle Fälle anzumerken ist, in der Gegenerwiderung lediglich die Ausführungen des Gerichts in Rn. 45 des genannten Urteils wiedergegeben, ohne daraus Folgerungen für die vorliegende Rechtssache zu ziehen, und sie hat sich zu keinem Zeitpunkt, weder im Verwaltungsverfahren noch vor dem Gericht, auf Art. 86 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2342/2002 berufen, unterstellt, dass diese Bestimmung hier anwendbar ist.
88 Die gegenteilige Auslegung, wonach sich aus Art. 32 Abs. 1 und 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Wiedereinziehung von infolge von Unregelmäßigkeiten geschuldeten Beträgen Zinsen zu verlangen, und folglich die automatische Einbeziehung dieser Zinsen in die in Abs. 5 dieser Bestimmung genannten finanziellen Folgen ergeben soll, würde im Widerspruch zu der oben in den Rn. 74 und 81 wiedergegebenen Auslegung des Art. 32 Abs. 1 durch den Gerichtshof stehen, die, wie sich aus Rn. 83 des vorliegenden Urteils ergibt, bei der Auslegung des Art. 32 Abs. 5 zu beachten ist.
89 Zudem hat der Gerichtshof, was den Grundsatz der Erhebung der in Art. 32 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1290/2005 genannten Zinsen selbst betrifft, durch seine Berufung auf Art. 4 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen [der Union] (ABl. L 312, S. 1), wonach der Entzug des zu Unrecht erlangten Vorteils, falls dies vorgesehen ist, auch Zinsen umfassen kann, keinen allgemeinen Grundsatz dahin gehend aufgestellt, dass die Wiedereinziehung von zu Unrecht gewährten Vorteilen notwendigerweise die Erhebung von Zinsen einschließt. Er hat vielmehr zunächst das Bestehen einer solchen Verpflichtung in den einschlägigen Bestimmungen der anwendbaren Verordnungen verneint und sie sodann im Hinblick auf die Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz im innerstaatlichen Recht gesucht (vgl. in diesem Sinne Urteil Pfeifer & Langen, oben in Rn. 74 angeführt, EU:C:2012:190, Rn. 41 bis 47).
90 Im Übrigen hat die Kommission, wie oben in Rn. 63 dargelegt, in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass Art. 32 der Verordnung Nr. 1290/2005 die Vornahme einer finanziellen Berichtigung wegen nicht angegebener Zinsen auf die Altforderungen nur in Verbindung mit dem Grundsatz der Äquivalenz rechtfertigt.
91 Da weder in den sektorbezogenen Verordnungen noch in der Verordnung Nr. 1290/2005 eine Verpflichtung zur Erhebung von Zinsen auf die Altforderungen aufgestellt wird, ist deshalb an dritter Stelle zu prüfen, ob eine solche Verpflichtung in der vorliegenden Rechtssache auf den Grundsatz der Äquivalenz gestützt werden konnte.
92 Nach Art. 325 Abs. 2 AEUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten (Urteile vom 28. Oktober 2010, SGS Belgien u. a., C‑367/09, Slg, EU:C:2010:648, Rn. 40, Pfeifer & Langen, oben in Rn. 74 angeführt, EU:C:2012:190, Rn. 52, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, Slg, EU:C:2013:105, Rn. 26). Daraus ergibt sich der Rechtsprechung zufolge, dass die Mitgliedstaaten bei der Rückforderung aus dem Unionshaushalt erlangter Vorteile, wenn das nationale Recht bei der Rückforderung rechtswidrig aus ihrem nationalen Haushalt erlangter Vorteile gleicher Art die Erhebung von Zinsen vorsieht, in Ermangelung einer Unionsregelung verpflichtet sind, entsprechende Zinsen zu erheben (Urteil Pfeifer & Langen, oben in Rn. 74 angeführt, EU:C:2012:190, Rn. 52). Dasselbe gilt für die Abgaben, deren Erhebung für Rechnung der Union den Verwaltungen der Mitgliedstaaten übertragen ist (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 27. März 1980, Meridionale Industria Salumi u. a., 66/79, 127/79 und 128/79, Slg, EU:C:1980:101, Rn. 17).
93 Wie oben in Rn. 63 dargelegt, vertrat die Kommission in der vorliegenden Rechtssache im Verwaltungsverfahren bekanntlich die Auffassung, dass gemäß dem Grundsatz der Äquivalenz die Wiedereinziehung der in Rede stehenden Forderungen auf die gleiche Weise erfolgen müsse wie die von nicht gezahlten nationalen Abgaben. Diese Auffassung wird im Wesentlichen auf eine weite Auslegung des Begriffs des Vorteils gleicher Art im Sinne der oben in Rn. 92 angeführten Rechtsprechung gestützt, gegen die sich das Königreich der Niederlande mit dem zweiten Teil des vorliegenden Klagegrundes wendet. Zudem hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass nach Auskunft des Königreichs der Niederlande im Verwaltungsverfahren nach niederländischem Privatrecht die Möglichkeit bestehe, Zinsen auf Forderungen zu erheben, die zu Unrecht gezahlte staatliche Agrarsubventionen beträfen, und sich hilfsweise auf diese Möglichkeit berufen.
94 Bei dieser Sachlage ist zu untersuchen, ob unter Berücksichtigung der oben in Rn. 92 angeführten Rechtsprechung die Wiedereinziehung der Altforderungen mit der Einziehung nicht gezahlter staatlicher Abgaben vergleichbar ist. Sodann ist gegebenenfalls das oben in Rn. 93 zusammenfassend wiedergegebene Hilfsvorbringen der Kommission zu prüfen.
95 Was zunächst die Vergleichbarkeit der Altforderungen mit staatlichen Steuerforderungen betrifft, sind die die Zusatzabgaben und die die Ausfuhrerstattungen betreffenden Altforderungen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Merkmale getrennt zu untersuchen.
96 Erstens ist im Hinblick auf die die Zusatzabgaben betreffenden Altforderungen einerseits darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die Zusatzabgabenregelung darauf abzielt, auf dem durch strukturelle Überschüsse gekennzeichneten Milchmarkt durch eine Beschränkung der Milcherzeugung das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage wieder herzustellen. Diese Maßnahme hält sich daher im Rahmen der Ziele, die Milcherzeugung zu rationalisieren und für die betroffene landwirtschaftliche Bevölkerung durch einen Beitrag zur Stabilisierung ihres Einkommens eine angemessene Lebenshaltung aufrechtzuerhalten (Urteile vom 17. Mai 1988, Erpelding, 84/87, Slg, EU:C:1988:245, Rn. 26, vom 25. März 2004, Cooperativa Lattepiù u. a., C‑231/00, C‑303/00 und C‑451/00, Slg, EU:C:2004:178, Rn. 73, und Azienda Agricola Ettore Ribaldi u. a., C‑480/00, C‑482/00, C‑484/00, C‑489/00 bis C‑491/00 und C‑497/00 bis C‑499/00, Slg, EU:C:2004:179, Rn. 57). Die Zusatzabgabe für Milch stellt eine Beschränkung dar, die sich aus markt- oder strukturpolitischen Bestimmungen ergibt (vgl. Urteile Cooperativa Lattepiù u. a., EU:C:2004:178, Rn. 74, und Azienda Agricola Ettore Ribaldi u. a., EU:C:2004:179, Rn. 58). Sie ist Teil der Interventionen zur Regulierung der Agrarmärkte und wird zur Finanzierung der Ausgaben im Milchsektor verwendet. Folglich hat die Zusatzabgabe, außer dass sie offenkundig bezweckt, die Milcherzeuger zur Einhaltung der ihnen zugeteilten Referenzmengen zu zwingen, auch einen wirtschaftlichen Zweck, da sie der Gemeinschaft die Mittel verschaffen soll, die für den Absatz der von den Erzeugern durch Überschreitung ihrer Quoten erreichten Produktion benötigt werden (vgl. Urteile Cooperativa Lattepiù u. a., EU:C:2004:178, Rn. 75, und Azienda Agricola Ettore Ribaldi u. a., EU:C:2004:179, Rn. 59, sowie Urteil vom 15. Juli 2004, Gerekens und Procola, C‑459/02, Slg, EU:C:2004:454, Rn. 37).
97 Somit ändert der von der Kommission betonte Umstand, dass die Zusatzabgaben bezwecken, Mittel für den Unionshaushalt zu beschaffen, nichts daran, dass sie, wie das Königreich der Niederlande geltend macht, durch ihre Funktion der Regulierung der Agrarmärkte gekennzeichnet sind.
98 Dagegen sind die im Rahmen eines nationalen Steuersystems von der gesamten Bevölkerung erhobenen Abgaben oder Gebühren, worauf das Königreich der Niederlande hingewiesen hat, durch ihre hauptsächliche, wenn nicht ausschließliche Funktion der Mittelbeschaffung für den Staatshaushalt gekennzeichnet. Zudem hat die Kommission weder dargetan noch auch nur behauptet, dass die niederländischen Abgaben, auf die sie für die Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz abgestellt hat, irgendein Ziel verfolgten, das mit dem der Zusatzabgaben vergleichbar sei, nämlich das der Regulierung der Märkte.
99 Somit ist, wie das Königreich der Niederlande im Wesentlichen geltend gemacht hat, die die Zusatzabgaben kennzeichnende Funktion der Regulierung der Märkte den staatlichen Abgaben fremd; darüber hinaus werden die Agrarabgaben – worauf das Königreich ebenfalls hingewiesen hat – nicht von der gesamten Bevölkerung, sondern von einer eng begrenzten Kategorie von Steuerpflichtigen erhoben, und die Einkünfte aus den Zusatzabgaben werden zur Finanzierung der Ausgaben im Milchsektor, genauer des Absatzes der von den Erzeugern durch Überschreitung ihrer Quoten erreichten Produktion, verwendet.
100 Nach der Rechtsprechung ist für die Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz die Gleichartigkeit der auf die Verletzung des Unionsrechts und der auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützten Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, Slg, EU:C:2012:478, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). In entsprechender Anwendung dieser Rechtsprechung ist hier für die Prüfung der Vergleichbarkeit der Forderungen der Union und der staatlichen Forderungen festzustellen, dass angesichts der besonderen Funktion und der besonderen Verwendung der Zusatzabgaben die diese betreffenden Altforderungen nicht als mit den staatlichen Steuerforderungen gleichwertige Forderungen gleicher Art angesehen werden können.
101 Andererseits ist auch dann, wenn man die Rechtsprechung mit der Kommission dahin verstehen wollte, dass nicht auszuschließen ist, dass die Zusatzabgaben als Abgaben, deren Erhebung für Rechnung der Union den Verwaltungen der Mitgliedstaaten übertragen ist, mit innerstaatlichen Abgaben und Gebühren vergleichbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juli 1994, Milchwerke Köln/Wuppertal, C‑352/92, Slg, EU:C:1994:294, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Januar 2004, Penycoed, C‑230/01, Slg, EU:C:2004:20, Rn. 36 und 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), hinzuzufügen, dass auch in diesem Fall zu prüfen wäre, ob diese nationalen Abgaben und Gebühren den Zusatzabgaben entsprechen oder von gleicher Art sind wie diese (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Mai 1993, Peter, C‑290/91, Slg, EU:C:1993:220, Rn. 11).
102 In der vorliegenden Rechtssache findet sich jedoch, wie sich im Wesentlichen aus Rn. 98 dieses Urteils ergibt, kein Hinweis darauf, dass die Kommission versucht hat, herauszufinden, ob es unter den im niederländischen Recht vorgesehenen Abgaben und Gebühren solche gibt, die von gleicher Art sind wie die Zusatzabgaben.
103 Deshalb ist die Auffassung der Kommission, dass die die Zusatzabgaben betreffenden Altforderungen genauso behandelt werden müssten wie Steuerschulden, unzutreffend.
104 Zweitens ist zu den die Ausfuhrerstattungen betreffenden Altforderungen darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung Aufgabe der Erstattungsregelung ist, die Ausfuhr von europäischen Erzeugnissen zu ermöglichen, die sonst für den Wirtschaftsteilnehmer nicht rentabel wäre (vgl. Urteil vom 19. November 1998, Frankreich/Kommission, C‑235/97, Slg, EU:C:1998:556, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
105 Die Ausfuhrerstattungen wurden nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnungen Nrn. 729/70 und 1258/1999 vom EAGFL, Abteilung Garantie, finanziert und werden nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1290/2005, die seit dem 1. Januar 2007 gilt, vom EGFL finanziert.
106 Somit unterscheiden sich die Ausfuhrerstattungen, bei denen es sich um den Landwirten gewährte Vorteile handelt, ihrer Natur nach von den staatlichen Abgaben, worauf die Kommission im Übrigen im Verwaltungsverfahren und in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat. Denn während die Ersteren aus dem Unionshaushalt finanziert werden, dienen die Letzteren der Mittelbeschaffung für den Staatshaushalt.
107 Die Kommission vertrat allerdings im Rechnungsabschlussverfahren die Auffassung, dass Forderungen, die Ausfuhrerstattungen beträfen, die die Landwirte zu Unrecht erhalten hätten und die von dem betreffenden Mitgliedstaat wieder eingezogen werden müssten, mit Steuerschulden vergleichbar seien, da die wieder eingezogenen Beträge dem Unionshaushalt gutgeschrieben würden, so dass sie diesem Haushalt ebenso zuflössen wie staatliche Abgaben dem Haushalt des betreffenden Mitgliedstaats. Deshalb fordere die praktische Wirksamkeit des Grundsatzes der Äquivalenz, die Altforderungen im Hinblick auf die Erhebung von Zinsen bei der Wiedereinziehung ebenso zu behandeln wie Steuerschulden.
108 Diese Auffassung der Kommission ist jedoch unvereinbar mit der oben in Rn. 92 angeführten Rechtsprechung, die in Ermangelung einer Unionsregelung die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Zinsen auf die zu Unrecht aus dem Unionshaushalt erlangten Vorteile zu erheben, davon abhängig macht, dass ihr nationales Recht bei der Rückforderung von zu Unrecht aus ihrem nationalen Haushalt erlangten Vorteilen gleicher Art die Erhebung von Zinsen vorsieht.
109 Zwar ist der Kommission darin beizupflichten, dass zu Unrecht gezahlte und erstattete Beträge Einnahmen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung Nr. 1605/2002 sind, die zur Finanzierung bestimmter Ausgaben verwendet werden.
110 Der Umstand, dass die den zu Unrecht gewährten und wieder eingezogenen Ausfuhrerstattungen entsprechenden Beträge dem Unionshaushalt als Einnahmen gutgeschrieben werden, ändert jedoch nichts daran, dass sie niemals an die Landwirte hätten gezahlt werden dürfen.
111 Anders ausgedrückt dient die Rückforderung von zu Unrecht gewährten Ausfuhrerstattungen im Unterschied zur Erhebung nationaler Steuern nicht der Mittelbeschaffung für den Unionshaushalt, sondern der Erstattung von Beträgen, die niemals hätten ausgezahlt werden dürfen.
112 Nach alledem ist die Auffassung der Kommission, dass die die Ausfuhrerstattungen betreffenden Altforderungen mit Steuerforderungen vergleichbar seien, unzutreffend.
113 Die in den Rn. 103 und 112 gezogenen Schlussfolgerungen werden auch nicht durch das Vorbringen der Kommission in Frage gestellt, die im Wesentlichen geltend macht, dass eine enge Auslegung des Begriffs des Vorteils gleicher Art, wonach die Einziehung nicht entrichteter nationaler Steuern und die Einziehung von Altforderungen nicht vergleichbar seien, den dem Unionshaushalt durch die Nichteinziehung von Zinsen entstandenen Schaden unberücksichtigt lassen und die praktische Wirksamkeit des Grundsatzes der Äquivalenz beeinträchtigen würde.
114 Dazu ist einerseits zu bemerken, dass die Einziehung der Zinsen, die zwischen der Feststellung der Unregelmäßigkeit und der tatsächlichen Wiedereinziehung der fraglichen Beträge aufgelaufen sind, wie gesagt Ausgleichscharakter hat, da sich die Zinsen auf den Schaden beziehen, der dem Unionshaushalt vorübergehend dadurch entstanden ist, dass kein Guthaben zu seinen Gunsten verbucht worden ist (Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 37 angeführt, EU:T:2010:154, Rn. 44).
115 Andererseits trifft ebenfalls zu, worauf oben in Rn. 92 hingewiesen worden ist, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 325 Abs. 2 AEUV zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen haben wie gegen Betrügereien, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.
116 Eine weite Auslegung des Begriffs des Vorteils gleicher Art, wie die Kommission sie vorschlägt, ist jedoch aufgrund seines besonders weiten Geltungsbereichs unvereinbar mit den Voraussetzungen des Grundsatzes der Äquivalenz, der, wie sich klar aus dem oben in Rn. 74 angeführten Urteil Pfeifer & Langen (EU:C:2012:190, Rn. 45) ergibt, nur in Ermangelung einer sektorbezogenen Regelung, die die Erhebung von Zinsen vorsieht, zum Tragen kommt. Im Übrigen folgt eindeutig aus der oben in Rn. 92 angeführten Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten nur dann, wenn das nationale Recht bei der Rückforderung rechtswidrig aus dem nationalen Haushalt erlangter Vorteile gleicher Art die Erhebung von Zinsen vorsieht, verpflichtet sind, entsprechend bei der Rückforderung zu Unrecht aus dem Unionshaushalt erhaltener Vorteile Zinsen zu verlangen.
117 Die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung würde letztlich darauf hinauslaufen, dass auch im Zusammenhang mit der Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz immer Zinsen zu erheben sind, wenn die Einnahmen aus der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge dem Unionshaushalt im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung Nr. 1605/2002 zugewiesen werden, sofern nur das innerstaatliche Recht die Erhebung von Zinsen in irgendeinem Verfahren zur Einziehung von irgendwie gearteten zu Unrecht gewährten staatlichen Vorteilen oder von unbezahlten inländischen Steuern vorsieht, und dies ohne Berücksichtigung ihrer Vergleichbarkeit mit den in Rede stehenden Forderungen der Union.
118 Diese Erwägung drängt sich umso mehr auf, wenn man analog eine ständige Rechtsprechung berücksichtigt, wonach aus dem Grundsatz der Äquivalenz weder die Verpflichtung eines Mitgliedstaats, seine günstigste interne Regelung auf alle Klagen auf Erstattung von Abgaben und Gebühren zu erstrecken, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben worden sind (Urteile vom 15. September 1998, Edis, C‑231/96, Slg, EU:C:1998:401, Rn. 36, und vom 28. November 2000, Roquette Frères, C‑88/99, Slg, EU:C:2000:652, Rn. 29), noch seine Verpflichtung hergeleitet werden kann, die günstigste innerstaatliche Regelung auf alle Rechtsbehelfe zu erstrecken, die in einem bestimmten Rechtsbereich eingelegt werden (vgl. Urteil Littlewoods Retail u. a., oben in Rn. 100 angeführt, EU:C:2012:478, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
119 Deshalb meinte die Kommission zu Unrecht, dass die Altforderungen mit Steuerschulden vergleichbar seien, und leitete ebenfalls zu Unrecht daraus her, dass die niederländischen Behörden nach dem Grundsatz der Äquivalenz verpflichtet seien, Zinsen für die Altforderungen zu erheben.
120 Somit ist zweitens das Hilfsvorbringen der Kommission in der mündlichen Verhandlung zu prüfen, das im Wesentlichen dahin geht, dass die Vornahme einer finanziellen Berichtigung wegen nicht angemeldeter Zinsen auf die Altforderungen dadurch gerechtfertigt gewesen sei, dass es nach niederländischem Recht möglich gewesen sei, Zinsen für zu Unrecht gewährte staatliche Agrarsubventionen zu erheben, so dass bei Anwendung des Grundsatzes der Äquivalenz auch bei der Wiedereinziehung der Altforderungen Zinsen hätten verlangt werden können.
121 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof und das Gericht im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV für Klagen zuständig sind, die wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des EG-Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs erhoben werden. Ist die Klage begründet, so ist die angefochtene Handlung nach Art. 264 AEUV für nichtig zu erklären. Das Gericht kann deshalb die Begründung des Urhebers des angefochtenen Rechtsakts keinesfalls durch seine eigene ersetzen (vgl. Urteil vom 28. Februar 2013, Portugal/Kommission, C‑246/11 P, EU:C:2013:118, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).
122 Zunächst geht aus den Akten hervor, dass die niederländischen Behörden in ihrem am 11. Februar 2011 in Beantwortung des Protokolls der bilateralen Besprechung übersandten Schreiben zum einen mitgeteilt haben, dass es im niederländischen öffentlichen Recht keine Verpflichtung gebe, bei der Wiedereinziehung von zu Unrecht gewährten staatlichen Agrarsubventionen Zinsen zu verlangen, und zum anderen auf die Möglichkeit hingewiesen haben, gleichwohl nach dem niederländischen Privatrecht Zinsen zu erheben; von dieser Möglichkeit werde allerdings in der Praxis kaum Gebrauch gemacht.
123 Die Kommission hat sich allerdings im Verwaltungsverfahren zur Begründung ihres Vorbringens, dass das Königreich der Niederlande verpflichtet gewesen sei, Zinsen für die Altforderungen zu erheben, nicht auf diese angeblich nach niederländischem Privatrecht bestehende Möglichkeit berufen.
124 So führte sie zu den Einwänden der niederländischen Behörden gegen die Begründung der finanziellen Berichtigung in der förmlichen Mitteilung aus, die Forderungen der Union dürften nicht ungünstiger behandelt werden als irgendeine inländische Forderung. Folglich müsse das Königreich der Niederlande, wenn es in der entscheidungserheblichen Zeit bei der Einziehung irgendeiner inländischen Forderung wie etwa einer Steuerforderung oder der Rückforderung von zu Unrecht gewährten staatlichen Subventionen Zinsen verlangt habe, bei der Wiedereinziehung von Forderungen der Union ebenso verfahren. Ferner vertrat die Kommission, wie sich eindeutig aus ihren im Schlichtungsverfahren übersandten Erklärungen, der abschließenden Stellungnahme und dem zusammenfassenden Bericht ergibt, den Standpunkt, dass die Altforderungen mit staatlichen Steuerschulden verglichen werden müssten.
125 Schließlich hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass die angeblich nach dem niederländischen Privatrecht bestehende Möglichkeit, Zinsen zu verlangen, von den Parteien im Verwaltungsverfahren nicht erörtert worden sei.
126 Aus alledem ergibt sich, dass die von der Kommission für die nicht angegebenen Zinsen auf die Altforderungen vorgenommene finanzielle Berichtigung im Grunde auf das Argument gestützt wird, diese Forderungen seien mit Steuerschulden vergleichbar, so dass, wenn bei der Einziehung der Letzteren Zinsen erhoben würden, auch für die Ersteren Zinsen verlangt werden müssten. Dagegen hat die Kommission ihre Auffassung zu keinem Zeitpunkt auf das Argument gestützt, dass das Königreich der Niederlande die streitigen Zinsen auf die Altforderungen hätte erheben müssen, wenn eine Möglichkeit bestanden hätte, auf inländische Forderungen wegen zu Unrecht gewährter staatlicher Agrarsubventionen Zinsen zu erheben.
127 Unter diesen Umständen würde es auf eine nach der oben in Rn. 121 angeführten Rechtsprechung unzulässige Ersetzung der Begründung des angefochtenen Beschlusses durch das Gericht hinauslaufen, wollte man in diesem Stadium die Möglichkeit, in Anwendung des niederländischen Privatrechts die Zahlung von Zinsen zu verlangen – wenn sie denn besteht –, berücksichtigen und der Frage nachgehen, ob diese Möglichkeit eine im Sinne des Grundsatzes der Äquivalenz ausreichende Grundlage für die Bejahung der Verpflichtung des Königreichs der Niederlande zur Erhebung von Zinsen auf die Altforderungen bildete.
128 Sonach sind die von der Kommission in der mündlichen Verhandlung hilfsweise geltend gemachten Argumente zurückzuweisen, ohne dass es erforderlich wäre, über ihre Zulässigkeit zu entscheiden, auch wenn sie zum ersten Mal in der Sitzung vorgebracht worden sind.
129 Nach alledem greift der zweite Klagegrund des Königreichs der Niederlande insgesamt durch. Deshalb ist dem auf diesen Klagegrund gestützten Hauptantrag stattzugeben.
130 Das Gericht hält es jedoch für angezeigt, ergänzend den dritten vom Königreich der Niederlande geltend gemachten Klagegrund zu prüfen, der zur Stützung des zweiten, hilfsweise gestellten Antrags vorgebracht worden ist (siehe oben, Rn. 51).
Zum dritten Klagegrund: Verletzung der Sorgfaltspflicht in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 595/91
131 Mit dem dritten Klagegrund wirft das Königreich der Niederlande der Kommission vor, ihre Sorgfaltspflicht in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 und Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 595/91 dadurch verletzt zu haben, dass sie nicht vor dem 16. Oktober 2006 eine Entscheidung über die im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen getroffen und diese der Gemeinschaft angelastet habe. Erstens hätte die Kommission rechtzeitig den von den niederländischen Behörden namentlich in ihrem Schreiben vom 4. Oktober 2006 erteilten Auskünften Rechnung tragen müssen. Da diesen Auskünften zufolge die fraglichen Forderungen außer in einem einzigen der neun dort in Rede stehenden Betrugsfälle uneinbringlich gewesen seien, was im Übrigen schon zur Zeit der besonderen Mitteilung vom 10. Juli 2003 bekannt gewesen sei, hätte die Kommission vor dem 16. Oktober 2006 eine Entscheidung über acht dieser Fälle treffen oder zumindest ihre Weigerung, eine solche Entscheidung zu erlassen, begründen müssen. Das Schreiben vom 23. Oktober 2006 enthalte jedoch keinerlei Begründung. Zweitens habe die Kommission im Verwaltungsverfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, ihre Auffassung nicht überprüft und sich damit begnügt, auf ihre vorangegangenen, bereits überholten Ausführungen zu verweisen. Sie habe insbesondere im Schlichtungsverfahren ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Auf das Vorbringen der Kommission, der vorliegende Klagegrund sei unzulässig, erwidert das Königreich der Niederlande drittens, dass ihm nicht vorgeworfen werden könne, keine Klage gegen die Entscheidung 2007/327 erhoben zu haben, denn diese betreffe nur den Hauptbetrag und nicht die Zinsen.
132 Die Kommission entgegnet im Wesentlichen, dass der dritte Klagegrund unzulässig und jedenfalls unbegründet sei.
133 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, was die im Verfahren Centramelk betroffenen Forderungen angeht, in der Entscheidung 2007/327 die in Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 aufgestellte Regel anwandte. Dem Schreiben vom 21. Februar 2006 zufolge war die Wiedereinziehung dieser Forderungen nach Auskunft der Dienststellen der Kommission zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Weiterhin teilte die Kommission den niederländischen Behörden in ihrem Schreiben vom 23. Oktober 2006 mit, dass in diesem Verfahren noch keine Entscheidung ergangen sei und dass die am 16. Oktober 2006 noch nicht behandelten Fälle gemäß Art. 32 der Verordnung Nr. 1290/2005 behandelt würden.
134 Sodann diskutierten die Parteien im Verwaltungsverfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses führte, über die Anwendung des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auf die sich aus den im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen ergebenden Zinsen. Diese Frage wurde insbesondere vor der Schlichtungsstelle angesprochen.
135 Die Schlichtungsstelle führte in ihrem Bericht namentlich aus, dass im Verfahren Centramelk im Jahr 2006 Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 angewandt worden sei. Unter diesen Umständen fragte sie sich unter Hinweis darauf, dass die Entscheidung 2007/327 möglicherweise nicht mehr überprüft werden könne, da sie bestandskräftig geworden sei, ob es möglich sei, die Berechnung der Zinsen auf den einzigen dort in Rede stehenden Betrugsfall zu beschränken, in dem tatsächlich im Jahr 2006 ein Wiedereinziehungsverfahren eingeleitet worden sei, unter Ausschluss der übrigen in diesem Verfahren betroffenen Fälle, in denen es um Gesellschaften gehe, die schon lange vor Anwendung der Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 zahlungsunfähig geworden oder aufgelöst worden seien oder keine Aktiva mehr besessen hätten. Abschließend ersuchte die Schlichtungsstelle die Kommission, dieser Frage nachzugehen.
136 Schließlich prüfte die Kommission diese Frage in ihrer abschließenden Stellungnahme und in ihrem zusammenfassenden Bericht. Sie führte dazu zunächst aus, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 32 Abs. 6 Buchst. b der Verordnung Nr. 1290/2005 beschließen könne, die Wiedereinziehung nicht fortzusetzen, wenn sie wegen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgestellter Insolvenz des Schuldners unmöglich sei. Da das Königreich der Niederlande keine der neun Forderungen, um die es im Verfahren Centramelk gegangen sei, in der Übersicht nach Anhang III der Verordnung Nr. 885/2006 für das Haushaltsjahr 2006 als uneinbringlich bezeichnet habe, müsse auf diese Forderungen die Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 angewandt werden. Weiter wandte sich die Kommission gegen das Vorbringen, dass acht der neun Forderungen, um die es in diesem Verfahren ging, schon vor Erlass der Entscheidung über den Rechnungsabschluss für das Jahr 2006 uneinbringlich gewesen seien und von der Berechnung der Zinsen hätten ausgeschlossen werden müssen. Die genannte Regel begründe eine Aufteilung der finanziellen Verantwortung zwischen der Union und dem betroffenen Mitgliedstaat für die Forderungen, bei denen die Wiedereinziehung nicht innerhalb einer Frist von vier bzw. acht Jahren nach der ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung erfolgt sei. Nach Auskunft der niederländischen Behörden sei die Uneinbringlichkeit der Forderung vor diesem Zeitpunkt nur für zwei der neun einzelnen Betrugsfälle festgestellt worden. Zudem hätten die Dienststellen der Kommission im Zusammenhang mit einer im Jahr 2003 durchgeführten Untersuchung mitgeteilt, dass die Wiedereinziehung der in diesem Verfahren in Rede stehenden Forderungen noch nicht abgeschlossen sei. Gestützt auf diese Erwägungen und aufgrund des Umstands, dass die Zinsen zu den Hauptforderungen akzessorisch sind, wandte die Kommission schließlich die Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auf die Zinsen auf alle im Verfahren Centramelk betroffenen Forderungen an.
137 Dies vorausgeschickt ist nunmehr der vorliegende Klagegrund zu prüfen.
138 Das Königreich der Niederlande macht in erster Linie geltend, die Kommission habe dadurch, dass sie es zu Unrecht unterlassen habe, vor dem 16. Oktober 2006 eine Entscheidung über die im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen zu treffen oder zumindest ihre Weigerung, eine solche Entscheidung zu erlassen, zu begründen, ihre Sorgfaltspflicht verletzt.
139 Genauer hat das Königreich der Niederlande in der Klageschrift ausgeführt, dass die Kommission zu Unrecht nicht „vor dem 16. Oktober 2006 [eine] Entscheidung über die offenstehenden Forderungen [getroffen hat], die bereits Gegenstand [der besonderen Mitteilung vom 10. Juli 2003] waren, um den Restbetrag zulasten der … Gemeinschaft gehen zu lassen“. Desgleichen hat es der Kommission in der Erwiderung vorgeworfen, dass sie vor dem 16. Oktober 2006 keine Entscheidung „im Verfahren Centramelk [getroffen hat], wonach die Forderungen, die in [acht] der [neun einzelnen Betrugsfälle] uneinbringlich gewesen seien, zulasten der Gemeinschaft gingen“, und dass sie „noch vor … dem 16. Oktober 2006 bezüglich [dieser acht einzelnen Betrugsfälle] hätte entscheiden können und müssen, dass die finanziellen Folgen nach Art. 8 Abs. 2 der Verordnung Nr. 729/70 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 595/91 zulasten der Gemeinschaft gehen müssten“. Im Übrigen habe das Schreiben vom 23. Oktober 2006 keinerlei Begründung enthalten.
140 Nach den Schriftsätzen des Königreichs der Niederlande sind die zur Stützung des dritten Klagegrundes vorgebrachten Argumente, wie das Königreich im Übrigen ausweislich des Sitzungsprotokolls in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichts bestätigt hat, zwar formal auf die teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses gerichtet; sie betreffen aber zugleich die Anwendung von Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auf die im Verfahren Centramelk betroffenen Forderungen.
141 Wie oben in Rn. 133 dargelegt, wandte die Kommission in der Entscheidung 2007/327 auf die im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen unstreitig die Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 an.
142 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Entscheidung, die vom Adressaten nicht innerhalb der Fristen des Art. 263 AEUV angefochten worden ist, ihm gegenüber bestandskräftig wird (vgl. Urteil vom 14. September 1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., C‑310/97 P, Slg, EU:C:1999:407, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Rechtsprechung beruht namentlich auf der Erwägung, dass die Klagefristen die Rechtssicherheit gewährleisten sollen, indem sie verhindern, dass Gemeinschaftshandlungen mit Rechtswirkungen zeitlich unbeschränkt in Frage gestellt werden können, sowie auf den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege und der Verfahrensökonomie (vgl. Urteil Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., EU:C:1999:407, Rn. 61).
143 In der vorliegenden Rechtssache war das Königreich der Niederlande unstreitig, wie sich aus Art. 3 der Entscheidung 2007/327 ergibt, Empfänger dieser Entscheidung und hat keine Nichtigkeitsklage gegen sie erhoben.
144 Folglich ist die Entscheidung 2007/327 nach der oben in Rn. 142 angeführten Rechtsprechung dem Königreich der Niederlande gegenüber bestandskräftig geworden.
145 Somit hat sich das Königreich der Niederlande, das durch eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung 2007/327 die Anwendung von Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auf die Forderungen, um die es im Verfahren Centramelk ging, hätte anfechten können, jeder Möglichkeit begeben, dies später zu tun, nachdem die Frist für eine Klage gegen diese Entscheidung abgelaufen war (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juli 2012, Griechenland/Kommission, T‑86/08, Slg, EU:T:2012:345, Rn. 50).
146 Denn wenn das Königreich der Niederlande im Rahmen der vorliegenden Klage Argumente zu dem Umstand, dass die Kommission vor dem 16. Oktober 2006 keine Entscheidung über die im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen getroffen hat, und damit zur Einbeziehung dieser Forderungen in die Entscheidung 2007/327 geltend machen könnte, obwohl es durch nichts daran gehindert war, diese Entscheidung mit der Nichtigkeitsklage anzufechten, würde dies darauf hinauslaufen, die Nichtbeachtung der Frist für eine Klage gegen die Entscheidung 2007/327 zu tolerieren (vgl. entsprechend Urteil Griechenland/Kommission, oben in Rn. 145 angeführt, EU:T:2012:345, Rn. 53).
147 Deshalb ist das Vorbringen, die Kommission hätte vor dem 16. Oktober 2006 eine Entscheidung über die im Verfahren Centramelk betroffenen Forderungen fällen müssen, unzulässig.
148 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen des Königreichs der Niederlande in Frage gestellt, ihm könne nicht vorgeworfen werden, keine Klage gegen die Entscheidung 2007/327 erhoben zu haben, denn diese habe nur den Grundbetrag der im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen, nicht dagegen die Zinsen betroffen.
149 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die strikte Anwendung der Vorschriften der Union über die Verfahrensfristen dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit entspricht, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu vermeiden (Urteil Griechenland/Kommission, oben in Rn. 145 angeführt, EU:T:2012:345, Rn. 54; vgl. auch in diesem Sinne Beschluss vom 16. November 2010, Internationale Fruchtimport Gesellschaft Weichert/Kommission, C‑73/10 P, Slg, EU:C:2010:684, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
150 Wollte man dem Vorbringen des Königreichs der Niederlande beipflichten und ihm gestatten, jetzt noch die Rechtmäßigkeit der in der Entscheidung 2007/327 enthaltenen Erwägungen anzufechten, nur weil Zinsen auf die Forderungen, um die es in der Entscheidung 2007/327 ging, später durch den angefochtenen Beschluss der Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 unterworfen wurden, so würde dies bedeuten, es diesem Mitgliedstaat zu erlauben, die Klagefrist zu umgehen, und würde damit dem oben in Rn. 149 dargelegten Sinn und Zweck dieser Frist widersprechen.
151 Nach alledem ist das Vorbringen des Königreichs der Niederlande, die Kommission habe ihre Sorgfaltspflicht dadurch verletzt, dass sie es zu Unrecht unterlassen habe, vor dem 16. Oktober 2006 eine Entscheidung über die im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen zu treffen, als unzulässig zurückzuweisen.
152 Zweitens wirft das Königreich der Niederlande der Kommission vor, auch im Verwaltungsverfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, ihre Sorgfaltspflicht verletzt zu haben. Während sowohl die niederländischen Behörden als auch die Schlichtungsstelle den Standpunkt der Kommission kritisiert hätten, habe diese „ihre Auffassung nicht überprüft und sich damit begnügt, auf ihre vorangegangenen, durch die neuen Auskünfte überholten Ausführungen zu verweisen“, und auch „das Schlichtungsverfahren nicht ernst genommen“.
153 Wie sich aus der knappen Darstellung der abschließenden Stellungnahme und des zusammenfassenden Berichts der Kommission oben in Rn. 136 ergibt, bekräftigte diese ihre Auffassung, dass die Forderungen, um die es im Verfahren Centramelk ging, in der Entscheidung 2007/327 der Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 hätten unterworfen werden müssen, und wandte sich deshalb gegen das Vorbringen, seit 2006 sei klar gewesen, dass die Forderungen in acht der neun in diesem Verfahren betroffenen einzelnen Betrugsfälle uneinbringlich gewesen seien. Unter diesen Umständen hielt es die Kommission für gerechtfertigt, die genannte Regel anzuwenden und gegenüber dem Königreich der Niederlande eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 50 % der Zinsen auf die fraglichen Forderungen festzusetzen, da die Zinsen auf diese Forderungen zu diesen akzessorisch seien.
154 Sonach hat die Kommission die Frage, ob bestimmte im Verfahren Centramelk in Rede stehende Forderungen von der Berechnung der Zinsen ausgeschlossen werden konnten, ordnungsgemäß untersucht. Sie hat namentlich das Vorbringen, seit 2006 sei klar gewesen, dass die Forderungen in acht der neun in diesem Verfahren betroffenen einzelnen Betrugsfälle uneinbringlich gewesen seien, geprüft und ausdrücklich zurückgewiesen, ebenso wie den Vorschlag, von der finanziellen Berichtigung die Zinsen auszuschließen, die sich auf diese acht einzelnen Betrugsfälle bezogen.
155 Demnach hat die Kommission das Vorbringen des Königreichs der Niederlande und die von der Schlichtungsstelle aufgeworfenen Fragen zur Kenntnis genommen und sorgfältig geprüft, jedoch nicht für überzeugend befunden. Unter diesen Umständen liegt kein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht vor (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2000, Belgien/Kommission, C‑242/97, Slg, EU:C:2000:255, Rn. 92 und 93).
156 Diesem Ergebnis steht nicht das Vorbringen des Königreichs der Niederlande entgegen, dass die Kommission ihre Auffassung nicht überprüft und sich damit begnügt habe, auf ihre vorangegangenen, durch die neuen Auskünfte überholten Ausführungen zu verweisen.
157 Denn zum einen ergibt sich daraus, dass die Kommission insbesondere ihre vom Königreich der Niederlande bestrittenen vorangegangenen Ausführungen, wonach ihre Dienststellen im Zusammenhang mit der im Jahr 2003 durchgeführten Untersuchung mitgeteilt hätten, dass die Wiedereinziehung der im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen noch nicht abgeschlossen sei, bekräftigt hat, keine mangelnde Sorgfalt der Kommission bei der Prüfung der vom Königreich der Niederlande vorgebrachten Argumente. Dieser Umstand bringt vielmehr lediglich die Meinungsverschiedenheit zwischen den Parteien darüber zum Ausdruck, ob für den diese Forderungen betreffenden Rechnungsabschluss genügend Gesichtspunkte berücksichtigt wurden. Somit lässt sich aus diesem Umstand aus den oben in Rn. 155 dargelegten Gründen keine mangelnde Sorgfalt der Kommission herleiten.
158 Im Übrigen ist aufgrund der oben in den Rn. 142 bis 146 angestellten Überlegungen hinzuzufügen, dass die Feststellung der Kommission, die Wiedereinziehung der im Verfahren Centramelk betroffenen Forderungen sei noch nicht abgeschlossen, u. a. dazu geführt hat, dass diese Forderungen der Regel des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 unterworfen und in die Entscheidung 2007/327 einbezogen wurden (siehe oben, Rn. 133), und dass diese Entscheidung sowie die von der Kommission insoweit getroffenen Feststellungen und angestellten Erwägungen gegenüber dem Königreich der Niederlande, das gegen diese Entscheidung keine Nichtigkeitsklage erhoben hat, Bestandskraft erlangt haben. Sonach konnte sich die Kommission in dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, vernünftigerweise und ohne Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht auf diese Gegebenheiten stützen.
159 Zum anderen rechtfertigte die Kommission die Anwendung des Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1290/2005 auf die sich aus den Forderungen, um die es im Verfahren Centramelk ging, ergebenden Zinsen damit, dass diese genauso behandelt werden müssten wie die Forderungen, zu denen sie akzessorisch seien. Dies hat das Königreich der Niederlande jedoch keineswegs in Abrede gestellt.
160 Aus diesen Gründen ist das Vorbringen des Königreichs der Niederlande, die Kommission habe ihre Sorgfaltspflicht dadurch verletzt, dass sie seine im Verfahren geltend gemachten Argumente bezüglich der Zinsen auf die im Verfahren Centramelk in Rede stehenden Forderungen unberücksichtigt gelassen habe, als unbegründet zurückzuweisen.
161 Demnach ist der dritte Klagegrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
162 Aus allen diesen Gründen und namentlich aufgrund der oben in Rn. 129 gezogenen Schlussfolgerung ist der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, soweit die Kommission gegenüber dem Königreich der Niederlande eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 4703231,78 Euro wegen nicht angegebener Zinsen auf die Altforderungen vorgenommen hat.
Kosten
163 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Königreichs der Niederlande die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Der Durchführungsbeschluss 2013/763/EU der Kommission vom 12. Dezember 2013 über den Ausschluss bestimmter von den Mitgliedstaaten zulasten des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Abteilung Garantie, des Europäischen Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) getätigter Ausgaben von der Finanzierung durch die Europäische Union wird für nichtig erklärt, soweit gegenüber dem Königreich der Niederlande eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 4703231,78 Euro wegen nicht angegebener Zinsen auf vor dem 1. April 1993 entstandene Forderungen wegen zu spät entrichteter Zusatzabgaben und auf vor dem 1. April 1995 entstandene Forderungen wegen zu Unrecht gezahlter Ausfuhrerstattungen vorgenommen wurde.
2. Die Europäische Kommission trägt außer ihren eigenen Kosten die Kosten des Königreichs der Niederlande.
Martins Ribeiro
Gervasoni
Madise
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. November 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Beschluss des Gerichts (Zweite Kammer) vom 27. Oktober 2015.#Königreich Belgien gegen Europäische Kommission.#Nichtigkeitsklage – Online-Glücksspieldienstleistungen – Schutz von Verbrauchern und Nutzern sowie Ausschluss Minderjähriger von diesen Spielen – Empfehlung der Kommission – Nicht anfechtbare Handlung – Unzulässigkeit.#Rechtssache T-721/14.
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62014TO0721
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ECLI:EU:T:2015:829
| 2015-10-27T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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BESCHLUSS DES GERICHTS (Zweite Kammer)
27. Oktober 2015 (*1)
„Nichtigkeitsklage — Online-Glücksspieldienstleistungen — Schutz von Verbrauchern und Nutzern sowie Ausschluss Minderjähriger von diesen Spielen — Empfehlung der Kommission — Nicht anfechtbare Handlung — Unzulässigkeit“
In der Rechtssache T‑721/14
Königreich Belgien, Prozessbevollmächtigte: L. Van den Broeck und M. Jacobs im Beistand der Rechtsanwälte P. Vlaemminck und B. Van Vooren,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe und F. Wilman als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Empfehlung 2014/478/EU der Kommission vom 14. Juli 2014 mit Grundsätzen für den Schutz von Verbrauchern und Nutzern von Online-Glücksspieldienstleistungen und für den Ausschluss Minderjähriger von Online-Glücksspielen (ABl. L 214, S. 38)
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Am 14. Juli 2014 erließ die Europäische Kommission die Empfehlung 2014/478/EU mit Grundsätzen für den Schutz von Verbrauchern und Nutzern von Online-Glücksspieldienstleistungen und für den Ausschluss Minderjähriger von Online-Glücksspielen (ABl. L 214, S. 38, im Folgenden: streitige Empfehlung).
2 Nach einer kurzen Darstellung des Kontexts der streitigen Empfehlung in ihren Erwägungsgründen 1 bis 7, der insbesondere eine 2011 durchgeführte öffentliche Konsultation, die Mitteilung der Kommission vom 23. Oktober 2012 mit dem Titel „Ein umfassender europäischer Rahmen für das Online-Glücksspiel“, die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. September 2013 über Online-Glücksspiele im Binnenmarkt und die Rechtsprechung umfasst, nach der es in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene den Mitgliedstaaten prinzipiell freisteht, die Ziele ihrer Politik zum Glücksspielwesen festzulegen und das im Hinblick auf die Gesundheit der Verbraucher angestrebte Schutzniveau zu bestimmen, wobei der Gerichtshof aber allgemeine Leitlinien zur Auslegung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts im Bereich des Glücksspiels abgegeben und Grundregeln für die kommerzielle Kommunikation für diese Dienstleistungen aufgestellt hat, hat die Kommission in den Erwägungsgründen 8, 9, 14 und 15 dieser Empfehlung folgende Feststellungen getroffen:
„(8)
Zur Verfolgung von Zielen des öffentlichen Interesses haben die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Vorschriften und politische Maßnahmen eingeführt. Maßnahmen auf Unionsebene regen die Mitgliedstaaten dazu an, ein hohes Schutzniveau in der gesamten Union zu schaffen, insbesondere vor dem Hintergrund der mit dem Glücksspiel verbundenen Risiken, zu denen die Entwicklung einer Glücksspielstörung und andere negative persönliche und soziale Folgen zählen.
(9) Ziel dieser Empfehlung ist es, die Gesundheit von Verbrauchern und Spielern zu schützen und somit auch mögliche wirtschaftliche Schäden, die durch zwanghaftes oder übermäßiges Spielen entstehen können, zu minimieren. Sie enthält daher Grundsätze, die in Bezug auf Online-Glücksspieldienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige gewährleisten sollen. Bei der Ausarbeitung dieser Empfehlung hat sich die Kommission an vorbildlichen Praktiken der Mitgliedstaaten orientiert.
…
(14) Betreiber von Online-Glücksspielen mit Sitz in der Union sind zunehmend im Besitz von Mehrfachlizenzen in Mitgliedstaaten, die sich bei der Glücksspielregulierung für ein lizenzgestütztes System entschieden haben. Diese könnten von einer stärker harmonisierten Vorgehensweise profitieren. Des Weiteren kann die Vervielfachung der zu erfüllenden Anforderungen zu einer unnötigen Verdopplung der Infrastruktur und Kosten und somit zu unnötigem Verwaltungsaufwand für die Regulierungsbehörden führen.
(15) Es ist sinnvoll, die Mitgliedstaaten zur Einführung von Vorschriften aufzufordern, damit die Verbraucher über Online-Glücksspiele informiert werden. Derartige Vorschriften sollten der Entstehung von Störungen im Zusammenhang mit Glücksspielen vorbeugen, Glücksspielangebote für Minderjährige unzugänglich machen und Verbraucher davon abhalten, unerlaubte und daher potenziell schädliche Angebote zu nutzen.“
3 Die streitige Empfehlung umfasst zwölf Abschnitte mit insgesamt 54 Nummern.
4 Die Nrn. 1 und 2 des Abschnitts I („Zweck“) der streitigen Empfehlung haben folgenden Wortlaut:
„1.
Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, durch die Übernahme von Grundsätzen für Online-Glücksspieldienstleistungen und eine verantwortungsvolle kommerzielle Kommunikation für diese Dienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige zu erzielen, um so ihre Gesundheit zu schützen und gleichzeitig mögliche wirtschaftliche Schäden, die durch zwanghaftes oder übermäßiges Spielen entstehen können, zu minimieren.
2. Das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung von Glücksspieldienstleistungen bleibt von dieser Empfehlung unberührt.“
5 Die Abschnitte III bis X der streitigen Empfehlung beziehen sich jeweils auf „Informationsanforderungen“, auf „Minderjährige“, auf „Spielerregistrierung und ‑konto“, auf „Spieleraktivität und Unterstützung“, auf „Zeitsperre und Selbstausschluss“, auf „Kommerzielle Kommunikation“, auf „Sponsoring“ sowie auf „Aufklärung und Sensibilisierung“.
6 In Abschnitt XI („Aufsicht“) Nr. 51 der streitigen Empfehlung heißt es: „Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, bei der Anwendung der in dieser Empfehlung festgelegten Grundsätze die zuständigen Glücksspiel-Regulierungsbehörden zu benennen, die die effektive Einhaltung der zur Unterstützung der Grundsätze dieser Empfehlung ergriffenen nationalen Maßnahmen in unabhängiger Weise gewährleisten und verfolgen.“
7 Die Nrn. 52 bis 54 des Abschnitts XII („Berichterstattung“) der streitigen Empfehlung lauten schließlich:
„52.
Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, der Kommission bis 19. Januar 2016 alle Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Empfehlung ergriffen worden sind, mitzuteilen, damit die Kommission die Umsetzung dieser Empfehlung bewerten kann.
53. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, zu statistischen Zwecken zuverlässige Jahresdaten zu sammeln über
a)
die anwendbaren Schutzmaßnahmen, insbesondere über die Zahl der (eröffneten und geschlossenen) Spielerkonten, der Selbstausschlüsse, der Fälle einer Glücksspielstörung und der Beschwerden von Spielern;
b)
die kommerzielle Kommunikation, aufgelistet nach Kategorie und Art der Verstöße gegen die Grundsätze.
Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, der Kommission diese Informationen erstmals bis zum 19. Juli 2016 zu übermitteln.
54. Die Kommission sollte die Umsetzung der Empfehlung bis zum 19. Januar 2017 bewerten.“
Verfahren und Anträge der Parteien
8 Das Königreich Belgien hat mit Klageschrift, die am 13. Oktober 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
9 Mit besonderem Schriftsatz, der am 19. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Das Königreich Belgien hat am 20. Februar 2015 zu dieser Einrede Stellung genommen.
10 Mit am 12. bzw. am 16. Januar 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsätzen haben die Hellenische Republik und die Portugiesische Republik beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Belgien zugelassen zu werden.
11 Das Königreich Belgien beantragt,
—
die Klage für zulässig zu erklären, hilfsweise, die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorzubehalten und eine Frist für die Stellung der Anträge für das weitere Verfahren festzusetzen, äußerst hilfsweise, erst nach Anhörung der Parteien und der Streithelferinnen über die Zulässigkeit zu entscheiden;
—
der Klage stattzugeben und die streitige Empfehlung für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
12 Die Kommission beantragt,
—
die Klage für unzulässig zu erklären;
—
dem Königreich Belgien die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
13 Nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts kann das Gericht auf Antrag des Beklagten vorab über die Unzulässigkeit entscheiden. Im vorliegenden Fall hält sich das Gericht aufgrund der Aktenlage für hinreichend unterrichtet und beschließt, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.
14 Die Kommission erhebt gegen die vorliegende Klage eine Einrede der Unzulässigkeit mit der Begründung, dass die streitige Empfehlung keine nach Art. 263 AEUV anfechtbare Handlung darstelle. Sie vertritt im Wesentlichen die Auffassung, die streitige Empfehlung sei sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihres Inhalts eine „wirkliche“ Empfehlung im Sinne von Art. 288 AEUV, die nicht verbindlich sei und keine zwingende Verpflichtung auferlege. Hierfür sprächen die formale Präsentation dieser auf Art. 292 AEUV gestützten Empfehlung, ihr nicht verbindlich und in der Möglichkeitsform abgefasster Text sowie ihr fünfter Erwägungsgrund und ihre Nr. 2. Keines der vom Königreich Belgien in der Klageschrift vorgebrachten Argumente könne diese Einstufung der streitigen Empfehlung als nicht anfechtbare Handlung entkräften.
15 Das Königreich Belgien hält die vorliegende Klage dagegen für zulässig. Es macht im Wesentlichen unter Berufung insbesondere auf die Urteile vom 31. März 1971, Kommission/Rat, sogenanntes „AETR“-Urteil (22/70, Slg, EU:C:1971:32), und vom 13. Dezember 1989, Grimaldi (C‑322/88, Slg, EU:C:1989:646), sowie den Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes geltend, dass die streitige Empfehlung Gegenstand gerichtlicher Kontrolle sein könne. Erstens erzeuge diese Empfehlung „negative Rechtsfolgen“, da sie, wie sich aus dem ersten, dem dritten und dem vierten der in der Klageschrift angeführten Klagegründe ergebe, fundamentale Grundsätze des Unionsrechts verletze, nämlich den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen der Union untereinander und zwischen diesen und den Mitgliedstaaten. Zweitens gibt das Königreich Belgien im Rahmen des zweiten und des fünften Klagegrundes zu bedenken, dass der streitigen Empfehlung die Absicht zugrunde liege, die Anwendung der Bestimmungen der Art. 49 AEUV und 56 AEUV im Bereich der Glücksspiele zu harmonisieren, und dass sie in Wirklichkeit eine verschleierte Richtlinie sei, was der Kontrolle des Gerichts unterliege. In diesem Zusammenhang fügt das Königreich Belgien hinzu, die streitige Empfehlung erzeuge mittelbare Rechtswirkungen, da sich die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit um die Einhaltung der Empfehlung bemühen und die nationalen Gerichte die Empfehlung berücksichtigen müssten.
16 Nach ständiger Rechtsprechung sind alle von den Organen erlassenen Bestimmungen, die dazu bestimmt sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, ungeachtet ihrer Form als anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV anzusehen (Urteile AETR, oben in Rn. 15 angeführt, EU:C:1971:32, Rn. 42, vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, Slg, EU:C:2011:656, Rn. 36, und vom 13. Februar 2014, Ungarn/Kommission, C‑31/13 P, Slg, EU:C:2014:70, Rn. 54).
17 Dagegen sind alle Handlungen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, wie vorbereitende Maßnahmen, Bestätigungs- und reine Durchführungshandlungen, bloße Empfehlungen und Stellungnahmen sowie grundsätzlich auch Dienstanweisungen von der in Art. 263 AEUV vorgesehenen gerichtlichen Kontrolle ausgenommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C‑131/03 P, Slg, EU:C:2006:541, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 14. Mai 2012, Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, C‑477/11 P, EU:C:2012:292, Rn. 52).
18 Nach dieser Rechtsprechung ist in die Prüfung, ob eine Handlung geeignet ist, Rechtswirkungen zu erzeugen, und folglich Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV sein kann, Folgendes einzubeziehen: ihr Wortlaut und der Kontext, in dem sie steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. März 1997, Frankreich/Kommission, C‑57/95, Slg, EU:C:1997:164, Rn. 18, und vom 1. Dezember 2005, Italien/Kommission, C‑301/03, Slg, EU:C:2005:727, Rn. 21 bis 23), ihr Wesen (vgl. Urteil vom 22. Juni 2000, Niederlande/Kommission, C‑147/96, Slg, EU:C:2000:335, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, vgl. auch in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 1990, Frankreich/Kommission, C‑366/88, Slg, EU:C:1990:348, Rn. 23, vom 13. November 1991, Frankreich/Kommission, C‑303/90, Slg, EU:C:1991:424, Rn. 18 bis 24, und vom 16. Juni 1993, Frankreich/Kommission, C‑325/91, Slg, EU:C:1993:245, Rn. 20 bis 23) sowie die Absicht ihres Urhebers (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Januar 2010, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, C‑362/08 P, Slg, EU:C:2010:40, Rn. 52, und vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, Slg, EU:C:2008:422, Rn. 42).
19 Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der angefochtenen Handlung um eine Empfehlung, die von der Kommission unter Bezugnahme auf Art. 292 AEUV erlassen wurde und die in der Reihe L des Amtsblatts der Europäischen Union vollständig veröffentlicht wurde. Wie sich insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 2, 9 und 15 ergibt, hat die streitige Empfehlung, die Aspekte des Schutzes der Verbraucher, einschließlich des Minderjährigenschutzes, im Bereich der Online-Glücksspieldienstleistungen, und einer verantwortungsvollen kommerziellen Kommunikation für diese Dienstleistungen miteinander verbindet, zum Ziel, die Gesundheit der Verbraucher und der Spieler zu schützen und wirtschaftliche Schäden, die durch zwanghaftes oder übermäßiges Spielen entstehen können, soweit als möglich zu minimieren. Nach ihrem Wortlaut enthält diese Empfehlung daher Grundsätze, die in Bezug auf Online-Glücksspieldienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige gewährleisten sollen, und fordert die Mitgliedstaaten zur Einführung von Vorschriften auf, damit die Verbraucher über Online-Glücksspiele informiert werden.
20 Zwar folgt aus Art. 288 Abs. 5 AEUV, dass Empfehlungen nicht verbindlich sind, doch kann nach ständiger Rechtsprechung die Wahl der Form der Maßnahme nichts an ihrem Wesen ändern, so dass zu prüfen ist, ob der Inhalt der Maßnahme der Form entspricht, die ihr zugewiesen worden ist (vgl. Urteil Grimaldi, oben in Rn. 15 angeführt, EU:C:1989:646, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist auch angesichts der oben in den Rn. 16 bis 18 angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass der Umstand allein, dass die streitige Empfehlung formell als Empfehlung bezeichnet und unter Bezugnahme auf Art. 292 AEUV erlassen worden ist, ihre Einstufung als anfechtbare Handlung nicht ohne Weiteres ausschließen kann.
21 Erstens ist zu beachten, dass die streitige Empfehlung im Wesentlichen nicht verbindlich formuliert ist.
22 Zum einen sind sowohl die Erwägungsgründe als auch die Nummern der streitigen Empfehlung überwiegend in der Möglichkeitsform abgefasst, wie insbesondere die Verwendung der Begriffe „sollte/sollten“ (im Französischen „devrait/devraient“, im Dänischen „bør“, im Estnischen „peaks/peaksid“, im Spanischen „debería/deberían“, im Italienischen „dovrebbe/dovrebbero“, im Niederländischen „zou moeten/zouden moeten“, im Polnischen „powinien/powinno/powinny“, im Schwedischen „bör“ und im Englischen „should“) zeigt.
23 Zum anderen heißt es in der französischen Fassung der Nrn. 1, 18, 20, 37, 47, 49 und 51 bis 53 der streitigen Empfehlung „il est recommandé aux États membres de“ [„den Mitgliedstaaten wird empfohlen“] (im Dänischen „Medlemsstaterne anbefales“, im Estnischen „Liikmesriikidel soovitatakse“, im Italienischen „si raccomanda agli Stati membri“, im Polnischen „zaleca się“, im Portugiesischen „recomenda-se aos Estados-Membros“, im Schwedischen „Medlemsstaterna rekommenderas“, im Englischen „Member States are recommended to“), „les États membres sont encouragés à“ [„die Mitgliedstaaten werden angehalten“] (im Italienischen „gli Stati membri sono incoraggiati“, im Polnischen „zachęca się“, im Portugiesischen „os Estados-Membros são incentivados/encorajados“, im Englischen „Member States are encouraged to“) oder auch „les États membres sont invités à“ [„die Mitgliedstaaten werden ersucht“] (im Dänischen „Medlemsstaterne opfordres“, im Estnischen „Liikmesriike kutsutakse üles“, im Italienischen „gli Stati membri sono invitati“, im Portugiesischen „os Estados-Membros são convidados“, im Schwedischen „Medlemsstaterna uppmanas“, im Englischen „Member States are invited to“).
24 Diese Formulierungen zeigen klar, dass der Inhalt der streitigen Empfehlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen (vgl. in diesem Sinne Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:2005:727, Rn. 21 und 22).
25 Allerdings enthält die portugiesische Fassung der streitigen Empfehlung die Begriffe „deve“ (muss), „devem“ (müssen), „deverá“ (wird müssen) und „deverão“ (werden müssen).
26 Zudem sind die Nrn. 1, 20, 37, 49 und 51 bis 53 der streitigen Empfehlung in den anderen Sprachfassungen, zumindest teilweise, verbindlicher formuliert, insbesondere in der deutschen, der spanischen und der niederländischen Fassung. Auch wenn einige dieser Nummern bloße Empfehlungen aussprechen, wie die Wendungen „den Mitgliedstaaten wird empfohlen“ in Nr. 1 der Empfehlung in der deutschen Fassung, „se recomienda/anima/invita a los Estados miembros“ (den Mitgliedstaaten wird empfohlen/die Mitgliedstaaten werden ermuntert/angehalten) in den Nrn. 1, 18, 20, 37, 47 und 51 bis 53 der Empfehlung in der spanischen Fassung sowie „de lidstaten wordt aanbevolen“ (den Mitgliedstaaten wird empfohlen) und „de lidstaten worden aangemoedigd“ (die Mitgliedstaaten werden angehalten) in den Nrn. 1, 18, 20, 37, 47 und 49 der Empfehlung in der niederländischen Fassung zeigen, enthalten andere Nummern doch Verben, die eine stärkere Verbindlichkeit zum Ausdruck bringen. Das gilt für die Verben „anhalten“ und „auffordern“ in den Nrn. 20, 37, 47, 49 und 51 bis 53 der Empfehlung in der deutschen Fassung, „instar“ (auffordern) in Nr. 49 der Empfehlung in der spanischen Fassung sowie für das Verb „verzoeken“ (auffordern) in den Nrn. 51 bis 53 der Empfehlung in der niederländischen Fassung, das eine stärkere Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt als das Verb „uitnodigen“, das die übliche Übersetzung des französischen Verbs „inviter“ (ersuchen) ist.
27 Diese Unterschiede sind jedoch gering, da nicht nur die meisten der oben angeführten Sprachfassungen nicht verbindlich formuliert sind, sondern die oben in Rn. 26 angeführten Sprachversionen, von einigen Ausnahmen abgesehen, ebenfalls im Wesentlichen nicht verbindlich formuliert sind.
28 Jedenfalls muss nach ständiger Rechtsprechung, wenn die Fassung eines Textes in einer Sprache der Europäischen Union von den Fassungen abweicht, die in den anderen Sprachen erstellt wurden, die fragliche Vorschrift zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteil vom 26. April 2012, DR und TV2 Danmark, C‑510/10, Slg, EU:C:2012:244, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Zweitens ist festzuhalten, dass auch aus dem Inhalt der streitigen Empfehlung folgt, dass diese Handlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, und die Kommission nicht die Absicht hatte, ihr solche Rechtswirkungen zu verleihen.
30 Zunächst folgt aus den Erwägungsgründen 9 und 15 der streitigen Empfehlung, dass diese zum Ziel hat, Grundsätze aufzustellen, die in Bezug auf Online-Glücksspieldienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige gewährleisten sollen, und die Mitgliedstaaten zur Einführung von Vorschriften aufzufordern, damit die Verbraucher über Online-Glücksspiele informiert werden. Ebenso folgt unzweideutig aus Nr. 1 dieser Empfehlung, dass den Mitgliedstaaten empfohlen wird, Grundsätze zu übernehmen, die im Wesentlichen auf die Erreichung dieses Ziels ausgerichtet sind.
31 Sodann wird in Nr. 2 der streitigen Empfehlung ausdrücklich klargestellt, dass das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung von Glücksspieldienstleistungen von dieser Empfehlung unberührt bleibt, woraus zu schließen ist, dass die Kommission nicht beabsichtigte, diese Dienstleistungen anstelle der Mitgliedstaaten durch den Erlass verbindlicher Rechtsvorschriften zu regulieren. In diesem Sinne ist im Übrigen anzumerken, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 5 und 6 der streitigen Empfehlung auf die Rechtsprechung hingewiesen hat, wonach es in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene den Mitgliedstaaten prinzipiell freisteht, die Ziele ihrer Politik zum Glücksspielwesen festzulegen und das im Hinblick auf die Gesundheit der Verbraucher angestrebte Schutzniveau zu bestimmen, wobei der Gerichtshof aber allgemeine Leitlinien zur Auslegung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts im Bereich des Glücksspiels erlassen und Grundregeln für die kommerzielle Kommunikation für diese Dienstleistungen aufgestellt hat.
32 Schließlich ist anzufügen, dass die streitige Empfehlung keinen ausdrücklichen Hinweis enthält, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von ihr aufgestellten Grundsätze zu erlassen und anzuwenden.
33 Zwar geht es in den Nrn. 51 bis 53 der streitigen Empfehlung um die Anwendung der in dieser Empfehlung enthaltenen Grundsätze durch die Mitgliedstaaten. Denn zum einen betrifft Nr. 51 dieser Empfehlung die Benennung der zuständigen Glücksspiel-Regulierungsbehörden, die die effektive Einhaltung der zur Unterstützung der Grundsätze dieser Empfehlung ergriffenen nationalen Maßnahmen gewährleisten und verfolgen, und zum anderen sehen die Nrn. 52 und 53 dieser Empfehlung vor, dass der Kommission alle Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Empfehlung ergriffen worden sind, mitgeteilt werden, damit sie die Umsetzung dieser Empfehlung bewerten kann, und dass bestimmte Daten gesammelt und ihr übermittelt werden.
34 Doch ist, abgesehen davon, dass die Nrn. 51 bis 53 der streitigen Empfehlung keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsehen, die in diesem Rechtsakt aufgestellten Grundsätze tatsächlich anzuwenden, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie bereits oben in Rn. 31 ausgeführt, in Nr. 2 dieser Empfehlung ausdrücklich klargestellt hat, dass die Empfehlung das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung dieses Bereichs unberührt lässt. Aus den Nrn. 51 bis 53 der Empfehlung in Verbindung mit dieser Nr. 2 folgt somit nur, dass die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, Regelungen zum Schutz von Verbrauchern im Bereich von Online-Glücksspielen zu erlassen, aber in keiner Weise verpflichtet sind, den von diesem Rechtsakt aufgestellten Grundsätzen zu folgen.
35 Was im Übrigen die Mitteilung der im Rahmen der Anwendung der streitigen Empfehlung getroffenen Maßnahmen und die Übermittlung bestimmter Daten an die Kommission anbelangt, so wird dadurch trotz des Umstands, dass die Nrn. 52 und 53 dieser Empfehlung in einigen Sprachfassungen verbindlich formuliert sind (siehe oben, Rn. 26), keine diesbezügliche Verpflichtung begründet. Diese Auslegung ist nämlich nicht nur aufgrund eines Vergleichs mit den anderen Sprachfassungen der streitigen Empfehlung geboten, sondern auch im Hinblick auf die Absicht der Kommission, wie sie entsprechend den Ausführungen insbesondere oben in den Rn. 30 und 31 in dieser Empfehlung zum Ausdruck kommt.
36 Drittens ist hinzuzufügen, dass die Analyse von Wortlaut und Inhalt der streitigen Empfehlung sowie der von der Kommission verfolgten Absicht durch eine Würdigung des Kontexts, in den sie sich einfügt und wie er von den Parteien dargestellt worden ist, bestätigt wird. So ist deren Schriftsätzen zu entnehmen, dass dieser Empfehlung Diskussionen innerhalb des Rates der Europäischen Union, des Europäischen Parlaments und der Kommission vorangegangen sind. Insbesondere hat die Kommission im Rahmen ihrer Unzulässigkeitseinrede, ohne dass ihr vom Königreich Belgien widersprochen worden ist, einen Auszug aus ihrer Mitteilung vom 23. Oktober 2012 angeführt, wonach es „[i]nsgesamt … derzeit nicht angemessen [erscheint], … Rechtsvorschriften [der Union im Sektor der Online-Glücksspiele] vorzuschlagen“. Zum gleichen Ergebnis kam eine der streitigen Empfehlung beigefügte Folgenabschätzung (im Folgenden: Folgenabschätzung), die in diesem Sinne sowohl vom Königreich Belgien in seiner Klageschrift als auch von der Kommission in ihrer Unzulässigkeitseinrede angeführt worden ist.
37 Daher ist in Anbetracht des Wortlauts, des Inhalts und des Kontexts der streitigen Empfehlung festzustellen, dass diese weder verbindliche Rechtswirkungen erzeugt noch dazu bestimmt ist, dies zu tun, so dass sie nicht als anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV eingestuft werden kann.
38 Insoweit ist noch hinzuzufügen, dass die Veröffentlichung der streitigen Empfehlung in der Reihe L und nicht in der Reihe C des Amtsblatts für sich allein nicht das Ergebnis widerlegen kann, wonach diese Empfehlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
39 Zum einen hat der Gerichtshof einen Antrag auf Nichtigerklärung einer in der Reihe L des Amtsblatts veröffentlichten Handlung bereits mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass diese Handlung nicht dazu bestimmt war, Rechtswirkungen zu erzielen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 1996, Niederlande/Rat, C‑58/94, Slg, EU:C:1996:171, Rn. 27), woraus zu folgern ist, dass der Umstand allein, dass eine Handlung in der Reihe L des Amtsblatts veröffentlicht wird, keine verbindlichen Rechtswirkungen herbeiführen kann, die diese Handlung anfechtbar machen.
40 Zum anderen ist die Erwägung oben in Rn. 38 auch in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung zwingend, wonach die Form, in der ein Rechtsakt oder eine Entscheidung erlassen wird, für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Nach dieser Rechtsprechung ist es für die Qualifizierung der betreffenden Handlung grundsätzlich unerheblich, ob sie bestimmten formalen Anforderungen genügt, ob sie also u. a. vom Handelnden zutreffend bezeichnet wurde, ob sie ihre Rechtsgrundlage angibt oder ob sie unter Verstoß gegen das maßgebliche Recht nicht mitgeteilt wurde, da ein solcher Mangel das Wesen dieser Handlung nicht ändern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2010, NDSHT/Kommission, C‑322/09 P, Slg, EU:C:2010:701, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ob die Veröffentlichung in der Reihe C oder gegebenenfalls in der Reihe L des Amtsblatts erfolgt ist, ist also für sich allein nicht erheblich für die Frage, ob die in Rede stehende Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugen kann (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 15. Dezember 2005, Infront WM/Kommission, T‑33/01, Slg, EU:T:2005:461, Rn. 110).
41 Das oben in Rn. 37 festgestellte Ergebnis wird auch nicht durch die Argumente des Königreichs Belgien in Frage gestellt.
42 Erstens macht das Königreich Belgien geltend, dass eine Empfehlung Rechtswirkungen entfalten könne, soweit sie der nationale Richter aufgrund der Rechtsprechung bei der Entscheidung über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten berücksichtigen müsse und soweit die nationalen Behörden sie aufgrund der den Mitgliedstaaten obliegenden Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit beachten müssten. Dass die streitige Empfehlung formell nicht verbindlich sei, sei unerheblich angesichts der bedeutsamen rechtlichen Folgen, die sie für Zwecke der Auslegung, durch eine Neuqualifizierung oder die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nach sich ziehe.
43 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich zwar, dass Empfehlungen, auch wenn sie nicht darauf ausgerichtet sind, bindende Wirkungen zu entfalten, und keine Rechte begründen können, auf die sich die Einzelnen vor einem nationalen Gericht berufen können, dennoch rechtlich nicht völlig wirkungslos sind. Die nationalen Gerichte sind nämlich verpflichtet, die Empfehlungen bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn sie Aufschluss über die Auslegung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften geben, die zu ihrer Durchführung erlassen wurden, oder wenn sie verbindliche Vorschriften des Unionsrechts ergänzen sollen (Urteile Grimaldi, oben in Rn. 15 angeführt, EU:C:1989:646, Rn. 7, 16 und 18, vom 11. September 2003, Altair Chimica, C‑207/01, Slg, EU:C:2003:451, Rn. 41, und vom 18. März 2010, Alassini u. a., C‑317/08 bis C‑320/08, Slg, EU:C:2010:146, Rn. 40).
44 Jedoch würde die Berücksichtigung der von der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung beschriebenen rechtlichen Wirkungen bei der Beurteilung der Anfechtbarkeit einer Empfehlung dazu führen, dass jede Empfehlung eine anfechtbare Handlung darstellen würde.
45 Dieses Ergebnis stände zum einen aber in Widerspruch zu Art. 263 AEUV in seiner Auslegung durch die oben in den Rn. 16 und 17 angeführte Rechtsprechung, wonach bloße Empfehlungen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können. Zum anderen verstieße es aber auch gegen die Rechtsprechung der zufolge für die Feststellung, ob eine Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, ihr Wesen zu untersuchen ist (Urteil Niederlande/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:2000:335, Rn. 27).
46 Infolgedessen kann allein aus den von der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung beschriebenen rechtlichen Wirkungen nicht abgeleitet werden, dass eine Empfehlung wie die streitige verbindliche Rechtswirkungen erzeugt und daher eine anfechtbare Handlung im Sinne der oben in den Rn. 16 bis 18 wiedergegebenen Rechtsprechung darstellt.
47 Aus den gleichen Gründen kann auch der Umstand, dass der Unionsrichter Empfehlungen zu Zwecken der Auslegung berücksichtigt, entgegen der Ansicht des Königreichs Belgien nicht das Vorbringen stützen, dass Empfehlungen wie die streitige verbindliche Rechtswirkungen erzeugten.
48 Im Übrigen ist zu beachten, dass das Gleiche für jene Rechtswirkungen gilt, die sich nach Auffassung des Königreichs Belgien aus der den Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit obliegende Verpflichtung – ihr Vorliegen unterstellt – ergeben, sich um die in der streitigen Empfehlung aufgestellten Grundsätze zu bemühen.
49 Zweitens macht das Königreich Belgien im Wesentlichen geltend, es müsse möglich sein, die streitige Empfehlung im Hinblick auf die fundamentalen Grundsätze des Unionsrechts einer begrenzten Kontrolle zu unterziehen, da das Fehlen einer solchen Kontrolle dem Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zuwiderliefe. Die streitige Empfehlung erzeuge nämlich „negative Rechtswirkungen“, da sie den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, das institutionelle Gleichgewicht und die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen untereinander und zwischen diesen und den Mitgliedstaaten verletze, wie sich aus dem ersten, dem dritten und dem vierten der in der Klageschrift angeführten Klagegründe ergebe. In diesem Zusammenhang fügt das Königreich Belgien hinzu, dass nach der Rechtsprechung auch die Handlungen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugten und die unter Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit erlassen worden seien, gerichtlich nachprüfbar seien.
50 Zunächst ist festzustellen, dass diese Argumentation des Königreichs Belgien, wenn man ihr zustimmte, dazu führen würde, dass die Anfechtbarkeit der Handlung aus ihrer möglichen Rechtswidrigkeit abgeleitet würde.
51 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Schwere eines behaupteten Fehlers des betreffenden Organs oder die Erheblichkeit der Beeinträchtigung, die sich daraus für die Wahrung der Grundrechte ergeben würde, es nicht erlaubt, von der Anwendung der im Vertrag vorgesehenen unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen abzuweichen. So erlaubt eine behauptete Verletzung des institutionellen Gleichgewichts es nicht, von den im Vertrag festgelegten Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage abzuweichen (Urteil vom 15. Januar 2003, Philip Morris International/Kommission, T‑377/00, T‑379/00, T‑380/00, T‑260/01 und T‑272/01, Slg, EU:T:2003:6, Rn. 87; vgl. auch entsprechend Beschluss vom 10. Mai 2001, FNAB u. a./Rat, C‑345/00 P, Slg, EU:C:2001:270, Rn. 39 bis 42).
52 Selbst wenn die streitige Empfehlung gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung oder die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit verstieße, könnte dies nicht dazu führen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzung des Vorliegens einer anfechtbaren Handlung entfiele.
53 Sodann kann auch dem Argument des Königreichs Belgien nicht gefolgt werden, wonach sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere aus den Urteilen vom 12. Februar 2009, Kommission/Griechenland (C‑45/07, Slg, EU:C:2009:81) und vom 20. April 2010, Kommission/Schweden (C‑246/07, Slg, EU:C:2010:203) ergebe, dass rechtlich nicht verbindliche Handlungen, die unter Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit erlassen worden seien, der gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könnten.
54 Selbst wenn, wie das Königreich Belgien geltend macht, der Gerichtshof in den oben in Rn. 53 erwähnten Urteilen Verhaltensweisen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, im Hinblick auf die Beachtung der Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit geprüft hätte, ist dennoch festzuhalten, dass diese Urteile nicht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 263 AEUV, sondern im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG erlassen wurden, d. h. im Rahmen eines Rechtsbehelfs, der zum Ziel hat, ein unionsrechtswidriges Verhalten eines Mitgliedstaats feststellen und beenden zu lassen (Urteil vom 7. Februar 1979, Frankreich/Kommission, 15/76 und 16/76, Slg, EU:C:1979:29, Rn. 27), und der auf der objektiven Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt beruht (vgl. Urteile vom 14. November 2002, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑140/00, Slg, EU:C:2002:653, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 4. März 2010, Kommission/Italien, C‑297/08, Slg, EU:C:2010:115, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Da diese beiden Rechtsbehelfe jedoch verschiedene Ziele haben und sich hinsichtlich der ihnen eigenen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterscheiden, kann der vom Königreich Belgien geltend gemachte Umstand allein, dass der Gerichtshof eine Handlung oder ein Verhalten, die keine verbindlichen Rechtswirkungen haben, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens prüfen kann, nicht dazu führen, dass im Rahmen einer Nichtigkeitsklage dasselbe gelten muss.
56 Im Gegenteil steht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV die Argumentation des Königreichs Belgien, wonach eine nicht verbindliche Handlung im Hinblick auf die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit geprüft werden kann, in Widerspruch zu der oben in den Rn. 16, 17 und 51 angeführten Rechtsprechung.
57 Soweit das Königreich Belgien geltend macht, der Gerichtshof habe in dem Urteil Kommission/Schweden, oben in Rn. 53 angeführt (EU:C:2010:203), eine Vertragsverletzung festgestellt, da das Königreich Schweden einen von einer Arbeitsgruppe des Rates eingenommenen Standpunkt, der keine verbindlichen Rechtswirkungen entfaltet habe, nicht berücksichtigt habe, genügt die Feststellung, dass daraus keineswegs folgt, dass im Rahmen einer nach Art. 263 AEUV erhobenen Nichtigkeitsklage die Rechtmäßigkeit einer Handlung, die keine verbindlichen Rechtswirkungen hat, geprüft werden kann. Ohne dass dazu Stellung genommen werden müsste, ob ein Richter im Rahmen einer Nichtigkeitsklage einen Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit wegen Nichtberücksichtigung einer Handlung, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt, feststellen kann, ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sich in der vorliegenden Rechtssache eine andere Frage stellt, ob nämlich die streitige Empfehlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt.
58 Schließlich ist zum Verweis auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der eine nicht restriktive Auslegung der Voraussetzung bezüglich der verbindlichen Rechtswirkungen erfordere, festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwar mit den Art. 263 AEUV und 277 AEUV auf der einen Seite und Art. 267 AEUV auf der anderen Seite ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen wurde, das die – dem Unionsrichter übertragene – Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe gewährleisten soll (Urteile vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament, 294/83, Slg, EU:C:1986:166, Rn. 23, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2006:541, Rn. 80, und Beschluss Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2012:292, Rn. 53), dass aber die Auslegung der Voraussetzung, dass verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden – auch wenn sie im Licht des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes erfolgen muss –, nicht zum Wegfall dieser Voraussetzung führen kann, ohne dass die den Unionsgerichten durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten würden (vgl. in diesem Sinne, Urteil Reynolds Tobacco u. a./Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2006:541, Rn. 81, und Beschluss Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2012:292, Rn. 54).
59 Die Argumentation des Königreichs Belgien würde aber, wenn man ihr folgte, gerade zu einem Wegfall der Voraussetzung, dass verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden, führen.
60 Drittens macht das Königreich Belgien mit dem zweiten und dem fünften ihrer in der Klageschrift angeführten Klagegründe geltend, die streitige Empfehlung stelle in Wirklichkeit ein Harmonisierungsinstrument und eine verschleierte Richtlinie dar. Insbesondere im Rahmen des zweiten Klagegrundes trägt es unter Verweisung auf die Urteile Grimaldi, oben in Rn. 15 angeführt (EU:C:1989:646), und vom 24. Januar 2013, Stanleybet u. a. (C‑186/11 und C‑209/11, Slg, EU:C:2013:33), auf die Erwägungsgründe 8 und 14 und die Nr. 52 der streitigen Empfehlung sowie auf Passagen der Folgenabschätzung vor, diese Empfehlung stelle ein Instrument zur Harmonisierung und Liberalisierung des Marktes der Online-Glücksspiele dar, das in Widerspruch zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung von Art. 56 AEUV in diesem Bereich stehe und das die Kommission erlassen habe, ohne hierfür zuständig zu sein. Im Rahmen des fünften Klagegrundes macht das Königreich Belgien im Wesentlichen geltend, die Empfehlung sei in Wirklichkeit ein Rechtsetzungsakt. Es verweist zum einen auf die dieser Empfehlung zugrunde liegende Absicht, wie sie sich aus deren detaillierten Inhalt und der Folgenabschätzung ergebe. Zum anderen trägt es vor, dass die Kommission durch das in den Nrn. 52 bis 54 der streitigen Empfehlung geschaffene Datenkontrollsystem in Wirklichkeit auf eine Harmonisierung hinwirke, um der Politik, wie es eine Richtlinie im Sinne von Art. 288 AEUV täte, den Weg zu weisen.
61 Erstens ist, soweit sich das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen im Rahmen des zweiten Klagegrundes, wonach die streitige Empfehlung zu einer rechtswidrigen Harmonisierung und Liberalisierung im Bereich der Online-Glücksspiele führe, auf die Rechtsprechung stützen will, wonach der Richter zur Feststellung, ob eine Handlung anfechtbar ist, zum einen untersucht, ob diese Handlung Rechtswirkungen erzeugen soll, die gegenüber denen neu sind, die sich aus der Anwendung der tragenden Grundsätze des Vertrags ergeben, und dazu ihren Inhalt einer Prüfung unterwirft (vgl. in diesem Sinne Urteile Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1991:424, Rn. 10, Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1997:164, Rn. 9, und vom 20. Mai 2010, Deutschland/Kommission, T‑258/06, Slg, EU:T:2010:214, Rn. 27) und zum anderen der Frage nachgeht, ob sich diese Handlung auf die Erläuterung dieser Grundsätze beschränkt oder ob sie im Vergleich zu diesen besondere oder neue Verpflichtungen begründet (vgl. in diesem Sinne Urteile Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1993:245, Rn. 14, Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1997:164, Rn. 13, und Deutschland/Kommission, oben angeführt. EU:T:2010:214, Rn. 28), daran zu erinnern, dass die streitige Empfehlung im Wesentlichen nicht verbindlich formuliert ist und in Anbetracht ihres Wortlauts, ihres Inhalts und ihres Kontexts nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen. Dagegen waren in den Rechtssachen, die den Urteilen Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt (EU:C:1991:424), Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt (EU:C:1993:245), Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt (EU:C:1997:164), und Deutschland/Kommission (EU:T:2010:214) zugrunde lagen, die in Rede stehenden Handlungen oder zumindest die streitigen vom Gericht geprüften Passagen verbindlich abgefasst und erlegten den Mitgliedstaaten Verpflichtungen auf.
62 Somit ist es im vorliegenden Fall nicht erforderlich, den Inhalt der Erwägungen und Grundsätze in der streitigen Empfehlung mit den Bestimmungen des Vertrags in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung zu vergleichen, um festzustellen, ob die Empfehlung Grundsätze aufstellt, die sich von denen unterscheiden, die sich aus dem Vertrag und der Rechtsprechung ergeben. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, änderte sich nichts daran, dass die in dieser Empfehlung enthaltenen Grundsätze angesichts ihres Wortlauts, Inhalts und Kontexts nicht dazu bestimmt sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
63 Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass das Vorbringen des Königreichs Belgien, dass die streitige Empfehlung zu einer rechtswidrigen Harmonisierung und Liberalisierung des Online-Glücksspielmarkts führe, jedenfalls auf ein offensichtlich fehlerhaftes Verständnis dieser Empfehlung zurückzuführen ist.
64 So leitet zum einen das Königreich Belgien aus den Erwägungsgründen 8 und 14 der streitigen Empfehlung zu Unrecht ab, dass diese zum Ziel habe, den Markt der Online-Glücksspiele zu harmonisieren und zu liberalisieren. Zwar weist die Kommission dort darauf hin, dass die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Vorschriften und politische Maßnahmen eingeführt hätten, dass Maßnahmen auf Unionsebene die Mitgliedstaaten dazu anregten, ein hohes Schutzniveau in ihrem Gebiet zu schaffen, und dass Betreiber von Online-Glücksspielen mit Sitz in der Union, die zunehmend im Besitz von Mehrfachlizenzen in Mitgliedstaaten seien, von einer stärker harmonisierten Vorgehensweise profitieren könnten. Doch bekräftigt die Empfehlung in Nr. 2 ausdrücklich die Regulierungsbefugnis der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. Im Übrigen enthält sie weder eine Vorschrift noch einen Grundsatz zur Harmonisierung oder Liberalisierung dieses Marktes. Keine Nummer der Empfehlung verfolgt dieses Ziel. Im Übrigen können die genannten Erwägungsgründe, welchen Inhalt sie auch immer als Gründe, auf denen die Empfehlung beruht, haben mögen, keine Rechtswirkungen erzeugen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Beschluss vom 12. Dezember 2007, Vodafone España und Vodafone Group/Kommission, T‑109/06, Slg, EU:T:2007:384, Rn. 147 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Zum anderen ist das Argument, dass die Kommission in Nr. 52 der streitigen Empfehlung „[d]urch die ‚Aufforderung‘ … an die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Umsetzung [dieser Empfehlung] zu erlassen, offensichtlich ihre Auslegung der Art. 49 AEUV und 56 AEUV festschreiben will“, auf ein fehlerhaftes Verständnis dieser Nr. 52 zurückzuführen. Denn diese enthält keine Verpflichtung zur Umsetzung der aus dieser Empfehlung folgenden Grundsätze, sondern eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Aufforderung, alle Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Empfehlung ergriffen worden sind, mitzuteilen. Wie sich oben aus Rn. 34 ergibt, kann aus einer solchen Aufforderung nicht die Verpflichtung abgeleitet werden, sich nach dieser Empfehlung zu richten.
66 Soweit das Königreich Belgien auf Passagen über die Folgenabschätzung Bezug nimmt, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung für die Feststellung, ob eine Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, auf ihr Wesen abzustellen ist (Urteil Niederlande/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:2000:335, Rn. 27), wobei die verbindlichen Rechtswirkungen einer Handlung anhand objektiver Kriterien zu beurteilen sind, wie z. B. des Inhalts dieser Handlung, und dabei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses sowie die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil Ungarn/Kommission, oben in Rn. 16 angeführt, EU:C:2014:70, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung; siehe auch Rn. 18 oben). Im Hinblick auf diese Rechtsprechung wurde aber oben in Rn. 37 festgestellt, dass die streitige Empfehlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
67 Jedenfalls ist, abgesehen davon, dass die in Nr. 51 der Klageschrift angeführten Passagen über die Folgenabschätzung nur die verwaltungsmäßige Belastung der Betreiber der Online-Glücksspiele aufgrund der nebeneinander bestehenden nationalen Regelungen hervorheben, ohne jedoch in diesem Bereich eine Harmonisierung vorzuschlagen, dieser von beiden Parteien angeführten Einschätzung außerdem auch zu entnehmen, dass eine gesetzgeberische Initiative als nicht realisierbar beurteilt wurde (siehe oben, Rn. 36).
68 Schließlich folgert das Königreich Belgien unter diesen Umständen ebenfalls zu Unrecht aus der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung in Verbindung mit dem Urteil Stanleybet u. a., oben in Rn. 60 angeführt (EU:C:2013:33), und den Erwägungsgründen 8 und 14 sowie Nr. 52 der streitigen Empfehlung, dass die Empfehlung einen Harmonisierungseffekt habe. Aus dem Urteil Stanleybet u. a., oben in Rn. 60 angeführt (EU:C:2013:33, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung), ergibt sich, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass die Regelung der Glücksspiele zu den Bereichen gehört, in denen beträchtliche sittliche, religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen, und dass es in Ermangelung einer Harmonisierung des betreffenden Gebiets durch die Union Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, in diesen Bereichen im Einklang mit ihrer eigenen Wertordnung zu beurteilen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der betroffenen Interessen ergeben. Unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen oben in den Rn. 46 und 65 sowie des Umstands, dass die streitige Empfehlung keine Harmonisierung der Dienstleistungen im Bereich der Online-Glücksspiele vorsieht, begrenzt der Erlass dieser Empfehlung entgegen dem Vorbringen des Königreichs Belgien jedoch nicht die jedem Mitgliedstaat offenstehende Möglichkeit, im Einklang mit seiner eigenen Wertordnung zu beurteilen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der betroffenen Interessen ergeben.
69 Das gilt umso mehr, als die streitige Empfehlung, wie oben in den Rn. 31, 34 und 64 bereits festgestellt, gemäß ihrer Nr. 2 das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung in diesem Bereich unberührt lässt.
70 Zweitens ist zum Vorbringen des Königreichs Belgien, die Kommission habe Vertragsverletzungsverfahren gegen sieben Mitgliedstaaten eingeleitet, um sie zu verpflichten, der streitigen Empfehlung nachzukommen, zum einen festzustellen, dass aus den Akten nicht hervorgeht, dass diese Verfahren tatsächlich zum Ziel haben, die Einhaltung dieser Empfehlung zu gewährleisten, was die Kommission im Übrigen im Rahmen ihrer Unzulässigkeitseinrede in Abrede stellt. Zum anderen wurde die Empfehlung am 14. Juli 2014 erlassen, also nach dem vom Königreich Belgien für die Eröffnung dieser Verfahren angegebenen Zeitpunkt, dem 20. November 2013.
71 Drittens ist, was die im Rahmen des fünften Klagegrundes vorgebrachen Argumente betrifft, wonach die streitige Empfehlung einen Rechtsetzungsakt darstelle, und soweit diese Argumente dahin zu verstehen sind, dass das Königreich Belgien sich auf die oben in Rn. 61 angeführte Rechtsprechung berufen will, zunächst auf die Feststellungen oben in den Rn. 61 und 62 zu verweisen.
72 Sodann ist anzumerken, dass die vom Königreich Belgien angeführte sehr detaillierte Abfassung der Grundsätze in der streitigen Empfehlung nichts an der Feststellung ändert, dass diese Handlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen. Diese Feststellung hängt nämlich nicht mit dem Grad der Detailliertheit der mit dieser Handlung aufgestellten Grundsätze zusammen, sondern mit deren Verbindlichkeit. Oben wurde aber bereits festgestellt, dass eine solche im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
73 Was im Übrigen das Argument des Königreichs Belgien betrifft, dass die Nrn. 52 bis 54 der streitigen Empfehlung im Wesentlichen zeigten, dass diese Empfehlung eine verschleierte Richtlinie sei, so ergibt sich aus diesen Nummern, dass die Kommission die Mitgliedstaaten auffordert, ihr bestimmte Daten mitzuteilen, damit sie die Umsetzung dieser Empfehlung bewerten kann. Wie bereits oben in den Rn. 33 und 34 ausgeführt, kann der Umstand allein, dass die Kommission die Mitgliedstaaten auffordert, ihr die in Anwendung der Grundsätze der Empfehlung ergriffenen Maßnahmen mitzuteilen und ihr Daten in Bezug auf die Anwendung der in der Empfehlung aufgestellten Grundsätze zu übermitteln, nicht zu einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anwendung dieser Grundsätze führen.
74 Schließlich ist, soweit das Königreich Belgien in diesem Zusammenhang auf Passagen der Folgenabschätzung und die beiden von der Kommission vor dem Erlass der streitigen Empfehlung übermittelten Entwürfe für eine Empfehlung Bezug nimmt, auf die Erwägungen oben in Rn. 66 zu verweisen.
75 Zudem sind jedenfalls die Argumente bezüglich der Folgenabschätzung unter Hinweis auf die Erwägungen oben in Rn. 67 zurückzuweisen, ohne dass der Inhalt der angeführten Passagen dieser Abschätzung geprüft werden müsste.
76 Des Weiteren führt das Königreich Belgien in seinen Schriftsätzen die Erwägungsgründe der beiden Entwürfe einer Empfehlung an, denen zufolge die Regelungen der Mitgliedstaaten über den Schutz der Verbraucher, der Spieler und der Minderjährigen bei Online-Glücksspielen zersplittert seien, das Ziel der Empfehlung besser durch Maßnahmen auf Unionsebene erreicht werden könne, die Kommission ein Bündel gemeinsamer Grundsätze zur Sicherstellung der Information der Verbraucher in Bezug auf die Online-Glücksspiele vorschlagen wolle und geeignete und wirksame Maßnahmen zur Überwachung und Gewährleistung der Einhaltung der in diesen Entwürfen aufgestellten Grundsätze zu erlassen seien.
77 Aber selbst wenn diese Erwägungsgründe der Entwürfe einer Empfehlung für die Feststellung der von der Kommission mit der streitigen Empfehlung verfolgten Absicht zu berücksichtigen wären, kann die bloße Ankündigung einer Absicht, gemeinsame Grundsätze vorzuschlagen, weil hier auf Unionsebene vorzugehen sei, offensichtlich nicht den Nachweis erbringen, dass die streitige Empfehlung dazu bestimmt ist, verbindliche rechtliche Wirkungen zu erzeugen. Darüber hinaus spricht der Umstand, dass die streitige Empfehlung im Gegensatz zu ihren Entwürfen keinen Hinweis enthält, dass die Einhaltung der von ihr aufgestellten Grundsätze sichergestellt werden muss, mehr dafür, das die Kommission nicht die Absicht hatte, der Empfehlung verbindliche Rechtswirkungen zu verleihen.
78 Nach alledem ist festzustellen, dass keines der vom Königreich Belgien vorgebrachten Argumente das oben in Rn. 37 wiedergegebene Ergebnis widerlegen kann.
79 Außerdem ist die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit entgegen dem Vorbringen des Königreichs Belgien nicht dem Endurteil vorzubehalten.
80 Zum einen kann entgegen der Ansicht des Königreichs Belgien der bloße Umstand, dass die Kommission bei der Darstellung des rechtlichen Rahmens der Einrede der Unzulässigkeit auch zur Begründetheit des ersten Klagegrundes Stellung genommen hat, es nicht rechtfertigen, die Entscheidung über diese Einrede dem Endurteil vorzubehalten. Wie aus den vorstehenden Rn. 51 und 52 folgt, könnte nämlich selbst dann, wenn der erste sowie im Übrigen auch der dritte und der vierte Klagegrund Erfolg hätten, dies nicht dazu führen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzung des Vorliegens einer anfechtbaren Handlung entfiele.
81 Zum anderen ist zur Auffassung des Königreichs Belgien, es müsse die Begründetheit des zweiten und des fünften Klagegrundes geprüft werden, zunächst anzumerken, dass sich, wie sich aus den vorstehenden Rn. 61 und 62 ergibt, die Umstände der vorliegenden Rechtssache von denen jener Rechtssachen unterscheiden, die zu den oben in Rn. 61 angeführten Urteilen geführt haben, in denen die Zulässigkeit im Stadium der Beurteilung der Begründetheit geprüft wurde.
82 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die oben in Rn. 37 getroffene Feststellung, dass die streitige Empfehlung keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt, auf einer Prüfung ihres Wortlauts, ihres Inhalts, ihres Kontexts sowie der Absicht ihres Urhebers beruht. Diese Prüfung fällt unter die Prüfung der Zulässigkeit der vorliegenden Klage.
83 Schließlich ist zu bemerken, dass das Gericht in den Rn. 60 bis 77 des vorliegenden Beschlusses zwar einige vom Königreich Belgien im Rahmen seines zweiten und seines fünften Klagegrundes vorgebrachte Argumente geprüft hat, mit denen geltend macht wurde, dass die streitige Empfehlung ein Rechtsetzungsakt zum Zweck der Harmonisierung sei. Diese Argumente sind aber im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass sich aus dem Wortlaut, dem Inhalt und dem Kontext der Empfehlung klar ergibt, dass diese nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, wie sich insbesondere oben aus den Rn. 61, 62, 66, 71, 73 und 74 ergibt, und nur der Vollständigkeit halber sind die Argumente in materiell-rechtlicher Hinsicht geprüft worden.
84 Jedenfalls ist darauf hingewiesen worden, dass diese Argumente zum Teil auf einem unzutreffenden Verständnis der streitigen Empfehlung beruhen und offensichtlich nicht begründet sind. Somit widerspräche es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege und der Prozessökonomie, die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorzubehalten.
85 Nach alledem ist der Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und die Klage als unzulässig zurückzuweisen.
86 Unter diesen Umständen haben sich die Anträge der Hellenischen Republik und der Portugiesischen Republik auf Zulassung zur Streithilfe zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Belgien erledigt (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 5. Juli 2001, Conseil national des professions de l’automobile u. a./Kommission, C‑341/00 P, Slg, EU:C:2001:387, Rn. 36 und 37, und vom 7. Januar 2015, Freitas/Parlament und Rat, T‑185/14, EU:T:2015:14, Rn. 52).
Kosten
87 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten mit Ausnahme der Kosten im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe aufzuerlegen.
88 Im Übrigen tragen nach Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung das Königreich Belgien, die Hellenische Republik, die Portugiesische Republik und die Kommission jeweils ihre eigenen im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
beschlossen:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Die Anträge der Hellenischen Republik und der Portugiesischen Republik auf Zulassung zur Streithilfe haben sich erledigt.
3. Das Königreich Belgien trägt seine eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.
4. Das Königreich Belgien, die Hellenische Republik, die Portugiesische Republik und die Kommission tragen ihre eigenen durch die Anträge auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
Luxemburg, den 27. Oktober 2015
Der Kanzler
E. Coulon
Die Präsidentin
M. E. Martins Ribeiro
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
Parteien
In der Rechtssache T‑721/14
Königreich Belgien, Prozessbevollmächtigte: L. Van den Broeck und M. Jacobs im Beistand der Rechtsanwälte P. Vlaemminck und B. Van Vooren,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe und F. Wilman als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Empfehlung 2014/478/EU der Kommission vom 14. Juli 2014 mit Grundsätzen für den Schutz von Verbrauchern und Nutzern von Online-Glücksspieldienstleistungen und für den Ausschluss Minderjähriger von Online-Glücksspielen (ABl. L 214, S. 38)
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro (Berichterstatterin) sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise,
Kanzler: E. Coulon,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1. Am 14. Juli 2014 erließ die Europäische Kommission die Empfehlung 2014/478/EU mit Grundsätzen für den Schutz von Verbrauchern und Nutzern von Online-Glücksspieldienstleistungen und für den Ausschluss Minderjähriger von Online-Glücksspielen (ABl. L 214, S. 38, im Folgenden: streitige Empfehlung).
2. Nach einer kurzen Darstellung des Kontexts der streitigen Empfehlung in ihren Erwägungsgründen 1 bis 7, der insbesondere eine 2011 durchgeführte öffentliche Konsultation, die Mitteilung der Kommission vom 23. Oktober 2012 mit dem Titel „Ein umfassender europäischer Rahmen für das Online-Glücksspiel“, die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. September 2013 über Online-Glücksspiele im Binnenmarkt und die Rechtsprechung umfasst, nach der es in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene den Mitgliedstaaten prinzipiell freisteht, die Ziele ihrer Politik zum Glücksspielwesen festzulegen und das im Hinblick auf die Gesundheit der Verbraucher angestrebte Schutzniveau zu bestimmen, wobei der Gerichtshof aber allgemeine Leitlinien zur Auslegung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts im Bereich des Glücksspiels abgegeben und Grundregeln für die kommerzielle Kommunikation für diese Dienstleistungen aufgestellt hat, hat die Kommission in den Erwägungsgründen 8, 9, 14 und 15 dieser Empfehlung folgende Feststellungen getroffen:
„(8) Zur Verfolgung von Zielen des öffentlichen Interesses haben die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Vorschriften und politische Maßnahmen eingeführt. Maßnahmen auf Unionsebene regen die Mitgliedstaaten dazu an, ein hohes Schutzniveau in der gesamten Union zu schaffen, insbesondere vor dem Hintergrund der mit dem Glücksspiel verbundenen Risiken, zu denen die Entwicklung einer Glücksspielstörung und andere negative persönliche und soziale Folgen zählen.
(9) Ziel dieser Empfehlung ist es, die Gesundheit von Verbrauchern und Spielern zu schützen und somit auch mögliche wirtschaftliche Schäden, die durch zwanghaftes oder übermäßiges Spielen entstehen können, zu minimieren. Sie enthält daher Grundsätze, die in Bezug auf Online-Glücksspieldienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige gewährleisten sollen. Bei der Ausarbeitung dieser Empfehlung hat sich die Kommission an vorbildlichen Praktiken der Mitgliedstaaten orientiert.
…
(14) Betreiber von Online-Glücksspielen mit Sitz in der Union sind zunehmend im Besitz von Mehrfachlizenzen in Mitgliedstaaten, die sich bei der Glücksspielregulierung für ein lizenzgestütztes System entschieden haben. Diese könnten von einer stärker harmonisierten Vorgehensweise profitieren. Des Weiteren kann die Vervielfachung der zu erfüllenden Anforderungen zu einer unnötigen Verdopplung der Infrastruktur und Kosten und somit zu unnötigem Verwaltungsaufwand für die Regulierungsbehörden führen.
(15) Es ist sinnvoll, die Mitgliedstaaten zur Einführung von Vorschriften aufzufordern, damit die Verbraucher über Online-Glücksspiele informiert werden. Derartige Vorschriften sollten der Entstehung von Störungen im Zusammenhang mit Glücksspielen vorbeugen, Glücksspielangebote für Minderjährige unzugänglich machen und Verbraucher davon abhalten, unerlaubte und daher potenziell schädliche Angebote zu nutzen.“
3. Die streitige Empfehlung umfasst zwölf Abschnitte mit insgesamt 54 Nummern.
4. Die Nrn. 1 und 2 des Abschnitts I („Zweck“) der streitigen Empfehlung haben folgenden Wortlaut:
„1. Den Mitgliedstaaten wird empfohlen, durch die Übernahme von Grundsätzen für Online-Glücksspieldienstleistungen und eine verantwortungsvolle kommerzielle Kommunikation für diese Dienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige zu erzielen, um so ihre Gesundheit zu schützen und gleichzeitig mögliche wirtschaftliche Schäden, die durch zwanghaftes oder übermäßiges Spielen entstehen können, zu minimieren.
2. Das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung von Glücksspieldienstleistungen bleibt von dieser Empfehlung unberührt.“
5. Die Abschnitte III bis X der streitigen Empfehlung beziehen sich jeweils auf „Informationsanforderungen“, auf „Minderjährige“, auf „Spielerregistrierung und ‑konto“, auf „Spieleraktivität und Unterstützung“, auf „Zeitsperre und Selbstausschluss“, auf „Kommerzielle Kommunikation“, auf „Sponsoring“ sowie auf „Aufklärung und Sensibilisierung“.
6. In Abschnitt XI („Aufsicht“) Nr. 51 der streitigen Empfehlung heißt es: „Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, bei der Anwendung der in dieser Empfehlung festgelegten Grundsätze die zuständigen Glücksspiel-Regulierungsbehörden zu benennen, die die effektive Einhaltung der zur Unterstützung der Grundsätze dieser Empfehlung ergriffenen nationalen Maßnahmen in unabhängiger Weise gewährleisten und verfolgen.“
7. Die Nrn. 52 bis 54 des Abschnitts XII („Berichterstattung“) der streitigen Empfehlung lauten schließlich:
„52. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, der Kommission bis 19. Januar 2016 alle Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Empfehlung ergriffen worden sind, mitzuteilen, damit die Kommission die Umsetzung dieser Empfehlung bewerten kann.
53. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, zu statistischen Zwecken zuverlässige Jahresdaten zu sammeln über
a) die anwendbaren Schutzmaßnahmen, insbesondere über die Zahl der (eröffneten und geschlossenen) Spielerkonten, der Selbstausschlüsse, der Fälle einer Glücksspielstörung und der Beschwerden von Spielern;
b) die kommerzielle Kommunikation, aufgelistet nach Kategorie und Art der Verstöße gegen die Grundsätze.
Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, der Kommission diese Informationen erstmals bis zum 19. Juli 2016 zu übermitteln.
54. Die Kommission sollte die Umsetzung der Empfehlung bis zum 19. Januar 2017 bewerten.“
Verfahren und Anträge der Parteien
8. Das Königreich Belgien hat mit Klageschrift, die am 13. Oktober 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
9. Mit besonderem Schriftsatz, der am 19. Dezember 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Das Königreich Belgien hat am 20. Februar 2015 zu dieser Einrede Stellung genommen.
10. Mit am 12. bzw. am 16. Januar 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Schriftsätzen haben die Hellenische Republik und die Portugiesische Republik beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Belgien zugelassen zu werden.
11. Das Königreich Belgien beantragt,
– die Klage für zulässig zu erklären, hilfsweise, die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorzubehalten und eine Frist für die Stellung der Anträge für das weitere Verfahren festzusetzen, äußerst hilfsweise, erst nach Anhörung der Parteien und der Streithelferinnen über die Zulässigkeit zu entscheiden;
– der Klage stattzugeben und die streitige Empfehlung für nichtig zu erklären;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
12. Die Kommission beantragt,
– die Klage für unzulässig zu erklären;
– dem Königreich Belgien die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
13. Nach Art. 130 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts kann das Gericht auf Antrag des Beklagten vorab über die Unzulässigkeit entscheiden. Im vorliegenden Fall hält sich das Gericht aufgrund der Aktenlage für hinreichend unterrichtet und beschließt, ohne Fortsetzung des Verfahrens zu entscheiden.
14. Die Kommission erhebt gegen die vorliegende Klage eine Einrede der Unzulässigkeit mit der Begründung, dass die streitige Empfehlung keine nach Art. 263 AEUV anfechtbare Handlung darstelle. Sie vertritt im Wesentlichen die Auffassung, die streitige Empfehlung sei sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihres Inhalts eine „wirkliche“ Empfehlung im Sinne von Art. 288 AEUV, die nicht verbindlich sei und keine zwingende Verpflichtung auferlege. Hierfür sprächen die formale Präsentation dieser auf Art. 292 AEUV gestützten Empfehlung, ihr nicht verbindlich und in der Möglichkeitsform abgefasster Text sowie ihr fünfter Erwägungsgrund und ihre Nr. 2. Keines der vom Königreich Belgien in der Klageschrift vorgebrachten Argumente könne diese Einstufung der streitigen Empfehlung als nicht anfechtbare Handlung entkräften.
15. Das Königreich Belgien hält die vorliegende Klage dagegen für zulässig. Es macht im Wesentlichen unter Berufung insbesondere auf die Urteile vom 31. März 1971, Kommission/Rat, sogenanntes „AETR“-Urteil (22/70, Slg, EU:C:1971:32), und vom 13. Dezember 1989, Grimaldi (C‑322/88, Slg, EU:C:1989:646), sowie den Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes geltend, dass die streitige Empfehlung Gegenstand gerichtlicher Kontrolle sein könne. Erstens erzeuge diese Empfehlung „negative Rechtsfolgen“, da sie, wie sich aus dem ersten, dem dritten und dem vierten der in der Klageschrift angeführten Klagegründe ergebe, fundamentale Grundsätze des Unionsrechts verletze, nämlich den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen der Union untereinander und zwischen diesen und den Mitgliedstaaten. Zweitens gibt das Königreich Belgien im Rahmen des zweiten und des fünften Klagegrundes zu bedenken, dass der streitigen Empfehlung die Absicht zugrunde liege, die Anwendung der Bestimmungen der Art. 49 AEUV und 56 AEUV im Bereich der Glücksspiele zu harmonisieren, und dass sie in Wirklichkeit eine verschleierte Richtlinie sei, was der Kontrolle des Gerichts unterliege. In diesem Zusammenhang fügt das Königreich Belgien hinzu, die streitige Empfehlung erzeuge mittelbare Rechtswirkungen, da sich die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit um die Einhaltung der Empfehlung bemühen und die nationalen Gerichte die Empfehlung berücksichtigen müssten.
16. Nach ständiger Rechtsprechung sind alle von den Organen erlassenen Bestimmungen, die dazu bestimmt sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, ungeachtet ihrer Form als anfechtbare Handlungen im Sinne von Art. 263 AEUV anzusehen (Urteile AETR, oben in Rn. 15 angeführt, EU:C:1971:32, Rn. 42, vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, Slg, EU:C:2011:656, Rn. 36, und vom 13. Februar 2014, Ungarn/Kommission, C‑31/13 P, Slg, EU:C:2014:70, Rn. 54).
17. Dagegen sind alle Handlungen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, wie vorbereitende Maßnahmen, Bestätigungs- und reine Durchführungshandlungen, bloße Empfehlungen und Stellungnahmen sowie grundsätzlich auch Dienstanweisungen von der in Art. 263 AEUV vorgesehenen gerichtlichen Kontrolle ausgenommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2006, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C‑131/03 P, Slg, EU:C:2006:541, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Beschluss vom 14. Mai 2012, Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, C‑477/11 P, EU:C:2012:292, Rn. 52).
18. Nach dieser Rechtsprechung ist in die Prüfung, ob eine Handlung geeignet ist, Rechtswirkungen zu erzeugen, und folglich Gegenstand einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV sein kann, Folgendes einzubeziehen: ihr Wortlaut und der Kontext, in dem sie steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. März 1997, Frankreich/Kommission, C‑57/95, Slg, EU:C:1997:164, Rn. 18, und vom 1. Dezember 2005, Italien/Kommission, C‑301/03, Slg, EU:C:2005:727, Rn. 21 bis 23), ihr Wesen (vgl. Urteil vom 22. Juni 2000, Niederlande/Kommission, C‑147/96, Slg, EU:C:2000:335, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, vgl. auch in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 1990, Frankreich/Kommission, C‑366/88, Slg, EU:C:1990:348, Rn. 23, vom 13. November 1991, Frankreich/Kommission, C‑303/90, Slg, EU:C:1991:424, Rn. 18 bis 24, und vom 16. Juni 1993, Frankreich/Kommission, C‑325/91, Slg, EU:C:1993:245, Rn. 20 bis 23) sowie die Absicht ihres Urhebers (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Januar 2010, Internationaler Hilfsfonds/Kommission, C‑362/08 P, Slg, EU:C:2010:40, Rn. 52, und vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, Slg, EU:C:2008:422, Rn. 42).
19. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der angefochtenen Handlung um eine Empfehlung, die von der Kommission unter Bezugnahme auf Art. 292 AEUV erlassen wurde und die in der Reihe L des Amtsblatts der Europäischen Union vollständig veröffentlicht wurde. Wie sich insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 2, 9 und 15 ergibt, hat die streitige Empfehlung, die Aspekte des Schutzes der Verbraucher, einschließlich des Minderjährigenschutzes, im Bereich der Online-Glücksspieldienstleistungen, und einer verantwortungsvollen kommerziellen Kommunikation für diese Dienstleistungen miteinander verbindet, zum Ziel, die Gesundheit der Verbraucher und der Spieler zu schützen und wirtschaftliche Schäden, die durch zwanghaftes oder übermäßiges Spielen entstehen können, soweit als möglich zu minimieren. Nach ihrem Wortlaut enthält diese Empfehlung daher Grundsätze, die in Bezug auf Online-Glücksspieldienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige gewährleisten sollen, und fordert die Mitgliedstaaten zur Einführung von Vorschriften auf, damit die Verbraucher über Online-Glücksspiele informiert werden.
20. Zwar folgt aus Art. 288 Abs. 5 AEUV, dass Empfehlungen nicht verbindlich sind, doch kann nach ständiger Rechtsprechung die Wahl der Form der Maßnahme nichts an ihrem Wesen ändern, so dass zu prüfen ist, ob der Inhalt der Maßnahme der Form entspricht, die ihr zugewiesen worden ist (vgl. Urteil Grimaldi, oben in Rn. 15 angeführt, EU:C:1989:646, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist auch angesichts der oben in den Rn. 16 bis 18 angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass der Umstand allein, dass die streitige Empfehlung formell als Empfehlung bezeichnet und unter Bezugnahme auf Art. 292 AEUV erlassen worden ist, ihre Einstufung als anfechtbare Handlung nicht ohne Weiteres ausschließen kann.
21. Erstens ist zu beachten, dass die streitige Empfehlung im Wesentlichen nicht verbindlich formuliert ist.
22. Zum einen sind sowohl die Erwägungsgründe als auch die Nummern der streitigen Empfehlung üb erwiegend in der Möglichkeitsform abgefasst, wie insbesondere die Verwendung der Begriffe „sollte/sollten“ (im Französischen „devrait/devraient“, im Dänischen „bør“, im Estnischen „peaks/peaksid“, im Spanischen „debería/deberían“, im Italienischen „dovrebbe/dovrebbero“, im Niederländischen „zou moeten/zouden moeten“, im Polnischen „powinien/powinno/powinny“, im Schwedischen „bör“ und im Englischen „should“) zeigt.
23. Zum anderen heißt es in der französischen Fassung der Nrn. 1, 18, 20, 37, 47, 49 und 51 bis 53 der streitigen Empfehlung „il est recommandé aux États membres de“ [„den Mitgliedstaaten wird empfohlen“] (im Dänischen „Medlemsstaterne anbefales“, im Estnischen „Liikmesriikidel soovitatakse“, im Italienischen „si raccomanda agli Stati membri“, im Polnischen „zaleca się“, im Portugiesischen „recomenda-se aos Estados-Membros“, im Schwedischen „Medlemsstaterna rekommenderas“, im Englischen „Member States are recommended to“), „les États membres sont encouragés à“ [„die Mitgliedstaaten werden angehalten“] (im Italienischen „gli Stati membri sono incoraggiati“, im Polnischen „zachęca się“, im Portugiesischen „os Estados-Membros são incentivados/encorajados“, im Englischen „Member States are encouraged to“) oder auch „les États membres sont invités à“ [„die Mitgliedstaaten werden ersucht“] (im Dänischen „Medlemsstaterne opfordres“, im Estnischen „Liikmesriike kutsutakse üles“, im Italienischen „gli Stati membri sono invitati“, im Portugiesischen „os Estados-Membros são convidados“, im Schwedischen „Medlemsstaterna uppmanas“, im Englischen „Member States are invited to“).
24. Diese Formulierungen zeigen klar, dass der Inhalt der streitigen Empfehlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen (vgl. in diesem Sinne Urteil Italien/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:2005:727, Rn. 21 und 22).
25. Allerdings enthält die portugiesische Fassung der streitigen Empfehlung die Begriffe „deve“ (muss), „devem“ (müssen), „deverá“ (wird müssen) und „deverão“ (werden müssen).
26. Zudem sind die Nrn. 1, 20, 37, 49 und 51 bis 53 der streitigen Empfehlung in den anderen Sprachfassungen, zumindest teilweise, verbindlicher formuliert, insbesondere in der deutschen, der spanischen und der niederländischen Fassung. Auch wenn einige dieser Nummern bloße Empfehlungen aussprechen, wie die Wendungen „den Mitgliedstaaten wird empfohlen“ in Nr. 1 der Empfehlung in der deutschen Fassung, „se recomienda/anima/invita a los Estados miembros“ (den Mitgliedstaaten wird empfohlen/die Mitgliedstaaten werden ermuntert/angehalten) in den Nrn. 1, 18, 20, 37, 47 und 51 bis 53 der Empfehlung in der spanischen Fassung sowie „de lidstaten wordt aanbevolen“ (den Mitgliedstaaten wird empfohlen) und „de lidstaten worden aangemoedigd“ (die Mitgliedstaaten werden angehalten) in den Nrn. 1, 18, 20, 37, 47 und 49 der Empfehlung in der niederländischen Fassung zeigen, enthalten andere Nummern doch Verben, die eine stärkere Verbindlichkeit zum Ausdruck bringen. Das gilt für die Verben „anhalten“ und „auffordern“ in den Nrn. 20, 37, 47, 49 und 51 bis 53 der Empfehlung in der deutschen Fassung, „instar“ (auffordern) in Nr. 49 der Empfehlung in der spanischen Fassung sowie für das Verb „verzoeken“ (auffordern) in den Nrn. 51 bis 53 der Empfehlung in der niederländischen Fassung, das eine stärkere Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt als das Verb „uitnodigen“, das die übliche Übersetzung des französischen Verbs „inviter“ (ersuchen) ist.
27. Diese Unterschiede sind jedoch gering, da nicht nur die meisten der oben angeführten Sprachfassungen nicht verbindlich formuliert sind, sondern die oben in Rn. 26 angeführten Sprachversionen, von einigen Ausnahmen abgesehen, ebenfalls im Wesentlichen nicht verbindlich formuliert sind.
28. Jedenfalls muss nach ständiger Rechtsprechung, wenn die Fassung eines Textes in einer Sprache der Europäischen Union von den Fassungen abweicht, die in den anderen Sprachen erstellt wurden, die fragliche Vorschrift zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteil vom 26. April 2012, DR und TV2 Danmark, C‑510/10, Slg, EU:C:2012:244, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29. Zweitens ist festzuhalten, dass auch aus dem Inhalt der streitigen Empfehlung folgt, dass diese Handlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, und die Kommission nicht die Absicht hatte, ihr solche Rechtswirkungen zu verleihen.
30. Zunächst folgt aus den Erwägungsgründen 9 und 15 der streitigen Empfehlung, dass diese zum Ziel hat, Grundsätze aufzustellen, die in Bezug auf Online-Glücksspieldienstleistungen ein hohes Maß an Schutz für Verbraucher, Spieler und Minderjährige gewährleisten sollen, und die Mitgliedstaaten zur Einführung von Vorschriften aufzufordern, damit die Verbraucher über Online-Glücksspiele informiert werden. Ebenso folgt unzweideutig aus Nr. 1 dieser Empfehlung, dass den Mitgliedstaaten empfohlen wird, Grundsätze zu übernehmen, die im Wesentlichen auf die Erreichung dieses Ziels ausgerichtet sind.
31. Sodann wird in Nr. 2 der streitigen Empfehlung ausdrücklich klargestellt, dass das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung von Glücksspieldienstleistungen von dieser Empfehlung unberührt bleibt, woraus zu schließen ist, dass die Kommission nicht beabsichtigte, diese Dienstleistungen anstelle der Mitgliedstaaten durch den Erlass verbindlicher Rechtsvorschriften zu regulieren. In diesem Sinne ist im Übrigen anzumerken, dass die Kommission in den Erwägungsgründen 5 und 6 der streitigen Empfehlung auf die Rechtsprechung hingewiesen hat, wonach es in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene den Mitgliedstaaten prinzipiell freisteht, die Ziele ihrer Politik zum Glücksspielwesen festzulegen und das im Hinblick auf die Gesundheit der Verbraucher angestrebte Schutzniveau zu bestimmen, wobei der Gerichtshof aber allgemeine Leitlinien zur Auslegung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts im Bereich des Glücksspiels erlassen und Grundregeln für die kommerzielle Kommunikation für diese Dienstleistungen aufgestellt hat.
32. Schließlich ist anzufügen, dass die streitige Empfehlung keinen ausdrücklichen Hinweis enthält, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von ihr aufgestellten Grundsätze zu erlassen und anzuwenden.
33. Zwar geht es in den Nrn. 51 bis 53 der streitigen Empfehlung um die Anwendung der in dieser Empfehlung enthaltenen Grundsätze durch die Mitgliedstaaten. Denn zum einen betrifft Nr. 51 dieser Empfehlung die Benennung der zuständigen Glücksspiel-Regulierungsbehörden, die die effektive Einhaltung der zur Unterstützung der Grundsätze dieser Empfehlung ergriffenen nationalen Maßnahmen gewährleisten und verfolgen, und zum anderen sehen die Nrn. 52 und 53 dieser Empfehlung vor, dass der Kommission alle Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Empfehlung ergriffen worden sind, mitgeteilt werden, damit sie die Umsetzung dieser Empfehlung bewerten kann, und dass bestimmte Daten gesammelt und ihr übermittelt werden.
34. Doch ist, abgesehen davon, dass die Nrn. 51 bis 53 der streitigen Empfehlung keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsehen, die in diesem Rechtsakt aufgestellten Grundsätze tatsächlich anzuwenden, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Kommission, wie bereits oben in Rn. 31 ausgeführt, in Nr. 2 dieser Empfehlung ausdrücklich klargestellt hat, dass die Empfehlung das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung dieses Bereichs unberührt lässt. Aus den Nrn. 51 bis 53 der Empfehlung in Verbindung mit dieser Nr. 2 folgt somit nur, dass die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, Regelungen zum Schutz von Verbrauchern im Bereich von Online-Glücksspielen zu erlassen, aber in keiner Weise verpflichtet sind, den von diesem Rechtsakt aufgestellten Grundsätzen zu folgen.
35. Was im Übrigen die Mitteilung der im Rahmen der Anwendung der streitigen Empfehlung getroffenen Maßnahmen und die Übermittlung bestimmter Daten an die Kommission anbelangt, so wird dadurch trotz des Umstands, dass die Nrn. 52 und 53 dieser Empfehlung in einigen Sprachfassungen verbindlich formuliert sind (siehe oben, Rn. 26), keine diesbezügliche Verpflichtung begründet. Diese Auslegung ist nämlich nicht nur aufgrund eines Vergleichs mit den anderen Sprachfassungen der streitigen Empfehlung geboten, sondern auch im Hinblick auf die Absicht der Kommission, wie sie entsprechend den Ausführungen insbesondere oben in den Rn. 30 und 31 in dieser Empfehlung zum Ausdruck kommt.
36. Drittens ist hinzuzufügen, dass die Analyse von Wortlaut und Inhalt der streitigen Empfehlung sowie der von der Kommission verfolgten Absicht durch eine Würdigung des Kontexts, in den sie sich einfügt und wie er von den Parteien dargestellt worden ist, bestätigt wird. So ist deren Schriftsätzen zu entnehmen, dass dieser Empfehlung Diskussionen innerhalb des Rates der Europäischen Union, des Europäischen Parlaments und der Kommission vorangegangen sind. Insbesondere hat die Kommission im Rahmen ihrer Unzulässigkeitseinrede, ohne dass ihr vom Königreich Belgien widersprochen worden ist, einen Auszug aus ihrer Mitteilung vom 23. Oktober 2012 angeführt, wonach es „[i]nsgesamt … derzeit nicht angemessen [erscheint], … Rechtsvorschriften [der Union im Sektor der Online-Glücksspiele] vorzuschlagen“. Zum gleichen Ergebnis kam eine der streitigen Empfehlung beigefügte Folgenabschätzung (im Folgenden: Folgenabschätzung), die in diesem Sinne sowohl vom Königreich Belgien in seiner Klageschrift als auch von der Kommission in ihrer Unzulässigkeitseinrede angeführt worden ist.
37. Daher ist in Anbetracht des Wortlauts, des Inhalts und des Kontexts der streitigen Empfehlung festzustellen, dass diese weder verbindliche Rechtswirkungen erzeugt noch dazu bestimmt ist, dies zu tun, so dass sie nicht als anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV eingestuft werden kann.
38. Insoweit ist noch hinzuzufügen, dass die Veröffentlichung der streitigen Empfehlung in der Reihe L und nicht in der Reihe C des Amtsblatts für sich allein nicht das Ergebnis widerlegen kann, wonach diese Empfehlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
39. Zum einen hat der Gerichtshof einen Antrag auf Nichtigerklärung einer in der Reihe L des Amtsblatts veröffentlichten Handlung bereits mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass diese Handlung nicht dazu bestimmt war, Rechtswirkungen zu erzielen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 1996, Niederlande/Rat, C‑58/94, Slg, EU:C:1996:171, Rn. 27), woraus zu folgern ist, dass der Umstand allein, dass eine Handlung in der Reihe L des Amtsblatts veröffentlicht wird, keine verbindlichen Rechtswirkungen herbeiführen kann, die diese Handlung anfechtbar machen.
40. Zum anderen ist die Erwägung oben in Rn. 38 auch in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung zwingend, wonach die Form, in der ein Rechtsakt oder eine Entscheidung erlassen wird, für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Nach dieser Rechtsprechung ist es für die Qualifizierung der betreffenden Handlung grundsätzlich unerheblich, ob sie bestimmten formalen Anforderungen genügt, ob sie also u. a. vom Handelnden zutreffend bezeichnet wurde, ob sie ihre Rechtsgrundlage angibt oder ob sie unter Verstoß gegen das maßgebliche Recht nicht mitgeteilt wurde, da ein solcher Mangel das Wesen dieser Handlung nicht ändern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2010, NDSHT/Kommission, C‑322/09 P, Slg, EU:C:2010:701, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ob die Veröffentlichung in der Reihe C oder gegebenenfalls in der Reihe L des Amtsblatts erfolgt ist, ist also für sich allein nicht erheblich für die Frage, ob die in Rede stehende Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugen kann (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 15. Dezember 2005, Infront WM/Kommission, T‑33/01, Slg, EU:T:2005:461, Rn. 110).
41. Das oben in Rn. 37 festgestellte Ergebnis wird auch nicht durch die Argumente des Königreichs Belgien in Frage gestellt.
42. Erstens macht das Königreich Belgien geltend, dass eine Empfehlung Rechtswirkungen entfalten könne, soweit sie der nationale Richter aufgrund der Rechtsprechung bei der Entscheidung über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten berücksichtigen müsse und soweit die nationalen Behörden sie aufgrund der den Mitgliedstaaten obliegenden Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit beachten müssten. Dass die streitige Empfehlung formell nicht verbindlich sei, sei unerheblich angesichts der bedeutsamen rechtlichen Folgen, die sie für Zwecke der Auslegung, durch eine Neuqualifizierung oder die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit nach sich ziehe.
43. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich zwar, dass Empfehlungen, auch wenn sie nicht darauf ausgerichtet sind, bindende Wirkungen zu entfalten, und keine Rechte begründen können, auf die sich die Einzelnen vor einem nationalen Gericht berufen können, dennoch rechtlich nicht völlig wirkungslos sind. Die nationalen Gerichte sind nämlich verpflichtet, die Empfehlungen bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn sie Aufschluss über die Auslegung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften geben, die zu ihrer Durchführung erlassen wurden, oder wenn sie verbindliche Vorschriften des Unionsrechts ergänzen sollen (Urteile Grimaldi, oben in Rn. 15 angeführt, EU:C:1989:646, Rn. 7, 16 und 18, vom 11. September 2003, Altair Chimica, C‑207/01, Slg, EU:C:2003:451, Rn. 41, und vom 18. März 2010, Alassini u. a., C‑317/08 bis C‑320/08, Slg, EU:C:2010:146, Rn. 40).
44. Jedoch würde die Berücksichtigung der von der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung beschriebenen rechtlichen Wirkungen bei der Beurteilung der Anfechtbarkeit einer Empfehlung dazu führen, dass jede Empfehlung eine anfechtbare Handlung darstellen würde.
45. Dieses Ergebnis stände zum einen aber in Widerspruch zu Art. 263 AEUV in seiner Auslegung durch die oben in den Rn. 16 und 17 angeführte Rechtsprechung, wonach bloße Empfehlungen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können. Zum anderen verstieße es aber auch gegen die Rechtsprechung der zufolge für die Feststellung, ob eine Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, ihr Wesen zu untersuchen ist (Urteil Niederlande/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:2000:335, Rn. 27).
46. Infolgedessen kann allein aus den von der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung beschriebenen rechtlichen Wirkungen nicht abgeleitet werden, dass eine Empfehlung wie die streitige verbindliche Rechtswirkungen erzeugt und daher eine anfechtbare Handlung im Sinne der oben in den Rn. 16 bis 18 wiedergegebenen Rechtsprechung darstellt.
47. Aus den gleichen Gründen kann auch der Umstand, dass der Unionsrichter Empfehlungen zu Zwecken der Auslegung berücksichtigt, entgegen der Ansicht des Königreichs Belgien nicht das Vorbringen stützen, dass Empfehlungen wie die streitige verbindliche Rechtswirkungen erzeugten.
48. Im Übrigen ist zu beachten, dass das Gleiche für jene Rechtswirkungen gilt, die sich nach Auffassung des Königreichs Belgien aus der den Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit obliegende Verpflichtung – ihr Vorliegen unterstellt – ergeben, sich um die in der streitigen Empfehlung aufgestellten Grundsätze zu bemühen.
49. Zweitens macht das Königreich Belgien im Wesentlichen geltend, es müsse möglich sein, die streitige Empfehlung im Hinblick auf die fundamentalen Grundsätze des Unionsrechts einer begrenzten Kontrolle zu unterziehen, da das Fehlen einer solchen Kontrolle dem Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes zuwiderliefe. Die streitige Empfehlung erzeuge nämlich „negative Rechtswirkungen“, da sie den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, das institutionelle Gleichgewicht und die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen untereinander und zwischen diesen und den Mitgliedstaaten verletze, wie sich aus dem ersten, dem dritten und dem vierten der in der Klageschrift angeführten Klagegründe ergebe. In diesem Zusammenhang fügt das Königreich Belgien hinzu, dass nach der Rechtsprechung auch die Handlungen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugten und die unter Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit erlassen worden seien, gerichtlich nachprüfbar seien.
50. Zunächst ist festzustellen, dass diese Argumentation des Königreichs Belgien, wenn man ihr zustimmte, dazu führen würde, dass die Anfechtbarkeit der Handlung aus ihrer möglichen Rechtswidrigkeit abgeleitet würde.
51. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Schwere eines behaupteten Fehlers des betreffenden Organs oder die Erheblichkeit der Beeinträchtigung, die sich daraus für die Wahrung der Grundrechte ergeben würde, es nicht erlaubt, von der Anwendung der im Vertrag vorgesehenen unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen abzuweichen. So erlaubt eine behauptete Verletzung des institutionellen Gleichgewichts es nicht, von den im Vertrag festgelegten Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage abzuweichen (Urteil vom 15. Januar 2003, Philip Morris International/Kommission, T‑377/00, T‑379/00, T‑380/00, T‑260/01 und T‑272/01, Slg, EU:T:2003:6, Rn. 87; vgl. auch entsprechend Beschluss vom 10. Mai 2001, FNAB u. a./Rat, C‑345/00 P, Slg, EU:C:2001:270, Rn. 39 bis 42).
52. Selbst wenn die streitige Empfehlung gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung oder die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit verstieße, könnte dies nicht dazu führen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzung des Vorliegens einer anfechtbaren Handlung entfiele.
53. Sodann kann auch dem Argument des Königreichs Belgien nicht gefolgt werden, wonach sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere aus den Urteilen vom 12. Februar 2009, Kommission/Griechenland (C‑45/07, Slg, EU:C:2009:81) und vom 20. April 2010, Kommission/Schweden (C‑246/07, Slg, EU:C:2010:203) ergebe, dass rechtlich nicht verbindliche Handlungen, die unter Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit erlassen worden seien, der gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könnten.
54. Selbst wenn, wie das Königreich Belgien geltend macht, der Gerichtshof in den oben in Rn. 53 erwähnten Urteilen Verhaltensweisen, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, im Hinblick auf die Beachtung der Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit geprüft hätte, ist dennoch festzuhalten, dass diese Urteile nicht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage im Sinne von Art. 263 AEUV, sondern im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG erlassen wurden, d. h. im Rahmen eines Rechtsbehelfs, der zum Ziel hat, ein unionsrechtswidriges Verhalten eines Mitgliedstaats feststellen und beenden zu lassen (Urteil vom 7. Februar 1979, Frankreich/Kommission, 15/76 und 16/76, Slg, EU:C:1979:29, Rn. 27), und der auf der objektiven Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt beruht (vgl. Urteile vom 14. November 2002, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑140/00, Slg, EU:C:2002:653, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 4. März 2010, Kommission/Italien, C‑297/08, Slg, EU:C:2010:115, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55. Da diese beiden Rechtsbehelfe jedoch verschiedene Ziele haben und sich hinsichtlich der ihnen eigenen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterscheiden, kann der vom Königreich Belgien geltend gemachte Umstand allein, dass der Gerichtshof eine Handlung oder ein Verhalten, die keine verbindlichen Rechtswirkungen haben, im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens prüfen kann, nicht dazu führen, dass im Rahmen einer Nichtigkeitsklage dasselbe gelten muss.
56. Im Gegenteil steht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV die Argumentation des Königreichs Belgien, wonach eine nicht verbindliche Handlung im Hinblick auf die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit geprüft werden kann, in Widerspruch zu der oben in den Rn. 16, 17 und 51 angeführten Rechtsprechung.
57. Soweit das Königreich Belgien geltend macht, der Gerichtshof habe in dem Urteil Kommission/Schweden, oben in Rn. 53 angeführt (EU:C:2010:203), eine Vertragsverletzung festgestellt, da das Königreich Schweden einen von einer Arbeitsgruppe des Rates eingenommenen Standpunkt, der keine verbindlichen Rechtswirkungen entfaltet habe, nicht berücksichtigt habe, genügt die Feststellung, dass daraus keineswegs folgt, dass im Rahmen einer nach Art. 263 AEUV erhobenen Nichtigkeitsklage die Rechtmäßigkeit einer Handlung, die keine verbindlichen Rechtswirkungen hat, geprüft werden kann. Ohne dass dazu Stellung genommen werden müsste, ob ein Richter im Rahmen einer Nichtigkeitsklage einen Verstoß gegen die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit wegen Nichtberücksichtigung einer Handlung, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt, feststellen kann, ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sich in der vorliegenden Rechtssache eine andere Frage stellt, ob nämlich die streitige Empfehlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt.
58. Schließlich ist zum Verweis auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der eine nicht restriktive Auslegung der Voraussetzung bezüglich der verbindlichen Rechtswirkungen erfordere, festzustellen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwar mit den Art. 263 AEUV und 277 AEUV auf der einen Seite und Art. 267 AEUV auf der anderen Seite ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen wurde, das die – dem Unionsrichter übertragene – Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe gewährleisten soll (Urteile vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament, 294/83, Slg, EU:C:1986:166, Rn. 23, Reynolds Tobacco u. a./Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2006:541, Rn. 80, und Beschluss Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2012:292, Rn. 53), dass aber die Auslegung der Voraussetzung, dass verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden – auch wenn sie im Licht des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes erfolgen muss –, nicht zum Wegfall dieser Voraussetzung führen kann, ohne dass die den Unionsgerichten durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten würden (vgl. in diesem Sinne, Urteil Reynolds Tobacco u. a./Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2006:541, Rn. 81, und Beschluss Sepracor Pharmaceuticals [Ireland]/Kommission, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2012:292, Rn. 54).
59. Die Argumentation des Königreichs Belgien würde aber, wenn man ihr folgte, gerade zu einem Wegfall der Voraussetzung, dass verbin dliche Rechtswirkungen erzeugt werden, führen.
60. Drittens macht das Königreich Belgien mit dem zweiten und dem fünften ihrer in der Klageschrift angeführten Klagegründe geltend, die streitige Empfehlung stelle in Wirklichkeit ein Harmonisierungsinstrument und eine verschleierte Richtlinie dar. Insbesondere im Rahmen des zweiten Klagegrundes trägt es unter Verweisung auf die Urteile Grimaldi, oben in Rn. 15 angeführt (EU:C:1989:646), und vom 24. Januar 2013, Stanleybet u. a. (C‑186/11 und C‑209/11, Slg, EU:C:2013:33), auf die Erwägungsgründe 8 und 14 und die Nr. 52 der streitigen Empfehlung sowie auf Passagen der Folgenabschätzung vor, diese Empfehlung stelle ein Instrument zur Harmonisierung und Liberalisierung des Marktes der Online-Glücksspiele dar, das in Widerspruch zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung von Art. 56 AEUV in diesem Bereich stehe und das die Kommission erlassen habe, ohne hierfür zuständig zu sein. Im Rahmen des fünften Klagegrundes macht das Königreich Belgien im Wesentlichen geltend, die Empfehlung sei in Wirklichkeit ein Rechtsetzungsakt. Es verweist zum einen auf die dieser Empfehlung zugrunde liegende Absicht, wie sie sich aus deren detaillierten Inhalt und der Folgenabschätzung ergebe. Zum anderen trägt es vor, dass die Kommission durch das in den Nrn. 52 bis 54 der streitigen Empfehlung geschaffene Datenkontrollsystem in Wirklichkeit auf eine Harmonisierung hinwirke, um der Politik, wie es eine Richtlinie im Sinne von Art. 288 AEUV täte, den Weg zu weisen.
61. Erstens ist, soweit sich das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen im Rahmen des zweiten Klagegrundes, wonach die streitige Empfehlung zu einer rechtswidrigen Harmonisierung und Liberalisierung im Bereich der Online-Glücksspiele führe, auf die Rechtsprechung stützen will, wonach der Richter zur Feststellung, ob eine Handlung anfechtbar ist, zum einen untersucht, ob diese Handlung Rechtswirkungen erzeugen soll, die gegenüber denen neu sind, die sich aus der Anwendung der tragenden Grundsätze des Vertrags ergeben, und dazu ihren Inhalt einer Prüfung unterwirft (vgl. in diesem Sinne Urteile Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1991:424, Rn. 10, Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1997:164, Rn. 9, und vom 20. Mai 2010, Deutschland/Kommission, T‑258/06, Slg, EU:T:2010:214, Rn. 27) und zum anderen der Frage nachgeht, ob sich diese Handlung auf die Erläuterung dieser Grundsätze beschränkt oder ob sie im Vergleich zu diesen besondere oder neue Verpflichtungen begründet (vgl. in diesem Sinne Urteile Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1993:245, Rn. 14, Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:1997:164, Rn. 13, und Deutschland/Kommission, oben angeführt. EU:T:2010:214, Rn. 28), daran zu erinnern, dass die streitige Empfehlung im Wesentlichen nicht verbindlich formuliert ist und in Anbetracht ihres Wortlauts, ihres Inhalts und ihres Kontexts nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen. Dagegen waren in den Rechtssachen, die den Urteilen Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt (EU:C:1991:424), Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt (EU:C:1993:245), Frankreich/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt (EU:C:1997:164), und Deutschland/Kommission (EU:T:2010:214) zugrunde lagen, die in Rede stehenden Handlungen oder zumindest die streitigen vom Gericht geprüften Passagen verbindlich abgefasst und erlegten den Mitgliedstaaten Verpflichtungen auf.
62. Somit ist es im vorliegenden Fall nicht erforderlich, den Inhalt der Erwägungen und Grundsätze in der streitigen Empfehlung mit den Bestimmungen des Vertrags in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung zu vergleichen, um festzustellen, ob die Empfehlung Grundsätze aufstellt, die sich von denen unterscheiden, die sich aus dem Vertrag und der Rechtsprechung ergeben. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, änderte sich nichts daran, dass die in dieser Empfehlung enthaltenen Grundsätze angesichts ihres Wortlauts, Inhalts und Kontexts nicht dazu bestimmt sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
63. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass das Vorbringen des Königreichs Belgien, dass die streitige Empfehlung zu einer rechtswidrigen Harmonisierung und Liberalisierung des Online-Glücksspielmarkts führe, jedenfalls auf ein offensichtlich fehlerhaftes Verständnis dieser Empfehlung zurückzuführen ist.
64. So leitet zum einen das Königreich Belgien aus den Erwägungsgründen 8 und 14 der streitigen Empfehlung zu Unrecht ab, dass diese zum Ziel habe, den Markt der Online-Glücksspiele zu harmonisieren und zu liberalisieren. Zwar weist die Kommission dort darauf hin, dass die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Vorschriften und politische Maßnahmen eingeführt hätten, dass Maßnahmen auf Unionsebene die Mitgliedstaaten dazu anregten, ein hohes Schutzniveau in ihrem Gebiet zu schaffen, und dass Betreiber von Online-Glücksspielen mit Sitz in der Union, die zunehmend im Besitz von Mehrfachlizenzen in Mitgliedstaaten seien, von einer stärker harmonisierten Vorgehensweise profitieren könnten. Doch bekräftigt die Empfehlung in Nr. 2 ausdrücklich die Regulierungsbefugnis der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. Im Übrigen enthält sie weder eine Vorschrift noch einen Grundsatz zur Harmonisierung oder Liberalisierung dieses Marktes. Keine Nummer der Empfehlung verfolgt dieses Ziel. Im Übrigen können die genannten Erwägungsgründe, welchen Inhalt sie auch immer als Gründe, auf denen die Empfehlung beruht, haben mögen, keine Rechtswirkungen erzeugen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Beschluss vom 12. Dezember 2007, Vodafone España und Vodafone Group/Kommission, T‑109/06, Slg, EU:T:2007:384, Rn. 147 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65. Zum anderen ist das Argument, dass die Kommission in Nr. 52 der streitigen Empfehlung „[d]urch die ‚Aufforderung‘ … an die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Umsetzung [dieser Empfehlung] zu erlassen, offensichtlich ihre Auslegung der Art. 49 AEUV und 56 AEUV festschreiben will“, auf ein fehlerhaftes Verständnis dieser Nr. 52 zurückzuführen. Denn diese enthält keine Verpflichtung zur Umsetzung der aus dieser Empfehlung folgenden Grundsätze, sondern eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Aufforderung, alle Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Empfehlung ergriffen worden sind, mitzuteilen. Wie sich oben aus Rn. 34 ergibt, kann aus einer solchen Aufforderung nicht die Verpflichtung abgeleitet werden, sich nach dieser Empfehlung zu richten.
66. Soweit das Königreich Belgien auf Passagen über die Folgenabschätzung Bezug nimmt, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung für die Feststellung, ob eine Handlung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, auf ihr Wesen abzustellen ist (Urteil Niederlande/Kommission, oben in Rn. 18 angeführt, EU:C:2000:335, Rn. 27), wobei die verbindlichen Rechtswirkungen einer Handlung anhand objektiver Kriterien zu beurteilen sind, wie z. B. des Inhalts dieser Handlung, und dabei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses sowie die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil Ungarn/Kommission, oben in Rn. 16 angeführt, EU:C:2014:70, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung; siehe auch Rn. 18 oben). Im Hinblick auf diese Rechtsprechung wurde aber oben in Rn. 37 festgestellt, dass die streitige Empfehlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
67. Jedenfalls ist, abgesehen davon, dass die in Nr. 51 der Klageschrift angeführten Passagen über die Folgenabschätzung nur die verwaltungsmäßige Belastung der Betreiber der Online-Glücksspiele aufgrund der nebeneinander bestehenden nationalen Regelungen hervorheben, ohne jedoch in diesem Bereich eine Harmonisierung vorzuschlagen, dieser von beiden Parteien angeführten Einschätzung außerdem auch zu entnehmen, dass eine gesetzgeberische Initiative als nicht realisierbar beurteilt wurde (siehe oben, Rn. 36).
68. Schließlich folgert das Königreich Belgien unter diesen Umständen ebenfalls zu Unrecht aus der oben in Rn. 43 angeführten Rechtsprechung in Verbindung mit dem Urteil Stanleybet u. a., oben in Rn. 60 angeführt (EU:C:2013:33), und den Erwägungsgründen 8 und 14 sowie Nr. 52 der streitigen Empfehlung, dass die Empfehlung einen Harmonisierungseffekt habe. Aus dem Urteil Stanleybet u. a., oben in Rn. 60 angeführt (EU:C:2013:33, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung), ergibt sich, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass die Regelung der Glücksspiele zu den Bereichen gehört, in denen beträchtliche sittliche, religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen, und dass es in Ermangelung einer Harmonisierung des betreffenden Gebiets durch die Union Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, in diesen Bereichen im Einklang mit ihrer eigenen Wertordnung zu beurteilen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der betroffenen Interessen ergeben. Unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen oben in den Rn. 46 und 65 sowie des Umstands, dass die streitige Empfehlung keine Harmonisierung der Dienstleistungen im Bereich der Online-Glücksspiele vorsieht, begrenzt der Erlass dieser Empfehlung entgegen dem Vorbringen des Königreichs Belgien jedoch nicht die jedem Mitgliedstaat offenstehende Möglichkeit, im Einklang mit seiner eigenen Wertordnung zu beurteilen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der betroffenen Interessen ergeben.
69. Das gilt umso mehr, als die streitige Empfehlung, wie oben in den Rn. 31, 34 und 64 bereits festgestellt, gemäß ihrer Nr. 2 das Recht der Mitgliedstaaten auf Regulierung in diesem Bereich unberührt lässt.
70. Zweitens ist zum Vorbringen des Königreichs Belgien, die Kommission habe Vertragsverletzungsverfahren gegen sieben Mitgliedstaaten eingeleitet, um sie zu verpflichten, der streitigen Empfehlung nachzukommen, zum einen festzustellen, dass aus den Akten nicht hervorgeht, dass diese Verfahren tatsächlich zum Ziel haben, die Einhaltung dieser Empfehlung zu gewährleisten, was die Kommission im Übrigen im Rahmen ihrer Unzulässigkeitseinrede in Abrede stellt. Zum anderen wurde die Empfehlung am 14. Juli 2014 erlassen, also nach dem vom Königreich Belgien für die Eröffnung dieser Verfahren angegebenen Zeitpunkt, dem 20. November 2013.
71. Drittens ist, was die im Rahmen des fünften Klagegrundes vorgebrachen Argumente betrifft, wonach die streitige Empfehlung einen Rechtsetzungsakt darstelle, und soweit diese Argumente dahin zu verstehen sind, dass das Königreich Belgien sich auf die oben in Rn. 61 angeführte Rechtsprechung berufen will, zunächst auf die Feststellungen oben in den Rn. 61 und 62 zu verweisen.
72. Sodann ist anzumerken, dass die vom Königreich Belgien angeführte sehr detaillierte Abfassung der Grundsätze in der streitigen Empfehlung nichts an der Feststellung ändert, dass diese Handlung nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen. Diese Feststellung hängt nämlich nicht mit dem Grad der Detailliertheit der mit dieser Handlung aufgestellten Grundsätze zusammen, sondern mit deren Verbindlichkeit. Oben wurde aber bereits festgestellt, dass eine solche im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
73. Was im Übrigen das Argument des Königreichs Belgien betrifft, dass die Nrn. 52 bis 54 der streitigen Empfehlung im Wesentlichen zeigten, dass diese Empfehlung eine verschleierte Richtlinie sei, so ergibt sich aus diesen Nummern, dass die Kommission die Mitgliedstaaten auffordert, ihr bestimmte Daten mitzuteilen, damit sie die Umsetzung dieser Empfehlung bewerten kann. Wie bereits oben in den Rn. 33 und 34 ausgeführt, kann der Umstand allein, dass die Kommission die Mitgliedstaaten auffordert, ihr die in Anwendung der Grundsätze der Empfehlung ergriffenen Maßnahmen mitzuteilen und ihr Daten in Bezug auf die Anwendung der in der Empfehlung aufgestellten Grundsätze zu übermitteln, nicht zu einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anwendung dieser Grundsätze führen.
74. Schließlich ist, soweit das Königreich Belgien in diesem Zusammenhang auf Passagen der Folgenabschätzung und die beiden von der Kommission vor dem Erlass der streitigen Empfehlung übermittelten Entwürfe für eine Empfehlung Bezug nimmt, auf die Erwägungen oben in Rn. 66 zu verweisen.
75. Zudem sind jedenfalls die Argumente bezüglich der Folgenabschätzung unter Hinweis auf die Erwägungen oben in Rn. 67 zurückzuweisen, ohne dass der Inhalt der angeführten Passagen dieser Abschätzung geprüft werden müsste.
76. Des Weiteren führt das Königreich Belgien in seinen Schriftsätzen die Erwägungsgründe der beiden Entwürfe einer Empfehlung an, denen zufolge die Regelungen der Mitgliedstaaten über den Schutz der Verbraucher, der Spieler und der Minderjährigen bei Online-Glücksspielen zersplittert seien, das Ziel der Empfehlung besser durch Maßnahmen auf Unionsebene erreicht werden könne, die Kommission ein Bündel gemeinsamer Grundsätze zur Sicherstellung der Information der Verbraucher in Bezug auf die Online-Glücksspiele vorschlagen wolle und geeignete und wirksame Maßnahmen zur Überwachung und Gewährleistung der Einhaltung der in diesen Entwürfen aufgestellten Grundsätze zu erlassen seien.
77. Aber selbst wenn diese Erwägungsgründe der Entwürfe einer Empfehlung für die Feststellung der von der Kommission mit der streitigen Empfehlung verfolgten Absicht zu berücksichtigen wären, kann die bloße Ankündigung einer Absicht, gemeinsame Grundsätze vorzuschlagen, weil hier auf Unionsebene vorzugehen sei, offensichtlich nicht den Nachweis erbringen, dass die streitige Empfehlung dazu bestimmt ist, verbindliche rechtliche Wirkungen zu erzeugen. Darüber hinaus spricht der Umstand, dass die streitige Empfehlung im Gegensatz zu ihren Entwürfen keinen Hinweis enthält, dass die Einhaltung der von ihr aufgestellten Grundsätze sichergestellt werden muss, mehr dafür, das die Kommission nicht die Absicht hatte, der Empfehlung verbindliche Rechtswirkungen zu verleihen.
78. Nach alledem ist festzustellen, dass keines der vom Königreich Belgien vorgebrachten Argumente das oben in Rn. 37 wiedergegebene Ergebnis widerlegen kann.
79. Außerdem ist die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit entgegen dem Vorbringen des Königreichs Belgien nicht dem Endurteil vorzubehalten.
80. Zum einen kann entgegen der Ansicht des Königreichs Belgien der bloße Umstand, dass die Kommission bei der Darstellung des rechtlichen Rahmens der Einrede der Unzulässigkeit auch zur Begründetheit des ersten Klagegrundes Stellung genommen hat, es nicht rechtfertigen, die Entscheidung über diese Einrede dem Endurteil vorzubehalten. Wie aus den vorstehenden Rn. 51 und 52 folgt, könnte nämlich selbst dann, wenn der erste sowie im Übrigen auch der dritte und der vierte Klagegrund Erfolg hätten, dies nicht dazu führen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzung des Vorliegens einer anfechtbaren Handlung entfiele.
81. Zum anderen ist zur Auffassung des Königreichs Belgien, es müsse die Begründetheit des zweiten und des fünften Klagegrundes geprüft werden, zunächst anzumerken, dass sich, wie sich aus den vorstehenden Rn. 61 und 62 ergibt, die Umstände der vorliegenden Rechtssache von denen jener Rechtssachen unterscheiden, die zu den oben in Rn. 61 angeführten Urteilen geführt haben, in denen die Zulässigkeit im Stadium der Beurteilung der Begründetheit geprüft wurde.
82. Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die oben in Rn. 37 getroffene Feststellung, dass die streitige Empfehlung keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt, auf einer Prüfung ihres Wortlauts, ihres Inhalts, ihres Kontexts sowie der Absicht ihres Urhebers beruht. Diese Prüfung fällt unter die Prüfung der Zulässigkeit der vorliegenden Klage.
83. Schließlich ist zu bemerken, dass das Gericht in den Rn. 60 bis 77 des vorliegenden Beschlusses zwar einige vom Königreich Belgien im Rahmen seines zweiten und seines fünften Klagegrundes vorgebrachte Argumente geprüft hat, mit denen geltend macht wurde, dass die streitige Empfehlung ein Rechtsetzungsakt zum Zweck der Harmonisierung sei. Diese Argumente sind aber im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass sich aus dem Wortlaut, dem Inhalt und dem Kontext der Empfehlung klar ergibt, dass diese nicht dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen, wie sich insbesondere oben aus den Rn. 61, 62, 66, 71, 73 und 74 ergibt, und nur der Vollständigkeit halber sind die Argumente in materiell-rechtlicher Hinsicht geprüft worden.
84. Jedenfalls ist darauf hingewiesen worden, dass diese Argumente zum Teil auf einem unzutreffenden Verständnis der streitigen Empfehlung beruhen und offensichtlich nicht begründet sind. Somit widerspräche es den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege und der Prozessökonomie, die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorzubehalten.
85. Nach alledem ist der Einrede der Unzulässigkeit stattzugeben und die Klage als unzulässig zurückzuweisen.
86. Unter diesen Umständen haben sich die Anträge der Hellenischen Republik und der Portugiesischen Republik auf Zulassung zur Streithilfe zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Belgien erledigt (vgl. in diesem Sinne Beschlüsse vom 5. Juli 2001, Conseil national des professions de l’automobile u. a./Kommission, C‑341/00 P, Slg, EU:C:2001:387, Rn. 36 und 37, und vom 7. Januar 2015, Freitas/Parlament und Rat, T‑185/14, EU:T:2015:14, Rn. 52).
Kosten
87. Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Belgien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten mit Ausnahme der Kosten im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe aufzuerlegen .
88. Im Übrigen tragen nach Art. 144 Abs. 10 der Verfahrensordnung das Königreich Belgien, die Hellenische Republik, die Portugiesische Republik und die Kommission jeweils ihre eigenen im Zusammenhang mit den Anträgen auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
Tenor
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
beschlossen:
1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.
2. Die Anträge der Hellenischen Republik und der Portugiesischen Republik auf Zulassung zur Streithilfe haben sich erledigt.
3. Das Königreich Belgien trägt seine eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.
4. Das Königreich Belgien, die Hellenische Republik, die Portugiesische Republik und die Kommission tragen ihre eigenen durch die Anträge auf Zulassung zur Streithilfe entstandenen Kosten.
Luxemburg, den 27. Oktober 2015
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Beschluss des Gerichtshofes (Neunte Kammer) vom 21. Oktober 2015. # Kovozber s. r. o. gegen Daňový úrad Košice. # Ersuchen um Vorabentscheidung: Krajský súd v Košiciach - Slowakei. # Rechtssache C-120/15.
|
62015CO0120
|
ECLI:EU:C:2015:730
| 2015-10-21T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
|
EUR-Lex - CELEX:62015CO0120 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 30. September 2015.#Jácint Gábor Balogh gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Dél-dunántúli Regionális Adó Főigazgatósága.#Vorabentscheidungsersuchen des Szekszárdi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 213 und 214 – Unterlassene Anzeige der Aufnahme einer Tätigkeit – Steuerbefreiung für Kleinunternehmen – Ahndung.#Rechtssache C-424/14.
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62014CO0424
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ECLI:EU:C:2015:708
| 2015-09-30T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 22. Oktober 2015.#Impresa Edilux srl und Società Italiana Costruzioni e Forniture srl (SICEF) gegen Assessorato Beni Culturali e Identità Siciliana – Servizio Soprintendenza Provincia di Trapani u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Giustizia amministrativa per la Regione siciliana.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2004/18/EG – Gründe für den Ausschluss von der Teilnahme an einer öffentlichen Ausschreibung – Auftrag, der nicht den Schwellenwert für die Anwendung dieser Richtlinie erreicht – Grundregeln des AEU-Vertrags – Erklärung über die Annahme eines Legalitätsprotokolls zur Bekämpfung von Kriminalität – Ausschluss wegen der unterbliebenen Abgabe einer solchen Erklärung – Zulässigkeit – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-425/14.
|
62014CJ0425
|
ECLI:EU:C:2015:721
| 2015-10-22T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
|
62014CJ0425
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
22. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Öffentliche Aufträge — Richtlinie 2004/18/EG — Gründe für den Ausschluss von der Teilnahme an einer öffentlichen Ausschreibung — Auftrag, der nicht den Schwellenwert für die Anwendung dieser Richtlinie erreicht — Grundregeln des AEU-Vertrags — Erklärung über die Annahme eines Legalitätsprotokolls zur Bekämpfung von Kriminalität — Ausschluss wegen der unterbliebenen Abgabe einer solchen Erklärung — Zulässigkeit — Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑425/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Giustizia amministrativa per la Regione Siciliana (Rat für Verwaltungsgerichtsbarkeit der Region Sizilien, Italien) mit Entscheidung vom 9. Juli 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 17. September 2014, in dem Verfahren
Impresa Edilux Srl als Beauftragte der Bietergemeinschaft,
Società Italiana Costruzioni e Forniture Srl (SICEF)
gegen
Assessorato Beni Culturali e Identità Siciliana – Servizio Soprintendenza Provincia di Trapani,
Assessorato ai Beni Culturali e dell’Identità Siciliana,
UREGA – Sezione provinciale di Trapani,
Assessorato delle Infrastrutture e della Mobilità della Regione Siciliana,
Beteiligte:
Icogen Srl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Achten Kammer D. Šváby in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer und der Richter E. Juhász und C. Vajda (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Impresa Edilux Srl als Beauftragte der Bietergemeinschaft und der Società Italiana Costruzioni e Forniture Srl (SICEF), vertreten durch F. Lattanzi und S. Iacuzzo, avvocati,
—
der Icogen Srl, vertreten durch C. Giurdanella, avvocato,
—
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und A. Tokár als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1251/2011 der Kommission vom 30. November 2011 (ABl. L 319, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2004/18).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Impresa Edilux Srl (im Folgenden: Edilux) als Beauftragte der aus ihr selbst und der Società Italiana Costruzioni e Forniture Srl (im Folgenden: SICEF) bestehenden Bietergemeinschaft und SICEF einerseits und dem Assessorato Beni Culturali e Identità Siciliana – Servizio Soprintendenza Provincia di Trapani (Direktion für Kulturgüter und sizilianische Identität – Dienststelle der Provinz Trapani), dem Assessorato ai Beni Culturali e dell’Identità Siciliana (Direktion für Kulturgüter und sizilianische Identität), der UREGA – Sezione provinciale di Trapani (UREGA, Sektion der Provinz Trapani) und dem Assessorato delle Infrastrutture e della Mobilità della Regione Siciliana (Direktion für Infrastruktur und Mobilität der Region Sizilien) (im Folgenden zusammen: im Ausgangsverfahren in Rede stehender öffentlicher Auftraggeber) andererseits über den Ausschluss von Edilux und SICEF von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags, weil diese mit ihrem Angebot keine Erklärung über die Annahme der in einem Legalitätsprotokoll enthaltenen Klauseln abgegeben hatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 der Richtlinie 2004/18 bestimmt:
„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“
4 Nach Art. 7 Buchst. c dieser Richtlinie gilt sie für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge, deren geschätzter Wert netto ohne Mehrwertsteuer 5000000 Euro erreicht oder überschreitet.
5 Art. 45 („Persönliche Lage des Bewerbers bzw. Bieters“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Ein Bewerber oder Bieter ist von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren auszuschließen, wenn der öffentliche Auftraggeber Kenntnis davon hat, dass dieser Bewerber oder Bieter aus einem der nachfolgenden Gründe rechtskräftig verurteilt worden ist:
a)
Beteiligung an einer kriminellen Organisation …
b)
Bestechung …
c)
Betrug …
d)
Geldwäsche …
Die Mitgliedstaaten legen im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.
Sie können Ausnahmen von der in Unterabsatz 1 genannten Verpflichtung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zulassen.
…
(2) Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,
a)
der sich im Insolvenz-/Konkursverfahren oder einem gerichtlichen Ausgleichsverfahren oder in Liquidation befindet oder seine gewerbliche Tätigkeit eingestellt hat oder sich in einem Vergleichsverfahren oder Zwangsvergleich oder aufgrund eines in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen gleichartigen Verfahrens in einer entsprechenden Lage befindet;
b)
gegen den ein Insolvenz-/Konkursverfahren oder ein gerichtliches Ausgleichsverfahren oder ein Vergleichsverfahren oder ein Zwangsvergleich eröffnet wurde oder gegen den andere in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene gleichartige Verfahren eingeleitet worden sind;
c)
die aufgrund eines nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Landes rechtskräftigen Urteils wegen eines Deliktes bestraft worden sind, das ihre berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellt;
d)
die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;
e)
die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt haben;
f)
die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Steuern und Abgaben nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt haben;
g)
die sich bei der Erteilung von Auskünften, die gemäß diesem Abschnitt eingeholt werden können, in erheblichem Maße falscher Erklärungen schuldig gemacht oder diese Auskünfte nicht erteilt haben.
Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.“
Italienisches Recht
6 Art. 46 Abs. 1bis des Decreto legislativo Nr. 163 zur Schaffung eines Gesetzbuchs über öffentliche Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge in Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG (Decreto legislativo n. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE) vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006) bestimmt:
„Die Vergabestelle schließt Bewerber oder Bieter in folgenden Fällen aus: wenn die Vorgaben dieses Gesetzbuches und der Verordnung sowie der anderen geltenden Gesetzesbestimmungen nicht erfüllt sind, bei völliger Unsicherheit über den Inhalt oder die Herkunft des Angebots, wenn die Unterschrift oder andere wesentliche Angaben fehlen, wenn der Umschlag, der das Angebot oder den Teilnahmeantrag enthält, nicht unversehrt ist oder wenn andere Unregelmäßigkeiten betreffend den Verschluss der Umschläge nach den konkreten Umständen darauf hindeuten, dass der Grundsatz der Vertraulichkeit der Angebote verletzt wurde; die Bekanntmachungen und die Aufforderungsschreiben dürfen keine weiteren Vorschriften, die den Ausschluss vorsehen, enthalten. Besagte Vorschriften sind jedenfalls nichtig.“
7 In Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes Nr. 190 mit Bestimmungen zur Verhütung und Ahndung der Korruption und der Illegalität in der öffentlichen Verwaltung (Legge n. 190, disposizioni per la prevenzione e la repressione della corruzione e dell’illegalità nella pubblica amministrazione) vom 6. November 2012 (GURI Nr. 265 vom 13. November 2012, im Folgenden: Gesetz Nr. 190/2012) heißt es:
„Die Vergabestellen können in den Vergabebekanntmachungen oder Aufforderungsschreiben festlegen, dass die Nichteinhaltung der in den Legalitätsprotokollen oder Integritätspakten enthaltenen Klauseln Grund für den Ausschluss vom Vergabeverfahren ist.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Edilux und SICEF sind federführende Bevollmächtigte bzw. Bevollmächtigte einer Bietergemeinschaft. Am 20. Mai 2013 vergab der im Ausgangsverfahren in Rede stehende öffentliche Auftraggeber an sie einen Bauauftrag über die Restaurierung griechischer Tempel in Sizilien mit einem geschätzten Wert von 2271735 Euro.
9 Auf eine Beschwerde der Icogen Srl, der zweitplatzierten Bieterin im Vergabeverfahren, hob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende öffentliche Auftraggeber am 18. Juni 2013 die Entscheidung über die Vergabe des fraglichen Auftrags an Edilux und SICEF auf und vergab den Auftrag endgültig an die Icogen Srl.
10 Der im Ausgangsverfahren in Rede stehende öffentliche Auftraggeber stützte diese Aufhebung und damit den Ausschluss von Edilux und SICEF vom Vergabeverfahren darauf, dass diese – anders als nach der Übersicht in Anhang 6 der Ausschreibungsbedingungen für diesen Auftrag vorgeschrieben – mit ihrem Antrag keine Erklärung über die Annahme der im Legalitätsprotokoll enthaltenen Klauseln eingereicht hätten. In der Rubrik „Hinweise“ dieser Ausschreibungsbedingungen war ausgeführt, dass diese Erklärung ein wesentliches Schriftstück darstelle, das der Teilnehmer vorlegen müsse, da er andernfalls ausgeschlossen werde.
11 In dieser Erklärung, die sich in Kopie in den dem Gerichtshof vorgelegten Akten befindet, heißt es:
„[Der Teilnehmer an der öffentlichen Ausschreibung] verpflichtet sich im Fall der Vergabe ausdrücklich,
a.
die Vergabestelle … über den Fortschritt der Arbeiten, den Gegenstand, den Betrag und die Inhaber der Subunternehmerverträge und der abgeleiteten Verträge … sowie über die Kriterien zur Auswahl der Vertragspartner … zu informieren;
b.
der Vergabestelle jeden Versuch einer Störung, Unregelmäßigkeit oder Verzerrung während des Vergabeverfahrens und/oder der Vertragsdurchführung durch einen Beteiligten, eine zuständige Person oder eine andere Person, die die Vergabeentscheidung beeinflussen kann, mitzuteilen;
c.
mit den Polizeikräften zusammenzuarbeiten und jeden Versuch einer Erpressung, Einschüchterung oder strafbarer Beeinflussung … anzuzeigen;
d.
in die Subunternehmerverträge gleichlautende Klauseln aufzunehmen … und sich dessen bewusst zu sein, dass andernfalls etwaige Genehmigungen nicht erteilt werden.
Er erklärt ausdrücklich und feierlich,
e.
nicht (rechtlich oder tatsächlich) von anderen Konkurrenten abhängig oder mit ihnen verbunden zu sein und keinen Vertrag mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten geschlossen zu haben oder zu schließen;
f.
an andere am Vergabeverfahren beteiligten Unternehmen keinen Subunternehmerauftrag jedweder Art zu vergeben … und sich dessen bewusst zu sein, dass andernfalls diese Subunternehmerverträge nicht zugelassen werden;
g.
dass das Angebot mit den Grundsätzen der Zuverlässigkeit, der Integrität, der Unabhängigkeit und der Vertraulichkeit vereinbar ist und er sich verpflichtet, sein eigenes Verhalten an den Grundsätzen der Loyalität, der Transparenz und der Integrität auszurichten, und dass er nicht mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten übereingekommen ist oder übereinkommt, den Wettbewerb zu beschränken oder zu behindern;
h.
dass er sich im Fall der Auftragserteilung ausdrücklich verpflichtet, der Vergabestelle jeden Versuch einer Störung, Unregelmäßigkeit oder Verzerrung während des Vergabeverfahrens und/oder der Vertragsdurchführung durch einen Beteiligten, eine zuständige Person oder eine andere Person, die die Vergabeentscheidung beeinflussen kann, mitzuteilen;
i.
sich zu verpflichten, mit den Polizeikräften zusammenzuarbeiten und jeden Versuch einer Erpressung, Einschüchterung oder strafbarer Beeinflussung … anzuzeigen;
j.
sich auch ausdrücklich zu verpflichten, in die Subunternehmerverträge gleichlautende Klauseln aufzunehmen, … und sich dessen bewusst zu sein, dass andernfalls etwaige Genehmigungen nicht erteilt werden;
k.
… sich dessen bewusst zu sein, dass die angeführten Erklärungen und Verpflichtungen wesentliche Voraussetzungen für die Teilnahme am Vergabeverfahren sind, so dass das Unternehmen ausgeschlossen wird, wenn die Vergabestelle während des Vergabeverfahrens auf der Grundlage schwerwiegender, eindeutiger und übereinstimmender Indizien eine faktische Verbindung feststellt.“
12 Nachdem das Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Regionales Verwaltungsgericht für Sizilien) ihre Klage gegen die Entscheidung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftraggebers vom 18. Juni 2013 abgewiesen hatte, legten Edilux und SICEF beim Consiglio di Giustizia amministrativa per la Regione Siciliana (Rat für Verwaltungsgerichtsbarkeit der Region Sizilien) Berufung ein.
13 Das vorlegende Gericht erläutert, dass die Legalitätsprotokolle in die italienische Rechtsordnung eingeführt worden seien, um dem verhängnisvollen Phänomen von Infiltrationen der insbesondere in bestimmten Regionen Süditaliens verankerten organisierten Kriminalität vor allem im Bereich öffentlicher Aufträge vorzubeugen und es zu bekämpfen. Diese Protokolle seien außerdem wesentlich für den Schutz der Grundprinzipien des Wettbewerbs und der Transparenz, die dem italienischen Vergaberecht und dem der Europäischen Union zugrunde lägen.
14 Nach Ansicht dieses Gerichts beinhaltet Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes Nr. 190/2012, dass die öffentlichen Auftraggeber unter Androhung eines Ausschlusses verlangen können, dass zuvor die Annahme solcher Protokolle erfolgt, die erforderlich sind, um deren Klauseln Verbindlichkeit zu verleihen. Wäre nämlich die Nichteinhaltung der Klauseln erst während der Ausführung des Auftrags sanktionsbewehrt, wäre die intendierte und erklärte maximale Wirkung der Antizipation des Schutz- und Abschreckungsniveaus zunichte gemacht. Eine solche Ausschlussklausel sei darüber hinaus rechtmäßig, weil Art. 46 Abs. 1bis des Decreto legislativo Nr. 163 den Ausschluss von einem Vergabeverfahren vorsehe, wenn geltende Gesetzesbestimmungen wie die Bestimmung des Gesetzes Nr. 190/2012 nicht eingehalten würden.
15 Allerdings bestünden Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Ausschlussklausel mit dem Unionsrecht. Art. 45 der Richtlinie 2004/18, der in Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 Unterabs. 1 eine abschließende Liste von Ausschlussgründen vorsehe, enthalte keine vergleichbare Regelung. Dagegen könnte Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes Nr. 190/2012 mit Art. 45 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vereinbar sein, der Ausnahmen vom abschließenden Charakter der Ausschlussgründe aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses wie der öffentlichen Ordnung oder der Verbrechensverhütung zulasse.
16 Darüber hinaus gälten die Grundsätze des Unionsrechts selbst dann, wenn der Wert des streitigen Bauauftrags den für die Richtlinie 2004/18 maßgeblichen Schwellenwert nicht erreiche. In diesem Zusammenhang sei zu beachten, dass an diesem Auftrag ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse bestehe, da einige Bestimmungen der besonderen Verfahrensregelung für diesen Auftrag die Teilnahme von Unternehmen beträfen, die nicht in Italien ansässig seien.
17 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Giustizia amministrativa per la Regione Siciliana (Rat für Verwaltungsgerichtsbarkeit der Region Sizilien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 45 der Richtlinie 2004/18, einer Bestimmung wie Art. 1 Nr. 17 des Gesetzes Nr. 190/2012 entgegen, nach der die öffentlichen Auftraggeber vorsehen können, dass es einen rechtmäßigen Grund für den Ausschluss von Bietern, die an einer öffentlichen Ausschreibung teilnehmen, darstellt, wenn der Bieter nicht die Verpflichtungen übernommen oder ihre Übernahme nicht nachgewiesen hat, die in den sogenannten Legalitätsprotokollen („protocolli di legalità“) bzw. – allgemeiner – in Vereinbarungen zwischen öffentlichen Auftraggebern und Bietern, mit denen Infiltrationen der organisierten Kriminalität im Bereich der öffentlichen Aufträge verhindert werden sollen, enthalten sind?
2. Kann im Sinne von Art. 45 der Richtlinie 2004/18 eine in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats enthaltene Regelung, nach der die in der vorstehenden Frage beschriebene Ausschlussbefugnis besteht, als Ausnahme vom Grundsatz der erschöpfenden Aufzählung der Ausschlussgründe angesehen werden, die durch das zwingende Erfordernis, Infiltrationsversuche der organisierten Kriminalität in Verfahren der Vergabe von öffentlichen Aufträgen abzuwehren, gerechtfertigt ist?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
18 Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen betreffen die Auslegung von Art. 45 der Richtlinie 2004/18. Das vorlegende Gericht stellt jedoch in seinem Vorabentscheidungsersuchen fest, dass der Wert des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Bauauftrags den für diese Richtlinie maßgeblichen, d. h. den in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie festgelegten, Schwellenwert nicht erreicht.
19 Es ist darauf hinzuweisen, dass die besonderen, strengen Verfahren in den Richtlinien der Union zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge nur für Verträge gelten, deren Auftragswert den in den jeweiligen Richtlinien ausdrücklich festgelegten Schwellenwert überschreitet. Diese Richtlinien gelten daher nicht für Aufträge, deren Wert den dort festgelegten Schwellenwert nicht erreicht (vgl. Urteil Enterprise Focused Solutions, C‑278/14, EU:C:2015:228, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher findet Art. 45 der Richtlinie 2004/18 im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits keine Anwendung.
20 Allerdings hindert nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Vorlagefrage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. insbesondere Urteil Ville d’Ottignies-Louvain-la-Neuve u. a., C‑225/13, EU:C:2014:245, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Nach ebenfalls gefestigter Rechtsprechung ist jedoch zu beachten, dass die Vergabe von Aufträgen, die in Anbetracht ihres Wertes nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinien der Union zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge fallen, gleichwohl den Grundregeln und den allgemeinen Grundsätzen des AEU-Vertrags unterliegt, insbesondere den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie dem sich daraus ergebenden Transparenzgebot, sofern an diesen Aufträgen angesichts bestimmter objektiver Kriterien ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Enterprise Focused Solutions, C‑278/14, EU:C:2015:228, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Insoweit lässt das vorlegende Gericht die Anwendung der Grundsätze des Unionsrechts auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu und stellt in diesem Zusammenhang fest, dass ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht, da einige Bestimmungen der besonderen Verfahrensregelung für diesen Auftrag, der Gegenstand dieses Rechtsstreits ist, die Teilnahme von nicht in Italien ansässigen Unternehmen betreffen.
23 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass sich die erste Frage auf die Auslegung der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des Vertrags bezieht.
24 Dagegen braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden. Wie der Begründung der Vorlageentscheidung nämlich zu entnehmen ist, betrifft die Frage speziell Art. 45 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2004/18, der aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses Ausnahmen von der in Unterabsatz 1 dieses Absatzes genannten Verpflichtung eines öffentlichen Auftraggebers zulässt, einen Bewerber oder Bieter von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren auszuschließen, der wegen eines der in dieser Bestimmung angeführten Gründe rechtskräftig verurteilt worden ist.
Zur ersten Frage
25 Die erste Frage ist daher so zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, ob die Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des Vertrags, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie das sich daraus ergebende Transparenzgebot, dahin zu verstehen sind, dass sie einer Vorschrift des nationalen Rechts entgegenstehen, nach der ein öffentlicher Auftraggeber vorsehen kann, dass ein Bewerber oder Bieter von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossen wird, wenn er nicht mit seinem Antrag eine schriftliche Annahme der Verpflichtungen und Erklärungen abgegeben hat, die in einem Legalitätsprotokoll wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden enthalten sind, dessen Zweck es ist, Infiltrationen der organisierten Kriminalität im Bereich der öffentlichen Aufträge zu bekämpfen.
26 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten beim Erlass von Maßnahmen, die den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Transparenzgebot, die von den öffentlichen Auftraggebern in allen Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu beachten sind, gewährleisten sollen, über ein gewisses Ermessen verfügen müssen. Die einzelnen Mitgliedstaaten sind nämlich am besten in der Lage, aufgrund eigener historischer, rechtlicher, wirtschaftlicher oder sozialer Erwägungen zu bestimmen, in welchen Fällen Verhaltensweisen begünstigt werden, die zu Missständen bei der Beachtung dieses Grundsatzes und dieses Gebots führen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Serrantoni und Consorzio stabile edili, C‑376/08, EU:C:2009:808, Rn. 31 und 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts soll ein Legalitätsprotokoll wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem verhängnisvollen Phänomen von Infiltrationen der in bestimmten Regionen Süditaliens fest verankerten organisierten Kriminalität vor allem im Bereich öffentlicher Aufträge vorbeugen und es bekämpfen. Es diene außerdem dem Schutz der Grundsätze des Wettbewerbs und der Transparenz, die dem italienischen Vergaberecht und dem der Union zugrunde lägen.
28 Es ist festzustellen, dass eine Maßnahme, die sich gegen Kriminalität und Wettbewerbsverzerrungen im Bereich öffentlicher Aufträge richtet, wie die Verpflichtung, die Annahme dieser Art von Legalitätsprotokoll zu erklären, geeignet ist, die Gleichbehandlung und die Transparenz bei der Vergabe von Aufträgen zu stärken. Darüber hinaus verstößt sie nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, da diese Verpflichtung unterschiedslos jeden Bewerber oder Bieter trifft.
29 Eine solche Maßnahme darf jedoch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Serrantoni und Consorzio stabile edili, C‑376/08, EU:C:2009:808, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Insoweit ist erstens das Vorbringen von Edilux und SICEF zurückzuweisen, wonach eine Erklärung über die Annahme bestimmter Verpflichtungen ein unzureichendes Mittel sei, um die Infiltration der organisierten Kriminalität zu bekämpfen, da die Einhaltung dieser Verpflichtungen erst nach Vergabe des betreffenden Auftrags überprüft werden könne.
31 Das vorlegende Gericht führt nämlich aus, dass die Klauseln der Legalitätsprotokolle nur dann verbindlich seien, wenn sie zuvor als Voraussetzung für die Zulassung zum betreffenden Vergabeverfahren angenommen würden, und dass die maximale Wirkung der Antizipation des Schutz- und Abschreckungsniveaus zunichte gemacht würde, wenn die Nichteinhaltung der Klauseln erst während der Ausführungsphase sanktionsbewehrt wäre. Unter diesen Umständen kann unter Berücksichtigung des den Mitgliedstaaten zustehenden Ermessens, auf das in Rn. 26 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, nicht davon ausgegangen werden, dass die Pflicht, zu Beginn der Teilnahme an einer öffentlichen Ausschreibung zur Vergabe eines Auftrags die Annahme der in einem Legalitätsprotokoll enthaltenen Verpflichtungen zu erklären, über das hinausgeht, was zur Erreichung der angestrebten Ziele erforderlich ist.
32 Was zweitens den Inhalt des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Legalitätsprotokolls betrifft, bestehen die Verpflichtungen, die die Bewerber oder Bieter nach den Buchst. a bis d übernehmen müssen, im Wesentlichen darin, über den Fortschritt der Arbeiten, den Gegenstand, den Betrag und die Inhaber der Subunternehmerverträge und der abgeleiteten Verträge sowie über die Kriterien zur Auswahl der Vertragspartner zu informieren, jeden Versuch einer Störung, Unregelmäßigkeit oder Verzerrung im Vergabeverfahren und während der Vertragsdurchführung anzuzeigen, mit den Polizeikräften zusammenzuarbeiten und jeden Versuch einer Erpressung, Einschüchterung oder strafbarer Beeinflussung anzuzeigen sowie dieselben Klauseln in die Subunternehmerverträge aufzunehmen. Diese Verpflichtungen werden von den in den Buchst. h bis j dieses Protokolls enthaltenen Erklärungen erfasst.
33 Eine Erklärung wie die in Buchst. g des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Legalitätsprotokolls, nach der der Teilnehmer erklärt, nicht mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten übereingekommen zu sein oder übereinzukommen, den Wettbewerb zu beschränken oder zu verhindern, ist auf das Ziel beschränkt, die Grundsätze des Wettbewerbs und der Transparenz in den Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu schützen.
34 Solche Verpflichtungen und Erklärungen betreffen das loyale Verhalten des Bewerbers oder Bieters gegenüber dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftraggeber und die Zusammenarbeit mit den Ordnungskräften. Sie gehen daher nicht über das zur Bekämpfung von Infiltrationen der organisierten Kriminalität im Bereich der öffentlichen Aufträge Erforderliche hinaus.
35 Buchst. e des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Legalitätsprotokolls enthält jedoch eine Erklärung, nach der der Teilnehmer nicht von anderen Konkurrenten abhängig oder mit ihnen verbunden ist.
36 Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch, dass der automatische Ausschluss von Bewerbern oder Bietern, die sich in einem solchen Verhältnis zu anderen Bewerbern oder Bietern befinden, über das hinausgeht, was zur Verhinderung kollusiver Verhaltensweisen und damit zur Sicherstellung der Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Einhaltung des Transparenzgebots erforderlich ist. Ein solcher automatischer Ausschluss stellt nämlich eine unwiderlegliche Vermutung einer gegenseitigen Einflussnahme bei Angeboten für denselben Auftrag von Unternehmen dar, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen oder miteinander verbunden sind. Er schließt damit für den Bewerber oder Bieter die Möglichkeit aus, die Unabhängigkeit ihrer Angebote nachzuweisen, und läuft daher dem Unionsinteresse daran zuwider, dass die Beteiligung möglichst vieler Bieter an einer Ausschreibung sichergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Assitur, C‑538/07, EU:C:2009:317, Rn. 28 bis 30, sowie Serrantoni und Consorzio stabile edili, C‑376/08, EU:C:2009:808, Rn. 39 und 40).
37 Dieser Buchst. e enthält außerdem eine Erklärung, nach der der Teilnehmer keinen Vertrag mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten geschlossen hat oder schließen wird. Eine solche Erklärung geht dadurch, dass damit jede Vereinbarung zwischen den Beteiligten ausgeschlossen wird, und zwar auch solche, die nicht geeignet sind, den Wettbewerb zu beschränken, über das hinaus, was zur Wahrung des Grundsatzes des Wettbewerbs im Bereich der öffentlichen Aufträge erforderlich ist. Darin unterscheidet sie sich von der Erklärung nach Buchst. g des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Legalitätsprotokolls.
38 Daraus folgt, dass es gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, wenn ein Teilnehmer an einem Vergabeverfahren verpflichtet ist, zu erklären, dass er zum einen nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Konkurrenten steht oder mit ihnen verbunden ist und zum anderen keinen Vertrag mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten abgeschlossen hat, und automatisch von diesem Verfahren ausgeschlossen wird, wenn er diese Erklärung nicht abgibt.
39 Das Gleiche gilt für die Erklärung in Buchst. f des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Legalitätsprotokolls, nach der der Teilnehmer erklärt, keinen Subunternehmerauftrag an andere am Vergabeverfahren beteiligte Unternehmen zu vergeben und sich dessen bewusst zu sein, dass andernfalls diese Subunternehmerverträge nicht zugelassen werden. Eine solche Erklärung beinhaltet eine unwiderlegliche Vermutung, dass die Vergabe eines Unterauftrags durch den Zuschlagsempfänger an einen anderen an derselben Ausschreibung Beteiligten nach der Auftragsvergabe auf einer Kollusion zwischen den beiden Unternehmen beruht, ohne ihnen die Möglichkeit zu lassen, das Gegenteil zu beweisen. Daher geht eine solche Erklärung über das hinaus, was zur Verhinderung kollusiver Verhaltensweisen erforderlich ist.
40 Darüber hinaus wäre es in Anbetracht des Ziels, dem Phänomen von Infiltrationen der organisierten Kriminalität vorzubeugen und es zu bekämpfen, gemäß den Buchst. b, c, g, h, und i des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Legalitätsprotokolls dem öffentlichen Auftraggeber mitzuteilen oder gegebenenfalls den Polizeikräften anzuzeigen, wenn ein anderes an der öffentlichen Ausschreibung beteiligtes Unternehmen auf den erfolgreichen Bieter Druck ausübt, damit dieser die Ausführung dieses Auftrags an das Unternehmen weitervergibt.
41 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des Vertrags, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie das sich daraus ergebende Transparenzgebot, dahin zu verstehen sind, dass sie einer Vorschrift des nationalen Rechts nicht entgegenstehen, nach der ein öffentlicher Auftraggeber vorsehen kann, dass ein Bewerber oder Bieter von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags automatisch ausgeschlossen wird, wenn er nicht mit seinem Antrag eine schriftliche Annahme der Verpflichtungen und Erklärungen abgegeben hat, die in einem Legalitätsprotokoll wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden enthalten sind, dessen Zweck es ist, Infiltrationen der organisierten Kriminalität im Bereich der öffentlichen Aufträge zu bekämpfen. Soweit dieses Protokoll jedoch Erklärungen enthält, nach denen sich der Bewerber oder Bieter nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Bewerbern oder Bietern befindet oder mit diesen verbunden ist, keinen Vertrag mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten geschlossen hat und auch nicht schließen wird und keinerlei Aufgaben an andere an diesem Verfahren beteiligte Unternehmen weitervergeben wird, kann das Fehlen solcher Erklärungen nicht den automatischen Ausschluss des Bewerbers oder des Bieters von diesem Verfahren zur Folge haben.
Kosten
42 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:
Die Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des AEU-Vertrags, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie das sich daraus ergebende Transparenzgebot, sind dahin zu verstehen, dass sie einer Vorschrift des nationalen Rechts nicht entgegenstehen, nach der ein öffentlicher Auftraggeber vorsehen kann, dass ein Bewerber oder Bieter von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags automatisch ausgeschlossen wird, wenn er nicht mit seinem Antrag eine schriftliche Annahme der Verpflichtungen und Erklärungen abgegeben hat, die in einem Legalitätsprotokoll wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden enthalten sind, dessen Zweck es ist, Infiltrationen der organisierten Kriminalität im Bereich der öffentlichen Aufträge zu bekämpfen. Soweit dieses Protokoll jedoch Erklärungen enthält, nach denen sich der Bewerber oder Bieter nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Bewerbern oder Bietern befindet oder mit diesen verbunden ist, keinen Vertrag mit anderen am Vergabeverfahren Beteiligten geschlossen hat und auch nicht schließen wird und keinerlei Aufgaben an andere an diesem Verfahren beteiligte Unternehmen weitervergeben wird, kann das Fehlen solcher Erklärungen nicht den automatischen Ausschluss des Bewerbers oder des Bieters von diesem Verfahren zur Folge haben.
Unterschriften
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) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 15. Oktober 2015.#Grupo Itevelesa SL u. a. gegen Oca Inspección Técnica de Vehículos SA und Generalidad de Cataluña.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 AEUV und 51 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Richtlinie 2006/123/EG – Geltungsbereich – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Richtlinie 2009/40/EG – Zugang zu Tätigkeiten der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen – Ausübung durch ein privatwirtschaftliches Unternehmen – Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind – Zulassungssystem – Zwingende Gründe des Allgemeininteresses – Sicherheit des Straßenverkehrs – Geografische Verteilung – Mindestentfernung zwischen den Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen – Marktanteilsschwelle – Rechtfertigung – Eignung, das angestrebte Ziel zu erreichen – Kohärenz – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-168/14.
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62014CJ0168
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ECLI:EU:C:2015:685
| 2015-10-15T00:00:00 |
Gerichtshof, Wahl
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0168
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
15. Oktober 2015 (*
)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 49 AEUV und 51 AEUV — Niederlassungsfreiheit — Richtlinie 2006/123/EG — Geltungsbereich — Dienstleistungen im Binnenmarkt — Richtlinie 2009/40/EG — Zugang zu Tätigkeiten der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen — Ausübung durch ein privatwirtschaftliches Unternehmen — Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind — Zulassungssystem — Zwingende Gründe des Allgemeininteresses — Sicherheit des Straßenverkehrs — Geografische Verteilung — Mindestentfernung zwischen den Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen — Marktanteilsschwelle — Rechtfertigung — Eignung, das angestrebte Ziel zu erreichen — Kohärenz — Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑168/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Spanien) mit Entscheidung vom 20. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2014, in dem Verfahren
Grupo Itevelesa SL,
Applus Iteuve Technology,
Certio ITV SL,
Asistencia Técnica Industrial SAE
gegen
OCA Inspección Técnica de Vehículos SA,
Generalidad de Cataluña
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Ersten Kammer R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, A. Arabadjiev (Berichterstatter), C. Lycourgos und J.‑C. Bonichot,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Grupo Itevelesa SL, vertreten durch J. Lavilla Rubira, M. Alvarez‑Tólcheff, T. Puente Méndez, M. Barrantes Diaz und S. Rodiño Sorli, abogados,
—
der Applus Iteuve Technology, vertreten durch A. Vázquez Guillén, procurador, sowie J. Folguera Crespo, L. Moscoso del Prado González und A. Guerra Fernández, abogados,
—
der Certio ITV SL, vertreten durch R. Sorribes Calle, procuradora, sowie J. Just Sarobé und R. Miró Miró, abogados,
—
der Asistencia Técnica Industrial SAE, vertreten durch M. Marsal i Ferret, M. Ortíz‑Cañavate Levenfeld und I. Galobardes Mendonza, abogados,
—
der OCA Inspección Técnica de Vehículos SA, vertreten durch J. Macias Castaño, A. Raventós Soler und M. Velasco Muñoz Cuellar, abogados,
—
der Generalidad de Cataluña, vertreten durch N. París Domenech, abogada,
—
der spanischen Regierung, vertreten durch M. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,
—
Irlands, vertreten durch S. Kingston, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte,
—
der schwedischen Regierung, vertreten durch N. Otte Widgren, A. Falk, C. Meyer‑Seitz, U. Persson, K. Sparrman, L. Swedenborg, F. Sjövall und E. Karlsson als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa‑Lacombe und J. Rius als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Juni 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV und 51 AUEV, des Art. 2 Abs. 2 Buchst. d und i sowie der Art. 3, 9, 10 und 14 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376, S. 36, im Folgenden: Dienstleistungsrichtlinie) sowie von Art. 2 der Richtlinie 2009/40/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über die technische Überwachung der Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger (ABl. L 141, S. 12).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Grupo Itevelesa SL (im Folgenden: Itevelesa), Applus Iteuve Technology (im Folgenden: Applus), der Certio ITV SL (im Folgenden: Certio) und der Asistencia Técnica Industrial SAE (im Folgenden: ATI) einerseits und der OCA Inspección Técnica de Vehículos SA (im Folgenden: OCA) andererseits über die Rechtmäßigkeit nationaler Bestimmungen über die technische Überwachung der Kraftfahrzeuge.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Dienstleistungsrichtlinie
3 Nach dem 21. Erwägungsgrund der Dienstleistungsrichtlinie sollten „Verkehrsdienstleistungen, einschließlich des Personennahverkehrs, Taxis und Krankenwagen sowie Hafendienste, … vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen sein“.
4 Der 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestimmt, dass u. a. Zertifizierungs- und Prüftätigkeiten von der Richtlinie umfasst sind.
5 Nach Art. 1 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie enthält diese Richtlinie allgemeine Bestimmungen, die bei gleichzeitiger Gewährleistung einer hohen Qualität der Dienstleistungen die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer sowie den freien Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen.
6 Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie findet diese keine Anwendung auf „Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs einschließlich Hafendienste, die in den Anwendungsbereich von Titel [VI] des [AEU‑]Vertrags fallen“.
7 In Art. 2 Abs. 2 Buchst. i dieser Richtlinie heißt es, dass sie nicht auf „Tätigkeiten, die im Sinne des Art. [51 AEUV] mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind“ angewandt wird.
8 Art. 3 dieser Richtlinie präzisiert:
„Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung …“
9 In Art. 9 („Genehmigungsregelungen“) der Dienstleistungsrichtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
a)
die Genehmigungsregelungen sind für den betreffenden Dienstleistungserbringer nicht diskriminierend;
b)
die Genehmigungsregelungen sind durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt;
c)
das angestrebte Ziel kann nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden, insbesondere weil eine nachträgliche Kontrolle zu spät erfolgen würde, um wirksam zu sein.
…
(3) Dieser Abschnitt gilt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind.“
10 Art. 10 („Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung“) bestimmt, dass die Genehmigungsregelungen auf Kriterien beruhen müssen, die eine willkürliche Ausübung des Ermessens der zuständigen Behörden verhindern, und legt die Liste dieser Kriterien fest.
11 Art. 14 („Unzulässige Anforderungen“) sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von einer der folgenden Anforderungen abhängig machen:
…
5. einer wirtschaftlichen Überprüfung im Einzelfall, bei der die Erteilung der Genehmigung vom Nachweis eines wirtschaftlichen Bedarfs oder einer Marktnachfrage abhängig gemacht wird, oder der Beurteilung der tatsächlichen oder möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Tätigkeit oder der Bewertung ihrer Eignung für die Verwirklichung wirtschaftlicher, von der zuständigen Behörde festgelegter Programmziele; dieses Verbot betrifft nicht Planungserfordernisse, die keine wirtschaftlichen Ziele verfolgen, sondern zwingenden Gründen des Allgemeininteresses dienen;
…“
Richtlinie 2009/40
12 Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/40 heißt es:
„Im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik ist es erforderlich, dass für den Verkehr bestimmter Fahrzeuge in der Gemeinschaft sowohl hinsichtlich der Sicherheit als auch der Bedingungen des Wettbewerbs zwischen den Verkehrsunternehmen der einzelnen Mitgliedstaaten die besten Voraussetzungen gegeben sind.“
13 Im fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:
„Es sollten daher durch Einzelrichtlinien die gemeinschaftlichen Mindestvorschriften und Verfahren für die Untersuchungen in Bezug auf die in dieser Richtlinie aufgeführten Punkte festgelegt werden.“
14 Der 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie präzisiert, dass die von dieser verfolgten Ziele darin bestehen, „die Regeln für die technische Überwachung zu harmonisieren, um Wettbewerbsverzerrungen zwischen Verkehrsunternehmen zu vermeiden und um zu gewährleisten, dass die Fahrzeuge vorschriftsmäßig eingestellt und gewartet werden“.
15 Nach Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie sind die „zu untersuchenden Fahrzeuggruppen, die Zeitabstände der Untersuchungen und die Punkte, die geprüft werden müssen, … in den Anhängen I und II aufgeführt“.
16 Art. 2 der Richtlinie 2009/40 sieht vor:
„Die technische Überwachung nach dieser Richtlinie ist vom Mitgliedstaat oder von staatlich entsprechend beauftragten öffentlichen Stellen oder von Organisationen oder Einrichtungen vorzunehmen, die vom Staat dafür bestimmt und unter seiner unmittelbaren Aufsicht tätig sind, einschließlich hierfür zugelassener privatwirtschaftlicher Organisationen. Sind die mit der technischen Überwachung beauftragten Einrichtungen gleichzeitig als Kraftfahrzeugreparaturwerkstätten tätig, so tragen die Mitgliedstaaten in besonderer Weise dafür Sorge, dass die Objektivität und eine hohe Qualität der Überwachung gewahrt sind.“
Richtlinie 2014/45/EU
17 Die Richtlinie 2014/45/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die regelmäßige technische Überwachung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/40 (ABl. L 127, S. 51) sieht in ihrem dritten Erwägungsgrund Folgendes vor:
„Die technische Überwachung ist Teil eines umfassenderen Systems, mit dem dafür gesorgt werden soll, dass Fahrzeuge während ihres Betriebs in einem sicheren und umweltfreundlichen Zustand gehalten werden …“
18 Im 43. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/45 heißt es:
„Die Verkehrs- und Betriebssicherheit wirkt sich unmittelbar auf die Sicherheit des Straßenverkehrs aus und sollte aus diesem Grund regelmäßig geprüft werden …“
19 Art. 4 Abs. 2 derselben Richtlinie lautet:
„Die technische Überwachung wird von dem Mitgliedstaat, in dem das Fahrzeug zugelassen ist, oder von einer durch diesen Mitgliedstaat entsprechend beauftragten öffentlichen Stelle oder von Stellen oder Einrichtungen durchgeführt, die vom Mitgliedstaat dafür ernannt und unter seiner Aufsicht tätig sind, einschließlich ermächtigter privater Stellen.“
Spanisches Recht
20 Die Art. 35 bis 37 der am 31. Juli 2008 vom Parlament Kataloniens erlassenen Ley 12/2008 de seguridad industrial (Gesetz 12/2008 über industrielle Sicherheit) (BOE Nr. 204 vom 23. August 2008, S. 14194, im Folgenden: Gesetz 12/2008) bestimmen:
„Artikel 35. Aufgaben der Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen.
Die Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen haben die folgenden Aufgaben:
a)
Sie führen die materielle technische Untersuchung der Kraftfahrzeuge, ihrer Bestandteile und ihres Zubehörs durch.
b)
Als Vorsichtsmaßnahme verhindern sie die Benutzung von Kraftfahrzeugen, die nach der Überprüfung Sicherheitsmängel aufweisen, die eine unmittelbare Gefahr begründen.
…
Artikel 36. Anforderungen an die Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen.
1. Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen müssen die folgenden Anforderungen erfüllen, um auf dem Gebiet Kataloniens tätig werden zu dürfen:
a)
Der Regionalplan der Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, der gemäß Art. 37 Abs. 2 von der Regierung erlassen werden kann, ist einzuhalten.
b)
Die durch Verordnung festgelegte Marktanteilsschwelle je Unternehmen oder Unternehmensgruppe darf nicht überschritten werden. Diese Marktanteilsschwelle soll sicherstellen, dass ein einzelner Betreiber nicht die Dienstleistungen in einer Anzahl Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen erbringt, die mehr als die Hälfte aller in Katalonien vorhandenen Prüfstraßen ausmacht …
c)
Die Mindestentfernungen zwischen den Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen desselben Unternehmens oder derselben Unternehmensgruppe, die gemäß Art. 37 Abs. 3 von der Regierung festgelegt werden, sind einzuhalten.
…
Artikel 37. Erteilung der Zulassung an Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen.
1. Die Erteilung der Zulassung an Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen obliegt der Agencia Catalana de Seguridad Industrial [katalanische Agentur für industrielle Sicherheit]. Die Zulassung wird in einem durch Verordnung näher geregelten Verfahren für jede der Stationen gesondert erteilt.
2. Die Regierung kann, um eine angemessene Dienstleistung im Hinblick auf den vorhandenen Fahrzeugbestand und die Objektivität und Qualität der Untersuchung zu gewährleisten, durch Dekret die erforderliche Anzahl Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen und die pro Station erforderliche Anzahl Prüfstraßen bestimmen, wobei diese Zahlen auf der Grundlage des vorhandenen Fahrzeugbestands zu berechnen sind, und ihre Standorte durch einen Regionalplan festlegen …
3. Zur Sicherstellung eines wirksamen Wettbewerbs zwischen den Betreibern bestimmt die Regierung durch Dekret Mindestentfernungen zwischen Stationen desselben Unternehmens oder derselben Unternehmensgruppe. Diese Entfernungen sorgen dafür, dass es nicht zu einer regional beherrschenden Stellung eines einzelnen Betreibers kommt, wobei die jeweiligen Besonderheiten der verschiedenen Standorte der Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen zu berücksichtigen sind.
…“
21 Das am 2. März 2010 von der Regierung der Generalidad de Cataluña (Regionalregierung Kataloniens) erlassene Decreto 30/2010, por el que se aprueba el reglamento de desarrollo de la Ley 12/2008, de 31 de julio, de seguridad industrial (Dekret 30/2010 zur Annahme der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes 12/2008 über industrielle Sicherheit vom 31. Juli 2008, im Folgenden: Dekret 30/2010) und das Decreto 45/2010, por el que se aprueba el Plan territorial de nuevas estaciones de inspección técnica de vehículos de Cataluña para el periodo 2010–2014 (Dekret 45/2010 zur Annahme des Regionalplans der neuen Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen in Katalonien für den Zeitraum 2010–2014, im Folgenden: Dekret 45/2010), das am 30. März 2010 von dieser Regierung erlassen wurde, setzen die Bestimmungen des Gesetzes 12/2008 im Hinblick auf die Ansiedlung von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen um.
22 Die Art. 73 bis 75 des Dekrets 30/2010 sehen vor:
„Artikel 73.
Einhaltung des Regionalplans und Gewährleistung der Kontinuität
1. Um eine angemessene Dienstleistung für die Öffentlichkeit und eine Überwachung in Einklang mit dem bestehenden Bedarf und mit den Vorgaben in Art. 36 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes [12/2008] zu gewährleisten, haben die Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen die Festlegungen des jeweils geltenden Regionalplans über Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen einzuhalten.
…
Artikel 74.
Marktanteilsschwelle
1. In Anwendung der in Art. 36 Abs. 1 Buchst. b des Gesetzes [12/2008] vorgesehenen Regelung darf der Marktanteil jedes Unternehmens bzw. jeder Unternehmensgruppe, dem bzw. der eine Zulassung für die Erbringung der Dienstleistungen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen in Katalonien erteilt worden ist, die Hälfte nicht überschreiten …
2. Die Marktanteilsschwelle wird anhand der Anzahl der Prüfstraßen in ortsfesten Stationen, über die der jeweilige Betreiber verfügt, im Verhältnis zur Gesamtzahl solcher Prüfstraßen in Katalonien ermittelt.
Artikel 75.
Mindestentfernungen
1. Um gemäß Art. 37 Abs. 3 dieses Dekrets und Art. 36 Abs. 1 Buchst. c des Gesetzes [12/2008] einen wirksamen Wettbewerb sicherzustellen, dürfen die tatsächlichen Entfernungen zwischen den Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, für die dasselbe Unternehmen oder dieselbe Unternehmensgruppe die Zulassung besitzt, die folgenden Werte nicht unterschreiten:
a)
4 km zwischen Stationen in Gemeinden, die zum Zeitpunkt der Zulassung durch die Agencia Catalana de Seguridad Industrial mehr als 30000 Einwohner haben.
b)
20 km zwischen Stationen auf dem übrigen Gebiet Kataloniens.
c)
10 km zwischen einer Station einer Gemeinde, die zum Zeitpunkt der Zulassung mehr als 30000 Einwohner hat, und einer Station auf dem übrigen Gebiet Kataloniens.
2. Im Sinne dieser Verordnung ist die tatsächliche Entfernung die geringste Entfernung, die zum Zeitpunkt der Zulassung durch die Agencia Catalana de Seguridad Industrial bei Nutzung öffentlicher Straßen zurückgelegt werden muss, um von einer Station zur anderen zu gelangen.
3. Für das zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Dekrets bestehende Netz aus Stationen können die in Abs. 1 Buchst. a vorgesehenen Entfernungen um bis zu 20 % verringert werden.“
23 Art. 79 Abs. 1 Buchst. c des Dekrets 30/2010 präzisiert, dass die Betreiber der Stationen zur technischen Überwachung Kraftfahrzeuge in den von der anwendbaren Regelung festgelegten Fällen und im Einklang mit den von der Agencia Catalana de Seguridad Industrial erlassenen Anweisungen und Protokollen stilllegen können.
24 In der Präambel des Dekrets 45/2010 heißt es:
„… Es ist notwendig, das Angebot der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen an den bestehenden Bedarf anzupassen, sowohl hinsichtlich der Abdeckung in den regionalen Bereichen, in denen derzeit kein ausreichendes Angebot vorhanden ist, um eine Annäherung des Dienstleistungsangebots an die Zahl der Nutzer zu erreichen, als auch um das in Gebieten mit sehr stark ausgelasteten Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen bestehende, mit langen Wartezeiten verbundene Dienstleistungsdefizit zu verringern.
Bei der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen ist wegen der räumlichen Gegebenheiten eine übermäßige Konzentration des Angebots in einem bestimmten Gebiet aus rein wirtschaftlichen Erwägungen zum Nachteil anderer Gebiete, die wegen eines geringeren Fahrzeugbestands nicht über eine ausreichende Abdeckung verfügen, mit den sich daraus ergebenden Gefahren für die Nutzer zu vermeiden. Zum anderen könnte in den Gebieten mit einer wegen des Fahrzeugaufkommens besonders hohen Nachfrage eine erhöhte Konzentration der Stationen zu einer Tendenz der Betreiber, aus Wettbewerbsgründen ihre Anforderungen zu senken, und infolgedessen zu einer Verschlechterung der Qualität der Dienstleistung beitragen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
25 Am 5. Mai 2010 erhob OCA, einer der spanischen Betreiber, der die technische Überwachung von Kraftfahrzeugen sicherstellt, beim Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Oberster Gerichtshof von Katalonien, Spanien) mit der Begründung, dass die Regulierung der Betreiber von Überwachungseinrichtungen im Bereich der industriellen Sicherheit, die diese einer verwaltungsrechtlichen Genehmigungsregelung unterwerfe, sowie die Festlegung der Bedingungen und Verpflichtungen in dieser Genehmigungsregelung gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstießen, eine verwaltungsrechtliche Klage auf teilweise Nichtigerklärung des Dekrets 30/2010 und vollständige Nichtigerklärung des Dekrets 45/2010.
26 Vier weitere Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, Itevelesa, Applus, Certio und ATI, sowie die Generalidad de Cataluña reichten schriftliche Erklärungen ein, mit denen sie geltend machten, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dekrete rechtmäßig seien.
27 Mit Urteil vom 25. April 2012 erklärte das Tribunal Superior de Justicia de Cataluña auf das Rechtsmittel hin zum einen die Bestimmungen des Dekrets 30/2010 über die Zulassungsregelung für Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen (im Folgenden: Betreiber) und zum anderen das Dekret 45/2010 insgesamt mit der Begründung für nichtig, dass diese Regelung gegen die Ley 17/2009 sobre el libre acceso a las actividades de servicios y su ejercicio (Gesetz 17/2009 über den freien Zugang zu Dienstleistungstätigkeiten und ihre Ausübung) vom 23. November 2009 verstoße, die die Dienstleistungsrichtlinie in spanisches Recht umsetze.
28 Itevelesa, Applus, Certio und ATI legten gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) ein. Dieses Gericht gab dem Antrag der Generalidad de Cataluña statt, an dem Verfahren als Rechtsmittelgegnerin beteiligt zu werden.
29 Im Rahmen dieser Rechtsmittel hat das vorlegende Gericht Zweifel an der Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie auf die Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, da Art. 2 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie seiner Auffassung nach Gegenstand zweier verschiedener Auslegungen sein kann. Nach einer ersten Auslegung stünden Einrichtungen zur technischen Überwachung in Verbindung mit der Straßenverkehrssicherheit und fielen damit unter die gemeinsame Verkehrspolitik. Nach einer zweiten Auslegung gehörten die Dienstleistungen der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, die von gewerblichen Unternehmen gegen ein vom Nutzer entrichtetes Entgelt erbracht würden, zu den Zertifizierungs- und Prüftätigkeiten, die nach dem 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie in ihren Anwendungsbereich fielen.
30 Ferner fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Befugnis zur vorläufigen Stilllegung der Fahrzeuge, über die die Betreiber verfügen, zu den „Tätigkeiten, die … mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. i der Dienstleistungsrichtlinie gehört.
31 Das Gericht stellt sich außerdem die Frage, in welchem Verhältnis diese Richtlinie und die Richtlinie 2009/40 zueinander stehen, wenn es darum geht, ob der Zugang zur Tätigkeit der technischen Überwachung einer Genehmigungsregelung unterworfen werden kann. In dieser Hinsicht bezieht es sich auf das Urteil Kommission/Portugal (C‑438/08, EU:C:2009:651), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass die Richtlinie 2009/40 keine Bestimmung zum Zugang zur Tätigkeit der Überwachung von Kraftfahrzeugen enthält.
32 Schließlich beziehen sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts auf die Verpflichtung, die im Rahmen der durch die nationalen Bestimmungen eingeführten Zulassungsregelung auf den Betreibern laste, sich an einen Regionalplan zu halten, der zur Sicherstellung einer angemessenen regionalen Abdeckung, der Qualität der Dienstleistung und des Wettbewerbs zwischen den Betreibern die Zahl der Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen auf der Grundlage von zwei Kriterien begrenze, nämlich erstens dem Erfordernis einer Mindestentfernung zwischen den Stationen desselben Unternehmens oder derselben Unternehmensgruppe, und zweitens dem Verbot, einen Marktanteil von mehr als 50 % zu halten. In dieser Hinsicht sei die katalanische Wettbewerbsbehörde davon ausgegangen, dass diese Kriterien nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt seien und dass der Regionalplan den Wettbewerb in ungerechtfertigter Weise einschränke, indem er den Marktzugang für neue Betreiber beschränke.
33 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Sind gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie die Tätigkeiten zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen, wenn sie im Einklang mit den nationalen Bestimmungen durch private Unternehmen unter der Aufsicht der Verwaltung eines Mitgliedstaats durchgeführt werden?
2. Falls die erste Frage zu verneinen ist (also Tätigkeiten zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie fallen), ist auf diese Tätigkeiten die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. i der Richtlinie vorgesehene Ausnahme anwendbar, weil die privaten Unternehmen, die die Dienstleistungen erbringen, ermächtigt sind, als Vorsichtsmaßnahme die Stilllegung von Fahrzeugen anzuordnen, die so schwerwiegende Sicherheitsmängel aufweisen, dass ihre Teilnahme am Straßenverkehr eine unmittelbare Gefahr darstellen würde?
3. Falls die Dienstleistungsrichtlinie auf Tätigkeiten zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen anwendbar ist, ist sie in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 2009/40 so auszulegen, dass es jedenfalls zulässig ist, diese Tätigkeit von der vorherigen Erteilung einer behördlichen Zulassung abhängig zu machen? Kommt es für die Antwort auf die Feststellungen in Rn. 26 des Urteils des Gerichtshofs Kommission/Portugal (C‑438/08, EU:C:2009:651) an?
4. Ist eine nationale Regelung, die die Anzahl der Zulassungen für Einrichtungen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen dem Inhalt eines Regionalplans unterwirft, in dem als Gründe für die zahlenmäßige Begrenzung u. a. die Sicherstellung einer hinreichenden regionalen Deckung, die Sicherstellung der Qualität der Dienstleistung und die Förderung des Wettbewerbs unter den Betreibern angeführt werden, und der zu diesem Zweck Elemente der Wirtschaftsplanung umfasst, mit den Art. 10 und 14 der Dienstleistungsrichtlinie oder, falls diese nicht anwendbar ist, mit Art. 49 AEUV vereinbar?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
34 Applus und ATI bestreiten die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung, dass der Ausgangsrechtsstreit keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweise und einen rein innerstaatlichen Sachverhalt betreffe.
35 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende – die ihrem Wortlaut nach unterschiedslos auf spanische Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten anwendbar ist – im Allgemeinen nur dann unter die Bestimmungen über die vom AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten fallen kann, wenn sie für Sachlagen gilt, die eine Verbindung zum Handel zwischen den Mitgliedstaaten aufweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil Sokoll-Seebacher, C‑367/12, EU:C:2014:68, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im vorliegenden Fall kann allerdings keineswegs ausgeschlossen werden, dass Unternehmen mit einem Sitz in anderen Mitgliedstaaten als dem Königreich Spanien daran interessiert waren oder sind, Tätigkeiten zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen in dem zuletzt genannten Mitgliedstaat anzubieten.
37 Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.
Zur Beantwortung der Fragen
Zur ersten Frage
38 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Dienstleistungsrichtlinie auf Tätigkeiten zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen anwendbar ist.
39 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie nach ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. d keine Anwendung auf „Verkehrsdienstleistungen einschließlich Hafendienste, die in den Anwendungsbereich von Titel [VI] des [AEU‑]Vertrags fallen“ findet.
40 Da der Begriff der „Verkehrsdienstleistungen“ im Sinne dieser Bestimmung von der Dienstleistungsrichtlinie nicht ausdrücklich definiert wird, ist seine Reichweite einzugrenzen.
41 Erstens ist im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie hervorzuheben, dass der Begriff, der von dieser Bestimmung in allen Sprachfassungen mit Ausnahme der in der deutschen Sprache verwendet wird, nämlich „Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs“, eine größere Reichweite aufweist als der Ausdruck „Verkehrsdienstleistungen“, wie er im 21. Erwägungsgrund dieser Richtlinie verwendet wird, um „Personennahverkehr, Taxis und Krankenwagen sowie Hafendienste“ zu bezeichnen.
42 Im Hinblick auf diese sprachliche Abweichung ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen kann. Die Vorschriften des Unionsrechts müssen nämlich im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. Urteil Kurcums Metal, C‑558/11, EU:C:2012:721, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist jedoch festzustellen, dass alle Sprachfassungen von Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie mit Ausnahme der Fassung in deutscher Sprache ausdrücklich den Begriff „Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs“ verwenden, der daher Geltung beansprucht. Diese Schlussfolgerung wird auch durch die allgemeine Systematik und den Zweck dieser Vorschrift gestützt.
44 Aus den Vorarbeiten zur Dienstleistungsrichtlinie geht nämlich hervor, dass der Ausschluss der „Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs“ bewusst in Begriffe gekleidet wurde, die dem Wortlaut von Art. 51 EG, jetzt Art. 58 AEUV, entsprechen sollten, dessen Abs. 1 bestimmt, dass „[f]ür den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs … die Bestimmungen des Titels über den Verkehr [gelten]“.
45 Die Verwendung des Begriffs „Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs“ zeigt so den Willen des Gesetzgebers der Europäischen Union, den in Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie genannten Ausschluss nicht nur auf die Verkehrsmittel selbst als solche zu beschränken.
46 Daher ist dieser Ausschluss, wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, so auszulegen, dass er nicht nur jede körperliche Handlung der Beförderung von Personen oder Waren von einem Ort zum anderen mittels eines Land-, Luft- oder Wasserfahrzeugs umfasst, sondern auch jede Dienstleistung, die naturgemäß mit einer solchen Handlung verbunden ist.
47 Die Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen stellt sich zwar als Ergänzung zu Verkehrsdienstleistungen dar. Allerdings ist eine solche Überwachung eine vorgelagerte und unverzichtbare Bedingung für die Ausübung der Haupttätigkeit, nämlich den Transport, wie sich aus dem Ziel der Verkehrssicherheit ergibt, das der Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen zugrunde liegt.
48 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass diese Auslegung gestützt wird durch das Ziel der Richtlinie 2009/40, die sich auf die Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen bezieht, die, auch wenn sie, wie der Gerichtshof im Urteil Kommission/Portugal (C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 26) entschieden hat, keine Vorschrift über die Regelung des Zugangs zur Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen enthält, den Inhalt dieser Tätigkeit regelt und ausdrücklich, wie ihr zweiter Erwägungsgrund ausführt, der Sicherstellung der Straßenverkehrssicherheit dient. Diese Zielsetzung ergibt sich außerdem aus den Erwägungsgründen 3 und 43 der Richtlinie 2014/45, die an die Stelle der Richtlinie 2009/40 getreten ist.
49 Hierzu ist festzustellen, dass die Richtlinien 2009/40 und 2014/45 auf der Grundlage von Art. 71 EG (Richtlinie 2009/40) bzw. Art. 91 AEUV (Richtlinie 2014/45) erlassen wurden. Beide Bestimmungen sind im EG-Vertrag bzw. im AEU-Vertrag in dem Titel „Verkehr“ aufgeführt und stellen die Rechtsgrundlage dar, die den Unionsgesetzgeber ausdrücklich ermächtigt, „Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit“ zu erlassen. Aus den Vorarbeiten zur Dienstleistungsrichtlinie ergibt sich aber, dass der Unionsgesetzgeber Dienstleistungen, die durch nach Art. 71 EG ergangene Entscheidungen geregelt werden, aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließen wollte.
50 Daher sind die Tätigkeiten der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen als „Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie aufzufassen.
51 Soweit das vorlegende Gericht darauf verweist, dass diese Tätigkeiten zu den Zertifizierungs- und Prüftätigkeiten gehören, ist festzustellen, dass der Umstand, dass diese nach dem 33. Erwägungsgrund der Dienstleistungsrichtlinie von dieser Richtlinie umfasst sind, für den grundsätzlichen Ausschluss der Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ohne Belang ist.
52 Daher ist festzustellen, dass die Dienstleistungsrichtlinie auf die Tätigkeit der Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen nicht anwendbar ist, die, da sie zu den Dienstleistungen im Bereich des Verkehrs gehört, nach Art. 58 Abs. 1 AEUV auch nicht den Bestimmungen des AEU-Vertrags zur Dienstleistungsfreiheit unterliegt.
53 Unter diesen Umständen ist die in Rede stehende nationale Regelung am Maßstab der Vorschriften des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit zu prüfen, die auf den Verkehr unmittelbar und nicht über den Titel dieses Vertrags über den Verkehr Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil Yellow Cab Verkehrsbetrieb, C‑338/09, EU:C:2010:814, Rn. 33).
54 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Tätigkeiten der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen sind.
Zur zweiten Frage
55 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 51 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Tätigkeiten von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, wie den von der in Katalonien anwendbaren Regelung bezeichneten, in Anbetracht der Befugnis zur Stilllegung, über die die Betreiber dieser Stationen verfügen, wenn die Kraftfahrzeuge bei der Prüfung Sicherheitsmängel aufweisen, die eine unmittelbare Gefahr darstellen, mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.
56 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits mit Bezug auf die Tätigkeiten von durch privatwirtschaftliche Organisationen in Portugal betriebenen Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen entschieden hat, dass die Entscheidung über die Erteilung oder Versagung der Bescheinigung der technischen Überprüfung der Entscheidungsautonomie entbehrt, die der Ausübung hoheitlicher Befugnisse eigen ist, und im Rahmen einer staatlichen Aufsicht ergeht (vgl. Urteil Kommission/Portugal, C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 41). Ferner hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass diese Organisationen im Rahmen ihrer Tätigkeiten nicht über Zwangsbefugnisse verfügen, da die Sanktionen bei einem Verstoß gegen die Vorschriften über die Fahrzeuguntersuchung in die Zuständigkeit der Polizei- und Justizbehörden fallen (vgl. Urteil Kommission/Portugal, C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 44).
57 Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass Art. 2 der Richtlinie 2009/40 für den Fall, dass die Mitgliedstaaten die Wahl treffen, die Tätigkeiten der technischen Überwachung an privatwirtschaftliche Organisationen zu übertragen, ausdrücklich eine unmittelbare Beaufsichtigung dieser Organisationen durch den Staat vorsieht.
58 Genau diese staatliche Aufsicht wurde von der in Rede stehenden nationalen Regelung, Art. 79 Abs. 1 Buchst. c des Dekrets 30/2010, eingeführt, nach dem die Entscheidung zur Stilllegung nur „in den von der anwendbaren Regelung festgelegten Fällen“ und „im Einklang mit den von der Agencia Catalana de Seguridad Industrial erlassenen Anweisungen und Protokollen“ ergehen darf.
59 Zum anderen ist in Anbetracht der Informationen, die das vorlegende Gericht in Beantwortung eines vom Gerichtshof nach Art. 101 seiner Verfahrensordnung gestellten Ersuchens um Klarstellung übermittelt hat, festzustellen, dass der Eigentümer eines stillgelegten Fahrzeugs die Möglichkeit hat, bei einem technischen Referenten, der Beamter der mit der Beaufsichtigung und der Kontrolle der Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen betrauten Behörde ist, einen Widerspruch einzulegen, und dass dieser Beauftragte die Stilllegungsentscheidung abändern kann. Bei einem Widerspruch des Eigentümers des Kraftfahrzeugs gegen die Stilllegung sind ferner allein die für den Bereich des Verkehrs und der Polizei zuständigen Behörden der Regierung der Generalidad de Cataluña befugt, Zwangsmaßnahmen oder die Ausübung physischen Zwangs anzuordnen.
60 Die Befugnis zur Stilllegung eines Fahrzeugs, über die die Betreiber von Stationen zur technischen Überwachung verfügen, wenn sie Mängel feststellen, die eine unmittelbare Gefahr darstellen, unterliegt somit einer Beaufsichtigung durch die zuständigen Behörden und ist mit keinerlei Befugnissen für Zwangsmaßnahmen oder die Ausübung von physischem Zwang verbunden. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie als solche unmittelbar und spezifisch zur Ausübung öffentlicher Gewalt zählt.
61 Nach alledem ist Art. 51 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass die Tätigkeiten von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, wie den von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung bezeichneten, trotz des Umstands, dass die Betreiber dieser Stationen über eine Befugnis zur Stilllegung verfügen, wenn die Fahrzeuge bei der Prüfung Sicherheitsmängel aufweisen, die eine unmittelbare Gefahr darstellen, nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Bestimmung verbunden sind.
Zur dritten und zur vierten Frage
62 Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen Betreibern vorbehält, die im Besitz einer behördlichen Zulassung sind, deren Erteilung daran geknüpft ist, dass sich diese Betreiber an einen Regionalplan halten, der als Bedingung sowohl eine Mindestentfernung als auch einen maximalen Marktanteil enthält.
63 Erstens hat der Gerichtshof im Hinblick auf die Verpflichtung zur Einholung einer behördlichen Zulassung zur Ausübung der Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen bereits Gelegenheit zu der Feststellung gehabt, dass die Richtlinie 2009/40 keine Vorschrift zu den Zugangsbedingungen für diese Tätigkeit enthält (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Portugal, C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 26).
64 Wegen des Fehlens einer Harmonisierung in dieser Hinsicht bleiben die Mitgliedstaaten befugt, diese Bedingungen festzulegen, wobei sie jedoch gehalten sind, ihre Befugnisse unter Beachtung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil Nasiopoulos, C‑575/11, EU:C:2013:430, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
65 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Art. 2 der Richtlinie 2009/40 diese Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ausdrücklich bestätigt, da es dort heißt, dass die technische Überwachung von Kraftfahrzeugen von privatwirtschaftlichen Organisationen vorgenommen werden kann, die vom Staat dafür bestimmt, hierfür zugelassen und unter seiner unmittelbaren Aufsicht tätig sind.
66 Obwohl das Unionsrecht einen Mitgliedstaat folglich nicht daran hindert, die Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen von der Erteilung einer Zulassung abhängig zu machen, muss eine solche Zulassungsregelung jedoch, wie in Rn. 64 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, das Unionsrecht und insbesondere Art. 49 AEUV beachten.
67 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs steht nämlich Art. 49 AEUV Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit entgegen, d. h. jeder staatlichen Maßnahme, die die Ausübung der vom AEU-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsfreiheit durch die Unionsbürger behindern oder weniger attraktiv machen kann. Der Begriff der Beschränkung umfasst die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten beeinträchtigen und somit den Handel innerhalb der Union behindern (vgl. in diesem Sinne Urteil SOA Nazionale Costruttori, C‑327/12, EU:C:2013:827, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Im vorliegenden Fall darf nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung die behördliche Zulassung nur unter der Bedingung erteilt werden, dass die Stationen desselben Unternehmens oder derselben Unternehmensgruppe gewisse Mindestentfernungen einhalten und dass diese Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen keinen Marktanteil von über 50 % halten.
69 In Anbetracht der in Rn. 67 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung können solche Regeln dazu führen, dass Wirtschaftsteilnehmern anderer Mitgliedstaaten die Ausübung ihrer Tätigkeiten im Gebiet der Autonomen Gemeinschaft Katalonien mit Hilfe einer Betriebsstätte erschwert wird oder weniger attraktiv erscheint.
70 Folglich stellt die Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV dar.
71 Unter diesen Umständen ist zweitens zu prüfen, ob sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen objektiv rechtfertigen lassen.
72 Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, die ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gelten, können nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sofern sie geeignet sind, die Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Ottica New Line di Accardi Vincenzo, C‑539/11, EU:C:2013:591, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Im Ausgangsverfahren ist zunächst festzustellen, dass die in Rede stehende nationale Regelung unterschiedslos auf alle Betreiber anzuwenden ist.
74 Im Hinblick auf die von dieser Regelung verfolgten Ziele machen die Generalidad de Cataluña und die spanische Regierung sodann geltend, dass die Regelung, indem sie eine angemessene örtliche Abdeckung ermögliche, die Qualität der Dienstleistung gewährleiste und den Wettbewerb fördere, gleichermaßen darauf gerichtet sei, die Verbraucher zu schützen und die Straßenverkehrssicherheit zu gewährleisten, wie ausdrücklich aus der Präambel des Dekrets 45/2010 hervorgehe. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellen sowohl der Verbraucherschutz (vgl. in diesem Sinne Urteile Attanasio Group, C‑384/08, EU:C:2010:133, Rn. 50, und Essent u. a., C‑105/12 bis C‑107/12, EU:C:2013:677, Rn. 58) als auch die Notwendigkeit, die Straßenverkehrssicherheit zu gewährleisten (Urteil Kommission/Portugal, C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung), zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen können.
75 Daher ist schließlich zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschränkungen, wie sie in Rn. 68 des vorliegenden Urteils genannt sind, die Erreichung der verfolgten Ziele gewährleisten können und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist.
76 Es muss insbesondere gewährleistet sein, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung diese Ziele nicht in inkohärenter Weise verfolgt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind eine nationale Regelung insgesamt und die verschiedenen einschlägigen Regeln nämlich nur dann geeignet, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Ottica New Line di Accardi Vincenzo, C‑539/11, EU:C:2013:591, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Es ist letztlich Sache des nationalen Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, zu bestimmen, ob und inwieweit die Regelung diesen Anforderungen entspricht. Der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht zweckdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen und mündlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (Urteil Sokoll-Seebacher, C‑367/12, EU:C:2014:68, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Im vorliegenden Fall soll die erste Bedingung, die, wie aus Art. 75 Abs. 1 des Dekrets 30/2010 hervorgeht, darin besteht, dass bestimmte Mindestentfernungen zwischen den Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen eingehalten werden müssen, der Präambel des Dekrets 45/2010 zufolge zum Ziel haben, die Betreiber dazu anzuhalten, sich in abgelegenen Gegenden anzusiedeln. Da die Einhaltung von Mindestentfernungen nicht zwischen den Stationen verlangt wird, die Konkurrenzunternehmen gehören, sondern zwischen den zu demselben Unternehmen oder derselben Unternehmensgruppe gehörenden Stationen, belegen die dem Gerichtshof übermittelten Informationen allerdings nicht, dass diese Bedingung es als solche ermöglichen würde, eine derartige Zielsetzung zu verwirklichen. Dies gilt umso mehr, als die Generalidad de Cataluña in der mündlichen Verhandlung nicht ausgeführt hat, dass diese Betreiber gehalten seien, sich in diesen abgelegenen Gegenden anzusiedeln.
79 Im Hinblick auf die zweite Bedingung, wonach die Betreiber keinen Marktanteil von über 50 % auf dem Markt für Dienstleistungen der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen halten dürfen, geht aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung hervor, dass diese Bedingung dazu bestimmt ist, die Qualität der Dienstleistungen der technischen Überwachung zu gewährleisten und folglich den Schutz der Verbraucher sicherzustellen.
80 Da eine solche Bedingung Auswirkungen auf die bereits bestehenden Tätigkeiten der Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen in Katalonien sowie auf die Struktur des Marktes haben kann, kann sie daher offensichtlich nicht zum Schutz der Verbraucher beitragen.
81 In dieser Hinsicht ist zu dem auf die Qualität der Dienstleistung bezogenen Ziel darauf hinzuweisen, dass der Inhalt der Dienstleistungen der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, wie der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Gegenstand einer Harmonisierung auf Unionsebene ist.
82 Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2009/40 sieht in Verbindung mit ihren Anhängen I und II nämlich präzise Rahmenbedingungen für die zu prüfenden Kraftfahrzeuge, die Zeitabstände der Prüfungen und die obligatorischen Prüfpunkte vor, um – wie der 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorhebt – einen Qualitätsstandard für die Dienstleistungen der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen in der Union sicherzustellen. Diese Rahmenbedingungen bestehen nach dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie aus Mindestvorschriften und Verfahren, die im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen sind.
83 Daher obliegt es dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob die beiden von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung aufgestellten Bedingungen für die Genehmigung der Ausübung der Tätigkeit der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen geeignet sind, die Verwirklichung der Ziele des Verbraucherschutzes und der Straßenverkehrssicherheit in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten.
84 Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 49 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die Genehmigung der Eröffnung einer Station zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen durch ein Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe unter die Bedingung stellt, dass zum einen eine Mindestentfernung zwischen dieser Station und den bereits genehmigten Stationen dieses Unternehmens oder dieser Unternehmensgruppe besteht und zum anderen dieses Unternehmen oder diese Unternehmensgruppe, wenn eine solche Genehmigung erteilt würde, keinen Marktanteil von über 50 % erhielte, es sei denn, dass diese Bedingung tatsächlich geeignet ist, die Ziele des Verbraucherschutzes und der Straßenverkehrssicherheit zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird.
Kosten
85 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist dahin auszulegen, dass die Tätigkeiten der technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen sind.
2. Art. 51 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass die Tätigkeiten von Stationen zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen, wie den von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung bezeichneten, trotz des Umstands, dass die Betreiber dieser Stationen über eine Befugnis zur Stilllegung verfügen, wenn die Fahrzeuge bei der Prüfung Sicherheitsmängel aufweisen, die eine unmittelbare Gefahr darstellen, nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Bestimmung verbunden sind.
3. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die Genehmigung der Eröffnung einer Station zur technischen Überwachung von Kraftfahrzeugen durch ein Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe unter die Bedingung stellt, dass zum einen eine Mindestentfernung zwischen dieser Station und den bereits genehmigten Stationen dieses Unternehmens oder dieser Unternehmensgruppe besteht und zum anderen dieses Unternehmen oder diese Unternehmensgruppe, wenn eine solche Genehmigung erteilt würde, keinen Marktanteil von über 50 % erhielte, es sei denn, dass diese Bedingung tatsächlich geeignet ist, die Ziele des Verbraucherschutzes und der Straßenverkehrssicherheit zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird.
Unterschriften
(*
) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 6. Oktober 2015.#Corporación Empresarial de Materiales de Construcción, SA gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Natriumchloratmarkt im EWR – Änderungsentscheidung, mit der die festgestellte Dauer der Beteiligung am Kartell verkürzt wird – Berechnung der Geldbuße – Verjährung – Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003.#Rechtssache T-250/12.
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62012TJ0250
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ECLI:EU:T:2015:749
| 2015-10-06T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012TJ0250
URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
6. Oktober 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Natriumchloratmarkt im EWR — Änderungsentscheidung, mit der die festgestellte Dauer der Beteiligung am Kartell verkürzt wird — Berechnung der Geldbuße — Verjährung — Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003“
In der Rechtssache T‑250/12
Corporación Empresarial de Materiales de Construcción, SA, vormals Uralita, SA, mit Sitz in Madrid (Spanien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt K. Struckmann und G. Forwood, Barrister,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten zunächst durch N. von Lingen, R. Sauer und J. Bourke, dann durch R. Sauer und J. Norris-Usher als Bevollmächtigte,
Beklagte,
betreffend eine Klage auf Nichtigerklärung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 des Beschlusses C (2012) 1965 final der Kommission vom 27. März 2012 zur Änderung der Entscheidung C (2008) 2626 final der Kommission vom 11. Juni 2008 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38.695 – Natriumchlorat)
erlässt
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise (Berichterstatter),
Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. November 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin, die Corporación Empresarial de Materiales de Construcción, SA, vormals Uralita, SA, ist eine Gesellschaft spanischen Rechts. 1992 gründete sie die Aragonesas Industrias y Energía, SA. Bis 1994 hielt sie 100 % der Anteile dieser Aktiengesellschaft. Im Dezember 1994 übertrug sie das gesamte Chemikaliengeschäft dieser Aktiengesellschaft auf die zuvor gegründete Holdinggesellschaft Energía y Industrias Aragonesas EIA, SA (im Folgenden: EIA). Nach einer Fusion übernahm sie 2003 EIA und hielt erneut 100 % der Anteile der vorgenannten Aktiengesellschaft. Am 2. Juni 2005 veräußerte sie diese an die Ercros Industrial, SAU (im Folgenden: Ercros); die veräußerte Gesellschaft wurde zur Aragonesas Industrias y Energía, SAU (im Folgenden: Aragonesas).
2 Am 28. März 2003 stellten Vertreter der in Schweden niedergelassenen EKA Chemicals AB (im Folgenden: EKA) in Bezug auf ein Kartell in der Natriumchloratindustrie einen Antrag auf Geldbußenerlass bzw. ‑ermäßigung gemäß der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002).
3 Am 30. September 2003 erließ die Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Entscheidung, mit der sie der EKA einen bedingten Geldbußenerlass gemäß Rn. 15 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 gewährte.
4 Am 10. September 2004 richtete die Kommission Auskunftsverlangen gemäß Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) an mehrere Unternehmen, darunter Aragonesas. Am 3. und 9. Dezember 2004 beantwortete Aragonesas dieses Auskunftsverlangen.
5 Zwischen dem 13. November 2006 und dem 11. April 2008 richtete die Kommission Auskunftsverlangen gemäß Art. 18 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 an mehrere Unternehmen, u. a. am 13. November 2006, 8. Februar 2007, 12. März 2007 und 11. April 2008 an Aragonesas sowie am 8. Februar 2007, 20. April 2007 und 11. April 2008 an die Klägerin.
6 Am 27. Juli 2007 erließ die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die u. a. an Aragonesas und die Klägerin gerichtet war. Diese übermittelten der Kommission fristgerecht ihre Stellungnahmen hierzu.
7 Am 20. November 2007 machte die Klägerin von ihrem Recht auf mündliche Anhörung durch die Kommission Gebrauch.
8 Am 11. Juni 2008 erließ die Kommission die Entscheidung C (2008) 2626 final in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38.695 – Natriumchlorat) (im Folgenden: Entscheidung von 2008). In dieser Entscheidung befand sie, dass Aragonesas sich in der Zeit vom 16. Dezember 1996 bis zum 9. Februar 2000 an wettbewerbswidrigen Praktiken beteiligt habe.
9 Erstens vertrat die Kommission in Bezug auf die Klägerin in den Rn. 416 bis 426 und 455 bis 468 der Entscheidung von 2008 die Ansicht, dass die Klägerin unmittelbar, aber auch mittelbar über EIA, einen beherrschenden Einfluss auf die strategische Ausrichtung und die allgemeine Geschäftspolitik von Aragonesas ausgeübt habe. Zweitens gelangte die Kommission zu dem Ergebnis, dass EIA in Anbetracht zum einen der Vermutung, dass sie einen beherrschenden Einfluss auf Aragonesas ausgeübt habe, weil sie zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung deren gesamtes Stammkapital gehalten habe, und zum anderen der weiteren in der Entscheidung von 2008 dargestellten Faktoren zumindest tatsächlich einen beherrschenden Einfluss auf das Verhalten von Aragonesas ausgeübt habe, so dass sie als zusammen mit Aragonesas zu dem Unternehmen, das die Zuwiderhandlung begangen habe, gehörende Einheit für das die Zuwiderhandlung darstellende Verhalten des Unternehmens hafte. Da EIA 2003 von der Klägerin übernommen worden und diese rechtlich und wirtschaftlich ihre Nachfolgerin geworden sei, vertrat die Kommission bei dieser Gelegenheit die Ansicht, dass die Haftung von EIA in Bezug auf das die Zuwiderhandlung darstellende Verhalten des in Rede stehenden Unternehmens auf die Klägerin übergegangen sei.
10 Infolgedessen erklärte die Kommission in den Rn. 469 und 487 bis 489 der Entscheidung von 2008 Aragonesas und die Klägerin für gesamtschuldnerisch haftbar für die von der Erstgenannten vom 16. Dezember 1996 bis zum 9. Februar 2000 begangene Zuwiderhandlung.
11 Die Kommission gelangte daher in Art. 1 Buchst. g und h der Entscheidung von 2008 zu dem Ergebnis, dass Aragonesas und die Klägerin dadurch gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens verstoßen hätten, dass sie sich vom 16. Dezember 1996 bis zum 9. Februar 2000 an einem Bündel von Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen beteiligt hätten.
12 In Art. 2 Buchst. f der Entscheidung von 2008 verhängte die Kommission gegen Aragonesas und die Klägerin gesamtschuldnerisch eine Geldbuße von 9900000 Euro.
13 In Art. 4 der Entscheidung von 2008 führte die Kommission die Adressaten dieser Entscheidung auf, zu denen Aragonesas und die Klägerin gehörten.
14 Mit Klageschrift, die am 26. August 2008 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Aragonesas eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung von 2008, soweit diese sie betraf. Die Rechtssache wurde unter dem Aktenzeichen T‑348/08 eingetragen. Im Kern bestritt Aragonesas, sich an den in Rede stehenden wettbewerbswidrigen Praktiken vom 16. Dezember 1996 bis zum 9. Februar 2000 beteiligt zu haben, und wandte sich somit insgesamt gegen die Verhängung einer Geldbuße gegen sie.
15 Mit Klageschrift, die am 26. August 2008 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Klägerin eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung von 2008, soweit diese sie betraf. Diese Klage wurde unter dem Aktenzeichen T‑349/08 eingetragen. Im Kern focht die Klägerin die Entscheidung der Kommission an, ihr das von Aragonesas zur Last gelegte Verhalten zuzurechnen und gegen sie gesamtschuldnerisch mit dieser eine Geldbuße zu verhängen.
16 Am 16. September 2008 zahlte die Klägerin vorläufig die gegen sie mit der Entscheidung von 2008 gesamtschuldnerisch mit Aragonesas verhängte Geldbuße.
17 Mit Urteil vom 25. Oktober 2011, Aragonesas Industrias y Energía/Kommission (T‑348/08, Slg, im Folgenden: Urteil Aragonesas) (EU:T:2011:621), hat das Gericht wie folgt für Recht erkannt und entschieden:
„1.
Art. 1 Buchst. g der Entscheidung C (2008) 2626 final der Kommission vom 11. Juni 2008 in einem Verfahren nach Art. [101 AEUV] und Art. 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38.695 – Natriumchlorat) wird für nichtig erklärt, soweit die Kommission der Europäischen Gemeinschaften darin eine Zuwiderhandlung der Aragonesas Industrias y Energía, SAU, in den Zeiträumen 16. Dezember 1996 bis 27. Januar 1998 und 1. Januar 1999 bis 9. Februar 2000 festgestellt hat.
2. Art. 2 Buchst. f der Entscheidung C (2008) 2626 final wird für nichtig erklärt, soweit darin der Betrag der Geldbuße auf 9,9 Mio. Euro festgesetzt wird.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
…“
18 In Rn. 247 des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), hat das Gericht entschieden, dass „der erste Teil des ersten Klagegrundes teilweise begründet [ist], soweit die Kommission in der … Entscheidung [von 2008] fehlerhaft die Beteiligung der [Aragonesas] an der fraglichen Zuwiderhandlung zum einen vom 16. Dezember 1996 bis 27. Januar 1998 und zum anderen vom 1. Januar 1999 bis 9. Februar 2000 festgestellt hat“.
19 In Rn. 258 des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), hat das Gericht in Anbetracht der Feststellungen in Rn. 247 dieses Urteils entschieden, dass „der zweite Teil des zweiten Klagegrundes, wonach der Kommission bei der Berechnung der Dauer der Beteiligung der Klägerin an der fraglichen Zuwiderhandlung ein Fehler unterlaufen sei, … als begründet anzusehen [ist]“.
20 In Rn. 302 des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), hat das Gericht zum zweiten Klagegrund ausgeführt, dass „dem zweiten Klagegrund teilweise stattzugeben [ist], soweit die Dauer der von der Klägerin begangenen Zuwiderhandlung, wie sie die Kommission für die Bemessung der gegen sie verhängten Geldbuße zugrunde gelegt hat, unzutreffend ist“.
21 In Rn. 303 des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), hat das Gericht festgestellt, dass „dem Antrag auf Nichtigerklärung der … Entscheidung [von 2008] teilweise stattzugeben [ist], soweit die Kommission in deren Art. 1 feststellt, dass sich die Klägerin vom 16. Dezember 1996 bis zum 27. Januar 1998 und vom 1. Januar 1999 bis zum 9. Februar 2000 an der Zuwiderhandlung beteiligt hat, und in Art. 2 dieser Entscheidung den Betrag der Geldbuße auf 9,9 Mio. Euro festsetzt“.
22 Schließlich hat das Gericht in Rn. 307 des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), u. a. darauf hingewiesen, dass die Kommission die Konsequenzen aus dem Ergebnis in Rn. 303 dieses Urteils zu ziehen habe.
23 Mit Urteil vom 25. Oktober 2011, Uralita/Kommission (T‑349/08, im Folgenden: Urteil Uralita, EU:T:2011:622), hat das Gericht die Klage der Klägerin insgesamt als unbegründet abgewiesen.
24 Mit Schreiben vom 5. Dezember 2011 teilte die Kommission der Klägerin und Aragonesas mit, welche Konsequenzen sie aus dem Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), zu ziehen beabsichtige. Hierzu gab sie in Bezug auf Aragonesas an, dass sie beabsichtige, dem Kollegium der Kommissionsmitglieder vorzuschlagen, gegen diese in Anbetracht des im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), bestätigten Zeitraums der Zuwiderhandlung gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 eine Geldbuße mit einem neuen Betrag zu verhängen. In Bezug auf die Klägerin gab sie an, obwohl das Gericht im Urteil Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), die Klage insgesamt abgewiesen habe, so dass die mit der Entscheidung von 2008 gegen die Klägerin verhängte Geldbuße für diese aufrechterhalten worden sei, beabsichtige sie, dem Kollegium der Kommissionsmitglieder vorzuschlagen, zum einen die Dauer der Zuwiderhandlung, an der die Klägerin beteiligt gewesen sei, dahin zu ändern, dass sie mit der gegenüber Aragonesas festgestellten übereinstimme, und zum anderen den Betrag der gegen die Klägerin gesamtschuldnerisch mit Aragonesas verhängten Geldbuße herabzusetzen. Gleichzeitig mit dem Schreiben vom 5. Dezember 2011 richtete die Kommission an die Klägerin und Aragonesas ein Informationsersuchen, um dem Kollegium der Kommissionsmitglieder ihren endgültigen Vorschlag vorlegen zu können.
25 Mit Schreiben vom 19. Dezember 2011 antworteten Aragonesas und die Klägerin auf das Schreiben der Kommission vom 5. Dezember 2011, sie teilten zwar nicht deren Standpunkt in Bezug auf die Konsequenzen, die gegenüber der Klägerin aus dem Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), zu ziehen seien, sie hätten jedoch auf ein Informationsersuchen geantwortet, um wenigstens einen Teil der gegen sie in der Entscheidung von 2008 gesamtschuldnerisch verhängten Geldbuße erstattet zu erhalten. Sie stellten klar, dass dieses Schreiben ohne Einfluss auf ihre rechtliche Stellung sei.
26 Mit Schreiben vom 23. Januar 2012 teilte die Klägerin der Kommission erstens mit, dass Aragonesas aufgrund ihrer Fusion mit Ercros seit dem 31. Mai 2010 nicht mehr bestehe. Zweitens führte sie aus, Aragonesas hafte zwar gemäß der Vereinbarung über den Ankauf von Aktien, die sie mit Ercros geschlossen habe, weiter gesamtschuldnerisch für die in Rede stehende Zuwiderhandlung in Bezug auf den Zeitraum, der von der vom Gericht im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), ausgesprochenen Nichtigerklärung nicht erfasst sei, doch übernehme die Klägerin allein die wirtschaftliche Haftung für die Zahlung der gesamten Geldbuße, die gemäß einer Änderungsentscheidung aufgrund des erwähnten Urteils sowie des Urteils Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), verhängt würde. In diesem Schreiben führte sie insbesondere aus:
„… Uralita anerkennt daher vorbehaltlos ihre Haftung für die Zuwiderhandlung in Bezug auf den Zeitraum vom 28. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998 im Rahmen des von der Kommission in der Sache 38.695 – Natriumchlorat durchgeführten Verfahrens.
Nach alledem und unter Berücksichtigung ihres Interesses daran, dass eine Änderungsentscheidung erlassen wird und dass die vorläufig gezahlte Geldbuße ihr unverzüglich erstattet wird, erklärt sich Uralita damit einverstanden …, dass sie allein für die Zahlung jeder in einer solchen Entscheidung verhängten Geldbuße für den Zeitraum der Zuwiderhandlung, der in dem Urteil [Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621)] festgesetzt worden ist, nämlich für die Zeit vom 28. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998, haftet, und … dass jede Änderungsentscheidung ausschließlich an sie gerichtet werden kann, ohne dass eine weitere Verfahrensmaßnahme als das Schreiben vom 5. Dezember 2011 mit einer Sachverhaltsdarstellung erforderlich ist.“
27 Am 27. März 2012 erließ die Kommission den Beschluss C (2012) 1965 final zur Änderung der Entscheidung C (2008) 2626 final der Kommission vom 11. Juni 2008 in einem Verfahren nach Artikel 101 AEUV und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38.695 – Natriumchlorat) (im Folgenden: angefochtener Beschluss). In dem angefochtenen Beschluss vertrat die Kommission unter Hinweis auf die Vorgeschichte des Rechtsstreits und insbesondere darauf, dass das Gericht im Urteil Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), die Klage der Klägerin gegen die Entscheidung von 2008 in vollem Umfang abgewiesen habe, die Auffassung. dass die gegen sie verhängte Geldbuße in Höhe von 9900000 Euro aufrechtzuerhalten sei. In den Rn. 8 und 9 des angefochtenen Beschlusses führte die Kommission allerdings Folgendes aus:
„(8)
Obwohl das Gericht die Nichtigkeitsklage von Uralita gegen die Entscheidung [von 2008] abgewiesen hat, hält es die Kommission in Anbetracht der im Urteil Aragonesas [oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621)] entschiedenen teilweisen Nichtigerklärung für angebracht, die Dauer der Zuwiderhandlung in Bezug auf Uralita zu kürzen, um sie der im Urteil Aragonesas zugrunde gelegten, nämlich vom 28. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998, anzugleichen.
(9) Ferner hat die Kommission unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Sache und insbesondere der Erklärungen von Uralita in ihrem Schreiben vom 23. Januar 2012 … und des Umstands, dass Uralita an die Kommission bereits den gesamten Betrag der [in der Entscheidung von 2008 verhängten] Geldbuße vorläufig innerhalb der in der Entscheidung gesetzten Frist gezahlt hat, beschlossen, die Entscheidung abzuändern, soweit sie an Uralita gerichtet ist, und zwar
a)
unter Kürzung der Dauer ihrer Beteiligung an der Zuwiderhandlung dahin, dass sie den Zeitraum vom 28. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998 betrifft, und
b)
unter Festsetzung einer Geldbuße nach Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, die der geänderten Dauer dieses Zeitraums der Zuwiderhandlung entspricht, und für deren Zahlung Uralita in die Haftung genommen wird.“
28 Für die Berechnung des neuen Betrags der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße wandte die Kommission die gleichen Parameter an wie in der Entscheidung von 2008, mit Ausnahme des auf die Dauer bezogenen Multiplikationskoeffizienten, der mit 0,91 % festgesetzt wurde, um die kürzere Dauer des Zeitraums der Zuwiderhandlung widerzuspiegeln.
29 Zu den Zinsen, die auf den Betrag der mit der Entscheidung von 2008 verhängten Geldbuße von 9900000 Euro seit ihrer vorläufigen Zahlung durch die Klägerin angefallen sind, führte die Kommission in Rn. 11 des angefochtenen Beschlusses aus: „Da das Gericht die Beteiligung [der Klägerin] an der Zuwiderhandlung für den Zeitraum vom 28. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998 festgestellt hat, stehen die Zinsen auf den mit der vorliegenden Entscheidung festgesetzten Betrag der Geldbuße der Kommission zu und werden deshalb von ihr einbehalten.“
30 Der verfügende Teil des angefochtenen Beschlusses lautet:
„Artikel 1
Die Entscheidung [von 2008] wird wie folgt geändert:
1. Artikel 1 Buchstabe h erhält folgende Fassung:
‚h)
Uralita SA, vom 28. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998.‘
2. Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe f erhält folgende Fassung:
,f)
Uralita SA: 4231000 Euro.‘
Artikel 2
Die seit dem 16. September 2008 angefallenen Zinsen auf den Betrag der vorläufig gezahlten Geldbuße von 4231000 Euro stehen der Kommission zu.
Artikel 3
Diese Entscheidung ist gerichtet an:
Uralita …“
31 Am 3. April 2012 erstattete die Kommission der Klägerin einen Betrag von 5981569 Euro. Dieser Betrag wurde auf der Grundlage des Unterschieds zwischen der in der Entscheidung von 2008 verhängten Geldbuße von 9900000 Euro (im Folgenden: ursprüngliche Geldbuße) und der Geldbuße in Höhe von 4231000 Euro, die in dem angefochtenen Beschluss verhängt wurde, zuzüglich der auf diesen Unterschiedsbetrag ab der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße entfallenden Zinsen berechnet.
Verfahren und Anträge der Parteien
32 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 5. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
33 Die Klägerin beantragt,
—
Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, soweit darin gegen sie eine Geldbuße von 4231000 Euro verhängt wird;
—
Art. 2 des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
34 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Entscheidungsgründe
35 Die Klägerin macht zwei Klagegründe geltend. Erstens rügt sie einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003. Zweitens rügt sie einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV.
36 Die Kommission hält die beiden Klagegründe für unbegründet. Hilfsweise macht sie geltend, dass die Klage, soweit sie auf den ersten Klagegrund gestützt werde, unzulässig sei, da die Klägerin kein Interesse an der Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses habe.
Zur Zulässigkeit
37 Die Kommission stellt die Zulässigkeit „der von [der Klägerin] erhobenen Klage in Bezug auf den ersten Klagegrund“ in Abrede. Als Erstes macht sie in diesem Zusammenhang geltend, dass die Klägerin erstens in der mit dem Urteil Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), abgeschlossenen Rechtssache weder eine Verletzung von Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 gerügt noch die Dauer der Beteiligung von Aragonesas an der in Rede stehenden Zuwiderhandlung bestritten habe und dass zweitens aufgrund des Urteils Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), gegen das kein Rechtsmittel eingelegt worden sei, die Entscheidung von 2008 gegenüber der Klägerin Bestandskraft erlangt habe, soweit mit ihr eine Geldbuße in Höhe von 9900000 Euro verhängt worden sei. Zudem sei sie nach der Rechtsprechung nicht verpflichtet, der Klägerin die im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), ausgesprochene teilweise Nichtigerklärung der Entscheidung von 2008 zugutekommen zu lassen. Da der angefochtene Beschluss die Entscheidung von 2008 nicht ersetze, sondern sie nur ändere, sei infolgedessen zum einen der Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 verspätet und somit unzulässig, und zum anderen zöge die Klägerin selbst aus einer Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses keinen Vorteil, denn die Entscheidung von 2008 würde wieder aufleben, so dass gegen sie eine höhere Geldbuße als mit dem angefochtenen Beschluss verhängt würde. Daher habe die Klägerin kein Interesse, gegen den angefochtenen Beschluss zu klagen.
38 Als Zweites macht die Kommission geltend, erstens habe die Klägerin mit Schreiben vom 19. Dezember 2011 ausdrücklich zum einen ihr Einverständnis damit erklärt, allein für die Zahlung der möglicherweise gegen sie für den Zeitraum vom 28. Januar bis zum 31. Dezember 1998 verhängten Geldbuße zu haften, und zum anderen ihr Interesse an einem unverzüglichen Erlass einer Entscheidung zur Änderung der Entscheidung von 2008, und zweitens habe die Klägerin einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 im Verwaltungsverfahren bezüglich des angefochtenen Beschlusses nicht gerügt. Daher könne sie jetzt kein berechtigtes Interesse an der Nichtigerklärung der Änderungsentscheidung geltend machen.
39 Die Klägerin meint, sie habe zum einen hinsichtlich des Gegenstands ihrer Klage, nämlich teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses, soweit mit dessen Art. 1 Abs. 2 gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 4231000 Euro verhängt werde, und zum anderen hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), in Bezug auf sie ein Interesse, Klage gegen den angefochtenen Beschluss zu erheben. Dieses Interesse könne nicht wegen ihrer Erklärungen im Schreiben vom 23. Januar 2012 in Frage gestellt werden.
40 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung, mit der sie aufgefordert worden ist, anzugeben, worauf sich die gerügte Unzulässigkeit beziehe, erklärt hat, dass sich diese Rüge auf den ersten Klagegrund beziehe. Im Licht dieser Klarstellung ist die von der Kommission erhobene Rüge der Unzulässigkeit zu prüfen.
41 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person nur zulässig, wenn diese ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung hat. Ein solches Interesse besteht nur, wenn die Nichtigerklärung der Handlung als solche Rechtswirkungen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 2000, Parlament/Richard, C‑174/99 P, Slg, EU:C:2000:412, Rn. 33, vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, Slg, EU:C:2009:536, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 28. September 2004, MCI/Kommission, T‑310/00, Slg, EU:T:2004:275, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Im vorliegenden Fall macht die Kommission geltend, dass die Klägerin auf der Grundlage des ersten Klagegrundes – Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 – kein Interesse an der Nichtigerklärung von Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses habe. Daher ist die von der Kommission gegen den ersten Klagegrund erhobene Rüge der Unzulässigkeit im Licht der angeführten Rechtsprechung zu prüfen.
43 Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Kommission mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, wie aus dessen Rn. 8 und 9 hervorgeht, beschlossen hat, die Entscheidung von 2008 dahin zu ändern, dass der Klägerin die Wirkungen des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), zugutekommen. Aufgrund dessen beschloss sie, zum einen in Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses den der Klägerin in der Entscheidung von 2008 zur Last gelegten Zeitraum der Zuwiderhandlung zu kürzen, um diesen, wie aus Rn. 8 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, dem im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), zugrunde gelegten anzugleichen, und zum anderen in Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses den Betrag der gegen die Klägerin mit der Entscheidung von 2008 verhängten Geldbuße herabzusetzen, um ihn, wie aus Rn. 9 Buchst. b des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, der Dauer des neuen Zeitraums der Zuwiderhandlung anzugleichen.
44 Zweitens ergibt sich aus dieser Feststellung in der vorstehenden Rn. 43, dass der angefochtene Beschluss, dessen Adressatin die Klägerin ist, sie dadurch beschwert, dass ihr zum einen zur Last gelegt wird, sich in einem neuen Zeitraum an der in der Entscheidung von 2008 in Rede stehenden Zuwiderhandlung beteiligt zu haben, und ihr zum anderen eine Geldbuße in einer anderen als der in der Entscheidung von 2008 festgesetzten Höhe auferlegt wird. Mit dem ersten Klagegrund begehrt die Klägerin die Nichtigerklärung von Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses, soweit die Kommission gegen sie eine Geldbuße nach Ablauf der in Art. 45 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegten Verjährungsfrist verhängt habe. Keinesfalls stellt die Klägerin die Rechtmäßigkeit von Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses in Abrede, soweit mit ihm der ihr nunmehr zur Last gelegte Zeitraum der Zuwiderhandlung bestimmt wird.
45 Drittens steht fest, dass es sich im vorliegenden Fall um eine einheitliche und dauernde Zuwiderhandlung handelt. Daher hat die in Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Verjährungsfrist gemäß Art. 25 Abs. 2 Satz 2 dieser Verordnung an dem Tag begonnen, an dem diese Zuwiderhandlung beendet wurde. Während der der Klägerin in der Entscheidung von 2008 zur Last gelegte Zeitraum der Zuwiderhandlung am 9. Februar 2000 geendet hatte, endete der ihr in dem angefochtenen Beschluss zur Last gelegte neue Zeitraum der Zuwiderhandlung zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich, wie die Parteien in Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung anerkannt haben, am 31. Dezember 1998.
46 Da die Kommission durch die Änderung der Dauer der der Klägerin in der Entscheidung von 2008 ursprünglich zur Last gelegten Zuwiderhandlung einen neuen Zeitpunkt festgesetzt hat, zu dem die in Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Verjährungsfrist zu laufen begann, rügt sie somit zu Unrecht, dass die Klägerin als ersten Klagegrund einen Verstoß gegen die genannte Vorschrift geltend macht, obwohl sie diesen nicht in der mit dem Urteil Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), abgeschlossenen Rechtssache geltend gemacht hatte.
47 Viertens kann dem Vorbringen der Kommission nicht gefolgt werden, dass eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses bedeuten würde, dass Art. 2 Buchst. f der gegenüber der Klägerin bestandskräftig gewordenen Entscheidung von 2008 in Kraft bliebe, mit dem gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 9900000 Euro verhängt worden sei, so dass die Klägerin keinen Vorteil aus einer solchen Nichtigerklärung ziehen würde. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Kommission verpflichtet war, der Klägerin die Wirkungen des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), zugutekommen zu lassen, wie sie es nach der Feststellung oben in Rn. 43 getan hat, denn aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses geht hervor, dass die Kommission entschieden hat, die der Klägerin in der Entscheidung von 2008 zur Last gelegte Dauer der Zuwiderhandlung zu kürzen.
48 Sollte das Gericht der Klage auf der Grundlage des ersten Klagegrundes stattgeben, würde daher der angefochtene Beschluss, da sich dieser Klagegrund ausschließlich gegen dessen Art. 1 Abs. 2 richtet, teilweise, und zwar nur insoweit für nichtig erklärt, als mit ihm der neue Betrag der gegen die Klägerin in der Entscheidung von 2008 verhängten Geldbuße festgesetzt wird, und nicht insoweit, als mit ihm der der Klägerin zur Last gelegte neue Zeitraum der Zuwiderhandlung festgelegt wird, in Bezug auf den die Verjährung der Befugnis der Kommission, eine Geldbuße zu verhängen, beurteilt wird. Infolgedessen ist für die Beurteilung der Zulässigkeit des ersten Klagegrundes nicht davon auszugehen, dass eine auf diesen Klagegrund gestützte teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses den Betrag der gegen die Klägerin mit der Entscheidung von 2008 verhängten Geldbuße wieder aufleben ließe, da die Kommission gemäß Art. 266 AEUV verpflichtet ist, die sich aus dem vorliegenden Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, was insbesondere ihre Befugnis angeht, gegen die Klägerin eine Geldbuße wegen des in Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses festgesetzten neuen Zeitraums der Zuwiderhandlung zu erlassen (vgl. Urteil CAS Succhi di Frutta/Kommission, T‑191/96 und T‑106/97, Slg, EU:T:1999:256, Rn. 62 und die angeführte Rechtsprechung).
49 Daraus folgt, dass eine teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses auf der Grundlage des ersten Klagegrundes der Klägerin einen Vorteil im Sinne der oben in Rn. 41 angeführten Rechtsprechung verschaffen würde. Der vorliegende Klagegrund ist deshalb als zulässig anzusehen.
50 An diesem Ergebnis kann das Argument der Kommission nichts ändern, dass die Klägerin mit Schreiben vom 19. Dezember 2011 ihr Einverständnis damit erklärt habe, allein für die Zahlung der Geldbuße zu haften, die mit einem Beschluss zur Änderung der Entscheidung von 2008 wegen des neu festgesetzten Zeitraums der Zuwiderhandlung gegen sie verhängt werden könnte. Entgegen dem Vorbringen der Kommission geht nämlich aus dem Schreiben vom 19. Dezember 2011 nicht hervor, dass die Klägerin darin ein solches Einverständnis erklärt hätte. Sie nimmt in diesem Schreiben zu den Folgen Stellung, die die Kommission aus den Urteilen Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), und Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), insbesondere in Bezug auf die Erstattung zumindest eines Teils der ursprünglichen Geldbuße an sie zu ziehen beabsichtigte.
51 Vielmehr ist festzustellen, dass die Klägerin der Kommission im Schreiben vom 23. Januar 2012 mitgeteilt hat, sie übernehme allein die wirtschaftliche Haftung für die Zahlung jeder Geldbuße, die gegen sie mit einem Beschluss zur Änderung der Entscheidung von 2008 aufgrund zum einen des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), und zum anderen des Urteils Uralita, oben in Rn. 23 angeführt (EU:T:2011:622), verhängt werden könnte.
52 Nach der Rechtsprechung kann jedoch das ausdrückliche oder stillschweigende Eingeständnis tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte durch ein Unternehmen während des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission zwar ein ergänzendes Beweismittel bei der Beurteilung der Begründetheit einer Klage darstellen, es kann aber nicht die Ausübung des Rechts natürlicher und juristischer Personen aus Art. 263 Abs. 4 AEUV, beim Gericht Klage zu erheben, an sich einschränken. Mangels einer entsprechenden ausdrücklichen Rechtsgrundlage verstieße eine solche Einschränkung gegen die tragenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte. Zudem wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV rechtlich den gleichen Rang hat wie die Verträge. Nach Art. 52 Abs. 1 dieser Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in ihr anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein (Urteil vom 1. Juli 2010, Knauf Gips/Kommission, C‑407/08 P, Slg, EU:C:2010:389, Rn. 90 und 91).
53 Im Übrigen kann der Umstand, dass die Klägerin der Kommission im Schreiben vom 23. Januar 2012 mitgeteilt hat, sie übernehme allein die wirtschaftliche Haftung für die Zahlung jeder Geldbuße, die gegen sie wegen der in Rede stehenden Zuwiderhandlung verhängt werden könnte, nicht dahin ausgelegt werden, dass sie darauf verzichtet hätte, sich auf Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 für eine mögliche Verjährung der Befugnis der Kommission, gegen sie eine solche Geldbuße zu verhängen, zu berufen. Aus diesem Schreiben geht nämlich lediglich hervor, dass die Klägerin anerkannt hat, allein die Haftung für die Zahlung einer von der Kommission verhängten Geldbuße zu übernehmen.
54 Ferner hat die Klägerin im Schreiben vom 19. Dezember 2011 ausdrücklich klargestellt, dass dieses Schreiben keinen Einfluss auf ihre rechtliche Stellung habe.
55 Daher können der Klägerin weder das Schreiben vom 19. Dezember 2011 noch das Schreiben vom 23. Januar 2012 entgegengehalten werden, um die Zulässigkeit des ersten Klagegrundes in Abrede zu stellen.
56 Nach alledem ist die von der Kommission gegenüber dem ersten Klagegrund erhobene Rüge der Unzulässigkeit für unbegründet zu erklären, so dass in die Prüfung der Begründetheit der vorliegenden Klage einzutreten ist.
Zur Begründetheit
57 Im Rahmen des ersten Klagegrundes rügt die Klägerin zum einen, dass die Kommission dadurch gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen habe, dass sie gegen sie nach Ablauf der in diesem Artikel geregelten Verjährungsfrist eine neue Geldbuße verhängt habe, und zum anderen, dass die Kommission in Art. 2 des angefochtenen Beschlusses rechtsfehlerhaft entschieden habe, die Zinsen einzubehalten, die seit der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße auf den Teil dieser Geldbuße angefallen seien, der dem in Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses neu festgesetzten Betrag der Geldbuße entspreche.
58 Die Klägerin macht konkret erstens geltend, dass die Kommission mit Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses den Zeitraum der Zuwiderhandlung gegenüber Uralita gekürzt habe, so dass dieser dem vom Gericht im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), festgesetzten Zeitraum vom 28. Januar bis zum 31. Dezember 1998 entsprochen habe.
59 Zunächst habe aber, da die in Rede stehende Zuwiderhandlung als dauernde Zuwiderhandlung qualifiziert worden sei, gemäß Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 die Verjährungsfrist von fünf Jahren am 31. Dezember 1998 zu laufen begonnen.
60 Sodann stellten der Antrag von EKA auf Anwendung der Kronzeugenregelung vom 28. März 2003 und die Entscheidung der Kommission vom 30. September 2003, ihr gemäß Rn. 15 der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, keine Ereignisse dar, die geeignet wären, die Verjährungsfrist gemäß Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 zu unterbrechen. Im Übrigen gehe aus der Entscheidungspraxis der Kommission aufgrund dieser Mitteilung hervor, dass sie das erste Auskunftsverlangen als die Verjährung unterbrechende Handlung betrachte. So habe die Kommission in Rn. 492 der Entscheidung von 2008 das erste Auskunftsverlangen vom 10. September 2004 als Ereignis angesehen, das geeignet gewesen sei, in dieser Sache die Frist zu unterbrechen. Diese Entscheidungspraxis verwehre es der Kommission, sich jetzt auf eine Maßnahme anderer Art, wie eine Entscheidung, einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, als die Verjährung unterbrechende Handlung zu berufen.
61 Schließlich sei in Ermangelung eines anderen Ereignisses, das die Verjährung unterbrochen hätte, die in Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 geregelte Verjährungsfrist am 31. Dezember 2003 abgelaufen.
62 Infolgedessen habe die Kommission dadurch gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen, dass sie gegen die Klägerin in Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses eine Geldbuße für die in Art. 1 Abs. 1 dieses Beschlusses zugrunde gelegte Dauer der Zuwiderhandlung verhängt habe.
63 Zweitens macht die Klägerin geltend, da die Kommission wegen Verjährung nicht mehr befugt gewesen sei, gegen sie eine neue Geldbuße in dem angefochtenen Beschluss zu verhängen, könne sie nicht in Art. 2 dieses Beschlusses die Zinsen einbehalten, die seit der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße auf den Teil dieser Geldbuße angefallen seien, der dem in Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses neu festgesetzten Betrag der Geldbuße, nämlich 4231000 Euro, entspreche.
64 Drittens macht die Klägerin in der Erwiderung zunächst geltend, für die Entscheidung darüber, ob die Kommission wegen Verjährung nach Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht mehr befugt gewesen sei, gegen sie eine Geldbuße zu verhängen, und ob sie demnach berechtigt gewesen sei, die Zinsen einzubehalten, die seit der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße auf den Teil dieser Geldbuße angefallen seien, der dem in Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses neu festgesetzten Betrag der Geldbuße entspreche, müsse festgestellt werden, ob die teilweise Nichtigerklärung der Entscheidung von 2008 im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), ihr gegenüber Wirkungen entfaltet habe. Dazu führt sie aus, da sie für die in Rede stehende Zuwiderhandlung, die allein auf dem Verhalten von Aragonesas beruhe, nur wegen des beherrschenden Einflusses, den sie auf dieses Unternehmen ausgeübt habe und wegen ihrer Nachfolge in den Rechten und Pflichten von EIA gesamtschuldnerisch hafte, habe die teilweise Nichtigerklärung der Entscheidung von 2008 im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), ihr gegenüber Wirkungen entfaltet. Deshalb müsse ihr eine etwaige Verjährung der gegen sie und Aragonesas als Gesamtschuldner verhängten einheitlichen Geldbuße zugutekommen.
65 Sodann vertritt die Klägerin die Ansicht, dass die Kommission, da das Gericht im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), die gegen sie mit der Entscheidung von 2008 gesamtschuldnerisch mit Aragonesas verhängte Geldbuße insgesamt für nichtig erklärt habe, mit dem angefochtenen Beschluss eine neue Geldbuße gegen sie festgesetzt habe. Infolgedessen unterliege der angefochtene Beschluss sämtlichen für die Verjährung geltenden Regeln, wie sie in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 festgelegt seien.
66 Schließlich wäre die mit dem angefochtenen Beschluss verhängte Geldbuße selbst dann, wenn die Verjährungsfrist ab dem Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung der Kommission vom 30. September 2003, EKA einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, unterbrochen gewesen wäre, und auch unter Berücksichtigung des Ruhens der Verjährungsfrist nach Art. 25 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 nach Ablauf der Höchstfrist für die Verjährung von zehn Jahren gemäß Art. 25 Abs. 5 dieser Verordnung verjährt gewesen.
67 Die Kommission tritt dem gesamten Vorbringen zur Stützung des ersten Klagegrundes entgegen.
68 Vorab stellt das Gericht fest, dass der erste Klagegrund auf zwei Rügen beruht, mit denen jeweils ein Rechtsfehler beanstandet wird. Zur zweiten Rüge geht aus der Klageschrift hervor, dass die Klägerin nicht angegeben hat, welche Rechtsvorschrift die Kommission dadurch verletzt haben soll, dass sie in Art. 2 des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, die Zinsen einzubehalten, die seit der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße auf den Teil dieser Geldbuße angefallen sind, der dem in Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses neu festgesetzten Betrag der Geldbuße entspricht.
69 Allerdings ist zugleich festzustellen, dass die Klägerin im Rahmen des zweiten Klagegrundes geltend macht, die Kommission habe dadurch gegen Art. 266 AEUV verstoßen, dass sie nicht alle sich aus dem Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), ergebenden Maßnahmen ergriffen habe, indem sie in Art. 2 des angefochtenen Beschlusses entschieden habe, den Betrag der neuen gegen sie festgesetzten Geldbuße nebst den seit der vorläufigen Zahlung der Geldbuße angefallenen Zinsen auf diesen Betrag einzubehalten.
70 In Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung zur Tragweite des zweiten Klagegrundes hat die Klägerin, wie in das Protokoll der Sitzung aufgenommen worden ist, eingeräumt, dass sich Art. 2 des angefochtenen Beschlusses nur auf die Zinsen bezieht, die auf den in Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses neu festgesetzten Betrag der Geldbuße angefallen sind. Somit ist der zweite Klagegrund dahin auszulegen, dass die Klägerin lediglich die Entscheidung der Kommission in Art. 2 des angefochtenen Beschlusses, angreift, die Zinsen einzubehalten, die seit der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße auf den Teil dieser Geldbuße angefallen sind, der dem in Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses neu festgesetzten Betrag der Geldbuße entspricht.
71 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die zweite Rüge, auf die der erste Klagegrund gestützt wird, mit den Gründen identisch ist, die die Klägerin zur Stützung des zweiten Klagegrundes – Verstoß gegen Art. 266 AEUV – anführt. Daher ist zunächst die zweite Rüge des ersten Klagegrundes im Licht des zweiten Klagegrundes auszulegen und als dahin gehend zu verstehen, dass die Klägerin im Rahmen dieser Rüge einen Verstoß gegen Art. 266 AEUV geltend macht. Sodann sind die zweite Rüge des ersten Klagegrundes und der zweite Klagegrund gemeinsam zu prüfen, da beide denselben Gegenstand haben, nämlich auf die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 266 AEUV gerichtet sind. Schließlich geht aus der Formulierung des ersten Klagegrundes hervor, dass dessen zweiter Teil voraussetzt, dass sein erster Teil begründet ist. Nur soweit nämlich, wie die Klägerin meint, dass die Kommission wegen Verjährung nicht mehr befugt gewesen wäre, gegen sie eine Geldbuße mit einem neuen Betrag zu verhängen, hätte sie zu Unrecht die Zinsen einbehalten, die seit der vorläufigen Zahlung der ursprünglichen Geldbuße auf den Teil dieser Geldbuße angefallen sind, der dem neuen Betrag der mit Art. 1 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses verhängten Geldbuße entspricht. Infolgedessen ist davon auszugehen, dass der zweite Klagegrund und die zweite Rüge des ersten Klagegrundes beide in gleicher Weise voraussetzen, dass das Gericht zuvor die Begründetheit des ersten Teils des ersten Klagegrundes feststellt.
72 Die erste Rüge des ersten Klagegrundes – Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 – zielt im Kern auf die Feststellung des Gerichts ab, dass die Kommission wegen Verjährung nicht mehr zur Verhängung einer Geldbuße gegen die Klägerin befugt war.
73 Als Erstes ist festzustellen, dass der erste Teil des ersten Klagegrundes auf der Prämisse beruht, dass das Gericht im Urteil Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), Art. 2 Buchst. f der Entscheidung von 2008 insgesamt für nichtig erklärt habe, so dass die Kommission mit dem angefochtenen Beschluss eine neue Entscheidung, gegen die Klägerin eine Geldbuße zu verhängen, erlassen habe.
74 Diese Prämisse erweist sich als falsch. Wie es nämlich ausdrücklich in Nr. 2 des Tenors des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), heißt, hat das Gericht Art. 2 Buchst. f der Entscheidung von 2008 für nichtig erklärt, „soweit darin der Betrag der Geldbuße auf 9,9 Mio. Euro festgesetzt wird“. Infolgedessen ist die Nichtigerklärung dieses Artikels der Entscheidung von 2008 durch die Verwendung des Wortes „soweit“ teilweise, nämlich beschränkt auf den Betrag der festgesetzten Geldbuße, erfolgt und bezieht sich nicht auf die Entscheidung der Kommission, eine Geldbuße zu verhängen.
75 Diese Auslegung von Art. 2 Buchst. f der Entscheidung von 2008 wird bestätigt durch die Entscheidungsgründe des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), und zwar dessen Rn. 247, 258, 302 und 303, wie sie oben in den Rn. 18 bis 21 angeführt worden sind.
76 Infolgedessen ergibt sich sowohl aus dem Tenor wie auch aus den Entscheidungsgründen des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), dass das Gericht Art. 2 Buchst. f der Entscheidung von 2008 nur für insoweit nichtig erklärt hat, als die Kommission dort den Betrag der Geldbuße festgesetzt hatte. Das Gericht hat diesen Artikel keineswegs für nichtig erklärt, soweit die Kommission auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 entschieden hatte, eine Geldbuße gesamtschuldnerisch gegen Aragonesas und die Klägerin zu verhängen.
77 Entgegen dem Vorbringen der Klägerin hat die Kommission mit dem angefochtenen Beschluss keine neue Entscheidung, gegen sie eine Geldbuße zu verhängen, erlassen. Mit diesem Beschluss war nämlich bezweckt und bewirkt, die gegen die Klägerin in der Entscheidung von 2008 verhängte Geldbuße in Höhe von 4231000 Euro, also des in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f des angefochtenen Beschlusses angegebenen Betrags, aufrechtzuerhalten. Daher ist für die Beurteilung der Begründetheit des ersten Teils des ersten Klagegrundes, mit dem die Verjährung der Befugnis der Kommission geltend gemacht wird, gegen die Klägerin eine Geldbuße zu verhängen, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Kommission entschieden hat, gegen die Klägerin eine Geldbuße zu verhängen, also das Datum der Entscheidung von 2008, den 11. Juni 2008, und nicht das Datum des angefochtenen Beschlusses, mit dem, wie aus diesem hervorgeht, bezweckt war, der Klägerin die Wirkungen des Urteils Aragonesas, oben in Rn. 17 angeführt (EU:T:2011:621), zugutekommen zu lassen.
78 Was als Zweites die in Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 geregelte Verjährungsfrist angeht, unterliegt die der Kommission mit diesem Artikel in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung verliehene Befugnis, gegen Unternehmen Geldbußen zu verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV verstoßen, einer Verjährungsfrist von fünf Jahren.
79 Nach Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 beginnt die Verjährungsfrist mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden ist. Diese Bestimmung stellt jedoch klar, dass die Verjährungsfrist bei dauernden oder fortgesetzten Zuwiderhandlungen erst mit dem Tag beginnt, an dem Zuwiderhandlung beendet ist.
80 Nach Art. 25 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 1/2003 wird die Verjährung durch jede auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission oder der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats, u. a. ein schriftliches Auskunftsverlangen der Kommission, unterbrochen, und die Unterbrechung tritt an dem Tag ein, an dem die Handlung mindestens einem an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen oder einer beteiligten Unternehmensvereinigung bekannt gegeben wird.
81 Nach Art. 25 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 wirkt die Unterbrechung gegenüber „allen“ an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen (Urteil vom 27. Juni 2012, Bolloré/Kommission, T‑372/10, Slg, EU:T:2012:325, Rn. 201).
82 Art. 25 Abs. 5 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 sieht u. a. vor, dass die Verjährung nach jeder Unterbrechung von neuem beginnt.
83 Im vorliegenden Fall ist erstens zwischen den Parteien unstreitig, dass die in Rede stehende Zuwiderhandlung einheitlich und dauernd ist. Daher begann gemäß Art. 25 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 1/2003 die Verjährungsfrist gemäß Art. 25 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung „mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist“, also, wie dies oben in Rn. 45 festgestellt worden ist, am 31. Dezember 1998. In Ermangelung einer Handlung, die die Verjährung unterbrochen hätte, lief die Verjährungsfrist von fünf Jahren im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 grundsätzlich am 31. Dezember 2003 ab.
84 Zweitens ist zu prüfen, ob, wie die Kommission geltend macht, die Verjährungsfrist von fünf Jahren im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 vor dem 31. Dezember 2003 durch eine Handlung der Kommission im Sinne von Art. 25 Abs. 3 dieser Verordnung unterbrochen worden ist.
85 Nach der Rechtsprechung ergibt sich aus Art. 25 Abs. 3 und Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003, dass, wenn ein Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war, d. h., wenn es in dem angefochtenen Beschluss als solches identifiziert worden ist, ihm gegenüber die Verjährungsunterbrechung wirkt, die sich aus einer Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung ergibt, die mindestens einem an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen (ihm oder einem anderen) bekannt gegeben wurde, das ebenfalls als an der Zuwiderhandlung beteiligtes Unternehmen identifiziert worden ist. Die Handlungen, die die Verjährung unterbrechen, entfalten daher Wirkungen erga omnes gegenüber allen an der in Rede stehenden Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Bolloré/Kommission, oben in Rn. 81 angeführt, EU:T:2012:325, Rn. 201, 205 und 211).
86 Im vorliegenden Fall ist die Klägerin in dem angefochtenen Beschluss als Beteiligte an der Zuwiderhandlung genannt. Sollte daher im vorliegenden Fall eine die Verjährung unterbrechende Handlung festgestellt werden, könnte sie der Klägerin entgegengehalten werden.
87 Des Weiteren stellt sich die Frage, ob, wie die Kommission geltend macht, ihre Entscheidung vom 30. September 2003, EKA einen bedingten Geldbußenerlass gemäß Rn. 15 der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 zu gewähren, im Sinne von Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 als Handlung eingestuft werden kann, mit der die Verjährung unterbrochen wurde.
88 Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung die in Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 enthaltene Aufzählung, die durch den Ausdruck „unter anderem“ eingeleitet wird, keineswegs erschöpfend ist und dass diese Bestimmung die Unterbrechung der Verjährung nicht von einer Mitteilung oder einem schriftlichen Prüfungsauftrag abhängig macht (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg, EU:C:2002:582, Rn. 141 und 162), und zum anderen darauf, dass die Unterbrechung der Verjährung eine Ausnahme vom Grundsatz der fünfjährigen Verjährung darstellt und daher eng auszulegen ist (Urteil vom 19. März 2003, CMA CGM u. a./Kommission, T‑213/00, Slg, EU:T:2003:76, Rn. 484).
89 Ferner geht aus Art. 25 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 hervor, dass die Verjährung im Sinne dieser Verordnung durch eine „auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission unterbrochen“ wird.
90 In Bezug auf die von der Kommission betriebene Kronzeugenpolitik hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Kronzeugenprogramme nützliche Instrumente sind, um Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht effizient aufzudecken und zu beenden, und damit der wirksamen Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV dienen (Urteil vom 14. Juni 2011, Pfleiderer, C‑360/09, Slg, EU:C:2011:389, Rn. 25).
91 Nach der Rechtsprechung des Gerichts dient „[d]as Kronzeugenprogramm … damit der Untersuchung, Bekämpfung und Abschreckung von Praktiken, die zu den schwersten Verstößen gegen Art. 101 AEUV zählen“ (Urteil vom 9. September 2011, Deltafina/Kommission, T‑12/06, Slg, EU:T:2011:441, Rn. 107).
92 Das Gericht hat auch für Recht erkannt, dass die Gewährung eines bedingten Erlasses der Geldbuße voraussetzt, dass dem Unternehmen, das die Bedingungen nach Rn. 8 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 erfüllt, im Verwaltungsverfahren eine besondere verfahrensrechtliche Stellung zuerkannt wird, die bestimmte Rechtswirkungen entfaltet (Urteil Deltafina/Kommission, oben in Rn. 91 angeführt, EU:T:2011:441, Rn. 114).
93 Wie aus den Rn. 103 bis 118 des Urteils Deltafina/Kommission, oben in Rn. 91 angeführt (EU:T:2011:441), die sich auf das von der Kommission eingerichtete Kronzeugenprogramm beziehen, hervorgeht, trägt die Gewährung eines bedingten Geldbußenerlasses für einen Antragsteller auf Teilnahme am Kronzeugenprogramm dadurch zur vollen Wirksamkeit dieses Programms bei, dass den Unternehmen, die mit der Kommission bei der Untersuchung von Kartellen zusammenarbeiten, die Praktiken betreffen, die zu den schwersten Verstößen gegen Art. 101 AEUV zählen, Rechtsvorteile gewährt werden sollen (Urteil Deltafina/Kommission, oben in Rn. 91 angeführt, EU:T:2011:441, Rn. 103 und 105). Daher können diesen Unternehmen als Gegenleistung für ihre aktive und freiwillige Mitwirkung an der Untersuchung, mit der sie die Aufgabe der Kommission erleichtern, die in der Feststellung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln besteht, im Hinblick auf die Geldbuße, die andernfalls gegen sie verhängt worden wäre, Rechtsvorteile gewährt werden, sofern sie die in der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 genannten Bedingungen erfüllen (Urteil Deltafina/Kommission, oben in Rn. 91 angeführt, EU:T:2011:441, Rn. 108).
94 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Rn. 8 der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 Folgendes vorsieht:
„Die Kommission erlässt einem Unternehmen die Geldbuße, die andernfalls verhängt worden wäre, sofern
a)
das Unternehmen als Erstes Beweismittel vorlegt, die es der Kommission ihrer Ansicht nach ermöglichen, in einer Entscheidung eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 … anzuordnen, um gegen ein mutmaßliches, die Gemeinschaft betreffendes Kartell zu ermitteln, oder
b)
das Unternehmen als Erstes Beweismittel vorlegt, die es der Kommission ihrer Ansicht nach ermöglichen, eine Zuwiderhandlung gegen Artikel [101 AEUV] in Form eines mutmaßlichen, die Gemeinschaft betreffenden Kartells festzustellen.“
95 Rn. 11 Buchst. a bis c der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 lauten:
„Zusätzlich zu den unter den Randnummern 8 Buchstabe a) und 9 bzw. den Randnummern 8 Buchstabe b) und 10 genannten Bedingungen muss das Unternehmen, um einen Geldbußenerlass zu erhalten, die nachstehenden Bedingungen erfüllen:
a)
Es muss während des Verwaltungsverfahrens in vollem Umfang kontinuierlich und zügig mit der Kommission zusammenarbeiten und der Kommission alle in seinem Besitz befindlichen oder anderweitig verfügbaren Beweismittel über das mutmaßliche Kartell vorlegen. Es muss sich der Kommission zur Verfügung halten, um jede Anfrage, die zur Feststellung des Sachverhalts beitragen kann, zügig zu beantworten.
b)
Es muss seine Teilnahme an der mutmaßlichen rechtswidrigen Handlung spätestens zu dem Zeitpunkt einstellen, zu dem es die Beweismittel gemäß Randnummern 8 Buchstabe a) bzw. 8 Buchstabe b) vorlegt.
c)
Es darf andere Unternehmen nicht zur Teilnahme an der rechtswidrigen Handlung gezwungen haben.“
96 Aufgrund der oben in den Rn. 90 bis 95 dargestellten Erwägungen ist zunächst festzustellen, dass das Kronzeugenprogramm unmittelbar zur vollen Wirksamkeit der Politik der Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union beiträgt, für die die Kommission verantwortlich ist. Sodann erlaubt es die Entscheidung, einem Antragsteller auf Teilnahme am Kronzeugenprogramm einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, zu bestätigen, dass sein Antrag die erforderlichen Voraussetzungen dafür erfüllt, dass ihm bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens unter bestimmten Bedingungen ein endgültiger Geldbußenerlass gewährt werden kann. Schließlich verpflichtet diese verfahrensrechtliche Stellung, die dem Antragsteller auf Anwendung der Kronzeugenregelung mit der Entscheidung verschafft wird, ihm einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, den Betroffenen, bis zum Erlass der endgültigen Entscheidung der Kommission ein Verhalten zu befolgen, das die in Rn. 11 Buchst. a bis c der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 2002 aufgestellten Bedingungen erfüllt, damit er Anspruch auf die Gewährung eines endgültigen Bußgelderlasses erheben kann. Dieses Verhalten des Antragstellers auf Anwendung der Kronzeugenregelung ist insbesondere durch eine Verpflichtung gekennzeichnet, zum einen während des Verwaltungsverfahrens in vollem Umfang kontinuierlich und zügig mit der Kommission zusammenzuarbeiten und zum anderen der Kommission alle in seinem Besitz befindlichen oder anderweit verfügbaren Beweismittel über das mutmaßliche Kartell vorzulegen.
97 Somit ist die Entscheidung, einem Antragsteller auf Anwendung der Kronzeugenregelung einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, grundlegend dafür, dass die Kommission die vermutete Zuwiderhandlung untersuchen und verfolgen kann. Folglich ist diese Verfahrenshandlung der Kommission auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung im Sinne von Art. 25 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 gerichtet und somit als die Verjährung unterbrechende Handlung einzuordnen. Wie oben in Rn. 85 ausgeführt worden ist, kann eine solche Unterbrechungshandlung Wirkungen erga omnes gegenüber allen an der in Rede stehenden Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen entfalten.
98 In Anbetracht der vorstehend in Rn. 97 gezogenen Schlussfolgerung ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die Verjährung, die in Bezug auf die Klägerin am 31. Dezember 1998 zu laufen begann, vier Jahre und neun Monate später durch die Entscheidung der Kommission vom 30. September 2003, EKA einen vorläufigen Geldbußenerlass zu gewähren, unterbrochen worden ist. Der Lauf der Verjährung begann daher ab dieser Entscheidung erneut bei null und wurde elf Monate und zehn Tage später durch das Auskunftsverlangen der Kommission vom 10. September 2004, das u. a. an Aragonesas gerichtet war, erneut unterbrochen. Der Lauf der Verjährung begann daher erneut bei null bis zum Erlass der Entscheidung von 2008 am 11. Juni 2008, also drei Jahre und neun Monate später. In Anbetracht der oben in Rn. 77 gezogenen Schlussfolgerung, wonach auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem die Kommission entschieden hat, die Geldbuße gegen die Klägerin zu verhängen, also den Zeitpunkt der Entscheidung von 2008, den 11. Juni 2008, ist demnach diese Entscheidung, wie sie durch den angefochtenen Beschluss teilweise, in Höhe von 4231000 Euro des Betrags der Geldbuße, mit ihren Wirkungen aufrechterhalten worden ist, innerhalb der fünfjährigen Verjährungsfrist im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 erlassen worden.
99 Zum einen kann dieses Ergebnis nicht durch das Vorbringen der Klägerin entkräftet werden, die Kommission habe in Rn. 492 der Entscheidung von 2008 das erste Auskunftsverlangen vom 10. September 2004 als Handlung bezeichnet, die die Verjährung in der vorliegenden Sache unterbrochen habe. Der Umstand, dass die Kommission in der Entscheidung von 2008 auf diese Handlung abstellte, kann sie nämlich nicht daran hindern, sich jetzt auf eine frühere Handlung wie die Entscheidung vom 30. September 2003 zu berufen, in der sie ebenfalls eine möglicherweise den Lauf dieser Verjährung unterbrechende Handlung sieht. In dieser Randnummer heißt es nämlich ausdrücklich, dass die Verjährungsfrist nach Ansicht der Kommission „spätestens“ am 10. September 2004 unterbrochen wurde. Damit hatte die Kommission nicht ausgeschlossen, dass andere Handlungen vor dem Auskunftsverlangen vom 10. September 2004, wie ihre Entscheidung vom 30. September 2003, EKA einen bedingten Geldbußenerlass zu gewähren, ebenfalls die Verjährung unterbrechen konnten.
100 Zum anderen beruft sich die Klägerin zu Unrecht auf die Entscheidungspraxis, die bisher von der Kommission befolgt worden sein soll, um geltend zu machen, dass die Kommission verpflichtet gewesen wäre, das erste Auskunftsverlangen, dass sie am 10. September 2004 an einen der Adressaten der Entscheidung von 2008 gerichtet hatte, als die Verjährung unterbrechende Handlung zu berücksichtigen. Wie sich nämlich aus sämtlichen oben in den Rn. 84 bis 97 dargelegten Gründen ergibt, beruht die Einstufung einer Handlung der Kommission als die Verjährung unterbrechende Handlung auf Rechtsnormen, hier insbesondere Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003, in ihrer aktuellen Auslegung durch den Unionsrichter. Daher kann die von der Klägerin geltend gemachte frühere Praxis der Kommission diese nicht daran hindern, unter der Kontrolle des Unionsrichters andere Arten von Handlungen als das erste Auskunftsverlangen als die Verjährung unterbrechende Handlung zu berücksichtigen.
101 Was als Drittes den von der Klägerin in der Erwiderung vorgebrachten Klagegrund einer Verletzung von Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die Klageschrift nach Art. 76 der Verfahrensordnung des Gerichts namentlich eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss. Nach ständiger Rechtsprechung muss diese Darstellung ferner unabhängig von Fragen der Terminologie so klar und genau sein, dass der Beklagte seine Verteidigung vorbereiten und das Gericht – gegebenenfalls ohne Einholung weiterer Informationen – über die Klage entscheiden kann. Um die Rechtssicherheit und eine geordnete Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich die Klage stützt, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben (vgl. Urteil vom 27. September 2006, Roquette Frères/Kommission, T‑322/01, Slg, EU:T:2006:267, Rn. 208 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung sind Klagegründe, die in der Klageschrift nicht hinreichend substantiiert angeführt worden sind, als unzulässig anzusehen. Entsprechende Erfordernisse gelten für eine zur Stützung eines Klagegrundes vorgebrachte Rüge. Die aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozessvoraussetzungen folgende Unzulässigkeit kann vom Gericht nötigenfalls von Amts wegen festgestellt werden (vgl. Urteil vom 14. Dezember 2005, Honeywell/Kommission, T‑209/01, Slg, EU:T:2005:455, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
102 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klägerin in der Klageschrift in keiner Weise auch nur im Kern einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 gerügt hat, soweit mit dieser Bestimmung eine Verjährungsfrist von höchstens zehn Jahren geregelt wird, über die die Kommission für die Verhängung einer Geldbuße verfügt. Daher ist, wie die Kommission geltend macht, die in der Phase der Erwiderung erhobene Rüge des Verstoßes gegen Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 als unzulässig zurückzuweisen.
103 Nur ergänzend ist festzustellen, dass dieser Klagegrund jedenfalls offensichtlich unbegründet ist. Die in Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 geregelte Verjährungsfrist von zehn Jahren hat am 31. Dezember 1998 zu laufen begonnen und wäre spätestens am 31. Dezember 2008 abgelaufen, wenn sie nicht gemäß Art. 25 Abs. 6 dieser Verordnung geruht hätte. Ohne dass jedoch die Dauer eines solchen möglichen Ruhens berechnet werden müsste, ist festzustellen, dass die Entscheidung von 2008, wie sie gemäß den oben in Rn. 77 getroffenen Feststellungen durch den angefochtenen Beschluss teilweise in ihren Wirkungen, nämlich in Höhe des auf 4231000 Euro festgesetzten Betrags der Geldbuße, aufrechterhalten worden ist, am 11. Juni 2008, also mehr als sechs Monate vor dem 31. Dezember 2008, erlassen wurde.
104 Demzufolge ist die erste Rüge des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
105 In Anbetracht der Erwägungen oben in Rn. 71 zum Verhältnis zwischen der ersten Rüge des ersten Klagegrundes einerseits und der zweiten Rüge des ersten Klagegrundes und dem zweiten Klagegrund andererseits ist die Klage, da die erste Rüge des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen ist, insgesamt abzuweisen, ohne dass über die zweite Rüge des ersten Klagegrundes oder über den zweiten Klagegrund zu entscheiden ist.
Kosten
106 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Corporación Empresarial de Materiales de Construcción, SA, trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.
Martins Ribeiro
Gervasoni
Madise
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. Oktober 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 18. September 2015.#Oil Pension Fund Investment Company gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Iran zur Verhinderung der nuklearen Proliferation – Einfrieren von Geldern – Begründungspflicht – Verteidigungsrechte – Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit – Eigentumsrecht – Anpassung der zeitlichen Wirkungen einer Nichtigerklärung.#Rechtssache T-121/13.
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62013TJ0121
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ECLI:EU:T:2015:645
| 2015-09-18T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0121 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 10. September 2015.#Fliesen-Zentrum Deutschland GmbH gegen Hauptzollamt Regensburg.#Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts München.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Dumping – Antidumpingzoll auf die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in China – Durchführungsverordnung (EU) Nr. 917/2011 – Gültigkeit – Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 – Art. 2 Abs. 7 Buchst. a – Normalwert – Ermittlung auf der Grundlage des Preises in einem Drittland mit Marktwirtschaft – Wahl des geeigneten Drittlands – Sorgfaltspflicht – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Stichprobenverfahren.#Rechtssache C-687/13.
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62013CJ0687
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ECLI:EU:C:2015:573
| 2015-09-10T00:00:00 |
Sharpston, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0687
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
10. September 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Dumping — Antidumpingzoll auf die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in China — Durchführungsverordnung (EU) Nr. 917/2011 — Gültigkeit — Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 — Art. 2 Abs. 7 Buchst. a — Normalwert — Ermittlung auf der Grundlage des Preises in einem Drittland mit Marktwirtschaft — Wahl des geeigneten Drittlands — Sorgfaltspflicht — Verteidigungsrechte — Begründungspflicht — Stichprobenverfahren“
In der Rechtssache C‑687/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht München (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 2013, in dem Verfahren
Fliesen-Zentrum Deutschland GmbH
gegen
Hauptzollamt Regensburg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Dezember 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
der Fliesen-Zentrum Deutschland GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt B. Enders,
—
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch S. Boelaert als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt R. Bierwagen,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. França, T. Maxian Rusche und R. Sauer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 21. Mai 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 917/2011 des Rates vom 12. September 2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 238, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Fliesen-Zentrum Deutschland GmbH (im Folgenden: Fliesen-Zentrum) und dem Hauptzollamt Regensburg (im Folgenden: Hauptzollamt) über einen Antidumpingzoll, den das Hauptzollamt auf vom Fliesen-Zentrum durchgeführte Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in China erhoben hat.
Unionsrechtlicher Rahmen
Grundverordnung
3 Nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. L 343, S. 51, im Folgenden: Grundverordnung) kann „[e]in Antidumpingzoll … auf jede Ware erhoben werden, die Gegenstand eines Dumpings ist und deren Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr in der [Union] eine Schädigung verursacht“.
4 Art. 2 („Feststellung des Dumpings“) sieht in seinen Abs. 1 bis 6 die Regeln für diese Feststellung bei Einfuhren aus Drittländern mit Marktwirtschaft vor. Insbesondere bestimmt Art. 2 Abs. 1:
„Der Normalwert stützt sich normalerweise auf die Preise, die im normalen Handelsverkehr von unabhängigen Abnehmern im Ausfuhrland gezahlt wurden oder zu zahlen sind.
Wird jedoch die gleichartige Ware von dem Ausführer im Ausfuhrland weder hergestellt noch verkauft, so kann der Normalwert anhand der Preise der anderen Verkäufer oder Hersteller ermittelt werden.
…“
5 In Art. 2 Abs. 7 Buchst. a dieser Verordnung heißt es:
„Im Fall von Einfuhren aus Ländern ohne Marktwirtschaft … erfolgt die Ermittlung des Normalwerts auf der Grundlage des Preises oder des rechnerisch ermittelten Wertes in einem Drittland mit Marktwirtschaft oder des Preises, zu dem die Ware aus einem solchen Drittland in andere Länder sowie in die [Union] verkauft wird; falls dies nicht möglich ist, erfolgt die Ermittlung auf jeder anderen angemessenen Grundlage, einschließlich des für die gleichartige Ware in der [Union] tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preises, der erforderlichenfalls um eine angemessene Gewinnspanne gebührend berichtigt wird.
Ein geeignetes Drittland mit Marktwirtschaft wird auf nicht unvertretbare Weise unter gebührender Berücksichtigung aller zum Zeitpunkt der Auswahl zur Verfügung stehenden zuverlässigen Informationen ausgewählt. Ferner werden die Terminzwänge berücksichtigt, und es wird, soweit angemessen, ein Drittland mit Marktwirtschaft herangezogen, das Gegenstand der gleichen Untersuchung ist.
…“
6 Art. 2 Abs. 10 der Grundverordnung lautet:
„Zwischen dem Ausfuhrpreis und dem Normalwert wird ein gerechter Vergleich durchgeführt. Dieser Vergleich erfolgt auf derselben Handelsstufe und unter Zugrundelegung von Verkäufen, die zu möglichst nahe beieinander liegenden Zeitpunkten getätigt werden, sowie unter gebührender Berücksichtigung anderer Unterschiede, die die Vergleichbarkeit der Preise beeinflussen. Ist die Vergleichbarkeit der ermittelten Normalwerte und Ausfuhrpreise nicht gegeben, werden, auf Antrag, jedes Mal gebührende Berichtigungen für Unterschiede bei Faktoren vorgenommen, die nachweislich die Preise und damit die Vergleichbarkeit der Preise beeinflussen. …“
7 Art. 3 („Feststellung der Schädigung“) Abs. 2 und 3 dieser Verordnung sieht vor:
„(2) Die Feststellung einer Schädigung stützt sich auf eindeutige Beweise und erfordert eine objektive Prüfung
a)
des Volumens der gedumpten Einfuhren und ihrer Auswirkungen auf die Preise gleichartiger Waren auf dem [Union]smarkt und
b)
der Auswirkungen dieser Einfuhren auf den Wirtschaftszweig der [Union].
(3) Im Zusammenhang mit dem Volumen der gedumpten Einfuhren ist zu berücksichtigen, ob diese Einfuhren entweder absolut oder im Verhältnis zu Produktion oder Verbrauch in der [Union] erheblich angestiegen sind. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen der gedumpten Einfuhren auf die Preise ist in Betracht zu ziehen, ob im Vergleich zu dem Preis einer gleichartigen Ware des Wirtschaftszweigs der [Union] eine erhebliche Preisunterbietung durch die gedumpten Einfuhren stattgefunden hat oder ob diese Einfuhren auf andere Weise einen erheblichen Preisrückgang verursacht oder Preiserhöhungen, die andernfalls eingetreten wären, deutlich verhindert haben. Weder eines noch mehrere dieser Kriterien sind notwendigerweise ausschlaggebend.“
8 In Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung heißt es:
„Ergibt sich aus der endgültigen Feststellung des Sachverhalts, dass Dumping und eine dadurch verursachte Schädigung vorliegen und im [Union]sinteresse ein Eingreifen … erforderlich ist, so führt der Rat … einen endgültigen Antidumpingzoll ein. … Der Antidumpingzoll darf die festgestellte Dumpingspanne nicht übersteigen, sollte aber niedriger sein als die Dumpingspanne, wenn ein niedrigerer Zoll ausreicht, um die Schädigung des Wirtschaftszweigs der [Union] zu beseitigen.“
9 Gemäß Art. 17 („Stichprobe“) Abs. 1 der Grundverordnung kann „[i]n Fällen, in denen die Anzahl der Antragsteller, der Ausführer oder der Einführer, der Warentypen oder der Geschäftsvorgänge sehr groß ist, … die Untersuchung auf eine vertretbare Anzahl von Parteien, Waren oder Geschäftsvorgängen durch Stichproben, die nach den normalen statistischen Verfahren auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Auswahl zur Verfügung stehenden Informationen gebildet werden, oder auf das größte repräsentative Volumen von Produktion, Verkäufen oder Ausfuhren beschränkt werden, die in angemessener Weise in der zur Verfügung stehenden Zeit untersucht werden können“.
10 Nach Art. 17 Abs. 2 obliegt „[d]ie endgültige Auswahl der Parteien, Warentypen oder Geschäftsvorgänge gemäß diesen Bestimmungen über die Stichprobe … der Kommission, obgleich sie vorzugsweise in Absprache und im Einvernehmen mit den betroffenen Parteien erfolgt“.
11 Art. 18 Abs. 1 und 5 der Grundverordnung lautet:
„(1) Verweigert eine interessierte Partei den Zugang zu den erforderlichen Informationen oder erteilt sie nicht innerhalb der durch diese Verordnung gesetzten Fristen die erforderlichen Auskünfte oder behindert sie erheblich die Untersuchung, so können vorläufige oder endgültige positive oder negative Feststellungen auf der Grundlage der verfügbaren Fakten getroffen werden. Wird festgestellt, dass eine interessierte Partei unwahre oder irreführende Informationen vorgelegt hat, so werden diese Informationen nicht berücksichtigt, und die verfügbaren Informationen können zugrunde gelegt werden. Die interessierten Parteien sollten über die Folgen der mangelnden Bereitschaft zur Mitarbeit unterrichtet werden.
…
(5) Stützen sich die Feststellungen, einschließlich der Ermittlung des Normalwerts, auf Absatz 1, einschließlich der Angaben in dem Antrag, so werden sie, soweit möglich und unter gebührender Berücksichtigung der Fristen, für die Untersuchung anhand von Informationen aus anderen zugänglichen unabhängigen Quellen wie veröffentlichte Preislisten, amtliche Einfuhrstatistiken und Zollerklärungen oder anhand von Informationen geprüft, die von anderen interessierten Parteien während der Untersuchung vorgelegt wurden.
Bei solchen Informationen kann es sich gegebenenfalls um einschlägige Informationen über den Weltmarkt oder andere repräsentative Märkte handeln.“
12 Art. 20 Abs. 4 dieser Verordnung, der den Antrag der Parteien auf Unterrichtung betrifft, sieht vor:
„Die endgültige Unterrichtung erfolgt schriftlich. Sie erfolgt unter der erforderlichen Wahrung der Vertraulichkeit der Informationen so bald wie möglich und normalerweise spätestens einen Monat vor einer endgültigen Entscheidung oder der Vorlage eines Vorschlags der Kommission für endgültige Maßnahmen gemäß Artikel 9. Ist die Kommission nicht in der Lage, über bestimmte Tatsachen oder Erwägungen innerhalb dieser Frist zu unterrichten, so werden diese so bald wie möglich danach mitgeteilt. Die Unterrichtung greift einem etwaigen späteren Beschluss der Kommission oder des Rates nicht vor; stützt sich dieser Beschluss jedoch auf andere Tatsachen und Erwägungen, so erfolgt die Unterrichtung darüber so bald wie möglich.“
Vorläufige Verordnung
13 Am 16. März 2011 erließ die Kommission die Verordnung (EU) Nr. 258/2011 zur Einführung eines vorläufigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 70, S. 5, im Folgenden: vorläufige Verordnung).
14 Teil A dieser Verordnung enthielt einen Abschnitt 2 über die von dem Verfahren betroffenen Parteien. Laut Rn. 4 in diesem Abschnitt 2 wurden, „[d]amit die Kommission über die Notwendigkeit eines Stichprobenverfahrens entscheiden und gegebenenfalls Stichproben bilden konnte, … alle ihr bekannten ausführenden Hersteller in der VR China, Einführer und Unionshersteller gebeten, mit der Kommission Kontakt aufzunehmen und ihr für den Zeitraum vom 1. April 2009 bis zum 1. März 2010 die in der Einleitungsbekanntmachung aufgeführten grundlegenden Informationen zu ihrer Tätigkeit in Verbindung mit der betroffenen Ware vorzulegen“.
15 Teil A Abschnitt 2.1 betrifft die Bildung einer Stichprobe der ausführenden Hersteller der VR China. Er enthielt folgende Rn. 6 dieser Verordnung:
„Nach Artikel 17 Absatz 1 der Grundverordnung bildete die Kommission eine Stichprobe der ausführenden Hersteller, und zwar auf der Grundlage des größten repräsentativen Ausfuhrvolumens der betroffenen Ware in die Union, das in der verfügbaren Zeit angemessen untersucht werden konnte. Die Stichprobe umfasste drei Gruppen, in denen 10 einzelne Hersteller vertreten waren und auf die im UZ 14,4 % der Gesamtmenge der Ausfuhren aus der VR China in die Union und 31,3 % der Gesamtmenge der mitarbeitenden Ausführer entfielen. Die betroffenen Parteien und die Behörden der VR China wurden nach Artikel 17 Absatz 2 der Grundverordnung zur Stichprobenbildung konsultiert. Es gingen einige Stellungnahmen dazu ein. Als begründet erachtete Stellungnahmen wurden bei der Bildung der endgültigen Stichprobe berücksichtigt.“
16 Teil A Abschnitt 2.2 über die Bildung einer Stichprobe der EU-Hersteller umfasste die Rn. 7 bis 14 der vorläufigen Verordnung. Insbesondere sahen die Rn. 7 bis 9 und 11 bis 13 vor:
„(7)
… der Kommission [lagen] … Informationen von 73 EU-Herstellern vor.
(8) Bei der Bildung der Stichprobe wurde die starke Fragmentierung der Keramikfliesenbranche berücksichtigt. Damit die Ergebnisse großer Unternehmen die Schadensanalyse nicht dominierten und um sicherzustellen, dass die Lage der kleinen Unternehmen, die zusammengenommen den größten Teil der EU-Produktion ausmachen, hinreichend berücksichtigt wurde, vertrat die Kommission die Auffassung, dass alle Segmente, d. h. die kleinen, die mittleren und die großen Unternehmen, in der Stichprobe vertreten sein sollten.
(9) Es wurden drei Segmente anhand der jährlichen Produktionsmenge unterschieden:
…
…
(11) Die Stichprobe wurde aus zehn Unternehmen gebildet. Bei den Unternehmen handelt es sich jeweils um die größten der drei Segmente; berücksichtigt wurden die Verkäufe, die Produktion sowie der Standort. Von den Stichprobenunternehmen gehört eines dem Segment der Großunternehmen an, vier wurden im Segment der mittleren Unternehmen gezogen und fünf in demjenigen der kleinen Unternehmen. Die Stichprobenunternehmen haben Standorte in den sechs Mitgliedstaaten (Italien, Spanien, Polen, Portugal, Deutschland und Frankreich), in denen über 90 % der EU-Gesamtproduktion hergestellt werden. Auf diese Stichprobenunternehmen entfielen 24 % der Gesamtproduktion der mitarbeitenden Hersteller und 7 % der EU-Gesamtproduktion.
(12) Im Laufe der Untersuchung stellte ein polnisches Unternehmen der Stichprobe seine Mitarbeit an der Untersuchung ein. Der Kommission gelang es nicht, einen anderen Hersteller mit Standort in Polen für die Mitarbeit zu gewinnen.
(13) Trotz der Einstellung der Mitarbeit durch den polnischen Hersteller blieb die Repräsentativität der Stichprobe gemessen anhand der Kriterien der Randnummern 8 und 10 hoch. Daher entschied die Kommission, dass das Verfahren mit einer aus neun Herstellern aus fünf Mitgliedstaaten gebildeten Stichprobe fortgeführt werden konnte.“
17 Die Rn. 46 bis 54 der vorläufigen Verordnung bezüglich der Wahl der USA als Vergleichsland gemäß Art. 2 Abs. 7 der Grundverordnung lauteten:
„(46)
In der Einleitungsbekanntmachung hatte die Kommission die USA als geeignetes Vergleichsland zur Ermittlung des Normalwerts für die VR China vorgesehen und die interessierten Parteien um eine diesbezügliche Stellungnahme ersucht.
(47) In den eingegangenen Stellungnahmen wurden mehrere andere Länder als alternatives Vergleichsland vorgeschlagen, unter anderem Brasilien, die Türkei, Nigeria, Thailand und Indonesien.
(48) Die Kommission beschloss daher, ihr bekannte Hersteller in diesen Ländern, auch den USA, zur Mitarbeit zu bewegen. Jedoch beantworteten nur zwei Hersteller der betroffenen Ware in den USA die Fragebogen. Ferner übermittelte ein thailändischer Hersteller einen unvollständigen Fragebogen; das Sortiment dieses Herstellers war zudem nicht voll vergleichbar mit demjenigen der mitarbeitenden chinesischen Hersteller.
(49) Die Untersuchung ergab, dass es in den USA einen Wettbewerbsmarkt für die betroffene Ware gibt. Auf dem inländischen Markt der USA sind mehrere Hersteller tätig; außerdem werden große Mengen eingeführt. Der Untersuchung zufolge weisen Keramikfliesen mit Ursprung in der VR China und in den USA im Wesentlichen dieselben materiellen Eigenschaften und Verwendungen auf und auch die Herstellungsverfahren ähneln sich.
(50) Es wurde vorgebracht, da der US-amerikanische Markt in erster Linie ein Einfuhrmarkt sei, bedienten die in den USA hergestellten Keramikfliesen und die in der VR China hergestellten unterschiedliche Marktsegmente. Die im Inland hergestellten Warentypen, anhand deren der Normalwert ermittelt würde, seien nicht vergleichbar mit den aus der VR China in die Union ausgeführten Warentypen. Der Untersuchung zufolge wird jedoch von den in den USA hergestellten Keramikfliesen eine breite Palette von Warentypen abgedeckt, die mit den in der VR China hergestellten und von dort ausgeführten vergleichbar sind (vgl. Randnummer 49).
(51) Ferner wurde vorgebracht, die USA seien ein verhältnismäßig unbedeutender Akteur auf dem weltweiten Keramikfliesenmarkt. Die 2009 in den USA hergestellten rund 600 Mio. m2 können jedoch als erheblich angesehen werden. Zum Vergleich: Der weltgrößte Hersteller, die VR China, stellte im selben Zeitraum 2 Mrd. m2 her.
(52) Eine Partei brachte vor, die hohen Qualitätsnormen der USA seien praktisch nichttarifären Handelshemmnissen für chinesische Einfuhren gleichzusetzen. Wie bereits dargelegt, ergab die Untersuchung jedoch, dass große Mengen aus der VR China in die USA eingeführt wurden und dass diese den Hauptanteil des US-amerikanischen Inlandsverbrauchs ausmachen. Daher wird der Einwand, dass nichttarifäre Handelshemmnisse in den USA einen Einfluss auf die Einfuhren und damit den Wettbewerb hätten, zurückgewiesen.
(53) Die von den beiden mitarbeitenden US-amerikanischen Herstellern vorgelegten Daten wurden vor Ort überprüft. Letztlich wurden nur die Daten eines besuchten Herstellers berücksichtigt, da seine Angaben sich als zuverlässig und für die Ermittlung des Normalwerts geeignet erwiesen. Die Daten des zweiten besuchten Herstellers dagegen erwiesen sich als unzuverlässig und konnten nicht verwendet werden, da dieser Hersteller keine vollständigen Angaben zu seinen inländischen Verkäufen übermittelt hatte und die Kosten sich nicht voll mit seiner Rechnungslegung in Einklang bringen ließen.
(54) Daher wird vorläufig der Schluss gezogen, dass die USA ein geeignetes und angemessenes Vergleichsland im Sinne des Artikels 2 Absatz 7 der Grundverordnung sind.“
18 In Rn. 61 der vorläufigen Verordnung, die am Normalwert vorgenommene Berichtigungen betraf, hieß es:
„Im Interesse eines gerechten Vergleichs zwischen dem Normalwert und dem Ausfuhrpreis wurden nach Artikel 2 Absatz 10 der Grundverordnung für Unterschiede, die die Preise und ihre Vergleichbarkeit beeinflussten, gebührende Berichtigungen vorgenommen. Berichtigungen am Normalwert wurden vorgenommen für Unterschiede bei den Merkmalen … und für Qualitätsunterschiede bei bestimmten nicht vom Hersteller im Vergleichsland hergestellten Warentypen (aufgrund der geringeren Kosten von Steingutfliesen). Weitere Berichtigungen betrafen, soweit erforderlich, Seefracht-, Versicherungs-, Bereitstellungs-, Neben-, Verpackungs- und Kreditkosten sowie Bankgebühren und Provisionen; sie wurden in allen Fällen zugestanden, in denen die Anträge für begründet, korrekt und stichhaltig belegt befunden wurden.“
19 In Rn. 144 der vorläufigen Verordnung wurde darauf hingewiesen, dass „die [im Rahmen des Antidumpingverfahrens] untersuchte Ware in mehreren Ländern sowohl innerhalb der Union als auch außerhalb (Türkei, Vereinigte Arabische Emirate, [Ägypten], Südostasien, Brasilien u. a.) hergestellt [wurde]“.
Verordnung Nr. 917/2011
20 In den Rn. 9 bis 33 der Verordnung Nr. 917/2011 werden die Parteien dargestellt, die von dem Verfahren betroffen sind, das zum Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Antidumpingzolls geführt hat. Sie enthalten Erwägungen zur Bildung der Stichprobe der ausführenden Hersteller der VR China und jener der Unionshersteller. Insbesondere lauten die Rn. 18, 23 und 31 dieser Verordnung:
„(18)
Es trifft zu, dass ein polnischer Hersteller beschloss, nicht weiter an der Untersuchung mitzuarbeiten, weshalb er aus der Stichprobe ausgeschlossen werden musste. Es ist indessen nicht erforderlich, dass eine Stichprobe die geografische Verteilung und das Gewicht der Herstellermitgliedstaaten exakt widerspiegelt, um repräsentativ zu sein. Da die geografische Verteilung nur einer der repräsentativitätsbestimmenden Faktoren ist, wäre ein derartiger Ansatz verwaltungstechnisch nicht praktikabel. Vielmehr genügt es, wenn die Stichprobe die jeweiligen Anteile der großen Herstellerländer proportional widerspiegelt. Unter Zugrundelegung dieses Kriteriums wurde befunden, dass der Rückzug des polnischen Unternehmens die Gesamtrepräsentativität der Stichprobe nicht beeinträchtigte. Somit wird bestätigt, dass die Stichprobe der EU-Hersteller hinreichend repräsentativ im Sinne des Artikels 17 der Grundverordnung ist.
…
(23) Im Hinblick auf die unterschiedlichen Methoden zur Auswahl einer Stichprobe einerseits der Unionshersteller, andererseits der chinesischen ausführenden Hersteller ist festzuhalten, dass die Methoden den Zielen des Stichprobenverfahrens entsprechend angewendet wurden. Beim Wirtschaftszweig der Union musste die Kommission die Lage des gesamten Wirtschaftszweigs beurteilen; folglich wurden die Kriterien zugrunde gelegt, die das repräsentativste Bild der gesamten Branche zeichneten. Bei den chinesischen Ausführern bot es sich an, die Stichprobe auf der Grundlage der größten Ausfuhrmenge der betroffenen Ware zu bilden, weshalb die größten Ausführer in die Stichprobe aufgenommen wurden. Es wird ferner darauf hingewiesen, dass keine Verpflichtung nach Artikel 17 der Grundverordnung besteht, beide Stichproben nach denselben Kriterien zu bilden. Im Übrigen erhielten die mitarbeitenden Parteien in der VR China sowie die chinesischen Behörden Gelegenheit, Stellung zur beabsichtigten Stichprobe zu beziehen, bevor die Stichprobe der chinesischen ausführenden Hersteller endgültig bestimmt wurde. Daraufhin wurde Stellung zur Zusammensetzung der Stichprobe bezogen, nicht jedoch zu deren Repräsentativität.
…
(31) Zur Verwendung des Kriteriums der geografischen Verteilung ist festzuhalten, dass es sich um eine fragmentierte Branche handelt und die geografische Verteilung der Hersteller über die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung der Repräsentativität der gebildeten Stichprobe verwendet wird, um den unterschiedlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen, die innerhalb der Europäischen Union herrschen können. Die Stichprobe umfasst die Mitgliedstaaten, aus denen etwa 90 % der EU-Produktion stammen; nach dem Rückzug des polnischen Unternehmens war der Abdeckungsgrad mit etwa 80 % noch immer beträchtlich hoch. Folglich gewährleistete die von der Kommission angewandte Methodik, dass die Stichprobe bezüglich der EU-Produktion als Ganzes repräsentativ ist und Artikel 17 Absatz 1 gerecht wird. Daher wurde der Einwand zurückgewiesen.“
21 Die Rn. 55, 58 bis 63, 67 und 68, 70 bis 72 und 74 bis 77 der Verordnung Nr. 917/2011, die die Wahl der USA als Vergleichsland und die Festlegung des Normalwerts im Untersuchungsverfahren gemäß Art. 2 Abs. 7 der Grundverordnung betreffen, lauten:
„(55)
Zwei Einführer bezogen zur Wahl der Vereinigten Staaten von Amerika … als Vergleichsland Stellung und wandten ein, dass die USA sich als Vergleichsland nicht eigneten, weil ihre Eigenerzeugung zu vernachlässigen sei und sie auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig seien. Außerdem seien die USA in nicht vertretbarer Weise ausgewählt worden, weil es nur deshalb keine alternativen Vergleichsländer gegeben habe, weil der Verband der EU-Hersteller in unzulässiger Weise Druck auf die Hersteller aus anderen in Frage kommenden Vergleichsländern ausgeübt habe, um diese vor einer etwaigen Mitarbeit abzuschrecken. Zwei Einführer wandten ein, dass die Kommission die Informationen aus einigen potenziell mitarbeitenden Ländern außer Acht gelassen habe und dass öffentlich zugängliches Datenmaterial nationaler oder länderübergreifender Herstellerverbände in Drittländern unberücksichtigt geblieben sei.
…
(58) Die besagten Einführer wandten ferner ein, die jährlich in den USA produzierte Menge Keramikfliesen betrage etwa 60 Mio. m2 und nicht wie unter Randnummer 51 der vorläufigen Verordnung angegeben 600 Mio. m2. Dieser Einwand wurde geprüft und für zutreffend befunden.
(59) Zur Eignung der USA als Vergleichsland aufgrund des erheblich geringeren Produktionsvolumens lässt sich feststellen, dass der US-Markt von starkem Wettbewerb geprägt ist; zum einen gibt es einige lokale Herstellerunternehmen, zum anderen werden beträchtliche Mengen eingeführt. Außerdem gibt es – wie unter Randnummer 52 der vorläufigen Verordnung festgehalten – keine Belege für nichttarifäre Hemmnisse, die den Marktwettbewerb wesentlich einschränken würden. Aufgrund dieser Sachlage ändert sich ungeachtet der geringeren Produktionsmenge nichts an der Feststellung, dass die USA ein geeignetes Vergleichsland sind.
(60) Zwei Einführer behaupteten, dass die Einheits-Verkaufspreise von Fliesen aus US-amerikanischer Produktion auf dem US-Inlandsmarkt wesentlich höher seien als auf dem EU-Markt, weshalb der Vergleich mit den Ausfuhrpreisen einen Dumpingverdacht aufkommen lasse. Diese Behauptung wurde für dieses Verfahren als belanglos erachtet, da Behauptungen dieser Art nur in einer eigenen gründlichen Antidumpinguntersuchung bezüglich der USA überprüft werden könnten; dazu müssten aber entsprechende Anscheinsbeweise vorliegen. Die Behauptung wurde somit übergangen.
(61) [Zwei] Einführer wandten ferner ein, der mitarbeitende US-Hersteller stünde im Eigentum von EU-Herstellern oder wäre mit diesen verbunden, weshalb die Untersuchung Fehler aufweise, da die vorgelegten Daten nicht aus unabhängigen Quellen stammten.
(62) Es sei daran erinnert, dass die von dem mitarbeitenden US-Hersteller vorgelegten Daten vor Ort überprüft wurden. Deshalb war dieser Einwand unbegründet und wurde folglich übergangen.
(63) Die besagten Einführer behaupteten weiter, die Ausfuhrmengen der USA seien begrenzt. Dieses Argument wurde für die Wahl des Vergleichslandes als belanglos eingestuft, da die Daten des Vergleichslandes zur Bestimmung des Normalwerts herangezogen werden und nicht etwa zur Bestimmung der Ausfuhrpreise. Die Behauptung wurde folglich zurückgewiesen.
…
(67) Nach der Unterrichtung über die endgültigen Feststellungen erhob ein Einführerverband zahlreiche Einwände. Zunächst einmal seien die USA ein ungeeigneter Vergleichsmarkt, wenn man die vorgeblich geringe Verkaufsmenge der US-Hersteller auf ihrem Inlandsmarkt mit den chinesischen Ausfuhren in die Union vergleiche. Dazu ist festzustellen, dass der Grad des Wettbewerbs in möglichen Vergleichsländern nur eines der Kriterien ist, die zur Ermittlung etwaiger Vergleichsländer herangezogen werden. Bei der Einschätzung, ob sich ein Land als Vergleichsland eignet, ist es indessen keine Grundvoraussetzung, dass die Inlandsverkäufe der heimischen Industrie und die Einfuhren aus dem zu untersuchenden Land ihrem Umfang nach vergleichbar sind. Im Hinblick auf diesen Einwand wird auf die Feststellungen unter Randnummer 59 verwiesen, dass genügend Wettbewerb auf dem US-Markt herrscht und dass sich die USA folglich als Vergleichsland eignen. Deshalb wird dieser Einwand zurückgewiesen.
(68) Nach einer weiteren Behauptung des Einführerverbands reiche die Tatsache, dass beträchtliche Mengen auf den US-Markt eingeführt würden, für die Wahl der USA als Vergleichsland nicht aus. Dazu sei angemerkt, dass die Höhe der Einfuhren sehr wohl ein wichtiges Untersuchungskriterium bei der Bestimmung eines geeigneten Vergleichslandes darstellt. Die inländische Produktion und hohe Einfuhrmengen sind wichtige Bestimmungsfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit eines Marktes, wie unter Randnummer 59 bereits festgestellt wurde. Deshalb wird dieser Einwand zurückgewiesen.
…
(70) Der Verband gab weiter vor, dass die durchschnittlichen US-Inlandsverkaufspreise der einheimischen Keramikfliesen um ein Vielfaches über dem Preis der EU-Einfuhren aus der VR China lägen und die US-Ware im Vergleich zur aus der VR China eingeführten Ware nicht als ‚gleichartig‘ anzusehen sei. Die Tatsache, dass diese beiden Preise voneinander abweichen, ist jedoch kein Grund, die US-Ware im Hinblick auf die betroffene Ware nicht als gleichartig einzustufen. Wie unter Randnummer 32 der vorläufigen Verordnung bereits dargelegt, wurde festgestellt, dass die betroffene Ware und – unter anderem – die auf dem Inlandsmarkt der USA hergestellte und verkaufte Ware dieselben grundlegenden materiellen und technischen Eigenschaften und dieselben grundlegenden Verwendungen aufweisen. Deshalb werden diese Waren als gleichartig im Sinne des Artikels 1 Absatz 4 der Grundverordnung angesehen. Der Einwand des Verbandes wird daher zurückgewiesen.
(71) Schließlich wollte der Verband noch wissen, warum in Ermangelung einer Zusammenarbeit seitens anderer Drittländer als den USA nicht die Union als geeignetes Vergleichsland in Erwägung gezogen worden sei. Da es sich jedoch gezeigt hat, dass die USA ein geeignetes Vergleichsland sind (siehe Randnummer 59), bestand nicht die Notwendigkeit, etwaige andere geeignete Märkte zu untersuchen. Daher wird der Einwand des Verbandes zurückgewiesen.
(72) In Ermangelung weiterer Stellungnahmen wird bestätigt, dass die Wahl der USA als Vergleichsland angemessen und vertretbar im Sinne des Artikels 2 Absatz 7 Buchstabe a der Grundverordnung war; somit werden die Randnummern 45 bis 54 der vorläufigen Verordnung bestätigt.
…
(74) [Zwei] Einführer wiesen darauf hin, dass Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Grundverordnung vorschreibe, dass der Normalwert anhand der Preise ‚der anderen Verkäufer oder Hersteller‘ ermittelt werde; den Normalwert anhand der Daten eines einzigen Unternehmens zu ermitteln, sei ein Fehler.
(75) Hier sei daran erinnert, dass dieses Verfahren Einfuhren aus einem Land ohne Marktwirtschaft betrifft, weshalb der Normalwert nach Artikel 2 Absatz 7 Buchstabe a der Grundverordnung ermittelt werden muss. Daher wurde dieser Einwand zurückgewiesen.
(76) Nach der Unterrichtung über die endgültigen Feststellungen wandte ein Einführerverband ein, dass es seiner Auffassung nach unzulässig sei, den Normalwert anhand des Datenmaterials eines einzigen Unternehmens zu ermitteln. Aus den bereits unter Randnummer 75 angeführten Gründen wird dieser Einwand indessen zurückgewiesen.
(77) Schließlich wandten die besagten Einführer ein, dass die Ware des Herstellers im Vergleichsland nicht repräsentativ sei, da das Unternehmen ausschließlich das Hochpreissegment bediene. Da dem Hersteller im Vergleichsland Vertraulichkeitsschutz zugestanden wurde, kann diese Behauptung weder bestätigt noch bestritten werden. Doch selbst wenn diese Behauptung zuträfe, müssten – wie unter Randnummer 61 der vorläufigen Verordnung dargelegt – in berechtigten Fällen Berichtigungen am Normalwert vorgenommen werden, um alle Arten von Fliesen zu berücksichtigen, also auch solche, die unter einer anderen Marke weitervertrieben werden (re-sale branding). Der Einwand wurde als somit unbegründet angesehen und daher zurückgewiesen.“
22 Die Rn. 86 und 87 der Verordnung Nr. 917/2011, die Berichtigungen des Normalwerts betreffen, lauten:
„(86)
Nach der Unterrichtung über die endgültigen Feststellungen nahm ein ausführender Hersteller darauf Bezug, dass der Normalwert auf den Daten eines einzigen Herstellers im Vergleichsland beruhe und daher aus Gründen der Vertraulichkeit keine genauen Angaben offengelegt werden könnten; in diesem Falle, so wandte er ein, müsse zwingend sichergestellt werden, dass dort, wo es zweckdienlich erscheine, Berichtigungen vorgenommen würden, um die Vergleichbarkeit der Waren bei den Dumpingberechnungen zu gewährleisten. Diesbezüglich wurden – wie unter Randnummer 61 der vorläufigen Verordnung erwähnt – soweit erforderlich Berichtigungen vorgenommen, um einen fairen Vergleich zwischen dem Normalwert und dem Ausfuhrpreis zu gewährleisten.
(87) Nach der Unterrichtung über die endgültigen Feststellungen wandten zwei Einführer ein, der mitarbeitende US-Hersteller bediene ausschließlich das Hochpreissegment der Keramikfliesenbranche, die chinesischen ausführenden Hersteller hingegen das Niedrigpreissegment. Die nach Artikel 2 Absatz 10 der Grundverordnung im Interesse eines gerechten Vergleichs zwischen Normalwert und Ausfuhrpreis vorgenommenen Berichtigungen seien ihnen nicht offengelegt worden. Diesbezüglich wird darauf verwiesen, dass in Randnummer 61 der vorläufigen Verordnung dargelegt wird, welche Berichtigungen im Interesse eines gerechten Vergleichs vorgenommen wurden.“
23 Teil D der Verordnung Nr. 917/2011, der die Feststellung der Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union betrifft, enthält die Rn. 99 bis 137 dieser Verordnung. Rn. 113 in Teil D Abschnitt 3 („Preisunterbietung“) sieht vor:
„Die Untersuchung ergab Preisunterbietungen zwischen 43,2 und 55,7 %, was geringfügig von den vorläufig ermittelten Werten abweicht …“
24 Art. 1 der Verordnung Nr. 917/2011 bestimmt:
„Es wird ein endgültiger Antidumpingzoll eingeführt auf Einfuhren von glasierten und unglasierten keramischen Fliesen, Boden- und Wandplatten, glasierten und unglasierten keramischen Steinchen, Würfeln und ähnlichen Waren für Mosaike, auch auf Unterlage, die derzeit unter den Codes 6907 10 00, 6907 90 20, 6907 90 80, 6908 10 00, 6908 90 11, 6908 90 20, 6908 90 31, 6908 90 51, 6908 90 91, 6908 90 93 und 6908 90 99 [der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1) in geänderter Fassung (im Folgenden: KN)] eingereiht werden, mit Ursprung in der Volksrepublik China.“
25 Nach Art. 1 Abs. 2 gelten je nach Hersteller auf den Nettopreis frei Grenze der Union, unverzollt, endgültige Antidumpingzollsätze von 26,3 % bis 69,7 %.
26 Nach Art. 2 der Verordnung Nr. 917/2011 werden die Sicherheitsleistungen für die mit der vorläufigen Verordnung eingeführten vorläufigen Antidumpingzölle auf die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in China endgültig vereinnahmt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
27 Am 7. Mai 2010 ging bei der Kommission eine Beschwerde ein, wonach die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in China Gegenstand von Dumpingpraktiken seien und somit eine erhebliche Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union verursachten.
28 Daher veröffentlichte sie am 19. Juni 2010 eine Bekanntmachung der Einleitung eines Antidumpingverfahrens betreffend die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. C 160, S. 20). Die Untersuchung erstreckte sich auf alle Keramikfliesen, die unter den Tarifpositionen 6907 und 6908 der KN eingeführt wurden.
29 Am 16. März 2011 erließ die Kommission die vorläufige Verordnung.
30 Im Juli 2011 führte das Fliesen-Zentrum in China hergestellte unglasierte keramische Fliesen der Tarifposition 6907 9020 der KN in das Zollgebiet der Union ein. Am 15. Juli 2011 meldete es diese beim Hauptzollamt mit verschiedenen vereinfachten Zollanmeldungen, die am 18. Juli 2011 ergänzt wurden, zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr an. Das Hauptzollamt setzte mit Bescheid vom 2. August 2011 neben Zoll und Einfuhrumsatzsteuer eine Sicherheit für vorläufigen Antidumpingzoll zum Abgabensatz von 32,3 % in Höhe von 9479,09 Euro fest, die das Fliesen-Zentrum leistete.
31 Dagegen legte das Fliesen-Zentrum mit Schreiben vom 5. August 2011 Einspruch ein, den das Hauptzollamt mit Einspruchsentscheidung vom 19. Oktober 2011 zurückwies.
32 Am 12. September 2011 erließ der Rat die Verordnung Nr. 917/2011.
33 Mit Einfuhrabgabenbescheid vom 4. November 2011 setzte das Hauptzollamt den Antidumpingzoll in Höhe von 9479,09 Euro endgültig fest und verrechnete die für den vorläufigen Antidumpingzoll geleistete Sicherheit in voller Höhe. Dagegen legte das Fliesen-Zentrum ebenfalls Einspruch ein, den das Hauptzollamt mit Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 2012 zurückwies.
34 Das Fliesen-Zentrum erhob beim vorlegenden Gericht eine Klage auf Aufhebung dieser Bescheide und machte die Ungültigkeit der Verordnung Nr. 917/2011 geltend. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass vier der vom Fliesen-Zentrum zur Stützung seiner Klage vorgetragenen Gründe durchgreifen könnten.
35 Insoweit legt es seine Zweifel an der Gültigkeit der Verordnung Nr. 917/2011 dar. Insbesondere fragt es sich erstens, ob es einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 7 Buchst. a Unterabs. 2 und Art. 18 der Grundverordnung darstellt, dass der Rat in der Verordnung Nr. 917/2011 die USA als Vergleichsland für die Ermittlung des Normalwerts gleichartiger Waren wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fliesen bestimmt hat. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auswahl eines geeigneten Landes mit Marktwirtschaft zur Bestimmung des Normalwerts von aus einem Land ohne Marktwirtschaft eingeführten Waren weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Unionsorgane die für die Ermittlung der Geeignetheit des ausgewählten Drittlands wesentlichen Umstände zu berücksichtigen und diese mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen hätten. Im vorliegenden Fall stelle sich die Frage, ob die Wahl der USA als Vergleichsland angemessen im Sinne der vorläufigen Verordnung und der Verordnung Nr. 917/2011 sei, weil sich der US-amerikanische und der chinesische Keramikfliesenmarkt gravierend unterschieden. Die Unionsorgane seien von den Beteiligten des Antidumpingverfahrens ausdrücklich auf alternative Vergleichsländer hingewiesen worden. Außerdem hätte die Kommission auf der Grundlage von öffentlich zugänglichem Datenmaterial das Vergleichsland auswählen und den Normalwert der betreffenden Waren bestimmen können.
36 Zweitens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob die Kommission dadurch, dass sie bei der Ermittlung des Normalwerts der eingeführten Waren lediglich Daten eines einzigen Vergleichsherstellers herangezogen habe, gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 7 Buchst. a der Grundverordnung verstoßen hat, wonach der Normalwert anhand von Daten mehrerer Hersteller ermittelt werden müsse, insbesondere wenn er anhand eines Vergleichslands ermittelt werde. Die Berücksichtigung eines einzigen Vergleichsherstellers gewährleiste nicht die Repräsentativität der Informationen.
37 Drittens stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob der Normalwert rechnerisch richtig ermittelt wurde und insoweit nicht gegen Art. 2 Abs. 7 Buchst. a und Abs. 10 der Grundverordnung verstoßen wurde. Außerdem fragt es sich, ob die Unionsorgane gegen die Begründungspflicht verstoßen und so die Verteidigungsrechte der Klägerin des Ausgangsverfahrens verletzt haben, weil die vagen Informationen, die die Kommission zur genauen Ermittlung des Normalwerts gegeben habe, eine sachlich fundierte Stellungnahme unmöglich machten.
38 Viertens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob die Kommission bei der Bildung von Stichproben der ausführenden chinesischen Hersteller und der Unionshersteller gegen Art. 3 in Verbindung mit Art. 17 der Grundverordnung verstoßen hat. Einerseits könnten kleine und mittlere chinesische Unternehmen nicht oder kaum in der Stichprobe enthalten gewesen sein. Dies stehe im Widerspruch dazu, dass der chinesische Wirtschaftszweig der Keramikfliesen stark fragmentiert sei und sich im Wesentlichen aus kleinen und mittleren Unternehmen zusammensetze, wie sich aus Rn. 73 der Verordnung Nr. 917/2011 ergebe. Andererseits habe die Kommission bei der Bildung der Stichproben der Unionshersteller die starke Fragmentierung der Keramikbranche der Union berücksichtigt und alle Segmente, d. h. kleine, mittlere und große Unternehmen, einbezogen. Außerdem seien nur Hersteller aus westeuropäischen Ländern in die Stichprobe der Unionshersteller einbezogen worden, während Hersteller aus Mitgliedstaaten mit niedrigerem Preisniveau nicht vertreten gewesen seien. Somit habe die Bildung dieser beiden Stichproben dazu geführt, dass Stichproben von chinesischen Herstellen und Unionsherstellern gegenübergestellt worden seien, die nicht vergleichbar gewesen seien.
39 Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht München beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist die Verordnung Nr. 917/2011 gültig?
Zur Vorlagefrage
Einleitende Bemerkungen
40 Als Erstes macht das Fliesen-Zentrum in seinen schriftlichen Erklärungen, hilfsweise, über die vier von ihm vor dem vorlegenden Gericht geltend gemachten und von diesem in seinem Vorabentscheidungsersuchen angeführten Gründe hinaus zwei weitere Gründe für die Ungültigkeit der Verordnung Nr. 917/2011 geltend. Mit ihnen werden ein Begründungsmangel und eine Verletzung der Verteidigungsrechte mangels Mitteilung der wesentlichen relevanten Informationen sowie, insbesondere, ein Verstoß gegen die Art. 19 bis 21 der Grundverordnung gerügt.
41 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Verfahren nach Art. 267 AEUV auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, so dass nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen hat, die es dem Gerichtshof stellt (vgl. u. a. Urteil Hoesch Metals und Alloys, C‑373/08, EU:C:2010:68, Rn. 59).
42 Zudem eröffnet nach gefestigter Rechtsprechung Art. 267 AEUV den Parteien eines bei einem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreits keinen Rechtsbehelf, so dass der Gerichtshof nicht gehalten ist, die Frage der Gültigkeit von Unionsrecht zu prüfen, nur weil eine Partei diese Frage in ihren schriftlichen Erklärungen aufgeworfen hat (vgl. Urteil MSD Sharp & Dohme, C‑316/09, EU:C:2011:275, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Somit gibt es keinen Grund, die Prüfung der Gültigkeit der Verordnung Nr. 917/2011 in Bezug auf vom vorlegenden Gericht nicht aufgeführte Gründe zu erstrecken (vgl. entsprechend Urteil Hoesch Metals und Alloys, C‑373/08, EU:C:2010:68, Rn. 60).
44 Als Zweites verfügen die Unionsorgane nach ständiger Rechtsprechung im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik, besonders im Bereich handelspolitischer Schutzmaßnahmen, wegen der Komplexität der von ihnen zu prüfenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Sachverhalte über ein weites Ermessen. Die gerichtliche Kontrolle einer entsprechenden Beurteilung ist daher auf die Prüfung der Fragen zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, ob der Sachverhalt, der der beanstandeten Entscheidung zugrunde gelegt wurde, zutreffend festgestellt ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Beurteilung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (vgl. Urteil Simon, Evers & Co., C‑21/13, EU:C:2014:2154, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Wahl der USA als Vergleichsdrittstaat
45 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die von den Unionsorganen für die Ermittlung des Normalwerts der von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einfuhr betroffenen Waren getroffene Wahl der USA als geeignetes Drittland mit Marktwirtschaft einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 7 Buchst. a Unterabs. 2 und Art. 18 der Grundverordnung begründet.
46 Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob diese Wahl erstens angesichts der Tatsache, dass sich der US-amerikanische und der chinesische Keramikfliesenmarkt grundlegend voneinander unterschieden, angemessen ist. Zweitens könne die Angemessenheit der Wahl in Zweifel gezogen werden, weil die US-amerikanischen Ausführer nur sehr wenig ausführten und auf dem inländischen Markt nur ein schmales Segment qualitativ hochwertiger Fliesen bedienten, während drei Viertel des Marktes im Wesentlichen von Importen geprägt seien. Drittens sei sie fraglich, weil nicht sicher sei, dass die Kommission die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt, andere mögliche Vergleichsländer erschöpfend geprüft und weitere öffentlich zugängliche statistische Daten berücksichtigt habe, um ihre Wahl zu begründen.
47 Das Fliesen-Zentrum hält die Wahl der USA als Vergleichsland für nicht angemessen. Gestützt auf das Urteil Nölle (C‑16/90, EU:C:1991:402, Rn. 35) unterstreicht es, dass die Unionsorgane bei der Wahl des Vergleichslands dessen Geeignetheit mit der gebotenen Sorgfalt prüfen müssten. Im vorliegenden Fall sei die Kommission im Lauf des Verfahrens, das zum Erlass der Verordnung Nr. 917/2011 geführt habe, über die fehlende Vergleichbarkeit des US-amerikanischen und des chinesischen Marktes sowie darüber unterrichtet worden, dass die USA kein für die Zwecke der Antidumpinguntersuchung geeignetes Vergleichsland seien. Insbesondere hätte die Kommission auch andere Drittländer als Vergleichsländer in Erwägung ziehen können, wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, die Arabische Republik Ägypten, Malaysia und die Tunesische Republik.
48 Insoweit wird nach Art. 2 Abs. 7 Buchst. a der Grundverordnung im Fall von Einfuhren aus Ländern ohne Marktwirtschaft der Normalwert in Abweichung von den Bestimmungen in den Abs. 1 bis 6 dieser Vorschrift grundsätzlich auf der Grundlage des Preises oder des rechnerisch ermittelten Wertes in einem Drittland mit Marktwirtschaft ermittelt. Die genannte Vorschrift soll die Berücksichtigung der in Ländern ohne Marktwirtschaft geltenden Preise und Kosten verhindern, da diese Parameter dort normalerweise nicht das Ergebnis der auf den Markt einwirkenden Kräfte sind (vgl. Urteile Rotexchemie, C‑26/96, EU:C:1997:261, Rn. 9, und GLS, C‑338/10, EU:C:2012:158, Rn. 20).
49 Nach Art. 2 Abs. 7 Buchst. a Unterabs. 2 der Grundverordnung wird ein geeignetes Drittland mit Marktwirtschaft auf nicht unvertretbare Weise unter gebührender Berücksichtigung aller zum Zeitpunkt der Auswahl zur Verfügung stehenden zuverlässigen Informationen ausgewählt. Die Unionsorgane müssen unter Berücksichtigung der sich anbietenden Alternativen versuchen, ein Drittland zu finden, in dem der Preis einer gleichartigen Ware unter Bedingungen gebildet wird, die mit denen des Ausfuhrlands möglichst vergleichbar sind, wobei es sich um ein Marktwirtschaftsland handeln muss (Urteil GLS, C‑338/10, EU:C:2012:158, Rn. 21).
50 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass aus dem Wortlaut und dem Aufbau dieser Bestimmung hervorgeht, dass mit dem Vorrang, der der in dieser Bestimmung vorgeschriebenen Hauptmethode eingeräumt ist, nämlich die Ermittlung des Normalwerts im Fall von Einfuhren aus Ländern ohne Marktwirtschaft anhand „des Preises oder des rechnerisch ermittelten Wertes in einem Drittland mit Marktwirtschaft“ oder „des Preises, zu dem die Ware aus einem solchen Drittland in andere Länder sowie in die [Union] verkauft wird“, bezweckt wird, eine angemessene Ermittlung des Normalwerts im Ausfuhrland durch Auswahl eines Drittlands zu erreichen, in dem der Preis einer gleichartigen Ware unter Bedingungen gebildet wird, die mit denen des Ausfuhrlands möglichst vergleichbar sind, wobei es sich um ein Marktwirtschaftsland handeln muss (Urteil GLS, C‑338/10, EU:C:2012:158, Rn. 24 und 25).
51 Außerdem unterliegt nach der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Ausübung des Ermessens der Unionsorgane bei der Wahl des Vergleichslands der gerichtlichen Nachprüfung. Insbesondere ist zu prüfen, ob die Organe bei der Ermittlung der Geeignetheit des ausgewählten Landes wesentliche Umstände außer Acht gelassen haben und ob der Akteninhalt so sorgfältig geprüft worden ist, dass davon ausgegangen werden kann, dass der Normalwert auf angemessene und nicht unvertretbare Weise bestimmt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Nölle, C‑16/90, EU:C:1991:402, Rn. 12 und 13, sowie GLS, C‑338/10, EU:C:2012:158, Rn. 22).
52 Was im vorliegenden Fall zunächst die Ermittlung von Vergleichsländern betrifft, geht aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Unterlagen hervor, dass die Partei, die die dem Antidumpingverfahren zugrunde liegende Beschwerde eingelegt hat, nach der ihr in Art. 2 Abs. 7 Buchst. a der Grundverordnung eingeräumten Möglichkeit die USA als Vergleichsland vorgeschlagen hat. Daher hat die Kommission in der Bekanntmachung der Einleitung eines Antidumpingverfahrens vom 19. Juni 2010 in Betracht gezogen, die USA als geeignetes Drittland mit Marktwirtschaft auszuwählen, und die von der Untersuchung betroffenen Parteien aufgefordert, hierzu Stellung zu nehmen. So ging aus Rn. 47 der vorläufigen Verordnung hervor, dass „mehrere andere Länder als alternatives Vergleichsland vorgeschlagen [wurden], unter anderem Brasilien, die Türkei, Nigeria, Thailand und Indonesien“. Danach bat die Kommission Hersteller von einer gewissen Bedeutung in diesen Ländern und in den USA, einen Fragebogen, den sie ihnen zusandte, zu beantworten. Wie in Rn. 48 der vorläufigen Verordnung ausgeführt, beantworteten nur zwei Hersteller der betroffenen Ware aus den USA den Fragebogen vollständig.
53 Im Übrigen geht aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Unterlagen hervor, dass im Untersuchungsverfahren auch die Russische Föderation als mögliches Drittland vorgeschlagen wurde. Ferner ergibt sich aus Rn. 144 der vorläufigen Verordnung, dass die von der Untersuchung betroffene Ware in mehreren Drittländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Arabischen Republik Ägypten und den Ländern Südostasiens hergestellt wurde.
54 Zum einen hat die Kommission jedoch, bevor sie in Rn. 54 der vorläufigen Verordnung den Schluss gezogen hat, dass „die USA ein geeignetes und angemessenes Vergleichsland im Sinne des Artikels 2 Absatz 7 der Grundverordnung [seien]“, in den Rn. 49 bis 53 der vorläufigen Verordnung alle Gesichtspunkte der Antidumpinguntersuchung dargelegt, die sie zu dieser Schlussfolgerung veranlassten, und hervorgehoben, dass die Daten, die von den US-amerikanischen Herstellern, die bei der Antidumpinguntersuchung kooperiert hätten, vorgelegt worden seien, vor Ort überprüft worden seien.
55 Zum anderen geht aus den dem Gerichtshof unterbreiteten Unterlagen hervor, dass die Kommission in Betracht gezogen hat, weitere Drittländer als Vergleichsländer zu berücksichtigen, und vergeblich versucht hat, Hersteller in diesen Drittländern zu kontaktieren. Da außerdem die Hersteller in den als Vergleichsland in Betracht gezogenen Drittländern nicht verpflichtet sind, mitzuarbeiten, kann der Umstand, dass sie der Bitte der Kommission um Mitarbeit nicht nachkommen, keine Verletzung der der Kommission obliegenden Sorgfaltspflicht begründen. Somit ist davon auszugehen, dass die Unionsorgane das geeignete Vergleichsland mit der gebotenen Sorgfalt ermittelt haben.
56 Was insbesondere das Vorbringen angeht, die Kommission habe bestimmte während dieser Untersuchung öffentlich zugängliche statistische Daten nicht berücksichtigt, hat der Gerichtshof im Urteil GLS (C‑338/10, EU:C:2012:158, Rn. 30) zwar entschieden, dass es den Unionsorganen obliegt, die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen, darunter insbesondere die Eurostat-Statistiken, mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen, um zu untersuchen, ob ein Vergleichsland im Sinne von Art. 2 Abs. 7 Buchst. a der Grundverordnung berücksichtigt werden kann. Doch betrafen diese Erwägungen Verpflichtungen, die der Kommission in einem Fall oblagen, in dem keines der Unternehmen, die darum gebeten worden waren, zur Mitarbeit bereit war und sie die in dieser Bestimmung vorgesehene subsidiäre Methode anwandte, nach der der Normalwert der betroffenen Ware „auf jeder anderen angemessenen Grundlage“ ermittelt wird. Es steht jedoch fest, dass sich in dem hier fraglichen Antidumpingverfahren ein US-amerikanisches Unternehmen bereit erklärt hat, mit der Kommission zu kooperieren, und dass diese daher die nach dieser Bestimmung vorgeschriebene Hauptmethode angewandt hat, bei der sie diese Statistiken nicht zu prüfen braucht.
57 Des Weiteren ergibt sich aus den Rn. 59, 67 und 68 der Verordnung Nr. 917/2011, dass die Unionsorgane die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Keramikfliesenmarkt untersucht haben. Dabei haben sie festgestellt, dass der US-Markt von starkem Wettbewerb geprägt sei und dass es keine Belege für nichttarifäre Hemmnisse gebe, die den Marktwettbewerb wesentlich einschränken würden. Zudem decke die Produktion der USA eine breite Palette von Warentypen ab, die mit den in China hergestellten und von dort ausgeführten vergleichbar seien.
58 Wie die Generalanwältin in Nr. 71 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dürfte insbesondere, was zum einen die Auswirkung des Wettbewerbs auf den Markt betrifft, ein hohes Maß an Wettbewerb grundsätzlich einen Abwärtsdruck auf die Preise ausüben, so dass Daten aus einem äußerst wettbewerbsintensiven Markt nicht zwangsläufig eine höhere Dumpingspanne ergeben als Daten aus einem Land, in dem die Kosten niedriger sind, aber auch der Wettbewerb weniger stark ausgeprägt ist. Was zum anderen den Unterschied zwischen diesen beiden Märkten hinsichtlich des Grads der technischen Entwicklung angeht, ist davon auszugehen, dass ein höherer Grad der Entwicklung geeignet ist, die Wirkung niedrigerer Lohnkosten auszugleichen, so dass höhere Lohnkosten nicht unbedingt als Indiz für höhere Preise und einen höheren Normalwert angesehen werden können.
59 Somit durften die Unionsorgane die Wahl der USA als geeignetes Drittland mit Marktwirtschaft trotz dieses Unterschieds auf das hohe Maß an Wettbewerb auf dem Keramikfliesenmarkt in den USA stützen.
60 Daraus folgt, dass die Unionsorgane die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Keramikfliesenmarkt mit der gebotenen Sorgfalt geprüft haben und die USA als Vergleichsland gemäß Art. 2 Abs. 7 Buchst. a der Grundverordnung ansehen durften.
61 Was schließlich das Vorbringen betrifft, die US-amerikanischen Ausführer führten nur sehr wenig aus und bedienten auf dem inländischen Markt nur ein schmales Segment qualitativ hochwertiger Fliesen, ist darauf hinzuweisen, dass die Antidumpinguntersuchung, wie in den Rn. 49 und 50 der vorläufigen Verordnung ausgeführt, gezeigt hat, dass Keramikfliesen aus China und aus den USA im Wesentlichen dieselben materiellen Eigenschaften und Verwendungen aufweisen und sich auch die Herstellungsverfahren ähneln.
62 Daher haben die Unionsorgane gemäß den Bestimmungen der Grundverordnung auf nicht unvertretbare Weise die USA als für die Ermittlung des Normalwerts geeignetes Vergleichsdrittland mit Marktwirtschaft bestimmt.
Zur Ermittlung des Normalwerts auf der Grundlage von Informationen, die von einem einzigen Hersteller übermittelt wurden
63 Des Weiteren äußert das vorlegende Gericht mit seiner Frage Zweifel an der Repräsentativität des Normalwerts, der auf der Grundlage von Informationen ermittelt wurde, die von einem einzigen Hersteller übermittelt wurden.
64 Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob sich aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 und 6 der Grundverordnung ergibt, dass der Normalwert anhand der Preise mehrerer Hersteller ermittelt werden muss. Zweitens möchte es wissen, ob die Heranziehung von Daten eines einzigen Herstellers es gleichwohl erlaubt, diesen Wert auf präzise und objektive Weise zu ermitteln, insbesondere wenn wie im Ausgangsverfahren die Gefahr besteht, dass der Hersteller, der seine Daten übermittelt hat, von einem Unionshersteller kontrolliert wird und daher wirtschaftlich nicht unabhängig ist. Drittens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob die Kommission in Anbetracht der Tatsache, dass die von einem einzigen Hersteller stammenden Daten durch dessen spezifische Unternehmenspolitik bedingt sind, nicht externes Expertenwissen in Anspruch nehmen muss.
65 Hinsichtlich des Wortlauts von Art. 2 Abs. 1 und 6 der Grundverordnung sind das vorlegende Gericht und das Fliesen-Zentrum der Auffassung, dass der Normalwert anhand der Preise mehrerer Hersteller ermittelt werden müsse, da diese Bestimmung zur Ermittlung dieses Werts auf die „Preise“ und die „anderen Verkäufer oder Hersteller“ abstelle. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Grundverordnung bei Einfuhren aus Ländern ohne Marktwirtschaft in Art. 2 Abs. 7 eine besondere Regelung für die Ermittlung des Normalwerts vorsieht, die sich von der in Art. 2 Abs. 1 bis 6 vorgesehenen unterscheidet, so dass deren Wortlaut für die Frage, ob der im Ausgangsverfahren fragliche Normalwert anhand der Preise eines oder mehrerer Hersteller zu ermitteln ist, nicht relevant ist.
66 Des Weiteren hat die Kommission in Bezug auf die Bestimmung des Normalwerts nach Art. 2 Abs. 7 Buchst. a der Grundverordnung in ihren schriftlichen Erklärungen zwar eingeräumt, dass es grundsätzlich besser sei, Daten mehrerer im Vergleichsland ansässiger Hersteller statt eines einzigen heranzuziehen. Doch hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die bloße Tatsache, dass es im Vergleichsland nur einen Hersteller gibt, an sich nicht ausschließt, dass die dortigen Preise das Ergebnis eines echten Wettbewerbs sind, da sich bei fehlender Preiskontrolle ein solcher Wettbewerb ebenso gut daraus ergeben kann, dass nennenswerte Einfuhren aus anderen Ländern erfolgen (Urteil Rotexchemie, C‑26/96, EU:C:1997:261, Rn. 15).
67 Somit ist der entscheidende Gesichtspunkt für die Wahl des oder der Hersteller im Vergleichsland, ob die Preise auf dem Inlandsmarkt des Drittlands das Ergebnis eines echten Wettbewerbs sind. Wie bereits in Rn. 57 des vorliegenden Urteils ausgeführt, haben die Unionsorgane diese Frage in der Antidumpinguntersuchung geprüft und sind zu der Auffassung gelangt, dass der US-Markt von starkem Wettbewerb geprägt sei und dass es keine Belege für nichttarifäre Hemmnisse gebe, die den Marktwettbewerb wesentlich einschränken würden.
68 Was insbesondere die behauptete Gefahr angeht, dass der Hersteller, der seine Daten im Rahmen des Antidumpingverfahrens übermittelt habe, von einem Unionshersteller kontrolliert werde und daher wirtschaftlich nicht unabhängig sei, ist es, wie die Generalanwältin in Nr. 97 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, unwahrscheinlich, dass Daten eines Herstellers, der an mit ihm verbundene Abnehmer verkauft hat, eingeflossen sind, da den Unionsorganen vorgeworfen wird, einen künstlich hohen Normalpreis errechnet zu haben. Jedenfalls wurden diese Daten, wie in Rn. 62 der Verordnung Nr. 917/2011 angegeben, vor Ort überprüft.
69 Schließlich ist die Inanspruchnahme externen Expertenwissens durch die Kommission nicht gerechtfertigt, wenn wie im Ausgangsverfahren die Daten eines Herstellers repräsentativ sind. Wie die Generalanwältin in Nr. 88 ihrer Schlussanträge unterstrichen hat, ist mangels eines konkreten Grundes grundsätzlich davon auszugehen, dass die Unionsorgane zu einer angemessenen eigenen Beurteilung der Daten fähig sind.
70 Daher durften die Unionsorgane den Normalwert auf der Grundlage der von einem einzigen Hersteller übermittelten Daten ermitteln.
Zur Begründungspflicht und den Verteidigungsrechten im Hinblick auf die rechnerische Ermittlung des Normalwerts
71 Ferner fragt sich das vorlegende Gericht im Wesentlichen, ob es den Unionsorganen obliegt, sich bei der Vornahme von Berichtigungen an dem anhand der Preise des Herstellers des Vergleichslands ermittelten Normalwert auf Beweise oder zumindest auf Anhaltspunkte zu stützen, die die Existenz des Faktors, aufgrund dessen die Berichtigung vorgenommen wird, und dessen Einfluss auf die Vergleichbarkeit des Ausfuhrpreises und des Normalwerts belegen. Daher möchte es wissen, ob diese Organe dadurch, dass sie nur vage Informationen zur genauen Ermittlung des Normalwerts gegeben und eine sachlich fundierte Stellungnahme somit unmöglich gemacht haben, gegen ihre Begründungspflicht verstoßen und damit die Verteidigungsrechte des Fliesen-Zentrums verletzt haben.
72 Das Fliesen-Zentrum meint, nach Art. 2 Abs. 10 der Grundverordnung müssten Berichtigungen des Normalwerts vorgenommen werden, um Unterschiede bei Faktoren zu berücksichtigen, die nachweislich die Preise und damit die Vergleichbarkeit der Preise beeinflussten, wie insbesondere Unterschiede in der Qualität. Es stützt sich u. a. auf das Urteil des Gerichts der Europäischen Union Kundan und Tata/Rat (T‑88/98, EU:T:2002:280, Rn. 95 und 96) und macht geltend, dass es den Unionsorganen obliege, sich auf die genannten Anhaltspunkte oder Beweise zu stützen. Im Ausgangsverfahren sei der von der Kommission bestimmte Normalwert so vage, dass er nicht als Grundlage für den Nachweis eines etwaigen Dumpings dienen könne. Die Kommission habe nicht dargetan, wie dieser Wert berechnet worden sei.
73 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass das Fliesen-Zentrum unstreitig nicht an dem Dumpinguntersuchungsverfahren beteiligt war und mit keinem chinesischen Hersteller verbunden ist. Somit kann es für sich keine Verteidigungsrechte in einem Verfahren beanspruchen, an dem es nicht beteiligt war.
74 Daher ist zweitens zu prüfen, ob die Gründe für die Berichtigungen an dem auf der Grundlage der Preise des Herstellers des Vergleichslands ermittelten Normalwert die Anforderungen erfüllen, die sich aus der in Art. 296 AEUV verankerten Begründungspflicht ergeben.
75 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die in Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts entsprechen und die Überlegung des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (vgl. Urteil Italien/Kommission, C‑138/03, C‑324/03 und C‑431/03, EU:C:2005:714, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
76 Dieses Erfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil Italien/Kommission, C‑138/03, C‑324/03 und C‑431/03, EU:C:2005:714, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Zudem kann sich die Begründung, wenn es sich um eine Verordnung handelt, darauf beschränken, die Gesamtlage anzugeben, die zu ihrem Erlass geführt hat, und die allgemeinen Ziele zu bezeichnen, die mit ihr erreicht werden sollen (Urteile Abrias u. a./Kommission, 3/83, EU:C:1985:283, Rn. 30, und Spanien/Rat, C‑342/03, EU:C:2005:151, Rn. 55). Daher kann nicht verlangt werden, dass die Unionsorgane die mitunter sehr zahlreichen und weitverzweigten tatsächlichen Umstände im Einzelnen anführen, auf deren Grundlage die Verordnung ergangen ist, und noch weniger, dass sie diese Umstände mehr oder weniger vollständig würdigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Beus, 5/67, EU:C:1968:13, Rn. 4).
78 Ergibt sich das von dem Organ im Wesentlichen verfolgte Ziel aus dem Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, braucht dieser folglich keine besondere Begründung für jede Berichtigung des Normalwerts der betreffenden Ware zu enthalten.
79 Im Ausgangsverfahren wurden die Gründe für die Berichtigung des Normalwerts in Rn. 61 der vorläufigen Verordnung genannt, wonach Berichtigungen vorgenommen wurden „für Unterschiede bei den Merkmalen … und für Qualitätsunterschiede bei bestimmten nicht vom Hersteller im Vergleichsland hergestellten Warentypen … Weitere Berichtigungen betrafen, soweit erforderlich, Seefracht-, Versicherungs-, Bereitstellungs-, Neben-, Verpackungs- und Kreditkosten sowie Bankgebühren und Provisionen; sie wurden in allen Fällen zugestanden, in denen die Anträge für begründet, korrekt und stichhaltig belegt befunden wurden.“ Ferner wurden der Verordnung Nr. 917/2011 zufolge, in deren Rn. 86 und 87 die in Rn. 61 der vorläufigen Verordnung genannten Gründe für die Berichtigung des Normalwerts aufgegriffen werden, soweit erforderlich, Berichtigungen vorgenommen, um einen fairen Vergleich zwischen dem Normalwert und dem Ausfuhrpreis zu gewährleisten.
80 Somit erfüllen die Gründe für die Berichtigungen des auf der Grundlage der Preise des Herstellers des Vergleichslands bestimmten Normalwerts die Anforderungen, die sich aus der Begründungspflicht ergeben.
Zur Bildung von Stichproben
81 Schließlich möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen, ob, um die Preisunterbietung zu ermitteln, die Stichproben der chinesischen ausführenden Hersteller sowie der Hersteller und Einführer in der Union ordnungsgemäß gebildet wurden oder ob die Unionsorgane hierbei Art. 3 in Verbindung mit Art. 17 der Grundverordnung missachtet haben.
82 Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in Rn. 113 der Verordnung Nr. 917/2011 festgestellten Preisunterbietungen auf präzise und objektive Weise ermittelt wurden. Es weist darauf hin, dass sich die Unionsorgane bei der Anwendung des Stichprobenverfahrens zur Ermittlung der Preise der Unionshersteller gemäß Art. 17 Abs. 1 der Grundverordnung auf eine vertretbare Anzahl von Parteien, Waren oder Geschäftsvorgängen durch Stichproben, die nach den normalen statistischen Verfahren auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Auswahl zur Verfügung stehenden Informationen gebildet worden seien, beschränkt hätten. Dagegen hätten sie sich bei der Ermittlung der Preise der chinesischen Hersteller auf das größte repräsentative Volumen von Produktion, Verkäufen oder Ausfuhren der betreffenden Waren gestützt, das untersucht werden könne. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine solche Vorgehensweise in Anbetracht des Umstands zulässig ist, dass die Stichprobe der Unionshersteller im Wesentlichen aus einer Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen bestehe, während in die der chinesischen Hersteller wenige große Hersteller einbezogen seien, obwohl beide Märkte stark fragmentiert seien und sich überwiegend aus kleinen und mittleren Unternehmen zusammensetzten. Außerdem seien in die Stichprobe der Unionshersteller nur Hersteller aus westeuropäischen Ländern und nicht aus anderen Mitgliedstaaten mit niedrigerem Preisniveau einbezogen worden.
83 Das Fliesen-Zentrum fügt hinzu, dass der Vergleich der Preise der großen chinesischen Hersteller mit den Preisen der kleinen und mittleren Unternehmen der Union einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung darstelle. Hinsichtlich der Repräsentativität der Stichprobe der Unionshersteller ist das Fliesen-Zentrum der Ansicht, dass mindestens 25 % der gesamten Unionsproduktion darin berücksichtigt werden müssten. Insbesondere was Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung angehe, der die sogenannte Regel des „niedrigeren Zolls“ enthalte, hätten die Unionsorgane die Preisunterbietungsspannen in unzutreffender Weise festgelegt.
84 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 2 der Grundverordnung die Feststellung der Schädigung mit einer „objektiven Prüfung“ des Volumens der gedumpten Einfuhren, ihrer Auswirkungen auf die Preise auf dem Unionsmarkt und ihrer Auswirkungen auf den Wirtschaftszweig der Union einhergehen muss. Art. 3 Abs. 3 der Grundverordnung sieht vor, dass im Zusammenhang mit den Auswirkungen der gedumpten Einfuhren auf die Preise in Betracht zu ziehen ist, ob die gedumpten Einfuhren zu einer erheblichen Unterbietung des Preises einer gleichartigen Ware des Wirtschaftszweigs der Union durch die chinesischen Waren geführt hat.
85 Unter diesen Umständen obliegt es dem Gerichtshof, im Rahmen seiner Prüfung der Gültigkeit der Verordnung Nr. 917/2011 zu überprüfen, ob die Unionsorgane eine derartige Preisunterbietung feststellen konnten.
86 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 17 Abs. 1 der Grundverordnung die Stichproben der Parteien, Waren oder Geschäftsvorgänge nach den normalen statistischen Verfahren auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Auswahl zur Verfügung stehenden Informationen gebildet werden müssen oder das größte repräsentative Volumen von Produktion, Verkäufen oder Ausfuhren, die in angemessener Weise in der zur Verfügung stehenden Zeit untersucht werden können, enthalten müssen.
87 Weder diese Bestimmung noch Art. 3 der Grundverordnung noch der Grundsatz der Gleichbehandlung erfordern, dass für die Bildung der Stichprobe der chinesischen Hersteller und für die Bildung der Stichprobe der Unionshersteller die gleiche Methode angewandt wird. Vielmehr ergibt sich aus Art. 17 Abs. 2 der Grundverordnung, dass die endgültige Auswahl der Parteien, Warentypen oder Geschäftsvorgänge gemäß den Bestimmungen über die Stichprobe der Kommission obliegt.
88 Wie sich aus Rn. 23 der Verordnung Nr. 917/2011 ergibt und wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen unterstrichen hat, ist die Anwendung zweier unterschiedlicher Methoden, um die Zusammensetzung der Stichprobe der Unionshersteller einerseits und die der chinesischen ausführenden Hersteller andererseits zu bestimmen, im vorliegenden Fall dadurch gerechtfertigt, dass die Stichproben einen unterschiedlichen Zweck haben. Im Hinblick auf die Stichprobe der chinesischen ausführenden Hersteller ist nämlich das Ziel, möglichst viele Einfuhren abzubilden, so dass die festgestellten mittleren Einfuhrpreise je Produkttyp so nahe wie möglich am tatsächlichen Mittelwert liegen und damit den Preisdruck, der auf der Unionsindustrie lastet, möglichst genau abbilden. Im Hinblick auf die Stichprobe der Unionshersteller ist das Ziel, zu überprüfen, ob sich die festgestellten mittleren Einfuhrpreise je Produkttyp auf alle Unionshersteller in gleicher Weise auswirken oder ob es eine bestimmte Kategorie von Unionsherstellern gibt, die in besonderer Weise betroffen ist.
89 Des Weiteren ist insbesondere hinsichtlich der Stichprobe der Unionshersteller darauf hinzuweisen, dass nach Rn. 11 der vorläufigen Verordnung auf diese Stichprobenunternehmen 24 % der Gesamtproduktion der mitarbeitenden Hersteller und 7 % der EU-Gesamtproduktion entfielen. Zudem ging aus Rn. 13 dieser Verordnung hervor, dass die Repräsentativität der Stichprobe gemessen an sämtlichen für die Zusammensetzung dieser Stichprobe herangezogenen Kriterien hoch blieb, obwohl der polnische Hersteller die Mitarbeit eingestellt hatte.
90 Außerdem muss nach Rn. 18 der Verordnung Nr. 917/2011 eine Stichprobe die geografische Verteilung und das Gewicht der Herstellermitgliedstaaten nicht exakt widerspiegeln, um repräsentativ zu sein, da die geografische Verteilung nur einer der repräsentativitätsbestimmenden Faktoren ist. Daher waren die Unionsorgane nicht verpflichtet, ein Unternehmen aus Mittel- oder Osteuropa einzubeziehen, um die Repräsentativität dieser Stichprobe zu gewährleisten.
91 Jedenfalls entfielen auf die Stichprobe der Unionshersteller, wie in Rn. 31 der Verordnung Nr. 917/2011 angegeben und von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben, nahezu 80 % der Unionsproduktion. Zudem ergab eine Überprüfung anhand der öffentlich verfügbaren Daten, dass die Einbeziehung eines Herstellers aus diesen Mitgliedstaaten die Feststellung der Schädigung nicht wesentlich beeinflusst hätte.
92 Schließlich ist zu den Zweifeln des vorlegenden Gerichts, die sich daraus ergeben, dass ein niedrigerer Zoll hätte verhängt werden können, wenn die Preisunterbietungsspanne auf einer anderen Grundlage ermittelt worden wäre, darauf hinzuweisen, dass es sich bei dieser Spanne und der Dumpingspanne um zwei unterschiedliche Begriffe handelt. Insbesondere sollte nach Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung der Antidumpingzoll niedriger sein als die Dumpingspanne, wenn ein niedrigerer Zoll ausreicht, um die Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union zu beseitigen. Wie in Rn. 198 der Verordnung Nr. 917/2011 ausgeführt, sollte nach der Regel des niedrigeren Zolls die Dumpingspanne als Grundlage für die Ermittlung der Höhe des Zolls dienen. Daraus ergibt sich, dass die Preisunterbietungsspanne für die Anwendung der in Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung enthaltenen Regel des niedrigeren Zolls irrelevant ist.
93 Folglich haben die Unionsorgane bei der Bildung von Stichproben in Anbetracht des weiten Ermessens, über das sie verfügen, weder gegen Art. 3 in Verbindung mit Art. 17 der Grundverordnung noch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.
94 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass deren Prüfung nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Verordnung Nr. 917/2011 in Frage stellen könnte.
Kosten
95 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 917/2011 des Rates vom 12. September 2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren von Keramikfliesen mit Ursprung in der Volksrepublik China in Frage stellen könnte.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Beschluss des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 14. Juli 2015.#Forgital Italy SpA gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtsmittel – Art. 181 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Nichtigkeitsklage – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Recht zur Erhebung einer Klage – Klagebefugnis – Natürliche oder juristische Personen – Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht – Zollverordnung, mit der die Bedingungen für eine Zollaussetzung geändert werden – Möglichkeit einer Klage vor den nationalen Gerichten.#Rechtssache C-84/14 P.
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62014CO0084
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ECLI:EU:C:2015:517
| 2015-07-14T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
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EUR-Lex - CELEX:62014CO0084 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 16. Juli 2015.#Konstantinos Maïstrellis gegen Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton.#Vorabentscheidungsersuchen des Symvoulio tis Epikrateias.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 96/34/EG – Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub – Paragraf 2 Nr. 1 – Individuelles Recht auf Elternurlaub im Fall der Geburt eines Kindes – Nationale Regelung, die einem Beamten, dessen Ehegattin nicht erwerbstätig ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthält – Richtlinie 2006/54/EG – Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen – Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 1 Buchst. c – Arbeitsbedingungen – Unmittelbare Diskriminierung.#Rechtssache C-222/14.
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62014CJ0222
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ECLI:EU:C:2015:473
| 2015-07-16T00:00:00 |
Gerichtshof, Kokott
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62014CJ0222
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
16. Juli 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Richtlinie 96/34/EG — Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub — Paragraf 2 Nr. 1 — Individuelles Recht auf Elternurlaub im Fall der Geburt eines Kindes — Nationale Regelung, die einem Beamten, dessen Ehegattin nicht erwerbstätig ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthält — Richtlinie 2006/54/EG — Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen — Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 1 Buchst. c — Arbeitsbedingungen — Unmittelbare Diskriminierung“
In der Rechtssache C‑222/14
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Symvoulio tis Epikrateias (Griechenland) mit Entscheidung vom 20. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Mai 2014, in dem Verfahren
Konstantinos Maïstrellis
gegen
Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
—
von Herrn Maïstrellis, im Beistand von K. Daktylidi, dikigoros,
—
der griechischen Regierung, vertreten durch V. Karageorgos, I. Bakopoulos und S. Lekkou als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Patakia und D. Roussanov als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. April 2015
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub (ABl. L 145, S. 4) in der durch die Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 (ABl. 1998, L 10, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 96/34) und der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. L 204, S. 23).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Maïstrellis und dem Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton (Minister für Justiz, Transparenz und Menschenrechte) wegen dessen Weigerung, dem Betroffenen Elternurlaub zu gewähren, weil seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 96/34
3 Mit der Richtlinie 96/34, die nach Art. 4 der Richtlinie 2010/18/EU des Rates vom 8. März 2010 zur Durchführung der von BUSINESSEUROPE, UEAPME, CEEP und EGB geschlossenen überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub und zur Aufhebung der Richtlinie 96/34 (ABl. L 68, S. 13) mit Wirkung vom 8. März 2012 aufgehoben wurde, sollte nach ihrem Art. 1 die am 14. Dezember 1995 zwischen den europäischen Sozialpartnern – nämlich der Vereinigung der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), dem Europäischen Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) – geschlossene Rahmenvereinbarung über Elternurlaub im Anhang dieser Richtlinie (im Folgenden: Rahmenvereinbarung) durchgeführt werden.
4 In Abs. 1 der Präambel der Rahmenvereinbarung hieß es:
„Die … Rahmenvereinbarung stellt ein Engagement von UNICE, CEEP und EGB im Hinblick auf Mindestvorschriften für den Elternurlaub … dar, weil sie dies als ein wichtiges Mittel ansehen, Berufs- und Familienleben zu vereinbaren und Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern.“
5 Die Nrn. 4, 7 und 8 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung lauteten:
„4.
Die [auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg am 9. Dezember 1989 von den Staats- und Regierungschefs von elf Mitgliedstaaten angenommene] Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer fordert unter Nummer 16 über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen die Entwicklung von Maßnahmen, die es Männern und Frauen ermöglichen, ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen gleichermaßen nachzukommen.
…
7. Die Familienpolitik muss im Rahmen der demografischen Entwicklungen, der Auswirkungen der Überalterung, der Annäherung zwischen den Generationen und der Förderung einer Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben gesehen werden.
8. Männer sollten – zum Beispiel durch Sensibilisierungsprogramme – ermutigt werden, in gleichem Maße familiäre Verantwortung zu übernehmen und das Recht auf Elternurlaub in Anspruch zu nehmen.“
6 Paragraf 1 der Rahmenvereinbarung sah vor:
„1.
In dieser Vereinbarung sind Mindestanforderungen niedergelegt, die darauf abzielen, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erwerbstätiger Eltern zu erleichtern.
2. Diese Vereinbarung gilt für alle Arbeitnehmer, Männer und Frauen, die nach den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten in dem jeweiligen Mitgliedstaat über einen Arbeitsvertrag verfügen oder in einem Arbeitsverhältnis stehen.“
7 Paragraf 2 der Rahmenvereinbarung bestimmte:
„1.
Nach dieser Vereinbarung haben erwerbstätige Männer und Frauen nach Maßgabe des Paragrafen 2 Nummer 2 ein individuelles Recht auf Elternurlaub im Fall der Geburt oder Adoption eines Kindes, damit sie sich bis zu einem bestimmten Alter des Kindes – das Alter kann bis zu acht Jahren gehen – für die Dauer von mindestens drei Monaten um dieses Kind kümmern können. Die genauen Bestimmungen sind von den Mitgliedstaaten und/oder Sozialpartnern festzulegen.
2. Um Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern, sind die Unterzeichnerparteien der Meinung, dass das in Paragraf 2 Nummer 1 vorgesehene Recht auf Elternurlaub prinzipiell nicht übertragbar sein soll.
3. Die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs werden in den Mitgliedstaaten gesetzlich und/oder tarifvertraglich unter Einhaltung der Mindestanforderungen dieser Vereinbarung geregelt. Die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner können insbesondere
a)
entscheiden, ob der Elternurlaub auf Vollzeit- oder Teilzeitbasis, in Teilen oder in Form von ‚Kreditstunden‘ gewährt wird;
b)
das Recht auf Elternurlaub von einer bestimmten Beschäftigungsdauer und/oder Betriebszugehörigkeit (höchstens ein Jahr) abhängig machen;
c)
die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs an die besonderen Umstände der Adoption anpassen;
d)
Fristen vorschreiben, innerhalb derer der Arbeitnehmer, der sein Recht auf Elternurlaub ausübt, den Arbeitgeber unterrichten muss; dabei hat er Beginn und das Ende des Elternurlaubs anzugeben;
e)
die Bedingungen festlegen, unter denen der Arbeitgeber – nach Konsultation gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und Gepflogenheiten – aus berechtigten betrieblichen Gründen die Gewährung des Elternurlaubs verschieben darf (beispielsweise bei saisonabhängiger Arbeit, wenn innerhalb der festgelegten Frist keine Vertretung gefunden werden kann, wenn ein erheblicher Anteil der Arbeitskräfte gleichzeitig Elternurlaub beantragt, wenn eine bestimmte Funktion von strategischer Bedeutung ist). Sollten sich aus der Anwendung dieser Klausel Schwierigkeiten ergeben, so sind sie gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und Gepflogenheiten zu lösen;
f)
in Ergänzung zu Buchstabe e) die Genehmigung erteilen, dass besondere Vorkehrungen getroffen werden, um den Bedürfnissen der kleinen Unternehmen im Blick auf Arbeitsweise und Organisation gerecht zu werden.“
Richtlinie 2006/54
8 Die Erwägungsgründe 2, 11 und 22 der Richtlinie 2006/54 lauten:
„(2)
Die Gleichstellung von Männern und Frauen stellt nach Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 2 [EG] sowie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein grundlegendes Prinzip dar. In diesen Vertragsbestimmungen wird die Gleichstellung von Männern und Frauen als Aufgabe und Ziel der Gemeinschaft bezeichnet, und es wird eine positive Verpflichtung begründet, sie bei allen Tätigkeiten der Gemeinschaft zu fördern.
…
(11) Die Mitgliedstaaten sollten weiterhin gemeinsam mit den Sozialpartnern dem Problem des anhaltenden geschlechtsspezifischen Lohngefälles und der nach wie vor ausgeprägten Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt beispielsweise durch flexible Arbeitszeitregelungen entgegenwirken, die es sowohl Männern als auch Frauen ermöglichen, Familie und Beruf besser miteinander in Einklang zu bringen. Dies könnte auch angemessene Regelungen für den Elternurlaub, die von beiden Elternteilen in Anspruch genommen werden könnten, … einschließen.
…
(22) In Übereinstimmung mit Artikel 141 Absatz 4 [EG] hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen. Angesichts der derzeitigen Lage und in Kenntnis der Erklärung Nr. 28 zum Vertrag von Amsterdam sollten die Mitgliedstaaten in erster Linie darauf hinwirken, die Lage der Frauen im Arbeitsleben zu verbessern.“
9 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Ziel der vorliegenden Richtlinie ist es, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen.
Zu diesem Zweck enthält sie Bestimmungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf
…
b)
Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts,
…“
10 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmung:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a)
‚unmittelbare Diskriminierung‘ eine Situation, in der eine Person aufgrund ihres Geschlechts eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.
11 Art. 3 („Positive Maßnahmen“) der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können im Hinblick auf die Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben Maßnahmen im Sinne von Artikel 141 Absatz 4 [EG] beibehalten oder beschließen.“
12 In Art. 14 („Diskriminierungsverbot“) Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 heißt es:
„Im öffentlichen und privaten Sektor einschließlich öffentlicher Stellen darf es in Bezug auf folgende Punkte keinerlei unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben:
…
c)
die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen sowie das Arbeitsentgelt nach Maßgabe von Artikel 141 [EG]“.
13 Art. 28 („Verhältnis zu gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Vorschriften“) Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie berührt nicht die Bestimmungen der Richtlinien 96/34… und 92/85/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. L 348, S. 1)].“
Griechisches Recht
14 Art. 44 des Gesetzes über die Organisation der Gerichte und die Stellung der Richter in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Stellung der Richter) sieht in seinen Abs. 20 und 21 vor:
„20. Eine schwangere Richterin hat Anspruch auf Urlaub vor und nach der Entbindung gemäß den für die Beamten der Zivilverwaltung des Staates geltenden Bestimmungen.
21. Einer Richterin kann auf Antrag durch Bescheid des Ministers für Justiz, Transparenz und Menschenrechte neun Monate bezahlter Urlaub zur Kinderbetreuung gewährt werden …“
15 Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„… Ist die Ehegattin des Beamten nicht erwerbstätig oder übt sie keinerlei Berufstätigkeit aus, hat der Ehegatte keinen Anspruch auf die Erleichterungen des Abs. 2 [zu denen die Gewährung von bezahltem Elternurlaub zur Betreuung eines Kindes gehört], es sei denn, die Ehegattin kann ausweislich einer Bescheinigung des für den Beamten zuständigen gesundheitsrechtlichen Ausschusses (zweite Instanz) wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
16 Am 7. Dezember 2010 beantragte Herr Maïstrellis, Richter in Griechenland, beim Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton bezahlten Urlaub von neun Monaten zur Betreuung seines am 24. Oktober 2010 geborenen Kindes. Als Richter unterliegt Herr Maïstrellis den Sondervorschriften dieses Berufsstands, nämlich dem Gesetz über die Stellung der Richter.
17 Mit Bescheid vom 18. Januar 2011 lehnte der Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton den Antrag von Herrn Maïstrellis mit der Begründung ab, dass der beantragte Urlaub nach Art. 44 Abs. 21 dieses Gesetzes nur weiblichen Richtern gewährt werde.
18 Herr Maïstrellis erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat). Mit Urteil vom 4. Juli 2011 gab dieser der Klage statt und entschied, dass Art. 44 Abs. 21 des Gesetzes über die Stellung der Richter, ausgelegt im Licht der Richtlinie 96/34, nicht nur auf eine Richterin, die Mutter ist, sondern auch auf einen Richter, der Vater ist, anzuwenden sei. Die Sache wurde an die Verwaltung zurückverwiesen.
19 Mit Bescheid vom 26. September 2011 lehnte der Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton den Antrag von Herrn Maïstrellis erneut ab, und zwar mit der Begründung, dass dieser nach Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz keinen Anspruch auf den Urlaub gemäß Art. 44 Abs. 21 des Gesetzes über die Stellung der Richter habe. Denn ein Richter, der Vater sei, habe zwar grundsätzlich Anspruch auf Elternurlaub zur Betreuung seines Kindes, er stehe ihm aber nicht zu, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig sei oder keine Berufstätigkeit ausübe. Im vorliegenden Fall sei die Ehegattin von Herrn Maïstrellis aber arbeitslos, wie er selbst angegeben habe.
20 Am 10. Oktober 2011 erhob Herr Maïstrellis gegen diesen neuen Bescheid Klage beim Symvoulio tis Epikrateias. Dieser führt aus, dass nach seiner Rechtsprechung für die Bereiche, die für Richter nicht gesondert geregelt seien, die Bestimmungen des Beamtengesetzes, u. a. dessen Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3, ergänzend herangezogen würden.
21 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob diese Bestimmung des Beamtengesetzes mit den Richtlinien 96/34 und 2006/54 im Einklang steht.
22 Unter diesen Umständen hat der Symvoulio tis Epikrateias beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 2006/54 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die – wie die streitige Bestimmung des Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz – vorsieht, dass der Beamte keinen Anspruch auf Elternurlaub hat, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen?
Zur Vorlagefrage
23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Beamten das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.
Vorbemerkungen
24 Im vorliegenden Fall unterliegt Herr Maïstrellis als Richter grundsätzlich dem Gesetz über die Stellung der Richter. Das vorlegende Gericht führt jedoch aus, dass nach seiner Rechtsprechung die Bestimmungen des Beamtengesetzes, u. a. dessen in der Vorlagefrage ausdrücklich genannter Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3, ergänzend herangezogen würden, wenn die Regelung für Richter keine Sondervorschriften vorsehe.
25 Herr Maïstrellis trägt dazu vor, dass sich der Ypourgos Dikaiosynis, Diafaneias kai Anthropinon Dikaiomaton auf Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz berufen habe, ohne dass die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung auf Richter erfüllt seien.
26 Es ist aber darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteile Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 27, sowie Stanley International Betting und Stanleybet Malta, C‑463/13, EU:C:2015:25, Rn. 26).
27 Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt. Er hat demnach, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (Urteil ČEZ, C‑115/08, EU:C:2009:660, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Unter diesen Umständen ist auf die so gestellte Vorlagefrage des Symvoulio tis Epikrateias zu antworten.
Zur Richtlinie 96/34
29 Es ist zunächst festzustellen, dass die Richtlinie 96/34 und die Rahmenvereinbarung auf Beamte anwendbar sind (vgl. Urteil Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 27 bis 30).
30 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung von unionsrechtlichen Vorschriften nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, und ihr Zusammenhang zu berücksichtigen (vgl. Urteile Adidas, C‑223/98, EU:C:1999:500, Rn. 23, SGAE, C‑306/05, EU:C:2006:764, Rn. 34, und Hoštická u. a., C‑561/13, EU:C:2014:2287, Rn. 29).
31 Nach Paragraf 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung haben erwerbstätige Männer und Frauen ein „individuelles Recht“ auf Elternurlaub im Fall der Geburt oder Adoption eines Kindes, damit sie sich für die Dauer von mindestens drei Monaten um dieses Kind kümmern können.
32 Außerdem bestimmt Paragraf 2 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung dass dieses Recht auf Elternurlaub – um Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu fördern – „prinzipiell nicht übertragbar sein soll“.
33 Aus diesen Bestimmungen folgt, dass jeder Elternteil des Kindes ein individuelles Recht auf Elternurlaub von mindestens drei Monaten hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Luxemburg, C‑519/03, EU:C:2005:234, Rn. 33).
34 Dieses Recht auf Elternurlaub für jeden Elternteil eines Kindes stellt eine der in der Rahmenvereinbarung aufgestellten Mindestanforderungen im Sinne von Paragraf 1 Nr. 1 dieser Vereinbarung dar.
35 So heißt es in Paragraf 2 Nr. 3 der Rahmenvereinbarung, dass die Voraussetzungen und die Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs in den Mitgliedstaaten gesetzlich und/oder tarifvertraglich unter Einhaltung der Mindestanforderungen dieser Vereinbarung geregelt werden. In dieser Bestimmung wird auch angegeben, welche Voraussetzungen und Modalitäten für die Inanspruchnahme des Elternurlaubs die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner insbesondere vorsehen können.
36 Wie die Generalanwältin in Nr. 42 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ermöglichen diese Voraussetzungen und Modalitäten keineswegs, einem Elternteil – namentlich wegen der Erwerbssituation seines Ehegatten – das Recht auf Elternurlaub vorzuenthalten.
37 Für diese wörtliche Auslegung der Paragrafen 1 und 2 der Rahmenvereinbarung sprechen auch die Ziele und der Regelungszusammenhang dieser Rahmenvereinbarung.
38 Die Rahmenvereinbarung zielt nämlich nach ihrem Paragraf 1 Nr. 1 darauf ab, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erwerbstätiger Eltern zu erleichtern, ein Ziel, das, wie Nr. 4 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung zum Ausdruck bringt, in Nr. 16 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer festgelegt ist (Urteil Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 36).
39 Mit demselben Ziel ist der Anspruch auf Elternurlaub in Art. 33 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter den sozialen Grundrechten aufgenommen worden, die in Titel IV der Grundrechtecharta unter der Überschrift „Solidarität“ zusammengefasst werden (Urteil Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 37). Nach dieser Bestimmung hat jeder Mensch u. a. Anspruch auf einen Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes, um Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang bringen zu können.
40 In diesem Sinne heißt es in den Nrn. 7 und 8 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung, dass die Familienpolitik im Rahmen der „Förderung einer Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben“ gesehen werden müsse und dass Männer ermutigt werden sollten, „in gleichem Maße familiäre Verantwortung“ zu übernehmen, insbesondere indem sie Elternurlaub nehmen.
41 Folglich geht sowohl aus dem Wortlaut der Rahmenvereinbarung als auch ihren Zielen und ihrem Regelungszusammenhang hervor, dass jeder Elternteil über das Recht auf Elternurlaub verfügt, was bedeutet, dass die Mitgliedstaaten keine Regelung erlassen dürfen, nach der einem Beamten, der Vater ist, das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt.
Zur Richtlinie 2006/54
42 Zunächst ist zum einen festzustellen, dass – worauf im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/54 hingewiesen wird – der durch diese Richtlinie verwirklichte Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen allgemeine Geltung hat. Zum anderen ist diese Richtlinie, wie sich u. a. aus ihrem Art. 14 Abs. 1 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, auf Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen und im privaten Sektor anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil Napoli, C‑595/12, EU:C:2014:128, Rn. 39).
43 Nach dem elften Erwägungsgrund dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten u. a. „angemessene Regelungen für den Elternurlaub, die von beiden Elternteilen in Anspruch genommen werden könnten“, erlassen, um es sowohl Männern als auch Frauen zu ermöglichen, Familie und Beruf besser miteinander in Einklang zu bringen.
44 Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie liegt eine „unmittelbare Diskriminierung“ vor, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.
45 Die Gewährung von Elternurlaub, die es Personen, die gerade Eltern geworden sind, ermöglicht, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen, um sich ihren familiären Verpflichtungen zu widmen, hat Auswirkungen auf die Ausübung der Berufstätigkeit der betreffenden Beamten. Demnach fallen die Bedingungen für die Erteilung von Elternurlaub unter die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/54.
46 Im vorliegenden Fall betrifft der Elternurlaub im Sinne von Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz Beamte in ihrer Eigenschaft als Eltern.
47 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Lage eines Arbeitnehmers in seiner Eigenschaft als Elternteil und die einer Arbeitnehmerin in derselben Eigenschaft miteinander vergleichbar sind, soweit es um die Erziehung der Kinder geht (vgl. Urteile Kommission/Frankreich, 312/86, EU:C:1988:485, Rn. 14, Griesmar, C‑366/99, EU:C:2001:648, Rn. 56, und Kommission/Griechenland, C‑559/07, EU:C:2009:198, Rn. 69).
48 Nach Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz wird zwar einem Beamten, der Vater ist, das Recht auf Elternurlaub zur Betreuung seines Kindes vorenthalten, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen, doch sieht diese Bestimmung umgekehrt nicht vor, dass eine Beamtin, die Mutter ist, ihren Anspruch wegen der beruflichen Situation ihres Ehegatten verliert. Außerdem wird im Vorlagebeschluss auf keine andere Bestimmung des nationalen Rechts verwiesen, die eine solche Bedingung für Beamtinnen, die Mütter sind, vorsehen würde.
49 Daraus folgt, dass nach nationalem Recht Mütter, die Beamtinnen sind, stets Anspruch auf Elternurlaub haben, während Väter, die die gleiche Stellung haben, diesen nur dann in Anspruch nehmen können, wenn die Mutter ihres Kindes erwerbstätig ist oder eine Berufstätigkeit ausübt. Die Eigenschaft als Elternteil allein reicht also für Männer, die Beamte sind, nicht aus, um diesen Urlaub in Anspruch nehmen zu können, wohl aber für Frauen, die die gleiche Stellung haben (vgl. entsprechend Urteil Roca Álvarez, C‑104/09, EU:C:2010:561, Rn. 23).
50 Im Hinblick auf Art. 3 der Richtlinie 2006/54 führt eine Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren streitige, die weit davon entfernt ist, die volle Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben zu gewährleisten, im Übrigen eher zu einer Verfestigung der herkömmlichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, indem den Männern weiterhin eine im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Elternschaft subsidiäre Rolle gegenüber den Frauen zugewiesen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Lommers, C‑476/99, EU:C:2002:183, Rn. 41, und Roca Álvarez, C‑104/09, EU:C:2010:561, Rn. 36).
51 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/54 nach ihrem Art. 28 Abs. 2 die Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 92/85 nicht berührt. Eine Bestimmung wie Art. 53 Abs. 3 Unterabs. 3 Beamtengesetz kann aber nicht unter den Schutz der Richtlinie 92/85 fallen. Wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, stellt es nämlich keineswegs eine Maßnahme zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz dar, wenn dem Vater des Kindes wegen der beruflichen Situation seiner Ehegattin das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird.
52 Unter diesen Umständen stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestimmung in Bezug auf die Gewährung von Elternurlaub eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 in Verbindung mit deren Art. 2 Abs. 1 Buchst. a von Beamten dar, die Väter sind.
53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Bestimmungen der Richtlinien 96/34 und 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Beamten das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.
Kosten
54 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Die Bestimmungen der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub in der durch die Richtlinie 97/75/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 geänderten Fassung und der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der einem Beamten das Recht auf Elternurlaub vorenthalten wird, wenn seine Ehegattin nicht erwerbstätig ist oder keinerlei Berufstätigkeit ausübt, es sei denn, sie kann wegen einer schweren Erkrankung oder Verletzung den Erfordernissen der Kinderbetreuung nicht nachkommen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Griechisch.
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 15. Juli 2015 (Auszüge).#Akzo Nobel NV u. a. gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Wärmestabilisatoren – Entscheidung, mit der zwei Verstöße gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt werden – Festsetzung von Preisen, Aufteilung der Märkte und Austausch wirtschaftlich sensibler Informationen – Dauer der Zuwiderhandlungen – Verjährung – Dauer des Verwaltungsverfahrens – Angemessene Verfahrensdauer – Verteidigungsrechte – Zurechnung der Zuwiderhandlungen – Zuwiderhandlungen, die von Tochtergesellschaften, einer Partnerschaft ohne eigene Rechtspersönlichkeit und einer Tochtergesellschaft begangen werden – Berechnung der Geldbußen.#Rechtssache T-47/10.
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62010TJ0047
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ECLI:EU:T:2015:506
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010TJ0047
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Europäischer Markt für Wärmestabilisatoren — Entscheidung, mit der zwei Verstöße gegen Art. 81 EG und Art. 53 EWR-Abkommen festgestellt werden — Festsetzung von Preisen, Aufteilung der Märkte und Austausch wirtschaftlich sensibler Informationen — Dauer der Zuwiderhandlungen — Verjährung — Dauer des Verwaltungsverfahrens — Angemessene Verfahrensdauer — Verteidigungsrechte — Zurechnung der Zuwiderhandlungen — Zuwiderhandlungen, die von Tochtergesellschaften, einer Partnerschaft ohne eigene Rechtspersönlichkeit und einer Tochtergesellschaft begangen werden — Berechnung der Geldbußen“
In der Rechtssache T‑47/10
Akzo Nobel NV mit Sitz in Amsterdam (Niederlande),
Akzo Nobel Chemicals GmbH mit Sitz in Düren (Deutschland),
Akzo Nobel Chemicals BV mit Sitz in Amersfoort (Niederlande),
Akcros Chemicals Ltd mit Sitz in Warwickshire (Vereinigtes Königreich),
Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte C. Swaak und M. van der Woude, dann Rechtsanwälte C. Swaak und R. Wesseling,
Klägerinnen,
gegen
Europäische Kommission, zunächst vertreten durch F. Ronkes Agerbeek und J. Bourke, dann durch F. Ronkes Agerbeek und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, Barrister,
Beklagte,
betreffend eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung K(2009) 8682 endg. der Kommission vom 11. November 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR‑Abkommen (Sache COMP/38589 – Wärmestabilisatoren) oder, hilfsweise, auf Herabsetzung der verhängten Geldbußen
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek, der Richterin I. Labucka (Berichterstatterin) und des Richters V. Kreuschitz,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. September 2014
folgendes
Urteil (1 )
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die vorliegende Rechtssache betrifft die Entscheidung K(2009) 8682 endg. der Kommission vom 11. November 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38589 – Wärmestabilisatoren) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).
2 Der Rechtsstreit betrifft verschiedene Unternehmen.
I – Beteiligte Unternehmen
A – Akzo-Gruppe
3 Nach dem Erwerb von Nobel Industrier im Jahr 1993 wurde die Akzo NV zur Akzo Nobel NV (im Folgenden: Akzo Nobel), die an der Spitze einer Gruppe von Unternehmen steht, die weltweit niedergelassen und tätig sind (im Folgenden zusammen: Akzo-Gruppe).
4 Bis zum 19. März 1993 wurden die Tätigkeiten der Akzo-Gruppe im Bereich der Herstellung und des Verkaufs von Wärmestabilisatoren von Tochtergesellschaften ausgeübt, an denen in Bezug auf Zinnstabilisatoren zum einen Akzo (jetzt Akzo Nobel) mittelbar über die Akzo Chemicals International BV (jetzt Akzo Nobel Chemicals International BV), zum anderen die Akzo Chemie GmbH und die Akzo Chemicals GmbH (jetzt Akzo Nobel Chemicals GmbH, im Folgenden: Akzo GmbH) sowie in Bezug auf ESBO/Ester die Akzo Chemie Nederland BV und die Akzo Chemicals Nederland BV (jetzt Akzo Nobel Chemicals BV, im Folgenden: Akzo BV) zu 100 % beteiligt waren.
B – Akcros-Partnerschaft
5 Am 19. März 1993 schloss Akzo Chemicals International, eine 100%ige Tochtergesellschaft von Akzo (später Akzo Nobel), eine Rahmenvereinbarung mit der Harrisons Chemicals (UK) Ltd, einer 100%igen Tochtergesellschaft der Harrisons & Crosfield plc (jetzt Elementis plc), zur Zusammenfassung der Tätigkeiten ihrer jeweiligen Gruppen in den Bereichen Entwicklung, Produktion und Vertrieb bestimmter chemischer Produkte, zu denen Wärmestabilisatoren gehörten (im Folgenden: Rahmenvereinbarung von 1993).
6 Die Rahmenvereinbarung von 1993 sah die Übertragung von Vermögen und Personal des betroffenen Bereichs auf vier Partnerschaften im Vereinigten Königreich, in Deutschland, in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten von Amerika vor. Das Kapital jeder Partnerschaft und von in Frankreich (Tinstab SA), Italien (Harcros Chemicals Italia SpA), Spanien (Harcros Chemicals Iberia SA) und Dänemark (Lankro Sandia ApS) bestehenden Gesellschaften sollte dabei zu gleichen Teilen von der Akzo Chemicals International-Gruppe, d. h. der Akzo-Gruppe, und von der Harrisons Chemicals (UK)-Gruppe gehalten werden.
7 Am 24. März 1993 meldeten Akzo Chemicals International und Harrisons Chemicals (UK) die Rahmenvereinbarung von 1993 bei der Europäischen Kommission gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 395, S. 1) in der berichtigten Fassung an.
8 Mit Entscheidung vom 29. April 1993 erklärte die Kommission die Rahmenvereinbarung von 1993 für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar (im Folgenden: Entscheidung von 1993 über den Zusammenschluss).
9 Gemäß der Rahmenvereinbarung von 1993 wurde am 28. Juni 1993 im Vereinigten Königreich die Partnerschaft Akcros Chemicals (im Folgenden: Akcros-Partnerschaft) gegründet (vgl. 536. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
10 Bei ihrer Gründung gehörte die Akcros-Partnerschaft zu gleichen Teilen der Pure Chemicals Ltd, die ursprünglich zu 100 % von Akzo, der späteren Akzo Nobel, gehalten wurde, und verschiedenen Gesellschaften, darunter zuletzt die Elementis UK Ltd und die Elementis Services Ltd, die zu einer Gruppe gehörten, an deren Spitze die Elementis plc stand (im Folgenden zusammen: Elementis).
C – Akcros-Gemeinschaftsunternehmen
11 Am 15. Juli 1998 vereinbarte Akzo Nobel mit Elementis, dass sie über ihre 100%ige Tochtergesellschaft Pure Chemicals die Anteile von Elementis an der Akcros-Partnerschaft erwerben werde. Diese wurde in die Akcros Chemical Ltd (im Folgenden: Akcros) umgewandelt, deren sämtliche Anteile vom 2. Oktober 1998 an mittelbar von Akzo Nobel gehalten wurden.
12 Am 15. März 2007 veräußerte Akzo Nobel Akcros an GIL Investments.
II – Verwaltungsverfahren, das zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat
A – Einleitung der Untersuchung durch die Kommission
13 Das Verfahren, das zum Erlass der angefochtenen Entscheidung geführt hat, wurde eingeleitet, nachdem Chemtura am 26. November 2002 einen Antrag auf Geldbußenerlass gemäß der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3) gestellt hatte (vgl. Erwägungsgründe 79 und 80 der angefochtenen Entscheidung).
14 Am 30. Januar 2003 erließ die Kommission auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), die Entscheidung C(2003) 85/4, mit der der Akzo Nobel Chemicals Ltd, Akcros und ihren jeweiligen Tochtergesellschaften aufgegeben wurde, eine Nachprüfung zur Ermittlung von Beweisen für etwaige wettbewerbswidrige Praktiken zu dulden (im Folgenden: Entscheidung vom 30. Januar 2003).
15 Am 10. Februar 2003 erließ die Kommission ebenfalls auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17 die Entscheidung C(2003) 559/4 zur Änderung der Entscheidung vom 30. Januar 2003 (im Folgenden zusammen: Nachprüfungsanordnungen).
16 Am 12. und 13. Februar 2003 fanden auf der Grundlage der Nachprüfungsanordnungen in den Räumen von Akzo Nobel Chemicals und Akcros in Eccles, Manchester (Vereinigtes Königreich), Nachprüfungen vor Ort statt. Dabei kopierten die Bediensteten der Kommission zahlreiche Unterlagen. Während dieser Vorgänge wiesen die Vertreter von Akzo Nobel Chemicals und Akcros die Bediensteten der Kommission darauf hin, dass bestimmte Dokumente möglicherweise unter das Anwaltsgeheimnis fielen (im Folgenden: streitige Dokumente).
17 Bei der Prüfung dieser Dokumente kam es zu Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf fünf Dokumente, die auf zweierlei Weise behandelt wurden. Die Bediensteten der Kommission trafen nämlich nicht sofort eine endgültige Entscheidung hinsichtlich des für zwei Dokumente möglicherweise bestehenden Schutzes. Sie fertigten daher Kopien von ihnen an und legten diese in einen versiegelten Umschlag, den sie am Ende der Nachprüfung mitnahmen. In Bezug auf die drei anderen umstrittenen Dokumente war der für die Nachprüfung verantwortliche Bedienstete der Kommission der Ansicht, dass sie nicht unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses fielen, kopierte sie daher und fügte sie den anderen Unterlagen hinzu, ohne sie getrennt in einem versiegelten Umschlag aufzubewahren.
18 Diese Meinungsverschiedenheiten führten zu einem umfangreichen Rechtsstreit (im Folgenden: Gerichtsverfahren Akzo).
B – Gerichtsverfahren Akzo
19 Mit Klageschrift, die am 11. April 2003 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben Akzo Nobel Chemicals und Akcros Klage im Wesentlichen auf Nichtigerklärung der Entscheidung C(2003) 559/4 vom 10. Februar 2003 und erforderlichenfalls der Entscheidung vom 30. Januar 2003, mit denen ihnen und ihren jeweiligen Tochtergesellschaften aufgegeben wurde, die fragliche Nachprüfung zu dulden (Rechtssache T‑125/03, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission).
20 Am 17. April 2003 stellten Akzo Nobel Chemicals und Akcros einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, der insbesondere auf Aussetzung des Vollzugs der Nachprüfungsanordnungen gerichtet war (Rechtssache T‑125/03 R, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission).
21 Am 8. Mai 2003 erließ die Kommission auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 3 der Verordnung Nr. 17 die Entscheidung C(2003) 1533 final (im Folgenden: Entscheidung vom 8. Mai 2003), mit der der Antrag der Klägerinnen, die Vertraulichkeit der streitigen Dokumente zu beachten, abgelehnt wurde.
22 In der Entscheidung vom 8. Mai 2003 lehnte die Kommission den Antrag von Akzo Nobel Chemicals und Akcros ab, ihnen die streitigen Dokumente zurückzugeben, und kündigte an, den versiegelten Umschlag öffnen zu wollen. Sie werde dies jedoch nicht vor Ablauf der Frist für die Einreichung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung tun.
23 Mit Klageschrift, die am 4. Juli 2003 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhoben Akzo Nobel Chemicals und Akcros Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung vom 8. Mai 2003 (Rechtssache T‑253/03, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission).
24 Außerdem stellten sie einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, der auf Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung vom 8. Mai 2003 gerichtet war (Rechtssache T‑253/03 R, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission).
25 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 30. Oktober 2003, wurde der Antrag in der Rechtssache T‑125/03 R bezüglich der Nachprüfungsanordnungen zurückgewiesen, dem Antrag in der Rechtssache T‑253/03 R bezüglich des Schutzes der Vertraulichkeit der streitigen Dokumente hingegen teilweise stattgegeben (Beschluss vom 30. Oktober 2003, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, T‑125/03 R und T‑253/03 R, Slg, EU:C:2003:287).
26 Dieser Beschluss wurde durch den Beschluss vom 27. September 2004, Kommission/Akzo und Akcros (C‑7/04 P [R], Slg, EU:C:2004:566) aufgehoben.
27 Mit Schreiben vom 15. Oktober 2004 sandte die Kanzlei des Gerichts der Kommission den versiegelten Umschlag mit zwei der streitigen Dokumente zurück (Erwägungsgründe 84 bis 90 der angefochtenen Entscheidung).
28 Mit Urteil des Gerichts vom 17. September 2007 wurde die Klage in der Rechtssache T‑125/03 gegen die Nachprüfungsanordnungen als unzulässig abgewiesen. Die Klage in der Rechtssache T‑253/03 bezüglich der streitigen Dokumente wurde als unbegründet abgewiesen, im Wesentlichen weil die Kommission mit ihrer Entscheidung, dass keines der streitigen Dokumente sachlich unter den Schutz des Anwaltsgeheimnisses falle, keinen Fehler begangen hat (Urteil vom 17. September 2007, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, T‑125/03 und T‑253/03, Slg, EU:T:2007:287, Rn. 57 und 184).
29 Mit Urteil vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission (C‑550/07 P, Slg, EU:C:2012:512), wies der Gerichtshof das Rechtsmittel gegen das Urteil Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, oben in Rn. 28 angeführt (EU:T:2007:287), zurück.
C – Abschluss der Untersuchung durch die Kommission
30 Am 8. Oktober 2007 und mehrmals im Laufe des Jahres 2008 richtete die Kommission an die beteiligten Unternehmen Auskunftsverlangen gemäß Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) (Erwägungsgründe 91 und 92 der angefochtenen Entscheidung).
31 Am 17. März 2009 erließ die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die mehreren Unternehmen, u. a. den Klägerinnen (Akzo Nobel, Akzo GmbH, Akzo BV und Akcros), am 18. März 2009 zugestellt wurde (95. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
32 Am 11. November 2009 erließ die Kommission die angefochtene Entscheidung.
III – Angefochtene Entscheidung
33 Mit der angefochtenen Entscheidung legt die Kommission einer Reihe von Unternehmen zur Last, gegen Art. 81 EG und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verstoßen zu haben, indem sie sich an zwei Komplexen wettbewerbswidriger Vereinbarungen und abgestimmter Verhaltensweisen im EWR-Gebiet, zum einen im Bereich Zinnstabilisatoren und zum anderen im Bereich Epoxid-Sojaöle und Ester (im Folgenden: ESBO/Ester), beteiligt hätten.
34 In der angefochtenen Entscheidung werden zwei Zuwiderhandlungen festgestellt, die zwei Kategorien von Wärmestabilisatoren betreffen, bei denen es sich um Erzeugnisse handelt, die Polyvinylchlorid (PVC)-Erzeugnissen hinzugesetzt werden, um diesen eine hohe Temperaturbeständigkeit zu verleihen (dritter Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
35 Nach Art. 1 der angefochtenen Entscheidung bestand jede dieser Zuwiderhandlungen in der Festsetzung von Preisen, in der Marktaufteilung durch Zuweisung von Lieferquoten, in der Auf- und Zuteilung von Kunden und im Austausch wirtschaftlich sensibler Informationen, insbesondere über Kunden, Produktions- und Liefermengen.
36 Der angefochtenen Entscheidung zufolge waren die betroffenen Unternehmen an diesen Zuwiderhandlungen während verschiedener Zeiträume zwischen dem 24. Februar 1987 und dem 21. März 2000 im Bereich Zinnstabilisatoren sowie zwischen dem 11. September 1991 und dem 26. September 2000 im Bereich ESBO/Ester beteiligt.
37 Die angefochtene Entscheidung war bezüglich jeder Zuwiderhandlung an 20 Gesellschaften gerichtet, die sich entweder unmittelbar an den betreffenden Zuwiderhandlungen beteiligt hatten oder deren Haftung als Muttergesellschaften festgestellt wurde (510. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
A – Zurechnung der Zuwiderhandlungen in der angefochtenen Entscheidung
38 In Art. 1 der angefochtenen Entscheidung werden die Klägerinnen für ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung im Bereich Zinnstabilisatoren zur Verantwortung gezogen, und zwar Akzo Nobel für den Zeitraum vom 24. Februar 1987 bis zum 21. März 2000, Akzo GmbH für den Zeitraum vom 24. Februar 1987 bis zum 28. Juni 1993 und Akcros für den Zeitraum vom 28. Juni 1993 bis zum 21. März 2000. Ebenso werden die Klägerinnen in Art. 1 der angefochtenen Entscheidung für ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung im Bereich ESBO/Ester zur Verantwortung gezogen, und zwar Akzo Nobel für den Zeitraum vom 11. September 1991 bis zum 22. März 2000, Akzo BV für den Zeitraum vom 11. September 1991 bis zum 28. Juni 1993 und Akcros für den Zeitraum vom 28. Juni 1993 bis zum 22. März 2000.
39 Somit wurde in der angefochtenen Entscheidung die Haftung von Akzo Nobel als Muttergesellschaft einer Gruppe von Gesellschaften, von denen sich einige unmittelbar an den Zuwiderhandlungen beteiligt hatten, für den gesamten Zuwiderhandlungszeitraum, d. h. vom 24. Februar 1987 bis zum 22. März 2000, festgestellt.
40 Im Zeitraum vor dem 28. Juni 1993 (im Folgenden: erster Zuwiderhandlungszeitraum) beteiligten sich nach Ansicht der Kommission Gesellschaften, die mittelbar von Akzo (jetzt Akzo Nobel) gehalten wurden, unmittelbar an den Zuwiderhandlungen, nämlich Akzo GmbH an der Zuwiderhandlung im Bereich Zinnstabilisatoren und Akzo BV an der Zuwiderhandlung im Bereich ESBO/Ester (Erwägungsgründe 512 bis 519 der angefochtenen Entscheidung).
41 Im Zeitraum vom 28. Juni 1993 bis zum 2. Oktober 1998 (im Folgenden: zweiter Zuwiderhandlungszeitraum) seien die Zuwiderhandlungen von der Akcros-Partnerschaft begangen worden (Erwägungsgründe 563 und 564 der angefochtenen Entscheidung).
42 Im Zeitraum vom 2. Oktober 1998 bis zum 21. März 2000 bezüglich der Zinnstabilisatoren und vom 2. Oktober 1998 bis zum 22. März 2000 für den Bereich ESBO/Ester (im Folgenden: dritter Zuwiderhandlungszeitraum) wurden die Zuwiderhandlungen nach Auffassung der Kommission von Akcros begangen (Erwägungsgründe 582 bis 587 der angefochtenen Entscheidung).
43 Was die Befugnis der Kommission betrifft, wegen dieser Zuwiderhandlungen Geldbußen gegen die Klägerinnen zu verhängen, hat die Kommission in der angefochtenen Entscheidung das Vorbringen der Klägerinnen zurückgewiesen, wonach sie ihre Untersuchung während der im Rahmen des Gerichtsverfahrens Akzo vor dem Gericht angestrengten Verfahren hätte fortsetzen können und müssen. Die zehnjährige Verjährung ihres Rechts, Geldbußen zu verhängen, habe nämlich durch das Gerichtsverfahren Akzo mit Wirkung erga omnes geruht (Erwägungsgründe 672 bis 682 der angefochtenen Entscheidung).
B – Festsetzung der Geldbußen in der angefochtenen Entscheidung
44 Art. 2 der angefochtenen Entscheidung lautet:
„Für die … Zuwiderhandlung(en) im Bereich Zinnstabilisatoren, werden folgende Geldbußen verhängt:
1)
Elementis plc, Elementis Holdings Limited, Elementis Services Limited, [Akzo Nobel] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 875200 [Euro],
2)
Elementis Holdings Limited, Elementis Services Limited, [Akzo Nobel] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 2601500 [Euro],
3)
Elementis Holdings Limited, Elementis Services Limited und [Akzo Nobel] haften gesamtschuldnerisch für: 4546300 [Euro],
4)
[Akzo Nobel], [Akzo GmbH] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 1580000 [Euro],
5)
[Akzo Nobel] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 944300 [Euro],
6)
[Akzo Nobel] und [Akzo GmbH] haften gesamtschuldnerisch für: 9820000 [Euro],
7)
[Akzo Nobel] haftet für: 1432700 [Euro],
…
Für die … Zuwiderhandlung(en) im Bereich ESBO/Ester werden folgende Geldbußen verhängt:
18)
Elementis plc, Elementis Holdings Limited, Elementis Services Limited, [Akzo Nobel] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 1115200 [Euro],
19)
Elementis Holdings Limited, Elementis Services Limited, [Akzo Nobel] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 2011103 [Euro],
20)
Elementis Holdings Limited, Elementis Services Limited und [Akzo Nobel] haften gesamtschuldnerisch für: 7116697 [Euro],
21)
[Akzo Nobel], [Akzo BV] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 2033000 [Euro],
22)
[Akzo Nobel] und [Akcros] haften gesamtschuldnerisch für: 841697 [Euro],
23)
[Akzo Nobel] und [Akzo BV] haften gesamtschuldnerisch für: 3467000 [Euro],
24)
[Akzo Nobel] haftet für: 2215303 [Euro], …“
45 Bei der Festsetzung der Geldbußen wandte die Kommission die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006) an.
[nicht wiedergegeben]
Verfahren und Anträge der Parteien
51 Mit Klageschrift, die am 27. Januar 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen Klage gegen die angefochtene Entscheidung erhoben.
52 Mit Schreiben an die Kanzlei des Gerichts vom 29. Juli 2011 hat die Kommission das Gericht auf die Auswirkung des Urteils ArcelorMittal Luxembourg/Kommission und Kommission/ArcelorMittal Luxembourg u. a., oben in Rn. 48 angeführt (EU:C:2011:190), auf den vorliegenden Fall aufmerksam machen wollen, was das Gericht zur Kenntnis genommen hat.
53 In diesem Schreiben hat die Kommission zum einen das in den Rn. 55 bis 65 der Klagebeantwortung und in den Rn. 27 bis 33 der Gegenerwiderung hilfsweise geltend gemachte, aus dem Ruhen des Verfahrens hergeleitete Vorbringen gegen Akzo Nobel, Akzo GmbH und Akzo BV zurückgenommen.
54 Zum anderen hat die Kommission zur Klarstellung ausgeführt, dass sie das aus dem Ruhen des Verfahrens hergeleitete Vorbringen gegen Akcros und ihre gesamte Erwiderung auf den Klagegrund des Verstoßes gegen die Verjährungsvorschriften gegen alle anderen Klägerinnen aufrechterhalten wolle.
[nicht wiedergegeben]
97 Die Parteien haben in der Sitzung vom 23. September 2014 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
98 Die Klägerinnen beantragen,
—
in erster Linie, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären,
—
hilfsweise, den Betrag der gegen sie verhängten Geldbußen zu ermäßigen,
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
99 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen,
—
den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
[nicht wiedergegeben]
Rechtliche Würdigung
102 Zur Begründung ihrer Klage machen die Klägerinnen fünf Klagegründe geltend.
103 Der erste Klagegrund ist auf eine Verletzung der Verjährungsvorschriften gestützt. Mit dem zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der sorgfältigen Verwaltung und der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geltend gemacht. Der dritte Klagegrund ist auf Verstöße gegen Verteidigungsrechte gestützt. Mit dem vierten Klagegrund werden Fehler bei der Zurechnung der Zuwiderhandlungen und der Verhängung der Geldbußen gerügt. Mit dem fünften Klagegrund werden Fehler bei der Berechnung der Geldbußen geltend gemacht.
I – Zum ersten Klagegrund: Verletzung der Verjährungsvorschriften
104 Im Rahmen des ersten Klagegrundes, mit dem eine Verletzung der Verjährungsvorschriften geltend gemacht wird, tragen die Klägerinnen in erster Linie vor, dass die Kommission hinsichtlich des ersten Zuwiderhandlungszeitraums nicht mehr gegen sie habe vorgehen können und dass die Zuwiderhandlungen „1996/1997“ oder „spätestens“ 1997 geendet hätten, so dass die Kommission mit der angefochtenen Entscheidung gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen habe.
105 Hilfsweise machen die Klägerinnen geltend, dass die Kommission jedenfalls gegen Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen habe, da sie in der angefochtenen Entscheidung nicht nachgewiesen habe, dass in den Jahren 1999 und 2000 Zuwiderhandlungen stattgefunden hätten.
106 Daher sind die Argumente, die die Klägerinnen im Rahmen ihres ersten, auf die Verletzung der Verjährungsregeln gestützten Klagegrundes geltend machen, erstens in Bezug auf den ersten Zuwiderhandlungszeitraum und zweitens in Bezug auf den zweiten und den dritten Zuwiderhandlungszeitraum zu prüfen.
A – Zum ersten Zuwiderhandlungszeitraum
1. Vorbringen der Parteien
107 Die Klägerinnen machen geltend, dass sich aus dem 512. Erwägungsgrund sowie aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. b der angefochtenen Entscheidung ergebe, dass die Gesellschaften der Akzo-Gruppe, denen die Kommission zur Last gelegt habe, sich während des ersten Zuwiderhandlungszeitraums (d. h. bezüglich der Zinnstabilisatoren vom 24. Februar 1987 bis zum 28. Juni 1993 und bezüglich des Bereichs ESBO/Ester vom 11. September 1991 bis zum 28. Juni 1993) unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligt zu haben, nämlich Akzo GmbH und Akzo BV, ihre Beteiligung an den Zuwiderhandlungen am 28. Juni 1993 beendet hätten.
108 Somit habe die Kommission gemäß Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 ab dem 28. Juni 1998 nicht mehr gegen die Akzo GmbH und die Akzo BV vorgehen können.
109 Doch sei die erste amtliche Handlung, die die Kommission ihnen gegenüber vorgenommen habe, am 12. und 13. Februar 2003 erfolgt.
110 Folglich könnten die Akzo GmbH und die Akzo BV nicht haftbar gemacht werden.
111 Art. 1 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. b der angefochtenen Entscheidung sei somit für nichtig zu erklären.
112 Aus diesen Gründen sei für den ersten Zuwiderhandlungszeitraum auch Akzo Nobel als Muttergesellschaft dieser beiden Gesellschaften nicht haftbar zu machen.
113 Dementsprechend seien die in Art. 2 Nrn. 4, 6, 21 und 23 der angefochtenen Entscheidung verhängten Geldbußen zumindest teilweise für nichtig zu erklären.
114 Die Kommission trägt vor, sie habe in der angefochtenen Entscheidung nachgewiesen, dass sich Unternehmen der Akzo-Gruppe von 1987 bis März 2000 an der Zuwiderhandlung im Bereich Zinnstabilisatoren und von 1991 bis März 2000 an der Zuwiderhandlung im Bereich ESBO/Ester beteiligt hätten.
115 Wie aus dem 527. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung hervorgehe, sei die Kommission von der Feststellung ausgegangen, dass sich ein Unternehmen, wenn es sich über einen gewissen Zeitraum, in dem es nacheinander aus verschiedenen juristischen Personen bestanden habe, an einer Zuwiderhandlung beteiligt habe, nicht auf Verjährungsvorschriften berufen könne, die sich aus diesen internen Umstrukturierungen ergäben. Andernfalls könnten Unternehmen der Anwendung der Verjährungsregeln durch eine interne Umstrukturierung leicht entgehen. Art. 81 EG und die in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 genannten Verjährungsregeln fänden Anwendung auf Unternehmen und nicht auf die juristischen Personen, aus denen diese bestünden. Beteiligten sich juristische Personen, die zum Unternehmen Akzo gehörten, an einer Zuwiderhandlung, beginne daher die Verjährungsfrist erst an dem Tag zu laufen, an dem die von diesem Unternehmen begangenen Zuwiderhandlungen endeten.
116 Die Kommission macht geltend, dass die ersten Untersuchungshandlungen im Januar und Februar 2003 erfolgt seien und die fünfjährige Verjährungsfrist somit erneut begonnen habe und dass danach weitere Untersuchungsmaßnahmen getroffen worden seien, so dass die erste angefochtene Entscheidung sehr wohl innerhalb von fünf Jahren nach der letzten Untersuchungshandlung erlassen worden sei.
2. Würdigung durch das Gericht
117 Im Rahmen dieses ersten Teils des ersten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 geltend gemacht wird, tragen die Klägerinnen vor, dass die Kommission ab dem 28. Juni 1998 nicht mehr gegen die Akzo GmbH und die Akzo BV habe vorgehen können und gegen diese Gesellschaften nicht mehr zusammen mit Akzo Nobel als ihrer Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch eine Geldbuße habe verhängen können.
118 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Befugnisse der Kommission im Bereich der Verhängung von Sanktionen wegen Verstößen gegen Art. 81 EG gemäß Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 nach fünf Jahren verjähren.
119 Nach Art. 25 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 beginnt die Verjährungsfrist mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden ist, bei dauernden oder fortgesetzten Zuwiderhandlungen jedoch erst mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist.
120 Nach Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 wird die Verjährung der Befugnis zur Festsetzung von Geldbußen durch jede auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission unterbrochen.
121 Im vorliegenden Fall ist indessen unstreitig, dass die Kommission in der angefochtenen Entscheidung die Verantwortlichkeit der Akzo GmbH für die Zuwiderhandlung bezüglich Zinnstabilisatoren und der Akzo BV für die Zuwiderhandlung im Bereich ESBO/Ester nur bis zum 28. Juni 1993 festgestellt hat (vgl. Erwägungsgründe 512 und 513 sowie Art. 1 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 2 Buchst. b der angefochtenen Entscheidung).
122 Ebenfalls unstreitig ist, dass Akzo Nobel in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der im ersten Zuwiderhandlungszeitraum begangenen Zuwiderhandlungen nur für das rechtswidrige Verhalten der Akzo GmbH bezüglich Zinnstabilisatoren und der Akzo BV im Bereich ESBO/Ester haftbar gemacht wurde (vgl. 514. Erwägungsgrund der angefochtenen Entscheidung).
123 Ebenso unstreitig ist, dass die ersten auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlungen gerichteten Handlungen, die die Zinnstabilisatoren und den Bereich ESBO/Ester betrafen, erst Anfang 2003 vorgenommen wurden.
124 Somit kann nicht bestritten werden, dass die ersten auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlungen gerichteten Handlungen der Kommission im Sinne von Art. 25 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003, die die Zinnstabilisatoren und den Bereich ESBO/Ester betrafen, vorgenommen wurden, nachdem die in Art. 25 Abs. 1 vorgesehene Frist in Bezug auf die Akzo GmbH und die Akzo BV abgelaufen war.
125 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Eintritt der Verjährung gemäß Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht bewirkt, dass eine Zuwiderhandlung entfällt oder dass die Kommission daran gehindert ist, in einer Entscheidung die Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2005, Sumitomo Chemical und Sumika Fine Chemicals/Kommission, T‑22/02 und T‑23/02, Slg, EU:T:2005:349, Rn. 60 bis 63), sondern nur, dass der von ihr Begünstigte den auf die Verhängung von Sanktionen gerichteten Verfolgungsmaßnahmen entgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2012, Bolloré/Kommission, T‑372/10, Slg, EU:T:2012:325, Rn. 194).
126 Außerdem ergibt sich aus einer wörtlichen, teleologischen und systematischen Auslegung von Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003, dass der Eintritt der Verjährung nach Art. 25 Abs. 1, ebenso wie die individuellen Verfahrensgarantien wie etwa die Verteidigungsrechte und die Verpflichtung der Kommission, eine Mitteilung der Beschwerdepunkte und eine Entscheidung, mit der solche Sanktionen verhängt werden, der betroffenen juristischen Person zuzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, Slg, EU:C:2009:536, Rn. 57 und 59), jeder der juristischen Personen einzeln zugutekommt und von jeder einzeln geltend gemacht werden kann, wenn die Kommission gegen diese juristischen Personen vorgeht. So ist in der Rechtsprechung bereits anerkannt worden, dass der bloße Umstand, dass der Ablauf der Verjährungsfrist der Tochtergesellschaft einer Gruppe von Gesellschaften im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit zugutekommt, nicht zur Folge hat, dass die Haftung der Muttergesellschaft in Frage gestellt wird, und nicht der Verfolgung dieser Muttergesellschaft entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Bolloré/Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2012:325, Rn. 193 bis 196, insoweit nicht in Frage gestellt durch das Urteil vom 8. Mai 2014, Bolloré/Kommission, C‑414/12 P, EU:C:2014:301, Rn. 109).
127 Dieser Beurteilung widerspricht es nicht, dass in Art. 25 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 der Begriff „Unternehmen“ im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG verwendet wird. Damit sollen lediglich die Handlungen, die die Verjährung unterbrechen, definiert und die Tragweite dieser Handlungen dahin bestimmt werden, dass sie gegenüber allen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, d. h. auch den juristischen Personen, aus denen diese bestehen, wirken (vgl. in diesem Sinne Urteil Bolloré/Kommission, oben in Rn. 125 angeführt, EU:T:2012:325, Rn. 198 ff.).
128 Daher konnten sich im vorliegenden Fall die Akzo GmbH und die Akzo BV, auch wenn sie weiterhin vollständig zur Akzo-Gruppe gehörten, im Unterschied zu Akzo Nobel zu Recht darauf berufen, dass die Verjährungsfrist ihnen gegenüber abgelaufen war.
129 Somit ist den Rügen, die die Klägerinnen auf der Grundlage von Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1/2003 geltend machen, stattzugeben und Art. 2 Nrn. 4, 6, 21 und 23 der angefochtenen Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit gegen die Akzo GmbH und die Akzo BV für den ersten Zuwiderhandlungszeitraum Geldbußen verhängt wurden. Im Übrigen sind sie jedoch zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
II – Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der sorgfältigen Verwaltung und der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer
[nicht wiedergegeben]
B – Zum zweiten Klagegrund, soweit er auf die Abänderung der angefochtenen Entscheidung gerichtet ist
319 Im Rahmen des zweiten Klagegrundes, mit dem Verstöße gegen die Grundsätze der sorgfältigen Verwaltung und der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geltend gemacht werden, beantragen die Klägerinnen, hilfsweise, die angefochtene Entscheidung abzuändern, d. h. die gegen sie verhängten Geldbußen herabzusetzen.
1. Vorbringen der Parteien
320 Die Klägerinnen meinen, selbst wenn das Gericht der Auffassung sei, dass die Verstöße gegen die Grundsätze der sorgfältigen Verwaltung und der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer nicht zu einer Verletzung ihrer Verteidigungsrechte geführt hätten und dieser Klagegrund es daher nicht rechtfertigen könne, die angefochtene Entscheidung in vollem Umfang für nichtig zu erklären, müsse es diese Verstöße berücksichtigen und die verhängten Geldbußen in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung deutlich herabsetzen oder sie, wie es die Kommission in der angefochtenen Entscheidung bei allen anderen Unternehmen getan habe, zumindest um 1 % herabsetzen.
321 Indem die Kommission den Klägerinnen unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung keine Ermäßigung um 1 % gewährt habe, habe sie diese in diskriminierender Weise offenbar dafür sanktioniert, dass sie ihre Rechte im Rahmen des Gerichtsverfahrens Akzo geltend gemacht hätten. Dies verstoße gegen den Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes und schrecke in andere Verfahren verwickelte Unternehmen davon ab, ihre Rechte ebenfalls geltend zu machen.
322 Die Kommission trägt vor, dass es sich bei den gewährten Ermäßigungen um eine Kompensierungsmaßnahme für die anderen Unternehmen gehandelt habe, die den Ausgang des Gerichtsverfahrens Akzo hätten abwarten müssen und sich insoweit in einer anderen Lage als die Klägerinnen befunden hätten, als diese das Gerichtsverfahren Akzo ausgelöst hätten. Außerdem sei es aus praktischer Sicht offenkundig nicht plausibel, dass der Umstand, dass den Klägerinnen im vorliegenden Fall nicht ausnahmsweise eine Ermäßigung von 1 % der verhängten Geldbuße gewährt worden sei, irgendeine abschreckende Wirkung habe, die andere Kläger in der gleichen Situation davon abhielte, ihre Rechte in anderen Verfahren geltend zu machen.
2. Würdigung durch das Gericht
323 Im Rahmen des zweiten Klagegrundes, mit dem Verstöße gegen die Grundsätze der sorgfältigen Verwaltung und der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer geltend gemacht werden, beantragen die Klägerinnen, hilfsweise, die angefochtene Entscheidung abzuändern, d. h. die gegen sie festgesetzten Geldbußen herabzusetzen.
324 Hat die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte geführt, kann ein Verstoß gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer das Gericht dazu veranlassen, die verhängten Geldbußen in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung herabzusetzen (Urteil vom 6. Februar 2014, AC‑Treuhand/Kommission, T‑27/10, Slg, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2014:59, Rn. 278).
325 Im vorliegenden Fall bestreitet die Kommission die übermäßig lange Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht und hat in der angefochtenen Entscheidung die gegen sämtliche beteiligten Unternehmen verhängten Geldbußen selbst herabgesetzt, die Klägerinnen hiervon jedoch ausgenommen.
326 Zur Begründung dieser unterschiedlichen Behandlung führt die Kommission an, dass insoweit ein Unterschied zwischen objektiv vergleichbaren Situationen vorliege, als die Klägerinnen, im Gegensatz zu den anderen Unternehmen, das Gerichtsverfahren Akzo herbeigeführt hätten.
327 Diese Begründung kann nicht akzeptiert werden.
328 Unabhängig davon, ob andere Unternehmen davon abgeschreckt werden, ihre Rechte gerichtlich geltend zu machen, während sie in eine Untersuchung der Kommission wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsvorschriften verwickelt sind, erweist sich die Argumentation der Kommission als mit dem Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes unvereinbar.
329 Folglich hat die Kommission dadurch, dass sie allen anderen beteiligten Unternehmen wegen der Dauer des Verwaltungsverfahrens eine Ermäßigung der verhängten Geldbußen gewährt hat, den Klägerinnen aber, wie sich aus den Erwägungsgründen 771 und 772 der angefochtenen Entscheidung ergibt, allein wegen des Gerichtsverfahrens Akzo nicht, in dieser Entscheidung eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung begangen.
330 In Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ist das Gericht daher der Auffassung, dass die gegen die Klägerinnen verhängten Geldbußen um 1 % herabzusetzen sind.
331 Somit wird der Gesamtbetrag der in Art. 2 Nrn. 1 bis 7 und 18 bis 24 verhängten Geldbußen, d. h. 40,6 Mio. Euro für Akzo Nobel und 12,002 Mio. Euro für Akcros auf 40,194 Mio. Euro für Akzo Nobel und 11,881980 Mio. Euro für Akcros herabgesetzt.
[nicht wiedergegeben]
Kosten
449 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
450 Im vorliegenden Fall hat das Gericht den Anträgen der Klägerinnen teilweise stattgegeben.
451 Daher sind in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Verfahrens der Kommission zwei Fünftel der Kosten der Klägerinnen und drei Fünftel ihrer eigenen Kosten aufzuerlegen. Die Klägerinnen tragen drei Fünftel ihrer eigenen Kosten und zwei Fünftel der Kosten der Kommission.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Art. 2 Nrn. 4, 6, 21 und 23 der Entscheidung K(2009) 8682 endg. der Kommission vom 11. November 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38589 – Wärmestabilisatoren) wird für nichtig erklärt, soweit Geldbußen gegen die Akzo Nobel Chemicals GmbH und die Akzo Nobel Chemicals BV verhängt wurden.
2. Der Gesamtbetrag der in Art. 2 Nrn. 1 bis 7 und 18 bis 24 der Entscheidung K(2009) 8682 endg. verhängten Geldbußen wird für die Akzo Nobel NV auf 40,194 Mio. Euro und für die Akcros Chemicals Ltd auf 11,881980 Mio. Euro herabgesetzt.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Europäische Kommission trägt zwei Fünftel der Kosten von Akzo Nobel, Akzo Nobel Chemicals GmbH, Akzo Nobel Chemicals BV und Akcros Chemicals sowie drei Fünftel ihrer eigenen Kosten. Akzo Nobel, Akzo Nobel Chemicals GmbH, Akzo Nobel Chemicals BV und Akcros Chemicals tragen drei Fünftel ihrer eigenen Kosten und zwei Fünftel der Kosten der Kommission.
Prek
Labucka
Kreuschitz
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 15. Juli 2015.#Nedri Spanstaal BV gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Quotenvereinbarung und Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Obergrenze von 10 % des Umsatzes – Relevanter Umsatz – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006.#Rechtssache T-391/10.
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62010TJ0391
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ECLI:EU:T:2015:509
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010TJ0391
URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Europäischer Markt für Spannstahl — Quotenvereinbarung und Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen — Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird — Obergrenze von 10 % des Umsatzes — Relevanter Umsatz — Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren — Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen von 2006“
In der Rechtssache T‑391/10
Nedri Spanstaal BV mit Sitz in Venlo (Niederlande), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte M. Slotboom und B. Haan, dann Rechtsanwalt M. Slotboom,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel, S. Noë und V. Bottka als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/38.344 – Spannstahl), geändert durch den Beschluss K(2010) 6676 endgültig der Kommission vom 30. September 2010 und durch den Beschluss C(2011) 2269 final der Kommission vom 4. April 2011,
erlässt
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) sowie der Richter F. Dehousse und A. M. Collins,
Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2014
folgendes
Urteil
Gegenstand des Rechtsstreits
1 Die vorliegende Klage richtet sich gegen den Beschluss K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 EWR-Abkommen (COMP/38.344 – Spannstahl) (im Folgenden: ursprünglicher Beschluss), mit dem ein Kartell von Spannstahlanbietern geahndet wurde, die sich an Quotenvereinbarungen und Kundenaufteilungen sowie an Preisfestsetzungen und am Austausch sensibler Geschäftsinformationen im Zusammenhang mit Preisen, Liefermengen und Kunden auf europäischer, regionaler und nationaler Ebene beteiligten.
2 Der ursprüngliche Beschluss wurde von der Europäischen Kommission gerichtet an
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die ArcelorMittal SA,
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die ArcelorMittal Wire France SA,
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die ArcelorMittal Fontaine SA,
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die ArcelorMittal Verderio Srl,
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die Emesa-Trefilería, SA (im Folgenden: Emesa),
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die Industrias Galycas SA (im Folgenden: Galycas),
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die ArcelorMittal España, SA,
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die Trenzas y Cables de Acero PSC, SL (im Folgenden: Tycsa),
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die Trefilerías Quijano SA (im Folgenden: TQ),
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die Moreda-Riviere Trefilerías, SA (im Folgenden: MRT),
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die Global Steel Wire, SA (im Folgenden: GSW),
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die Socitrel – Sociedade Industrial de Trefilaria, SA (im Folgenden: Socitrel),
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die Companhia Previdente – Sociedade de Controle de Participações Financeiras, SA (im Folgenden: Companhia Previdente),
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die voestalpine Austria Draht GmbH (im Folgenden: Austria Draht),
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die voestalpine AG,
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die Fapricela Indústria de Trefilaria, SA (im Folgenden: Fapricela),
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die Proderac – Productos Derivados del Acero, SA (im Folgenden: Proderac),
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die Westfälische Drahtindustrie GmbH (im Folgenden: WDI),
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die Westfälische Drahtindustrie Verwaltungsgesellschaft mbH & Co. KG (im Folgenden: WDV),
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die Pampus Industriebeteiligungen GmbH & Co. KG (im Folgenden: Pampus),
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die Nedri Spanstaal BV (im Folgenden: Nedri), die Klägerin,
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die Hit Groep BV,
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die DWK Drahtwerk Köln GmbH, Saarstahl AG (im Folgenden gemeinsam: DWK),
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die Ovako Hjulsbro AB,
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die Ovako Dalwire Oy AB,
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die Ovako Bright Bar AB,
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die Rautaruukki Oyj,
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die Italcables SpA (im Folgenden: ITC),
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die Antonini SpA,
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die Redaelli Tecna SpA (im Folgenden: Redaelli),
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die CB Trafilati Acciai SpA (im Folgenden: CB),
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die ITAS – Industria Trafileria Applicazioni Speciali SpA (im Folgenden: Itas),
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die Siderurgica Latina Martin SpA (im Folgenden: SLM),
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die Ori Martin SA,
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die Emme Holding SpA, vormals und dann erneut Trafilerie Meridionali Spa (im Folgenden: Trame).
3 Der ursprüngliche Beschluss wurde von der Kommission zweimal geändert.
4 Zunächst erließ die Kommission am 30. September 2010 den Beschluss K(2010) 6676 endgültig zur Änderung des ursprünglichen Beschlusses (im Folgenden: erster Änderungsbeschluss). Mit dem ersten Änderungsbeschluss wurden im Wesentlichen die Geldbußen folgender Gesellschaften herabgesetzt: ArcelorMittal Verderio, ArcelorMittal Fontaine und ArcelorMittal Wire France, ArcelorMittal España, WDI und WDV.
5 Der erste Änderungsbeschluss wurde an alle Adressaten des ursprünglichen Beschlusses gerichtet.
6 Sodann erließ die Kommission am 4. April 2011 den Beschluss C(2011) 2269 final zur Änderung des ursprünglichen Beschlusses (im Folgenden: zweiter Änderungsbeschluss). Mit dem zweiten Änderungsbeschluss wurden im Wesentlichen u. a. die Geldbußen folgender Gesellschaften herabgesetzt: zum einen von ArcelorMittal, ArcelorMittal Verderio, ArcelorMittal Fontaine und ArcelorMittal Wire France und zum anderen von SLM und Ori Martin. Nur diese Gesellschaften waren Adressaten des zweiten Änderungsbeschlusses.
7 Allen Gesellschaften, die gegen den ursprünglichen Beschluss Klage erhoben haben, wurde der zweite Änderungsbeschluss übermittelt, wobei die Initiative in einigen Fällen vom Gericht ausging.
8 Nedri ist vom Gericht nach den möglichen Folgen dieser Änderungen des ursprünglichen Beschlusses für den Inhalt ihres Vorbringens befragt worden und hat die Möglichkeit erhalten, ihre Klagegründe und Anträge anzupassen, um diesen etwaigen Folgen Rechnung zu tragen.
9 Somit stellt der ursprüngliche Beschluss in der durch den ersten und den zweiten Änderungsbeschluss geänderten Fassung für die Zwecke der vorliegenden Klage den „angefochtenen Beschluss“ dar.
10 Gegen den ursprünglichen Beschluss, den ersten Änderungsbeschluss, den zweiten Änderungsbeschluss oder die Schreiben der Kommission im Anschluss an Anträge bestimmter Adressaten des ursprünglichen Beschlusses auf Neubewertung ihrer Leistungsfähigkeit sind 28 Klagen erhoben worden (Rechtssachen T‑385/10, ArcelorMittal Wire France u. a./Kommission, T‑388/10, Productos Derivados del Acero/Kommission, T‑389/10, SLM/Kommission, T‑391/10, Nedri Spanstaal/Kommission, T‑393/10, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission, T‑398/10, Fapricela/Kommission, T‑399/10, ArcelorMittal España/Kommission, T‑406/10, Emesa-Trefilería und Industrias Galycas/Kommission, T‑413/10, Socitrel/Kommission, T‑414/10, Companhia Previdente/Kommission, T‑418/10, voestalpine und voestalpine Wire Rod Austria/Kommission, T‑419/10, Ori Martin/Kommission, T‑422/10, Trafilerie Meridionali/Kommission, T‑423/10, Redaelli Tecna/Kommission, T‑426/10, Moreda-Riviere Trefilerías/Kommission, T‑427/10, Trefilerías Quijano/Kommission, T‑428/10, Trenzas y Cables de Acero/Kommission, T‑429/10, Global Steel Wire/Kommission, T‑436/10, Hit Groep/Kommission, T‑575/10, Moreda-Riviere Trefilerías/Kommission, T‑576/10, Trefilerías Quijano/Kommission, T‑577/10, Trenzas y Cables de Acero/Kommission, T‑578/10, Global Steel Wire/Kommission, T‑438/12, Global Steel Wire/Kommission, T‑439/12, Trefilerías Quijano/Kommission, T‑440/12, Moreda-Riviere Trefilerías/Kommission, T‑441/12, Trenzas y Cables de Acero/Kommission, und T‑409/13, Companhia Previdente und Socitrel/Kommission).
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Vom Verfahren betroffene Branche
Produkt
11 Das von der Kommission geahndete Kartell betraf Spannstahl. Dieser Ausdruck bezeichnet Metalldrähte und Litzen aus Walzdraht und insbesondere zum einen Stahl zum Vorspannen von Beton, der zur Herstellung von Balkonen, Rammpfählen und Rohrsystemen verwendet wird, und zum anderen Stahl zum Spannen von Beton im nachträglichen Verbund, der im Hochbau, Tiefbau und Brückenbau eingesetzt wird (angefochtener Beschluss, zweiter Erwägungsgrund).
12 Spannstahlerzeugnisse umfassen unterschiedliche Typen einfacher Drähte (z. B. glatt, glänzend oder vergütet, profiliert, gerippt) und verschiedene Typen von Litzen (z. B. glänzend, profiliert, mit PE- oder Metallüberzug). Spanndrahtlitzen können aus drei oder sieben Einzeldrähten bestehen. Spannstahl wird mit verschiedenen Stärken angeboten. Speziallitzen, d. h. vergütete oder umhüllte – gefettete oder gewachste –, und Schrägseile, d. h. vergütete, beschichtete Litzen und vergütete Spannstahldrähte für den Brückenbau, wurden von der Kommission jedoch nicht berücksichtigt (angefochtener Beschluss, Erwägungsgründe 3 und 4).
13 Im angefochtenen Beschluss wird ausgeführt, dass in manchen Ländern eine Zulassung durch die nationalen technischen Prüfstellen vorgeschrieben sei. Die Zulassungsverfahren benötigen ungefähr sechs Monate (angefochtener Beschluss, fünfter Erwägungsgrund).
Angebotsstruktur
14 Die Kartellmitglieder kontrollierten nach den Angaben im angefochtenen Beschluss gemeinsam etwa 80 % des Marktes im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). In den meisten Ländern waren außer den lokalen Herstellern auch mehrere große Hersteller auf dem Markt vertreten. Die meisten dieser großen Hersteller gehörten Stahlkonzernen an, die auch Walzdraht herstellten, ein Ausgangserzeugnis für die Herstellung von Spannstahl, das dessen wichtigsten Kostenfaktor darstellt. Nicht integrierte Gesellschaften waren gezwungen, ihre Ausgangserzeugnisse auf dem Markt zuzukaufen, während integrierte Gesellschaften Lieferungen aus ihrer eigenen Gruppe verwenden konnten. Während des gesamten im angefochtenen Beschluss festgestellten Kartellzeitraums berichtete die Branche von erheblichen und anhaltenden Überkapazitäten bei der Erzeugung von Spannstahl (angefochtener Beschluss, Erwägungsgründe 98 und 99).
15 Der Markt für Spannstahl im EWR hatte 2001 ein Volumen von etwa 365 Mio. Euro; dieser Umsatz wurde mit Lieferungen im Umfang von etwa 600000 Tonnen erzielt. Etwa 20 % bis 25 % davon entfielen auf Spannstahldraht und 75 % bis 80 % auf Litzen, wobei sich diese Anteile je nach Land etwas verschieben konnten. Italien war der wichtigste Verbraucher von Spannstahl (etwa 28 % der Verkäufe innerhalb des EWR). Weitere Großverbraucher waren Spanien (16 %), die Niederlande, Frankreich, Deutschland und Portugal (jeweils etwa 8 % bis 10 %) (angefochtener Beschluss, 100. Erwägungsgrund).
Nachfragestruktur
16 Nach den Angaben im angefochtenen Beschluss gestaltete sich die Nachfrage nach Spannstahl sehr heterogen. Sowohl Hersteller von Baufertigteilen als auch spezialisierte Bauunternehmen setzten Spannstahl ein, z. B. für Konstruktionen zur Stabilisierung von Gebäuden oder Brücken. Der Kundenstamm bestand aus sehr wenigen Großkunden – z. B. Addtek International Oy AB (im Folgenden: Addtek), nunmehr Consolis Oy AB, auf die allein zwischen 5 % und 10 % des Spannstahlverbrauchs in der Europäischen Union entfielen – und vielen kleineren Kunden (angefochtener Beschluss, Erwägungsgründe 101 und 102).
17 Die geschäftlichen Gepflogenheiten waren je nach Mitgliedstaat unterschiedlich. Die Hersteller von Spannstahl und ihre Kunden schlossen häufig Rahmenverträge für sechs bis zwölf Monate. Anschließend bestellten die Kunden je nach Bedarf bestimmte Tonnagen in einem vereinbarten Umfang zum vereinbarten Preis. Die Verträge wurden nach weiteren Verhandlungen regelmäßig verlängert (angefochtener Beschluss, 103. Erwägungsgrund).
Handel innerhalb der Union und des EWR
18 Nach den Angaben im angefochtenen Beschluss sind die Handelsvolumina im Spannstahlsektor im vom Kartell betroffenen Zeitraum Ausdruck eines ausgeprägten Handels zwischen den Mitgliedstaaten der Union. Spannstahl wurde im gesamten EWR, einschließlich Norwegen, erzeugt und vermarktet (angefochtener Beschluss, 104. Erwägungsgrund).
Nedri und ihre Muttergesellschaft Hit Groep
19 Nedri ist ein Hersteller von Spannstahl.
20 Nedri unterstand zwischen 1969 und 1994 unmittelbar oder mittelbar der Kontrolle durch die Hoogovens Groep BV. Vom 1. Mai 1987 bis zum 28. Februar 1994 erfolgte diese Kontrolle durch die Hoogovens Industriële Toeleveringsbedrijf BV, die 100 % der Kapitalanteile an Nedri hielt.
21 Am 28. Februar 1994 veräußerte Hoogovens Groep diese Gesellschaft, einschließlich ihrer 100%igen Tochter Nedri, an drei Unternehmen. Der Name der Gesellschaft Hoogovens Industriële Toeleveringsbedrijf wurde dann in Hit Groep BV geändert, die weiterhin 100 % der Kapitalanteile an Nedri hielt.
22 Vom 1. Mai 1994 bis zum 31. Dezember 1997 war Nedri eine 100%ige Tochtergesellschaft der Nedri Draht Beteiligungs GmbH, die ihrerseits zu 70 % von Hit Groep und zu 30 % von der Thyssen Draht AG gehalten wurde.
23 Vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 hielt Hit Groep erneut 100 % der Kapitalanteile von Nedri.
24 Am 17. Januar 2002 wurde Nedri an die Vadeho III BV verkauft.
25 Knapp einen Monat später, am 15. Februar 2002, veräußerte die Vadeho III 95 % ihrer Beteiligung an Nedri an private Investoren und 5 % an das Management von Nedri. Nedri übernahm mit einer Vereinbarung vom 6. Mai 2003 das Spannstahlgeschäft von WDI. Seit dem 14. Mai 2003 ist WDI zu 30 % an Nedri beteiligt, und seit dem 20. November 2006 hält die Ovako Holdings BV, die sich ihrerseits zu 100 % im Besitz der Pampus Stahlbeteiligungs GmbH befindet, 70 % des Gesellschaftskapitals von Nedri.
26 2001 erzielte Nedri im EWR einen Umsatz von 31641636 Euro mit Spannstahl. Der weltweit konsolidierte Umsatz des Unternehmens lag 2009 bei 67420000 Euro.
Verwaltungsverfahren
27 Am 9. Januar 2002 übermittelte das Bundeskartellamt der Kommission Unterlagen über eine Verhandlung vor einem deutschen Arbeitsgericht wegen der Entlassung eines früheren Mitarbeiters von WDI. Dieser versicherte, dass er an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV in Verbindung mit Spannstahl beteiligt gewesen sei. In diesem Zusammenhang nannte er die beteiligten Unternehmen und teilte erste Informationen über die Zuwiderhandlung mit (angefochtener Beschluss, 105. Erwägungsgrund).
Erster Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung und der DWK gewährte Erlass der Geldbuße
28 Am 18. Juni 2002 übermittelte DWK der Kommission ein Memorandum betreffend eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV in Verbindung mit Spannstahl unter Beteiligung von ihr selbst und anderen Unternehmen. DWK äußerte die Erwartung, dass für sie die Mitteilung der Kommission vom 19. Februar 2002 über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. C 45, S. 3, im Folgenden: Kronzeugenregelung) zur Anwendung komme (angefochtener Beschluss, 106. Erwägungsgrund).
29 Am 3. Juli 2002 kamen Vertreter von DWK mit der Kommission zusammen und besprachen die Anwendung der Kronzeugenregelung. Am 19. Juli 2002 gewährte die Kommission DWK einen bedingten Erlass der Geldbuße gemäß Nr. 8 Buchst. b der Kronzeugenregelung, da DWK als erstes Unternehmen Beweismittel übermittelt hatte, welche die Kommission in die Lage versetzten, eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV in Verbindung mit einem mutmaßlichen unionsweiten Kartell von Spannstahlherstellern festzustellen (angefochtener Beschluss, 107. Erwägungsgrund).
Nachprüfungen und Auskunftsverlangen
30 Am 19. und 20. September 2002 führte die Kommission gemäß Art. 14 Abs. 2 oder 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) Nachprüfungen in den Räumen u. a. von WDI, DWK, Tycsa, Nedri, ITC, Redaelli, Itas, SLM und Edilsider (der Gesellschaft eines Handelsvertreters der Tréfileurope Italia Srl, nunmehr ArcelorMittal Verderio) sowie bei ihren jeweiligen Tochtergesellschaften bzw. verbundenen Unternehmen durch (angefochtener Beschluss, 108. Erwägungsgrund).
31 Ab dem 19. September 2002 richtete die Kommission mehrere Auskunftsverlangen gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 17 und Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) an die Unternehmen, an die sich der ursprüngliche Beschluss richtete, an deren Muttergesellschaften, an weitere Gesellschaften, an verschiedene natürliche Personen (einen im Ruhestand befindlichen Mitarbeiter von Redaelli und späteren kaufmännischen Berater und einen Handelsvertreter von Tréfileurope Italia, über Edilsider) sowie an verschiedene Branchenvereinigungen (angefochtener Beschluss, 109. Erwägungsgrund).
32 Am 7. und 8. Juni 2006 führte die Kommission in den Räumen („Studio“) eines Familienangehörigen eines ehemaligen Mitarbeiters von Redaelli eine Nachprüfung gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 durch (angefochtener Beschluss, 114. Erwägungsgrund).
Andere Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung und Antworten der Kommission
33 Von den Adressaten des angefochtenen Beschlusses stellten einige Gesellschaften, wie ITC, Nedri, SLM, Redaelli und WDI, förmliche Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung. Tycsa bestätigte das Bestehen wettbewerbswidriger Vereinbarungen, stellte aber keinen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung (angefochtener Beschluss, 110. Erwägungsgrund).
34 ITC beantragte am 21. September 2002, als sie aus dem relevanten Zeitraum stammende Belege bezüglich der zwischen 1979 und 2002 erfolgten Zusammenkünfte von Herstellern im Spannstahlbereich übermittelte, die Anwendung der Kronzeugenregelung. Am 11. November 2002 übermittelte sie ferner eine Unternehmenserklärung. Die Kommission gewährte ihr am 10. Januar 2003 eine vorläufige Ermäßigung der Geldbußen um 30 % bis 50 % unter der Bedingung, dass sie weiterhin die in Rn. 21 der Kronzeugenregelung genannten Bedingungen erfülle (angefochtener Beschluss, 111. Erwägungsgrund).
35 Am 17. Oktober 2002 übermittelte Tycsa eine Antwort auf ein Auskunftsverlangen, in der der Sachverhalt eingeräumt wurde und die Gesellschaft sie selbst belastende Beweise vorlegte. Am 21. Oktober 2002 legte Redaelli in Beantwortung eines Auskunftsverlangens verschiedene sie selbst belastende Beweise vor, und am 20. März 2003 stellte sie einen förmlichen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung. Am 23. Oktober 2002 übermittelte Nedri mit der Antwort auf ein Auskunftsverlangen gewisse Beweise und stellte ebenfalls einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung. Am 30. Oktober 2002 beantragte SLM in Verbindung mit der Antwort auf ein Auskunftsverlangen eine Ermäßigung der Geldbußen. Am 4. November 2002 und später am 6. März 2003 sowie am 11. Juni 2003 übermittelte Tréfileurope mit der Antwort auf ein Auskunftsverlangen sie selbst belastende Informationen sowie eine Unternehmenserklärung, in der sie einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung stellte. Am 17. März 2004 übersandte Galycas eine Antwort auf ein Auskunftsverlangen, in der sie den Sachverhalt einräumte und gewisse sie selbst belastende Erklärungen abgab. Am 19. Mai 2004 übermittelte WDI eine Unternehmenserklärung, in der sie die Anwendung der Kronzeugenregelung beantragte. Am 28. Juni 2007 stellte ArcelorMittal neben anderen Kontakten mit der Kommission einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung, der hauptsächlich Notizbücher mit handschriftlichen Notizen eines früheren Mitarbeiters von Emesa für den Zeitraum von 1992 bis 2002 enthielt (angefochtener Beschluss, 112. Erwägungsgrund).
36 Nach Erhalt der Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung richtete die Kommission am 19. September 2008 Schreiben an Nedri und WDI, in denen sie diesen Gesellschaften mitteilte, dass ein Erlass der Geldbußen nicht in Betracht komme und dass sie beabsichtige, gemäß Nr. 26 der Kronzeugenregelung in einem bestimmten Rahmen nach Maßgabe von Nr. 23 Buchst. b der Kronzeugenregelung eine Ermäßigung der Geldbußen zu gewähren. Am selben Tag richtete die Kommission Schreiben an Redaelli und SLM, in denen sie deren Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung ablehnte (angefochtener Beschluss, 113. Erwägungsgrund).
Eröffnung des Verfahrens und Mitteilung der Beschwerdepunkte
37 Am 30. September 2008 nahm die Kommission eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an, die mehrere Gesellschaften, darunter Nedri, betraf.
38 Alle Unternehmen, an die die Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet wurde, antworteten schriftlich auf die von der Kommission erhobenen Beschwerdepunkte.
Akteneinsicht und mündliche Anhörung
39 Die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte konnten in die als DVD-Kopie zur Verfügung gestellte Untersuchungsakte der Kommission Einsicht nehmen. Mit der DVD erhielten diese Gesellschaften eine Liste der in der Untersuchungsakte enthaltenen Dokumente mit Angaben zur Einsehbarkeit der verschiedenen Unterlagen. Sie wurden darüber in Kenntnis gesetzt, dass die DVD ihnen uneingeschränkten Zugriff auf alle von der Kommission während der Untersuchung erlangten Unterlagen gewährte, mit Ausnahme von Unterlagen oder Teilen davon, die Geschäftsgeheimnisse und andere vertrauliche Informationen enthielten. Zugang zu Unterlagen in Verbindung mit den Anträgen auf Anwendung der Kronzeugenregelung wurde in den Räumen der Kommission gewährt.
40 Hit Groep wurde Zugang zu dem Teil der Antwort von Nedri auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte gewährt, der die Haftung der Muttergesellschaft zum Gegenstand hatte, und am 19. Dezember 2008 wurde Nedri Zugang zu dem Teil der Antwort von Hit Groep auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte gewährt, der die Haftung der Muttergesellschaft betraf.
41 Am 11. und 12. Februar 2009 fand eine mündliche Anhörung statt. Daran nahmen mit Ausnahme von Hit Groep, Emesa und Galycas alle Unternehmen teil, an die die Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet worden war.
42 Vierzehn Unternehmen erklärten unter Berufung auf Nr. 35 der Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung Nr. 1/2003 (ABl. 2006, C 210, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 2006), dass sie nicht in der Lage seien, die Geldbuße zu zahlen. Die Erklärungen dieser Unternehmen enthielten entsprechende Begründungen.
Weitere Auskunftsverlangen
43 In der Folge richtete die Kommission Auskunftsverlangen an GSW, MRT, Tycsa, TQ, Companhia Previdente und Socitrel, um gewisse Punkte in Verbindung u. a. mit den jeweiligen Unternehmensstrukturen zu klären. Die Gesellschaften antworteten im Zeitraum vom 6. März bis zum 15. April 2009.
44 Außerdem richtete die Kommission Auskunftsverlangen an alle Adressaten des ursprünglichen Beschlusses, um die Umsätze mit den betroffenen Produkten sowie die Umsätze der jeweiligen Gruppen zu ermitteln. Alle Adressaten antworteten auf diese Auskunftsverlangen.
Angefochtener Beschluss
45 Der angefochtene Beschluss betrifft ein Kartell zwischen Spannstahlanbietern, die sich an Quotenvereinbarungen, Kundenaufteilungen und Preisfestsetzungen und am Austausch sensibler Geschäftsinformationen im Zusammenhang mit Preisen, Liefermengen und Kunden auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene beteiligten. Nach dem ersten Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses haben diese Unternehmen damit eine einzige und fortdauernde Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV sowie, seit dem 1. Januar 1994, gegen Art. 53 Abs. 1 des EWR-Abkommens begangen. Das rechtswidrige Verhalten habe mindestens von Anfang 1984 bis zum 19. September 2002 gedauert.
46 Die Untersuchung erstreckte sich auf 18 Unternehmen. In den Erwägungsgründen 122 bis 133 des angefochtenen Beschlusses findet sich eine allgemeine Beschreibung der Kartellabsprachen, die Gegenstand des Verfahrens sind. Diese Erwägungsgründe werden im Folgenden zusammengefasst, soweit der dort beschriebene Sachverhalt ein besseres Verständnis des Rechtsstreits ermöglicht.
47 Mindestens seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre (1984) bis zum Zeitpunkt der Nachprüfungen durch die Kommission am 19. und 20. September 2002 waren mehrere im Spannstahlsektor tätige Gesellschaften teilweise oder in vollem Umfang an Absprachen auf europäischer Ebene mit einer sogenannten Züricher und einer sogenannten europäischen Phase oder gegebenenfalls nationalen oder regionalen Absprachen beteiligt. Die Absprachen auf europäischer sowie auf nationaler oder regionaler Ebene hatten das übereinstimmende Gesamtziel, das bestehende Gleichgewicht zu wahren, um einen Preisrückgang auf einem im Wandel begriffenen und durch überschüssige Produktionskapazitäten gekennzeichneten europäischen Markt zu vermeiden. Daher waren die Gesellschaften ständig bestrebt, durch die Vereinbarung von Lieferquoten und Preisen oder durch die Aufteilung von Kunden einen ausgeprägten Wettbewerb auf ihren nationalen Märkten oder auf den Ausfuhrmärkten zu vermeiden.
Züricher Club und regionale Absprachen
48 Die erste Phase der Absprache auf europäischer Ebene wird als „Züricher Club“ bezeichnet. Vom 1. Januar 1984 bis zum 9. Januar 1996 legten in Anbetracht des damals bestehenden starken Preisdrucks die Tréfileurope SA, Nedri, WDI, DWK – bzw. ihre Vorgänger – sowie Redaelli – die (zumindest 1993 und 1995) weitere italienische Gesellschaften vertrat – Länderquoten fest (für Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien, Österreich und Benelux), teilten Kunden auf, setzten Preise fest und tauschten sensible Geschäftsinformationen aus. Die spanischen Hersteller Emesa und Tycsa kamen 1992 (Emesa) und 1993 (Tycsa) hinzu; sie hatten etwa zur gleichen Zeit begonnen, sich im „Club España“ auf regionaler Ebene zu Gesprächen in Bezug auf den iberischen Markt zu treffen, zunächst mit anderen spanischen Herstellern, dann aber auch mit portugiesischen Herstellern. In den 1980er Jahren fanden die Treffen vorwiegend in Zürich (Schweiz) statt und in den 1990er Jahren in Düsseldorf (Deutschland).
49 Spätestens seit dem 23. Januar 1995 sowie während des ganzen Jahres 1995 verhandelten die italienischen Gesellschaften Redaelli, ITC, CB und Itas (die drei Letztgenannten häufig vertreten durch Redaelli) mit den anderen Herstellern des Züricher Clubs über eine (geänderte) Quotenabsprache, mit der die Liefermengen der italienischen Hersteller und der übrigen Hersteller des Züricher Clubs in Italien und im übrigen Europa festgelegt werden sollten. Letztlich konnte keine Übereinkunft erzielt werden, weil die von den italienischen Herstellern geforderten Ausfuhrquoten als überhöht betrachtet wurden. Dies trug zum Zerfall des Züricher Clubs bei, dessen letzte nachweisbare Zusammenkunft am 9. Januar 1996 stattfand.
50 Am 5. Dezember 1995 trafen die italienischen Gesellschaften Redaelli, ITC, CB und Itas jedoch untereinander eine Vereinbarung zur Festlegung von Quoten sowohl auf dem italienischen Markt als auch für Ausfuhren aus Italien in die übrigen europäischen Länder („Club Italia“). Diesen italienischen Gesellschaften schlossen sich später (erneut) Tréfileurope und Tréfileurope Italia, SLM, Trame, Tycsa, DWK und Austria Draht an. Bis zum Beginn der Nachprüfungen durch die Kommission fanden regelmäßig Zusammenkünfte statt, um die Umsetzung der Quotenabsprache zu überwachen, Preise (einschließlich eines Aufschlags namens „Extra“) festzulegen, Kunden aufzuteilen und sensible geschäftliche Informationen auszutauschen. Die Gesellschaften unterhielten ein ausgefeiltes System zur Überwachung durch unabhängige Dritte, die regelmäßig die Preise und die tatsächlich an Kunden in Italien verkauften Mengen überprüften.
51 Zwischen dem Züricher Club und dem Club Italia fand eine spezifische Abstimmung statt. Redaelli, später Tréfileurope, hielt die Mitglieder der Absprache auf europäischer Ebene auf dem Laufenden. Die Mitglieder des Club Italia wurden ihrerseits über entsprechende Entwicklungen bei der Absprache auf europäischer Ebene von Redaelli sowie später von Tréfileurope, DWK und Tycsa, die an beiden Clubs beteiligt waren, informiert.
52 Während des gesamten Jahres 1996 führten die italienischen Gesellschaften (zumindest Redaelli, CB, ITC und Itas) sowie Tycsa und Tréfileurope parallel Verhandlungen und trafen Ende 1996 eine besondere Vereinbarung, die sogenannte „Vereinbarung für Südeuropa“, in der die Marktdurchdringung durch die einzelnen Teilnehmer in den südeuropäischen Ländern (Belgien, Spanien, Frankreich, Italien und Luxemburg) festgelegt und die Verpflichtung aufgestellt wurde, gemeinsam in Verhandlungen über Lieferquoten mit den anderen nordeuropäischen Herstellern einzutreten.
Club Europa und regionale Vereinbarungen
53 Um die Krise des Züricher Clubs zu überwinden, kamen dessen frühere Mitglieder zwischen Januar 1996 und Mai 1997 auch weiterhin regelmäßig zusammen (die italienischen Hersteller, insbesondere Redaelli, nahmen allerdings weniger häufig teil). Tréfileurope, Nedri, WDI, DWK, Tycsa und Emesa (im Folgenden: ständige Mitglieder) trafen schließlich im Mai 1997 eine geänderte Absprache auf europäischer Ebene, in der sie Lieferquoten aufteilten, die ausgehend von einem bestimmten Bezugsgebiet und einem bestimmten Bezugszeitraum (vom vierten Vierteljahr 1995 bis zum ersten Vierteljahr 1997) berechnet wurden. Diese zweite Phase der Absprache auf europäischer Ebene wird als „Club Europa“ bezeichnet.
54 Außerdem teilten die ständigen Mitglieder Kunden auf und setzten Preise fest (sowohl auf nationaler Ebene als auch für bestimmte Kunden). Sie vereinbarten Koordinierungsregeln, u. a. die Benennung von Koordinatoren für die Umsetzung der Absprachen in den einzelnen Ländern sowie für die Abstimmung mit anderen interessierten Gesellschaften, die in diesen Ländern oder im Hinblick auf dieselben Kunden tätig waren. Zudem kamen die Vertreter der Gesellschaften regelmäßig auf unterschiedlichen Ebenen (auf Vorstandsebene und auf Vertriebsvertreterebene) zusammen, um die Umsetzung der Absprachen zu überwachen. Sie tauschten sensible Geschäftsinformationen aus. Bei Abweichungen vom vereinbarten Handelsverhalten kam eine Ausgleichsregelung zur Anwendung.
55 Im Rahmen dieser Absprache auf europäischer Ebene unterhielten die ständigen Mitglieder, gelegentlich gemeinsam mit den italienischen Herstellern und der Fundia Hjulsbro AB (im Folgenden: Fundia), auch zwei- oder mehrseitige Kontakte und beteiligten sich spontan an der Festsetzung von Preisen und der Aufteilung von Kunden, wenn ein entsprechendes Interesse bestand (je nach Präsenz auf dem betreffenden Markt).
56 Mindestens von September 2000 bis zum Beginn der Nachprüfungen durch die Kommission im September 2002 kamen die ständigen Mitglieder sowie ITC, CB, Redaelli, Itas und SLM regelmäßig mit dem Ziel zusammen, die italienischen Gesellschaften als ständige Mitglieder in den Club Europa einzubinden.
57 Im selben Zeitraum wurde ergänzend zur allgemeinen Quotenvereinbarung nach geografischen Gebieten auch über die Aufteilung von Quoten nach Kunden gesprochen. Das Unternehmen, das traditionell einen bestimmten nationalen Markt koordinierte, sollte auch die Verhandlungen über eine differenzierte Quotenaufteilung nach Kunden in diesem Land leiten.
58 Die Mitglieder des Club Europa versuchten ferner, nicht nur die italienischen Hersteller, sondern auch alle sonstigen wichtigen Spannstahlhersteller, mit denen in der Vergangenheit zwei- oder mehrseitige Absprachen oder Kontakte bestanden hatten, als ständige Mitglieder für ihren Club zu gewinnen und die europäischen Quoten nach Ländern aufzuteilen, wie dies bereits im Züricher Club geschah.
59 Parallel zur Absprache auf europäischer Ebene und zum Club Italia vereinbarten fünf spanische Gesellschaften – TQ, Tycsa, Emesa, Galycas und Proderac (Letztere ab Mai 1994) – und zwei portugiesische Gesellschaften – Socitrel ab April 1994 und Fapricela ab Dezember 1998 –, in Spanien und in Portugal ihre Marktanteile stabil zu halten, Quoten festzulegen, Kunden aufzuteilen, Angebote für öffentliche Bauaufträge abzusprechen sowie Preise und Zahlungsbedingungen festzulegen. Darüber hinaus tauschten sie sensible Geschäftsinformationen aus (Club España).
60 Die Absprachen auf europäischer und auf regionaler Ebene (Club Italia/Club España/Vereinbarung für Südeuropa) bestanden bis zum Beginn der Nachprüfungen durch die Kommission im September 2002.
61 Die Kommission stellt konkret in Bezug auf Nedri fest, dass diese vom 1. Januar 1984 bis zum 19. September 2002 unmittelbar am Kartell beteiligt gewesen seien (802. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
62 Sodann weist sie darauf hin, dass Hit Groep vom 1. Mai 1987 bis zum 1. Mai 1994 und vom 31. Dezember 1997 bis zum 17. Januar 2002 unmittelbar und mittelbar das gesamte Kapital von Nedri gehalten habe. Für den dazwischen liegenden Zeitraum, in dem Nedri zur Nedri Draht Beteiligungs GmbH gehört habe, die ihrerseits zu 70 % von Hit Groep und zu 30 % von Thyssen Draht gehalten worden sei, lägen keine hinreichenden Beweise dafür vor, dass Hit Groep einen bestimmenden Einfluss auf Nedri ausgeübt habe oder habe ausüben können. Daher werde Hit Groep für die Zuwiderhandlung von Nedri im Zeitraum vom 1. Mai 1994 bis zum 31. Dezember 1997 nicht haftbar gemacht (804. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
63 In den Erwägungsgründen 805 bis 812 des angefochtenen Beschlusses vermutet die Kommission, dass Hit Groep, die vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 das gesamte Gesellschaftskapital von Nedri gehalten habe, über Nedri einen bestimmenden Einfluss ausgeübt habe, und weist das Vorbringen von Hit Groep zur Widerlegung dieser Vermutung zurück.
64 In Art. 1 Nr. 9 des angefochtenen Beschlusses stellt die Kommission fest, dass Nedri und Hit Groep gegen Art. 101 AEUV verstoßen hätten, indem sie sich im Fall von Nedri vom 1. Januar 1984 bis zum 19. September 2002 und im Fall von Hit Groep vom 1. Januar 1998 bis zum 17. Januar 2002 an einer fortdauernden Vereinbarung und/oder abgestimmten Verhaltensweise im Spannstahlsektor beteiligt hätten.
65 In Art. 2 Nr. 9 des angefochtenen Beschlusses verhängt die Kommission zum einen eine Geldbuße von 5056500 Euro gesamtschuldnerisch gegen Nedri und Hit Groep und zum anderen eine Geldbuße von 1877500 Euro gegen Hit Groep.
Verfahren und Anträge der Parteien
66 Mit Klageschrift, die am 13. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Nedri die vorliegende Klage erhoben.
67 Mit Beschluss vom 6. Juni 2011 hat das Gericht die Kommission aufgefordert, ihm den zweiten Änderungsbeschluss vorzulegen. Die Kommission ist dieser Aufforderung am 16. Juni 2011 nachgekommen.
68 Nedri hat mit Schreiben vom 26. Juli 2011 mitgeteilt, dass sie ihr Vorbringen im Anschluss an den Erlass des zweiten Änderungsbeschlusses nicht anpassen möchte.
69 Das schriftliche Verfahren ist am 15. Dezember 2011 mit der Einreichung einer Berichtigung der Gegenerwiderung durch die Kommission abgeschlossen worden.
70 Aufgrund einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ab dem 23. September 2013 wurde der Berichterstatter der Sechsten Kammer zugeteilt, der die vorliegende Rechtssache daher am 3. Oktober 2013 zugewiesen worden ist.
71 Der Vorbericht nach Art. 52 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 ist der Sechsten Kammer am 8. November 2013 übermittelt worden.
72 Am 17. Dezember 2013 hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 der Klägerin schriftlich eine Frage in Bezug auf mögliche Auswirkungen des Urteils vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission (C‑501/11 P, Slg, EU:C:2013:522), auf ihren ersten Klagegrund gestellt. Die Klägerin hat sich dazu geäußert.
73 Mit Schreiben vom 30. Januar 2014 hat Nedri ihren ersten Klagegrund, mit dem sie einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV und Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie gegen die Begründungspflicht gerügt hat, zurückgezogen.
74 Am 14. Mai 2014 hat das Gericht auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
75 Die Parteien haben in der Sitzung vom 27. Juni 2014 mündlich verhandelt und die schriftlichen und mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet.
76 Nedri beantragt,
—
Art. 1 Nr. 9 des angefochtenen Beschlusses in Bezug auf den Zeitraum, für den Hit Groep haftbar gemacht wurde, für nichtig zu erklären;
—
Art. 2 Nr. 9 des angefochtenen Beschlusses in Bezug auf die ihr auferlegte Geldbuße für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
77 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
78 Nedri trägt zwei Klagegründe zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung vor.
79 Erstens habe die Kommission gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, die Grundsätze der Billigkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie die Begründungspflicht verstoßen, indem sie die Obergrenze von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Umsatzes anhand ihres Umsatzes im Jahr 2009 ermittelt habe, obwohl sie ihren Umsatz im Jahr 2002 hätte heranziehen müssen.
80 Zweitens habe die Kommission gegen Nr. 23 der Kronzeugenregelung und gegen die Begründungspflicht verstoßen, indem sie ihre Geldbuße lediglich um 25 % und nicht um 30 % ermäßigt habe.
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, die Grundsätze der Billigkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie die Begründungspflicht, da die Kommission bei der Berechnung der gegen Nedri verhängten Geldbuße die Obergrenze von 10 % auf das Geschäftsjahr 2009 und nicht auf das Geschäftsjahr 2002 angewandt habe
Angefochtener Beschluss
81 Aus den Erwägungsgründen 1063 ff. des angefochtenen Beschlusses geht hervor, dass die Kommission der Ansicht war, die in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Obergrenze von 10 % des Umsatzes sei anhand des Umsatzes des Geschäftsjahrs 2009 zu ermitteln, während Nedri der Auffassung war, dass das Geschäftsjahr 2002 – das letzte Jahr, in dem sie an der Zuwiderhandlung beteiligt gewesen sei – hätte herangezogen werden müssen.
Vorbringen der Parteien
82 Nedri trägt im Wesentlichen vor, dass die Kommission zu Unrecht das Geschäftsjahr 2009 für die Obergrenze von 10 % des Umsatzes herangezogen habe und ihren Antrag, dabei auf das Geschäftsjahr 2002 abzustellen, verworfen habe. Die Kommission habe damit gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, insbesondere deren Nr. 32, sowie die Grundsätze der Billigkeit und der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
83 Aus dem Urteil vom 7. Juni 2007, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission (C‑76/06 P, Slg, EU:C:2007:326, Rn. 20 und 25), gehe hervor, dass die tatsächliche wirtschaftliche Situation in dem Zeitraum, in dem die Zuwiderhandlung begangen worden sei, berücksichtigt werden müsse, wenn sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens zwischen dem Zeitraum, in dem die Zuwiderhandlung begangen worden sei, und dem Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, mit der ihm eine Geldbuße auferlegt worden sei, wesentlich geändert habe.
84 Ihr Umsatz des Jahres 2009 entspreche aber keineswegs einem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstrecke, und spiegele die tatsächliche wirtschaftliche Situation in dem Zeitraum, in dem die Zuwiderhandlung begangen worden sei, nicht wider.
85 Sie habe nämlich im Jahr 2001 einen Umsatz von 31641636 Euro und im Jahr 2009 einen Umsatz von 69345000 Euro erzielt. Diese Entwicklung sei zum einen auf die starke Erhöhung der Preise der Ausgangserzeugnisse und zum anderen auf die Wiederaufnahme der Tätigkeiten von WDI im Spannstahlsektor im gleichen Zeitraum zurückzuführen.
86 Daher seien zwischen dem Zeitraum, in dem die Zuwiderhandlung begangen worden sei, und dem Zeitpunkt des Erlasses des endgültigen Beschlusses wesentliche Änderungen der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens eingetreten, die es rechtfertigten, dass die Kommission auf das letzte Geschäftsjahr des Zeitraums der Zuwiderhandlung, d. h. auf das Jahr 2002, abstelle.
87 Außerdem werde sie als Ein-Produkt-Unternehmen wesentlich härter bestraft als große Unternehmen, die über eine breite Palette von Tätigkeiten verfügen.
88 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
Würdigung durch das Gericht
– Darlegung der Grundsätze
89 Gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 kann die Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV verstoßen. Die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung darf 10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.
90 Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass durch die auf den Umsatz bezogene Obergrenze in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verhindert werden soll, dass die von der Kommission verhängten Geldbußen außer Verhältnis zur Größe des betreffenden Unternehmens stehen (Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt, EU:C:2007:326, Rn. 24).
91 Es handelt sich somit um eine Obergrenze, die einheitlich für alle Unternehmen gilt, von deren jeweiliger Größe abhängt und einem gegenüber dem Zweck der Kriterien der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung gesonderten und eigenständigen Zweck dient. Ihre einzige mögliche Folge ist, dass die anhand dieser Kriterien berechnete Geldbuße auf den zulässigen Höchstbetrag gesenkt wird. Ihre Anwendung führt dazu, dass das betreffende Unternehmen nicht die Geldbuße zahlt, die an sich bei einer auf diese Kriterien gestützten Beurteilung verhängt werden müsste (Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg, EU:C:2005:408, Rn. 281 bis 283).
92 Mit anderen Worten besteht das mit der Festsetzung einer Obergrenze von 10 % des Umsatzes jedes an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens in Art. 23 Abs. 2 verfolgte Ziel insbesondere darin, zu vermeiden, dass die Festsetzung einer über dieser Obergrenze liegenden Geldbuße die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens zu dem Zeitpunkt überschreitet, zu dem es für die Zuwiderhandlung haftbar gemacht wird und zu dem ihm von der Kommission eine finanzielle Sanktion auferlegt wird (Urteil vom 4. September 2014, YKK u. a./Kommission, C‑408/12 P, Slg, EU:C:2014:2153, Rn. 63).
93 Mit dem „vorausgegangenen Geschäftsjahr“ im Sinne von Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 ist grundsätzlich das letzte abgeschlossene Tätigkeitsjahr des betreffenden Unternehmens zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung gemeint (Urteil vom 28. April 2010, Gütermann und Zwicky/Kommission, T‑456/05 und T‑457/05, Slg, EU:T:2010:168, Rn. 80; vgl. in diesem Sinne auch Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt, EU:C:2007:326, Rn. 32).
94 Sowohl aus den Zielen der Regelung, zu der Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 gehört, als auch aus der vorstehend in Rn. 92 angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Anwendung der Obergrenze von 10 % somit zum einen voraussetzt, dass der Kommission die Umsatzzahlen für das letzte Geschäftsjahr vor dem Erlass der Entscheidung vorliegen, und zum anderen, dass diese Zahlen einem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit entsprechen, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckt (Urteile vom 29. November 2005, Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, T‑33/02, Slg, EU:T:2005:428, Rn. 38, und Gütermann und Zwicky/Kommission, oben in Rn. 93 angeführt, EU:T:2010:168, Rn. 95).
95 Aus dem Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt (EU:C:2007:326, Rn. 32), geht zwar hervor, dass die Kommission bei der Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Obergrenze der Geldbuße grundsätzlich den Umsatz der betreffenden Gesellschaft in dem zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wird, letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr heranziehen muss, doch ergibt sich aus dem Zusammenhang und den Zielen, die mit der Regelung, zu der diese Bestimmung gehört, verfolgt werden, dass der Umsatz des Geschäftsjahrs, das dem Erlass der Entscheidung der Kommission vorausgeht, bei der Bestimmung der Obergrenze der Geldbuße nicht herangezogen werden kann, wenn dieser Umsatz keinem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit entspricht, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckt, und daher kein geeigneter Anhaltspunkt für die tatsächliche wirtschaftliche Situation des betreffenden Unternehmens und für die angemessene Höhe der ihm aufzuerlegenden Geldbuße ist. In diesem Fall, der nur unter außergewöhnlichen Umständen vorliegen wird, ist die Kommission verpflichtet, bei der Berechnung der Obergrenze der Geldbuße auf das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr abzustellen, das einem abgeschlossenen Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit entspricht (Urteil vom 12. Dezember 2012, 1. garantovaná/Kommission, T‑392/09, EU:T:2012:674, Rn. 86, im Rechtsmittelverfahren bestätigt durch das Urteil vom 15. Mai 2014, 1. garantovaná/Kommission, C‑90/13 P, EU:C:2014:326).
96 Wenn z. B. das Geschäftsjahr vor Erlass der Entscheidung endete, der Jahresabschluss des betreffenden Unternehmens aber noch nicht festgestellt oder der Kommission noch nicht mitgeteilt wurde, ist sie im Rahmen von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 berechtigt, ja sogar verpflichtet, den Umsatz heranzuziehen, der in einem früheren Geschäftsjahr erzielt wurde. Ebenso kann die Kommission, wenn ein Unternehmen aufgrund einer Umstellung oder Änderung seiner Buchungspraxis für das vorausgegangene Geschäftsjahr einen Abschluss vorlegt, der einen Zeitraum von weniger als zwölf Monaten betrifft, im Rahmen der genannten Vorschrift einen Umsatz heranziehen, der in einem früheren, vollständigen Geschäftsjahr erzielt wurde. Dies gilt auch, wenn das betreffende Unternehmen im letzten Geschäftsjahr vor dem Erlass der Entscheidung der Kommission keinen Umsatz erzielt hat (Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 94 angeführt, EU:T:2005:428, Rn. 39, bestätigt durch das Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt, EU:C:2007:326, Rn. 27 und 30).
97 In Bezug auf das Vorbringen einer Klägerin, ihr in einem bestimmten Jahr erzielter Gesamtumsatz sei wegen eines erheblichen Anstiegs der Preise eines Ausgangserzeugnisses „künstlich erhöht“ gewesen, ist jedoch die Feststellung als ausreichend angesehen worden, dass ein solcher Umstand – seinen Nachweis unterstellt – der Berücksichtigung eines solchen Umsatzes bei der Berechnung der Obergrenze der Geldbuße nicht entgegensteht. Aus der Rechtsprechung kann nämlich abgeleitet werden, dass der von einem Unternehmen erzielte Umsatz, auch wenn er wesentlich von den in den vorausgegangenen Jahren erzielten Umsätzen abweicht, zu diesem Zweck berücksichtigt werden kann, sofern er einem abgeschlossenen Geschäftsjahr entspricht, in dem tatsächlich wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt wurden. In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die Bezugnahme auf ein „abgeschlossenes Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit“ in der Rechtsprechung die Heranziehung eines Geschäftsjahrs ausschließen soll, in dem das betreffende Unternehmen dabei war, seine Tätigkeiten zu beenden, auch wenn noch nicht alle wirtschaftlichen Tätigkeiten eingestellt wurden, und allgemeiner eines Geschäftsjahrs, in dem das Verhalten des betreffenden Unternehmens auf dem Markt nicht dem Verhalten eines Unternehmens entsprach, das eine wirtschaftliche Tätigkeit in üblicher Form ausübt. Hingegen bedeutet der bloße Umstand, dass der erzielte Umsatz oder Gewinn in einem bestimmten Geschäftsjahr deutlich niedriger oder höher war als in vorausgegangenen Geschäftsjahren, nicht, dass das in Rede stehende Geschäftsjahr kein abgeschlossenes Jahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit darstellt (Urteil vom 12. Dezember 2012, Almamet/Kommission, T‑410/09, EU:T:2012:676, Rn. 253).
98 Überdies muss nach ständiger Rechtsprechung die durch Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist anhand der Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Inhalts des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und des Interesses zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen von Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteile vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, Slg, EU:C:1998:154, Rn. 63, vom 30. September 2003, Deutschland/Kommission, C‑301/96, Slg, EU:C:2003:509, Rn. 87, und vom 22. Juni 2004, Portugal/Kommission, C‑42/01, Slg, EU:C:2004:379, Rn. 66).
99 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei zu beachten ist, dass dann, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. Urteil vom 17. Oktober 2013, Schaible, C‑101/12, Slg, EU:C:2013:661, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
– Zur Begründetheit des ersten Klagegrundes
100 Im vorliegenden Fall macht Nedri im Wesentlichen geltend, dass sich zwischen 2002 und 2009 ihre Struktur geändert habe und ihr Umsatz gestiegen sei und dass diese Umstände es rechtfertigten, nicht das Geschäftsjahr 2009 zur Bestimmung der Obergrenze von 10 % des Umsatzes heranzuziehen, da es nicht ihre tatsächliche wirtschaftliche Situation in dem Zeitraum widerspiegele, in dem die Zuwiderhandlung begangen worden sei (von 1987 bis 2002).
101 Es ist festzustellen, dass der Umsatz von Nedri im Geschäftsjahr 2009 dem, ausgehend vom Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses, „im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatz“ entspricht und in einem abgeschlossenen Geschäftsjahr erzielt wurde, in dem die Klägerin tatsächlich wirtschaftliche Tätigkeiten ausübte, was sie im Übrigen nicht bestreitet.
102 In Anbetracht der oben in den Rn. 93 und 97 angeführten Rechtsprechung des Gerichts sind die von Nedri vorgetragenen Argumente, die zum einen die bei ihr eingetretenen strukturellen Änderungen und zum anderen die Erhöhung ihres Umsatzes zwischen 2002 und 2009 betreffen, daher unerheblich, da sie keine außergewöhnlichen Umstände darstellen, die es rechtfertigen können, dass die Kommission auf den Umsatz eines früheren Geschäftsjahrs als 2009 abstellt.
103 Insoweit ist festzustellen, dass die Wiederaufnahme der Tätigkeiten von WDI im Spannstahlsektor nach der oben in Rn. 96 angeführten Rechtsprechung kein außergewöhnlicher Umstand ist, der es gerechtfertigt hätte, dass die Kommission ein anderes als das dem Erlass des angefochtenen Beschlusses vorausgegangene Geschäftsjahr heranzieht.
104 Zu dem auf Rn. 25 des Urteils Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt (EU:C:2007:326), gestützten Vorbringen der Klägerin, wonach ein Umsatz berücksichtigt werden müsse, der die tatsächliche wirtschaftliche Situation des Unternehmens „in dem Zeitraum widerspiegelt, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde“, so dass alle späteren Geschäftsjahre außer Acht zu lassen seien, ist festzustellen, dass eine solche Auslegung dazu führen würde, systematisch von der Rechtsprechung zu Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 abzuweichen, wonach, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, auf den im Geschäftsjahr, das dem Erlass des angefochtenen Beschlusses vorausgegangen ist, erzielten Gesamtumsatz abzustellen ist. Es gibt im Urteil Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt (EU:C:2007:326), keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gerichtshof von dieser ständigen Rechtsprechung abweichen wollte. Vielmehr ist festzustellen, dass diese Rechtsprechung in den Rn. 30 und 41 des Urteils Britannia Alloys & Chemicals/Kommission, oben in Rn. 83 angeführt (EU:C:2007:326), klar bestätigt wird. Rn. 25 dieses Urteils des Gerichtshofs muss daher im Kontext der besonderen Umstände dieser Rechtssache gesehen werden, und ihr ist keine allgemeine, von den Bestimmungen von Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 und ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung abweichende Bedeutung beizumessen.
105 Im Ergebnis hat die Kommission daher, ohne einen Rechtsfehler zu begehen, auf den Umsatz der Klägerin im Jahr 2009 abgestellt, bei dem es sich um den Umsatz handelte, der von ihr nach der oben in den Rn. 93 und 97 angeführten Rechtsprechung heranzuziehen war.
106 Die Kommission hat demnach nicht gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 verstoßen.
107 Daraus folgt, dass die Kommission nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, als sie bei der Berechnung der in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 festgesetzten Obergrenze von 10 % auf das Geschäftsjahr 2009 abstellte, da sie pflichtgemäß das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr normaler wirtschaftlicher Tätigkeit der Klägerin, das sich über einen Zeitraum von zwölf Monaten erstreckte, heranzog.
108 Schließlich ist die Rüge einer mangelhaften Begründung zurückzuweisen, da in den Erwägungsgründen 1063 ff. des angefochtenen Beschlusses in verständlicher Weise die Gründe dargelegt werden, aus denen die Kommission auf den Umsatz der Klägerin im Jahr 2009 abstellte.
109 Der erste Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Nr. 23 der Kronzeugenregelung und die Begründungspflicht, da die Kommission die Geldbuße der Klägerin um 30 % und nicht um 25 % hätte ermäßigen müssen
Angefochtener Beschluss
110 Wie aus den Erwägungsgründen 1082 bis 1087 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, war die Kommission der Ansicht, dass Nedri in Anbetracht ihrer Zusammenarbeit eine Ermäßigung der Geldbuße von 25 % gewährt werden könne.
Vorbringen der Parteien
111 Nedri trägt vor, da sie als zweites Unternehmen die Anforderungen von Nr. 21 der Kronzeugenregelung erfüllt habe, hätte ihr eine Ermäßigung der Geldbuße von bis zu 30 % gewährt werden können.
112 Erstens habe sie am 23. Oktober 2002, also etwas mehr als einen Monat nach den Nachprüfungen, die am 19. und 20. September 2002 stattgefunden hätten, die Beweise übermittelt, über die sie verfügt habe. Die Kommission sei der Ansicht gewesen, dass sie damit zu einem frühen Zeitpunkt zum Verfahren beigetragen habe (1087. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Außerdem habe sie ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung am 29. März 2004 vervollständigt.
113 Zweitens erkenne die Kommission an, dass die sehr zahlreichen und detaillierten von ihr übermittelten Informationen – die alle Absprachen auf europäischer Ebene und insbesondere den Züricher Club, den skandinavischen Markt einschließlich Addtek und den Club Europa betroffen hätten – einen erheblichen Mehrwert gehabt hätten (1084. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
114 Zum einen kämen jedoch der Detailreichtum und die Menge der übermittelten Informationen aufgrund der Art und Weise ihrer Zusammenfassung durch die Kommission im angefochtenen Beschluss nicht voll zur Geltung.
115 Zum anderen habe die Kommission im 1085. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Unrecht festgestellt, dass die zur Kundenaufteilung und zu Quoten auf dem deutschen Markt übermittelten Informationen nicht erheblich zum Verständnis oder zum Nachweis der Zuwiderhandlung beigetragen hätten. Sie habe als Erste wertvolle Informationen über die Diskussionen im Club Europa über Kundenaufteilung und Quoten auf dem deutschen Markt geliefert. Sie habe auch Beweise für eine große Zahl von Treffen zur Kundenaufteilung geliefert. Somit bezögen sich die Informationen, die die Kommission zum deutschen Markt erhalten habe und die in den Fn. 354 bis 357 des angefochtenen Beschlusses angeführt seien, auf Dokumente, die von ihr stammten. Ohne die von ihr gelieferten Beweise hätte die Kommission nur einige Zusammenkünfte nachweisen können; dem habe die Kommission im 1085. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses nicht widersprochen. Die Kommission habe ihre Behauptung, dass diese Informationen keinen erheblichen Mehrwert gehabt hätten, auch nicht untermauert.
116 Schließlich belegten die zahlreichen Verweise im angefochtenen Beschluss auf Antworten, die sie auf Auskunftsverlangen gegeben habe, auf ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung, auf ergänzende Informationen, die sie während der Untersuchung geliefert habe, und auf durch sie gegebene Bestätigungen von Vermutungen der Kommission (Erwägungsgründe 1082 und 1087 des angefochtenen Beschlusses) ihre umfassende und kontinuierliche Zusammenarbeit.
117 Ihr sei daher zu Unrecht nur eine Ermäßigung von 25 % und nicht von 30 % gewährt worden.
118 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen.
Würdigung durch das Gericht
119 Die Nrn. 20 ff. der Kronzeugenregelung lauten:
„20.
Unternehmen, die die Voraussetzungen [im Abschnitt über den Erlass der Geldbuße] nicht erfüllen, kann eine Ermäßigung der Geldbuße gewährt werden, die andernfalls verhängt worden wäre.
21. Um für eine Ermäßigung der Geldbuße in Betracht zu kommen, muss das Unternehmen der Kommission Beweismittel für die mutmaßliche Zuwiderhandlung vorlegen, die gegenüber den bereits im Besitz der Kommission befindlichen Beweismitteln einen erheblichen Mehrwert darstellen, und seine Beteiligung an der mutmaßlich rechtswidrigen Handlung spätestens zum Zeitpunkt der Beweisvorlage einstellen.
22. Der Begriff ‚Mehrwert‘ bezieht sich auf das Ausmaß, in dem die vorgelegten Beweismittel aufgrund ihrer Eigenschaft und/oder ihrer Ausführlichkeit der Kommission dazu verhelfen, den betreffenden Sachverhalt nachzuweisen. Bei ihrer Würdigung wird die Kommission im Allgemeinen schriftlichen Beweisen aus der Zeit des nachzuweisenden Sachverhalts einen größeren Wert beimessen als solchen, die zeitlich später einzuordnen sind. Ebenso werden Beweismittel, die den fraglichen Sachverhalt unmittelbar beweisen, höher eingestuft als jene, die nur einen mittelbaren Bezug aufweisen.
23. Die Kommission wird in ihrer am Ende des Verwaltungsverfahrens erlassenen endgültigen Entscheidung darüber befinden,
a)
ob die von einem Unternehmen vorgelegten Beweismittel einen erheblichen Mehrwert gegenüber den Beweismitteln aufweisen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Besitz der Kommission befanden,
b)
und in welchem Umfang die Geldbuße, die andernfalls verhängt worden wäre, ermäßigt wird:
…
—
für das zweite Unternehmen, das die Voraussetzungen unter Randnummer 21 erfüllt, eine Ermäßigung zwischen 20 % und 30 %;
…
Um den Umfang der Ermäßigung der Geldbuße innerhalb dieser Bandbreiten zu bestimmen, wird die Kommission den Zeitpunkt berücksichtigen, zu dem das Beweismittel, das die Voraussetzungen unter Randnummer 21 erfüllt, vorgelegt wurde, sowie den Umfang des mit dem Beweismittel verbundenen Mehrwerts. Sie kann ebenfalls berücksichtigen, ob das Unternehmen seit der Vorlage des Beweismittels kontinuierlich mit ihr zusammengearbeitet hat.
Falls ein Unternehmen Beweismittel für einen Sachverhalt vorlegt, von denen die Kommission zuvor keine Kenntnis hatte und die die Schwere oder Dauer des mutmaßlichen Kartells unmittelbar beeinflussen, lässt die Kommission diese Faktoren bei der Festsetzung der Geldbuße gegen das Unternehmen, das diese Beweismittel geliefert hat, unberücksichtigt.“
120 Die Kommission hat daher bei der Bestimmung des Prozentsatzes der Ermäßigung für das zweite Unternehmen den Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem das Beweismittel vorgelegt wurde, sowie den Umfang seines Mehrwerts. Sie kann ferner berücksichtigen – ist dazu aber nicht verpflichtet –, ob das Unternehmen seit der Vorlage des Beweismittels kontinuierlich mit ihr zusammengearbeitet hat.
121 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission den Zeitpunkt, zu dem Nedri ihren Beitrag erbracht hatte, berücksichtigt (Erwägungsgrunde 1082 und 1087 des angefochtenen Beschlusses) und den Umfang des Mehrwerts der von Nedri vorgelegten Beweise (Erwägungsgründe 1082 bis 1085 des angefochtenen Beschlusses) beurteilt hat. Sie hat auch die kontinuierliche Zusammenarbeit von Nedri seit dem Zeitpunkt ihres Beitrags berücksichtigt (1087. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).
122 Die Rüge eines Begründungsmangels des angefochtenen Beschlusses ist demnach sogleich zurückzuweisen.
123 Überdies ist darauf hinzuweisen, dass nach Nr. 23 der Kronzeugenregelung für das zweite Unternehmen, das die in ihrer Nr. 21 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, eine Ermäßigung zwischen 20 % und 30 % vorgesehen ist und dass der Umfang der Ermäßigung innerhalb dieser Bandbreite von den drei oben in Rn. 120 angeführten Kriterien abhängt.
124 Der frühe Zeitpunkt der Zusammenarbeit und der Umfang des Mehrwerts der vorgelegten Beweise sowie die mögliche Berücksichtigung des Umfangs der Zusammenarbeit des Unternehmens, nachdem es seinen Beitrag geleistet hat, sind kumulative Kriterien, die anhand des Kontexts und der Umstände des jeweiligen Falls gewichtet werden und zu einer Ermäßigung führen können, die sich innerhalb einer Bandbreite von 20 % bis 30 % der Geldbuße bewegt.
125 Was die Anwendung dieser verschiedenen Kriterien durch die Kommission angeht, ist erstens in Bezug auf die Beurteilung des Zeitpunkts, zu dem Nedri ihre Beweise übermittelte, festzustellen, dass ihr Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung einen Monat nach den Nachprüfungen gestellt wurde.
126 Nedri hat die Zusammenarbeit somit zwar zu einem frühen Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens begonnen – was die Kommission im Übrigen im angefochtenen Beschluss (1087. Erwägungsgrund) anerkennt –, aber sie fand dennoch nicht unmittelbar nach den Nachprüfungen statt, im Unterschied z. B. zu der von ITC.
127 Die Kommission ist aber berechtigt, solche Umstände bei der Beurteilung des Prozentsatzes der Ermäßigung zu berücksichtigen, die sie einem die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmenden Antragsteller für seine Zusammenarbeit gewähren kann.
128 Zweitens ist in Bezug auf den Mehrwert des Beitrags von Nedri zunächst festzustellen, dass die Kommission den Umstand, dass die von ihr übermittelten Informationen alle Absprachen auf europäischer Ebene und insbesondere den Züricher Club, den skandinavischen Markt einschließlich Addtek und den Club Europa betrafen, berücksichtigt und den erheblichen Mehrwert dieser Informationen anerkannt hat. Das geht nämlich aus den Erwägungsgründen 1082 bis 1084 des angefochtenen Beschlusses hervor.
129 Sodann hat die Kommission in Bezug auf die Ausführungen von Nedri zum deutschen Markt im Wesentlichen die Ansicht vertreten, dass diese Informationen nicht erheblich zum Verständnis oder zum Nachweis der Zuwiderhandlung beigetragen hätten und dass ihr Mehrwert daher nicht erheblich gewesen sei.
130 Die Klägerin beschränkt sich darauf, dieser Beurteilung entgegenzuhalten, dass sie der Kommission als Erste Beweise zu diesem Thema übermittelt habe, dass diese Beweise eine große Zahl von Treffen zur Kundenaufteilung betroffen hätten und dass die Kommission ohne sie nur einige Zusammenkünfte hätte nachweisen können.
131 Sie legt jedoch nicht dar, inwiefern die Angabe der Kommission unzutreffend sein soll, dass die Kundenaufteilung auf dem deutschen Markt nur ein Beispiel unter anderen für eine solche Aufteilung sei, das in Abschnitt 9.1.3.6 des angefochtenen Beschlusses beschrieben werde, und dass die dafür vorgelegten Beweise demnach tatsächlich nur einen relativen Mehrwert hätten.
132 Ebenfalls nur relativen Mehrwert haben die von Nedri vorgelegten Beweise, die es ermöglichten, bestimmte Zusammenkünfte des Club Europa in Bezug auf einen der Bestandteile der in seinem Rahmen koordinierten räumlichen Märkte, und zwar den deutschen Markt, nachzuweisen (sie verweist dabei auf die Erwägungsgründe 220 – und Fn 354 – sowie 223 – und Fn. 357 – des angefochtenen Beschlusses). Zudem konnte mittels der von einem anderen Mitglied des Kartells vorgelegten Beweise nachgewiesen werden, dass eine andere diesen Markt betreffende Zusammenkunft stattfand (siehe den 221. Erwägungsgrund sowie die Fn. 354 und 355 des angefochtenen Beschlusses), wie die Kommission zu Recht vorträgt.
133 Drittens geht aus dem 1087. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die Kommission die spätere Zusammenarbeit von Nedri sehr wohl berücksichtigt hat.
134 Im Ergebnis ist angesichts des Zeitpunkts, zu dem Nedri den Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung stellte, des Mehrwerts der Informationen, die sie der Kommission übermittelte, und ihrer späteren Zusammenarbeit festzustellen, dass die Kommission keinen Fehler begangen hat, als sie den Prozentsatz der Ermäßigung ihrer Geldbuße auf 25 % festsetzte.
135 Der zweite Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
136 Folglich ist die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Kosten
137 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Nedri Spanstaal BV trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
Frimodt Nielsen
Dehousse
Collins
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
Inhaltsverzeichnis
Gegenstand des Rechtsstreits
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Vom Verfahren betroffene Branche
Produkt
Angebotsstruktur
Nachfragestruktur
Handel innerhalb der Union und des EWR
Nedri und ihre Muttergesellschaft Hit Groep
Verwaltungsverfahren
Erster Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung und der DWK gewährte Erlass der Geldbuße
Nachprüfungen und Auskunftsverlangen
Andere Anträge auf Anwendung der Kronzeugenregelung und Antworten der Kommission
Eröffnung des Verfahrens und Mitteilung der Beschwerdepunkte
Akteneinsicht und mündliche Anhörung
Weitere Auskunftsverlangen
Angefochtener Beschluss
Züricher Club und regionale Absprachen
Club Europa und regionale Vereinbarungen
Verfahren und Anträge der Parteien
Rechtliche Würdigung
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, die Leitlinien von 2006, die Grundsätze der Billigkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie die Begründungspflicht, da die Kommission bei der Berechnung der gegen Nedri verhängten Geldbuße die Obergrenze von 10 % auf das Geschäftsjahr 2009 und nicht auf das Geschäftsjahr 2002 angewandt habe
Angefochtener Beschluss
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch das Gericht
– Darlegung der Grundsätze
– Zur Begründetheit des ersten Klagegrundes
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Nr. 23 der Kronzeugenregelung und die Begründungspflicht, da die Kommission die Geldbuße der Klägerin um 30 % und nicht um 25 % hätte ermäßigen müssen
Angefochtener Beschluss
Vorbringen der Parteien
Würdigung durch das Gericht
Kosten
(*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
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Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 15. Juli 2015 (Auszüge).#Emesa-Trefilería, SA und Industrias Galycas, SA gegen Europäische Kommission.#Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren – Art. 139 Buchst. a der Verfahrensordnung des Gerichts.#Rechtssache T-406/10.
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62010TJ0406
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ECLI:EU:T:2015:499
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62010TJ0406
URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Wettbewerb — Kartelle — Europäischer Markt für Spannstahl — Preisfestsetzung, Marktaufteilung und Austausch sensibler Geschäftsinformationen — Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird — Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren — Art. 139 Buchst. a der Verfahrensordnung des Gerichts“
In der Rechtssache T‑406/10
Emesa-Trefilería SA mit Sitz in Arteixo (Spanien),
Industrias Galycas SA mit Sitz in Vitoria (Spanien),
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwalt A. Creus Carreras und Rechtsanwältin A. Valiente Martin,
Klägerinnen,
gegen
Europäische Kommission, vertreten zunächst durch V. Bottka und F. Castilla Contreras, dann durch V. Bottka und A. Biolan als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,
Beklagte,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch F. Florindo Gijón und R. Liudvinaviciute-Cordeiro als Bevollmächtigte,
Streithelfer,
wegen Nichtigerklärung und Abänderung des Beschlusses K(2010) 4387 endg. der Kommission vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/38.344 – Spannstahl), geändert durch den Beschluss K(2010) 6676 endg. der Kommission vom 30. September 2010 und den Beschluss C(2011) 2269 final der Kommission vom 4. April 2011,
erlässt
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen (Berichterstatter) sowie der Richter F. Dehousse und A. M. Collins,
Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juni 2014
folgendes
Urteil (1 )
[nicht wiedergegeben]
Würdigung durch das Gericht
113 Der erste Klagegrund stützt sich im Wesentlichen darauf, dass das Verfahren bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht im Hinblick auf Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte rechtswidrig sei, da es sich um ein Verfahren strafrechtlicher Art handele und der Kommission daher nicht gleichzeitig Aufgaben der Ermittlung, der Verfolgung von Verstößen und der Entscheidung über entsprechende Sanktionen übertragen werden könnten, ohne dass das Gericht die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung dieser Entscheidungen habe, was nach Auffassung der Klägerinnen hier nicht der Fall ist.
Grundsätze
114 In seinem Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), hat der Gerichtshof Folgendes ausgeführt:
„33
Entgegen dem Vorbringen der [Klägerinnen] verstößt jedenfalls der Umstand, dass die Bußgeldentscheidungen in Wettbewerbssachen von der Kommission erlassen werden, für sich genommen nicht gegen Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Hierzu ist festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil A. Menarini Diagnostics/Italien in Bezug auf eine Sanktion, die wegen ähnlicher wettbewerbswidriger Verhaltensweisen wie denen, die den [Klägerinnen] vorgeworfen worden sind, von der italienischen Wettbewerbsbehörde verhängt wurde, ausgeführt hat, dass die Sanktion angesichts der Höhe der verhängten Geldbuße aufgrund ihrer Schwere Strafcharakter habe.
34 In Randnr. 58 seines Urteils hat er jedoch darauf hingewiesen, dass es mit der EMRK vereinbar sei, Verwaltungsbehörden die Aufgabe zu übertragen, Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln zu verfolgen und zu ahnden, sofern der Betroffene gegen jede derartige ihm gegenüber ergangene Entscheidung ein Gericht anrufen könne, das die in Art. 6 EMRK vorgesehenen Garantien biete.
35 In Randnr. 59 seines Urteils A. Menarini Diagnostics/Italien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hinzugefügt, dass die Beachtung von Art. 6 EMRK nicht dadurch ausgeschlossen werde, dass in einem Verfahren verwaltungsrechtlicher Natur eine ‚Strafe‘ zunächst von einer Verwaltungsbehörde verhängt werde. Dies setze allerdings voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die selbst nicht den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK genüge, anschließend der Kontrolle durch ein Rechtsprechungsorgan mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung unterliege. Zu den Merkmalen eines solchen Organs gehöre die Befugnis, die Entscheidung des untergeordneten Organs in allen Punkten, tatsächlichen wie rechtlichen, abzuändern. Das Rechtsprechungsorgan müsse insbesondere befugt sein, sich mit allen für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit relevanten Sach- und Rechtsfragen zu befassen.
36 Der Gerichtshof hat jedoch in Bezug auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes – eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, der nunmehr in Art. 47 der Charta [der Grundrechte] zum Ausdruck kommt und der im Unionsrecht Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht – entschieden, dass der Unionsrichter über die im AEU-Vertrag vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle hinaus eine ihm durch Art. 31 der Verordnung [(EG)] Nr. 1/2003 [des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln] im Einklang mit Art. 261 AEUV eingeräumte Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung besitzt, die ihn ermächtigt, die Beurteilung der Kommission durch seine eigene Beurteilung zu ersetzen und demgemäß die verhängte Geldbuße oder das verhängte Zwangsgeld aufzuheben, herabzusetzen oder zu erhöhen (Urteil [vom 8. Dezember 2011,] Chalkor/Kommission, [C‑386/10 P, Slg, EU:C:2011:815, Rn]. 63).
37 In Bezug auf die Rechtmäßigkeitskontrolle hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Unionsrichter sie auf der Grundlage der vom Kläger zur Stützung seiner Klagegründe vorgelegten Beweise vornehmen muss und dass er den Verzicht auf eine eingehende rechtliche wie tatsächliche Kontrolle weder hinsichtlich der Wahl der bei der Anwendung der in den Leitlinien von 1998 genannten Kriterien berücksichtigten Gesichtspunkte noch hinsichtlich ihrer Bewertung auf den Wertungsspielraum der Kommission stützen kann (Urteil Chalkor/Kommission, [EU:C:2011:815, Rn]. 62).
38 Da die in den Verträgen vorgesehene Kontrolle bedeutet, dass der Unionsrichter sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornimmt und befugt ist, die Beweise zu würdigen, die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären und die Höhe der Geldbußen zu ändern, ist für den Gerichtshof nicht ersichtlich, dass die in Art. 263 AEUV vorgesehene Rechtmäßigkeitskontrolle, ergänzt um die in Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehene Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße, gegen den nunmehr in Art. 47 der Charta [der Grundrechte] verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verstieße (Urteil Chalkor/Kommission, [EU:C:2011:815, Rn]. 67).“
115 Im Übrigen verstößt das Fehlen einer Verpflichtung, die gesamte streitige Entscheidung von Amts wegen zu prüfen, nicht gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Für die Wahrung dieses Grundsatzes ist es nicht unerlässlich, dass das Gericht, das jedenfalls die geltend gemachten Klagegründe prüfen und sowohl in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht eine Kontrolle vornehmen muss, verpflichtet ist, den gesamten Vorgang von Amts wegen erneut zu prüfen (Urteile vom 8. Dezember 2011, Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, Slg, EU:C:2011:815, Rn. 66, und vom 26. Oktober 2013, Kone u. a./Kommission, C‑510/11 P, EU:C:2013:696, Rn. 32).
116 Zur relativen Tragweite von Nichtigkeitsurteilen hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass eine mehrere Unternehmen betreffende Wettbewerbsentscheidung, obgleich sie in Form einer einzigen Entscheidung abgefasst und veröffentlicht worden ist, ein Bündel von Einzelentscheidungen darstellt, mit denen gegenüber jedem der Unternehmen, die Adressaten der Entscheidung sind, festgestellt wird, welche Zuwiderhandlung oder Zuwiderhandlungen es begangen hat, und diesem gegebenenfalls eine Geldbuße auferlegt wird (Urteile vom 14. September 1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., C‑310/97 P, Slg, EU:C:1999:407, Rn. 49 ff., und vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, Slg, EU:C:2002:582, Rn. 100).
117 In seinem Urteil vom 11. Juli 2013, Team Relocations u. a./Kommission (C‑444/11 P, EU:C:2013:464), hat der Gerichtshof festgestellt, dass ‐ abgesehen von besonderen Umständen ‐ der Unionsrichter, wenn der Adressat einer Entscheidung beschließt, eine Nichtigkeitsklage zu erheben, nur mit den diesen Adressaten betreffenden Teilen der Entscheidung befasst wird, während die andere Adressaten betreffenden Teile nicht Gegenstand des vom Unionsrichter zu entscheidenden Rechtsstreits werden; der Gerichtshof verweist insoweit auf sein Urteil vom 22. Januar 2013, Kommission/Tomkins (C‑286/11 P, Slg, EU:C:2013:29, Rn. 43 und 49).
118 Im Übrigen hat die Entscheidung folglich für die Adressaten, die keine Nichtigkeitsklage erhoben haben, Bestand (vgl. in diesem Sinne Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, oben in Rn. 116 angeführt, EU:C:2002:582, Rn. 100).
119 Außerdem legen gemäß der Rechtsprechung die Verfahrensgarantien, die mit dem Verfahren einhergehen müssen, das bei Verstößen gegen wettbewerbsrechtliche Vorschriften angewandt wird, der Kommission nicht die Pflicht auf, sich eine interne Organisation zu geben, die verhindert, dass ein und derselbe Beamte in der gleichen Sache als Ermittler und Berichterstatter tätig wird (vgl. Urteil vom 11. März 1999, Aristrain/Kommission, T‑156/94, Slg, EU:T:1999:53, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
120 Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass nichts dagegen einzuwenden ist, dass sich die Mitglieder der Kommission, die über die Verhängung von Geldbußen zu entscheiden haben, durch von der Kommission mit der Anhörung beauftragte Personen über die Ergebnisse der Anhörung unterrichten lassen (Urteil vom 15. Juli 1970, Buchler/Kommission, 44/69, Slg, EU:C:1970:72, Rn. 19 bis 23).
Zur Begründetheit des ersten Klagegrundes
121 Am 18. Dezember 2013 hat das Gericht im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 beschlossen, den Klägerinnen eine schriftliche Frage zu den etwaigen Auswirkungen des Urteils Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), auf den ersten zur Begründung der Klage angeführten Klagegrund zu stellen. Dieser Aufforderung sind die Klägerinnen am 30. Januar 2014 nachgekommen.
122 Sie haben dabei angegeben, ungeachtet des Urteils Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), an ihrem ersten Klagegrund festhalten zu wollen (siehe oben, Rn. 111).
123 Zum einen sind im Hinblick auf die oben in den Rn. 114 ff. angeführte Rechtsprechung alle Rügen zurückzuweisen, die auf der Unvereinbarkeit des von der Kommission gemäß der Verordnung Nr. 1/2003 betriebenen Kartellverfahrens mit Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte sowie auf der angeblich vom Gericht auf diesem Gebiet nicht ausgeübten unbeschränkten Nachprüfung beruhen.
124 Die oben in Rn. 115 angeführte Rechtsprechung führt ebenfalls zur Zurückweisung der Rügen, die darauf gestützt sind, dass das Gericht nicht von Amts wegen die gesamte streitige Entscheidung überprüft habe.
125 Ebenso ist das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, wonach die fehlende Erga-omnes-Wirkung der Nichtigkeitsurteile betreffend wettbewerbsrechtliche Einzelfallentscheidungen, mit denen gegen deren Adressaten eine Geldbuße verhängt wird, mit der Anforderung einer vollständigen Kontrolle durch das Gericht unvereinbar sei und das gesamte von der Kommission und dem Gericht angewandte Verfahren unvereinbar mit den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK werde.
126 Erstens ist festzustellen, dass die Nichtigerklärung einer Einzelfallentscheidung zwar Erga-omnes-Wirkung entfaltet und für alle verbindlich ist, dass sie aber nach der oben in Rn. 116 wiedergegebenen Rechtsprechung ‐ anders als bei der Nichtigerklärung eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung ‐, abgesehen von besonderen Umständen, nicht jedem zugutekommt (Urteil Kommission/Tomkins, oben in Rn. 117 angeführt, EU:C:2013:29, Rn. 43 und 49). Ein Nichtigkeitsurteil, das eine Entscheidung betrifft, die Teil eines Bündels von Einzelentscheidungen im Rahmen eines von der Kommission durchgeführten Kartellverfahrens ist, kann folglich unter gewissen Umständen bestimmte Auswirkungen für andere Personen als den Kläger in dem Verfahren, das mit diesem Nichtigkeitsurteil abgeschlossen wurde, haben.
127 Zweitens ist festzustellen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), zum Ausdruck bringen wollte, dass das gesamte von der Kommission und dem Gericht durchgeführte Kartellverfahren mit Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte vereinbar ist. Dieses Ergebnis kann folglich nicht durch das Vorbringen der Klägerinnen in Frage gestellt werden, das Gericht führe keine vollständige Kontrolle des Beschlusses der Kommission durch, weil seine Nichtigkeitsurteile keine Erga-omnes-Wirkung entfalteten, da der Gerichtshof bei der Entscheidung der Rechtssache, in der das Urteil Schindler Holding u. a./Kommission, oben in Rn. 69 angeführt (EU:C:2013:522), ergangen ist, zwangsläufig seine oben in den Rn. 116 bis 118 angeführte ständige Rechtsprechung berücksichtigt hat.
128 Schließlich ist drittens und soweit erforderlich darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung jedenfalls nicht Sache des Unionsrichters ist, sich an die Stelle der verfassungsgebenden Gewalt der Union zu setzen, um eine Änderung des im Vertrag geregelten Systems von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzunehmen (vgl. Urteil vom 21. April 2005, Holcim [Deutschland]/Kommission, T‑28/03, Slg, EU:T:2005:139, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
129 Folglich ist die auf die fehlende Erga-omnes-Wirkung der Nichtigkeitsurteile gestützte Rüge zurückzuweisen.
130 Zum anderen sind die Ausführungen der Klägerinnen in Beantwortung der schriftlichen Fragen des Gerichts sowie der ihnen hierzu in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen jedenfalls unbegründet.
131 Nach der Verordnung Nr. 1/2003 handelt es sich bei der Entscheidung, mit der das Verwaltungsverfahren abgeschlossen wird, nicht um die vom Gericht zu erlassende Entscheidung. Für diese Argumentation de lege ferenda gibt es, wie die Klägerinnen im Übrigen in der mündlichen Verhandlung eingeräumt haben, keine Grundlage in den auf den vorliegenden Fall anwendbaren Rechtsvorschriften, so dass eine gegen einen Beschluss der Kommission erhobene Nichtigkeitsklage nicht darauf gestützt werden kann.
132 Außerdem tritt zwar gemäß Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 die Verjährung spätestens mit dem Tag ein, an dem eine Frist, die der doppelten Verjährungsfrist entspricht, verstrichen ist, ohne dass die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat. Weiter verlängert sich nach Art. 25 Abs. 5 die Frist von höchstens zehn Jahren um den Zeitraum, in dem die Verjährung gemäß Abs. 6 ruht. Nach Art. 25 Abs. 6 der Verordnung ruht die Verfolgungsverjährung jedoch, solange wegen der Entscheidung der Kommission ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängig ist.
133 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Kommission vor dem Ablauf der Zehnjahresfrist des Art. 25 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1/2003 einen Beschluss erlassen hat, mit dem gegen die Klägerinnen eine Geldbuße festgesetzt wurde.
134 Soweit die Klägerinnen geltend machen wollen, in Bezug auf sie sei Verjährung eingetreten, ist also festzustellen, dass sie am 15. September 2010 Klage erhoben haben und die Verjährung somit nach Art. 25 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 ab diesem Zeitpunkt ruhte.
135 Der erste Klagegrund ist daher insgesamt zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
Würdigung durch das Gericht
Grundsätze
152 Nach ständiger Rechtsprechung kann nur einem Unternehmen, das mit der Kommission auf der Grundlage der Kronzeugenregelung zusammengearbeitet hat, nach dieser Regelung eine niedrigere Festsetzung der Geldbuße als die gewährt werden, die ohne diese Zusammenarbeit verhängt worden wäre. Diese Ermäßigung kann nicht auf eine Gesellschaft erstreckt werden, die zwar während eines Teils der Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung zu der von einem Unternehmen gebildeten wirtschaftlichen Einheit gehörte, aber nicht mehr zu dem Zeitpunkt der Zusammenarbeit dieses Unternehmens mit der Kommission. Eine gegenteilige Auslegung würde u. a. dazu führen, dass im Fall von Unternehmensveräußerungen einer Gesellschaft, die ursprünglich an einer Zuwiderhandlung als Muttergesellschaft einer unmittelbar an dieser Zuwiderhandlung beteiligten Tochtergesellschaft mitgewirkt hat und diese Tochtergesellschaft an ein anderes Unternehmen veräußert, gegebenenfalls eine diesem Unternehmen für dessen Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Ermäßigung der Geldbuße zugutekäme, obgleich die erstgenannte Gesellschaft weder selbst zur Aufdeckung der fraglichen Zuwiderhandlung beigetragen noch zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit einen bestimmenden Einfluss auf ihre ehemalige Tochtergesellschaft ausgeübt hat. Im Hinblick auf das Ziel der Kronzeugenregelung, die Aufdeckung von gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßenden Verhaltensweisen zu fördern, und die Gewährleistung einer wirksamen Anwendung dieses Rechts ist es durch nichts gerechtfertigt, die einem Unternehmen wegen seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Ermäßigung einer Geldbuße auf ein Unternehmen zu erstrecken, das zwar in der Vergangenheit den Tätigkeitsbereich kontrolliert hat, in dem sich die Zuwiderhandlung zugetragen hat, das aber zu deren Aufdeckung selbst nichts beigetragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 2014, FLSmidth/Kommission, C‑238/12 P, Slg, EU:C:2014:284, Rn. 83 bis 85, vom 19. Juni 2014, FLS Plast/Kommission, C‑243/12 P, Slg, EU:C:2014:2006, Rn. 85 und 87, sowie Hoechst/Kommission, oben in Rn. 148 angeführt, EU:T:2009:366, Rn. 76).
153 Nach dieser Rechtsprechung kommt es für die Frage, ob einem Unternehmen der sich aus der Kronzeugenregelung ergebende Vorteil gewährt werden soll, auf das Kriterium des effektiven Beitrags dieses Unternehmens zur Aufdeckung oder zum Nachweis der Zuwiderhandlung an.
154 Weiter geht aus dieser Rechtsprechung hervor, dass der sich aus der Kronzeugenregelung ergebende Vorteil einem Unternehmen gewährt wird, d. h. der wirtschaftlichen Einheit, die zu dem Zeitpunkt besteht, zu dem der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung bei der Kommission gestellt wird.
155 Der Grundsatz einer wirksamen Zusammenarbeit des Unternehmens wird durch Rn. 7 der Kronzeugenregelung und deren Rn. 11 Buchst. a, die den Geldbußenerlass betrifft und wonach das Unternehmen mit der Kommission während des Verwaltungsverfahrens in vollem Umfang kontinuierlich und zügig zusammenarbeiten muss, sowie durch Rn. 23 Buchst. b Abs. 2 der Kronzeugenregelung widergespiegelt, die die Ermäßigung der Geldbuße betrifft und wonach die Kommission berücksichtigen kann, ob das Unternehmen seit der Vorlage des Beweismittels kontinuierlich mit ihr zusammengearbeitet hat.
156 Folglich kann einem Unternehmen keine Ermäßigung der Geldbuße gewährt werden, wenn es keine wirksame Zusammenarbeit seinerseits beim Nachweis der Zuwiderhandlung gab.
157 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof in den oben in Rn. 152 angeführten Urteilen befunden, dass einer Gesellschaft, die zwar während eines Teils der Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung zu der von einem Unternehmen gebildeten wirtschaftlichen Einheit gehörte, aber nicht mehr zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit dieses Unternehmens mit der Kommission, nicht die Kronzeugenregelung zugutekommen kann, die der wirtschaftlichen Einheit gewährt wurde, die wirksam mit der Kommission zusammenarbeitet.
158 Ebenfalls auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof befunden, dass es durch nichts gerechtfertigt wäre, die einem Unternehmen wegen seiner Zusammenarbeit mit der Kommission gewährte Ermäßigung einer Geldbuße auf ein Unternehmen zu erstrecken, das zwar in der Vergangenheit den Tätigkeitsbereich kontrolliert hat, in dem sich die Zuwiderhandlung zugetragen hat, zu deren Aufdeckung aber selbst nichts beigetragen hat.
159 Es ist davon auszugehen, dass der auf den fehlenden Beitrag zur Aufdeckung der Zuwiderhandlung und die fehlende wirksame Zusammenarbeit gestützte Ausschluss von der Kronzeugenregelung insoweit sowohl für eine ehemalige Tochtergesellschaft anlässlich des von ihrer ehemaligen Muttergesellschaft gestellten Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung als auch für eine ehemalige Muttergesellschaft nach einem von ihrer ehemaligen Tochtergesellschaft gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gilt.
Beurteilung im vorliegenden Fall
160 Im vorliegenden Fall ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung, von dem die Klägerinnen meinen, dass er auch ihnen zugutekomme, am 28. Juni 2007 von Arcelor España und ihren Tochtergesellschaften, von der Mittal Steel Company und ihren Tochtergesellschaften einschließlich Arcelor sowie von Tréfileurope und ihren Tochtergesellschaften gestellt wurde, wobei diese ausdrücklich darum gebeten hatten, einen Erlass oder eine Ermäßigung der Geldbuße, der/die Arcelor España gewährt werde, auch auf Emesa und auf Galycas zu erstrecken, da die Verteidigungsrechte Letzterer gemäß der zwischen Arcelor España und Companhia Previdente geschlossenen Verkaufsvereinbarung von Arcelor España wahrgenommen würden.
161 Allerdings ist festzustellen, dass trotz der ausdrücklichen Verweise auf Emesa und Galycas in dem am 28. Juni 2007 gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung diese beiden Gesellschaften formell nicht zu dem aus den Antragstellern bestehenden Unternehmen gehörten, was im Übrigen die Klägerinnen auch nicht behaupten.
162 Aus der oben in Rn. 152 angeführten Rechtsprechung geht hervor, dass einer Gesellschaft, die formell keinen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hat, diese Regelung nur zugutekommen kann, wenn sie zum Zeitpunkt der Antragstellung zum selben Unternehmen wie der Antragsteller gehörte.
163 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Emesa und Galycas, da sie 2004 von Companhia Previdente aufgekauft wurden, zu dem Zeitpunkt, zu dem Arcelor España im Jahr 2007 ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung stellte, nicht mehr zu Arcelor España gehörten. Somit hat die Kommission im angefochtenen Beschluss zutreffend festgestellt, dass sie nicht mehr zu dem Unternehmen gehörten, das bei ihr einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hatte.
164 Die Emesa und Galycas gewährte Ermäßigung um 5 % für die der Kommission von ihnen selbst im Jahr 2002 übermittelten Informationen wurde auf Arcelor España erstreckt, weil Arcelor España und die Klägerinnen zu dem Zeitpunkt, zu dem Letztere diese Informationen übermittelten, zu genau dem selben Unternehmen gehörten.
165 Sodann ist zu prüfen, ob die Kommission im Hinblick auf die besonderen Umstände des Falles und trotz der vorstehenden Ausführungen den Klägerinnen die Vorteile des Kronzeugenantrags von Arcelor España hätte zugutekommen lassen müssen.
166 Insoweit ist erstens festzustellen, dass sich die aktive Zusammenarbeit der Klägerinnen mit der Kommission in dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, auf die Informationen beschränkt, die sie der Kommission im Rahmen ihres eigenen am 25. Oktober 2002 gestellten Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung übermittelt haben, für die die Kommission eine Ermäßigung der Geldbuße um 5 % gewährt hat.
167 Die Klägerinnen geben zwar an, die Notizen von Emesa, die Arcelor España im Rahmen des am 28. Juni 2007 gestellten Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung übermittelt habe, stammten von ihnen, seien seinerzeit von einem ehemaligen Mitarbeiter von Emesa erstellt worden und hätten erhebliche Auswirkungen auf die Dauer und die Schwere der Zuwiderhandlung gehabt.
168 Jedoch belegen die Herkunft der Notizen und ihr unbestreitbarer Mehrwert keine aktive Zusammenarbeit der Klägerinnen mit der Kommission. Vielmehr geht aus den Akten hervor, dass nicht die Klägerinnen, sondern Arcelor España im Besitz der von ihr an die Kommission übermittelten Notizen von Emesa war – was von den Klägerinnen nicht bestritten wird –, und es ist unstreitig, dass die Klägerinnen nichts von dem von Arcelor España gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung wussten, da diese ihn gemäß den geltenden Vorschriften geheim gehalten hatte.
169 Zweitens ist das Verhalten der Kommission, die entgegen ihren Ausführungen Arcelor España nicht rechtzeitig und ausführlich darüber informiert hat, dass der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung nicht auf Emesa und Galycas erstreckt werden könne, trotzdem nicht geeignet, einen Anspruch der Klägerinnen darauf zu begründen, dass ihnen der von Arcelor España gestellte Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung zugutekommt.
170 Zwar hätte der Kommission nämlich die Tatsache, dass sie auf den von Arcelor España am 28. Juni 2007 gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung erst am 19. September 2008 reagiert und dabei den Antrag, die Kronzeugenregelung auch Emesa und Galycas zugutekommen zu lassen, nicht ausdrücklich zurückgewiesen hat, von ArcelorMittal España mit Blick auf den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung vorgeworfen werden können. Doch sie bleibt ohne Einfluss auf die Möglichkeit, den Klägerinnen einen Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung zugutekommen zu lassen, an dem sie nicht aktiv mitgewirkt haben.
171 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie Emesa und Galycas, die hierauf keinen Anspruch hatten, den von Arcelor España gestellten Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung nicht zugutekommen ließ und ihnen somit keine Ermäßigung der Geldbuße gewährte, wie sie ArcelorMittal España gewährt worden war, weder gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung noch gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte noch gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung oder der Billigkeit verstoßen hat.
172 Folglich ist der zweite Klagegrund in vollem Umfang zurückzuweisen.
[nicht wiedergegeben]
Kosten
188 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
189 Da die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen unterlegen sind und die Kommission und der Rat einen dahin gehenden Antrag gestellt haben, tragen die Klägerinnen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission und des Rates.
190 Im Übrigen kann das Gericht nach Art. 139 Buchst. a der Verfahrensordnung Kosten, die vermeidbar gewesen wären, insbesondere im Fall einer offensichtlich missbräuchlichen Klage, der Partei auferlegen, die sie veranlasst hat.
191 Im vorliegenden Fall hat das Gericht der Kommission mit Beschluss vom 16. Mai 2014 aufgegeben, ihm die vertrauliche Fassung der Dokumente vorzulegen, die Gegenstand der prozessleitenden Maßnahmen vom 17. Dezember 2013 waren und die ihm von der Kommission noch nicht übermittelt worden waren.
192 Am 23. Mai 2014 hat die Kommission dem Gericht eine nicht vertrauliche Fassung dieser Dokumente übermittelt.
193 Das Gericht hat der Kommission mit Beschluss vom 12. Juni 2014 aufgegeben, die vertrauliche Fassung dieser Dokumente vorzulegen.
194 Die Kommission ist dieser Aufforderung am 16. Juni 2014 nachgekommen.
195 Aufgrund der erheblichen Kosten, die dem Gericht entstanden sind und die vermeidbar gewesen wären, hat die Kommission daher dem Gericht einen Teil dieser Kosten in Höhe von 1500 Euro zu erstatten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Emesa-Trefilería, SA und die Industrias Galycas, SA tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission und des Rates der Europäischen Union.
3. Die Kommission wird verurteilt, an das Gericht gemäß Art. 139 Buchst. a seiner Verfahrensordnung einen Betrag von 1500 Euro zur Erstattung eines Teils der diesem entstandenen Kosten zu zahlen.
Frimodt Nielsen
Dehousse
Collins
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
(1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 15. Juli 2015.#CSF Srl gegen Europäische Kommission.#Rechtsangleichung – Richtlinie 2006/42/EG – Maschinen, die mit der CE‑Kennzeichnung versehen sind – Grundlegende Sicherheitsanforderungen – Gefahren für die Sicherheit von Personen – Schutzklausel – Beschluss der Kommission, mit dem eine nationale Maßnahme zum Verbot des Inverkehrbringens für gerechtfertigt erklärt wird – Bedingungen für die Umsetzung der Schutzklausel – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-337/13.
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62013TJ0337
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ECLI:EU:T:2015:502
| 2015-07-15T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013TJ0337
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
15. Juli 2015 (*1)
„Rechtsangleichung — Richtlinie 2006/42/EG — Maschinen, die mit der CE‑Kennzeichnung versehen sind — Grundlegende Sicherheitsanforderungen — Gefahren für die Sicherheit von Personen — Schutzklausel — Beschluss der Kommission, mit dem eine nationale Maßnahme zum Verbot des Inverkehrbringens für gerechtfertigt erklärt wird — Bedingungen für die Umsetzung der Schutzklausel — Offensichtlicher Beurteilungsfehler — Gleichbehandlung“
In der Rechtssache T‑337/13
CSF Srl mit Sitz in Grumolo delle Abbadesse (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte R. Santoro, S. Armellini und R. Bugaro,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, Prozessbevollmächtigte: G. Zavvos im Beistand von Rechtsanwalt M. Pappalardo,
Beklagte,
unterstützt durch
Königreich Dänemark, Prozessbevollmächtigte: zunächst V. Pasternak Jørgensen und M. Wolff, dann M. Wolff, C. Thorning, U. Melgaard und N. Lyshøj,
Streithelfer,
wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 2013/173/EU der Kommission vom 8. April 2013 über eine Maßnahme der dänischen Behörden zum Verbot eines Typs einer Mehrzweck-Erdbewegungsmaschine gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 101, S. 29)
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Papasavvas sowie der Richter N. J. Forwood (Berichterstatter) und E. Bieliūnas,
Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2015
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Die Klägerin CSF Srl ist ein Unternehmen mit Sitz in Italien, das Maschinen herstellt. U. a. stellt sie eine Maschine mit der Bezeichnung „Multione S630“ (im Folgenden: Multione S630) her. Wesentliches Merkmal dieser Maschine ist es, dass sie aufgrund von 58 Zubehörteilen, mit denen sie ausgerüstet werden kann, für unterschiedliche Zwecke und in unterschiedlichen Arbeitsbereichen verwendet werden kann. Diese ebenfalls von der Klägerin konstruierten Zubehörteile erlauben es zum Beispiel, diese Maschine mit einem Behälter, einem Schneepflug, einer Gabel, einem Hebearm, einem Hydraulikhammer, einer Zange, einer Bodenfräse oder einer Mähvorrichtung auszurüsten und sie somit in Arbeitsbereichen wie dem Gartenbau, der Landwirtschaft, dem Bausektor, der Straßenunterhaltung oder für Waldarbeiten einzusetzen. Die in Rede stehende Maschine wurde in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Verkehr gebracht. Zehn Exemplare dieser Maschine wurden seit 2009 in Dänemark in Verkehr gebracht, wo sie für die Futterverteilung und die Käfigreinigung in der Nerzzucht verwendet werden.
2 Die dänischen Behörden erließen am 31. Januar 2012 in Bezug auf die Multione S630 Maßnahmen nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Maschinen und zur Änderung der Richtlinie 95/16/EG (ABl. L 157, S. 24). Diese Maßnahmen bestanden zum einen in dem Verbot, neue Exemplare dieser Maschine ohne geeigneten Schutzaufbau gegen das Herabfallen von Gegenständen in Dänemark in Verkehr zu bringen, und zum anderen in der der Klägerin auferlegten Verpflichtung, Abhilfemaßnahmen bezüglich der in Dänemark bereits in Betrieb genommenen Maschinen zu ergreifen.
3 Die dänischen Behörden begründeten den Erlass dieser Maßnahmen damit, dass die Multione S630 bestimmten grundlegenden Sicherheitsanforderungen der Richtlinie 2006/42 nicht entspreche. Sie stellten insoweit fest, dass die in Dänemark in Verkehr gebrachten Exemplare dieser Maschine über keinen geeigneten Schutzaufbau verfügten, obwohl mehrere Funktionen, für die diese Maschine konstruiert worden sei, ihren Fahrer der Gefahr herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials aussetzten. Dieser Zustand verstoße gegen Nr. 3.4.4 des Anhangs I der Richtlinie 2006/42. Nach dieser Bestimmung müsse, wenn bei einer selbstfahrenden Maschine mit aufsitzendem Fahrer ein Risiko durch herabfallende Gegenstände oder herabfallendes Material bestehe, die Maschine entsprechend konstruiert und, sofern es ihre Abmessungen gestatteten, mit einem entsprechenden Schutzaufbau versehen sein.
4 Die dänischen Behörden teilten die getroffenen Maßnahmen gemäß Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/42 der Europäischen Kommission mit. Diese stellte mit ihrem Beschluss 2013/173/EU vom 8. April 2013 über eine Maßnahme der dänischen Behörden zum Verbot eines Typs einer Mehrzweck-Erdbewegungsmaschine gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/42/EG (ABl. L 101, S. 29, im Folgenden: angefochtener Beschluss) fest, dass diese Maßnahmen nach Abs. 3 dieses Artikels gerechtfertigt sind.
Verfahren und Anträge der Parteien
5 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 19. Juni 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
6 Mit Schriftsatz, der am 30. August 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin daneben einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Mit Beschluss vom 11. November 2013 hat der Präsident des Gerichts diesen Antrag mit der Begründung als unbegründet zurückgewiesen, dass die Klägerin die Dringlichkeit einer Entscheidung nicht dargetan hat, und hat die Entscheidung über die Kosten vorbehalten.
7 Mit Schriftsatz, der am 1. Oktober 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat das Königreich Dänemark beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 13. November 2013 hat der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts diesen Streitbeitritt zugelassen.
8 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
9 Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 28. April 2015 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
10 Die Klägerin beantragt,
—
den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;
—
erforderlichenfalls ein Gutachten einzuholen;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
11 Die Kommission beantragt,
—
die Klage abzuweisen;
—
der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
12 Das Königreich Dänemark beantragt Klageabweisung.
Rechtliche Würdigung
13 Ohne formell die Einrede der Unzulässigkeit der Klage zu erheben, äußert die Kommission Zweifel an deren Zulässigkeit. Im Hinblick auf die Begründetheit macht die Klägerin zwei Klagegründe für ihren Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses geltend. Ferner bringt sie auch eine Rüge vor, mit der sie ihr durch diesen Beschluss entstandene Schäden behauptet, ohne jedoch insoweit einen Antrag zu stellen.
Zur Zulässigkeit der Klage
14 Die Kommission macht im Wesentlichen geltend, der angefochtene Beschluss betreffe die Klägerin nicht unmittelbar im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV. Obwohl in dem Beschluss festgestellt werde, dass die von den dänischen Behörden gegenüber der Klägerin getroffenen Maßnahmen gerechtfertigt seien, seien es doch die dänischen Behörden, die entsprechend der in Art. 11 der Richtlinie 2006/42 vorgesehenen Zuständigkeitsverteilung unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin einwirkten. Auch wenn dieser Beschluss außer dem Königreich Dänemark auch den übrigen Mitgliedstaaten der Union mitgeteilt worden sei, so sei es doch Sache der zuständigen nationalen Behörden, nunmehr zu prüfen, inwieweit die von der Klägerin in Dänemark in Verkehr gebrachten Maschinen dieser Richtlinie entsprächen oder inwieweit dies nicht der Fall sei, und daraus alle erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.
15 Die Klägerin widerspricht dieser Argumentation.
16 Insbesondere aus Art. 263 Abs. 4 AEUV folgt, dass jede natürliche oder juristische Person gegen Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen, Klage erheben kann.
17 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine natürliche oder juristische Person nur dann von einem Rechtsakt unmittelbar betroffen, wenn dieser sich auf ihre Rechtsstellung unmittelbar auswirkt und ihren Adressaten keinerlei Ermessensspielraum lässt, sein Erlass vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ergibt, ohne dass weitere Durchführungsvorschriften angewendet werden (Urteile vom 5. Mai 1998, Dreyfus/Kommission, C‑386/96 P, Slg, EU:C:1998:193, Rn. 43, und vom 13. März 2008, Kommission/Infront WM, C‑125/06 P, Slg, EU:C:2008:159, Rn. 47).
18 Im vorliegenden Fall ist die von der Klägerin erhobene Klage auf die Nichtigerklärung eines Beschlusses der Kommission gerichtet, in dem festgestellt wird, dass die Maßnahmen, die die dänischen Behörden in Bezug auf die Bedingungen getroffen haben, unter denen die Multione S630 in Dänemark in Verkehr gebracht wird, gerechtfertigt sind.
19 Die von den dänischen Behörden getroffenen Maßnahmen gründen sich auf die Bestimmungen dänischen Rechts zur Durchführung der Richtlinie 2006/42 und vor allem ihres Art. 11 Abs. 1. Dieser Art. 11 Abs. 1 bestimmt: Stellt ein Mitgliedstaat fest, dass eine von dieser Richtlinie erfasste und mit der CE-Kennzeichnung versehene Maschine, der die EG-Konformitätserklärung beigefügt ist, bei bestimmungsgemäßer oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit von Personen zu gefährden droht, so trifft er alle zweckdienlichen Maßnahmen, um diese Maschine aus dem Verkehr zu ziehen, um ihr Inverkehrbringen oder die Inbetriebnahme dieser Maschine zu untersagen oder um den freien Verkehr hierfür einzuschränken.
20 Der angefochtene Beschluss gründet sich seinerseits auf Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2006/42. Danach konsultiert die Kommission, wenn sie ein Mitgliedstaat über den Erlass von Maßnahmen nach Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie unterrichtet, die Betroffenen, bevor sie prüft, ob diese Maßnahmen gerechtfertigt sind oder nicht, und teilt ihre Entscheidung anschließend dem Mitgliedstaat, der die Initiative ergriffen hat, den übrigen Mitgliedstaaten und dem Hersteller oder seinem Bevollmächtigten mit.
21 Wie die Kommission zu Recht festgestellt hat, ergibt sich aus dem Schreiben der dänischen Behörden vom 31. Januar 2012 an die Klägerin, dass diese Behörden mit ihren Maßnahmen unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin einwirken wollten. Nachdem sie zu dem Ergebnis gekommen waren, dass die Multione S630 bestimmte in der Richtlinie 2006/42 aufgeführte grundlegende Sicherheitsanforderungen nicht erfülle, da sie keinen geeigneten Schutzaufbau gegen herabfallende Gegenstände oder herabfallendes Material habe, verboten sie erstens, die Maschine in Dänemark in Verkehr zu bringen, gaben der Klägerin zweitens auf, Konstruktion und Bau der Maschine so zu ändern, dass sie mit einem entsprechenden Aufbau versehen werde, und verpflichteten sie drittens, die in Dänemark bereits in Betrieb genommenen Exemplare dieser Maschine mit den Anforderungen der Richtlinie in Einklang zu bringen oder sie in Dänemark aus dem Verkehr zu ziehen.
22 Dennoch zieht die Kommission daraus zu Unrecht den Schluss, dass der angefochtene Beschluss die Klägerin nicht unmittelbar betreffe.
23 Zunächst ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss allerdings andere Auswirkungen unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin hat als die, die sich aus den Maßnahmen der dänischen Behörden ergeben.
24 Erstens ist der angefochtene Beschluss gemäß den Mitteilungs- und Informationspflichten der Kommission nach Art. 11 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2006/42 an alle Mitgliedstaaten der Union und nicht nur an das Königreich Dänemark gerichtet. Er ist damit nach Art. 288 AEUV für jeden von ihnen in all seinen Teilen verbindlich.
25 Zweitens wurde die Richtlinie 2006/42 auf der Grundlage von Art. 95 EG (nunmehr Art. 114 AEUV) erlassen, der das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union zum Erlass von Maßnahmen ermächtigt, die die Beseitigung der Handelsschranken bezwecken, die sich aus den Unterschieden zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben (vgl. Urteile vom 17. Mai 1994, Frankreich/Kommission, C‑41/93, Slg, EU:C:1994:196, Rn. 22, und vom 9. August 1994, Deutschland/Rat, C‑359/92, Slg, EU:C:1994:306, Rn. 22, zu Art. 100a EG). Die Richtlinie soll wie die Richtlinie 89/392/EWG des Rates vom 14. Juni 1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen (ABl. L 183, S. 9) und die Richtlinie 98/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen (ABl. L 207, S. 1), die ihr vorausgingen, die Bedingungen harmonisieren, unter denen die mit der CE-Kennzeichung und der EG-Konformitätserklärung versehenen Maschinen auf dem Binnenmarkt in Verkehr gebracht werden, und ihren freien Verkehr innerhalb der Union sicherstellen, gleichzeitig aber auch die Beachtung aller Anforderungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Personen vor den sich aus der Verwendung dieser Maschinen ergebenden Risiken gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2005, Yonemoto, C‑40/04, Slg, EU:C:2005:519, Rn. 31 und 45, und vom 17. April 2007, AGM-COS.MET, C‑470/03, Slg, EU:C:2007:213, Rn. 52 und 53).
26 Im Hinblick darauf untersagt es die Richtlinie 2006/42 den Mitgliedstaaten insbesondere, den freien Verkehr mit Maschinen in der Union zu beeinträchtigen, wenn diese den Bedingungen entsprechen, die die Annahme erlauben, dass sie den von der Richtlinie vorgesehenen grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen entsprechen (Art. 6 und 7 der Richtlinie 2006/42). Darüber hinaus verpflichtet sie die zuständigen nationalen Behörden, für eine Aufsicht über ihren diesbezüglichen Markt zu sorgen, u. a durch den Erlass aller erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Maschinen nur in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden können, wenn sie den Bestimmungen der Richtlinie entsprechen und wenn sie die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährden (Art. 4 der Richtlinie 2006/42). Schließlich gibt sie den Mitgliedstaaten auf, alle zweckdienlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Maschinen, die die Sicherheit und Gesundheit von Personen zu gefährden drohen, aus dem Verkehr zu ziehen, ihr Inverkehrbringen oder ihre Inbetriebnahme zu untersagen oder allgemein den freien Verkehr hierfür einzuschränken (Art. 11 der Richtlinie 2006/42).
27 Drittens folgt aus Art. 14 Abs. 7 und Art. 19 der Richtlinie 2006/42 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 9 und 10, dass im Rahmen der von der Richtlinie vorgesehenen Marktaufsicht und insbesondere der Durchführung der in Art. 11 enthaltenen Schutzklausel die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, die korrekte und einheitliche Anwendung dieser Richtlinie sicherzustellen, indem sie sich abstimmen und die von der Kommission festgelegten Leitlinien berücksichtigen.
28 In Anbetracht von Zweck, Systematik und Inhalt der oben in den Rn. 26 und 27 genannten Bestimmungen ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss verlangt, dass jeder andere Mitgliedstaat als das Königreich Dänemark zweckdienliche Maßnahmen für das Inverkehrbringen oder den Verbleib der Multione S630 auf seinem Markt trifft und damit die korrekte und einheitliche Anwendung der Richtlinie 2006/42 im Licht der von den dänischen Behörden erlassenen und von der Kommission für gerechtfertigt erklärten Maßnahmen gewährleistet, wie auch von der Klägerin im Wesentlichen vorgetragen worden ist. Mit anderen Worten ist aufgrund des angefochtenen Beschlusses jeder andere Mitgliedstaat als das Königreich Dänemark, soweit er betroffen ist, zu der Prüfung verpflichtet, ob die Exemplare dieser Maschine, die von der Klägerin auf seinem Markt in Verkehr gebracht werden konnten, mit einem Schutzaufbau ausgerüstet sind, der Schutz gegen das Risiko herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials bietet, und ob diese Maschinen demzufolge weiter auf diesem Markt verbleiben dürfen. Unmittelbare Folge des angefochtenen Beschlusses ist daher die Einleitung nationaler Verfahren, die das der Klägerin bis dahin in der gesamten Union zustehende Recht in Frage stellen, eine Maschine in Verkehr zu bringen, für die die Vermutung der Konformität nach Art. 7 dieser Richtlinie galt, wenn sie mit der CE-Kennzeichnung versehen und ihr die EG-Konformitätserklärung beigefügt war (vgl. entsprechend Kommission/Infront WM, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2008:159, Rn. 50 bis 52).
29 Im Übrigen bestreitet die Kommission im vorliegenden Fall nicht, dass die finnischen und die litauischen Behörden, nachdem ihnen der angefochtene Beschluss übermittelt worden ist, bereits entsprechende Schritte unternommen haben.
30 Sodann ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss seinen Adressaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels keinen Ermessensspielraum einräumt, seine Durchführung insoweit rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ergibt, ohne dass weitere Durchführungsvorschriften angewendet werden.
31 Wie von der Kommission vorgetragen, müssen die zuständigen nationalen Behörden, um feststellen zu können, ob die Klägerin Exemplare der Multione S630 im Inland in Verkehr gebracht hat oder dies beabsichtigt und ob einige dieser Exemplare keinen Schutzaufbau gegen das Risiko herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials haben, wahrscheinlich zunächst Kontrollen durchführen. Wenn sich jedoch herausstellt, dass dies der Fall ist, haben diese Behörden davon auszugehen, dass dieser Zustand die Sicherheit von Personen zu gefährden droht, und sie haben alle zweckdienlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahr zu ergreifen, wobei sie in diesem Rahmen die korrekte und einheitliche Anwendung der Richtlinie 2006/42 im Licht des angefochtenen Beschlusses und der von diesem für gerechtfertigt erklärten dänischen Maßnahmen gewährleisten und somit das Verbot, die Rücknahme oder die Umgestaltung der in Rede stehenden Maschine anordnen oder jegliche gleichwertige Maßnahme erlassen müssen. Daher bestimmt die Entscheidung der Kommission, die die dänischen Maßnahmen für gerechtfertigt erklärt hat, welches Ergebnis die anderen nationalen Behörden erzielen müssen, die insoweit keinen Ermessensspielraum haben (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 7. Juni 2007, IMS/Kommission, T‑346/06 R, Slg, EU:T:2007:164, Rn. 51 bis 54; vgl. auch entsprechend Urteil Kommission/Infront WM, oben in Rn. 17 angeführt, EU:C:2008:159, Rn. 59 bis 63).
32 Im Übrigen hat die Kommission im vorliegenden Fall das Vorbringen der Klägerin, dass die Maßnahmen der finnischen und der litauischen Behörden nach Kenntnisnahme von dem angefochtenen Beschluss bestätigten, dass diese Behörden hinsichtlich der Tragweite dieses Beschlusses und der daraus zu ziehenden Folgen keine Zweifel gehabt hätten, oder die dazu vorgelegten Schriftstücke nicht mit Erfolg in Frage stellen können.
33 Die vorstehenden Erwägungen werden durch Art. 9 der Richtlinie 2006/42 nicht entkräftet. Nach diesem Artikel, der „[b]esondere Maßnahmen für Maschinen mit besonderem Gefahrenpotenzial“ vorsieht, kann die Kommission, wenn sie gemäß dem Verfahren nach Art. 11 der Richtlinie zu der Auffassung gelangt, dass eine von einem Mitgliedstaat getroffene Maßnahme gerechtfertigt ist, Maßnahmen ergreifen, mit denen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, das Inverkehrbringen von Maschinen zu verbieten oder einzuschränken, die technische Merkmale aufweisen, von denen das gleiche Risiko ausgeht wie von der Maschine, die Gegenstand der nationalen Maßnahmen ist, oder diese Maschinen besonderen Bedingungen unterwerfen. Im Übrigen stellt der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie klar, dass diese auf Unionsebene erlassenen Maßnahmen keine unmittelbare Anwendung auf die Wirtschaftsbeteiligten finden und von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen.
34 Wenn die Mitgliedstaaten die korrekte und einheitliche Anwendung der Richtlinie 2006/42 gewährleisten müssen, indem sie die Konsequenzen aus einer nationalen Maßnahme ziehen, die in Bezug auf eine bestimmte Maschine getroffen und von der Kommission für gerechtfertigt erklärt wurde, dabei aber hinsichtlich des zu erreichenden Ziels über keinen Ermessensspielraum verfügen, sind sie offenkundig nicht befugt, von sich aus außerhalb des von Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgegebenen verfahrens- und materiell-rechtlichen Rahmens den Anwendungsbereich dieser Maßnahme auf andere Maschinen mit der Begründung auszudehnen, dass diese das gleiche Risiko aufwiesen, da sie sonst gegen den in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie verankerten Grundsatz des freien Warenverkehrs und die in ihrem Art. 7 enthaltene Konformitätsvermutung verstießen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. März 1999, Kommission/Italien, C‑112/97, Slg, EU:C:1999:168, Rn. 54, und AGM-COS.MET, oben in Rn. 25 angeführt, EU:C:2007:213, Rn. 61 bis 64 und 68 bis 70). Deshalb hat der Unionsgesetzgeber diese Ausdehnung an die Durchführung eines besonderen Verfahrens geknüpft, das insbesondere den Erlass zum einen einer entsprechenden ausdrücklichen Entscheidung der Kommission und zum anderen von nationalen Maßnahmen zur Durchführung dieser Entscheidung vorsieht. Dagegen sind solche Maßnahmen für die Zwecke des Art. 11 der in Rede stehenden Richtlinie in Anbetracht der Tragweite dieses Artikels weder vorgesehen noch erforderlich (siehe oben, Rn. 28 und 31).
35 Nach alledem zieht die Kommission die Zulässigkeit der Klage zu Unrecht mit der Begründung in Zweifel, dass der angefochtene Beschluss die Klägerin nicht unmittelbar betreffe.
Zum Antrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses
36 Zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses macht die Klägerin zwei Klagegründe geltend: erstens eine Verletzung der Richtlinie 2006/42 und zweitens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Zum ersten Klagegrund der Verletzung der Richtlinie 2006/42
37 Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, der angefochtene Beschluss beruhe auf einer fehlerhaften Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/42 über die grundlegenden Sicherheitsanforderungen, die von Herstellern von Maschinen, die für das Inverkehrbringen in der Union bestimmt seien, beachtet werden müssten.
38 Erstens werde in dem angefochtenen Beschluss festgestellt, dass die von den dänischen Behörden in Bezug auf die Multione S630 erlassenen Maßnahmen gerechtfertigt seien, obwohl diese ihr Verpflichtungen auferlegten, die über die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/42 sowie in den Nrn. 1.1.2 und 3.4.4 des Anhangs I dieser Richtlinie vorgesehenen hinausgingen.
39 Zweitens habe die fehlerhafte Beurteilung der Tragweite dieser Bestimmungen durch die dänischen Behörden und dann durch die Kommission dazu geführt, dass im angefochtenen Beschluss nationale Maßnahmen bestätigt worden seien, die unter Verstoß gegen die Bedingungen für die Durchführung der Schutzklausel gemäß Art. 11 der Richtlinie 2006/42, gegen das den Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie auferlegte Verbot der Beeinträchtigung des freien Verkehrs mit Maschinen und gegen die für die Multione S630 gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie geltende Konformitätsvermutung erlassen worden seien.
40 Drittens habe sich die Kommission dem Standpunkt der dänischen Behörden angeschlossen, ohne in irgendeiner Weise die Einwände zu berücksichtigen, die die Klägerin vor diesen und anschließend im Rahmen der gemäß Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2006/42 durchgeführten Konsultation erhoben habe.
41 Viertens und an letzter Stelle macht die Klägerin geltend, dass, unabhängig von der fehlerhaften Auslegung der Richtlinie 2006/42, auf der der angefochtene Beschluss beruhe, die Würdigung des Sachverhalts durch die dänischen Behörden, die von der Kommission für zutreffend erklärt worden sei, ihrerseits fehlerhaft sei.
42 Die Kommission widerspricht, unterstützt vom Königreich Dänemark, diesen verschiedenen Rügen.
43 In Anbetracht der Argumentation der Parteien sind nacheinander die Relevanz des vorliegenden Klagegrundes, danach die von der Klägerin in diesem Rahmen erhobenen ersten beiden Rügen, mit denen Rechtsfehler geltend gemacht werden, und schließlich ihre letzten zwei Rügen zu prüfen, mit denen sie im Wesentlichen der Kommission vorwirft, Beurteilungsfehler begangen zu haben.
– Zur Relevanz des Klagegrundes
44 An erster Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 („Schutzklausel“) der Richtlinie 2006/42 den Mitgliedstaaten auferlegt, alle zweckdienlichen Maßnahmen zu treffen, um den freien Verkehr auf ihrem nationalen Markt für diejenigen Maschinen einzuschränken, die nach ihren Feststellungen die Gesundheit oder die Sicherheit von Personen zu gefährden drohen, gleichzeitig aber bestimmt, dass die Kommission „prüft“, ob diese Maßnahmen „gerechtfertigt sind oder nicht“ (siehe oben, Rn. 19 und 20).
45 Wie die Kommission selbst hervorgehoben hat, ist Rechtsgrundlage der Richtlinie 2006/42 der Art. 95 EG (nunmehr Art. 114 AEUV), nach dessen Abs. 10 die auf dieser Grundlage erlassenen Harmonisierungsmaßnahmen in geeigneten Fällen mit einer Schutzklausel verbunden sind, die die Mitgliedstaaten ermächtigt, aus einem oder mehreren der in Art. 36 AEUV genannten nicht wirtschaftlichen Gründe vorläufige Maßnahmen zu treffen, „die einem Kontrollverfahren der Union unterliegen“.
46 Daraus folgt, dass es zwar tatsächlich Sache der Mitgliedstaaten ist, die Richtlinie 2006/42 korrekt umzusetzen und dafür Sorge zu tragen, dass die im Inland in Verkehr gebrachten oder in Betrieb genommenen Maschinen den Bestimmungen der Richtlinie entsprechen, indem sie gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen, wie sie in Art. 11 vorgesehen sind, dass es aber nichtsdestotrotz, wie von der Kommission betont wird, die Aufgabe dieses Organs ist, zu prüfen, ob diese Maßnahmen gerechtfertigt sind, indem es sich insbesondere der Stichhaltigkeit der rechtlichen und sachlichen Begründung für deren Erlass vergewissert (vgl. entsprechend Urteil Frankreich/Kommission, oben in Rn. 25 angeführt, EU:C:1994:196, Rn. 27 und 28; vgl. auch in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 14. Juni 2007, Medipac-Kazantzidis, C‑6/05, Slg, EU:C:2007:337, Rn. 46, und vom 22. April 2015, Klein/Kommission, C‑120/14 P, EU:C:2015:252, Rn. 64 und 76). Vom Ergebnis dieser Prüfung hängt es ab, ob die in Rede stehende nationale Maßnahme endgültig aufrechterhalten bleibt, da der Mitgliedstaat sie nur aufrechterhalten kann, wenn die Kommission sie für gerechtfertigt erklärt, und er sie andernfalls beenden muss.
47 Daraus ergibt sich entgegen dem Vorbringen der Kommission, dass jeder, dessen Antrag auf Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der solche Maßnahmen für gerechtfertigt erklärt werden, zulässig ist, zur Stützung seines Antrags geltend machen kann, dass diese Entscheidung auf einer fehlerhaften Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/42 beruht, auch wenn diese Auslegung, der alle Mitgliedstaaten gebührend Rechnung tragen müssen (siehe oben, Rn. 28 sowie 30 und 31), zunächst von den zuständigen nationalen Behörden vertreten und danach von der Kommission übernommen worden ist. In einem solchen Fall muss es nämlich möglich sein, den Rechtsfehler, der zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führen kann, mit der die Kommission die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen für gerechtfertigt erklärt hat, vor dem Unionsrichter zu beanstanden, da andernfalls die Tragweite von Art. 263 AEUV und des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes beeinträchtigt würde.
48 Im Übrigen kann die gerichtliche Kontrolle der Stichhaltigkeit der rechtlichen Begründung, die die Kommission dazu geführt hat, die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen für gerechtfertigt zu erklären, nur im Rahmen einer vollständigen Kontrolle erfolgen, da es sich um eine Rechtsfrage handelt.
49 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin somit das Recht, geltend zu machen, dass der angefochene Beschluss rechtsfehlerhaft sei, weil die Kommission zum einen die fehlerhafte Auslegung der Richtlinie 2006/42 durch die dänischen Behörden übernommen und zum anderen die insbesondere gegen Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 11 und Anhang I dieser Richtlinie verstoßenden nationalen Maßnahmen für gerechtfertigt erklärt habe.
– Zu den Rügen, mit denen Rechtsfehler geltend gemacht werden
50 Somit ist an zweiter Stelle die Stichhaltigkeit dieser Rügen zu prüfen. Im Wesentlichen wendet sich die Klägerin gegen die Auslegung verschiedener Bedingungen für die Anwendung der Schutzklausel des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/42, die von den dänischen Behörden vertreten und von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss für gerechtfertigt erklärt worden ist. Diesbezüglich steht außer Streit, dass erstens die Multione S630 eine Maschine ist, die unter diese Richtlinie fällt, zweitens die Exemplare dieser Maschine, die von der Klägerin in Dänemark in Verkehr gebracht wurden, mit der CE-Kennzeichnung versehen waren und drittens ihnen die EG-Konformitätserklärung beigefügt war. Dagegen sind sich die Klägerin und die Kommission uneins, welche Tragweite im vorliegenden Fall die Bedingung hat, dass der zuständige Mitgliedstaat feststellen muss, dass „bei bestimmungsgemäßer oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung [die betreffende Maschine] die Sicherheit … von Personen … zu gefährden droht“, damit er berechtigt ist, insoweit den freien Verkehr im Inland zu beschränken. Insbesondere sind sie unterschiedlicher Meinung zum einen hinsichtlich der Modalitäten der Bewertung des Risikos, das eine Maschine für die Sicherheit ihrer Benutzer darstellen kann, und zum anderen hinsichtlich der Tragweite und des Zusammenspiels der verschiedenen Verpflichtungen, die den Herstellern auferlegt sind, um diesen Risiken entgegenzuwirken.
51 Dazu ergibt sich aus Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/42 klar, dass ein Mitgliedstaat, wenn er feststellt, dass eine von dieser Richtlinie erfasste „Maschine“„bei bestimmungsgemäßer oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit … von Personen … zu gefährden droht“, alle zweckdienlichen Maßnahmen ergreifen muss, um „diese Maschine“ aus dem Verkehr zu ziehen, „ihr“ Inverkehrbringen oder ihre Inbetriebnahme zu untersagen oder „hierfür“ den freien Verkehr einzuschränken.
52 Art. 2 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 2006/42 definiert eine Maschine als „eine mit einem anderen Antriebssystem als der unmittelbar eingesetzten menschlichen oder tierischen Kraft ausgestattete oder dafür vorgesehene Gesamtheit miteinander verbundener Teile oder Vorrichtungen, von denen mindestens eines bzw. eine beweglich ist und die für eine bestimmte Anwendung zusammengefügt sind“. Von den Definitionen, die unter den anderen Gedankenstrichen dieser Bestimmung wiedergegeben sind, beziehen sich einige auf die unter dem ersten Gedankenstrich wiedergegebene Definition, andere aber nicht, doch führen auch sie neben anderen Kriterien als Kennzeichen für die Maschinen an, dass sie sich aus Bestandteilen zusammensetzen, die „zusammenwirken“ oder „für [einen bestimmten Zweck] zusammengefügt sind“. Im Übrigen stellen Art. 1 Abs. 1 Buchst. g und Art. 2 Buchst. g den Maschinen die unvollständigen Maschinen gleich, die gemäß ihrer Definition für sich genommen keine bestimmte Funktion erfüllen können und dazu bestimmt sind, in andere Maschinen oder Ausrüstungen eingebaut oder mit ihnen zusammengefügt zu werden, um zusammen mit ihnen Maschinen im eigentlichen Sinne zu bilden.
53 Schließlich folgt aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/42, dass der Begriff „Maschine“ dahin zu verstehen ist, dass er sich über die Maschinen allein im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Bestimmungen hinaus auf eine Gesamtheit von anderen Erzeugnissen bezieht, zu denen die auswechselbaren Ausrüstungen zählen. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie definiert eine auswechselbare Ausrüstung als „eine Vorrichtung, die der Bediener einer Maschine oder Zugmaschine nach deren Inbetriebnahme selbst an ihr anbringt, um ihre Funktion zu ändern oder zu erweitern, sofern diese Ausrüstung kein Werkzeug ist“. Die von der Kommission im Juni 2010 veröffentlichte und zu den Akten gereichte zweite Auflage des Leitfadens für die Anwendung der Maschinenrichtlinie 2006/42 stellt in § 41 insbesondere klar, dass im Unterschied zu Werkzeugen, „die weder die Funktion der Grundmaschine ändern noch die Funktion der Maschine erweitern“ und die von dieser Richtlinie nicht erfasst werden, Beispiele für auswechselbare Ausrüstungen „Ausrüstungen [sind], die an land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen für Funktionen wie Pflügen, Ernten, Heben oder Laden montiert werden, sowie Ausrüstungen für den Anbau an Erdbaumaschinen für Funktionen wie Bohr- oder Abbrucharbeiten“.
54 In Anbetracht dieser Bestimmungen und Definitionen ist erstens festzustellen, dass ein Mitgliedstaat in Bezug auf eine konkrete Maschine oder eine konkrete auswechselbare Ausrüstung, die für eine oder mehrere Funktionen bestimmt sind, berechtigt ist, von der Schutzklausel nach Art. 11 der Richtlinie 2006/42 Gebrauch zu machen, und dass er in diesem Rahmen verpflichtet ist, das Risiko für die Gesundheit oder die Sicherheit von Personen zu beurteilen, was Voraussetzung für die Anwendung dieser Schutzklausel ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, oben in Rn. 34 angeführt, EU:C:1999:168, Rn. 10 und 39). Diese Beurteilung und die daraus resultierende nationale Maßnahme müssen also in Bezug auf diese Maschine, wie sie in Verkehr gebracht wurde, und gegebenenfalls in Bezug auf die auswechselbare Ausrüstung, mit der die Maschine bei ihrem Inverkehrbringen oder ihrer Inbetriebnahme ausgestattet wurde, gerechtfertigt sein. Anderenfalls hätte ein Mitgliedstaat die Möglichkeit, eine Beschränkung des Grundsatzes des freien Verkehrs vorzusehen, die nicht durch das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr für die Gesundheit oder die Sicherheit von Personen gerechtfertigt ist (siehe unten, Rn. 57).
55 Im vorliegenden Fall macht die Klägerin also zu Recht geltend, dass die dänischen Behörden das Risiko, von dem die Anwendung der Schutzklausel nach der Richtlinie 2006/42 und die zu ihrer Durchführung erlassenen dänischen Rechtsvorschriften abhängen, in Bezug auf die Multione S630, wie sie tatsächlich in Dänemark in Verkehr gebracht worden ist, beurteilen mussten. Dazu hat sie, ohne dass die Kommission oder das Königreich Dänemark widersprochen hätten, vorgetragen, dass alle in Dänemark in Verkehr gebrachten Exemplare dieser Maschine zusammen mit Ausrüstungen für den Betrieb der Nerzzucht gekauft worden seien, die bei normaler Verwendung an und für sich nicht mit dem Risiko herabfallenden Materials oder herabfallender Gegenstände verbunden gewesen seien.
56 Zweitens darf das Risiko, das die betreffenden nationalen Behörden unter Kontrolle der Kommission beurteilen müssen, nicht auf das Risiko begrenzt werden, das bei „bestimmungsgemäßer“ Verwendung der Maschine oder ihrer Verwendung unter den „vom Hersteller vorgesehenen Bedingungen“ besteht. Vielmehr verlangen mehrere Bestimmungen der Richtlinie 2006/42, darunter Art. 4 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 sowie die „Allgemeine[n] Grundsätze“ zu Beginn ihres Anhangs I und Nr. 1.1.2 („Grundsätze für die Integration der Sicherheit“) dieses Anhangs, allgemeiner die Berücksichtigung von Risiken, die bei „vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung“ oder bei „jede[r] vernünftigerweise vorhersehbare[n] Fehlanwendung“ bestehen; Letztere wird in Nr. 1.1.1 dieses Anhangs definiert als „Verwendung einer Maschine in einer laut Betriebsanleitung nicht beabsichtigten Weise, die sich jedoch aus leicht absehbarem menschlichem Verhalten ergeben kann“.
57 Angesichts des Wortlauts von Nr. 1.1.2 Buchst. a des Anhangs I der Richtlinie 2006/42 ist im Übrigen festzustellen, dass „Risiken“, die mit der Installation, der Wartung oder dem Betrieb der betreffenden Maschine zusammenhängen, sei es im Rahmen bestimmungsgemäßer Verwendung oder im Rahmen einer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung, die Anwendung der Schutzklausel gemäß Art. 11 dieser Richtlinie rechtfertigen können. Jedoch verlangt dieser Artikel, dass das Risiko „festgestellt“ wird, mit dem die Anwendung dieser Bestimmung begründet wird, und dass daher der Mitgliedstaat, der sich darauf beruft, das tatsächliche Vorliegen eines solchen Risikos rechtlich hinreichend dartut. Fehlt es an einem solchen Nachweis, kann die Beeinträchtigung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs durch die nationale Maßnahme, die aufgrund der von dieser Bestimmung vorgesehenen Schutzklausel erlassen worden ist, nicht als „gerechtfertigt“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 5. März 2009, Kommission/Spanien, C‑88/07, Slg, EU:C:2009:123, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Schließlich ist festzustellen, dass das Vorliegen einer Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit von Personen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/42 außer nach Maßgabe anderer Kriterien im Licht der grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen beurteilt werden kann, die die Hersteller von Maschinen gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Anhang I dieser Richtlinie beachten müssen (siehe entsprechend Urteil Klein/Kommission, oben in Rn. 46 angeführt, EU:C:2015:252, Rn. 71). Denn die Erfüllung dieser Anforderungen, die aufgestellt wurden, um zu gewährleisten, dass bei der Konstruktion und dem Bau der Maschinen die mit diesen verbundenen Risiken berücksichtigt werden („Allgemeine Grundsätze“ zu Beginn des Anhangs I dieser Richtlinie und Nr. 1.1.2 dieses Anhangs), ist Voraussetzung für das Inverkehrbringen dieser Maschinen (Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie). Deren Nichterfüllung kann zur Begründung einer Maßnahme geltend gemacht werden, mit der die Maschine aus dem Verkehr gezogen oder ihr Betrieb untersagt wird (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie).
59 Im vorliegenden Fall ist die Kommission, den dänischen Behörden folgend, somit rechtsfehlerfrei zu der Auffassung gelangt, dass bei der Beurteilung des mit der Multione S630 verbundenen Risikos nicht nur die bestimmungsgemäße Verwendung dieser Maschine, sondern auch jede vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung zu berücksichtigen sei. Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat sie ausgeführt, dass diese Beurteilung im Licht der grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen im Sinne der Nrn. 1.1.2 und 3.4.4 des Anhangs I der Richtlinie 2006/42 habe erfolgen können (Erwägungsgründe 3 und 6 bis 7 des angefochtenen Beschlusses).
60 Auch wenn diese Beurteilung konkret in Bezug auf die Multione S630, wie sie von der Klägerin ausgerüstet und in Dänemark in Verkehr gebracht worden war (siehe oben, Rn. 54 und 55), vorzunehmen war, hinderte das die zuständigen Behörden nicht daran, die Risiken zu berücksichtigen, die sich aus der Möglichkeit ergeben, diese Maschine, die ohne geeigneten Schutzaufbau gegen die Gefahr herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials in Verkehr gebracht wurde, später mit anderen Ausrüstungen zu versehen, die einen solchen Aufbau notwendig machen. Dies zu berücksichtigen ist im Gegenteil zulässig, sofern dargetan wird, dass es sich hier um eine vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung handelt und diese ein tatsächliches Risiko für die Sicherheit von Personen beinhaltet (siehe oben, Rn. 56 und 57).
61 Drittens sind die Parteien unterschiedlicher Ansicht über die Tragweite der grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen im Sinne von Nr. 3.4.4 des Anhangs I der Richtlinie 2006/42.
62 Nr. 3 des Anhangs I der Richtlinie 2006/42 nennt eine Reihe von grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen, die Maschinen betreffen, von denen aufgrund ihrer Beweglichkeit Gefährdungen ausgehen. Diese Anforderungen und die allgemeinen Anforderungen nach Nr. 1 dieses Anhangs ergänzen sich. Aus den Nrn. 3 und 4 der „Allgemeine[n] Grundsätze“ zu Beginn dieses Anhangs folgt, dass diese Maschinen grundsätzlich allen diesen allgemeinen und besonderen Anforderungen entsprechen müssen.
63 Nach Nr. 3.4.4 des Anhangs I der Richtlinie 2006/42 muss, wenn „bei einer selbstfahrenden Maschine mit aufsitzendem Fahrer und mitfahrendem anderem Bedienungspersonal oder anderen mitfahrenden Personen ein Risiko durch herabfallende Gegenstände oder herabfallendes Material [besteht], … die Maschine entsprechend konstruiert und, sofern es ihre Abmessungen gestatten, mit einem entsprechenden Schutzaufbau versehen sein“.
64 Wie die Kommission zu Recht vorträgt, muss die Tragweite dieser besonderen Anforderung im Licht der in der Richtlinie 2006/42 genannten allgemeinen Anforderungen, insbesondere von Nr. 1 der „Allgemeine[n] Grundsätze“ zu Beginn ihres Anhangs I sowie der „Grundsätze für die Integration der Sicherheit“ im Sinne von Nr. 1.1.2 dieses Anhangs ausgelegt werden. Aus diesen Bestimmungen geht zunächst klar hervor, dass Maschinen, die in der Union in den Verkehr gebracht werden sollen, so konstruiert und gebaut sein müssen, dass sie „unter den vorgesehenen Bedingungen – aber auch unter Berücksichtigung einer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung der Maschine – [ihrer Funktion gerecht werden], ohne dass Personen einer Gefährdung ausgesetzt sind“, und allgemeiner, „dass eine nicht bestimmungsgemäße Verwendung verhindert wird, falls diese ein Risiko mit sich bringt“. Andere Bestimmungen dieses Anhangs, einschließlich der Nr. 1.1.7 („Bedienungsplätze“), weisen in dieselbe Richtung. Sodann „müssen“ die dazu getroffenen Maßnahmen „darauf abzielen, Risiken … zu beseitigen“. Schließlich muss der Hersteller, der bei der „der Wahl der angemessensten Lösungen“ freie Hand hat, um dieser Verpflichung nachzukommen, dennoch eine bestimmte Rangfolge einhalten: Vorrangig ist er zur „Beseitigung oder Minimierung der Risiken so weit wie möglich (Integration der Sicherheit in Konstruktion und Bau der Maschine)“ verpflichtet, subsidiär zum „Ergreifen der notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Risiken, die sich nicht beseitigen lassen“, und ergänzend zur „Unterrichtung der Benutzer über die Restrisiken aufgrund der nicht vollständigen Wirksamkeit der getroffenen Schutzmaßnahmen“.
65 In Anbetracht der Vorrangigkeit des Ziels der „[möglichst weitgehenden] Beseitigung oder Minimierung“ der mit der „bestimmungsgemäße[n] Verwendung“ und „jede[r] vernünftigerweise vorhersehbare[n] Fehlanwendung“ verbundenen Risiken bereits bei der „Konstruktion und [dem] Bau von Maschinen“ sowie „der Vermeidung ihrer nicht bestimmungsgemäßen Verwendung“ und des „Ergreifen[s] der notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Risiken, die sich nicht beseitigen lassen“, ist festzustellen, dass eine Maschine, die wie im vorliegenden Fall je nach den verschiedenen auswechselbaren Ausrüstungen, die an ihr angebracht werden können, für eine Vielzahl unterschiedlicher Verwendungszwecke geeignet ist, vor jedem Inverkehrbringen oder jeder Inbetriebnahme mit einem geeigneten Schutzaufbau ausgestattet sein muss, wenn festgestellt wird, dass die vom Käufer beabsichtigte bestimmungsgemäße Verwendung im konkreten Fall zwar selbst kein Risiko von herabfallenden Gegenständen oder herabfallendem Material mit sich bringt, eine der anderen vernünftigerweise vorhersehbaren Verwendungen, für die die Maschine geeignet ist, aber mit einem solchen Risiko verbunden sein kann. Eine solche Maßnahme gehört nämlich zu jenen Maßnahmen, die auf die „[möglichst weitgehende] Beseitigung oder Minimierung der Risiken …“ abzielen, indem der „Aspekt der Sicherheit in die Konstruktion und den Bau von Maschinen einbezogen wird“.
66 Keines der weiteren bisher noch nicht geprüften Argumente der Klägerin kann dieses Ergebnis in Frage stellen.
67 Insbesondere kann sich die Klägerin auch nicht auf den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/296/EWG des Rates vom 26. Mai 1986 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Schutzaufbauten gegen herabfallende Gegenstände (FOPS) bestimmter Baumaschinen (ABl. L 186, S. 10) berufen, der vorsieht, dass „die in Artikel 1 genannten Baumaschinen nur in den Verkehr gebracht werden können, wenn sie so ausgelegt sind, dass sie mit einem [EG]-Schutzaufbau ausgerüstet werden können. Als Baumaschinen, die so ausgelegt sind, dass sie mit einem [EG]-Schutzaufbau ausgerüstet werden können, gelten Baumaschinen, die mit einem Überrollschutzaufbau (ROPS) ausgerüstet sind, an dem der vorgenannte [EG]-Schutzaufbau befestigt werden kann“. Zum einen ist diese Richtlinie nämlich nicht mehr in Kraft, und zum anderen wurde diese Bestimmung, auch wenn sie ursprünglich unverändert in Nr. 3.4.4 des Anhangs I der Richtlinie 98/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Maschinen (ABl. L 207, S. 1) übernommen wurde, im Rahmen der Arbeiten, die zum Erlass der Richtlinie 2006/42 führten, geändert und schreibt nunmehr die Anbringung eines Schutzaufbaus gegen herabfallende Gegenstände oder herabfallendes Material vor (siehe oben, Rn. 63 bis 65).
68 Ebenso wenig kann die Klägerin die in der Richtlinie 2006/42 vorgesehenen Informationspflichten erfolgreich ins Feld führen.
69 Zwar enthalten die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen, denen die Hersteller gemäß der Richtlinie 2006/42 nachkommen müssen, wie sich insbesondere aus den Nrn. 1.7.4.1 und 1.7.4.2 ihres Anhangs I ergibt, die Verpflichtung, diesen Maschinen eine Betriebsanleitung beizulegen, die ihre bestimmungsgemäße Verwendung unter Berücksichtigung ihrer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung beschreibt, die den Bediener vor Fehlanwendungen warnt, zu denen es erfahrungsgemäß kommen kann, und die eine Anleitung für die vom Benutzer zu treffenden Schutzmaßnahmen enthält. Für den besonderen Fall, dass von Maschinen aufgrund ihrer Beweglichkeit Gefährdungen ausgehen, müssen im Übrigen nach Nr. 3.6.3.2 dieses Anhangs, wenn „eine Maschine je nach Ausrüstung verschiedene Verwendungen [gestattet], … ihre Betriebsanleitung und die Betriebsanleitungen der auswechselbaren Ausrüstungen die Angaben enthalten, die für eine sichere Montage und Benutzung der Grundmaschine und der für sie vorgesehenen auswechselbaren Ausrüstungen notwendig sind“. Im vorliegenden Fall legt die Klägerin im Einzelnen die Gründe für ihren Standpunkt dar, dass sie dieser Verpflichtung nachgekommen sei, wobei die Kommission weder dem diesbezüglichen Vorbringen der Klägerin entgegentritt noch gegen die dafür vorgelegten Beweise Einwände erhebt.
70 Jedoch lässt die Beachtung dieser Anforderung die vorrangige Verpflichtung der Hersteller von Maschinen unberührt, bei deren Konstruktion und Bau den Sicherheitsaspekt einzubeziehen, indem sie die Risiken, die mit ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung oder ihrer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung verbunden sind, soweit wie möglich beseitigen oder vermindern, wie dies aus Nr. 1.7.4.2 Buchst. l des Anhangs I der Richtlinie 2006/42 folgt und worauf das Königreich Dänemark hingewiesen hat. Mit anderen Worten verpflichtet die Richtlinie die Hersteller nicht nur dazu, ihre Kunden vor den Risiken zu warnen, die mit vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendungen der Maschinen verbunden sind, die sie an diese verkaufen, was die Klägerin nach eigener Aussage getan hat. Sie verlangt von ihnen auch, bereits im Stadium der Konstruktion und des Baus dieser Maschinen soweit wie möglich solche Risiken zu beseitigen oder zu vermindern, wie die Kommission ausgeführt hat.
71 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Kommission keinen Rechtsfehler begangen hat, als sie, den dänischen Behörden folgend, davon ausgegangen ist, dass die von den Maschinenherstellern ergriffenen Maßnahmen zum Ziel haben müssten, bereits im Stadium der Konstruktion und des Baus der Maschinen jedes Risiko auszuschließen, zu dem ihre bestimmungsgemäße Verwendung oder ihre vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung führen könnte. Ebensowenig hat sie einen Rechtsfehler begangen, als sie im Wesentlichen die Ansicht vertreten hat, dass, wenn festgestellt werde, dass eine Mehrzweckmaschine wie die im vorliegenden Fall den Bediener im Rahmen einer ihrer bestimmungsgemäßen Verwendungen oder einer ihrer vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendungen dem Risiko herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials aussetze, diesem Risiko Rechnung getragen werden müsse, indem an dieser Maschine vor jedem Inverkehrbringen oder jeder Inbetriebnahme ein Schutzaufbau angebracht werde (Erwägungsgründe 3 und 4 sowie 6 und 7 des angefochtenen Beschlusses).
72 Daher hat die Kommission weder die Bedingungen für die Durchführung der Schutzklausel gemäß Art. 11 der Richtlinie 2006/42 noch das den Mitgliedstaaten in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie auferlegte Verbot einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs missachtet, als sie den angefochtenen Beschluss auf diese Beurteilung gestützt hat. Ebenso wenig hat sie damit gegen die für die Multione S630 nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie geltende Konformitätsvermutung verstoßen, da sich klar aus der Systematik dieser Bestimmung ergibt, dass diese Vermutung die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit unberührt lässt, von der Schutzklausel des Art. 11 Gebrauch zu machen, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile Medipac-Kazantzidis, oben in Rn. 46 angeführt, EU:C:2007:337, Rn. 44 und 46, und vom 19. November 2009, Nordiska Dental, C‑288/08, Slg, EU:C:2009:718, Rn. 23 und 24).
– Zu den Rügen, mit denen Fehler bei der Würdigung des Sachverhalts geltend gemacht werden
73 Daher sind an dritter Stelle die Rügen der Klägerin zu prüfen, die die Stichhaltigkeit der Beurteilung der Kommission betreffen, wonach die Maßnahmen der dänischen Behörden aufgrund des mit ihrer Maschine verbundenen Risikos gerechtfertigt seien.
74 Insoweit wird in dem angefochtenen Beschluss zunächst festgestellt, dass die dänischen Behörden zu Recht die Auffassung vertreten hätten, dass die Multione S630, auch wenn sie ursprünglich für den Einsatz unter Bedingungen konzipiert worden sei, unter denen kein Risiko von herabfallenden Gegenständen oder herabfallendem Material bestehe, wahrscheinlich doch auch unter anderen Bedingungen verwendet werde, die ihren Bediener einem solchen Risiko aussetzten (Erwägungsgründe 4 und 7). Des Weiteren war die Kommision der Auffassung, dass die Prüfung der Erklärungen der Klägerin ein solches Risiko bestätige (achter Erwägungsgrund).
75 Erstens ist im Einklang mit der von der Klägerin im Wesentlichen vertretenen Auffassung festzustellen, dass diese Begründung, kurzgefasst wie sie ist, im Kontext des Verfahrens ausgelegt werden muss, das mit dem angefochtenen Beschluss abgeschlossen worden ist, und dahin zu verstehen ist, dass die Kommission die zuvor von den dänischen Behörden vorgenommene Würdigung gebilligt hat, nachdem sie diese im Licht der Erklärungen geprüft hatte, die die Klägerin nach Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2006/42 mitgeteilt hat und die im fünften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zusammengefasst sind.
76 Die Kommission kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, die Argumente, mit denen die Klägerin die Feststellungen zur Begründung der in Bezug auf die Multione S630 ergriffenen Maßnahmen in Frage stelle, gingen im Wesentlichen ins Leere, da sie nicht den angefochtenen Beschluss, sondern den zuvor von den dänischen Behörden vertretenen Standpunkt beträfen. Ließe man ein solches Argument gelten, führte dies im Übrigen dazu, dass man die Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses ohne Berücksichtigung des Kontexts beurteilte, durch den dieser Beschluss verständlich wird, und dass von Amts wegen festgestellt würde, dass angesichts der oben in Rn. 74 wiedergegebenen Begründung das Gericht nicht in der Lage ist, die Begründetheit dieses Rechtsakts zu prüfen, und ihn daher wegen Begründungsmangel für nichtig erklären muss.
77 Zweitens lässt sich aus dem angefochenen Beschluss klar entnehmen, dass die Kommission die Erklärungen der Klägerin nicht unberücksichtigt gelassen hat, deren Inhalt sie korrekt zusammengefasst hat. Der Beschluss zeigt auch, dass die Kommission den Standpunkt der dänischen Behörden nicht blind übernommen hat, sondern kurz, aber verständlich, unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem sie ihre Ansicht vertreten hat, die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe erläutert hat, die sie zu der Feststellung veranlassten, dass die Maßnahmen dieser Behörden gerechtfertigt seien. Das Vorbringen der Klägerin zu diesem Punkt ist daher zurückzuweisen.
78 Drittens ist zu den Argumenten der Kommission und des Königreichs Dänemark zur Intensität, mit der das Gericht prüfen muss, ob die Würdigung des Sachverhalts in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ist, sowie zu den Einwänden der Klägerin hiergegen zunächst festzustellen, dass die Richtlinie 2006/42 zum Ziel hat, die Bedingungen zu harmonisieren, unter denen die von ihr erfassten Maschinen im Binnenmarkt in Verkehr gebracht werden, und ihren freien Verkehr innerhalb der Union sicherzustellen, gleichzeitig aber auch die Beachtung aller Anforderungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit von Personen im Hinblick auf die sich aus der Verwendung dieser Maschinen ergebenden Risiken gewährleisten soll (oben, Rn. 25).
79 Zu diesem Zweck begründet die Richtlinie 2006/42 ein System der Überwachung und Regulierung des Binnenmarkts, in dem in erster Linie die zuständigen nationalen Behörden zu beurteilen haben, ob eine Maschine die Gesundheit oder Sicherheit von Personen zu gefährden droht (siehe oben, Rn. 19 sowie 26 und 27), und, wenn diese Frage zu bejahen ist, die Maßnahmen ergreifen müssen, die erforderlich sind, um die Maschine aus dem Verkehr zu ziehen oder zu verbieten. Die zu diesem Zweck in Art. 11 der Richtlinie 2006/42 vorgesehene Schutzklausel muss in Zusammenhang mit Art. 114 Abs. 10 AEUV gesehen werden, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, aus einem oder mehreren der in Art. 36 AEUV genannten nicht wirtschaftlichen Gründe (siehe oben, Rn. 45), zu denen der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gehört, solche Maßnahmen zu treffen. Dies kann von den zuständigen nationalen Behörden komplexe Beurteilungen technischer oder wissenschaftlicher Art verlangen (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Januar 1999, Upjohn, C‑120/97, Slg, EU:C:1999:14, Rn. 33 und 35).
80 Die Kommission muss ihrerseits im Rahmen dieser Regelung prüfen, ob die von den Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gerechtfertigt sind (siehe oben, Rn. 20 und 46). Jedoch haben die Unionsgerichte im Zusammenhang mit der Richtlinie 91/414/EWG des Rates vom 15. Juli 1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (ABl. L 230, S. 1), die eine institutionelle und verfahrensrechtliche Regelung vorsieht, die sich zwar von derjenigen der Richtlinie 2006/42 unterscheidet, aber ein vergleichbares Ziel verfolgt, bereits entschieden, dass der Kommission, damit sie das ihr gesetzte Ziel wirksam verfolgen kann und im Hinblick darauf, dass sie komplexe technische Beurteilungen vorzunehmen hat, in diesem Rahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen ist (Urteile vom 18. Juli 2007, Industrias Químicas del Vallés/Kommission, C‑326/05 P, Slg, EU:C:2007:443, Rn. 75, und vom 9. September 2011, Dow AgroSciences u. a./Kommission, T‑475/07, Slg, EU:T:2011:445, Rn. 86 und 150). Ein gleiches Ermessen haben sie der Kommission zugesprochen, wenn sie Maßnahmen zu prüfen hat, die von einem Mitgliedstaat nicht im Rahmen einer Richtlinie erlassen wurden, die wie im vorliegenden Fall eine Schutzklausel im Sinne von Art. 114 Abs. 10 AEUV vorsieht, sondern im Rahmen einer Regelung nach den Abs. 4 bis 6 dieses Artikels (Urteil vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission, C‑405/07 P, Slg, EU:C:2008:613, Rn. 54).
81 Bei der Kontrolle eines weiten Ermessensspielraums muss der Unionsrichter im Rahmen der ihm unterbreiteten Klagegründe prüfen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (Urteile Industrias Químicas del Vallés/Kommission, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2007:443, Rn. 76, und Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Rn. 80 angeführt, EU:T:2011:445, Rn. 151).
82 Insbesondere muss er unter Berücksichtigung des Vorbringens der Parteien die sachliche Richtigkeit der zur Untermauerung des angefochtenen Beschlusses vorgebrachten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen und kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen (Urteile Niederlande/Kommission, oben in Rn. 80 angeführt, EU:C:2008:613, Rn. 55, und Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Rn. 80 angeführt, EU:T:2011:445, Rn. 153).
83 Zur Risikobeurteilung, die der betreffende Mitgliedstaat vorzunehmen hat, bevor er unter Kontrolle der Kommission die in Art. 11 der Richtlinie 2006/42 vorgesehenen Maßnahmen ergreift, macht die Klägerin sodann zu Recht geltend, dass diese aus der Sicht eines durchschnittlichen und angemessen aufmerksamen und verständigen Benutzers zu erfolgen hat, was die Kommision im Übrigen nicht bestreitet. Denn die Befugnis, die dieser Artikel den nationalen Behörden zuerkennt, stellt eine Ausnahme von dem durch die Richtlinie niedergelegten Grundsatz des freien Warenverkehrs dar und ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein Risiko vorliegt, das mit der „bestimmungsgemäßen“ Verwendung oder der „vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung“ der in Rede stehenden Maschine verbunden ist, wobei diese Fehlanwendung in Nr. 1.1.1 Buchst. i des Anhangs I dieser Richtlinie als eine Verwendung definiert ist, „die sich … aus leicht absehbarem menschlichem Verhalten ergeben kann“. In diesem Zusammenhang trägt der Umstand, dass die nationalen Behörden das tatsächliche Vorliegen eines solchen Risikos aus der konkreten Sicht eines durchschnittlichen und angemessen sorgfältigen Benutzers und nicht abstrakt beurteilen, dazu bei, dass gewährleistet ist, dass sie den freien Verkehr mit Maschinen nicht ungerechtfertigt im Sinne von Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie beeinträchtigen (siehe oben, Rn. 54 und 57).
84 Wenn jedoch unter Bezugnahme auf einen durchschnittlichen und angemessen sorgfältigen Benutzer rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, das ein solches Risiko vorliegt, ist entgegen dem Vorbringen der Klägerin die vorherige Unterrichtung des Benutzers über dieses Risiko angesichts der in der Richtlinie 2006/42 festgelegten Rangfolge von Schutz- und Informationspflichten, die die Richtlinie den Maschinenherstellern auferlegt (siehe oben, Rn. 64 und 71), und angesichts der mit der Nichtbeachtung dieser Pflichten verbundenen Folgen (siehe oben, Rn. 58) an und für sich unerheblich.
85 Es ist daher ausgehend von einem durchschnittlichen und angemessen sorgfältigen Benutzer festzustellen, ob die Kommission im vorliegenden Fall rechtsfehlerfrei zu der Ansicht gelangen konnte, dass die dänischen Behörden die Maßnahmen, die sie in Bezug auf die Multione S630 getroffen haben, mit einem Risiko für die Sicherheit der Benutzer wegen Fehlens eines geeigneten Schutzaufbaus gegen herabfallende Gegenstände oder herabfallendes Material gerechtfertigt haben.
86 Insoweit vertreten die dänischen Behörden im Wesentlichen die Auffassung, dass auch in dem Fall, dass die Multione S630 zusammen mit einer Ausrüstung gekauft worden sei, die ihre Benutzer bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht dem Risiko herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials aussetze, ein solches Risiko gleichwohl aus drei Gründen bestanden habe. Zunächst sei es vernünftigerweise vorhersehbar, dass die betreffenden Personen später, ohne die Klägerin einzuschalten, auf dem Gebrauchtmarkt eine mit einem solchen Risiko verbundene Ausrüstung kaufen würden. Sodann sei vernünftigerweise vorhersehbar, dass ein Kunde der Klägerin mehrere Exemplare dieser Maschine besitze, sie sowohl für gefahrenfreie als auch für gefahrenträchtige Verwendungen bestimme und sie am Ende unterschiedslos einsetze, ohne dass die Klägerin dies verhindern könne. Schließlich sei der Benutzer, auch wenn die bestimmungsgemäße Verwendung dieser Maschine an sich mit keinem Risiko verbunden sei, in bestimmten Bereichen, in denen sie eingesetzt werde, z. B. für Arbeiten in der Landwirtschaft oder für Erdbewegungen, gleichwohl einem vernünftigerweise vorhersehbaren Risiko herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials ausgesetzt.
87 Die Kommission hat alle diese Feststellungen im Wesentlichen als zutreffend angesehen.
88 Die Klägerin kann die erste dieser Feststellungen nicht mit Erfolg widerlegen. Denn sie beschränkt sich im Wesentlichen auf das Vorbringen, dass diese Feststellung aus zwei Gründen „nicht entscheidungserheblich erscheint“. Zum einen werde dem Besitzer einer Multione S630 in der beigefügten Betriebsanleitung aufgegeben, einen entsprechenden Schutzaufbau anzubringen, wenn er gesondert eine Ausrüstung erwerbe, die mit dem Risiko herabfallender Gegenstände oder herabfallenden Materials verbunden sei, und sich zu diesem Zweck an einen Verkäufer oder eine Werkstatt mit entsprechender Zulassung zu wenden. Zum anderen bringe diese Maschine wie jedes technisch etwas kompliziertere Produkt verschiedene Risiken mit sich, wenn bei ihrer Benutzung nicht die Anweisungen beachtet würden, die in der zugehörigen, vom Benutzer zu befolgenden Betriebsanleitung enthalten seien. Abgesehen davon, dass diese Argumente offensichtlich auf der Voraussetzung beruhen, dass das von den dänischen Behörden festgestellte Risiko tatsächlich besteht, kann ihnen, wie die Kommission ausgeführt hat, angesichts der in der Richtlinie 2006/42 festgelegten Rangfolge der den Maschinenherstellern auferlegten Schutz- und Informationspflichten kein Erfolg beschieden sein (siehe oben, Rn. 84).
89 Die Klägerin kann auch nicht die zweite Feststellung der dänischen Behörden, der die Kommission zugestimmt hat, entkräften, gegen die sie lediglich die gleichen Argumente vorbringt.
90 Da diese Argumente keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler zutage fördern, braucht die dritte Feststellung zur Begründung der von den dänischen Behörden ergriffenen Maßnahmen, die die Kommission für gerechtfertigt erklärt hat, nicht mehr geprüft zu werden. Denn selbst wenn die letzten Argumente zutreffend wären, wäre der angefochtene Beschluss dennoch aus den soeben dargelegten Gründen gerechtfertigt. Daher erübrigt sich die Einholung eines von der Klägerin dazu beantragten Gutachtens.
91 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der vorliegende Klagegrund in vollem Umfang zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund des Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
92 Die Klägerin bringt im Wesentlichen vor, der angefochtene Beschluss verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da in ihm die Maßnahmen der dänischen Behörden für gerechtfertigt erklärt würden, obwohl diese Maßnahmen ausschließlich die Exemplare der Multione S630 beträfen, die auf dem dänischen Markt in Verkehr gebracht worden seien, und nicht jene Tausende von vergleichbaren Mehrzweckmaschinen, die auf diesem Markt in Betrieb genommen worden seien.
93 Die Kommission tritt, unterstützt vom Königreich Dänemark, diesem Vorbringen entgegen.
94 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteile vom 13. Dezember 1984, Sermide, 106/83, Slg, EU:C:1984:394, Rn. 28, vom 11. Juli 2006, Franz Egenberger, C‑313/04, Slg, EU:C:2006:454, Rn. 33, und vom 3. September 2009, Cheminova u. a./Kommission, T‑326/07, Slg, EU:T:2009:299, Rn. 214).
95 Im vorliegenden Fall betrifft der von der Klägerin gegen die Kommission erhobene Vorwurf eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz im Wesentlichen den Umstand, dass die Kommission die von den dänischen Behörden in Bezug auf die Multione S630 getroffenen Maßnahmen für gerechtfertigt erklärt habe, ohne vorher geprüft zu haben, ob diese Maßnahmen nicht diskriminierend seien, wo sie doch ausschließlich gegen diese Maschine und nicht gegen Tausende von vergleichbaren Maschinen gerichtet gewesen seien, die auf dem dänischen Markt in Betrieb genommen worden seien.
96 Die Kommission hat, unterstützt durch das Königreich Dänemark, die tatsächlichen Gründe für ihre Annahme dargelegt, dass die Maschinen, die von den dänischen Behörden vor dem Erlass der gegen die Multione S630 gerichteten Maßnahmen untersucht worden sind, sich in unterschiedlichen Situationen befunden hätten, so dass jede von den Behörden anders hätte behandelt werden müssen. Die Klägerin hat diese Tatsachen in ihrer Erwiderung nicht bestritten, jedoch geltend gemacht, sie sprächen nicht gegen die Richtigkeit ihrer Argumentation. Somit ist ist nicht der Nachweis erbracht worden, dass die Kommission im Rahmen dieser Untersuchung den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt hat.
97 Dagegen hat, wie die Klägerin vorgetragen hat, weder die Kommission in der Klagebeantwortung oder in der Gegenerwiderung noch das Königreich Dänemark in seinem Streithilfeschriftsatz bestritten, dass Tausende von Maschinen, die mit der Multione S630 vergleichbar seien und von anderen Herstellern als denen in Verkehr gebracht worden seien, die von der Untersuchung durch die dänischen Behörden betroffen gewesen seien, schon seit Langem auf dem dänischen Markt in Betrieb gewesen seien. Auch dieser Umstand kann daher als nachgewiesen erachtet werden, ohne dass es der Einholung eines Gutachtens bedarf, das die Klägerin für den Fall des Bestreitens beantragt hat. Die Kommission hat dazu lediglich geltend gemacht, dass dies unerheblich sei, da sie zu der Prüfung, die versäumt zu haben ihr von der Klägerin vorgeworfen werde, nicht verpflichtet gewesen sei. Es ist daher der Umfang der Prüfung zu bestimmen, die die Kommission im vorliegenden Fall vornehmen musste.
98 Erstens ist nach ständiger Rechtsprechung in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, jede einschlägige nationale Maßnahme anhand der Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen (Urteile vom 12. Oktober 1993, Vanacker und Lesage, C‑37/92, Slg, EU:C:1993:836, Rn. 9, und vom 16. Oktober 2014, Kommission/Deutschland, C‑100/13, EU:C:2014:2293, Rn. 62). Diese Rechtsprechung kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn die betreffende Maßnahme nicht einen Rechtsakt mit Gesetzes- oder Verordnungscharakter, sondern wie im vorliegenden Fall eine Individualmaßnahme darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil AGM-COS.MET, oben in Rn. 25 angeführt, EU:C:2007:213, Rn. 49 bis 51).
99 Zweitens hat die Richtlinie 2006/42 eine abschließende Harmonisierung der Regelungen auf Unionsebene herbeigeführt, die nicht nur die grundlegenden Sicherheitsanforderungen für Maschinen und die Bescheinigung der Konformität dieser Maschinen mit diesen Anforderungen betreffen, sondern auch die möglichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Maschinen, bei denen von der Konformität mit diesen Anforderungen ausgegangen wird (Urteil AGM-COS.MET, oben in Rn. 25 angeführt, EU:C:2007:213, Rn. 53). Daher ist anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2006/42 zu prüfen, ob die Kommission, wie die Klägerin im Wesentlichen vorträgt, gegen ihre Verpflichtungen verstoßen hat, indem sie nicht untersucht hat, ob die dänischen Behörden die Maßnahmen im vorliegenden Fall unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erlassen haben, oder ob es, wie die Kommission meint, nicht zu ihren Aufgaben gehört, eine solche Kontrolle durchzuführen.
100 Drittens hat Art. 11 der Richtlinie 2006/42 der Kommission nicht die Aufgabe übertragen, in jeder Hinsicht die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nationaler Behörden zu kontrollieren, wenn diese feststellen, dass Maschinen die Gesundheit oder die Sicherheit von Personen zu gefährden drohen. Denn wie sich aus dem 25. Erwägungsgrund und aus Art. 20 der Richtlinie ergibt, obliegt eine solche Kontrolle den nationalen Gerichten.
101 Viertens muss, auch wenn Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2006/42 lediglich vorsieht, dass die Kommission prüft, ob die Maßnahmen der Mitgliedstaaten „gerechtfertigt“ sind oder nicht, diese Verpflichtung aufgrund der Systematik dieses Artikels im Zusammenhang mit den Verpflichtungen gesehen werden, die nach den Abs. 1 und 2 dieses Artikels zuvor den nationalen Behörden obliegen. In diesem Rahmen bezieht sich die von der Kommission vorzunehmende Prüfung in erster Linie auf die Frage, ob die Gründe, die der Mitgliedstaat als Urheber einer Maßnahme bei seiner Mitteilung an die Kommission anführt und die sich insbesondere auf die „Nichterfüllung einer der grundlegenden Anforderungen“ im Sinne dieser Richtlinie (Abs. 2) beziehen können, in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht die Annahme rechtfertigen, dass eine Maschine „die Sicherheit und Gesundheit von Personen … zu gefährden droht“ (Abs. 1).
102 Im Übrigen kann der Unionsgesetzgeber nach Art. 114 Abs. 10 AEUV Schutzklauseln wie die von Art. 11 der Richtlinie 2006/42 eingeführte vorsehen, die die Mitgliedstaaten ermächtigen, „aus einem oder mehreren der in Artikel 36 AEUV genannten nicht wirtschaftlichen Gründe“ vorläufige Maßnahmen zu treffen, die einem Kontrollverfahren der Union unterliegen (siehe oben, Rn. 45 und 79).
103 Art. 114 Abs. 10 AEUV verweist damit auf die „Gründe“ im Sinne von Art. 36 Satz 1 AEUV, bezieht sich dagegen nicht auf den Art. 36 Satz 2, wonach die Verbote und Beschränkungen, die aus diesen Gründen gerechtfertigt sein können, „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen [dürfen]“. Er weicht damit von Art. 114 Abs. 4 bis 6 ab, die Bestimmungen betreffen, die ein Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme im Sinne von Abs. 1 erlassen oder beibehalten kann. Nur diese letztgenannten Absätze übertragen der Kommission die Aufgabe, unabhängig von der Frage, ob die Maßnahmen des betreffenden Mitgliedstaats je nach Fall durch „wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 [AEUV]“ oder durch „Gründe“, die mit „de[m] Schutz der Arbeitsumwelt oder de[m] Umweltschutz“ zusammenhängen, gerechtfertigt sind oder nicht, zu kontrollieren, ob diese Maßnahmen im Übrigen nicht „ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung und eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen“ (vgl. Urteile vom 20. März 2003, Dänemark/Kommission, C‑3/00, Slg, EU:C:2003:167, Rn. 57, 118 und 123 bis 126, und vom 9. Dezember 2010, Polen/Kommission, T‑69/08, Slg, EU:T:2010:504, Rn. 59, zu Art. 95 EG; Urteile Frankreich/Kommission, oben in Rn. 25 angeführt, EU:C:1994:196, Rn. 27, und vom 21. Januar 2003, Deutschland/Kommission, C‑512/99, Slg, EU:C:2003:40, Rn. 38 bis 41, 44, 86 und 89, zu Art. 100a EG).
104 Unter diesen Umständen ist, wie die Kommission ausgeführt hat, festzustellen, dass Art. 11 der Richtlinie 2006/42 sie in dem besonderen Rahmen der Prüfung, ob die ihr von den Mitgliedstaaten mitgeteilten Maßnahmen gerechtfertigt sind oder nicht, nicht zu der Prüfung verpflichtet, ob diese Maßnahmen im Übrigen mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz in Einklang stehen.
105 Wenn eine solche Maßnahme im Sinne dieser Bestimmung gerechtfertigt ist, wie sich das im vorliegenden Fall aus der Prüfung des ersten von der Klägerin geltend gemachten Klagegrundes ergibt, kann die Entscheidung, mit der die Kommission sie für gerechtfertigt erklärt, nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden, dass es auf dem in Rede stehenden nationalen Markt Maschinen gebe, die mit der von dieser Maßnahme erfassten Maschine vergleichbar seien, aber unter Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht Gegenstand von ähnlichen Maßnahmen gewesen seien (vgl. entsprechend Urteil vom 11. September 2002, Pfizer Animal Health/Rat, T‑13/99, Slg, EU:T:2002:209, Rn. 479).
106 Wie der Gerichtshof im Übrigen bereits festgestellt hat, befindet sich, soweit eine Substanz im Zeitpunkt des Erlasses einer Richtlinie nicht von den zuständigen Stellen anhand der von dieser Richtlinie aufgestellten Kriterien bewertet worden ist und eigene Merkmale aufweist, eine noch nicht anhand dieser Kriterien bewertete Substanz im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht in der gleichen Situation wie jene, die bereits Gegenstand einer solchen Bewertung war (Urteil vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a., C‑154/04 und C‑155/04, Slg, EU:C:2005:449, Rn. 116 und 117). Auch wenn der Kontext, in dem der angefochtene Beschluss erging, sich von jenem unterscheidet, der für die diesem Urteil zugrunde liegende Rechtssache kennzeichnend war, lässt sich doch im Licht dieses Urteils feststellen, dass sich die Multione S630, soweit sie Gegenstand einer Bewertung und einer von den dänischen Behörden auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/42 getroffenen Maßnahme war, im Hinblick auf die Kontrolle, die von der Kommission gemäß Abs. 3 dieses Artikels vorzunehmen war, in einer Situation befand, die sich von der Situation der auf dem dänischen Markt vorhandenen vergleichbaren Mehrzweckmaschinen unterscheidet.
107 Fünftens ist schließlich festzustellen, dass daraus jedoch nicht folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden, wenn mehrere Maschinen in demselben Mitgliedstaat in Verkehr gebracht worden sind, vergleichbare technische Merkmale haben und zu demselben Risiko für die Gesundheit oder die Sicherheit von Personen führen, willkürlich entscheiden können, nur für einen Teil dieser Maschinen eine Maßnahme festzusetzen, mit der ihr Inverkehrbringen untersagt wird, sie aus dem Verkehr gezogen werden oder der freie Verkehr mit ihnen eingeschränkt wird.
108 Vielmehr ist jeder Unionsrechtsakt, wie sowohl von der Klägerin als auch von der Kommission vorgetragen, im Einklang mit dem gesamten Primärrecht, darunter auch mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung auszulegen (Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, Slg, EU:C:2009:716, Rn. 48, und vom 16. September 2010, Chatzi, C‑149/10, Slg, EU:C:2010:534, Rn. 43). Im Übrigen sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung aller Vorschriften des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch die allgemeine Systematik, der Zusammenhang und die Zielsetzung der Regelung zu berücksichtigen, zu der sie gehören (vgl. Urteil vom 23. November 2006, Lidl Italia, C‑315/05, Slg, EU:C:2006:736, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, die dazu angehalten sind, die im vorliegenden Fall in Rede stehende Richtlinie durchzuführen, nicht nur zur Anwendung der Schutzklausel des Art. 11 befugt, sondern dazu auch verpflichtet sind, wenn sie feststellen, dass Maschinen die Gesundheit oder die Sicherheit von Personen zu gefährden drohen (Urteil AGM-COS.MET, oben in Rn. 25 aufgeführt, EU:C:2007:213, Rn. 62; vgl. auch entsprechend Urteil Klein/Kommission, oben in Rn. 46 angeführt, EU:C:2015:252, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
109 Es widerspräche jedoch nicht nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz, sondern auch dem Ziel der Richtlinie 2006/42, die insbesondere die Bedingungen, unter denen die Maschinen auf dem Binnenmarkt in Verkehr gebracht werden und dort frei verkehren, harmonisieren und gleichzeitig die Gesundheit und die Sicherheit der Personen vor den sich aus der Verwendung der Maschinen ergebenden Risiken schützen soll (siehe oben, Rn. 25 und 78), sowie der allgemeinen Systematik der Regelung, die zur Gewährleistung der korrekten und einheitlichen Anwendung dieser Richtlinie durch die nationalen Behörden (siehe oben, Rn. 26 bis 28 und 79) unter der Kontrolle der Kommission (siehe oben, Rn. 46 und 80) eingeführt wurde, wenn ein Mitgliedstaat in Bezug auf eine Maschine, die die Gesundheit oder die Sicherheit zu gefährden droht, die Schutzklausel des Art. 11 dieser Richtlinie anwenden könnte, bei vergleichbaren Maschinen ohne eine objektive Rechtfertigung aber von einer gleichen Behandlung absehen könnte.
110 Im Übrigen hat der Gesetzgeber, insbesondere um die einheitliche Anwendung der Richtlinie 2006/42 sicherzustellen und in diesem Rahmen den gleichen Schutz der Gesundheit und der Sicherheit von Personen in Bezug auf die in der Union in Verkehr gebrachten Maschinen zu gewährleisten, in Abs. 1 Unterabs. 2 von Art. 9 („Besondere Maßnahmen für Maschinen mit besonderem Gefahrenpotenzial“) der Richtlinie ein besonderes Verfahren geschaffen, das es der Kommission ermöglicht, Maßnahmen zu beschließen, mit denen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, das Inverkehrbringen von Maschinen zu verbieten oder einzuschränken, von denen aufgrund ihrer technischen Eigenschaften die gleichen Risiken ausgehen wie von jener, die Gegenstand einer für gerechtfertigt erklärten nationalen Maßnahme war (siehe oben, Rn. 33). Dieser Artikel erlaubt es der Kommission, nicht nur von dem Mitgliedstaat, der diese Maßnahme erlassen hat, sondern auch von allen anderen Mitgliedstaaten zu verlangen, dass sie alle Maschinen, die innerhalb des Binnenmarkts in Betrieb sind und die aufgrund ihrer technischen Merkmale das gleiche Risiko aufweisen wie die von der betreffenden Maßnahme erfasste Maschine, im Rahmen des Erforderlichen und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer gleichen Behandlung zu unterziehen.
111 Wie im Wesentlichen sowohl von der Kommission als auch von der Klägerin vorgetragen wird, lässt dieses besondere Verfahren zum einen die Möglichkeit des Herstellers der in Rede stehenden Maschine, den Mitgliedstaat, der deren freien Verkehr beschränkt hat, zu ersuchen, entsprechende Maßnahmen auch in Bezug auf vergleichbare Maschinen auf seinem Markt zu ergreifen, und zum anderen die Möglichkeit der Kommission, das Verfahren des Art. 258 AEUV anzuwenden, unberührt.
112 In diesem Rahmen kann die Klägerin mit Erfolg geltend machen, dass die dänischen Behörden, wie sie in ihren Schriftsätzen ausgeführt und wie die Kommission anerkannt hat, die Schutzklausel des Art. 11 der Richtlinie 2006/42 gegenüber zwei in Italien bzw. in Finnland niedergelassenen Herstellern von Mehrzweckmaschinen angewendet haben, die neu in den dänischen Markt eingetreten sind, während sie gegenüber anderen Herstellern, die seit Langem auf diesem Markt tätig sind, nicht in gleicher Weise vorgegangen sind.
113 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und insbesondere des Umstands, dass der angefochtene Beschluss in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2006/42 hinreichend gerechtfertigt ist, ist der zweite Klagegrund zurückzuweisen.
114 Infolgedessen ist der Antrag der Klägerin auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zurückzuweisen, ohne dass über ihren Antrag, erforderlichenfalls ein Gutachten einzuholen, entschieden zu werden braucht.
Zur Rüge, mit der durch den angefochtenen Beschluss verursachte Schäden geltend gemacht werden
115 Die Klägerin macht geltend, der angefochtene Beschluss habe ihr mehrere materielle Schäden zugefügt sowie zu einer Rufschädigung geführt. Aus der Klageschrift ergibt sich jedoch, dass die Klägerin die Rüge nur zur Stützung ihrer Erklärung geltend gemacht hat, dass sie sich die Möglichkeit vorbehalte, einen neuen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu stellen.
116 Die außervertragliche Haftung der Union setzt voraus, dass mehrere Voraussetzungen zusammen erfüllt sind: Erstens muss das von der Klagepartei dem beklagten Organ vorgeworfene Verhalten rechtswidrig sein, zweitens muss ein tatsächlicher und bestimmter Schaden vorliegen und drittens muss ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen dem in Rede stehenden Verhalten und dem geltend gemachten Schaden bestehen. Daraus folgt, dass die Schadensersatzklage, wenn eine der drei kumulativen Voraussetzungen nicht vorliegt, abzuweisen ist, ohne dass geprüft werden müsste, ob die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Urteil vom 10. Mai 2006, Galileo International Technology u. a./Kommission, T‑279/03, Slg, EU:T:2006:121, Rn. 76 und 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).
117 Ohne dass über die Zulässigkeit dieser Rüge im Hinblick auf Art. 76 der Verfahrensordnung des Gerichts entschieden werden müsste, genügt die Feststellung, dass die Klägerin den vorstehenden Ausführungen zufolge nicht nachgewiesen hat, dass die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses erfüllt ist. Daher ist diese Rüge zurückzuweisen.
118 Demgemäß ist die vorliegende Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
119 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
120 Im Übrigen bestimmt Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, dass die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen.
121 Da im vorliegenden Fall die Klägerin unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten aufzuerlegen, die der Kommission im Rahmen der vorliegenden Klage und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz entstanden sind (siehe oben, Nr. 6). Im Übrigen trägt das Königreich Dänemark seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die CSF Srl trägt ihre eigenen Kosten sowie die der Europäischen Kommission im Rahmen der vorliegenden Klage und des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes entstandenen Kosten.
3. Das Königreich Dänemark trägt seine eigenen Kosten.
Papasavvas
Forwood
Bieliūnas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 24. Juni 2015.#Königreich Spanien gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – Kürzung der finanziellen Beteiligung – Berechnungsmethode der Extrapolation – Verfahren zum Erlass der Entscheidung durch die Europäische Kommission – Nichteinhaltung der Frist – Folgen.#Rechtssache C-263/13 P.
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62013CJ0263
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ECLI:EU:C:2015:415
| 2015-06-24T00:00:00 |
Gerichtshof, Szpunar
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0263
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
24. Juni 2015 (*1)
„Rechtsmittel — Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) — Kürzung der finanziellen Beteiligung — Berechnungsmethode der Extrapolation — Verfahren zum Erlass der Entscheidung durch die Europäische Kommission — Nichteinhaltung der Frist — Folgen“
In der Rechtssache C‑263/13 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 14. Mai 2013,
Königreich Spanien, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und A. Steiblytė als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter S. Rodin und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Königreich Spanien die Aufhebung des Urteils Spanien/Kommission (T‑65/10, T‑113/10 und T‑138/10, EU:T:2013:93, im Folgenden: angefochtenes Urteil) des Gerichts der Europäischen Union, mit dem das Gericht seine Klagen auf Nichtigerklärung der Entscheidungen der Kommission C (2009) 9270 vom 30. November 2009, C (2009) 10678 vom 23. Dezember 2009 und C (2010) 337 vom 28. Januar 2010 (im Folgenden zusammen: streitige Entscheidungen) über die Kürzung der Beteiligung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), die im Rahmen des operationellen Programms „Andalusien“ des Ziels 1 (1994–1999) gemäß der Entscheidung C (94) 3456 der Kommission vom 9. Dezember 1994, im Rahmen des operationellen Programms „Baskenland“ des Ziels 2 (1997–1999) gemäß der Entscheidung C (1998) 121 der Kommission vom 5. Februar 1998 und im Rahmen des operationellen Programms „Gemeinschaft Valencia“ des Ziels 1 (1994–1999) gemäß der Entscheidung C (1994) 3043/6 der Kommission vom 25. November 1994 gewährt worden war, abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
2 Nach Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1) ist „[d]er Tatbestand der Unregelmäßigkeit … bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe“.
3 Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.“
4 Der EFRE wurde durch die Verordnung (EWG) Nr. 724/75 des Rates vom 18. Mai 1975 (ABl. L 73, S. 1, und Berichtigung ABl. 1975, L 110, S. 44) geschaffen, die nach mehrfacher Änderung ab dem 1. Januar 1985 durch die Verordnung (EWG) Nr. 1787/84 des Rates vom 19. Juni 1984 betreffend den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. L 169, S. 1) ersetzt wurde.
5 Im Jahr 1988 wurde die Regelung der Strukturfonds durch die Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 des Rates vom 24. Juni 1988 über Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Investitionsbank und der anderen vorhandenen Finanzinstrumente (ABl. L 185, S. 9) umgestaltet.
6 Die Verordnung Nr. 2052/88 trat am 1. Januar 1989 in Kraft und sollte binnen einer Frist, die am 31. Dezember 1993 endete, vom Rat auf Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften überprüft werden.
7 Daher wurde diese Verordnung durch die Verordnung (EWG) Nr. 2081/93 des Rates vom 20. Juli 1993 (ABl. L 193, S. 5) geändert, die ihrerseits vor dem 31. Dezember 1999 überprüft werden sollte.
8 Diese Verordnungen führen die Strukturfonds (den Europäischen Ausrichtungs‑ und Garantiefonds für die Landwirtschaft [EAGFL], Abteilung „Ausrichtung“, den Europäischen Sozialfonds [ESF] und den EFRE) ein, deren Aufgabe es ist, zum Ausgleich der wichtigsten regionalen Ungleichgewichte in der Europäischen Union beizutragen, u. a. durch Förderung der Entwicklung und der strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand (Ziel 1) und Umstellung der Regionen, der Grenzregionen oder der Teilregionen (einschließlich Arbeitsmarktregionen und städtischer Verdichtungsräume), die von der rückläufigen industriellen Entwicklung schwer betroffen sind (Ziel 2).
9 Art. 7 („Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht und Kontrolle“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 2052/88 in der durch die Verordnung Nr. 2081/93 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2052/88) bestimmt:
„Die Aktionen, die Gegenstand einer Finanzierung durch die Strukturfonds oder einer Finanzierung der [Europäischen Investitionsbank (EIB)] oder eines sonstigen vorhandenen Finanzinstruments sind, müssen den Verträgen und den aufgrund der Verträge erlassenen Rechtsakten sowie den Gemeinschaftspolitiken, einschließlich der Wettbewerbsregeln, der Vergabe öffentlicher Aufträge, des Umweltschutzes und der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit für Männer und Frauen entsprechen.“
10 Die Verordnung (EWG) Nr. 4253/88 des Rates vom 19. Dezember 1988 zur Durchführung der Verordnung Nr. 2052/88 hinsichtlich der Koordinierung der Interventionen der verschiedenen Strukturfonds einerseits und zwischen diesen und den Interventionen der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzinstrumente andererseits (ABl. L 374, S. 1) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2082/93 des Rates vom 20. Juli 1993 (ABl. L 193, S. 20) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 4253/88) bestimmt in Art. 23 („Finanzkontrolle“):
„(1) Um den erfolgreichen Abschluss
der von öffentlichen oder privaten Trägern durchgeführten Maßnahmen zu gewährleisten, treffen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Aktionen die erforderlichen Maßnahmen, um
—
regelmäßig nachzuprüfen, dass die von der Gemeinschaft finanzierten Aktionen ordnungsgemäß ausgeführt worden sind,
—
Unregelmäßigkeiten zu verhindern und zu ahnden;
—
infolge von Unregelmäßigkeiten oder Fahrlässigkeit verlorengegangene Beträge zurückzufordern. Falls der Mitgliedstaat [und/oder die zwischengeschaltete Stelle] und/oder der Träger nicht den Nachweis erbringt, dass die Unregelmäßigkeiten oder die Fahrlässigkeit ihnen nicht anzulasten sind, ist der Mitgliedstaat subsidiär für die Zurückzahlung der nicht rechtmäßig gezahlten Beträge verantwortlich. …
Die Mitgliedstaaten setzen die Kommission von den zu diesem Zweck getroffenen Maßnahmen in Kenntnis und übermitteln ihr insbesondere eine Beschreibung der Kontroll‑ und Verwaltungssysteme, die für die wirksame Durchführung der Aktionen eingerichtet worden sind. Sie unterrichten die Kommission regelmäßig über den Verlauf administrativer und gerichtlicher Verfahren.
…
(2) Unbeschadet der von den Mitgliedstaaten gemäß den innerstaatlichen Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften durchgeführten Kontrollen und unbeschadet des Artikels 206 des [EG‑Vertrags] und sonstiger Kontrollmaßnahmen nach Artikel 209 Buchstabe c) des Vertrages können Beamte oder Bedienstete der Kommission vor Ort die Maßnahmen, die aus den Strukturfonds finanziert werden, und die Verwaltungs‑ und Kontrollsysteme insbesondere im Stichprobenverfahren kontrollieren.
…
(3) Die zuständige Stelle und die zuständigen Behörden halten der Kommission nach der letzten Zahlung für eine Aktion drei Jahre lang alle Belege für die im Rahmen der Aktion getätigten Ausgaben und Kontrollen zur Verfügung.“
11 Art. 24 („Kürzung, Aussetzung und Streichung der Beteiligung“) der Verordnung Nr. 4253/88 bestimmt:
„(1) Wird eine Aktion oder eine Maßnahme so ausgeführt, dass die gewährte finanzielle Beteiligung weder teilweise noch insgesamt gerechtfertigt erscheint, so nimmt die Kommission eine entsprechende Prüfung des Falls im Rahmen der Partnerschaft vor und fordert insbesondere den Mitgliedstaat oder die von ihm für die Durchführung der Aktion benannten Behörden auf, sich innerhalb einer bestimmten Frist dazu zu äußern.
(2) Nach dieser Prüfung kann die Kommission die finanzielle Beteiligung an der betreffenden Aktion oder Maßnahme kürzen oder aussetzen, wenn durch die Prüfung bestätigt wird, dass eine Unregelmäßigkeit oder eine erhebliche Veränderung der Art oder der Durchführungsbedingungen der Aktion oder Maßnahme vorliegt und diese Veränderung der Kommission nicht zur Zustimmung unterbreitet wurde.
…“
12 Nach Art. 11 („Kontrolle der Vereinbarkeit“) der Verordnung (EWG) Nr. 4254/88 des Rates vom 19. Dezember 1988 zur Durchführung der Verordnung Nr. 2052/88 in Bezug auf den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. L 374, S. 15) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2083/93 des Rates vom 20. Juli 1993 (ABl. L 193, S. 34) geänderten Fassung „übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission gemäß den spezifischen Verfahren der einzelnen Politiken [gegebenenfalls] die Angaben betreffend die Einhaltung der in Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung … Nr. 2052/88 genannten Bestimmungen“.
13 Nach Anhörung des Beratenden Ausschusses für die Entwicklung und Umstellung der Regionen und des Ausschusses nach Art. 147 EG erließ die Kommission, gestützt auf Art. 23 der Verordnung Nr. 4253/88, mehrere Durchführungsverordnungen, darunter die Verordnung (EG) Nr. 2064/97 vom 15. Oktober 1997 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 4253/88 hinsichtlich der Finanzkontrolle durch die Mitgliedstaaten bei von den Strukturfonds kofinanzierten Maßnahmen (ABl. L 290, S. 1).
14 Art. 8 der Verordnung Nr. 2064/97 sieht vor:
„(1) Spätestens im Zeitpunkt des Antrags auf endgültige Zahlung und der endgültigen Ausgabenerklärung für jede Interventionsform legen die Mitgliedstaaten der Kommission einen Vermerk … vor, der von einer Person oder Stelle erstellt worden ist, die in ihrer Funktion von der mit der Durchführung betrauten Stelle unabhängig ist. Der Vermerk enthält einen Überblick über die Ergebnisse der in den abgelaufenen Jahren durchgeführten Kontrollen und Untersuchungen sowie eine zusammenfassende Schlussfolgerung zu der Gültigkeit des Antrags auf endgültige Zahlung und zu der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der dieser endgültigen Ausgabenerklärung zugrunde liegenden Maßnahmen.
(2) Ist in Anbetracht erheblicher Mängel des Verwaltungs‑ oder Kontrollsystems oder der großen Häufigkeit des Auftretens von Unregelmäßigkeiten eine zusammenfassende positive Schlussfolgerung zur Gültigkeit des Antrags auf endgültige Zahlung sowie der endgültigen Ausgabenerklärung nicht möglich, so wird in dem Vermerk auf diese Umstände hingewiesen und eine Schätzung des Umfangs des Problems sowie seiner finanziellen Auswirkungen vorgenommen.
In einem solchen Fall kann die Kommission um die Durchführung einer weiteren Kontrolle mit dem Ziel der Feststellung und Beseitigung von Unregelmäßigkeiten innerhalb eines von ihr bestimmten Zeitraums ersuchen.“
15 Am 15. Oktober 1997 erließ die Kommission auch interne Leitlinien für die Nettofinanzkorrekturen im Rahmen der Anwendung des Art. 24 der Verordnung Nr. 4253/88. Nach den Nrn. 5 und 6 dieser internen Leitlinien ist als Ausnahme von der Regel, dass sich eine Nettofinanzkorrektur nur auf die jeweils aufgedeckte(n) Unregelmäßigkeit(en) bezieht, eine höhere Finanzkorrektur für den Fall vorgesehen, dass die Kommission Grund zu der Annahme hat, dass die Unregelmäßigkeit systematischen Charakter hat, d. h. auf grundsätzliche Mängel im Bereich des Managements, der Kontrolle oder des Audits zurückgeht und in anderen, ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls auftreten könnte. Bei der Vornahme einer solchen Finanzkorrektur bedient sich die Kommission der Extrapolation, d. h., sie berücksichtigt das Niveau und den spezifischen Charakter des unzulänglichen Verwaltungssystems sowie den Grad der Wahrscheinlichkeit, dass infolgedessen auch anderweitig Mittel missbräuchlich verwendet werden könnten.
16 Die Verordnungen Nrn. 2052/88 und 4253/88 wurden mit Wirkung vom 1. Januar 2000 durch die Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates vom 21. Juni 1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds (ABl. L 161, S. 1) aufgehoben.
17 Die Verordnung Nr. 1260/1999 gilt gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 für den EFRE, den ESF, den EAGFL, Abteilung „Ausrichtung“, und das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei (FIAF).
18 In Art. 39 („Finanzkorrekturen“) dieser Verordnung heißt es:
„(1) Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, bei Unregelmäßigkeiten Nachforschungen anzustellen, bei nachgewiesenen erheblichen Veränderungen der Art oder der Durchführungs‑ und Kontrollbedingungen einer Intervention tätig zu werden und die erforderlichen Finanzkorrekturen vorzunehmen.
Der Mitgliedstaat nimmt die in Bezug auf die individuelle oder systematische Unregelmäßigkeit erforderlichen Finanzkorrekturen vor. Die von dem Mitgliedstaat vorgenommenen Korrekturen bestehen in der Streichung oder Kürzung der Gemeinschaftsbeteiligung. Der Mitgliedstaat kann die auf diese Weise freigesetzten Mittel unter Einhaltung der aufgrund von Artikel 53 Absatz 2 festzulegenden Bestimmungen für die betreffende Intervention wiederverwenden.
(2) Wenn die Kommission nach Abschluss der erforderlichen Überprüfungen feststellt, dass
a)
ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen gemäß Absatz 1 nicht nachgekommen ist oder
b)
eine Intervention insgesamt oder zum Teil die Beteiligung der Fonds weder ganz noch teilweise rechtfertigt oder
c)
bei den Verwaltungs‑ und Kontrollsystemen beträchtliche Mängel vorliegen, die zu systematischen Unregelmäßigkeiten führen könnten,
so setzt die Kommission die ausstehenden Zwischenzahlungen aus und fordert den Mitgliedstaat unter Angabe ihrer Gründe auf, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu äußern und gegebenenfalls alle erforderlichen Korrekturen vorzunehmen.
Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die Bemerkungen der Kommission, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in Zusammenarbeit auf der Grundlage der Partnerschaft bemüht sind, zu einer Einigung über die Bemerkungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.
(3) Kommt nach Ablauf des von der Kommission festgelegten Zeitraums keine Einigung zustande und hat der Mitgliedstaat bis dahin keine Korrekturen vorgenommen, so kann die Kommission unter Berücksichtigung etwaiger Bemerkungen des Mitgliedstaats innerhalb von drei Monaten beschließen,
a)
die Vorauszahlung … zu kürzen oder
b)
die erforderlichen Finanzkorrekturen vorzunehmen und die Fondsbeteiligung für die betreffende Intervention ganz oder teilweise zu streichen.
Die Kommission setzt den Betrag einer Korrektur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung der Art der Unregelmäßigkeit oder der Änderung sowie des Umfangs und der finanziellen Auswirkungen der festgestellten Mängel der Verwaltungs‑ oder Kontrollsysteme der Mitgliedstaaten fest.
Wurde bis zum Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist kein Beschluss über ein Vorgehen gemäß Buchstabe a) oder Buchstabe b) gefasst, so wird die Aussetzung der Zwischenzahlungen unverzüglich aufgehoben.
…“
19 Die Verordnung (EG) Nr. 1783/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 1999 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. L 213, S. 1), mit der die Verordnung Nr. 4254/88 aufgehoben wurde, enthält keine Vorschriften über finanzielle Berichtigungen.
20 Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 448/2001 der Kommission vom 2. März 2001 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates hinsichtlich des Verfahrens für die Vornahme von Finanzkorrekturen bei Strukturfondsinterventionen (ABl. L 64, S. 13) lautet:
„(1) Die Frist, innerhalb der der betroffene Mitgliedstaat einer Aufforderung der Kommission gemäß Artikel 39 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 nachkommen kann, seine Bemerkungen zu übermitteln und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen, beträgt zwei Monate, es sei denn, die Kommission räumt in ausreichend begründeten Fällen eine längere Frist ein.
(2) Wenn die Kommission eine extrapolierte oder pauschale Finanzkorrektur vorschlägt, erhält der Mitgliedstaat Gelegenheit, durch eine Prüfung der betreffenden Dossiers nachzuweisen, dass der tatsächliche Umfang der Unregelmäßigkeit geringer war, als ihn die Kommission veranschlagt hat. In Abstimmung mit der Kommission kann der Mitgliedstaat den Umfang dieser Prüfung auf einen geeigneten Anteil oder eine Stichprobe der betroffenen Dossiers begrenzen. Außer in ausreichend begründeten Fällen beträgt die eingeräumte Frist für diese Prüfung nicht mehr als zwei weitere Monate ab dem Ende der in Absatz 1 genannten Frist. Die Ergebnisse einer solchen Prüfung werden nach dem Verfahren des Artikels 39 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 überprüft. Die Kommission berücksichtigt jedes von dem Mitgliedstaat innerhalb der vorgegebenen Frist vorgelegte Beweismaterial.
(3) Wenn der Mitgliedstaat Einwendungen gegen die Bemerkungen der Kommission erhebt und eine Anhörung gemäß Artikel 39 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 stattfindet, läuft die Frist von drei Monaten, binnen der die Kommission einen Beschluss nach Artikel 39 Absatz 3 der vorgenannten Verordnung fasst, ab dem Tag der Anhörung.“
21 Die Verordnung Nr. 1260/1999, die vom Rat spätestens am 31. Dezember 2006 zu überprüfen war, wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds (ABl. L 210, S. 25) aufgehoben. Diese Verordnung gilt gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 für die genannten Fonds unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die jeweils in den Verordnungen zur Regelung dieser Fonds vorgesehen sind.
22 Die Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1783/1999 (ABl. L 210, S. 1) enthält keine Bestimmung für das Verfahren für Finanzkorrekturen, die die Kommission vornehmen kann. Das Gleiche gilt für die Verordnung (EG) Nr. 1828/2006 der Kommission vom 8. Dezember 2006 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1083/2006 und der Verordnung Nr. 1080/2006 (ABl. L 371, S. 1).
23 Die genannten Finanzkorrekturen unterliegen gemeinsamen Regeln für diese drei Fonds, die in den Art. 99 bis 102 der Verordnung Nr. 1083/2006 festgelegt sind.
24 Art. 100 („Verfahren“) dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Bevor die Kommission eine finanzielle Berichtigung beschließt, eröffnet sie das Verfahren, indem sie den Mitgliedstaat über ihre vorläufigen Schlussfolgerungen in Kenntnis setzt und ihn auffordert, sich binnen zwei Monaten zu äußern.
Wenn die Kommission eine extrapolierte oder pauschale finanzielle Berichtigung vorschlägt, erhält der Mitgliedstaat Gelegenheit, durch eine Prüfung der betreffenden Unterlagen nachzuweisen, dass der tatsächliche Umfang der Unregelmäßigkeit geringer war als von der Kommission veranschlagt. In Abstimmung mit der Kommission kann der Mitgliedstaat den Umfang dieser Prüfung auf einen angemessenen Anteil oder eine Stichprobe in den betreffenden Unterlagen begrenzen. Außer in hinreichend begründeten Fällen wird für diese Prüfung eine Frist von bis zu zwei weiteren Monaten ab dem Ende der in Unterabsatz 1 genannten Zweimonatsfrist eingeräumt.
(2) Die Kommission berücksichtigt jedes Beweismaterial, das der Mitgliedstaat innerhalb der in Absatz 1 genannten Frist vorlegt.
(3) Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die vorläufigen Schlussfolgerungen der Kommission, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in partnerschaftlicher Zusammenarbeit bemüht sind, zu einer Einigung über die Feststellungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.
(4) Im Falle einer Einigung kann der Mitgliedstaat die betreffenden Gemeinschaftsmittel gemäß Artikel 98 Absatz 2 Unterabsatz 2 wieder einsetzen.
(5) Kommt keine Einigung zustande, so entscheidet die Kommission binnen sechs Monaten nach der Anhörung über die finanzielle Berichtigung, wobei sie alle Informationen und Bemerkungen berücksichtigt, die ihr im Zuge des Verfahrens übermittelt wurden. Findet keine Anhörung statt, so beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des von der Kommission versandten Einladungsschreibens.“
25 Art. 108 („Inkrafttreten“) der Verordnung Nr. 1083/2006 sieht in seinen ersten beiden Absätzen vor:
„Diese Verordnung tritt am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
Die Artikel 1 bis 16, 25 bis 28, 32 bis 40, 47 bis 49, 52 bis 54, 56, 58 bis 62, 69 bis 74, 103 bis 105 und 108 gelten ab dem Tag des Inkrafttretens dieser Verordnung nur für Programme für den Zeitraum 2007–2013. Die übrigen Vorschriften gelten ab dem 1. Januar 2007.“
26 Die Verordnung Nr. 1083/2006 wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres‑ und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres‑ und Fischereifonds (ABl. L 347, S. 320) aufgehoben. Art. 145 Abs. 6 dieser Verordnung bestimmt: „Zur Vornahme der finanziellen Berichtigung erlässt die Kommission mittels Durchführungsrechtsakten einen Beschluss, und zwar binnen sechs Monaten nach dem Datum der Anhörung oder nach Eingang der zusätzlichen Informationen, falls der Mitgliedstaat sich während der Anhörung dazu bereit erklärt hatte, solche vorzulegen. Die Kommission berücksichtigt alle Informationen und Anmerkungen, die ihr im Zuge des Verfahrens übermittelt wurden. Findet keine Anhörung statt, so beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des hierzu von der Kommission versandten Einladungsschreibens.“
27 Gemäß Art. 154 der Verordnung Nr. 1303/2013 gilt der genannte Art. 145 ab dem 1. Januar 2014.
28 Dieser Art. 145 gehört zu Teil Vier der Verordnung Nr. 1303/2013, der die allgemeinen Bestimmungen enthält, die für den EFRE, den ESF, den Kohäsionsfonds sowie den Europäischen Meeres‑ und Fischereifonds in Bezug auf Verwaltung und Kontrolle, Finanzverwaltung, Rechnungslegung und finanzielle Berichtigungen gelten.
29 Weder die Verordnung (EU) Nr. 1301/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und mit besonderen Bestimmungen hinsichtlich des Ziels „Investitionen in Wachstum und Beschäftigung“ und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1080/2006 (ABl. L 347, S. 289) noch die Delegierte Verordnung (EU) Nr. 480/2014 der Kommission vom 3. März 2014 zur Ergänzung der Verordnung Nr. 1303/2013 (ABl. L 138, S. 5) enthalten eine Bestimmung in Bezug auf das Verfahren für Finanzkorrekturen, die die Kommission vornehmen kann.
Vorgeschichte des Rechtsstreits und die streitigen Entscheidungen
30 Der dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt, wie er aus den Rn. 1 bis 9 des angefochtenen Urteils hervorgeht, lässt sich wie folgt zusammenfassen.
31 Mit ihren Entscheidungen C (94) 3456 vom 9. Dezember 1994, C (1998) 121 vom 5. Februar 1998 und C (1994) 3043/6 vom 25. November 1994 billigte die Kommission die operationellen Programme „Andalusien“ des Ziels 1 (1994–1999), „Baskenland“ des Ziels 2 (1997–1999) bzw. „Gemeinschaft Valencia“ des Ziels 1 (1994–1999).
32 Während der Abschlussprüfungen dieser Programme wählte die Kommission bestimmte Projekte zur Durchführung von Kontrollen aus. Bei der Prüfung dieser Stichproben zeigten sich viele Unregelmäßigkeiten, von denen sich einige wiederholten und im Wesentlichen aus Verletzungen von Unionsrecht im Bereich öffentlicher Aufträge sowie von im Rahmen der Strukturfonds anwendbaren Regeln bestanden. Diese Unregelmäßigkeiten wurden von der Kommission als systematisch eingestuft.
33 Nach mehreren Schriftwechseln zwischen der Kommission und den spanischen Behörden entschied die Kommission, die Beteiligung des EFRE, die für jedes der vorstehend genannten operationellen Programme bewilligt worden war, zu kürzen, indem die systematischen Fehler, die die Kommission nach ihrer Ansicht während der Prüfung der Stichproben entdeckt hatte, auf die Gesamtheit der Programme extrapoliert wurden.
34 Im Einzelnen wählte die Kommission im Rahmen der Abschlussprüfungen des operationellen Programms „Andalusien“ als zufällige Stichprobe von 5319 Projekten 37 Projekte über einen Betrag von 870341396 Euro, d. h. 16,69 % des Endbetrags der gemeldeten Ausgaben, aus, und dies auf der Grundlage eines wertbezogenen Stichprobenverfahrens und mit der Prüfungssoftware Audit Command Language (ACL), einem computergestützten Prüfungsinstrument. Die Schlussfolgerungen dieser Prüfung wurden den spanischen Behörden in den Berichten vom 19. Oktober 2004 und 10. April 2006 mitgeteilt. Nach mehrmaligem Austausch von Bemerkungen und Informationen zwischen der Kommission und den spanischen Behörden fand am 2. und 3. Juli 2008 in Brüssel (Belgien) eine Anhörung statt. Diese Anhörung führte zur Verpflichtung der spanischen Behörden, innerhalb von drei Wochen zusätzliche Informationen über die Förderfähigkeit der betroffenen Maßnahmen nachzureichen. Diese zusätzlichen Informationen wurden mit Schreiben vom 22. Juli und 5. August 2008 vorgelegt. Die Kommission teilte den spanischen Behörden ihre endgültigen Schlussfolgerungen mit Schreiben vom 19. März 2009 mit. Diese antworteten mit Schreiben vom 21. April 2009.
35 Mit ihrer Entscheidung C (2009) 9270 vom 30. November 2009 kürzte die Kommission die in Höhe von 3323249050,16 Euro bewilligte Beteiligung des EFRE am operationellen Programm „Andalusien“ um 219334437,31 Euro. Diese Kürzung entspricht einer Extrapolation der von der Kommission als systematisch für das gesamte operationelle Programm eingestuften Unregelmäßigkeiten.
36 Im Rahmen der Abschlussprüfungen des operationellen Programms „Baskenland“ wählte die Kommission als zufällige Stichprobe von 3348 Projekten 37 Projekte über einen Betrag von 266765981 Euro, der 36,98 % der endgültig gemeldeten Ausgaben entsprach, aus, wobei sie dieselbe Methode wie für das operationelle Programm „Andalusien“ anwandte. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieser Prüfung wurden den spanischen Behörden in den Berichten vom 17. August 2005 und 24. September 2007 mitgeteilt. Nach mehrmaligem Austausch von Bemerkungen und Informationen fand am 22. und 23. Januar 2009 in Brüssel eine Anhörung statt. Diese Anhörung führte zur Verpflichtung der spanischen Behörden, innerhalb von drei Wochen zusätzliche Informationen über die Förderfähigkeit der betroffenen Maßnahmen nachzureichen. Diese zusätzlichen Informationen wurden mit Schreiben vom 16. Februar 2009 und mit E‑Mails vom 10., 23. und 24. Februar 2009 übermittelt. Die Kommission teilte den spanischen Behörden ihre endgültigen Schlussfolgerungen mit Schreiben vom 29. Juli 2009 mit. Diese antworteten mit Schreiben vom 15. September 2009.
37 Mit ihrer Entscheidung C (2009) 10678 vom 23. Dezember 2009 kürzte die Kommission die in Höhe von 301152434 Euro bewilligte Beteiligung des EFRE am operationellen Programm „Baskenland“ um 27884692,27 Euro. Diese Kürzung entspricht einer Extrapolation der von der Kommission als systematisch für das gesamte operationelle Programm eingestuften Unregelmäßigkeiten.
38 Im Rahmen der Abschlussprüfungen des operationellen Programms „Gemeinschaft Valencia“ wählte die Kommission als zufällige Stichprobe von 7862 Projekten 38 Projekte über einen Betrag von 607075404,63 Euro, der 28,72 % der endgültig gemeldeten Ausgaben entsprach, aus, wobei sie dieselbe Methode wie für die beiden anderen operationellen Programme anwandte. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieser Prüfung wurden den spanischen Behörden in den Berichten vom 10. Juni 2004 und vom 10. April 2006 mitgeteilt. Nach mehrmaligem Austausch von Bemerkungen und Informationen zwischen der Kommission und den spanischen Behörden fand am 4. und 5. November 2008 in Brüssel eine Anhörung statt. Diese Anhörung führte zur Verpflichtung der spanischen Behörden, innerhalb von drei Wochen zusätzliche Informationen über die Förderfähigkeit der betroffenen Maßnahmen nachzureichen. Diese Informationen wurden mit Schreiben vom 24. November 2008 übermittelt. Die Kommission teilte den spanischen Behörden ihre endgültigen Schlussfolgerungen mit Schreiben vom 29. Mai 2009 mit. Diese antworteten mit Schreiben vom 3. Juli 2009 und mit E-Mail vom 7. Juli 2009.
39 Mit ihrer Entscheidung C (2010) 337 vom 28. Januar 2010 kürzte die Kommission die in Höhe von 1298056426,49 Euro bewilligte Beteiligung des EFRE am operationellen Programm „Gemeinschaft Valencia“ um 115612377,25 Euro. Diese Kürzung entspricht einer Extrapolation der von der Kommission als systematisch für das gesamte operationelle Programm qualifizierten Unregelmäßigkeiten.
Klagen vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
40 Mit Klageschriften, die am 11. Februar 2010 (Rechtssache T‑65/10), 8. März 2010 (Rechtssache T‑113/10) und 24. März 2010 (Rechtssache T‑138/10) bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, erhob das Königreich Spanien Klagen auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidungen.
41 Durch Beschluss des Präsidenten der Siebten Kammer des Gerichts vom 26. April 2010 wurden die drei Rechtssachen zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
42 Das Königreich Spanien stützte diese Klagen auf folgende vier Klagegründe: Erstens, Verstoß gegen Art. 24 der Verordnung Nr. 4253/88, da die Kommission die Finanzkorrekturen nach dieser Vorschrift nicht im Wege der Extrapolation vornehmen dürfe; zweitens, hilfsweise Verstoß gegen Art. 24 der Verordnung Nr. 4253/88 und Art. 4 Abs. 3 EUV, da sich für die betroffenen geänderten Verträge keine Mängel im Bereich der Durchführung, der Kontrolle oder des Audits gezeigt hätten; drittens, ebenfalls hilfsweise Verstoß gegen Art. 24 der Verordnung Nr. 4253/88, da die von der Kommission für die Finanzkorrekturen durch Extrapolation herangezogenen Stichproben nicht repräsentativ für die betreffenden operationellen Programme gewesen seien; viertens, Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 sowie gegen den Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Frist, da die Kommission die für die Vornahme der betreffenden Finanzkorrekturen erforderliche Frist überschritten habe.
43 Mit dem angefochtenen Urteil wies das Gericht nacheinander den vierten, den ersten, den zweiten und den dritten Klagegrund zurück und wies die Klagen in vollem Umfang ab.
Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof
44 Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Königreich Spanien,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben;
—
den Rechtsstreit selbst endgültig zu entscheiden und die streitigen Entscheidungen für nichtig zu erklären;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
45 Die Kommission beantragt,
—
das Rechtsmittel zurückzuweisen und
—
dem Königreich Spanien die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
Vorbringen der Parteien
46 Das Königreich Spanien stützt sein Rechtsmittel auf zwei Gründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügt es, das Gericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 die Rechtsgrundlage sei, nach der die Kommission Finanzkorrekturen vornehmen dürfe, die auf einer Extrapolation beruhten. Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund rügt das Königreich Spanien, dass das Gericht die Kontrolle der Zuverlässigkeit, der Kohärenz, der Einschlägigkeit und der Eignung der von der Kommission im vorliegenden Fall angewendeten Extrapolation rechtsfehlerhaft vorgenommen habe, da erstens die Grundgesamtheit der ausgewählten Stichprobe auf der Grundlage der gemeldeten Ausgaben und nicht der bewilligten Beteiligung bestimmt worden sei, zweitens die Ausgaben, die nicht kofinanziert und von diesem Mitgliedstaat zurückgenommen worden seien, in diesem Zusammenhang berücksichtigt worden seien, drittens die von der Kommission berücksichtigte Stichprobe durch fehlende Homogenität gekennzeichnet gewesen sei und viertens die genannte Stichprobe kein ausreichendes Maß an Zuverlässigkeit aufgewiesen habe.
47 Die Kommission trägt im Wesentlichen vor, dass der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen sei. Der zweite Rechtsmittelgrund werfe Tatsachenfragen auf, so dass er als unzulässig oder jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
48 Zur Entscheidung über das vorliegende Rechtsmittel ist vorab festzustellen, dass das Gericht mit dem angefochtenen Urteil über die Nichtigkeitsklagen des Königreichs Spanien entschieden und sie abgewiesen hat, nachdem es die von diesem Mitgliedstaat für diese Klagen geltend gemachten vier Klagegründe für unbegründet erklärt hatte.
49 Das Gericht hat insbesondere zuerst den vierten Klagegrund geprüft, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wurde, dass die streitigen Entscheidungen von der Kommission innerhalb von Fristen erlassen worden seien, die nicht als angemessen betrachtet werden könnten. Das Gericht hat jedoch in Rn. 56 des angefochtenen Urteils diesen Klagegrund als unbegründet zurückgewiesen. Damit hat das Gericht die förmliche Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidungen bejaht.
50 Aus den in den Rn. 56 bis 89 sowie den Rn. 93 und 94 der Urteile Spanien/Kommission (C‑192/13 P, EU:C:2014:2156) und Spanien/Kommission (C‑197/13 P, EU:C:2014:2157) angeführten Gründen ergibt sich jedoch, dass die Kommission seit dem Jahr 2000 verpflichtet ist, beim Erlass einer Entscheidung über eine Finanzkorrektur eine gesetzliche Frist einzuhalten, und dass die Dauer dieser Frist in Abhängigkeit von der geltenden Regelung schwankt.
51 Beim derzeitigen Stand des Unionsrechts gibt es nichts, was diese Rechtsprechung in Frage stellen könnte, vielmehr kann sie auf die vorliegende Rechtssache übertragen werden.
52 So entscheidet die Kommission gemäß Art. 100 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 binnen sechs Monaten nach der Anhörung über die finanzielle Berichtigung und, falls keine Anhörung stattfindet, beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des von der Kommission versandten Einladungsschreibens.
53 Aus Art. 108 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 ergibt sich, dass deren Art. 100 seit dem 1. Januar 2007 galt, und zwar auch für Programme vor dem Zeitraum 2007–2013.
54 Im vorliegenden Fall fanden die Anhörungen des Königreichs Spanien am 2. und 3. Juli 2008 für das operationelle Programm „Andalusien“, am 22. und 23. Januar 2009 für das operationelle Programm „Baskenland“ und am 4. und 5. November 2008 für das operationelle Programm „Gemeinschaft Valencia“ statt. Die Kommission hingegen erließ die streitigen Entscheidungen zu diesen Programmen erst am 30. November 2009, 23. Dezember 2009 und 28. Januar 2010.
55 Folglich hat die Kommission vorliegend nicht die nach Art. 100 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 vorgeschriebene Frist von sechs Monaten eingehalten.
56 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum einen, dass die Nichtbeachtung der Verfahrensvorschriften über den Erlass einer beschwerenden Maßnahme ‐ wenn z. B. die Kommission die streitige Entscheidung nicht innerhalb der vom Unionsgesetzgeber festgelegten Frist erlassen hat ‐ eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften darstellt (vgl. Urteile Vereinigtes Königreich/Rat, 68/86, EU:C:1988:85, Rn. 48 und 49, Spanien/Kommission, C‑192/13 P, EU:C:2014:2156, Rn. 103, und Spanien/Kommission, C‑197/13 P, EU:C:2014:2157, Rn. 103), und zum anderen, dass der Unionsrichter, wenn er bei der Untersuchung des betreffenden Rechtsakts zu dem Ergebnis kommt, dass dieser nicht ordnungsgemäß erlassen wurde, die Konsequenzen aus der Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift zu ziehen und folglich den mit einem solchen Fehler behafteten Rechtsakt für nichtig zu erklären hat (vgl. Urteile Kommission/ICI, C‑286/95 P, EU:C:2000:188, Rn. 51, Kommission/Solvay, C‑287/95 P und C‑288/95 P, EU:C:2000:189, Rn. 55, Spanien/Kommission, C‑192/13 P, EU:C:2014:2156, Rn. 103, und Spanien/Kommission, C‑197/13 P, EU:C:2014:2157, Rn. 103).
57 Nach ständiger Rechtsprechung kann der Unionsrichter, außer in besonderen Fällen wie denen, die u. a. in den Verfahrensordnungen der Unionsgerichte vorgesehen sind, seine Entscheidung nicht auf einen von Amts wegen geprüften Rechtsgrund stützen, sei er auch zwingenden Rechts, ohne die Parteien zuvor aufgefordert zu haben, sich dazu zu äußern (vgl. Urteile Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 57, und HABM/National Lottery Commission, C‑530/12 P, EU:C:2014:186, Rn. 54).
58 Was die Frage anbelangt, innerhalb welcher Frist ein Finanzkorrekturbeschluss zu ergehen hat, ist darauf hinzuweisen, dass das Königreich Spanien und die Kommission in den Rechtssachen, in denen die Urteile Spanien/Kommission (C‑192/13 P, EU:C:2014:2156) und Spanien/Kommission (C‑197/13 P, EU:C:2014:2157) – die sich im Wesentlichen auf die gleichen Sach- und Rechtsfragen bezogen – ergangen sind, bereits Gelegenheit hatten, sich zu dieser Frage zu äußern. Überdies hatte der Gerichtshof in den genannten Rechtssachen die Parteien aufgefordert, ihr Vorbringen auf diese Frage zu konzentrieren.
59 Darüber hinaus ist diese Rechtsprechung seitdem vom Gerichtshof wiederholt bestätigt worden (vgl. Urteile Spanien/Kommission, C‑429/13 P, EU:C:2014:2310, und Spanien/Kommission, C‑513/13 P, EU:C:2014:2412).
60 Hieraus folgt zum einen, dass die Kommission hinreichend Gelegenheit gehabt hat, ihre auf die Bedeutung der in Art. 100 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 festgelegten Frist bezogenen Gründe und Argumente in einer streitigen Verhandlung vorzutragen, und zum anderen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung dieser Vorschrift als gefestigt anzusehen ist.
61 Daher ist festzustellen, dass die vorliegende Rechtssache einen besonderen Fall im Sinne der in Rn. 57 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt und die Parteien nicht aufzufordern sind, sich zu diesem Rechtsgrund zu äußern.
62 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Kommission beim Erlass der streitigen Entscheidungen die durch eine Verordnung des Rates gesetzlich vorgeschriebene Frist nicht eingehalten hat.
63 Es ist daher festzustellen, dass das Gericht dadurch, dass es die Klagen des Königreichs Spanien abgewiesen hat, anstatt den Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften, mit dem die streitigen Entscheidungen behaftet sind, zu ahnden, einen Rechtsfehler begangen hat.
64 Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben.
Zu den erstinstanzlichen Klagen
65 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union hebt der Gerichtshof, wenn das Rechtsmittel begründet ist, die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
66 Der Gerichtshof verfügt im vorliegenden Fall über die erforderlichen Angaben, um endgültig über die vom Königreich Spanien beim Gericht erhobenen Klagen auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidungen zu entscheiden.
67 Insoweit genügt der Hinweis, dass die streitigen Entscheidungen aus den in den Rn. 50 bis 63 des vorliegenden Urteils genannten Gründen wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig zu erklären sind.
Kosten
68 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.
69 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Spanien mit seinem Rechtsmittel obsiegt hat und den vor dem Gericht erhobenen Klagen stattgegeben wird, sind der Kommission gemäß den Anträgen des Königreichs Spanien ihre eigenen Kosten und die Kosten dieses Mitgliedstaats aufzuerlegen, die sowohl im ersten Rechtszug als auch im Rechtsmittelverfahren entstanden sind.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil Spanien/Kommission (T‑65/10, T‑113/10 und T‑138/10, EU:T:2013:93) des Gerichts der Europäischen Union wird aufgehoben.
2. Die Entscheidungen der Kommission C (2009) 9270 vom 30. November 2009, C (2009) 10678 vom 23. Dezember 2009 und C (2010) 337 vom 28. Januar 2010 über die Kürzung der Beteiligung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), die im Rahmen des operationellen Programms „Andalusien“ des Ziels 1 (1994–1999) gemäß der Entscheidung C (94) 3456 der Kommission vom 9. Dezember 1994, des operationellen Programms „Baskenland“ des Ziels 2 (1997–1999) gemäß der Entscheidung C (1998) 121 der Kommission vom 5. Februar 1998 und des operationellen Programms „Gemeinschaft Valencia“ des Ziels 1 (1994–1999) gemäß der Entscheidung C (1994) 3043/6 der Kommission vom 25. November 1994 gewährt worden war, werden für nichtig erklärt.
3. Die Europäische Kommission trägt die Kosten, die dem Königreich Spanien und ihr selbst im erstinstanzlichen Verfahren sowie im Rechtsmittelverfahren entstanden sind.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 24. Juni 2015.#Bundesrepublik Deutschland gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – Kürzung der finanziellen Beteiligung – Berechnungsmethode der Extrapolation – Verfahren zum Erlass der Entscheidung durch die Europäische Kommission – Nichteinhaltung der Frist – Folgen.#Verbundene Rechtssachen C-549/12 P und C-54/13 P.
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62012CJ0549
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ECLI:EU:C:2015:412
| 2015-06-24T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0549
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
24. Juni 2015 (*1)
„Rechtsmittel — Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) — Kürzung der finanziellen Beteiligung — Berechnungsmethode der Extrapolation — Verfahren zum Erlass der Entscheidung durch die Europäische Kommission — Nichteinhaltung der Frist — Folgen“
In den verbundenen Rechtssachen C‑549/12 P und C‑54/13 P
betreffend zwei Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 29. November 2012 und 31. Januar 2013,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten im Beistand der Rechtsanwälte U. Karpenstein, C. Johann, C. von Donat und J. Lipinsky,
Rechtsmittelführerin,
unterstützt durch:
Königreich Spanien, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und N. Rouam als Bevollmächtigte,
Königreich der Niederlande, vertreten durch M. Bulterman und B. Koopman als Bevollmächtigte (C‑54/13 P),
Streithelfer im ersten Rechtszug,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch B. Conte und A. Steiblytė als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter S. Rodin, A. Borg Barthet und E. Levits (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Januar 2014,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. April 2014
folgendes
Urteil
1 Mit ihren Rechtsmitteln beantragt die Bundesrepublik Deutschland die Aufhebung der Urteile Deutschland/Kommission (T‑265/08, EU:T:2012:434) und Deutschland/Kommission (T‑270/08, EU:T:2012:612) des Gerichts der Europäischen Union (im Folgenden zusammen: angefochtene Urteile), mit denen dieses ihre Klagen auf Nichtigerklärung der Entscheidung K(2008) 1690 endg. der Kommission vom 30. April 2008 über die Kürzung des Beitrags aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für ein Operationelles Programm in der Ziel-1-Region Land Thüringen in der Bundesrepublik Deutschland (1994–1999) gemäß Entscheidung K(94) 1939/5 der Kommission vom 5. August 1994 (im Folgenden: Entscheidung betreffend Thüringen) und der Entscheidung K(2008) 1615 endg. der Kommission vom 29. April 2008 über die Kürzung des durch die Entscheidung der Kommission K(94) 1973 vom 5. August 1994 gewährten Beitrags des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für das Operationelle Programm Berlin (Ost) Ziel 1 (1994–1999) in der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden: Entscheidung betreffend Berlin [Ost]) abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
2 Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) wurde durch die Verordnung (EWG) Nr. 724/75 des Rates vom 18. März 1975 über die Errichtung eines Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. 1975, L 73, S. 1, berichtigt in ABl. 1975, L 102, S. 24, und ABl. 1975, L 110, S. 44) geschaffen, die nach mehrfacher Änderung durch die Verordnung (EWG) Nr. 1787/84 des Rates vom 19. Juni 1984 betreffend den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. L 169, S. 1) ersetzt wurde.
3 1988 wurde die Regelung der Strukturfonds durch die Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 des Rates vom 24. Juni 1988 über Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Investitionsbank und der anderen vorhandenen Finanzinstrumente (ABl. L 185, S. 9) umgestaltet.
4 Die Verordnung Nr. 2052/88 trat am 1. Januar 1989 in Kraft und sollte binnen einer Frist, die am 31. Dezember 1993 endete, vom Rat auf Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften überprüft werden.
5 Somit wurde diese Verordnung durch die Verordnung (EWG) Nr. 2081/93 des Rates vom 20. Juli 1993 (ABl. L 193, S. 5) geändert, die ihrerseits vor dem 31. Dezember 1999 überprüft werden sollte.
6 Diese Verordnungen führen die Strukturfonds (den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft [EAGFL], Abteilung „Ausrichtung“, den Europäischen Sozialfonds [ESF] und den EFRE) ein, deren Aufgabe es ist, zum Ausgleich der wichtigsten regionalen Ungleichgewichte in der Europäischen Union beizutragen, u. a. durch Förderung der Entwicklung und der strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand („Ziel Nr. 1“) und Umstellung der Regionen, der Grenzregionen oder der Teilregionen (einschließlich Arbeitsmarktregionen und städtische Verdichtungsräume), die von der rückläufigen industriellen Entwicklung schwer betroffen sind („Ziel Nr. 2“).
7 Art. 7 („Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht und Kontrolle“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 2052/88 in der durch die Verordnung Nr. 2081/93 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2052/88) sieht vor:
„Die Aktionen, die Gegenstand einer Finanzierung durch die Strukturfonds oder einer Finanzierung der [Europäischen Investitionsbank (EIB)] oder eines sonstigen vorhandenen Finanzinstruments sind, müssen den Verträgen und den aufgrund der Verträge erlassenen Rechtsakten sowie den Gemeinschaftspolitiken, einschließlich der Wettbewerbsregeln, der Vergabe öffentlicher Aufträge, des Umweltschutzes und der Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit für Männer und Frauen entsprechen.“
8 Die Verordnung (EWG) Nr. 4253/88 des Rates vom 19. Dezember 1988 zur Durchführung der Verordnung Nr. 2052/88 hinsichtlich der Koordinierung der Interventionen der verschiedenen Strukturfonds einerseits und zwischen diesen und den Interventionen der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzinstrumente andererseits (ABl. L 374, S. 1) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2082/93 des Rates vom 20. Juli 1993 (ABl. L 193, S. 20) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 4253/88) bestimmt in seinem Art. 23 („Finanzkontrolle“):
„(1) Um den erfolgreichen Abschluss der von öffentlichen oder privaten Trägern durchgeführten Maßnahmen zu gewährleisten, treffen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Aktionen die erforderlichen Maßnahmen, um
—
regelmäßig nachzuprüfen, dass die von der Kommission finanzierten Aktionen ordnungsgemäß ausgeführt worden sind,
—
Unregelmäßigkeiten zu verhindern und zu ahnden,
—
infolge von Unregelmäßigkeiten oder Fahrlässigkeit verloren gegangene Beträge zurückzufordern. Falls der Mitgliedstaat [und/oder die zwischengeschaltete Stelle] und/oder der Träger nicht den Nachweis erbringt, dass die Unregelmäßigkeiten oder die Fahrlässigkeit ihnen nicht anzulasten sind, ist der Mitgliedstaat subsidiär für die Zurückzahlung der nicht rechtmäßig gezahlten Beträge verantwortlich. …
Die Mitgliedstaaten setzen die Kommission von den zu diesem Zweck getroffenen Maßnahmen in Kenntnis und übermitteln ihr insbesondere eine Beschreibung der Kontroll- und Verwaltungssysteme, die für die wirksame Durchführung der Aktionen eingerichtet worden sind. Sie unterrichten die Kommission regelmäßig über den Verlauf administrativer und gerichtlicher Verfahren.
…
(2) Unbeschadet der von den Mitgliedstaaten gemäß den innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften durchgeführten Kontrollen und unbeschadet des Artikels 206 des [EWG-Vertrags] und sonstiger Kontrollmaßnahmen nach Artikel 209 Buchstabe c) des Vertrages können Beamte oder Bedienstete der Kommission vor Ort die Maßnahmen, die aus den Strukturfonds finanziert werden, und die Verwaltungs- und Kontrollsysteme insbesondere im Stichprobenverfahren kontrollieren.
…
(3) Die zuständige Stelle und die zuständigen Behörden halten der Kommission nach der letzten Zahlung für eine Aktion drei Jahre lang alle Belege für die im Rahmen der Aktion getätigten Ausgaben und Kontrollen zur Verfügung.“
9 Art. 24 („Kürzung, Aussetzung und Streichung der Beteiligung“) der Verordnung Nr. 4253/88 bestimmt:
„(1) Wird eine Aktion oder eine Maßnahme so ausgeführt, dass die gewährte finanzielle Beteiligung weder teilweise noch insgesamt gerechtfertigt erscheint, so nimmt die Kommission eine entsprechende Prüfung des Falls im Rahmen der Partnerschaft vor und fordert insbesondere den Mitgliedstaat oder die von ihm für die Durchführung der Aktion benannten Behörden auf, sich innerhalb einer bestimmten Frist dazu zu äußern.
(2) Nach dieser Prüfung kann die Kommission die finanzielle Beteiligung an der betreffenden Aktion oder Maßnahme kürzen oder aussetzen, wenn durch die Prüfung bestätigt wird, dass eine Unregelmäßigkeit oder eine erhebliche Veränderung der Art oder der Durchführungsbedingungen der Aktion oder Maßnahme vorliegt und diese Veränderung der Kommission nicht zur Zustimmung unterbreitet wurde.
…“
10 Nach Art. 11 („Kontrolle der Vereinbarkeit“) der Verordnung (EWG) Nr. 4254/88 des Rates vom 19. Dezember 1988 zur Durchführung der Verordnung Nr. 2052/88 in bezug auf den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. L 374, S. 15) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2083/93 des Rates vom 20. Juli 1993 (ABl. L 193, S. 34) geänderten Fassung „übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission gemäß den spezifischen Verfahren der einzelnen Politiken [gegebenenfalls] die Angaben betreffend die Einhaltung der in Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung … Nr. 2052/88 genannten Bestimmungen“.
11 Nach Anhörung des Beratenden Ausschusses für die Entwicklung und Umstellung der Regionen und des Ausschusses nach Art. 147 EG erließ die Kommission, gestützt auf Art. 23 der Verordnung Nr. 4253/88, mehrere Durchführungsverordnungen, darunter die Verordnung (EG) Nr. 2064/97 vom 15. Oktober 1997 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 4253/88 hinsichtlich der Finanzkontrolle durch die Mitgliedstaaten bei von den Strukturfonds kofinanzierten Maßnahmen (ABl. L 290, S. 1).
12 Art. 8 der Verordnung Nr. 2064/97 sieht vor:
„(1) Spätestens im Zeitpunkt des Antrags auf endgültige Zahlung und der endgültigen Ausgabenerklärung für jede Interventionsform legen die Mitgliedstaaten der Kommission einen Vermerk … vor, der von einer Person oder Stelle erstellt worden ist, die in ihrer Funktion von der mit der Durchführung betrauten Stelle unabhängig ist. Der Vermerk enthält einen Überblick über die Ergebnisse der in den abgelaufenen Jahren durchgeführten Kontrollen und Untersuchungen sowie eine zusammenfassende Schlussfolgerung zu der Gültigkeit des Antrags auf endgültige Zahlung und zu der Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der dieser endgültigen Ausgabenerklärung zugrunde liegenden Maßnahmen.
(2) Ist in Anbetracht erheblicher Mängel des Verwaltungs- oder Kontrollsystems oder der großen Häufigkeit des Auftretens von Unregelmäßigkeiten eine zusammenfassende positive Schlussfolgerung zur Gültigkeit des Antrags auf endgültige Zahlung sowie der endgültigen Ausgabenerklärung nicht möglich, so wird in dem Vermerk auf diese Umstände hingewiesen und eine Schätzung des Umfangs des Problems sowie seiner finanziellen Auswirkungen vorgenommen.
In einem solchen Fall kann die Kommission um die Durchführung einer weiteren Kontrolle mit dem Ziel der Feststellung und Beseitigung von Unregelmäßigkeiten innerhalb eines von ihr bestimmten Zeitraums ersuchen.“
13 Am 15. Oktober 1997 erließ die Kommission die internen Leitlinien für die Nettofinanzkorrekturen im Rahmen der Anwendung des Artikels 24 der Verordnung Nr. 4253/88. Nach den Nrn. 5 und 6 der genannten internen Leitlinien ist als Ausnahme von der Regel, dass sich eine Nettofinanzkorrektur nur auf die jeweils aufgedeckte(n) Unregelmäßigkeit(en) bezieht, eine höhere Finanzkorrektur für den Fall vorgesehen, dass die Kommission Grund zu der Annahme hat, dass die Unregelmäßigkeit systematischen Charakter hat, d. h. auf grundsätzliche Mängel im Bereich des Managements, der Kontrolle oder des Audits zurückgeht und in anderen, ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls auftreten könnte. Bei der Vornahme einer solchen Finanzkorrektur bedient sich die Kommission der Extrapolation, d. h., sie berücksichtigt das Niveau und den spezifischen Charakter des unzulänglichen Verwaltungssystems sowie den Grad der Wahrscheinlichkeit, dass infolgedessen auch anderweitig Mittel missbräuchlich verwendet werden könnten.
14 Die Verordnungen Nr. 2052/88 und Nr. 4253/88 wurden mit Wirkung vom 1. Januar 2000 durch die Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates vom 21. Juni 1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds (ABl. L 161, S. 1) aufgehoben.
15 Die Verordnung Nr. 1260/1999 gilt gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 für den EFRE, den ESF, den EAGFL, Abteilung „Ausrichtung“, und das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei (FIAF).
16 In Art. 39 („Finanzkorrekturen“) dieser Verordnung heißt es:
„(1) Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, bei Unregelmäßigkeiten Nachforschungen anzustellen, bei nachgewiesenen erheblichen Veränderungen der Art oder der Durchführungs- und Kontrollbedingungen einer Intervention tätig zu werden und die erforderlichen Finanzkorrekturen vorzunehmen.
Der Mitgliedstaat nimmt die in Bezug auf die individuelle oder systematische Unregelmäßigkeit erforderlichen Finanzkorrekturen vor. Die von dem Mitgliedstaat vorgenommenen Korrekturen bestehen in der Streichung oder Kürzung der Gemeinschaftsbeteiligung. Der Mitgliedstaat kann die auf diese Weise freigesetzten Mittel unter Einhaltung der aufgrund von Artikel 53 Absatz 2 festzulegenden Bestimmungen für die betreffende Intervention wiederverwenden.
(2) Wenn die Kommission nach Abschluss der erforderlichen Überprüfungen feststellt, dass
a)
ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen gemäß Absatz 1 nicht nachgekommen ist oder
b)
eine Intervention insgesamt oder zum Teil die Beteiligung der Fonds weder ganz noch teilweise rechtfertigt oder
c)
bei den Verwaltungs- und Kontrollsystemen beträchtliche Mängel vorliegen, die zu systematischen Unregelmäßigkeiten führen könnten,
so setzt die Kommission die ausstehenden Zwischenzahlungen aus und fordert den Mitgliedstaat unter Angabe ihrer Gründe auf, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu äußern und gegebenenfalls alle erforderlichen Korrekturen vorzunehmen.
Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die Bemerkungen der Kommission, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in Zusammenarbeit auf der Grundlage der Partnerschaft bemüht sind, zu einer Einigung über die Bemerkungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.
(3) Kommt nach Ablauf des von der Kommission festgelegten Zeitraums keine Einigung zustande und hat der Mitgliedstaat bis dahin keine Korrekturen vorgenommen, so kann die Kommission unter Berücksichtigung etwaiger Bemerkungen des Mitgliedstaats innerhalb von drei Monaten beschließen,
a)
die Vorauszahlung … zu kürzen oder
b)
die erforderlichen Finanzkorrekturen vorzunehmen und die Fondsbeteiligung für die betreffende Intervention ganz oder teilweise zu streichen.
Die Kommission setzt den Betrag einer Korrektur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung der Art der Unregelmäßigkeit oder der Änderung sowie des Umfangs und der finanziellen Auswirkungen der festgestellten Mängel der Verwaltungs- oder Kontrollsysteme der Mitgliedstaaten fest.
Wurde bis zum Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist kein Beschluss über ein Vorgehen gemäß Buchstabe a) oder Buchstabe b) gefasst, so wird die Aussetzung der Zwischenzahlungen unverzüglich aufgehoben.
…“
17 Die Verordnung (EG) Nr. 1783/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 1999 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. L 213, S. 1), mit der die Verordnung Nr. 4254/88 aufgehoben wurde, enthält keine Vorschriften über finanzielle Berichtigungen.
18 Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 448/2001 der Kommission vom 2. März 2001 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates hinsichtlich des Verfahrens für die Vornahme von Finanzkorrekturen bei Strukturfondsinterventionen (ABl. L 64, S. 13) lautet:
„(1) Die Frist, innerhalb der der betroffene Mitgliedstaat einer Aufforderung der Kommission gemäß Artikel 39 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 nachkommen kann, seine Bemerkungen zu übermitteln und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen, beträgt zwei Monate, es sei denn, die Kommission räumt in ausreichend begründeten Fällen eine längere Frist ein.
(2) Wenn die Kommission eine extrapolierte oder pauschale Finanzkorrektur vorschlägt, erhält der Mitgliedstaat Gelegenheit, durch eine Prüfung der betroffenen Dossiers nachzuweisen, dass der tatsächliche Umfang der Unregelmäßigkeit geringer war, als ihn die Kommission veranschlagt hat. In Abstimmung mit der Kommission kann der Mitgliedstaat den Umfang dieser Prüfung auf einen geeigneten Anteil oder eine Stichprobe der betroffenen Dossiers begrenzen. Außer in ausreichend begründeten Fällen beträgt die eingeräumte Frist für diese Prüfung nicht mehr als zwei weitere Monate ab dem Ende der in Absatz 1 genannten Frist. Die Ergebnisse einer solchen Prüfung werden nach dem Verfahren des Artikels 39 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 überprüft. Die Kommission berücksichtigt jedes von dem Mitgliedstaat binnen der vorgegebenen Frist vorgelegte Beweismaterial.
(3) Wenn der Mitgliedstaat Einwendungen gegen die Bemerkungen der Kommission erhebt und eine Anhörung gemäß Artikel 39 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 stattfindet, läuft die Frist von drei Monaten, binnen der die Kommission einen Beschluss nach Artikel 39 Absatz 3 der vorgenannten Verordnung fasst, ab dem Tag der Anhörung.“
19 Die Verordnung Nr. 1260/1999, die vom Rat spätestens am 31. Dezember 2006 zu überprüfen war, wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds (ABl. L 210, S. 25) aufgehoben. Diese Verordnung gilt gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 für die genannten Fonds unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die jeweils in den Verordnungen zur Regelung dieser Fonds vorgesehen sind.
20 Die Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1783/1999 (ABl. L 210, S. 1) enthält keine Bestimmung für das Verfahren für die Finanzkorrekturen, die die Kommission vornehmen kann. Das Gleiche gilt für die Verordnung (EG) Nr. 1828/2006 der Kommission vom 8. Dezember 2006 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1083/2006 und der Verordnung Nr. 1080/2006 (ABl. L 371, S. 1).
21 Die genannten Finanzkorrekturen unterliegen gemeinsamen Regeln für diese drei Fonds, die in den Art. 99 bis 102 der Verordnung Nr. 1083/2006 festgelegt sind.
22 Art. 100 („Verfahren“) der Verordnung Nr. 1083/2006 bestimmt:
„(1) Bevor die Kommission eine finanzielle Berichtigung beschließt, eröffnet sie das Verfahren, indem sie den Mitgliedstaat über ihre vorläufigen Schlussfolgerungen in Kenntnis setzt und ihn auffordert, sich binnen zwei Monaten zu äußern.
Wenn die Kommission eine extrapolierte oder pauschale finanzielle Berichtigung vorschlägt, erhält der Mitgliedstaat Gelegenheit, durch eine Prüfung der betreffenden Unterlagen nachzuweisen, dass der tatsächliche Umfang der Unregelmäßigkeit geringer war als von der Kommission veranschlagt. In Abstimmung mit der Kommission kann der Mitgliedstaat den Umfang dieser Prüfung auf einen angemessenen Anteil oder eine Stichprobe in den betreffenden Unterlagen begrenzen. Außer in hinreichend begründeten Fällen wird für diese Prüfung eine Frist von bis zu zwei weiteren Monaten ab dem Ende der in Unterabsatz 1 genannten Zweimonatsfrist eingeräumt.
(2) Die Kommission berücksichtigt jedes Beweismaterial, das der Mitgliedstaat innerhalb der in Absatz 1 genannten Frist vorlegt.
(3) Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die vorläufigen Schlussfolgerungen der Kommission, so wird er von der Kommission zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in partnerschaftlicher Zusammenarbeit bemüht sind, zu einer Einigung über die Feststellungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.
(4) Im Falle einer Einigung kann der Mitgliedstaat die betreffenden Gemeinschaftsmittel gemäß Artikel 98 Absatz 2 Unterabsatz 2 wieder einsetzen.
(5) Kommt keine Einigung zustande, so entscheidet die Kommission binnen sechs Monaten nach der Anhörung über die finanzielle Berichtigung, wobei sie alle Informationen und Bemerkungen berücksichtigt, die ihr im Zuge des Verfahrens übermittelt wurden. Findet keine Anhörung statt, so beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des von der Kommission versandten Einladungsschreibens.“
23 Art. 108 („Inkrafttreten“) der Verordnung Nr. 1083/2006 sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:
„Diese Verordnung tritt am Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
Die Artikel 1 bis 16, 25 bis 28, 32 bis 40, 47 bis 49, 52 bis 54, 56, 58 bis 62, 69 bis 74, 103 bis 105 und 108 gelten ab dem Tag des Inkrafttretens dieser Verordnung nur für Programme für den Zeitraum 2007-2013. Die übrigen Vorschriften gelten ab dem 1. Januar 2007.“
24 Die Verordnung Nr. 1083/2006 wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds (ABl. L 347, S. 320) aufgehoben. Art. 145 Abs. 6 dieser Verordnung bestimmt: „Zur Vornahme der finanziellen Berichtigung erlässt die Kommission mittels Durchführungsrechtsakten einen Beschluss, und zwar binnen sechs Monaten nach dem Datum der Anhörung oder nach Eingang der zusätzlichen Informationen, falls der Mitgliedstaat sich während der Anhörung dazu bereit erklärt hatte, solche vorzulegen. Die Kommission berücksichtigt alle Informationen und Anmerkungen, die ihr im Zuge des Verfahrens übermittelt wurden. Findet keine Anhörung statt, so beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des hierzu von der Kommission versandten Einladungsschreibens.“
25 Gemäß Art. 154 der Verordnung Nr. 1303/2013 gilt der genannte Art. 145 ab dem 1. Januar 2014.
26 Dieser Art. 145 gehört zu Teil Vier der Verordnung Nr. 1303/2013, der die allgemeinen Bestimmungen enthält, die für den EFRE, den ESF, den Kohäsionsfonds sowie den Europäischen Meeres- und Fischereifonds in Bezug auf Verwaltung und Kontrolle, Finanzverwaltung, Rechnungslegung und finanzielle Berichtigungen gelten.
27 Weder die Verordnung (EU) Nr. 1301/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und mit besonderen Bestimmungen hinsichtlich des Ziels „Investitionen in Wachstum und Beschäftigung“ und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1080/2006 (ABl. L 347, S. 289) noch die Delegierte Verordnung (EU) Nr. 480/2014 der Kommission vom 3. März 2014 zur Ergänzung der Verordnung Nr. 1303/2013 (ABl. L 138, S. 5) enthalten eine Bestimmung in Bezug auf das Verfahren für Finanzkorrekturen, die die Kommission vornehmen kann.
Vorgeschichte der Rechtsstreitigkeiten und Entscheidungen betreffend Thüringen und Berlin (Ost)
28 Am 29. Juli 1994 erließ die Kommission die Entscheidung 94/628/EG zur Erstellung des gemeinschaftlichen Förderkonzepts für die Strukturinterventionen der Gemeinschaft in den deutschen Ziel-1-Regionen Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Berlin (Ost) (ABl. L 250, S. 18). Durch diese Entscheidung wurden operationelle Programme in den neuen Bundesländern und Berlin (Ost) möglich.
29 Der den vorliegenden Rechtsstreitigkeiten zugrunde liegende Sachverhalt, wie er aus den angefochtenen Urteilen und den Entscheidungen betreffend Thüringen und Berlin (Ost) (im Folgenden zusammen: streitige Entscheidungen) hervorgeht, lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Rechtssache C‑549/12 P
30 Mit der Entscheidung K(94) 1939/5 vom 5. August 1994 genehmigte die Kommission das Operationelle Programm in der Ziel-1-Region Land Thüringen in der Bundesrepublik Deutschland (Arinco Nr. 94.DE.16.005) (im Folgenden: Intervention zugunsten von Thüringen). Diese Entscheidung sah einen Beitrag aus den Strukturfonds in Höhe von 1021771000 ECU vor, der mit der Entscheidung K(99) 5087 vom 29. Dezember 1999 auf 1086827000 Euro mit einem Höchstbeitrag des EFRE in Höhe von 1020719000 Euro erhöht wurde. Das Thüringer Ministerium für Wirtschaft und Verkehr wurde mit der Verwaltung des Programms betraut.
31 Für die Maßnahme 2.1 zur Unterstützung produktiver Investitionen von kleineren und mittleren Unternehmen wurden in der Entscheidung K(99) 5087 Gesamtausgaben in Höhe von 674104000 Euro veranschlagt, von denen 337052000 Euro aus dem EFRE kamen.
32 2001 nahm die Kommission auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 und von Art. 14 der Verordnung Nr. 2064/97 eine systematische Prüfung der Verwaltungs- und Kontrollsysteme in Thüringen vor.
33 Am 30. Januar 2002 legte die Kommission ihren abschließenden Prüfbericht zu den Operationellen Programmen der Länder Thüringen und Sachsen-Anhalt mit Empfehlungen vor.
34 Am 24. Juni 2002 wurde der Abschlussvermerk nach Art. 8 der Verordnung Nr. 2064/97 von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erstellt und an die Kommission übermittelt.
35 Mit Schreiben vom 18. Juli 2002 legten die deutschen Behörden ihren Antrag auf endgültige Zahlung für die Intervention zugunsten von Thüringen vor. Am 27. Juni 2003 wurde diese Intervention von der Kommission geschlossen und die endgültige Zahlung in beantragter Höhe geleistet.
36 Nach dem Abschluss der genannten Intervention unternahm der Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften im Oktober, November und Dezember 2003 mehrere Prüfbesuche. 2004 nahm er im Rahmen seiner Prüfung zur Zuverlässigkeitserklärung zum Haushaltsjahr 2003 eine Schwachstellenanalyse eben dieser Intervention vor. An die 28 Projekte aus der Maßnahme 2.1 wurden geprüft.
37 Am 22. Juni 2004 übermittelte der Rechnungshof den deutschen Behörden seinen vorläufigen Prüfbericht. Mit Schreiben vom 31. August und vom 13. Oktober 2004 übermittelten die deutschen Behörden dem Rechnungshof zusätzliche Informationen.
38 Mit Schreiben vom 17. Januar 2005 übermittelte der Rechnungshof den nationalen Behörden seinen Prüfbericht. Darin wurden individuelle und systematische Unregelmäßigkeiten bezüglich einzelner Operationen, Fehler bei der Berechnung des Höchstbeitrags und das Fehlen von Belegen für bestimmte Arten von Ausgaben wie Gemeinkosten oder Eigenmittel festgestellt. Der Prüfbericht stellte Mängel bei den Verwaltungs- und Kontrollsystemen der Intervention zugunsten von Thüringen fest. Die bei den 28 Projekten der Maßnahme 2.1 ermittelte Fehlerquote betrug 31,36 %.
39 Mit Schreiben vom 19. Oktober 2006 übermittelte die Kommission den deutschen Behörden die ersten Ergebnisse ihrer Prüfung des genannten Prüfberichts und ersuchte sie um Stellungnahme.
40 Auf der Grundlage der Schwachstellenanalyse des Rechnungshofs kündigte die Kommission dem Freistaat Thüringen zunächst Finanzkorrekturen in Höhe von 135 Mio. Euro an. Nach Durchführung bilateraler Konsultationen mit dem Freistaat Thüringen wurden allerdings bestimmte Beanstandungen zurückgezogen.
41 Mit Schreiben vom 5. Januar 2007 antworteten die deutschen Behörden auf das Schreiben der Kommission vom 19. Oktober 2006; sie erhoben Einspruch gegen die Vornahme extrapolierter Finanzkorrekturen und fügten weitere Belege für die Förderfähigkeit bestimmter Ausgaben bei.
42 Mit Schreiben vom 23. April 2007 lud die Kommission die deutschen Behörden zu einem bilateralen Treffen ein, das am 8. Mai 2007 in Brüssel stattfand. Auf dieser Sitzung wurde vereinbart, dass die deutschen Behörden innerhalb von zwei Wochen nach dieser Sitzung weitere beweiskräftige Belege für die Erstattungsfähigkeit bestimmter Maßnahmen und Ausgaben beibringen würden. Diese Informationen gingen mit Schreiben vom 22. Juni 2007 bei der Kommission ein.
43 Mit der Entscheidung betreffend Thüringen kürzte die Kommission die finanzielle Beteiligung des EFRE an der Intervention zugunsten von Thüringen um 81425825,67 Euro und begründete dies damit, dass im Bereich der Maßnahme 2.1 individuelle und systematische Unregelmäßigkeiten im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 4253/88 festgestellt worden seien. Die Kommission nahm eine Extrapolation der Fehlerquote auf die gesamte Maßnahme 2.1 vor, wobei sie eine Fehlerquote von 23,88 % zugrunde legte. Sie kam zu einem Ergebnis von 1232012,70 Euro für individuelle Unregelmäßigkeiten und 80193812,97 Euro für systematische Unregelmäßigkeiten.
Rechtssache C‑54/13 P
44 Mit Entscheidung K(94) 1973 vom 5. August 1994 genehmigte die Kommission das operationelle Programm für das Ziel-1-Gebiet Land Berlin (Ost) in der Bundesrepublik Deutschland (Arinco Nr. 94.DE.16.006) (im Folgenden: Intervention zugunsten von Berlin [Ost]). Diese Entscheidung sah einen Beitrag aus den Strukturfonds in Höhe von 743112000 ECU vor, der später auf 779154000 Euro erhöht wurde, davon 540886000 Euro aus dem EFRE.
45 Als Verwaltungsbehörde wurde die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen des Landes Berlin benannt.
46 Mit Schreiben vom 24. März 2003 übermittelten die deutschen Behörden ihren Antrag auf endgültige Zahlung für die Intervention zugunsten von Berlin (Ost).
47 Vom 16. bis 20. Februar 2004, vom 29. März bis 2. April 2004 und vom 7. bis 11. März 2005 unternahmen die Kommission und ein von ihr beauftragtes externes Wirtschaftsprüfungsunternehmen im Rahmen der Abschlussprüfungen für die aus dem EFRE im Programmplanungszeitraum 1994–1999 kofinanzierten Programme mehrere Prüfbesuche.
48 Mit Schreiben vom 31. Mai und vom 15. Dezember 2005 übermittelte die Kommission den deutschen Behörden ihren Prüfbericht. Darin stellte sie diverse systematische Unregelmäßigkeiten bezüglich einzelner Operationen fest, darunter insbesondere die Anmeldung nicht förderfähiger Ausgaben, Verstöße gegen vergaberechtliche Vorschriften und das Fehlen von Belegen. Die bei den 29 tatsächlich geprüften Projekten der Intervention zugunsten von Berlin (Ost) ermittelte Fehlerquote betrug 7,56 %. Von den ausgewählten 36 Projekten konnten sieben aufgrund Bankrotts nicht geprüft werden.
49 Mit Schreiben vom 21. Oktober 2005 und vom 31. März 2006 nahmen die deutschen Behörden dazu Stellung und übersandten der Kommission weitere Informationen.
50 Mit Schreiben vom 26. Januar 2007 übermittelte die Kommission den deutschen Behörden ihre vorläufigen Schlussfolgerungen.
51 Mit Schreiben vom 9. Juli 2007 erhoben die deutschen Behörden unter Berufung auf die fehlende Rechtsgrundlage Einspruch gegen die Anwendung pauschalierter und extrapolierter Finanzkorrekturen und fügten weitere Belege für die Rechtmäßigkeit der betreffenden Ausgaben bei.
52 Unter Berücksichtigung der übermittelten weiteren Informationen und Nachweise wurden die Schlussfolgerungen zu den Prüfergebnissen geändert und den deutschen Behörden mit Schreiben vom 30. August 2007 mitgeteilt.
53 Eine bilaterale Sitzung fand am 14. September 2007 in Brüssel statt. Im Ergebnis der während dieser Sitzung geführten Gespräche sicherten die deutschen Behörden zu, innerhalb von vier Wochen nach der Sitzung weitere Nachweise für die Förderfähigkeit bestimmter Maßnahmen und Ausgabenposten nachzureichen. Diese gingen mit Schreiben vom 12. Oktober 2007 bei der Kommission ein. Die während der Sitzung erörterten Angelegenheiten sind in einem Sitzungsprotokoll vom 12. November 2007 dokumentiert.
54 Mit der Entscheidung betreffend Berlin (Ost) kürzte die Kommission die finanzielle Beteiligung des EFRE an der Intervention zugunsten von Berlin (Ost) um 12900719,52 Euro, d. h. um 2,68 %. Die Kommission geht in dieser Entscheidung von einer Fehlerquote bezogen auf die 29 geprüften Projekte von 3,63 % aus. Unter Zugrundelegung der gewährten EFRE-Beteiligung am operationellen Programm in Höhe von 951243399 DM geht die Kommission aufgrund von Berechnungen mit der Prüfungssoftware Audit Command Language (ACL) von einer extrapolierten Finanzkorrektur von 25516719 DM, mithin einer Kürzung der Beteiligung des EFRE am Gesamtprogramm um 2,68 % aus.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtene Urteile
55 Mit Klageschriften, die am 4. und 8. Juli 2008 bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, erhob die Bundesrepublik Deutschland Klagen auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidungen.
56 Das Königreich Spanien, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande traten in diesen beiden Verfahren vor dem Gericht jeweils als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Bundesrepublik Deutschland dem Rechtsstreit bei.
57 Die Bundesrepublik Deutschland stützte ihre Klage gegen die Entscheidung betreffend Thüringen auf fünf Klagegründe, und zwar auf einen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 (erster und zweiter Klagegrund), eine fehlende Vor-Ort-Kontrolle durch die Kommission (dritter Klagegrund), einen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und der Zusammenarbeit (vierter Klagegrund) sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (fünfter Klagegrund).
58 Ihre Klage gegen die Entscheidung betreffend Berlin (Ost) stützte sie auf fünf Klagegründe, und zwar auf einen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 (erster und zweiter Klagegrund), einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (dritter Klagegrund), eine unzureichende Begründung dieser Entscheidung (vierter Klagegrund) sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz der Partnerschaft (fünfter Klagegrund).
59 Mit den angefochtenen Urteilen hat das Gericht die geltend gemachten Klagegründe als unbegründet zurückgewiesen und die beiden Klagen in vollem Umfang abgewiesen.
Verfahren vor dem Gerichtshof
60 Am 29. November 2012 hat die Bundesrepublik Deutschland gegen das Urteil Deutschland/Kommission (T‑265/08, EU:T:2012:434) Rechtsmittel eingelegt.
61 Rechtsmittelbeantwortungen haben eingereicht die Französische Republik und die Kommission am 15. Februar 2013 sowie das Königreich Spanien am 20. Februar 2013.
62 Am 31. Januar 2013 hat die Bundesrepublik Deutschland gegen das Urteil Deutschland/Kommission (T‑270/08, EU:T:2012:612) Rechtsmittel eingelegt.
63 Rechtsmittelbeantwortungen haben eingereicht die Französische Republik am 29. März 2013, das Königreich der Niederlande am 5. April 2013, die Kommission am 9. April 2013 und das Königreich Spanien am 12. April 2013.
64 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. Juli 2013 sind die Rechtssachen C‑549/12 P und C‑54/13 P zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Anträge der Parteien
65 Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,
—
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die streitigen Entscheidungen für nichtig zu erklären und
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
66 Die Französische Republik beantragt, die angefochtenen Urteile vollständig aufzuheben, gemäß Art. 61 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Sache endgültig zu entscheiden und die streitigen Entscheidungen für nichtig zu erklären.
67 Das Königreich Spanien beantragt,
—
den Rechtsmitteln stattzugeben;
—
die angefochtenen Urteile aufzuheben und
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
68 Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.
Zu den Rechtsmitteln
Vorbringen der Parteien
69 In der Rechtssache C‑549/12 P macht die Bundesrepublik Deutschland zwei Rechtsmittelgründe geltend, mit denen sie jeweils einen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 in Verbindung mit Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 und gegen den in Art. 5 Abs. 2 EUV und Art. 7 AEUV festgeschriebenen Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung rügt.
70 In der Rechtssache C‑54/13 P macht die Bundesrepublik Deutschland vier Rechtsmittelgründe geltend, von denen die ersten drei einen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 in Verbindung mit Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 und gegen den in Art. 5 Abs. 2 EUV und Art. 7 AEUV festgeschriebenen Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung betreffen und der vierte eine Verletzung der Begründungspflicht nach Art. 81 der Verfahrensordnung des Gerichts in Verbindung mit den Art. 36 und 53 Unterabs. 1 der Satzung des Gerichtshofs.
71 Mit dem ersten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑549/12 P und ihrem ersten Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑54/13 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, das Gericht habe in den angefochtenen Urteilen rechtsfehlerhaft angenommen, reine Verwaltungsfehler nationaler Behörden stellten „Unregelmäßigkeiten“ dar, die die Kommission gemäß Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 zu Finanzkorrekturen berechtigten.
72 Mit dem zweiten und dem dritten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑549/12 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, dass, selbst wenn Verwaltungsfehler Unregelmäßigkeiten darstellen könnten, die eine Finanzkorrektur rechtfertigten, das Gericht in dem Urteil Deutschland/Kommission (T‑265/08, EU:T:2012:434) rechtsfehlerhaft entschieden habe, dass Verstöße gegen innerstaatliches Recht und Fehler ohne Auswirkungen auf den Unionshaushalt „Unregelmäßigkeiten“ darstellen könnten, die Finanzkorrekturen rechtfertigten.
73 Mit dem ersten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑549/12 P und dem ersten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑54/13 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, unterstützt durch das Königreich Spanien und die Französische Republik, das Gericht habe der Kommission rechtsfehlerhaft die Befugnis zugebilligt, extrapolierte Finanzkorrekturen vorzunehmen.
74 Mit dem zweiten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑549/12 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, unterstützt durch das Königreich Spanien, dass, selbst wenn solche Finanzkorrekturen zulässig gewesen wären, das Gericht die Art und Weise ihrer Durchführung in der Entscheidung betreffend Thüringen rechtsfehlerhaft bestätigt habe, da es hinsichtlich eines Teils der beanstandeten Projekte an der Feststellung eines Schadens für den Unionshaushalt fehle und die Kommission einen Teil der beanstandeten Fehler nicht als systematisch hätte einordnen dürfen.
75 Mit dem zweiten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑54/13 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, unterstützt durch das Königreich Spanien, dass, selbst wenn Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 4253/88 die Befugnis der Kommission zur extrapolierten Kürzung entnommen werden könnte, das Gericht rechtsfehlerhaft die Art und Weise der Durchführung der Extrapolation in der Entscheidung betreffend Berlin (Ost) bestätigt habe, denn die Kommission hätte zum einen nicht die von ihr beanstandeten Fehler als systematisch für das gesamte operationelle Programm einordnen und die dafür ermittelte Fehlerquote auf das Gesamtprogramm hochrechnen dürfen, und zum anderen hätte sie nicht das von ihr angewandte Stichprobenverfahren verwenden dürfen, um eine Kürzung mittels Extrapolation für das Gesamtprogramm vorzunehmen. Mit dem dritten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes weist die Bundesrepublik Deutschland darauf hin, die Kommission habe durch die Extrapolation nicht repräsentativer Fehler und Pauschalkorrekturen eine unverhältnismäßige Kürzung der finanziellen Beteiligung am operationellen Programm vorgenommen.
76 Mit dem ersten Teil ihres dritten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑54/13 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, das Gericht habe rechtsfehlerhaft unterstellt, dass der Kommission die Befugnis zu pauschalen Finanzkorrekturen zustehe. Mit dem zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes rügt die Bundesrepublik Deutschland, dass, selbst wenn die Kommission zu Pauschalkorrekturen befugt wäre, das Gericht rechtsfehlerhaft die Vornahme unverhältnismäßiger Pauschalkorrekturen bestätigt habe.
77 Mit ihrem vierten Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑54/13 P rügt die Bundesrepublik Deutschland, den Entscheidungsgründen des Urteils Deutschland/Kommission (T‑270/08, EU:T:2012:612) sei nicht zu entnehmen, dass sich das Gericht mit ihrem Vorbringen zur Unzulässigkeit von pauschalen Finanzkorrekturen im Rahmen des ersten Teils des zweiten Klagegrundes auseinandergesetzt habe bzw. welche Erwägungen das Gericht der Zurückweisung dieses Vorbringens zugrunde gelegt habe.
78 Nach Ansicht der Kommission sind diese Rechtsmittelgründe unbegründet und die Rechtsmittel zurückzuweisen.
Würdigung durch den Gerichtshof
79 Es ist festzustellen, dass das Gericht in den angefochtenen Urteilen über die Nichtigkeitsklagen der Bundesrepublik Deutschland entschieden und sie abgewiesen hat, nachdem es jeweils die fünf für sie geltend gemachten Klagegründe für unbegründet erklärt hatte.
80 Dadurch hat das Gericht implizit, aber denknotwendig, die förmliche Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidungen bejaht.
81 Aus den in den Rn. 56 bis 89 und 93 der Urteile Spanien/Kommission (C‑192/13 P, EU:C:2014:2156) und Spanien/Kommission (C‑197/13 P, EU:C:2014:2157) angeführten Gründen ergibt sich jedoch, dass die Kommission seit dem Jahr 2000 verpflichtet ist, beim Erlass einer Entscheidung über eine Finanzkorrektur eine gesetzliche Frist einzuhalten.
82 Beim derzeitigen Stand des Unionsrechts gibt es nichts, was diese Rechtsprechung in Frage stellen könnte, vielmehr kann sie auf die vorliegenden Rechtssachen übertragen werden.
83 Wie der Gerichtshof jeweils in Rn. 94 seiner Urteile Spanien/Kommission (C‑192/13 P, EU:C:2014:2156) und Spanien/Kommission (C‑197/13 P, EU:C:2014:2157) festgestellt hat, schwankt die Dauer der Frist, über die die Kommission für den Erlass ihrer Beschlüsse verfügt, in Abhängigkeit von der geltenden Regelung.
84 Aus Art. 108 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 ergibt sich, dass deren Art. 100 seit dem 1. Januar 2007 gilt, und zwar auch für Programme vor dem Zeitraum 2007–2013.
85 Gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 eröffnet die Kommission, bevor sie eine finanzielle Berichtigung beschließt, das Verfahren, indem sie den Mitgliedstaat über ihre vorläufigen Schlussfolgerungen in Kenntnis setzt und ihn auffordert, sich binnen zwei Monaten zu äußern. Erhebt der Mitgliedstaat Einwände gegen die vorläufigen Schlussfolgerungen der Kommission, so wird er von der Kommission gemäß Art. 100 Abs. 3 dieser Verordnung zu einer Anhörung eingeladen, bei der beide Seiten in partnerschaftlicher Zusammenarbeit bemüht sind, zu einer Einigung über die Feststellungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse zu gelangen.
86 Gemäß Art. 100 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 entscheidet die Kommission binnen sechs Monaten nach der Anhörung über die finanzielle Berichtigung und, falls keine Anhörung stattfindet, beginnt die Sechsmonatsfrist zwei Monate nach dem Datum des von der Kommission versandten Einladungsschreibens.
87 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Kommission, wenn der Mitgliedstaat gegen ihre vorläufigen Schlussfolgerungen Einwände erhebt, dem Mitgliedstaat ein Einladungsschreiben zu einer Anhörung senden und eine solche durchführen muss. Dies ist Voraussetzung für die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Vornahme von Finanzkorrekturen und setzt den Lauf der Frist für den Erlass eines Kommissionsbeschlusses zur Vornahme einer solchen Korrektur in Gang.
88 Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht jedoch nicht hervor, dass die Kommission an die Bundesrepublik Deutschland im Anschluss an die Mitteilung ihrer vorläufigen Schlussfolgerungen eine Einladung zu einer Anhörung im Sinne von Art. 100 Abs. 3 und 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 gerichtet hätte oder dass eine solche Anhörung stattgefunden hätte. Vielmehr ist den Akten zu entnehmen, dass am 8. Mai und 14. September 2007 in Brüssel bilaterale Treffen der Kommission mit Vertretern der Bundesrepublik Deutschland stattfanden.
89 Insoweit ist zu beachten, dass, da es sich hier um Entscheidungen handelt, die spürbare Auswirkungen auf den Haushalt haben, es sowohl im Interesse des betroffenen Mitgliedstaats als auch der Kommission liegt, dass der Abschluss des Finanzkorrekturverfahrens vorhersehbar ist. Dies setzt voraus, dass für den Erlass des endgültigen Beschlusses von vornherein eine Frist festgelegt ist. Ein Überschreiten der für den Erlass eines Beschlusses über eine Finanzkorrektur vorgesehenen Frist ist mit dem allgemeinen Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung nicht vereinbar (Urteile Spanien/Kommission, C‑192/13 P, EU:C:2014:2156, Rn. 88, und Spanien/Kommission, C‑197/13 P, EU:C:2014:2157, Rn. 88).
90 Unter diesen Umständen kann sich die Kommission nicht dadurch von ihrer Pflicht zum Erlass der Beschlüsse zur Vornahme von Finanzkorrekturen innerhalb einer von vornherein festgelegten Frist befreien, dass sie die Handlungen, mit denen der Lauf dieser Frist in Gang gesetzt wird, unterlässt.
91 Selbst wenn die bilateralen Treffen vom 8. Mai bzw. 14. September 2007 für die Zwecke der Berechnung der Fristen für den Erlass der Kommissionsbeschlüsse zur Vornahme von Finanzkorrekturen als Anhörungen im Sinne von Art. 100 Abs. 3 und 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 eingestuft werden könnten, wäre festzustellen, dass die streitigen Entscheidungen am 30. und 29. April 2008 erlassen wurden und die Kommission die in Art. 100 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 festgelegte Frist nicht eingehalten hat.
92 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass die Nichtbeachtung der Verfahrensvorschriften über den Erlass einer beschwerenden Maßnahme ‐ wenn z. B. die Kommission eine Entscheidung nicht innerhalb der vom Unionsgesetzgeber festgelegten Frist erlassen hat ‐ eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften darstellt, die vom Unionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. Urteile Spanien/Kommission, C‑192/13 P, EU:C:2014:2156, Rn. 103, Spanien/Kommission, C‑197/13 P, EU:C:2014:2157, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Spanien/Kommission, C‑429/13 P, EU:C:2014:2310, Rn. 34).
93 Nach ständiger Rechtsprechung kann der Unionsrichter, außer in besonderen Fällen wie denen, die u. a. in den Verfahrensordnungen der Unionsgerichte vorgesehen sind, seine Entscheidung nicht auf einen von Amts wegen geprüften Rechtsgrund stützen, sei er auch zwingenden Rechts, ohne die Parteien zuvor aufgefordert zu haben, sich dazu zu äußern (vgl. Urteile Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 57, und HABM/National Lottery Commission, C‑530/12 P, EU:C:2014:186, Rn. 54).
94 Was die Frage anbelangt, innerhalb welcher Frist ein Finanzkorrekturbeschluss zu ergehen hat, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in den Rechtssachen, in denen die Urteile Spanien/Kommission (C‑192/13 P, EU:C:2014:2156) und Spanien/Kommission (C‑197/13 P, EU:C:2014:2157) – die sich im Wesentlichen auf die gleichen Sach- und Rechtsfragen bezogen – ergangen sind, bereits Gelegenheit hatte, sie zu erörtern. Überdies hatte der Gerichtshof in den genannten Rechtssachen die Parteien aufgefordert, ihr Vorbringen auf diese Frage zu konzentrieren.
95 Darüber hinaus ist diese Rechtsprechung seitdem vom Gerichtshof wiederholt bestätigt worden (vgl. Urteile Spanien/Kommission, C‑429/13 P, EU:C:2014:2310, und Spanien/Kommission, C‑513/13 P, EU:C:2014:2412).
96 Hieraus folgt zum einen, dass die Kommission hinreichend Gelegenheit gehabt hat, ihre auf die Bedeutung der in Art. 100 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 festgelegten Frist bezogenen Gründe und Argumente in einer streitigen Verhandlung vorzutragen, und zum anderen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung dieser Vorschrift als gefestigt anzusehen ist.
97 Daher ist festzustellen, dass die vorliegende Rechtssache einen besonderen Fall im Sinne der in Rn. 93 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt und die Parteien nicht aufzufordern sind, sich zu diesem Rechtsgrund zu äußern.
98 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Kommission beim Erlass der streitigen Entscheidungen die durch eine Verordnung des Rates gesetzlich vorgeschriebene Frist nicht eingehalten hat.
99 Es ist daher festzustellen, dass das Gericht dadurch, dass es die Klagen der Bundesrepublik Deutschland abgewiesen hat, anstatt den Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften, mit dem die streitigen Entscheidungen behaftet sind, zu ahnden, einen Rechtsfehler begangen hat.
100 Die angefochtenen Urteile sind daher aufzuheben.
Zu den erstinstanzlichen Klagen
101 Nach Art. 61 Abs. 1 seiner Satzung hebt der Gerichtshof, wenn das Rechtsmittel begründet ist, die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
102 Der Gerichtshof verfügt im vorliegenden Fall über die erforderlichen Angaben, um endgültig über die von der Bundesrepublik Deutschland beim Gericht erhobenen Klagen auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidungen zu entscheiden.
103 Insoweit genügt der Hinweis, dass die streitigen Entscheidungen aus den in den Rn. 81 bis 99 des vorliegenden Urteils genannten Gründen wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig zu erklären sind.
Kosten
104 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.
105 Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Rechtsmitteln obsiegt hat und den vor dem Gericht erhobenen Klagen stattgegeben wird, sind der Kommission gemäß den Anträgen der Bundesrepublik Deutschland ihre eigenen Kosten und die Kosten dieses Mitgliedstaats aufzuerlegen, und zwar sowohl im ersten Rechtszug als auch im Verfahren über die Rechtsmittel.
106 Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Somit tragen das Königreich Spanien, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Urteile Deutschland/Kommission (T‑265/08, EU:T:2012:434) und Deutschland/Kommission (T‑270/08, EU:T:2012:612) des Gerichts der Europäischen Union werden aufgehoben.
2. Die Entscheidung K(2008) 1690 endg. der Kommission vom 30. April 2008 über die Kürzung des Beitrags aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für ein Operationelles Programm in der Ziel-1-Region Land Thüringen in der Bundesrepublik Deutschland (1994–1999) gemäß Entscheidung K(94) 1939/5 der Kommission vom 5. August 1994 und die Entscheidung K(2008) 1615 endg. der Kommission vom 29. April 2008 über die Kürzung des durch die Entscheidung der Kommission K(94) 1973 vom 5. August 1994 gewährten Beitrags des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) für das Operationelle Programm Berlin (Ost) Ziel 1 (1994–1999) in der Bundesrepublik Deutschland werden für nichtig erklärt.
3. Die Europäische Kommission trägt die Kosten der Bundesrepublik Deutschland und ihre eigenen Kosten, und zwar sowohl im ersten Rechtszug als auch im Rechtsmittelverfahren.
4. Das Königreich Spanien, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 11. Juni 2015.#Laboratoires CTRS gegen Europäische Kommission.#Humanarzneimittel – Arzneimittel für seltene Leiden – Genehmigung für das Inverkehrbringen des Medikaments Cholic Acid FGK (umbenannt in Kolbam) – Therapeutische Zwecke – Marktexklusivitätsrecht – Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 141/2000.#Rechtssache T-452/14.
|
62014TJ0452
|
ECLI:EU:T:2015:373
| 2015-06-11T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62014TJ0452 - EN - EUR-Lex
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Beschluss des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 4. Juni 2015.#Mirelta Ingatlanhasznosító kft gegen Europäische Kommission und Europäischer Bürgerbeauftragter.#Rechtsmittel – Nichtigkeitsklage – Weigerung der Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten – Unzulässigkeit und Unzuständigkeit des Gerichts – Teils offensichtlich unbegründetes und teils offensichtlich unzulässiges Rechtsmittel.#Rechtssache C-576/14 P.
|
62014CO0576
|
ECLI:EU:C:2015:370
| 2015-06-04T00:00:00 |
Gerichtshof, Wathelet
|
EUR-Lex - CELEX:62014CO0576 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 4. Juni 2015.#Andechser Molkerei Scheitz GmbH gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Öffentliche Gesundheit – Liste der für die Verwendung in Lebensmitteln zugelassenen Lebensmittelzusatzstoffe – Steviolglycoside – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Rechtsschutzinteresse.#Rechtssache C-682/13 P.
|
62013CJ0682
|
ECLI:EU:C:2015:356
| 2015-06-04T00:00:00 |
Gerichtshof, Jääskinen
|
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
4. Juni 2015(*)
„Rechtsmittel – Öffentliche Gesundheit – Liste der für die Verwendung in Lebensmitteln zugelassenen Lebensmittelzusatzstoffe – Steviolglycoside – Zulässigkeitsvoraussetzungen – Rechtsschutzinteresse“
In der Rechtssache C‑682/13 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 20. Dezember 2013,
Andechser Molkerei Scheitz GmbH, Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt H. Schmidt,
Rechtsmittelführerin,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch S. Grünheid und P. Ondrůšek als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský
und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Andechser Molkerei Scheitz GmbH die teilweise Aufhebung des Beschlusses des Gerichts
der Europäischen Union Andechser Molkerei Scheitz/Kommission (T‑13/12, EU:T:2013:567, im Folgenden: angefochtener Beschluss),
durch den das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 1131/2011 der Kommission vom 11. November 2011
zur Änderung von Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich Steviolglycosiden
(ABl. L 295, S. 205, im Folgenden: streitige Verordnung) abgewiesen hat, sowie die Nichtigerklärung dieser Verordnung.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Steviolglycoside sind aus den Blättern der Stevia-rebaudiana-Bertoni-Pflanze extrahierte Substanzen. Obwohl sie praktisch keinen Brennwert haben, bieten Steviolglycoside je nach Sorte eine bis
zu 300-fache Süßkraft von Zucker, so dass sie Zucker und andere kalorienreiche Süßungsmittel ersetzen können.
3 In den Jahren 2007 und 2008 beantragten drei Hersteller von Steviolglycosiden bei der Europäischen Kommission die Zulassung
von Steviolglycosiden als Süßungsmittel gemäß der Richtlinie 94/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni
1994 über Süßungsmittel, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen (ABl. L 237, S. 3).
4 Nach Prüfung der genannten Anträge erließ die Kommission die streitige Verordnung.
5 Durch diese Verordnung werden die aus der Stevia-rebaudiana-Bertoni-Pflanze extrahierten Steviolglycoside unter der Bezeichnung „E 960 Steviolglycoside“ (im Folgenden: E 960) zur Verwendung
als Süßungsmittel in bestimmten Lebensmittelkategorien (insbesondere in aromatisierten, fermentierten Milchprodukten, die
brennwertvermindert oder ohne Zuckerzusatz sind) zugelassen und die Verwendungsbedingungen festgelegt.
6 Die Rechtsmittelführerin ist ein Unternehmen, das Milch von verschiedenen Erzeugern von Biomilch sammelt und daraus Bioprodukte,
u. a. Biojoghurt, herstellt.
Klage beim Gericht und angefochtener Beschluss
7 Mit Klageschrift, die am 9. Januar 2012 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob die Rechtsmittelführerin eine Klage, mit
der sie u. a. beantragte, die streitige Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie die aus den Blättern der Stevia-rebaudiana-Bertoni-Pflanze extrahierten Steviolglycoside nur zur Verwendung als Lebensmittelzusatzstoffe und nicht als pflanzliche Lebensmittelzutaten
landwirtschaftlicher Herkunft oder als Aromaextrakte zulässt.
8 Die Kommission trug vor, dass diese Klage unabhängig davon, ob sie auf die Nichtigerklärung der streitigen Verordnung oder
auf eine umfassendere Zulassung von Steviolglycosiden abziele, unzulässig sei.
9 Die Rechtsmittelführerin machte geltend, es sei zulässig, die Nichtigerklärung der streitigen Verordnung insoweit zu beantragen,
als durch sie Steviolglycoside nur zur Verwendung als Lebensmittelzusatzstoffe zugelassen worden seien, da sie als Herstellerin
von Bioprodukten Steviolglycoside in ihren eigenen Produkten nicht verwenden dürfe. Die Rechtsmittelführerin rügte, dass die
Kommission nicht, zur Herstellung der Kohärenz des Unionsrechts, parallel dafür Sorge getragen habe, dass die Hersteller von
Biolebensmitteln ebenfalls in den Genuss der durch die streitige Verordnung erteilten Zulassung kämen.
10 Das Gericht hat zunächst darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder
juristischen Person nur zulässig sei, wenn der Kläger ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung habe.
Es müsse sich dabei um ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse handeln, wofür auf den Tag der Klageerhebung abzustellen
sei. Zudem bestehe ein solches Interesse nur dann, wenn die Nichtigerklärung der Handlung als solche Rechtswirkungen haben
könne oder wenn – nach einer anderen Formel – der Rechtsbehelf der Partei, die ihn eingelegt habe, im Ergebnis einen Vorteil
verschaffen könne.
11 Sodann hat das Gericht festgestellt, dass die streitige Verordnung auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerin keine andere
als die – günstige – Wirkung habe, ihr wie jedem anderen Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit zu eröffnen, den Zusatzstoff
E 960 unter Beachtung der in der streitigen Verordnung vorgeschriebenen Bedingungen in Lebensmitteln zu verwenden.
12 Das Gericht hat weiter ausgeführt, es ergebe sich keineswegs aus der streitigen Verordnung, dass die Wirtschaftsteilnehmer
nach dem Stand der unionsrechtlichen Vorschriften bei Klageerhebung nicht die Möglichkeit hätten, Steviolglycoside in Biolebensmitteln
zu verwenden, und eine Nichtigerklärung dieser Verordnung würde der Rechtsmittelführerin im Übrigen kein Recht zur Verwendung
von Steviolglycosiden in ihren Bioprodukten verschaffen.
13 Schließlich hat das Gericht festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin jedenfalls keinen Beweis für ihr Vorbringen erbracht
habe, wonach zum einen konventionelle, mit E 960 gesüßte Joghurts mit niedrigem Brennwert in Zukunft auf den Markt gebracht
würden und zum anderen solche Produkte dann in einem Konkurrenzverhältnis zu den von ihr hergestellten und vermarkteten Biojoghurts
stünden.
14 Das Gericht ist daher zu dem Schluss gelangt, dass die Rechtsmittelführerin kein bei Klageerhebung bestehendes gegenwärtiges
Interesse an der Nichtigerklärung der streitigen Verordnung nachgewiesen habe, so dass die darauf gerichtete Klage als unzulässig
abzuweisen sei.
Zum Rechtsmittel
15 Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf mehrere Rechtsmittelgründe, von denen einige sich auf Fehler beziehen,
die das Gericht begangen haben soll, als es die Klage wegen mangelnden Rechtsschutzinteresses für unzulässig erklärt hat,
und andere die Begründetheit der beim Gericht erhobenen Klage betreffen.
Zum ersten Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler hinsichtlich der Voraussetzung des Rechtsschutzinteresses
Vorbringen der Parteien
16 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund bringt die Rechtsmittelführerin vor, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, als
es entschieden habe, dass sie kein bei der Erhebung ihrer Klage bestehendes gegenwärtiges Interesse an der Nichtigerklärung
der streitigen Verordnung nachgewiesen habe. Dieser Rechtsmittelgrund besteht aus drei Teilen.
17 Als Erstes macht die Rechtsmittelführerin geltend, durch die Feststellung, dass die Zulassung von Steviolglycosiden nur eine
positive Wirkung habe und dass es ihre Sache sei, ob sie diese positive Wirkung nutze, indem sie wie ihre Mitbewerber konventionelle,
mit Steviolglycosiden versetzte Joghurts herstelle, lasse das Gericht zu, dass jede vom Unionsgesetzgeber vorgenommene Ungleichbehandlung
gleichartiger Sachverhalte der richterlichen Kontrolle entzogen werde. Die Nichtigerklärung der streitigen Verordnung durch
das Gericht würde der Rechtsmittelführerin insofern nutzen, als ihre Konkurrenten, die konventionelle Milchprodukte herstellten,
nicht mehr die Möglichkeit hätten, ihr gegenüber ungerechten Wettbewerb zu betreiben.
18 Als Zweites wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht vor, die Klage mit der Begründung als unzulässig abgewiesen zu haben,
dass die Verwendung von Steviolglycosiden auf dem Markt noch nicht habe bewiesen werden können. Es habe aber festgestanden,
dass schon während der zweimonatigen Klagefrist – auch wenn sich dies erst später konkretisiert habe – ein Konkurrenzverhältnis
zwischen der Rechtsmittelführerin und den anderen Unternehmen auf dem fraglichen Markt bestanden habe, denn es sei zu erwarten
gewesen, dass Letztere die Möglichkeit nutzen würden, Steviolglycoside in Milchprodukten zu verwenden. Das Vorliegen dieses
konkret prognostizierten Konkurrenzverhältnisses genüge, um das Bedürfnis eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen
die Rechtsakte der Kommission zu begründen. Dieser Schutz würde vereitelt, wenn die Zulässigkeit einer in diesem engen Zeitfenster
erhobenen Klage von noch strengeren Voraussetzungen abhängig gemacht würde, nach denen eine Klage nur gegen eine Handlung
erhoben werden könnte, deren diskriminierende und marktbehindernde Wirkung, die sich schon abzeichne und praktisch sicher
sei, zum Zeitpunkt der Klageerhebung oder während der Schriftsatzfristen bereits zutage getreten sei.
19 Als Drittes wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht vor, ihr Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verletzt zu haben, da die Klage, indem sie ohne Begründetheitsprüfung
als unzulässig abgewiesen worden sei, nicht als wirksamer Rechtsbehelf behandelt worden sei.
20 Hierzu führt die Kommission aus, der von der Rechtsmittelführerin erhobene Vorwurf der Diskriminierung beruhe auf der falschen
Prämisse, dass sich die Hersteller von Biomilchprodukten und die Hersteller konventioneller Milchprodukte in einer vergleichbaren
Situation befänden und dass vorliegend von einer Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte durch den Gesetzgeber auszugehen
sei. Bei biologischen Produkten einerseits und nichtbiologischen Produkten andererseits handele es sich aber um unterschiedliche
Produktgruppen, die unterschiedlichen Regelungen unterlägen. Der Umstand, dass die Vorschriften über die biologische Produktion
strengere Vorgaben enthielten als die für die Herstellung nichtbiologischer Produkte geltenden Vorschriften, sei dem System
immanent. Die Hersteller von biologischen Produkten beachteten diese strengeren Regeln freiwillig, um auf einem spezifischen
Markt die Verbrauchernachfrage nach biologischen Erzeugnissen zu bedienen.
21 Das Vorbringen der Rechtsmittelführerin, wonach ihre Klage insbesondere deshalb für zulässig zu erklären sei, weil ihr durch
die streitige Verordnung etwas genommen werde, entbehre jeder Grundlage, da die einzige Rechtswirkung der streitigen Verordnung
darin bestehe, allen Wirtschaftsteilnehmern die Möglichkeit zu geben, Steviolglycoside als Lebensmittelzusatzstoffe zu verwenden.
Dass die Rechtsmittelführerin von der ihr durch die streitige Verordnung eingeräumten Möglichkeit, Steviolglycoside zu verwenden,
keinen Gebrauch mache, sei ihre eigene Entscheidung, weshalb keine Rede davon sein könne, dass sie gezwungen wäre, gegen ihre
Überzeugungen zu handeln. Es stehe der Rechtsmittelführerin frei, mit dem Zusatzstoff E 960 gesüßte Joghurts mit niedrigem
Brennwert herzustellen und zu vermarkten.
22 Schon deshalb habe das Gericht die Nichtigkeitsklage zu Recht als unzulässig abgewiesen, denn der Rechtsmittelführerin fehle
jegliches Rechtsschutzinteresse an der Nichtigerklärung der streitigen Verordnung.
23 Zum zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes bringt die Kommission vor, das Gericht habe keinen Beweis dafür gefordert, dass
es bereits konventionelle Joghurtprodukte auf dem Markt gebe, sondern einen Beweis für die zukünftige Vermarktung solcher
Produkte. Die Ausführungen des Gerichts seien frei von Rechtsfehlern und beruhten auf der ständigen Rechtsprechung, wonach
der Kläger, wenn sein Rechtsschutzinteresse eine zukünftige rechtliche Situation betreffe, nachweisen müsse, dass die Beeinträchtigung
dieser Situation bereits feststehe. Wenn – wie die Rechtsmittelführerin in ihrer Rechtsmittelschrift ausführe – während der
Klagefrist und der Schriftsatzfristen in Fachkreisen darüber nachgedacht worden sei, konventionelle Joghurtprodukte mit Steviolglycosiden
auf den Markt zu bringen, hätte die Rechtsmittelführerin den Beweis hierfür bereits antreten können, als sie beim Gericht
Klage erhoben habe. Außerdem lasse die Rechtsmittelführerin unerwähnt, dass das Gericht auch deshalb eine Beeinträchtigung
ihrer Rechtsstellung durch die streitige Verordnung als nicht erwiesen angesehen habe, weil sie nicht dargetan habe, dass
ein Konkurrenzverhältnis zwischen konventionellen, mit dem Zusatzstoff E 960 gesüßten Milchprodukten und ihren eigenen biologischen
Produkten bestehe.
24 Der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist nach Ansicht der Kommission unzulässig, da sich die Rechtsmittelführerin
auf die Behauptung beschränke, dass allein schon die Zurückweisung einer Klage als unzulässig als Verletzung der justiziellen
Grundrechte zu qualifizieren sei. Zudem sei er offensichtlich unbegründet, da die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Nichtigkeitsklage
gemäß Art. 263 AEUV und das Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses zum Zeitpunkt der Klageerhebung nach der ständigen Rechtsprechung
des Gerichtshofs durch die Charta nicht verdrängt werden könnten.
Würdigung durch den Gerichtshof
25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person nur zulässig ist,
wenn sie ein Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung hat. Ein solches Interesse setzt voraus, dass die
Nichtigerklärung dieser Handlung als solche Rechtswirkungen haben kann und dass der Rechtsbehelf der Partei, die ihn eingelegt
hat, damit im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (vgl. Urteil Stichting Woonlinie u. a./Kommission, C‑133/12 P, EU:C:2014:105,
Rn. 54).
26 Bei der Prüfung des Interesses an einer Nichtigkeitsklage ist auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen (vgl. Urteil
Forges de Clabecq/Hohe Behörde, 14/63, EU:C:1963:60, 799).
27 Der Kläger muss für sein Rechtsschutzinteresse, das die wesentliche Grundvoraussetzung jeder Klage darstellt, den Nachweis
erbringen (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten der Zweiten Kammer des Gerichtshofs, S/Kommission, C‑206/89 R, EU:C:1989:333,
Rn. 8).
28 Insbesondere ist es für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person gegen eine Handlung
erforderlich, dass der Kläger sein Interesse an der Nichtigerklärung der Handlung schlüssig darlegt (vgl. in diesem Sinne
Urteil De Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg/Hohe Behörde, 30/59, EU:C:1961:2, 39).
29 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 der Charta nicht darauf abzielt, das in den Verträgen vorgesehene Rechtsschutzsystem
und insbesondere die Bestimmungen über die Zulässigkeit von Klagen vor den Unionsgerichten zu ändern, wie auch aus den Erläuterungen
zu diesem Artikel hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu
berücksichtigen sind (vgl. Urteil Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 97).
30 Wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, gehört das Rechtsschutzinteresse eines Klägers aber zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen
einer Nichtigkeitsklage.
31 Daraus folgt, dass Art. 47 der Charta einer wegen mangelnden Rechtsschutzinteresses des Klägers erfolgenden Abweisung einer
Klage als unzulässig nicht entgegensteht.
32 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsmittelführerin vor dem Gericht ihr Rechtsschutzinteresse im Wesentlichen damit zu
rechtfertigen versucht hat, dass zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage gegen die streitige Verordnung kein Zweifel daran bestanden
habe, dass konventionelle Joghurtprodukte mit Steviolglycosiden auf den Markt gebracht und mit biologischen Joghurtprodukten,
die derartige Süßungsmittel nicht enthalten dürften, im Wettbewerb stehen würden, so dass die Nichtigerklärung der streitigen
Verordnung ihr insofern einen Vorteil verschaffen würde, als dadurch im betroffenen Sektor eine Situation unverfälschten Wettbewerbs
wiederhergestellt würde.
33 Außerdem beruht das Vorbringen der Rechtsmittelführerin zur Stützung ihres ersten Rechtsmittelgrundes auch darauf, dass zwischen
konventionellen und biologischen Joghurtprodukten ein Konkurrenzverhältnis bestehe.
34 Selbst wenn man unterstellt, dass die Umstände des vorliegenden Falls den Schluss zuließen, dass zum Zeitpunkt der Erhebung
der Klage gegen die streitige Verordnung kein Zweifel daran bestand, dass konventionelle Joghurtprodukte mit Steviolglycosiden
– wie sich später zeigte – auf den Markt gebracht werden, ist aber kein stichhaltiger, ein Rechtsschutzinteresse der Rechtsmittelführerin
begründender Anhaltspunkt dafür geliefert worden, dass zwischen diesen Joghurtprodukten und den biologischen Joghurtprodukten
ein Konkurrenzverhältnis besteht.
35 Fest steht nämlich, dass sich die Rechtsmittelführerin auf die Behauptung beschränkt hat, dass zwischen den Joghurtprodukten
mit Steviolglycosiden und den biologischen Joghurtprodukten, die keine Steviolglycoside enthalten dürften, ein Konkurrenzverhältnis
bestehe, ohne diese Behauptung zu untermauern.
36 Im Übrigen ist unstreitig, dass im Rahmen des Unionsrechts biologische Produkte und nichtbiologische Produkte – wie die Kommission
dargelegt hat – unterschiedlichen Regelungen unterliegen, wobei für die Herstellung Ersterer strengere Vorgaben gelten als
für Letztere. Außerdem wird im ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die
ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der
Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 (ABl. L 189, S. 1) darauf hingewiesen, dass die ökologische/biologische Produktionsweise auf
einem spezifischen Markt die Verbrauchernachfrage nach ökologischen/biologischen Erzeugnissen bedient.
37 Somit hat das Gericht keinen Rechtsfehler begangen, als es im Anschluss an die Feststellung in Rn. 40 des angefochtenen Beschlusses,
dass die Rechtsmittelführerin keinen Beweis für das von ihr behauptete Konkurrenzverhältnis zwischen konventionellen, mit
dem Zusatzstoff E 960 gesüßten Joghurts mit niedrigem Brennwert und den von ihr hergestellten und vermarkteten Biojoghurts
erbracht habe, in Rn. 41 des Beschlusses entschieden hat, dass die Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Verordnung wegen
mangelnden Rechtsschutzinteresses der Rechtsmittelführerin als unzulässig abzuweisen sei.
38 Der erste Rechtsmittelgrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren
Vorbringen der Parteien
39 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund bringt die Rechtsmittelführerin vor, das Gericht habe dadurch, dass es über ihre Klage
ohne öffentliche Verhandlung entschieden habe, gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta verstoßen und damit ihr Recht auf ein faires
Verfahren verletzt.
40 Nach Ansicht der Kommission ist dieser Rechtsmittelgrund unzulässig, weil die Rechtsmittelführerin nicht erläutere, inwiefern
ihr Recht aus Art. 47 Abs. 2 Satz 3 der Charta, sich verteidigen, beraten und vertreten zu lassen, durch den angefochtenen
Beschluss oder das erstinstanzliche Verfahren verletzt worden sein solle.
41 Sollte das Vorbringen der Rechtsmittelführerin dahin zu verstehen sein, dass ein Verfahrensfehler oder ein Verstoß gegen Art. 47
Abs. 2 der Charta vorliege, weil das Gericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Beschluss entschieden habe,
so wäre eine solche Rüge ebenfalls als unzulässig zurückzuweisen, denn die Rechtsmittelführerin habe nicht dargelegt, inwiefern
das Gericht hierbei rechtsfehlerhaft gehandelt haben solle.
42 Der Rechtsmittelgrund sei auch offensichtlich unbegründet, da im vorliegenden Fall nach den Art. 111 und 113 der Verfahrensordnung
des Gerichts die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
43 Da die Rechtsmittelführerin im Wesentlichen rügt, dass es sich bei dem Verfahren vor dem Gericht nicht um ein gemessen an
Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta faires Verfahren gehandelt habe, weil das Gericht ohne öffentliche Verhandlung entschieden
habe, ist darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen,
unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener
Frist verhandelt wird.
44 Aus Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten ergibt sich aber keine absolute Verpflichtung zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung, und er verlangt
nicht zwingend die Durchführung einer Verhandlung in allen Verfahren (vgl. EGMR, Urteil vom 23. November 2006, Jussila/Finnland,
§ 41). Eine solche Verpflichtung ergibt sich auch weder aus Art. 47 Abs. 2 der Charta noch aus einer anderen ihrer Bestimmungen.
45 Dies gilt insbesondere für den in Art. 111 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehenen Fall, dass die beim Gericht erhobene
Klage offensichtlich unzulässig ist, so dass es ohne Fortsetzung des Verfahrens durch Beschluss entscheiden kann, der mit
Gründen zu versehen ist.
46 Wie aus dem angefochtenen Beschluss hervorgeht, hatte die Rechtsmittelführerin jedenfalls die Möglichkeit, schriftlich zu
dem von der Kommission geltend gemachten Fehlen von Prozessvoraussetzungen Stellung zu nehmen, und hat davon auch Gebrauch
gemacht. Insoweit ist überdies darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache nur Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die
sich unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen (vgl. EGMR, Urteil
vom 12. November 2002, Döry/Schweden, § 37).
47 Aus dem Vorstehenden folgt, dass das Gericht nicht gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta verstoßen hat, als es die Klage
am Ende eines Verfahrens für unzulässig erklärt hat, das keine öffentliche Verhandlung umfasste.
48 Demnach ist der zweite Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen.
Zum fünften Rechtsmittelgrund: Fehlen einer Klagebefugnis hinsichtlich der Verwendung von Steviolglycosiden als Zusatzstoffe
für Biolebensmittel
Vorbringen der Parteien
49 Mit ihrem fünften Rechtsmittelgrund wirft die Rechtsmittelführerin dem Gericht vor, sich in Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses
auf die falsche Annahme gestützt zu haben, dass es ihr freigestanden hätte, bei der Kommission die Zulassung von Steviolglycosiden
als Zusatzstoffe für Biolebensmittel zu beantragen, obwohl allein die Kommission das Initiativrecht habe, die Zulassung von
Zusatzstoffen für Biolebensmittel im Anhang der Verordnung (EG) Nr. 889/2008 der Kommission vom 5. September 2008 mit Durchführungsvorschriften
zur Verordnung Nr. 834/2007 hinsichtlich der ökologischen/biologischen Produktion, Kennzeichnung und Kontrolle (ABl. L 250,
S. 1) vorzusehen.
50 Es gebe für sie keine Möglichkeit, Zugang zu den Gerichten bezüglich der Ablehnung oder Nichtbehandlung eines Antrags auf
Zulassung von Steviolglycosiden als Zusatzstoffe für Biolebensmittel zu erhalten. Sie könne daher nur gegen die Zulassung
von Steviolglycosiden vorgehen, die ausschließlich ihren konventionell produzierenden Konkurrenten und nicht ihr selbst als
einem Biolebensmittelunternehmen zugutekomme.
51 Die Kommission trägt vor, selbst wenn die Ausführungen in Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses in dem von der Rechtsmittelführerin
falsch dargestellten Sinne aufgefasst würden, könnten sie keinen begründeten Rechtsmittelgrund darstellen, denn die Frage,
ob Unternehmen Anträge auf Zulassung von Zusatzstoffen in Biolebensmitteln stellen könnten, sei für die Entscheidung über
die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage unerheblich. Rügen, die sich gegen nichttragende Gründe einer erstinstanzlichen Entscheidung
richteten, seien ohne Weiteres zurückzuweisen, da sie nicht zu ihrer Aufhebung führen könnten und ihnen daher keine Wirkung
zukomme.
Würdigung durch den Gerichtshof
52 In Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht Folgendes ausgeführt:
„Eine Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung würde der Klägerin im Übrigen kein Recht zur Verwendung von Steviolglycosiden
in ihren Bioprodukten verschaffen. Die Klägerin hat keinen Antrag auf Zulassung von Steviolglycosiden in Biolebensmitteln
gestellt, den die Kommission in diesem anderen Zusammenhang hätte prüfen können. Das Vorbringen der Klägerin, sie sei ein
zu kleines Unternehmen, um einen solchen Antrag zu stellen, kann unabhängig davon, dass es nicht überzeugt, kein Recht begründen,
sich gegen eine Zulassung zu wenden, die zudem auf verschiedene von anderen Wirtschaftsteilnehmern gestellte Anträge hin erteilt
wurde.“
53 Selbst wenn das Gericht, wie die Rechtsmittelführerin vorträgt, einen Rechtsfehler begangen hätte, als es ausgeführt hat,
dass sie bei der Kommission die Zulassung von Steviolglycosiden als Zusatzstoffe für Biolebensmittel hätte beantragen und
im Fall der Weigerung oder Untätigkeit der Kommission Klage beim Gericht hätte erheben können, hätte ein solcher Fehler im
vorliegenden Fall in Anbetracht der Ausführungen in Rn. 37 des vorliegenden Urteils keine Auswirkung auf den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens.
Rn. 37 des angefochtenen Beschlusses enthält nämlich einen nichttragenden Grund, der daher nicht zur Aufhebung des angefochtenen
Beschlusses führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil HABM/Kessel medintim, C‑31/14 P, EU:C:2014:2436, Rn. 53).
54 Demnach geht der fünfte Rechtsmittelgrund jedenfalls ins Leere und ist zurückzuweisen.
Zum sechsten Rechtsmittelgrund: Verfälschung des Vorbringens der Rechtsmittelführerin
Vorbringen der Parteien
55 Mit ihrem sechsten Rechtsmittelgrund rügt die Rechtsmittelführerin, dass das Gericht in Rn. 24 des angefochtenen Beschlusses
ihre Argumentation unzutreffend dargestellt habe. Es habe dort ausgeführt, sie werfe der Kommission vor, Steviolglycoside
als Zusatzstoffe zugelassen zu haben, und hinzugefügt, sie gestehe zu, dass die Kommission nur die Wahl gehabt habe, Steviolglycoside
als Lebensmittelzusatzstoffe zuzulassen oder nicht. Sie habe aber geltend gemacht, dass die Kommission sich dafür entschieden
habe, Steviolglycoside nur als Lebensmittelzusatzstoffe zuzulassen und nicht als Lebensmittelzutaten oder Aromaextrakte, was
die Kommission aufgrund ihres Initiativrechts nach der in der Union geltenden Regelung hätte tun können.
56 Die Kommission trägt vor, der sechste Rechtsmittelgrund entbehre jeder Grundlage, weil das Gericht die Argumentation der Rechtsmittelführerin
im angefochtenen Beschluss wortgetreu wiedergegeben habe. Dieser Rechtsmittelgrund sei daher als offensichtlich unzulässig
zurückzuweisen und sei zudem offensichtlich unbegründet.
Würdigung durch den Gerichtshof
57 Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus Art. 256 AEUV, Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union
und Art. 168 Abs. 1 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, dass ein Rechtsmittel die beanstandeten Teile des Urteils
oder des Beschlusses, dessen Aufhebung beantragt wird, sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen,
genau bezeichnen muss; andernfalls ist das Rechtsmittel oder der betreffende Rechtsmittelgrund unzulässig (Beschluss Hârulescu/Rumänien,
C‑78/13 P, EU:C:2013:653, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Ein Rechtsmittel, das nur die bereits vor dem Gericht geltend gemachten Klagegründe und Argumente einschließlich derjenigen
wiederholt oder wörtlich wiedergibt, die auf ein vom Gericht ausdrücklich zurückgewiesenes Tatsachenvorbringen gestützt waren,
aber überhaupt keine Ausführungen speziell zur Bezeichnung des Rechtsfehlers enthält, mit dem das angefochtene Urteil oder
der angefochtene Beschluss behaftet sein soll, genügt nicht den Begründungserfordernissen, die sich aus den genannten Vorschriften
ergeben. Ein solches Rechtsmittel stellt nämlich in Wirklichkeit nur einen Antrag auf erneute Prüfung der beim Gericht eingereichten
Klage dar, was nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt (Beschluss Hârulescu/Rumänien, C‑78/13 P, EU:C:2013:653,
Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Hierzu ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführerin zwar geltend macht, das Gericht habe ihre Argumentation in Rn. 24
des angefochtenen Beschlusses fehlerhaft dargestellt, aber keinen Rechtsfehler benennt, der sich aus dieser dem angefochtenen
Beschluss ihres Erachtens anhaftenden fehlerhaften Darstellung ergeben soll.
60 Demzufolge ist der sechste Rechtsmittelgrund als unzulässig zurückzuweisen.
Zum dritten, zum vierten, zum siebten und zum achten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung und der
unternehmerischen Freiheit sowie willkürlicher Charakter der streitigen Verordnung
Vorbringen der Parteien
61 Mit ihrem dritten, ihrem vierten und ihrem siebten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin zum einen eine Verletzung
des Grundrechts auf Gleichbehandlung geltend, weil die Zulassung von Steviolglycosiden in einer Weise erfolgt sei, die ihren
konventionellen Mitbewerbern und insbesondere den großen, weltweit tätigen Unternehmen einen ungerechtfertigten und unfairen
Wettbewerbsvorteil verschaffe, und zum anderen eine Verletzung des Grundrechts auf Gewähr unternehmerischer Freiheit.
62 Mit ihrem achten Rechtsmittelgrund macht die Rechtsmittelführerin geltend, der Umstand, dass die Kommission im Februar 2012
mit den Vereinigten Staaten von Amerika ein Abkommen zur wechselseitigen Anerkennung von Biolebensmitteln geschlossen habe,
in dessen Rahmen Bioprodukte aus den Vereinigten Staaten, die Steviolglycoside enthielten, auf dem Binnenmarkt der Union mit
dem Bio-Logo der Union vermarktet werden dürften, treibe die Diskriminierung der Hersteller von Bioprodukten, zu denen sie
gehöre, auf die Spitze, da ihnen willkürlich die Möglichkeit genommen werde, für ihre Produkte Steviolglycoside zu verwenden.
63 Die Kommission hält diese Rechtsmittelgründe für unzulässig, weil sie nur auf die Prüfung der Begründetheit der beim Gericht
erhobenen Klage abzielten und keinerlei Bezug zu den Gründen des angefochtenen Beschlusses aufwiesen.
Würdigung durch den Gerichtshof
64 Hierzu ist jedenfalls festzustellen, dass die die Begründetheit betreffenden Rechtsmittelgründe keinen Erfolg haben können
und daher als unzulässig zurückzuweisen sind, da sich das Gericht in seinem Beschluss auf die Prüfung der Zulässigkeit der
Klage beschränkt hat und sie – im Übrigen zu Recht – für unzulässig erklärt hat.
65 Folglich sind der dritte, der vierte, der siebte und der achte Rechtsmittelgrund unzulässig.
66 Nach alledem ist das Rechtsmittel als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen.
Kosten
67 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach ihrem Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet,
ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Andechser Molkerei Scheitz GmbH unterlegen
ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die durch das Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Andechser Molkerei Scheitz GmbH trägt die Kosten.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 12. Mai 2015.#John Dalli gegen Europäische Kommission.#Mitglied der Kommission – Untersuchung des OLAF – Angeblicher mündlicher Beschluss des Präsidenten der Kommission, den Betroffenen von seinen Aufgaben zu entbinden – Nichtigkeitsklage – Fehlen einer anfechtbaren Handlung – Unzulässigkeit – Schadensersatzklage.#Rechtssache T-562/12.
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62012TJ0562
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ECLI:EU:T:2015:270
| 2015-05-12T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012TJ0562
URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
12. Mai 2015 (*1)
„Mitglied der Kommission — Untersuchung des OLAF — Angeblicher mündlicher Beschluss des Präsidenten der Kommission, den Betroffenen von seinen Aufgaben zu entbinden — Nichtigkeitsklage — Fehlen einer anfechtbaren Handlung — Unzulässigkeit — Schadensersatzklage“
In der Rechtssache T‑562/12
John Dalli, wohnhaft in St Julians (Malta), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte L. Levi, A.‑M. Alamanou und S. Rodrigues,
Kläger,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch B. Smulders, J. Baquero Cruz und J.‑P. Keppenne als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung des vom Präsidenten der Europäischen Kommission angeblich am 16. Oktober 2012 erlassenen mündlichen Beschlusses, den Kläger von seinem Amt als Mitglied der Kommission zu entbinden, und Ersatz des Schadens, der dem Kläger durch diesen Beschluss entstanden sein soll,
erlässt
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten M. Jaeger, der Richter S. Papasavvas und N. J. Forwood (Berichterstatter), der Richterin I. Labucka und des Richters E. Bieliūnas,
Kanzler: E. Coulon,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juli 2014
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
1 Mit Beschluss 2010/80/EU des Europäischen Rates vom 9. Februar 2010 zur Ernennung der Europäischen Kommission (ABl. L 38, S. 7) wurde der Kläger, Herr John Dalli, für den Zeitraum vom 10. Februar 2010 bis zum 31. Oktober 2014 zum Mitglied der Europäischen Kommission ernannt. Ihm wurde vom Präsidenten der Kommission, Herrn José Manuel Durão Barroso (im Folgenden: Präsident Barroso), das Ressort Gesundheit und Verbraucherschutz übertragen.
2 Am 21. Mai 2012 ging bei der Kommission eine Beschwerde (im Folgenden: Beschwerde) der Gesellschaft Swedish Match ein, die schwerwiegende Behauptungen in Bezug auf das Verhalten des Klägers enthielt. Der Beschwerdeführerin zufolge hatte ein maltesischer Unternehmer, Herr Silvio Zammit, seine Kontakte mit dem Kläger für den Versuch genutzt, von ihr und dem European Smokeless Tobacco Council (ESTOC) einen finanziellen Vorteil dafür zu erhalten, dass er im Hinblick auf die Beeinflussung eines möglichen künftigen Legislativvorschlags zu Tabakerzeugnissen, insbesondere des von der Europäischen Union verhängten Verkaufsverbots für ein unter der Bezeichnung „Snus“ bekanntes Erzeugnis, tätig werde.
3 Am 25. Mai 2012 leitete das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) gemäß den Art. 3 und 4 der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Untersuchungen des OLAF (ABl. L 136, S. 1) eine Untersuchung über die Beschwerde ein.
4 Mit Schreiben vom 11. Juli 2012 unterrichtete das OLAF den Kläger darüber, dass er sich als eine Person zu betrachten habe, die von einer Untersuchung betroffen sei, die infolge einer Beschwerde über die versuchte Veranlassung zweier Wirtschaftsteilnehmer zur Zahlung von Schmiergeldern mit dem Ziel, die Kommission zum Erlass einer diese Wirtschaftsteilnehmer begünstigenden Maßnahme zu veranlassen, eröffnet worden sei. Dem Kläger wurde der Zugang zur Beschwerde verweigert.
5 Am 16. Juli 2012 wurde der Kläger ein erstes Mal vom OLAF angehört.
6 Präsident Barroso traf den Kläger am 25. Juli 2012. Im Verlauf dieser Unterhaltung wies der Kläger die in der Beschwerdeschrift gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zurück.
7 Mit Schreiben vom 27. Juli 2012 bekräftigte der Kläger gegenüber Präsident Barroso, dass er keinerlei Kenntnis von den Verhandlungen zwischen den Stellen, auf die die Beschwerde zurückging, und einer „Person in Malta“ habe sowie in keiner Weise in diese Angelegenheit verwickelt sei.
8 Am 17. September 2012 wurde der Kläger ein zweites Mal vom OLAF angehört.
9 Um den 5. Oktober 2012 herum unterrichtete der Generaldirektor des OLAF die Generalsekretärin der Kommission, Frau Catherine Day, darüber, dass ihr der Abschlussbericht über die Untersuchung der Beschwerde (im Folgenden: Bericht des OLAF) in Kürze übersandt werde.
10 Aufgrund dieser Auskunft rief das Kabinett des Präsidenten Barroso am 11. Oktober 2012 beim Kabinett des Klägers an, um mit diesem ein Treffen zu vereinbaren, das für den 16. Oktober 2012 angesetzt wurde.
11 Der Bericht des OLAF wurde Frau Day am 15. Oktober 2012 zu Händen von Präsident Barroso übermittelt. Diesem Bericht war ein vom Generaldirektor des OLAF unterzeichnetes Schreiben (im Folgenden: Begleitschreiben) beigefügt, das die wichtigsten Schlussfolgerungen der Untersuchung zusammenfasste und mit dem Präsident Barroso darüber unterrichtet wurde, dass die Schlussfolgerungen ihm im Hinblick auf den Erlass etwaiger Maßnahmen im Rahmen des Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder (K[2011] 2904) zur Kenntnis gebracht würden.
12 Im Begleitschreiben heißt es u. a.:
„Am 25. Mai 2012 hat das OLAF aufgrund von Informationen der Europäischen Kommission eine Untersuchung über angebliche Schmiergeldforderungen gegenüber Wirtschaftsteilnehmern im Hinblick auf die Aufhebung des europäischen Verbots für Snus eröffnet.
…
Kommissar Dalli hat im Rahmen inoffizieller und vertraulicher, ohne Wissen und Beteiligung der zuständigen Dienststellen organisierter Treffen mehrere Gespräche mit Vertretern der Tabakindustrie geführt. Diese Treffen wurden allesamt von Herrn Silvio Zammit, einem außerhalb der Organe stehenden maltesischen Unternehmer und engem Freund von Kommissar Dalli, organisiert.
…
Obwohl es keine schlüssigen Beweise für eine unmittelbare Beteiligung von Kommissar John Dalli als Anstifter oder Kopf der Geldforderung gibt, zeigen eine Reihe eindeutiger und übereinstimmender Indizien, die im Laufe der Untersuchung zusammengetragen worden sind, dass er tatsächlich Kenntnis von den Handlungen von Herrn Silvio Zammit sowie davon hatte, dass dieser seinen Namen und sein Amt nutzte, um finanzielle Vorteile zu erhalten.
Darüber hinaus hat Kommissar Dalli bei jeder Anhörung durch das OLAF im Hinblick auf die Klärung seines Standpunkts zu dem Sachverhalt, der Gegenstand der Untersuchung ist, bzw. in seinen Schreiben an das OLAF versucht, die Häufigkeit und den Umfang seiner Kontakte mit Herrn Zammit herunterzuspielen und ihren Inhalt im Zusammenhang mit der in Rede stehenden Angelegenheit zu verschweigen.
Des Weiteren hat Kommissar Dalli zu keinem Zeitpunkt irgendetwas unternommen, um die Taten zu verhindern, sich von ihnen zu distanzieren oder den Sachverhalt aufzuklären, von dem er Kenntnis hatte.
Auf der Grundlage des durch die Untersuchung des OLAF ermittelten Sachverhalts lässt sich der Schluss ziehen, dass das Ansehen und der Ruf der Europäischen Kommission bei Tabakherstellern und möglicherweise auch in der öffentlichen Meinung gelitten haben.
Das Verhalten von Kommissar Dalli könnte daher als schwere Verletzung seiner Pflicht angesehen werden, unter Einhaltung der mit seinem Amt verbundenen Verpflichtungen ein würdevolles Verhalten an den Tag zu legen.
…“
13 Am Nachmittag des 16. Oktober 2012 traf sich der Kläger mit Präsident Barroso in dessen Büro. Später kamen der Kabinettschef von Präsident Barroso, Herr Johannes Laitenberger, und der Generaldirektor des Juristischen Dienstes der Kommission, Herr Luis Romero Requena, dazu. Da die Parteien hinsichtlich der Tatsachen und Umstände sowie des Ablaufs und des Ergebnisses dieser Zusammenkunft (im Folgenden: Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012) unterschiedliche Auffassungen vertreten und diese den Kern des vorliegenden Rechtsstreits ausmachen, wird das Gericht im weiteren Verlauf des vorliegenden Urteils die erforderlichen Feststellungen treffen.
14 Später am selben Tag rief Präsident Barroso den maltesischen Premierminister, Herrn Lawrence Gonzi, an, um ihn über das Ausscheiden des Klägers aus seinem Amt als Mitglied der Kommission zu informieren und ihn zu bitten, für einen Nachfolger zu sorgen. Präsident Barroso schrieb auch an die Präsidenten des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union und gab ihnen bekannt, dass der Kläger „mit sofortiger Wirkung seinen Rücktritt erklärt“ habe.
15 Noch etwas später an diesem Tag – gegen 17.00 Uhr – veröffentlichte die Kommission eine Pressemitteilung, in der bekannt gegeben wurde, dass der Kläger „mit sofortiger Wirkung“ zurückgetreten sei.
16 Im Laufe desselben Tages veröffentlichte der Kläger über eine private Organisation seinerseits eine Pressemitteilung.
17 In der Plenarsitzung des maltesischen Parlaments vom 16. Oktober 2012 gab Herr Gonzi folgende Erklärung ab:
„Ich habe heute Nachmittag einen Anruf vom Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, erhalten, in dessen Verlauf er mich darüber unterrichtet hat, dass er soeben den Rücktritt von John Dalli von seinem Amt als Kommissar angenommen habe.
Präsident Barroso hat mir erläutert, dass John Dalli diese Entscheidung vor dem Hintergrund des Berichts des OLAF über eine Untersuchung zu den Handlungen Dritter getroffen habe.
…
In einem weiteren Telefonanruf, den ich wenig später erhalten habe, hat John Dalli mir gegenüber erklärt, dass er alle gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zurückweise. Er habe jedoch beschlossen, sein Amt als Kommissar niederzulegen, um sich und das Organ, dem er bislang angehört habe, besser verteidigen zu können.
Später am heutigen Tag – gegen 17.00 Uhr – hat das Büro des Präsidenten der Kommission eine Pressemitteilung veröffentlicht, die ich der Kammer zur allgemeinen Kenntnisnahme vorlege.
…“
18 Die Abschrift und die – von einem vereidigten Übersetzer im Auftrag des Klägers beglaubigte – englische Übersetzung eines Radiointerviews in maltesischer Sprache, das der Kläger am Abend des 16. Oktober 2012 gab, enthalten u. a. folgende Erklärungen:
„Interviewer: Sie haben Ihren Rücktritt eingereicht. Zunächst einmal: Warum sind Sie zurückgetreten?
Kläger: Wegen der mündlichen Informationen, die ich erhalten habe. In der Tat habe ich bislang nichts Schriftliches. … Tatsächlich habe ich noch heute Abend begonnen, mit einigen Leuten und meinen Anwälten zu sprechen, und die Verfahren eingeleitet, die zum Nachweis dafür erforderlich sind, dass diese Schlussfolgerungen [des Berichts des OLAF] völlig falsch sind. Ich veröffentliche heute eine Pressemitteilung, in der ich darüber hinaus zum Ausdruck bringe, dass ich mich weiterhin dafür einsetze, dass die Anstrengungen, die meine Mitarbeiter und ich selbst im Hinblick auf die Überarbeitung der Tabakrichtlinie unternommen haben, die strengere Vorschriften über den Tabakkonsum vorsah, wie vorgesehen weiterlaufen. Am kommenden Montag werden wir den Prozess einleiten. Ich hoffe, dass dieser Prozess fortgesetzt wird.
…
Interviewer: Also warum sind Sie zurückgetreten, John? Warum haben Sie das Bedürfnis verspürt, zurückzutreten, wenn …?
Kläger: Lassen Sie mich es Ihnen so sagen, wie ich es vor Kurzem in einem anderen Fernsehprogramm gesagt habe. Ich bleibe nicht, wo man mich nicht haben will, verstehen Sie, und diese Sache nehme ich sehr ernst. Ich habe heute begonnen, mich einzuarbeiten, und ich möchte die Hände vollkommen frei haben, um diesen Behauptungen entgegentreten zu können.
Interviewer: Sie haben soeben gesagt, dass Sie nicht bleiben, wo man Sie nicht haben will. Verstehe ich Sie richtig: Präsident Barroso hat Sie zum Rücktritt gezwungen?
Kläger: Meiner Meinung nach bedeuten diese Worte, dass ich nicht bleiben will, wo man mich nicht haben will; weiter möchte ich mich dazu nicht auslassen.
Interviewer: Aber Barroso hat Sie zum Rücktritt gezwungen?
(unverständlich, da beide Personen gleichzeitig sprechen)
Kläger: Es wird in den nächsten Tagen Entwicklungen geben.
Interviewer: Hat er Sie zum Rücktritt gezwungen, oder war es Ihre Entscheidung?
Kläger: Es wird in den nächsten Tagen Entwicklungen geben.
Interviewer: Welche Entwicklungen können wir erwarten?
Kläger: Entwicklungen, über die ich mich gegenwärtig mit meinen Anwälten berate, und ich werde ihren Rat bezüglich aller Entwicklungen, die ich beschließen werde, Schritt für Schritt befolgen.
…“
19 Im Anschluss an die Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 erstellte Herr Romero Requena eine „Aktennotiz“, die auf den 18. Oktober 2012 datiert war und ein Protokoll dieser Zusammenkunft enthielt. Nach ihrem Wortlaut hat der Kläger „… die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen kategorisch geleugnet und gleichzeitig erklärt, dass er, um seinen Ruf verteidigen zu können, mit sofortiger Wirkung seinen Rücktritt als Mitglied der Europäischen Kommission einreiche“.
20 Am selben Tag erhielt der Kläger im Hinblick auf die Einleitung der Phase des „Ausscheidens“ aus seinem Amt und die Zahlung des Übergangsgelds von der Kommission Unterlagen zur Unterzeichnung. In diesem Zusammenhang hebt er hervor, dass er sich geweigert habe, irgendetwas zu tun, was darauf hätte hindeuten können, dass er sein Amt als Mitglied der Kommission niedergelegt habe, insbesondere die Dokumente auszufüllen, die es ihm erlaubt hätten, eine Entschädigung und die Erstattung seiner Heimreisekosten zu erhalten. Nachdem die Kommissionsdienststellen im Rahmen des Übergangsgelds zwei Überweisungen auf sein Bankkonto vorgenommen hatten, schrieb der Kläger am 28. Dezember 2012 an die Kommission, dass er zu keinem Zeitpunkt einen entsprechenden Antrag unterzeichnet habe, und überwies die Zahlungen zurück auf das Bankkonto der Kommission.
21 Am 21. Oktober 2012 schrieb der Kläger an Präsident Barroso, um ihn darüber zu informieren, dass er nicht davon ausgehe, wirksam zurückgetreten zu sein, ihm nach seiner Auffassung das Recht, sich angemessen zu verteidigen, vorenthalten worden sei und der Generaldirektor des OLAF sein Recht auf die Unschuldsvermutung verletzt habe.
22 Am 22. Oktober 2012 schrieb der Kläger an die Mitglieder des Parlaments und legte ihnen dar, dass er kategorisch abstreite, über irgendwelche Verhandlungen oder Kommunikation auf dem Laufenden gewesen zu sein, die zwischen dem betreffenden maltesischen Unternehmer und den Herstellern von Snus möglicherweise stattgefunden hätten, und das OLAF ihm nicht mitgeteilt habe, auf welche Beweise es seine diesbezüglichen Vermutungen gestützt habe.
23 Am 23. Oktober 2012 antwortete Präsident Barroso dem Kläger und hob u. a. hervor, dass die verschiedenen von ihm vorgebrachten Rügen eines rechtswidrigen oder unsachgemäßen Verhaltens ihm gegenüber „unverständlich“ seien und der Kläger als ehemaliges Mitglied der Kommission verpflichtet sei, sich „gemäß Art. 245 AEUV ehrenhaft“ zu verhalten.
24 Am 30. Oktober 2012 schrieb Präsident Barroso an den Präsidenten des Parlaments, um ihm den Rücktritt des Klägers im Verlauf der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 zu erläutern. Er erklärte u. a. Folgendes:
„[Herr Dalli] hat die Schlussfolgerungen des OLAF entschieden zurückgewiesen. Im Verlauf unseres Gesprächs hat er gleichwohl eingeräumt, in der Vergangenheit außerhalb der offiziellen Kanäle Kontakte mit der Tabakindustrie, einschließlich des maltesischen Unternehmers, gehabt zu haben, und wir sind zu dem Schluss gelangt, dass es vorbehaltlich der gesetzlichen Unschuldsvermutung im Hinblick auf die Schlussfolgerungen [des OLAF] für ihn politisch nicht tragbar sei, weiterhin das Amt eines Kommissars auszuüben, während er versuche, seinen Ruf wiederherzustellen. Wie ich anschließend öffentlich erklärt habe, hat Herr Dalli vor dem Generaldirektor des Juristischen Dienstes und meinem Kabinettschef unmissverständlich seinen sofortigen Rücktritt bekannt gegeben. Ich habe ihn darüber unterrichtet, dass dieser Rücktritt später am Tag, nachdem er die Möglichkeit gehabt haben würde, seine Familie und seine Mitarbeiter darüber zu informieren, im Wege einer Pressemitteilung bekannt gemacht werden würde …
In diesem Stadium möchte ich hervorheben, dass die rechtlichen Folgen der Schlussfolgerungen des OLAF klar von ihrer politischen Bewertung zu unterscheiden sind. Wie Sie wissen, hat das OLAF dem Generalstaatsanwalt von Malta seinen Bericht übersandt, und ich bin darüber unterrichtet worden, dass der Generalstaatsanwalt die Angelegenheit an die Polizei übergeben habe. Die weitere Bearbeitung fällt im Einklang mit maltesischem Recht nunmehr in die alleinige Zuständigkeit der maltesischen Behörden. Was die Kommission angeht, so werden wir den Grundsatz der Unschuldsvermutung weiterhin vollständig wahren, wie wir es seit Beginn der Untersuchung des OLAF getan haben. Insbesondere hat sich die gesamte Kommunikation der Kommissionsvertreter im Anschluss an den Rücktritt von Herrn Dalli ausschließlich auf die politische und/oder institutionelle Dimension der in Rede stehenden Ereignisse konzentriert; dabei ist jede – auch nur indirekte – rechtliche Qualifikation dieser Ereignisse und der etwaigen Haftung der beteiligten Personen sorgfältig vermieden worden.“
25 Am 28. November 2012 nahm der Rat im Einvernehmen mit Präsident Barroso den Beschluss 2012/744/EU zur Ernennung eines neuen Mitglieds der Europäischen Kommission (ABl. L 332, S. 21), Herrn Tonio Borg, bis zum Ende der Amtszeit der Kommission am 31. Oktober 2014 an.
26 Am 28. April 2013 veröffentlichte ein maltesisches Presseorgan, MaltaToday, auf seiner Website eine nahezu vollständige Fassung (zwei Seiten fehlten) des Berichts des OLAF, von dem der Kläger daher Kenntnis nehmen konnte.
27 Die Übersetzung eines Radiointerviews in maltesischer Sprache, das der Kläger am 30. Juni 2013 gab, enthält auf seine Begrüßung als „John Dalli, ehemaliger Gesundheitskommissar“ folgende Erklärung des Klägers:
„Zunächst möchte ich hervorheben, dass ich bis zum heutigen Tag noch nicht als EU-Gesundheitskommissar zurückgetreten bin. Nach meiner Auffassung bin ich immer noch Kommissionsmitglied. Meine Entlassung war rechtswidrig, und tatsächlich habe ich ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof angestrengt, um den Beschluss von Barroso für nichtig erklären zu lassen.“
Verfahren
28 Mit Klageschrift, die am 24. Dezember 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.
29 In der Klagebeantwortung, die am 20. März 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission gemäß Art. 46 § 1 Buchst. d der Verfahrensordnung des Gerichts ein Beweisangebot über die Tatsachen und Umstände des Rücktritts des Klägers gemacht und vorgeschlagen, diese „mündlich oder schriftlich, von irgendeinem oder sämtlichen Zeugen der Zusammenkunft vom 16. Oktober“ 2012 bestätigen zu lassen. In der Gegenerwiderung, die am 20. September 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat sie dieses Beweisangebot erneuert.
30 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Dritten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.
31 Nach Art. 14 § 1 der Verfahrensordnung und auf Vorschlag der Dritten Kammer hat das Gericht in seiner Plenarkonferenz vom 5. Februar 2014 gemäß Art. 51 dieser Verfahrensordnung beschlossen, die Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper mit fünf Richtern zu verweisen.
32 Da einer der Richter des erweiterten Spruchkörpers verhindert war, an der Sitzung teilzunehmen, ist dieser Spruchkörper gemäß Art. 32 § 3 Abs. 3 der Verfahrensordnung ergänzt worden. Nach seiner Bestimmung zur Wiederherstellung der vorgesehenen Richterzahl hat der Präsident des Gerichts gemäß Art. 8 Abs. 3 der Verfahrensordnung die Aufgaben des Kammervorsitzenden übernommen.
33 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, eine prozessleitende Maßnahme nach Art. 64 der Verfahrensordnung in Form einer schriftlichen Frage an den Kläger zu erlassen sowie – vorbehaltlich der Stellungnahme der Parteien – das persönliche Erscheinen des Klägers nach Art. 65 Buchst. a der Verfahrensordnung und die Überprüfung bestimmter Tatsachen durch die Vernehmung von Präsident Barroso als Zeugen nach den Art. 65 Buchst. c, 66 § 1 und 68 §§ 1 und 2 der Verfahrensordnung anzuordnen.
34 Mit Schreiben vom 27. Mai 2014 hat das Gericht die Parteien aufgefordert, innerhalb einer Frist von sieben Tagen zu diesen Maßnahmen der Beweiserhebung Stellung zu nehmen.
35 Mit Schreiben vom 4. Juni 2014 hat der Kläger mitgeteilt, dass er sich im Hinblick auf sein persönliches Erscheinen zur Verfügung des Gerichts halte und keine Einwände gegen die Vernehmung von Präsident Barroso als Zeugen habe. Darüber hinaus hielte er es auch für sachdienlich, wenn das Gericht Herrn Frédéric Vincent, seinen ehemaligen Sprecher, Frau Joanna Darmanin, seine ehemalige Kabinettschefin, Herrn Giovanni Kessler, den Generaldirektor des OLAF, Herrn Johannes Laitenberger, den Kabinettschef von Präsident Barroso, und Herrn Johan Denolf, den Präsidenten des Überwachungsausschusses des OLAF, als Zeugen vernehme.
36 Ebenfalls mit Schreiben vom 4. Juni 2014 hat die Kommission mitgeteilt, dass sie weder Einwände gegen das persönliche Erscheinen des Klägers noch gegen die Vernehmung von Präsident Barroso als Zeugen habe. Möglicherweise sei es darüber hinaus angemessen, auch Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena als Zeugen zu vernehmen.
37 Mit Beschluss vom 16. Juni 2014 hat das Gericht das persönliche Erscheinen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2014 angeordnet.
38 Mit Beschluss vom selben Tag hat das Gericht beschlossen, in derselben mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2014 Präsident Barroso, Herrn Laitenberger, Herrn Romero Requena, Frau Darmanin und Herrn Vincent zum einen zu „der Frage, ob der Kläger bei der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 im Büro [von] Präsident [Barroso] mündlich seinen Rücktritt erklärt hatte oder nicht, und, falls ja, in welchem Kontext, unter welchen Umständen und nach welchen Erklärungen [von] Präsident [Barroso]“, und zum anderen zu „dem im Verlauf ihrer persönlichen Kontakte mit dem Kläger unmittelbar nach der genannten Zusammenkunft Gesagten“ als Zeugen zu vernehmen.
39 Mit Schreiben vom 18. Juni 2014 hat der Kläger auf die vom Gericht im Rahmen der prozessleitenden Maßnahmen gestellte schriftliche Frage geantwortet.
40 In der mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2014 ist der Kläger persönlich erschienen, und die Zeugen sind vom Gericht unter den in der Verfahrensordnung festgelegten Bedingungen vernommen worden.
41 Die Parteien haben in der Sitzung vom 8. Juli 2014, nach der die mündliche Verhandlung geschlossen und die Rechtssache zur Beratung gestellt worden ist, mündliche Ausführungen gemacht und die Fragen des Gerichts beantwortet.
42 In dieser Sitzung hat der Kläger die Stellungnahme 2/2012 des Überwachungsausschusses des OLAF vom 11. Dezember 2012 vorgelegt, die nach Anhörung der Kommission mit Beschluss des Gerichts zu den Akten gegeben worden ist. Die Kommission hat die Erklärung, die der maltesische Premierminister am 16. Oktober 2012 vor dem maltesischen Parlament abgegeben hatte (vgl. oben, Rn. 17), vorgelegt. Nach Anhörung des Klägers hat das Gericht beschlossen, dieses Dokument zu den Akten zu geben, und sich die Entscheidung über seine Zulässigkeit vorbehalten.
43 Mit Schreiben vom 23. Oktober 2014 hat der Kläger bei der Kanzlei des Gerichts schriftliche Erklärungen zu dem ihm übermittelten Sitzungsprotokoll eingereicht. Das Gericht hat es abgelehnt, diese Erklärungen zu den Akten zu geben, worüber die Parteien mit Schreiben der Kanzlei des Gerichts vom 13. November 2014 unterrichtet worden sind.
Anträge der Parteien
44 Der Kläger beantragt,
—
den „mündlichen Beschluss [von] Präsident [Barroso] vom 16. Oktober 2012 über sein Ausscheiden aus dem Amt mit sofortiger Wirkung“ (im Folgenden: angefochtener Beschluss) für nichtig zu erklären;
—
Schadensersatz in Höhe eines symbolischen Betrags von 1 Euro für den immateriellen Schaden und in Höhe von vorläufig 1913396 Euro für den materiellen Schaden zu leisten;
—
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
45 Die Kommission beantragt,
—
die Klage in vollem Umfang oder teilweise als unzulässig zurückzuweisen und jedenfalls als unbegründet abzuweisen;
—
dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.
Zum Antrag auf Entfernung der Anlagen 4 und 13 der Erwiderung aus den Akten
46 Nachdem der Kläger in Anlage 4 zur Erwiderung eine in der Online-Ausgabe des maltesischen Mediums MaltaToday vom 7. Mai 2013 veröffentlichte Fassung der Stellungnahme des Überwachungsausschusses des OLAF zur vorliegenden Rechtssache und in Anlage 13 zur Erwiderung eine in der Online-Ausgabe desselben Mediums vom 28. April 2013 veröffentlichte Fassung des Berichts des OLAF vorgelegt hat, macht die Kommission in der Gegenerwiderung geltend, diese beiden Dokumente seien Gegenstand eines „Lecks“ in der maltesischen Presse gewesen, und beantragt ihre Entfernung aus den Akten, da sie nicht rechtmäßig erlangt worden seien und der Kläger weder besondere Umstände geltend gemacht habe, die es rechtfertigten, sie zu den Akten zu geben, noch sich darauf berufen habe, dass sie im vorliegenden Fall entscheidungserheblich seien.
47 Insoweit ist festzustellen, dass weder die etwaige Vertraulichkeit der betreffenden Dokumente noch der Umstand, dass sie möglicherweise nicht auf rechtmäßige Weise erlangt wurden, ein Hinderungsgrund dafür ist, sie in den Akten zu belassen. Zum einen verbietet nämlich keine Rechtsvorschrift ausdrücklich, unrechtmäßig erlangte Beweise zu verwerten (Urteile vom 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, Slg, EU:T:2008:257, Rn. 74 und 75, sowie vom 24. März 2011, Dover/Parlament, T‑149/09, EU:T:2011:119, Rn. 61). Zum anderen hat der Gerichtshof nicht ausgeschlossen, dass in bestimmten Fällen sogar interne Dokumente berechtigterweise in den Akten einer Rechtssache enthalten sein können (Beschlüsse vom 19. März 1985, Tordeur u. a., 232/84, Rn. 8, sowie vom 15. Oktober 1986, LAISA/Rat, 31/86, Rn. 5).
48 Somit brauchte der Kläger bei bestimmten Sachverhalten nicht nachzuweisen, dass er das von ihm zur Stützung seiner Klage herangezogene vertrauliche Dokument rechtmäßig erlangt hatte. Bei einer Abwägung der zu schützenden Interessen hat das Gericht die Auffassung vertreten, es müsse geprüft werden, ob besondere Umstände es rechtfertigten, ein Dokument in den Akten zu belassen, wie etwa die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage des Dokuments für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass der angefochtenen Handlung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2001, Dunnett u. a./EIB, T‑192/99, Slg, EU:T:2001:72, Rn. 33 und 34) oder für den Nachweis eines Ermessensmissbrauchs (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Februar 1996, Lopes/Gerichtshof, T‑280/94, SlgÖD, EU:T:1996:28, Rn. 59).
49 Im vorliegenden Fall steht erstens nicht fest, dass sich der Kläger die Dokumente, deren Entfernung aus den Akten beantragt wird, selbst rechtswidrig beschafft hat, da es sich bei der von ihm vorgelegten Fassung dieser Dokumente um diejenige handelt, die in der maltesischen Presse veröffentlicht wurde.
50 Zweitens ist die Vertraulichkeit der fraglichen Dokumente jedenfalls durch den bloßen Umstand der erwähnten Veröffentlichung in der Presse beeinträchtigt worden, so dass ihre Aufnahme in die Akten der vorliegenden Rechtssache die Vertraulichkeit nicht weiter beeinträchtigt.
51 Drittens sind die fraglichen Dokumente im Kontext der vorliegenden Rechtssache zur Stützung des dritten und des vierten Klagegrundes geltend gemacht worden und nach Auffassung des Klägers für die Prüfung der Frage erforderlich, ob sich Präsident Barroso auf den Bericht des OLAF stützen durfte, wenn unterstellt wird, dass die im Rahmen der genannten Klagegründe behaupteten Mängel der Ordnungsgemäßheit dieses Berichts entgegenstehen. Das Gericht stellt insoweit fest, dass der Kläger in der Erwiderung eine – in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht – neue Argumentation entwickelt hat, die sowohl gegen die Anschuldigungen gerichtet ist, die Swedish Match, die Urheberin der ihn betreffenden Beschwerde, die Gegenstand des Berichts des OLAF gewesen ist, gegen ihn erhoben hat, als auch gegen die Ordnungsgemäßheit des vom OLAF befolgten Verfahrens zur Erstellung dieses Berichts. Diese Argumentation stützt sich sehr weitgehend auf den Bericht des OLAF und die Stellungnahme des Überwachungsausschusses des OLAF, die vom Kläger deshalb als neue, im Laufe des Verfahrens aufgetretene Elemente betrachtet werden, weil sie nach Erhebung der Klage in einem maltesischen Medium veröffentlicht worden sind. Unabhängig davon, ob diese Argumentation für die Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses erheblich ist, genügt sie, um den Einwand der Kommission zu entkräften, wonach der Kläger weder besondere Umstände geltend gemacht habe, die es rechtfertigten, die fraglichen Dokumente zu den Akten zu geben, noch sich im vorliegenden Fall auf ihre Entscheidungserheblichkeit berufen habe.
52 Viertens ist festzustellen, dass das Kabinett von Präsident Barroso das Datum der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012, an deren Ende der angefochtene Beschluss erlassen worden sein soll, nach Maßgabe des voraussichtlichen Datums für die Übermittlung des Berichts des OLAF an den Präsidenten festgesetzt hat und der angefochtene Beschluss, seine Existenz unterstellt, bereits am Tag nach der Aushändigung dieses Berichts an Präsident Barroso ergangen wäre. So räumt die Kommission, obwohl sie vorträgt, dass es sich bei diesem Bericht nicht um eine vorbereitende Handlung für den angefochtenen Beschluss handle, in ihren Schriftsätzen selbst ein, dass es übertrieben wäre, zu behaupten, dass „der angefochtene Beschluss nichts mit dem genannten Bericht zu tun hat“.
53 In Anbetracht der Art der fraglichen Dokumente, ihrer bereits erfolgten Verbreitung in der Presse und der Umstände des Rechtsstreits ist der Antrag der Kommission auf Entfernung der genannten Dokumente aus den Akten der Rechtssache daher zurückzuweisen.
Zur Zulässigkeit des von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Dokuments
54 Die einem öffentlichen amtlichen Register entnommene Erklärung des maltesischen Premierministers Gonzi im maltesischen Parlament in dessen Plenarsitzung vom 16. Oktober 2012 (vgl. oben, Rn. 17) ist von der Kommission in der Sitzung vom 7. Juli 2014, in der der Kläger persönlich erschienen ist, geltend gemacht und anschließend von ihr in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2014 vorgelegt worden, woraufhin die Erklärung vorläufig zu den Akten gegeben worden ist. Sie ist für den vorliegenden Rechtsstreit offenbar relevant, da sie sich auf den Wortwechsel bezieht, den Herr Gonzi am Nachmittag des 16. Oktober 2012, kurz nach der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012, im Verlauf des Telefongesprächs mit dem Kläger über dessen Ausscheiden aus dem Amt als Mitglied der Kommission hatte.
55 In der Sitzung vom 7. Juli 2014 sind die Rechtsanwälte des Klägers der Geltendmachung des genannten Dokuments durch die Kommission jedoch mit der Begründung entgegengetreten, dass es nicht Teil der Akte sei und dies dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens zuwiderlaufen würde.
56 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Es würde gegen diesen Grundsatz verstoßen, eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen oder Schriftstücke zu stützen, von denen die Parteien selbst oder auch nur eine der Parteien keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten (Urteil vom 22. März 1961, Snupat/Hohe Behörde, 42/59 und 49/59, Slg, EU:C:1961:5).
57 Der Grundsatz der Waffengleichheit, der unmittelbar aus dem Begriff des fairen Verfahrens folgt und der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien dient, indem er gewährleistet, dass jedes Dokument, das dem Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden kann, gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen (Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, Slg, EU:C:2012:684, Rn. 71 und 72).
58 Im vorliegenden Fall wird die verspätete Vorlage des streitigen Dokuments mit den besonderen Umständen gerechtfertigt, unter denen sich die Kommission veranlasst gesehen hat, sich auf das Dokument zu berufen. Obwohl keine der Parteien in ihren Verfahrensschriftsätzen auf ein Telefongespräch zwischen dem Kläger und dem maltesischen Premierminister am Nachmittag des 16. Oktober 2012 Bezug genommen hatte, hat der Kläger es nämlich erstmals bei seinem persönlichen Erscheinen in der Sitzung vom 7. Juli 2014 erwähnt und erläutert, er habe bei dieser Gelegenheit Herrn Gonzi gegenüber erklärt, dass Präsident Barroso ihn soeben seines Amtes in der Kommission „enthoben“ (terminate) habe. Die Bevollmächtigten der Kommission haben auf das streitige Dokument, in dem Herr Gonzi vielmehr erklärt, dass der Kläger ihm seine eigene Rücktrittsentscheidung bekannt gegeben habe, somit Bezug genommen, um die Behauptungen des Klägers in Bezug auf den genauen Inhalt des Wortwechsels während des genannten Gesprächs zu entkräften. Die Berücksichtigung des besagten Dokuments läuft daher keineswegs dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens zuwider, sondern ermöglicht im Gegenteil die Wahrung dieses Grundsatzes, indem der Kommission Gelegenheit gegeben wird, auf eine neue Behauptung des Klägers zu entgegnen, die erstmals in der erwähnten Sitzung aufgestellt worden ist.
59 Darüber hinaus sind der Kläger und seine Rechtsanwälte in die Lage versetzt worden, in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2014 zur Zulässigkeit, Erheblichkeit und Beweiskraft des Dokuments Stellung zu nehmen, innerhalb einer Frist, die in Anbetracht sämtlicher Umstände des vorliegenden Falls, insbesondere des amtlichen Charakters des genannten Dokuments, das einem öffentlichen Register entnommen ist, nicht als übermäßig kurz angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang hat der Kläger seinen Einwand gegen die Aufnahme des Dokuments in die Akten im Übrigen nicht wiederholt. Er hat das Gericht auch nicht darum ersucht, zu diesem Dokument schriftlich Stellung nehmen zu dürfen, oder die Vertagung der Sitzung beantragt.
60 Vor diesem Hintergrund ist die Zulässigkeit des fraglichen Dokuments im Rahmen des vorliegenden Verfahrens zu bejahen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 2014, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, C‑580/12 P, Slg, EU:C:2014:2363, Rn. 33 bis 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum Nichtigkeitsantrag
Vorüberlegungen zum Gegenstand des Nichtigkeitsantrags
61 Das Gericht hat sich zu der Feststellung veranlasst gesehen, dass der Wortlaut des ersten – oben in Rn. 44 vollständig wiedergegebenen – Antrags des Klägers, ausgelegt im Licht seines schriftsätzlichen Vorbringens, nicht klar und eindeutig die Handlung bezeichne, deren Nichtigerklärung vorliegend beantragt werde. Aus bestimmten Passagen der Schriftsätze (insbesondere Rn. 58 bis 67 und 129 der Klageschrift sowie Rn. 3, 17 und 48 der Erwiderung) geht nämlich hervor, dass der Kläger die Nichtigerklärung eines angeblichen Beschlusses vom 16. Oktober 2012 beantragt, mit dem Präsident Barroso ihn unter Anmaßung der dem Gerichtshof durch die Art. 245 AEUV und 247 AEUV verliehenen Befugnisse kraft eigener Befugnis mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben haben soll. Aus anderen Passagen derselben Schriftsätze (insbesondere Rn. 53, 70, 85, 88, 118 und 119 der Klageschrift sowie Rn. 54 der Erwiderung) geht hingegen hervor, dass der Kläger die Nichtigerklärung eines angeblichen mündlichen Beschlusses beantragt, den Präsident Barroso am 16. Oktober 2012 in Wahrnehmung seines Rechts erlassen haben soll, ihn gemäß Art. 17 Abs. 6 EUV zum Rücktritt aufzufordern.
62 Insoweit ist zu beachten, dass die Art. 245 AEUV und 247 AEUV den Fall betreffen, dass der vom Rat oder von der Kommission angerufene Gerichtshof ein Mitglied der Kommission seines Amtes enthebt, während nach dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 6 EUV „[e]in Mitglied der Kommission … sein Amt nieder[legt], wenn es vom Präsidenten [der Kommission] dazu aufgefordert wird“.
63 Mit prozessleitender Maßnahme vom 22. Mai 2014 (vgl. oben, Rn. 33) hat das Gericht den Kläger daher aufgefordert, „klar und eindeutig“ anzugeben, welche der beiden Handlungen, die oben in Rn. 61 hypothetisch in Betracht gezogen worden sind, mit seinem ersten Antrag gemeint war.
64 In seiner schriftlichen Antwort vom 18. Juni 2014 (vgl. oben, Rn. 39) hat der Kläger angegeben, er beantrage die Nichtigerklärung des „mündlichen Beschlusses [von] Präsident [Barroso] vom 16. Oktober 2012, ihn [seines] Amtes als Mitglied der Kommission zu entheben“. Er hat hinzugefügt, dass dieser Beschluss seiner Auffassung nach zwei Rechtsgrundlagen haben könne, nämlich entweder die Art. 245 AEUV und 247 AEUV oder Art. 17 Abs. 6 EUV.
65 Festzustellen ist, dass die Antwort des Klägers trotz der Aufforderung des Gerichts nicht dazu beiträgt, die Tragweite seines Nichtigkeitsantrags, wie er oben in Rn. 44 wiedergegeben worden ist, zu klären.
66 Es ist jedoch auch festzustellen, dass das Vorbringen des – beweisbelasteten – Klägers, wonach Präsident Barroso ihn unter missbräuchlicher Anmaßung der Befugnisse des Gerichtshofs nach den Art. 245 AEUV und 247 AEUV seines Amtes enthoben haben soll, weder in den Akten, im Übrigen auch nicht in den verschiedenen erhobenen Zeugenaussagen, noch in der Aussage, die der Kläger bei seinem persönlichen Erscheinen selbst gemacht hat, eine Stütze findet. Folglich ist dieses Vorbringen ohne Weiteres als in tatsächlicher Hinsicht unbegründet zurückzuweisen, da der Kläger weder einen Beweis noch einen Anhaltspunkt für die Existenz des angeblichen Beschlusses über die behauptete Amtsenthebung beigebracht hat.
67 Soweit der Kläger mit seinem ersten Antrag die Nichtigerklärung eines angeblichen Beschlusses vom 16. Oktober 2012 beantragen wollte, mit dem Präsident Barroso ihn unter Anmaßung der dem Gerichtshof durch die Art. 245 AEUV und 247 AEUV verliehenen Befugnisse kraft eigener Befugnis mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben haben soll, ist sein Nichtigkeitsantrag daher als unzulässig zurückzuweisen, da er die materielle Existenz eines solchen Beschlusses nicht nachgewiesen hat und es somit keine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV gibt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. Januar 1992, ISAE/VP und Interdata/Kommission, C‑130/91, Slg, EU:C:1992:7, Rn. 11, sowie Urteil vom 10. Juli 1990, Automec/Kommission, T‑64/89, Slg, EU:T:1990:42, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Im Übrigen ist davon auszugehen, dass die vorliegende Klage einen Antrag auf Nichtigerklärung eines angeblichen mündlichen Beschlusses zum Gegenstand hat, den Präsident Barroso am 16. Oktober 2012 in Wahrnehmung seines Rechts erlassen haben soll, gemäß Art. 17 Abs. 6 EUV den Rücktritt des Klägers als Mitglied der Kommission zu verlangen (im Folgenden: angefochtene Handlung).
Tatsächliche Würdigung
69 Vertreten die Parteien eines Rechtsstreits in tatsächlicher Hinsicht unterschiedliche Auffassungen, obliegt es in erster Linie dem Gericht, den relevanten Sachverhalt festzustellen und zu diesem Zweck die verfügbaren Beweismittel zu prüfen.
70 Im vorliegenden Fall bleibt der Standpunkt des Klägers zu seiner Reaktion auf das angebliche mündliche Rücktrittsverlangen, das Präsident Barroso gemäß Art. 17 Abs. 6 EUV an ihn gerichtet haben soll, auch nach der oben vorgenommenen Klarstellung des Gegenstands des Nichtigkeitsantrags zweideutig und verschwommen. So hat der Kläger sowohl vor Erhebung der vorliegenden Klage als auch in seinen Schriftsätzen einerseits zu verstehen gegeben, dass er am 16. Oktober 2012 auf die Aufforderung von Präsident Barroso tatsächlich seinen Rücktritt eingereicht habe (vgl. insbesondere die Rn. 54, 56, 85, 88, 89, 118 und 136 der Klageschrift sowie die Rn. 3, 4, 11, 12, 14, 15, 17, 51, 63, 69, 80, 85, 91 und 121 der Erwiderung), und andererseits, dass er seinen Rücktritt trotz einer solchen Aufforderung nie förmlich eingereicht habe, dieser Rücktritt jedenfalls nie tatsächlich wirksam geworden sei, so dass er sich weiterhin als nominelles, wenn nicht amtierendes Mitglied der Kommission betrachte (vgl. außer den Rn. 28, 30, 31, 33, 40, 63, 70 bis 80, 86, 87, 93 und 129 der Klageschrift sowie den Rn. 10 und 86 der Erwiderung insbesondere sein oben in Rn. 21 erwähntes Schreiben an Präsident Barroso vom 21. Oktober 2012, sein oben in Rn. 20 genanntes Schreiben an die Kommission vom 28. Dezember 2012, seine in Anlage 7 zur Erwiderung beigefügte schriftliche eidesstattliche Erklärung [„Affidavit“] vom 8. Mai 2013 und seine oben in Rn. 27 erwähnte Erklärung gegenüber einem maltesischen Radiosender vom 30. Juni 2013).
71 Die Kommission trägt vor, der Kläger habe sich bei der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 entschlossen, freiwillig sein Amt niederzulegen, ohne dass er von Präsident Barroso im Sinne von Art. 17 Abs. 6 EUV hierzu aufgefordert worden wäre.
72 Die ursprünglich zu den Akten gegebenen Beweismittel allein haben es dem Gericht nicht ermöglicht, zwischen der einen oder der anderen der beiden Versionen des Klägers einerseits (vgl. oben, Rn. 70) und der Version der Kommission andererseits (vgl. oben, Rn. 71) zu entscheiden.
73 Vor diesem Hintergrund hat das Gericht beschlossen, die oben in den Rn. 37 und 38 erwähnten Beweiserhebungsmaßnahmen zu erlassen.
74 Im Folgenden wird sich das Gericht insbesondere stützen zum einen auf die Erklärung und die Antworten des Klägers gegenüber dem Gericht bei seinem persönlichen Erscheinen in der Sitzung vom 7. Juli 2014, wie sie im Sitzungsprotokoll enthalten sind, und zum anderen auf die unterzeichneten Protokolle, in denen die Aussage und die Antworten der Zeugen Barroso, Laitenberger, Romero Requena, Darmanin und Vincent auf die Fragen des Gerichts und der Parteien wiedergegeben sind.
75 Bei der Prüfung der Beweiskraft der verschiedenen Zeugenaussagen ist berücksichtigt worden, dass zum einen Präsident Barroso der mutmaßliche Urheber der angefochtenen Handlung ist und zum anderen die übrigen Zeugen allesamt Beamte oder Bedienstete der Kommission und daher deren Präsidenten mehr oder weniger unmittelbar unterstellt sind, sowie die Tatsache, dass zwei von ihnen, Herr Laitenberger und Herr Romero Requena, persönlich an der Vorbereitung und den Folgemaßnahmen der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 beteiligt waren.
76 Gleichwohl haben die Zeugen den in Art. 68 § 5 Abs. 1 der Verfahrensordnung vorgesehenen Eid geleistet und ihre Aussagen nach den in Art. 71 der Verfahrensordnung im Einzelnen genannten Modalitäten bekräftigt; dabei sind sie speziell über die in der Gesetzgebung ihres Heimatstaats vorgesehenen strafrechtlichen Folgen einer Falschaussage belehrt worden.
77 Außerdem stellt die hierarchisch untergeordnete Position von vier der Zeugen gegenüber Präsident Barroso für sich genommen keinen hinreichenden Grund dafür dar, den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen in Zweifel zu ziehen, wenn man sowohl ihre Rechte und Verpflichtungen aus dem Statut der Beamten der Europäischen Union (vgl. insbesondere dessen Art. 11, 12, 19, 21a und 22) und den Beschäftigungsbedingungen der sonstigen Bediensteten als auch ihr fehlendes persönliches Interesse an der Angelegenheit berücksichtigt.
78 Die Zuverlässigkeit und die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen werden jedenfalls dadurch belegt, dass sie insgesamt kohärent sind. Vor allem werden diese Aussagen in den meisten wesentlichen Punkten durch die anderen objektiven Elemente der Akte bestätigt, auf die im weiteren Verlauf des vorliegenden Urteils Bezug genommen wird.
79 Dagegen wird die Beweiskraft der Aussagen, die der Kläger verschiedentlich, insbesondere bei seinem persönlichen Erscheinen in der Sitzung vom 7. Juli 2014, gemacht hat, durch die Zweideutigkeit, wenn nicht Widersprüchlichkeit seiner aufeinanderfolgenden Versionen der Ereignisse beeinträchtigt, die mehr Verwirrung stiften als Klärung bringen. Überdies lassen sich einige Aussagen des Klägers in einzelnen wesentlichen Punkten nicht nur durch die übereinstimmenden Aussagen der vom Gericht vernommenen Zeugen entkräften oder widerlegen, sondern auch durch die anderen objektiven Elemente der Akte, auf die im Folgenden ebenfalls Bezug genommen wird.
80 Das Gericht wird somit zunächst den Sachverhalt des vorliegenden Falls feststellen und sich dabei auf die fünf ihm zur Verfügung stehenden Zeugenaussagen und – soweit sich die Parteien über den Sachverhalt einig sind – auf die Aussagen des Klägers bei seinem persönlichen Erscheinen stützen. Gleichzeitig wird es den Grad der Glaubhaftigkeit einzelner gegenteiliger Behauptungen des Klägers prüfen. Anschließend wird das Gericht entscheiden, inwiefern sich der so festgestellte Sachverhalt durch die anderen zu den Akten gegebenen Beweise bestätigen lässt.
81 Insoweit kann bezüglich der Umstände, des Ablaufs und des Endes der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 sowie ihrer unmittelbaren Folgen von Folgendem ausgegangen werden.
82 Was zunächst die Vorbereitung im Vorfeld dieser Zusammenkunft angeht, hatte Präsident Barroso seit Eröffnung der Untersuchung des OLAF mit seinen engen Mitarbeitern mehrfach verschiedene politische Optionen erörtert, die ihm für den Fall zur Verfügung stehen würden, dass dem Kläger „keine vollkommen weiße Weste bescheinigt werden sollte“. In Anbetracht des Präzedenzfalls, den der kollektive Rücktritt der Kommission unter Vorsitz von Herrn Jacques Santer infolge der „Cresson-Affäre“ im Jahr 1999 darstellt, der als das politische Referenzereignis betrachtet wurde, hatten die Beteiligten folgende drei Fallgestaltungen erwogen, in der von ihnen bevorzugten Reihenfolge: a) unmittelbare vollständige und zufriedenstellende Erklärungen des Klägers auf die Schlussfolgerungen des OLAF, die es Präsident Barroso ermöglichen würden, ihm öffentlich erneut sein Vertrauen auszusprechen; b) in Ermangelung dessen, freiwilliger Rücktritt des Klägers, um seinen Namen reinzuwaschen und die Kommission zu schützen; c) sollte der Kläger sich weigern, sein Rücktritt im Anschluss an eine Aufforderung von Präsident Barroso nach Art. 17 Abs. 6 EUV. Die letztgenannte Option erschien den Beteiligten als diejenige, die dem Kläger insofern am meisten schadet, als sie den Verlust des Vertrauens von Präsident Barroso in ihn öffentlich zum Ausdruck bringen würde; von ihr sollte daher nur als ultima ratio Gebrauch gemacht werden.
83 Die Beteiligten vertraten darüber hinaus die Auffassung, dass bei Bekanntwerden des Berichts des OLAF eine rasche und entschiedene Behandlung der Frage geboten sei, da der Kommission andernfalls erheblicher politischer Schaden entstünde. So erläuterte der Zeuge Laitenberger unter Bezugnahme auf verschiedene unglücklich verlaufene Präzedenzfälle in den letzten beiden Jahrzehnten, dass „bei Bekanntwerden der einen solchen Sachverhalt betreffenden Nachricht sofortiges Handeln erforderlich ist; die verlorene Zeit kann nicht aufgeholt werden, es gibt in solchen Fällen keine Schonfrist“. Auch der Zeuge Romero Requena wies darauf hin, dass die Kommission einige leidige und schmerzliche Erfahrungen im Zusammenhang mit den Untersuchungen des OLAF gemacht habe, als sie zu langsam reagiert habe und Opfer von Lecks in der Presse gewesen sei.
84 Wenige Tage vor Übersendung des Berichts des OLAF wurden Präsident Barroso und seine engen Mitarbeiter informell darüber unterrichtet, dass die Angelegenheit für den Kläger „nicht gut aussehe“, ohne dass ihnen mehr Einzelheiten genannt worden wären.
85 Am 11. Oktober 2012 kontaktierte das Kabinett von Präsident Barroso, über die unmittelbar bevorstehende Übersendung des Berichts des OLAF informiert, das Kabinett des Klägers, um einen Termin für eine Zusammenkunft zu vereinbaren, der auf den 16. Oktober 2012 um 13.30 Uhr festgesetzt wurde. Frau Darmanin unterrichtete den Kläger hierüber, und dieser fragte sie, ob sie den Gegenstand der Zusammenkunft kenne. Sie verneinte und fragte, ob sie sich erkundigen solle. Der Kläger entgegnete, dass das nicht nötig sei. Daraufhin bereitete sie zu seinen Händen ein Dossier über die verschiedenen laufenden Projekte vor, die bei dieser Zusammenkunft möglicherweise erörtert werden würden.
86 In Bezug auf die Tagesordnung der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 gibt der Kläger an, „völlig überrascht“ gewesen zu sein. Nach Ansicht des Gerichts musste er allerdings zumindest damit rechnen, dass die ihn betreffende Untersuchung des OLAF auf der Tagesordnung stehen würde, obschon er weder über den Abschluss dieser Untersuchung noch über die Aushändigung des Berichts des OLAF an Präsident Barroso unterrichtet worden war.
87 Erstens war der Kläger zweimal – am 16. Juli und am 17. September 2012 – vom OLAF angehört worden (vgl. oben, Rn. 5 und 8); dabei waren ihm, wie aus dem Bericht des OLAF hervorgeht, sehr detaillierte Fragen zu dem im Begleitschreiben geschilderten Sachverhalt gestellt worden, insbesondere in Bezug auf die inoffiziellen und der Kommission nicht gemeldeten Gespräche, die er in Malta mit Vertretern der Tabakindustrie geführt haben soll und deren Existenz er im Übrigen selbst teilweise eingeräumt hatte, und seine Beziehungen mit Herrn Zammit, der bei diesen Gesprächen – sowohl während des Untersuchungszeitraums und im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand als auch während des Untersuchungsverlaufs – als Vermittler fungiert hatte.
88 Zweitens hatte der Kläger Präsident Barroso bereits ein erstes Mal am 25. Juli 2012 zu einem Gespräch über die Untersuchung des OLAF getroffen, wobei sie die durch die Beschwerde aufgeworfene Problematik allgemein erörtert hatten. Präsident Barroso hatte ihm bei dieser Gelegenheit die Bedeutung der Angelegenheit vor Augen geführt, und der Kläger hatte seinerseits jede Beteiligung an ihr kategorisch abgestritten und seine Absicht zum Ausdruck gebracht, gegen die beteiligten Personen vorzugehen, wobei sich diese Absicht jedoch nicht konkretisiert hat bzw. ihre Konkretisierung der Kommission jedenfalls nicht zur Kenntnis gebracht worden ist.
89 Drittens hat Präsident Barroso bei seiner Zeugenvernehmung erläutert, dass er den Mitgliedern der Kommission in seinen bilateralen Kontakten mit ihnen die Tagesordnung einer Zusammenkunft normalerweise mitteile, wenn sie die üblichen Tätigkeiten der Kommission zum Gegenstand habe. Im vorliegenden Fall habe er aber ein persönliches Gespräch politischer Natur mit dem Kläger führen wollen, so dass von einer Tagesordnung nicht die Rede gewesen sei. Seiner Auffassung nach hätte der Kläger bereits aus dem Fehlen einer Tagesordnung zwangsläufig folgern müssen, dass sich die Zusammenkunft auf eine äußerst vertrauliche und wichtige Angelegenheit beziehe, bei der es sich nur um die ihn betreffende Untersuchung des OLAF habe handeln können. Dies würde im Übrigen erklären, weshalb der Kläger die Tagesordnung der fraglichen Zusammenkunft nicht hat feststellen lassen, obwohl seine Kabinettschefin ihm dies vorschlug (vgl. oben, Rn. 85).
90 Viertens lässt sich die unterbliebene Mitteilung einer ausdrücklichen Tagesordnung an das Kabinett des Klägers vernünftigerweise mit dem legitimen Anliegen von Präsident Barroso erklären, die Untersuchung und den Bericht des OLAF so lange wie möglich geheim zu halten. Insoweit ist festzustellen, dass die Zeugen Darmanin und Vincent in Beantwortung einer Frage des Gerichts vorgetragen haben, sie hätten weder von der genannten Untersuchung noch von den die Untersuchung betreffenden Tatsachen Kenntnis gehabt, bevor der Kläger sie nach der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 selbst darüber unterrichtet habe.
91 Am 15. Oktober 2012 ging der Bericht des OLAF im Kabinett von Präsident Barroso ein und wurde von vier Personen – außer von ihm selbst von Herrn Laitenberger, Frau Day und Herrn Romero Requena – gelesen.
92 Anschließend wurden von Frau Day zwei Entwürfe einer Pressemitteilung vertraulich ausgearbeitet und später von Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena gegengelesen. Der eine betraf den Fall, dass der Kläger von sich aus zurücktritt, der andere den Fall, dass der Kläger auf eine Aufforderung von Präsident Barroso nach Art. 17 Abs. 6 EUV zurücktritt. Beide Entwürfe wurden dem Dienst des Sprechers der Kommission kurz vor Beginn der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 übermittelt.
93 Dagegen war kein Entwurf einer Pressemitteilung für den Fall ausgearbeitet worden, dass der Kläger in der Lage ist, auf den Bericht des OLAF vollständige und zufriedenstellende Erklärungen zu geben. Präsident Barroso sowie Herr Laitenberger und Herr Romero Requena haben in ihren Zeugenaussagen angegeben, dass dies vor Kenntnisnahme des Inhalts dieser etwaigen Erklärungen nicht möglich gewesen wäre. Darüber hinaus wäre es in diesem Fall wahrscheinlich nicht erforderlich gewesen, eine Pressemitteilung zu veröffentlichen, zumindest nicht sofort.
94 Es war auch kein Entwurf eines Beschlusses nach Art. 17 Abs. 6 EUV oder eines Rücktrittsschreibens des Klägers ausgearbeitet worden. Dagegen war vorgesehen worden, dass Präsident Barroso nach seiner Unterredung mit dem Kläger ein Telefongespräch mit dem maltesischen Premierminister führt.
95 Vor Beginn der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 bat Präsident Barroso Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena, sich zur Verfügung zu halten, um die Ergebnisse der Zusammenkunft zur Kenntnis zu nehmen und sie zu begleiten.
96 Die Zusammenkunft begann gegen 13.45 Uhr und dauerte insgesamt ca. anderthalb Stunden.
97 Präsident Barroso zeigte dem Kläger zunächst den Bericht des OLAF. Der Kläger bat darum, ihn zur Kenntnis nehmen zu dürfen, aber Präsident Barroso lehnte dies mit der Begründung ab, der Bericht sei vertraulich. Er las dem Kläger jedoch mehrfach das Begleitschreiben vor und fragte ihn, was er darüber denke.
98 Zwar beteuerte der Kläger energisch seine Unschuld hinsichtlich der Behauptungen in Bezug auf die geforderten Schmiergelder und die Anweisungen, die er Herrn Zammit erteilt haben soll, leugnete aber weder seine inoffiziellen Treffen mit Vertretern der Tabakindustrie in Malta, die ohne Unterrichtung der Kommission oder seines eigenen Kabinetts über Herrn Zammit organisiert worden waren, noch seine freundschaftlichen persönlichen Beziehungen mit Herrn Zammit. Er räumte ein, dass er insoweit unvorsichtig gewesen sei und sich nicht dazu hätte verleiten lassen dürfen.
99 Präsident Barroso hielt es vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen, die von ihm als „wenig überzeugend“ und sogar „sonderbar“ eingestuft wurden, unter den geltenden politischen Bedingungen für „undenkbar“, den Kläger im Amt zu belassen. In diesem Zusammenhang hat er in seiner Zeugenaussage angegeben, er habe in diesem Stadium jedes politische und persönliche Vertrauen in den Kläger verloren. Darüber hinaus habe er es als seine Pflicht betrachtet, die Integrität der Kommission als Organ zu schützen. Er habe dem Kläger zu verstehen gegeben, dass es unter diesen Umständen vorzugswürdig und ehrenhafter wäre, wenn er von sich aus seinen Rücktritt einreiche, um seine Ehre verteidigen zu können. Sollte der Kläger sein Amt nicht niederlegen, verfüge er allerdings nach dem Vertrag von Lissabon über die Befugnis, ihn dazu zu zwingen, indem er ihn förmlich zum Rücktritt auffordere.
100 Die beiden setzten ihre Diskussion fast eine Stunde lang fort, wobei der Kläger weiterhin seine Unschuld beteuerte und Einsichtnahme in den Bericht des OLAF verlangte, worauf Präsident Barroso entgegnete, dass er nicht berechtigt sei, ihm diesen bekannt zu geben. Der Kläger betonte gegenüber Präsident Barroso darüber hinaus ausführlich, wie schwierig die Situation für ihn und seine Familie sei und dass er mehr Zeit, wenigstens 24 Stunden, benötige, um einen Rechtsanwalt hierzu konsultieren zu können; diese Frist wurde ihm von Präsident Barroso, der nicht bereit war, ihm mehr als eine halbe Stunde zu gewähren, jedoch versagt.
101 Am Ende der Diskussion teilte der Kläger Präsident Barroso mit, dass er sich für den Rücktritt entscheide. Präsident Barroso hat bei seiner Zeugenvernehmung hervorgehoben, dass diese Erklärung im Präsens („ich trete zurück“) und nicht im Futur („ich werde zurücktreten“) formuliert gewesen sei.
102 In diesem Zusammenhang schenkt das Gericht der Aussage des Klägers keinen Glauben, dass er angesichts der „Schikanen“, denen er ausgesetzt gewesen sei, Präsident Barroso lediglich „offenbar muss ich gehen“ gesagt bzw. „angekündigt“ habe, dass er „gehen werde“, was impliziere, dass er seinen Rücktritt in diesem Stadium tatsächlich noch nicht eingereicht habe.
103 Die Wirkung solcher hinhaltender Erklärungen wäre nämlich mit den drei einzig möglichen Ergebnissen der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012, die Präsident Barroso ins Auge gefasst hatte (vgl. oben, Rn. 82) und die allesamt eine schnelle und entschiedene Behandlung erforderten (vgl. oben, Rn. 83), unvereinbar gewesen, so dass vernünftigerweise ausgeschlossen werden kann, dass sich Präsident Barroso damit zufriedengegeben hätte.
104 Ohne dass untersucht zu werden brauchte, aus welchen Gründen der Kläger es für zweckmäßig gehalten hat, das Gericht mit der vorliegenden Rechtssache zu befassen, ist vor allem festzustellen, dass der Betroffene wie folgt mit seiner Aussage fortgefahren hat:
„Ich komme aus einem System, ich bin viele Jahre lang – mehr als 15 Jahre – Minister im maltesischen Kabinett gewesen; [ich] komme aus einem System, in dem, wenn der Premierminister Sie auffordert, zu gehen, und sei es auch nur mit einer einfachen SMS, Sie gehen. Ich will sagen, das ist das System, Sie sagen nicht ‚nein, ich gehe gerichtlich dagegen vor‘; ich will sagen, dies ist das System, das ich gewohnt bin. Und so stellte sich also die Situation dar, mit der ich in jenem Moment konfrontiert war.“
105 Auch hat der Kläger auf eine Frage des Gerichts ausgerufen: „Wie kann ein Politiker dort bleiben, wo man ihn nicht will?“
106 Diese spontanen Überlegungen erscheinen mit der vom Kläger dargebotenen Version der bloßen Ankündigung eines späteren Rücktritts oder gar eines lediglich in Betracht gezogenen Rücktritts kaum vereinbar.
107 Gegen 15.00 Uhr bat Präsident Barroso Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena in sein Büro, um die Ergebnisse der Zusammenkunft zur Kenntnis zu nehmen und sie zu begleiten, insbesondere durch die Veröffentlichung der Pressemitteilung über den Rücktritt des Klägers und durch die Betreuung der in dessen Kabinett Beschäftigten.
108 Für die Zwecke des vorliegenden Urteils ist in Bezug auf diesen zweiten Teil der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012, wie er von den Zeugen berichtet wurde, im Wesentlichen von folgenden Feststellungen auszugehen:
—
Präsident Barroso hat Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena im Beisein des Klägers erläutert, dass sich dieser zum Rücktritt entschlossen habe, den Anschuldigungen des OLAF aber entgegentrete;
—
der Kläger hat weiterhin energisch seine Unschuld beteuert und gegen die Art und Weise seiner Behandlung protestiert, dabei sogar von „Lynchjustiz“ gesprochen, und vor allem erneut darum gebeten, vor der öffentlichen Bekanntmachung seines Rücktritts über mehr Zeit verfügen zu können; hierzu hat der Zeuge Romero Requena auf Frage der Rechtsanwälte des Klägers erklärt, dass der Kläger die politische Realität seines Rücktritts unter energischer Beteuerung seiner Unschuld akzeptiert habe;
—
Präsident Barroso war der Ansicht, er könne die Regelung dieser Angelegenheit nicht hinausschieben, da der Rücktritt des Klägers eine politische und institutionelle Entscheidung sei, die maltesischen Behörden und die Präsidenten der übrigen Organe informiert werden müssten und später am Nachmittag eine Pressemitteilung zu veröffentlichen sei;
—
Präsident Barroso wollte in Anbetracht dessen, dass der Kläger darauf bestand, vor der öffentlichen Bekanntmachung seines Rücktritts über mehr Zeit verfügen zu können, eine Klarstellung dahin gehend erhalten, ob der Kläger seinen Rücktritt bestätige oder ob er glaube, als Mitglied der Kommission im Amt bleiben zu können; der Kläger hat dies verneint und seinen Rücktritt bestätigt, gleichzeitig aber weiterhin mehr Zeit gefordert;
—
Präsident Barroso hat den Schluss gezogen, dass die Angelegenheit nicht wieder aufgegriffen werden könne; er hätte dem Kläger gerne mehr Zeit gegeben, hat dies aber nicht gekonnt und ist davon ausgegangen, dass ihm der Rücktritt erklärt wurde;
—
Präsident Barroso hat dem Kläger den Entwurf einer Pressemitteilung über seinen Rücktritt im Beisein der beiden Zeugen vorgelesen; der Kläger hat keine Einwände erhoben; Präsident Barroso hat gleichwohl eigenhändig den Satz „Herr Dalli weist diese Schlussfolgerungen kategorisch zurück“ hinzugefügt;
—
gegen Ende der Zusammenkunft ist über die Folgen und die praktischen Aspekte des Rücktritts des Klägers gesprochen worden; dieser hat um Informationen über das Verfahren zu seiner Ersetzung als Mitglied des Kollegiums und über die administrative Situation des Personals seines Kabinetts gebeten und diese erhalten.
109 Im Verlauf dieses zweiten Teils der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 fragte der Kläger, ob er ein Rücktrittsschreiben aufsetzen müsse. Präsident Barroso antwortete ihm, dass er dazu nicht verpflichtet sei, es ihm aber freistehe, wenn er dies wünsche. Beide verständigten sich darauf, Herrn Romero Requena zu bitten, den Entwurf eines Schreibens vorzubereiten, in dem die Gründe seines Rücktritts dargelegt werden sollten. Präsident Barroso stellte klar, dass er dem Kläger auf diese Weise die Gelegenheit geben wolle, Argumente zur Verteidigung vorzubringen, die in der Pressemitteilung der Kommission nicht enthalten sein konnten.
110 Bezüglich der oben in Rn. 102 genannten Behauptung ist das Gericht aus ähnlichen Gründen wie oben in den Rn. 103 bis 106 der Ansicht, dass es wenig glaubwürdig ist, wenn der Kläger aussagt, er habe im Beisein von Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena erklärt, dass er „gehe“ oder „gehen werde“, aber nur unter der Voraussetzung, dass sein Rücktritt schriftlich erklärt werde. Auf Frage der Rechtsanwälte des Klägers hat der Zeuge Romero Requena überdies angegeben, dass er das Rücktrittsschreiben zu keinem Zeitpunkt als eine für den Rücktritt des Klägers unabdingbare Förmlichkeit angesehen habe. Dieses Schreiben habe es dem Kläger lediglich ermöglichen sollen, die Gründe für seinen Rücktritt öffentlich schriftlich darzulegen. Auch Herr Laitenberger hat in seiner Zeugenvernehmung seine Sachverhaltsdarstellung mit dem Hinweis geschlossen, dass es für ihn im Licht des zwischen Präsident Barroso und dem Kläger in seinem Beisein geführten Gesprächs klar gewesen sei, dass sich der Kläger aus freien Stücken zum Rücktritt entschlossen habe und nicht dazu gezwungen worden sei und dass das Rücktrittsschreiben des Klägers lediglich eine Entscheidung bestätigen solle, die bereits getroffen und wirksam sei.
111 Gegen 15.30 Uhr endete die Zusammenkunft, und der Kläger verließ das Büro von Präsident Barroso.
112 Präsident Barroso telefonierte sogleich mit dem maltesischen Premierminister, Herrn Gonzi, und verständigte sich mit diesem darauf, das Verfahren zur Ersetzung des Klägers einzuleiten.
113 Gegen 15.45 Uhr ging der Kläger wieder in sein Büro hinunter und bat seine Sekretärin, das Kabinettspersonal zu einer Konferenz einzuberufen. Von Frau Darmanin nach dem Grund dafür befragt, antwortete er ihr ihrer Erinnerung nach wie folgt:
„Wir haben ein Problem, wir haben ein großes Problem – ich muss meine Frau anrufen und es ihr sagen. Ich muss gehen [auf maltesisch: irrid nitlaq], ich muss sehen, ich muss prüfen [auf maltesisch: irrid nara], wie es um Entschädigungsleistungen steht. Was habe ich für Rechte? Habe ich Anspruch auf eine Pension?“
114 Der Kläger telefonierte anschließend mit seiner Ehefrau, und Frau Darmanin verließ den Raum.
115 Der Kläger rief auch den maltesischen Premierminister zurück, der ihn in seiner Abwesenheit angerufen hatte. Dem Kläger zufolge dauerte dieses Telefongespräch eine Minute; Herr Gonzi habe ihm lediglich gesagt: „Hören Sie, ich habe diesen Telefonanruf von Barroso erhalten; er hat mir gesagt, Sie seien kein Kommissar mehr, und wir müssten jemand anderen finden.“ Der Kläger hat auf eine bei seinem persönlichen Erscheinen gestellte Frage außerdem hervorgehoben, er habe Herrn Gonzi erläutert, dass Präsident Barroso seine Amtszeit als Mitglied der Kommission „beendet [habe]“. Diese Aussage wird jedoch durch die Erklärung widerlegt, die Herr Gonzi am Abend desselben Tages vor dem maltesischen Parlament abgegeben hat (vgl. oben, Rn. 17).
116 Zwischen 16.00 Uhr und 16.15 Uhr wurden die Mitarbeiter des Kabinetts des Klägers in den Konferenzraum gerufen. Der Kläger unterrichtete sie darüber, dass er eine Zusammenkunft mit Präsident Barroso gehabt habe, der ihn über die Schlussfolgerungen des Berichts des OLAF zu bestimmten Kontakten in Kenntnis gesetzt habe, die er mit der Tabakindustrie gehabt haben solle. Er teilte insbesondere mit, dass Präsident Barroso um 17.00 Uhr sein Ausscheiden aus der Kommission bekannt geben werde und er nun die Kommission verlassen, nach Malta zurückkehren und seine Sache vertreten werde.
117 Frau Darmanin hat bei ihrer Zeugenvernehmung ausgesagt und bekräftigt, dass es, auch wenn sie sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern könne, den der Kläger bei der Zusammenkunft mit den Mitarbeitern seines Kabinetts verwendet habe, für sie klar gewesen sei, dass er ab 17.00 Uhr kein Mitglied der Kommission mehr sein würde. Auf Frage des Gerichts hat sie hinzugefügt, dass sie nicht unter Eid aussagen könne, dass der Kläger „ich habe meinen Rücktritt eingereicht“ gesagt habe, sie sich aber auch nicht daran erinnere, dass er irgendetwas Gegenteiliges gesagt habe.
118 Zwischen 16.20 Uhr und 16.45 Uhr betrat Herr Romero Requena das Kabinett des Klägers, um ihm den Entwurf eines Rücktrittsschreibens auszuhändigen, den er soeben mit Hilfe seiner Assistentin ausgearbeitet hatte. Er traf den Kläger in einem Büro in Gesellschaft einer weiteren, ihm unbekannten Person an. Der Kläger unterzeichnete den Entwurf des Schreibens nicht, entgegnete aber, dass er „sich darum kümmern werde“. Herr Romero Requena verließ das Büro sogleich wieder.
119 Der fragliche Entwurf eines Schreibens (Anhang A.12 der Klageschrift) hat folgenden Wortlaut und enthält folgende Streichungen, von denen feststeht, dass der Kläger sie nach Aushändigung des genannten Entwurfs von Hand vorgenommen hat:
„Sehr geehrter Herr Präsident,
hiermit möchte ich Sie über meine Entscheidung in Kenntnis setzen, mit sofortiger Wirkung von meinem Amt als Mitglied der Europäischen Kommission zurückzutreten.
Ich habe diese Entscheidung getroffen, um meinen eigenen guten Ruf zu verteidigen und gleichzeitig zu verhindern, dass der Europäischen Union und der Kommission während der kommenden Wochen irgendein Schaden entsteht.
Ich trete allen Anschuldigungen mit Nachdruck entgegen. Ich bin davon überzeugt, dass sich ein Gesetzesverstoß meinerseits nicht feststellen lassen wird. Ich beabsichtige daher, alle mir zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel zu ergreifen, um meinen Ruf und meine Interessen vor diesen Anschuldigungen zu schützen. Dies wird jedoch nicht nur Zeit in Anspruch nehmen; Voraussetzung ist darüber hinaus, dass ich von meiner gegenwärtigen politischen Verantwortung als Mitglied der Europäischen Kommission entbunden bin. Bei einem Verbleib im Amt wäre ich nicht in der Lage, meine Sache mit dem Nachdruck zu verteidigen, den ich für erforderlich halte. Gleichzeitig erkenne ich an, dass es dem Ansehen des Organs zwangsläufig schaden würde, wenn eines seiner amtierenden Mitglieder juristisch gegen Anschuldigungen vorgehen würde, die sein persönliches Verhalten betreffen. Und was noch wichtiger ist: Ich sähe mich außerstande, meine ganze Energie der Ausübung meines Amtes als Kommissar zu widmen …, wenn ich mich gleichzeitig gegen solche Anschuldigungen verteidigen müsste.
Lassen Sie mich Ihnen jedoch versichern, dass der Entschluss, meinen guten Ruf gegen diese Anschuldigungen zu verteidigen, mich zu keinem Zeitpunkt daran hindern wird, meinen gesetzlichen Verpflichtungen als ehemaliger Kommissar nachzukommen, ein von Integrität und Diskretion geleitetes Verhalten an den Tag zu legen.“
120 Um 16.50 Uhr rief Frau Day Frau Darmanin an und schlug ihr vor, eine Zusammenkunft des Personals des Kabinetts des Klägers mit ihr selbst und Herrn Laitenberger zu organisieren. Diese Zusammenkunft fand zwischen 17.30 Uhr und 17.45 Uhr in der 13. Etage des Gebäudes Berlaymont statt. Die Mitarbeiter des Kabinetts des Klägers wurden u. a. darüber unterrichtet, dass der Vizepräsident der Kommission, Herr Maroš Šefčovič, bis zur Ernennung eines neuen Kommissionsmitglieds als Ersatz für den Kläger für die Generaldirektion „Gesundheit und Verbraucherschutz“ verantwortlich sein werde.
121 Um 17.11 Uhr wurde die Pressemitteilung der Kommission über den Rücktritt des Klägers veröffentlicht. Der Kläger räumt ein, davon Kenntnis gehabt zu haben.
122 Gegen 18.00 Uhr wurde der Sprecher des Klägers, Herr Vincent, gebeten, in das Büro des Klägers zu kommen. Der Kläger fragte ihn, ob eine Pressemitteilung, in der er seinen Standpunkt zur Pressemitteilung der Kommission darlegen würde, verbreitet werden könne. Herr Vincent entgegnete dem Kläger, dass dies nicht mehr möglich sei, da sein Rücktritt nunmehr offiziell geworden sei und er daher nicht mehr auf die Kommunikationsdienste der Kommission zurückgreifen könne. Der Kläger zeigte sich darüber sehr verärgert. In diesem Moment traf Frau Darmanin, die von ihrem Büro aus erregte Stimmen in einem nahegelegenen Büro gehört hatte, den Kläger dort in einer Diskussion mit Herrn Vincent an. Sie bestätigte dem Kläger, dass die Veröffentlichung einer Pressemitteilung in seinem Namen nicht mehr möglich sei, da er seit 17.00 Uhr nicht mehr der Kommission angehöre, und die das Organ vertretende Person deren Präsident sei, der bereits seine eigene Pressemitteilung veröffentlicht habe.
123 Später am Abend veröffentlichte der Kläger seine eigene Pressemitteilung. Diese Pressemitteilung geht auf seinen Rücktritt nicht ein, widerlegt die Pressemitteilung der Kommission aber auch nicht. Sie beschränkt sich im Wesentlichen darauf, sämtliche Anschuldigungen des OLAF zurückzuweisen.
124 In Anbetracht der Gesamtheit der vorstehenden Feststellungen, Beurteilungen und Erwägungen ist nach Ansicht des Gerichts rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass der Kläger im Verlauf der Zusammenkunft mit Präsident Barroso am Nachmittag des 16. Oktober 2012 in dessen Büro den Rücktritt von seinem Amt als Mitglied der Kommission mündlich eingereicht und diesen Rücktritt im Beisein von Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena mündlich bestätigt hat.
125 Diese Schlussfolgerung, die in erster Linie auf der Grundlage der Zeugenaussagen, gegebenenfalls bestätigt durch das persönliche Erscheinen des Klägers, gezogen worden ist, wird insbesondere untermauert durch
—
die Erklärung, die der maltesische Premierminister am Abend des 16. Oktober 2012 nach seinem Telefongespräch mit dem Kläger gegenüber dem maltesischen Parlament abgegeben hat (vgl. oben, Rn. 17);
—
das einem maltesischen Radiosender am Abend des 16. Oktober 2012 vom Kläger gewährte Interview (vgl. oben, Rn. 18), in dem sich der Betroffene dazu entschlossen hat, sein Ausscheiden aus der Kommission als eine freiwillige politische Entscheidung darzustellen;
—
die Tatsache, dass sich der Kläger nicht von der am Abend des 16. Oktober 2012 gegen 17.00 Uhr veröffentlichten Pressemitteilung der Kommission über seinen Rücktritt distanziert hat, von der er jedoch Kenntnis gehabt hat;
—
die Tatsache, dass der Kläger, insbesondere in seiner am Abend des 16. Oktober 2012 veröffentlichten eigenen Pressemitteilung, keine offizielle Erklärung dahin gehend abgegeben hat, dass er seinen von der Kommission bekannt gegebenen Rücktritt bestreite;
—
die wenigen handschriftlichen Anmerkungen, die der Kläger am Entwurf eines Rücktrittsschreibens angebracht hat, der ihm von Herrn Romero Requena ausgehändigt worden war (vgl. oben, Rn. 119);
—
die Aktennotiz von Herrn Romero Requena vom 18. Oktober 2012 (vgl. oben, Rn. 19), die vor dem ersten Bestreiten der Tatsache bzw. der Rechtmäßigkeit des Rücktritts des Klägers durch diesen (vgl. oben, Rn. 21), also in tempore non suspecto, erstellt worden ist.
Rechtliche Würdigung
126 Aus der Gesamtheit der vorstehenden tatsächlichen Feststellungen ergibt sich, dass der Kläger im Verlauf der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 mündlich den Rücktritt von seinem Amt als Mitglied der Kommission eingereicht und diesen Rücktritt am Ende der genannten Zusammenkunft im Beisein von Herrn Laitenberger und Herrn Romero Requena mündlich bestätigt hat.
127 In Anbetracht der Klagegründe obliegt dem Gericht die rechtliche Beurteilung, ob dieser Rücktritt als freiwillig zu qualifizieren oder im Rahmen einer durch die angebliche Aufforderung von Präsident Barroso im Sinne von Art. 17 Abs. 6 EUV gebundenen Entscheidung eingereicht worden ist, wobei dann die Aufforderung die anfechtbare Handlung darstellen würde.
128 Vorab ist festzustellen, dass Art. 17 Abs. 6 EUV weder die Aufforderung des Präsidenten der Kommission noch die Niederlegung eines Amtes, die darauf zu folgen hat, einem besonderen Formerfordernis, insbesondere der Schriftform, unterwirft. Eine solche Förmlichkeit erscheint auch nicht nach dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit erforderlich, da die Beweislast für einen Rücktritt jedenfalls der Partei obliegt, die sich darauf beruft (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 23. Februar 2001, De Nicola/EIB, T‑7/98, T‑208/98 und T‑109/99, SlgÖD, EU:T:2001:69, Rn. 287 und 290). Das Gleiche gilt im Übrigen für einen freiwilligen Rücktritt eines Mitglieds der Kommission.
129 Daher ist der Nichtigkeitsgrund einer Verletzung der genannten Bestimmung und dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes, weil der Kläger seinen Rücktritt nicht schriftlich eingereicht habe, von vornherein zurückzuweisen.
130 Der Kläger macht außerdem sinngemäß geltend, Präsident Barroso habe ihm ausdrücklich zu verstehen gegeben, von seiner Befugnis nach Art. 17 Abs. 6 EUV, ihn zum Rücktritt aufzufordern, Gebrauch machen zu wollen, und habe damit einen mündlichen Beschluss erlassen, der eine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV darstelle, da er verbindliche Rechtswirkungen erzeuge, die die Interessen des Klägers beeinträchtigen könnten, indem sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise änderten.
131 Insbesondere der Umstand, dass Präsident Barroso den Kläger zum Rücktritt aufgefordert habe, indem er ihn darauf hingewiesen habe, dass es ehrenhafter für ihn sei, aus freien Stücken zurückzutreten, als dazu aufgefordert zu werden, sei de facto und de iure gerade Ausdruck der Befugnis des Präsidenten der Kommission nach Art. 17 Abs. 6 EUV, den Rücktritt eines Mitglieds der Kommission zu verlangen. Die „Aufforderung“ an den Kläger, „freiwillig zurückzutreten“, und die „Drohung“ von Präsident Barroso, dass er den Kläger, falls er sich weigere zurückzutreten, „dazu auffordern würde“, stellten in Wirklichkeit ein und dieselbe, auf zwei verschiedene Weisen angekündigte und in unterschiedliche Worte gekleidete Handlung dar.
132 Bei der Beurteilung der Frage, ob die von Präsident Barroso bei der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 tatsächlich gewählten Worte, wie der Kläger vorträgt, eine mündliche „Aufforderung“ zur Niederlegung seines Amtes im Sinne von Art. 17 Abs. 6 EUV darstellen, sind zum einen Wesen und Inhalt des in Rede stehenden Amtes und zum anderen Entstehungsgeschichte und Normzweck der fraglichen Vorschrift zu berücksichtigen.
133 Was erstens das Wesen des in Rede stehenden Amtes angeht, so beruht dieses auf einem im Wesentlichen politischen Mandat (vgl. insbesondere Art. 17 Abs. 1, 3 und 8 EUV), das dem Betroffenen vom Europäischen Rat im Einvernehmen mit dem Präsidenten der Kommission und nach Zustimmung des Parlaments übertragen wird (vgl. Art. 17 Abs. 7 EUV). Inhalt dieses Amtes können gemäß Art. 17 Abs. 1 EUV im Wesentlichen Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen sowie solche der Kontrolle der Umsetzung der Unionspolitiken in den der Union durch die Verträge übertragenen Zuständigkeitsbereichen sein.
134 Soweit die Kommission, wie sie sich selbst definiert, als hauptsächliches „Exekutivorgan“ der neuen völkerrechtlichen Rechtsordnung angesehen werden kann, die die Union (im Sinne des Urteils vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos, 26/62, Slg, EU:C:1963:1) darstellt, üben ihre Mitglieder daher in kollegialer Weise Funktionen aus, die nach der klassischen Lehre von der Gewaltenteilung zur Exekutive gehören.
135 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass Personen, die in den nationalen Exekutiven mit solchen Funktionen ausgestattet sind, nach den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten generell vom Leiter der Exekutive oder von der Behörde, die sie ernannt hat, nach freiem Ermessen abberufen werden können. Insoweit ist auf die eigenen Erklärungen des Klägers zu den in Malta geltenden politischen Gepflogenheiten, wie oben in Rn. 104 wiedergegeben, hinzuweisen, die er bei seinem persönlichen Erscheinen abgegeben hat.
136 Zweitens ist zu Entstehungsgeschichte und Normzweck von Art. 17 Abs. 6 EUV darauf hinzuweisen, dass die Verträge abgesehen von den regelmäßigen Neubesetzungen und von Todesfällen ursprünglich keine andere Möglichkeit des Ausscheidens eines Mitglieds der Kommission vorsahen als die eines freiwilligen Rücktritts (Art. 215 EG) oder einer Amtsenthebung durch den Gerichtshof, insbesondere bei einer schweren Verfehlung (Art. 216 EG).
137 Neben diesen besonderen Umständen, die ein Verfahren zur Amtsenthebung durch den Gerichtshof nach sich ziehen können, bestand für die Kommission als Kollegium oder für ihren Präsidenten als ihren Leiter daher keine Möglichkeit, eines ihrer Mitglieder zum Rücktritt zu zwingen, wenn der Kontext oder die jeweilige politische Lage es im eigenen Interesse des Organs zu verlangen schienen.
138 Wie oben in Rn. 135 festgestellt worden ist, entsprach diese Sachlage nicht den traditionell innerhalb der nationalen Exekutiven geltenden politischen Gepflogenheiten.
139 Wie die Kommission im vorliegenden Verfahren hervorgehoben hat, hatte diese Sachlage im Übrigen zum geschlossenen Rücktritt der Kommission unter Vorsitz von Herrn Jacques Santer am 15. März 1999 geführt, nachdem sich zwei ihrer Mitglieder geweigert hatten, im Kontext der Drohung des Parlaments mit einem Misstrauensantrag gegen die Kommission als Kollegium ihren Rücktritt einzureichen.
140 Um der Wiederholung solcher Fälle eines kollektiven Rücktritts vorzubeugen, die geeignet sind, das ordnungsgemäße Funktionieren der Gemeinschaftsorgane zu stören und ihrem politischen Ansehen zu schaden, haben die Verfasser des am 26. Februar 2001 unterzeichneten Vertrags von Nizza dem Präsidenten der Kommission das Ermessen eingeräumt, ein Mitglied der Kommission mit Unterstützung der Mehrheit des Kollegiums zum Rücktritt aufzufordern. So bestimmt Art. 217 Abs. 4 EG in seiner sich aus dem Vertrag von Nizza ergebenden Fassung: „Ein Mitglied der Kommission erklärt seinen Rücktritt, wenn der Präsident es nach Billigung durch das Kollegium dazu auffordert.“
141 Die Verfasser des am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrags von Lissabon haben dieses Recht des Präsidenten der Kommission gestärkt, indem sie es in sein Ermessen gestellt haben, ein Mitglied der Kommission gemäß Art. 17 Abs. 6 EUV zum Rücktritt aufzufordern, ohne dazu noch über die vorherige Billigung der Mehrheit des Kollegiums verfügen zu müssen.
142 Wie Entstehungsgeschichte und Normzweck der genannten Bestimmung zeigen, zielt diese insbesondere auf den Fall ab, dass sich ein Mitglied der Kommission weigern sollte, freiwillig und von sich aus zurückzutreten, wenn der Präsident der Kommission das Vertrauen in das Mitglied verloren hat oder der Ansicht ist, dass bei seinem Verbleiben im Amt die Gefahr einer Beeinträchtigung des Ansehens oder gar des politischen Überlebens des Organs bestünde.
143 Auf einer Linie mit dieser Entstehungsgeschichte und in völligem Einklang mit dem genannten Normzweck fügt sich im vorliegenden Fall das Vorgehen von Präsident Barroso ein, das bereits im Vorfeld der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 darin bestanden hat, dem Kläger die Wahl zwischen einem freiwilligen Rücktritt und einem durch eine Aufforderung im Sinne von Art. 17 Abs. 6 EUV „herbeigeführten“ Rücktritt zu überlassen. Dieses Vorgehen hat sich insbesondere in der Vorbereitung zweier Entwürfe von Pressemitteilungen niedergeschlagen, die den einen und den anderen Fall betreffen (vgl. oben, Rn. 92).
144 Aus der Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht geht im Übrigen hervor, dass Präsident Barroso in Anbetracht dessen, dass der Kläger auf die Schlussfolgerungen des OLAF keine vollständigen und zufriedenstellenden Erklärungen geliefert hatte, bereits in einem frühen Stadium der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 den Entschluss gefasst hatte, diesen zum Ausscheiden aus der Kommission zu bewegen, und entschlossen war, dazu erforderlichenfalls von seiner Befugnis nach Art. 17 Abs. 6 EUV, ihn zum Rücktritt aufzufordern, Gebrauch zu machen. Gleichzeitig war Präsident Barroso im Interesse des Klägers weiterhin bereit, diesem das zu erweisen, was er für den „politischen Gefallen“ hielt, freiwillig sein Amt niederlegen zu können, ohne von ihm nach Art. 17 Abs. 6 EUV förmlich aufgefordert zu sein.
145 Präsident Barroso schlug dem Kläger daher vor, freiwillig zurückzutreten, gab ihm gleichzeitig aber eindeutig zu verstehen, dass er ihn, sollte er sich weigern, gemäß Art. 17 Abs. 6 EUV dazu auffordern würde. Präsident Barroso hat in seiner Zeugenvernehmung bestätigt, dass er, wenn der Kläger nicht freiwillig zurückgetreten wäre, ihn „sicherlich“ nach Art. 17 Abs. 6 EUV dazu aufgefordert hätte. Die dem Kläger überlassene Wahl ist von diesem im Übrigen subjektiv wie folgt wahrgenommen worden: „Ich bin befugt, Sie zu entlassen; Sie können aber zurücktreten“.
146 In diesem Zusammenhang genügt der Umstand, dass Präsident Barroso den Kläger in Anbetracht von dessen Widerwille und Zögern immer eindringlicher darauf hingewiesen hat, dass es ehrenhafter für ihn sei, aus freien Stücken zurückzutreten, als dazu aufgefordert zu werden, nicht für den Nachweis des angeblichen Beschlusses, den der Kläger angefochten hat. Denn solange eine Aufforderung zum Rücktritt nach Art. 17 Abs. 6 EUV nicht eindeutig ausgesprochen war, ließ sich den Worten von Präsident Barroso, so nachdrücklich sie auch sein mochten, keine entsprechende Aufforderung entnehmen, die die Interessen des Klägers hätte beeinträchtigen können, indem sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise änderte.
147 Das Argument des Klägers, wonach es „Druck“ seitens Präsident Barrosos gegeben habe und dieser bei der Ausübung des „Drucks“ seine Befugnisse nach Art. 17 Abs. 6 EUV wahrgenommen habe, ist nach Ansicht des Gerichts unbegründet, da eine bloße Andeutung der Möglichkeit, von einer Befugnis Gebrauch zu machen, dem tatsächlichen Gebrauch der Befugnis nicht gleichgestellt werden kann. Insoweit weist die Kommission zu Recht darauf hin, dass, auch wenn es hinsichtlich des Endergebnisses zwischen den beiden dem Kläger vorgeschlagenen Optionen keinen großen Unterschied gegeben habe, in politischer und – vor allem – rechtlicher Hinsicht ein bedeutsamer Unterschied bestehe zwischen einem Rücktritt, der auf einer bewussten und einseitigen Entscheidung beruhe, und einer Amtsniederlegung infolge einer Aufforderung nach Art. 17 Abs. 6 EUV, die daher eher die Merkmale einer Abberufung aufweise, andererseits. Angesichts dieser Alternative entschied sich der Kläger sodann – jedenfalls zunächst – für die ihm eingeräumte Möglichkeit eines freiwilligen Rücktritts, was für ihn den Vorteil bot, dass dies in der Öffentlichkeit nicht so aufgefasst werde, als sei er auf Aufforderung von Präsident Barroso dazu gezwungen gewesen.
148 In diesem Zusammenhang hält das Gericht das Vorbringen des Klägers, wonach er zwischen den beiden möglichen Alternativen keinen Unterschied habe erkennen können, für nicht glaubhaft. Es musste dem Kläger, einem erfahrenen Politiker, im Gegenteil klar sein, dass zwischen einem freiwilligen Rücktritt und einem erzwungenen Rücktritt im Rahmen eines förmlichen und zwingenden Verfahrens ein bedeutender Unterschied besteht.
149 Die vorstehenden tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen werden durch die handschriftlichen Notizen bestätigt, die der Kläger an dem Entwurf eines Rücktrittsschreibens angebracht hat, den er von Herrn Romero Requena am Ende der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 persönlich erhalten, aber nicht unterzeichnet hatte (vgl. oben, Rn. 119). Nach Auffassung des Gerichts ist insoweit die Aussage des Klägers nicht glaubwürdig, er habe den Entwurf eines Rücktrittsschreibens deshalb nicht unterzeichnet, weil dieser Entwurf von seinem freiwilligen Rücktritt ausgegangen sei. Die handschriftlichen Streichungen, die der Kläger an diesem Entwurf vorgenommen hat, betreffen nämlich gerade nicht die Tatsache seines Rücktritts oder auch nur den nachdrücklichen Hinweis auf dessen Freiwilligkeit, sondern Einzelheiten, die in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung sind. Nach Ansicht des Gerichts ist anzunehmen, dass sich der Kläger, wenn das Missverständnis tiefer gewesen wäre und sich auf die eigentliche Tatsache oder die wesentlichen Bedingungen des Rücktritts bezogen hätte, nicht mit derart geringfügigen handschriftlichen Änderungen begnügt hätte, sondern den Entwurf entweder in Bausch und Bogen zurückgewiesen und sich jeder Kommentierung enthalten oder seine Hauptaussagen gestrichen hätte.
150 Diese Feststellungen werden überdies durch die Erklärung bestätigt, die der maltesische Premierminister, Herr Gonzi, am 16. Oktober 2012 nach seinem Telefongespräch mit dem Kläger vor dem maltesischen Parlament abgegeben hat (vgl. oben, Rn. 17).
151 Sie werden schließlich noch durch die Ausführungen des Klägers in seinem Radiointerview am Abend des 16. Oktober 2012 bestätigt (vgl. oben, Rn. 18). Das Gericht stellt insbesondere fest, dass der Kläger dem Journalisten keine eindeutige Antwort geben wollte, als dieser mutmaßte, dass Präsident Barroso ihn zum Rücktritt gezwungen habe.
152 Nach alledem hat der Kläger seinen Rücktritt freiwillig eingereicht, ohne dass er von Präsident Barroso im Sinne von Art. 17 Abs. 6 EUV dazu aufgefordert worden wäre.
153 Da nicht nachgewiesen worden ist, dass es diese Aufforderung – die Handlung, die mit dem Nichtigkeitsantrag angefochten wird – tatsächlich gegeben hat, ist dieser Antrag im Einklang mit der oben in Rn. 67 angeführten Rechtsprechung als unzulässig zurückzuweisen.
154 Der Kläger trägt jedoch hilfsweise weiter vor, dass, sollte sein Rücktritt festgestellt werden, auch festzustellen wäre, dass der Rücktritt unter Androhung einer Amtsenthebung und damit unter einem unerträglichen Druck erlangt worden sei, was den Schluss zulasse, dass seine Zustimmung mit Mängeln behaftet gewesen sei. Im Verlauf der Zusammenkunft vom 16. Oktober 2012 habe Präsident Barroso nämlich immer wieder nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er befugt sei, den Kläger abzuberufen, und habe mehrfach die Begriffe „Amtsenthebung“ oder „Abberufung“ (englisch „dismissal“) verwendet. Der Kläger habe in Wirklichkeit keine andere Wahl gehabt, als dem Befehl zu gehorchen, den Präsident Barroso ihm erteilt habe. Ein solcher Zustimmungsmangel mache seinen Rücktritt null und nichtig.
155 Dieses Vorbringen kann grundsätzlich nicht zur Stützung des vorliegenden Nichtigkeitsantrags angeführt werden, der weder gegen die eigene Rücktrittsentscheidung des Klägers, die im Übrigen nicht der Kommission zuzurechnen ist, noch gegen eine andere, den Charakter einer beschwerenden Maßnahme aufweisende Handlung der Kommission gerichtet ist.
156 Selbst wenn unterstellt wird, dass der Kläger im Rahmen der vorliegenden Klage die Rechtmäßigkeit seines Rücktritts mit der Begründung in Frage stellen könnte, dass dieser mit einem Zustimmungsmangel behaftet gewesen sei, ist das Vorliegen eines solchen Mangels nach Ansicht des Gerichts jedenfalls nicht dargetan.
157 Da es, wie oben in Rn. 133 dargelegt, um das Ende eines im wesentlichen politischen Mandats geht, macht die Kommission in diesem Zusammenhang zu Recht geltend, dass die Äußerung eines festen Willens, gegebenenfalls die im Ermessen stehende Befugnis auszuüben, ein Mitglied der Kommission zum Rücktritt aufzufordern, die dem Präsidenten der Kommission durch den EU-Vertrag verliehen worden sei, nicht als rechtswidriger Druck angesehen werden könne, der die Gültigkeit oder Freiwilligkeit des Rücktritts des Betroffenen beeinträchtige.
158 Im Laufe eines ungefähr anderthalb Stunden dauernden Gesprächs konnte der Kläger mit seiner langen politischen Erfahrung auf Regierungsebene den Vorschlag von Präsident Barroso im Übrigen nach freiem Ermessen ausschlagen und diesen herausfordern, eine förmliche Aufforderung nach Art. 17 Abs. 6 EUV zu erteilen. Dem Kläger stand es insbesondere frei, die Zusammenkunft jederzeit zu verlassen oder die Hinzuziehung eines oder mehrerer Mitglieder seines Kabinetts zu verlangen.
159 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der Nichtigkeitsantrag zurückzuweisen.
Zum Schadensersatzantrag
160 Zur Stützung seines Schadensersatzantrags macht der Kläger geltend, die im Rahmen des Nichtigkeitsantrags behaupteten Rechtsverletzungen begründeten einen qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen.
161 Da das Gericht im vorliegenden Urteil aber bereits festgestellt hat, dass die im Rahmen des Nichtigkeitsantrags in Frage gestellten Handlungen der Kommission nicht erwiesen sind, lässt sich gegenüber diesem Organ insoweit keine diesbezügliche Rechtsverletzung und erst recht kein qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm feststellen.
162 Bezüglich des im Rahmen des Nichtigkeitsantrags hilfsweise behaupteten Zustimmungsmangels (vgl. oben, Rn. 154) hat das Gericht bereits festgestellt, dass dieser nicht dargetan worden ist.
163 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Vorbringen zu einem Fehlverhalten der Kommission oder ihres Präsidenten nicht rechtlich hinreichend nachgewiesen ist.
164 Der Schadensersatzantrag ist daher als unbegründet zurückzuweisen und die Klage demnach in vollem Umfang abzuweisen.
Kosten
165 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Herr John Dalli trägt die Kosten.
Jaeger
Papasavvas
Forwood
Labucka
Bieliūnas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Mai 2015.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Englisch.
|
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Beschluss des Gerichts (Dritte Kammer) vom 2. Februar 2015.#Gascogne Sack Deutschland GmbH und Gascogne gegen Europäische Union.#Schadensersatzklage – Angemessene Dauer – Falsche Bezeichnung des Beklagten – Vertretung der Union – Zurückweisung der Einrede der Unzulässigkeit.#Rechtssache T-577/14.
|
62014TO0577
|
ECLI:EU:T:2015:80
| 2015-02-02T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62014TO0577 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 22. April 2015. # Christoph Klein gegen Europäische Kommission. # Rechtsmittel - Außervertragliche Haftung - Richtlinie 93/42/EWG - Art. 8 und 18 - Medizinprodukte - Untätigkeit der Kommission, nachdem ihr eine Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens mitgeteilt worden war - Verjährungsfrist - Hemmung der Verjährungsfrist durch einen Prozesskostenhilfeantrag - Schutzklauselverfahren. # Rechtssache C-120/14 P.
|
62014CJ0120
|
ECLI:EU:C:2015:252
| 2015-04-22T00:00:00 |
Gerichtshof, Bot
|
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
22. April 2015(*)
„Rechtsmittel – Außervertragliche Haftung – Richtlinie 93/42/EWG – Art. 8 und 18 – Medizinprodukte – Untätigkeit der Kommission, nachdem ihr eine Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens mitgeteilt worden war
– Verjährungsfrist – Hemmung der Verjährungsfrist durch einen Prozesskostenhilfeantrag – Schutzklauselverfahren“
In der Rechtssache C‑120/14 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 29. März 2014,
Christoph Klein, wohnhaft in Großgmain (Österreich), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte H. Ahlt und M. Ahlt,
Rechtsmittelführer,
andere Parteien des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch A. Sipos und G. von Rintelen als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte im ersten Rechtszug,
Bundesrepublik Deutschland,
Streithelferin im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter),
J. L. da Cruz Vilaça und C. Lycourgos,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel begehrt Herr Klein die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union Klein/Kommission
(T‑309/10, EU:T:2014:19, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht seine Klage auf Ersatz des Schadens abgewiesen
hat, der ihm dadurch entstanden sein soll, dass die Europäische Kommission gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/42/EWG
des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. L 169, S. 1) verstoßen habe.
Rechtlicher Rahmen
2 In Art. 1 („Begriffsbestimmungen, Anwendungsbereich“) der Richtlinie 93/42 heißt es:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Medizinprodukte und ihr Zubehör. Im Sinne dieser Richtlinie wird Zubehör als eigenständiges Medizinprodukt
behandelt. Medizinprodukte und Zubehör werden nachstehend ‚Produkte‘ genannt.
(2) Es gelten folgende Begriffsbestimmungen:
a) Medizinprodukt: alle einzeln oder miteinander verbunden verwendeten Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Stoffe oder anderen Gegenstände,
einschließlich der für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinprodukts eingesetzten Software, die vom Hersteller zur Anwendung
für Menschen für folgende Zwecke bestimmt sind:
– Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten;
– Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen;
– Untersuchung, Ersatz oder Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs;
– Empfängnisregelung,
und deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel
noch metabolisch erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann.
…“
3 Art. 2 („Inverkehrbringen und Inbetriebnahme“) der Richtlinie 93/42 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, damit die Produkte nur in den Verkehr gebracht und in Betrieb
genommen werden dürfen, wenn sie die Sicherheit und die Gesundheit der Patienten, der Anwender und gegebenenfalls Dritter
bei sachgemäßer Installation, Instandhaltung und ihrer Zweckbestimmung entsprechender Verwendung nicht gefährden.“
4 Art. 3 („Grundlegende Anforderungen“) der Richtlinie 93/42 lautet:
„Die Produkte müssen die grundlegenden Anforderungen gemäß Anhang I erfüllen, die auf sie unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung
anwendbar sind.“
5 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/42 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten behindern in ihrem Hoheitsgebiet nicht das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Produkten, die
die CE-Kennzeichnung … tragen …“
6 Art. 8 („Schutzklausel“) der Richtlinie 93/42 lautet:
„(1) Stellt ein Mitglied[staat] fest, dass in Artikel 4 Absatz 1 bzw. Artikel 4 Absatz 2 zweiter Gedankenstrich genannte Produkte
die Gesundheit und/oder die Sicherheit der Patienten, der Anwender oder gegebenenfalls Dritter gefährden können, auch wenn
sie sachgemäß installiert, instand gehalten und ihrer Zweckbestimmung entsprechend verwendet werden, so trifft er alle geeigneten
vorläufigen Maßnahmen, um diese Produkte vom Markt zurückzuziehen oder ihr Inverkehrbringen oder ihre Inbetriebnahme zu verbieten
oder einzuschränken. Der Mitgliedstaat teilt der Kommission unverzüglich diese Maßnahmen mit, nennt die Gründe für seine Entscheidung
und gibt insbesondere an, ob die Nichtübereinstimmung mit dieser Richtlinie zurückzuführen ist auf
a) die Nichteinhaltung der in Artikel 3 genannten grundlegenden Anforderungen,
b) eine unzulängliche Anwendung der Normen gemäß Artikel 5, sofern die Anwendung dieser Normen behauptet wird,
c) einen Mangel in diesen Normen selbst.
(2) Die Kommission konsultiert so bald wie möglich die Betroffenen. Stellt die Kommission nach dieser Anhörung fest,
– dass die Maßnahme gerechtfertigt ist, so unterrichtet sie hiervon unverzüglich den Mitgliedstaat, der die Maßnahme getroffen
hat, sowie die anderen Mitgliedstaaten. Ist die in Absatz 1 genannte Entscheidung in einem Mangel der Normen begründet, so
befasst die Kommission nach Anhörung der Betroffenen den in Artikel 6 genannten Ausschuss innerhalb von zwei Monaten, sofern
der Mitgliedstaat, der die Entscheidung getroffen hat, diese aufrechterhalten will, und leitet das in Artikel 6 genannte Verfahren
ein;
– dass die Maßnahme nicht gerechtfertigt ist, so unterrichtet sie davon unverzüglich den Mitgliedstaat, der die Maßnahme getroffen
hat, sowie den Hersteller oder seinen in der [Europäischen Union] niedergelassenen Bevollmächtigten.
(3) Ist ein mit dieser Richtlinie nicht übereinstimmendes Produkt mit der CE-Kennzeichnung versehen, so ergreift der zuständige
Mitgliedstaat gegenüber demjenigen, der diese Kennzeichnung angebracht hat, die geeigneten Maßnahmen und unterrichtet davon
die Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten.
(4) Die Kommission sorgt dafür, dass die Mitgliedstaaten über den Verlauf und die Ergebnisse dieses Verfahrens unterrichtet werden.“
7 Art. 18 („Unrechtmäßige Anbringung der CE-Kennzeichnung“) der Richtlinie 93/42 bestimmt:
„Unbeschadet des Artikels 8 gilt Folgendes:
a) Stellt ein Mitgliedstaat fest, dass die CE-Kennzeichnung unberechtigterweise angebracht wurde, ist der Hersteller oder sein
in der [Europäischen Union] ansässiger Bevollmächtigter verpflichtet, den weiteren Verstoß unter den vom Mitgliedstaat festgelegten
Bedingungen zu verhindern.
b) Falls die Nichtübereinstimmung weiterbesteht, muss der Mitgliedstaat nach dem Verfahren des Artikels 8 alle geeigneten Maßnahmen
ergreifen, um das Inverkehrbringen des betreffenden Produkts einzuschränken oder zu untersagen oder um zu gewährleisten, dass
es vom Markt genommen wird.“
8 In Anhang I („Grundlegende Anforderungen“) der Richtlinie 93/42 heißt es:
„1. Die Produkte müssen so ausgelegt und hergestellt sein, dass ihre Anwendung weder den klinischen Zustand und die Sicherheit
der Patienten noch die Sicherheit und die Gesundheit der Anwender oder gegebenenfalls Dritter gefährdet, wenn sie unter den
vorgesehenen Bedingungen und zu den vorgesehenen Zwecken eingesetzt werden, wobei etwaige Risiken verglichen mit der nützlichen
Wirkung für den Patienten vertretbar und mit einem hohen Maß des Schutzes von Gesundheit und Sicherheit vereinbar sein müssen.
…
3. Die Produkte müssen die vom Hersteller vorgegebenen Leistungen erbringen, d. h., sie müssen so ausgelegt, hergestellt und
verpackt sein, dass sie geeignet sind, eine oder mehrere der in Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Funktionen entsprechend
den Angaben des Herstellers zu erfüllen.“
9 Die Angaben, die die Medizinprodukten beigegebene Gebrauchsanweisung enthalten muss, werden in Abschnitt 13.6 von Anhang I
der Richtlinie 93/42 angeführt.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
10 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits, wie sie in den Rn. 16 bis 35 des angefochtenen Urteils dargestellt wird, lässt sich wie
folgt zusammenfassen.
Die Entscheidung über das Verbot des unter dem Namen „Inhaler Broncho Air®“ vertriebenen Medizinprodukts
11 Herr Klein ist Vorstand der atmed AG, einer mittlerweile insolventen Aktiengesellschaft deutschen Rechts (im Folgenden: atmed).
Er ist zudem der Erfinder eines Medizinprodukts, einer Inhalierhilfe für Asthmatiker.
12 Zwischen 1996 und 2001 wurde dieses Medizinprodukt hergestellt und unter dem Namen „Inhaler Broncho Air®“ (im Folgenden: Produkt
„Inhaler“) vertrieben. Bei seinem Inverkehrbringen auf dem deutschen Markt trug es die CE-Kennzeichnung.
13 Im Lauf des Jahres 1996 teilten die deutschen Behörden der Gesellschaft, die das Produkt „Inhaler“ vertrieb, mit, dass sie
ein Vertriebsverbot für dieses Produkt erwägten, weil sie Bedenken hätten, ob es die grundlegenden Anforderungen der Richtlinie
93/42 erfülle.
14 Am 22. Mai 1997 teilte diese Gesellschaft den deutschen Behörden mit, dass sich das Produkt „Inhaler“ seit dem 1. Januar 1997
nicht mehr auf dem deutschen Markt befinde und sein Vertrieb ausgesetzt worden sei, bis weitere Studien und Versuche vorlägen.
15 Am 23. September 1997 untersagten die deutschen Behörden das Inverkehrbringen des Produkts „Inhaler“ (im Folgenden: Entscheidung
über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „Inhaler“). In der betreffenden Anordnung führten die deutschen Behörden
im Wesentlichen aus, dass das fragliche Medizinprodukt nicht die grundlegenden Anforderungen von Anhang I der Richtlinie 93/42
erfülle, da seine Unbedenklichkeit nach den vom Hersteller bereitgestellten Angaben nicht ausreichend wissenschaftlich gesichert
sei.
16 Mit Schreiben vom 7. Januar 1998 informierten die deutschen Behörden unter dem Betreff „Schutzklauselverfahren nach Artikel
8 der Richtlinie 93/42/EWG zu [dem Produkt ‚Inhaler‘]“ die Kommission über die von ihnen getroffene Entscheidung, das Inverkehrbringen
des Produkts „Inhaler“ zu untersagen, und teilten ihr die Gründe für diese Entscheidung mit.
17 Die Kommission erließ im Anschluss an die schriftliche Mitteilung der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 keine Entscheidung.
Die Entscheidung über das Verbot des unter dem Namen „effecto®“ vertriebenen Medizinprodukts
18 Ab 2002 wurde das vom Kläger erfundene Medizinprodukt, die Inhalierhilfe, exklusiv von atmed unter dem Namen „effecto®“ (im
Folgenden: Produkt „effecto“) vertrieben. Dieses Produkt trug bei seinem Inverkehrbringen auf dem deutschen Markt die CE-Kennzeichnung.
19 Mit Bescheid vom 18. Mai 2005 untersagten die deutschen Behörden atmed das Inverkehrbringen des Produkts „effecto“ (im Folgenden:
Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „effecto“). Sie vertraten im Wesentlichen die Auffassung,
das Konformitätsbewertungsverfahren, insbesondere die klinische Bewertung, sei nicht in geeigneter Weise durchgeführt worden,
so dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass das Produkt die grundlegenden Anforderungen der Richtlinie 93/42 erfülle.
Diese Entscheidung wurde der Kommission nicht mitgeteilt.
20 Am 16. Januar und am 17. August 2006 nahm atmed Kontakt zu den Dienststellen der Kommission auf und rügte, dass die deutschen
Behörden die Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „effecto“ der Kommission nicht mitgeteilt
hätten.
21 Am 6. Oktober 2006 bat die Kommission in Anbetracht der von atmed übermittelten Informationen die deutschen Behörden um Mitteilung,
ob sie die Voraussetzungen für die Durchführung eines Schutzklauselverfahrens nach Art. 8 der Richtlinie 93/42 als erfüllt
ansähen.
22 Am 12. Dezember 2006 teilten die deutschen Behörden der Kommission mit, dass ihrer Ansicht nach das im Laufe des Jahres 1998
bezüglich des Produkts „Inhaler“ eingeleitete Verfahren ein Schutzklauselverfahren im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 93/42
darstelle und dass die Durchführung eines neuen Schutzklauselverfahrens in Bezug auf das gleiche Produkt unter anderem Namen
nicht gerechtfertigt sei. Ferner brachten sie gegenüber der Kommission zum Ausdruck, dass sie nach wie vor Zweifel hinsichtlich
der Übereinstimmung des Produkts „effecto“ mit den grundlegenden Anforderungen der Richtlinie 93/42 hätten, und baten die
Kommission deshalb, die Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „effecto“ zu bestätigen.
23 Am 22. Februar 2007 schlug die Kommission den deutschen Behörden vor, die Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens
des Produkts „effecto“ im Kontext des Schutzklauselverfahrens, das sie 1998 in Bezug auf das Produkt „Inhaler“ eingeleitet
hatten, zu bewerten und auf der Grundlage der neuen Informationen zu bearbeiten.
24 Am 18. Juli 2007 teilte die Kommission den deutschen Behörden mit, sie sei zu dem Schluss gelangt, dass es vorliegend um einen
Fall unrechtmäßiger Anbringung der CE-Kennzeichnung gehe, der deshalb nach Art. 18 der Richtlinie 93/42 zu behandeln sei.
Dabei bezweifelte die Kommission, dass das Produkt „effecto“ außerstande sein sollte, die grundlegenden Anforderungen dieser
Richtlinie zu erfüllen, auch wenn sie für eine abschließende Antwort hierauf weitere klinische Daten für erforderlich hielt.
25 Im Jahr 2008 richtete der Rechtsmittelführer eine Petition an das Europäische Parlament, in der er die unzureichende Weiterverfolgung
seiner Angelegenheit durch die Kommission und die schädlichen Auswirkungen, die sich daraus für atmed ergeben hätten, rügte.
26 Am 19. Januar 2011 nahm das Parlament die Entschließung P7_TA(2011)0017 an.
27 Am 9. März 2011 forderte der Rechtsmittelführer von der Kommission die Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 170 Mio. Euro
an atmed und in Höhe von 130 Mio. Euro an ihn selbst.
28 Die Kommission wies diese Forderung am 11. März 2011 zurück.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
29 Mit Schriftsatz, der am 27. Juli 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, beantragte der Rechtsmittelführer beim Gericht,
ihm zur Erhebung einer Schadensersatzklage Prozesskostenhilfe nach den Art. 94 und 95 der Verfahrensordnung des Gerichts zu
gewähren.
30 Der Präsident des Gerichts gab diesem Antrag mit Beschluss vom 13. September 2010 statt.
31 Mit Klageschrift, die am 15. September 2011 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Herr Klein Klage und beantragte,
– festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie in dem seit 1998 laufenden Schutzklauselverfahren für die Produkte „Inhaler“
und „effecto“ keine Entscheidung erlassen hat, und dadurch, dass sie nach dem Erlass der Entscheidung über die Untersagung
des Inverkehrbringens des Produkts „effecto“ durch die deutschen Behörden kein Schutzklauselverfahren gemäß Art. 8 der Richtlinie
93/42 eingeleitet hat, gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/42 und dem Unionsrecht verstoßen und ihm damit unmittelbar
einen Schaden verursacht hat,
– die Kommission zu verurteilen, den ihm verursachten, noch zu beziffernden Schaden zu ersetzen, und
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
32 Das Gericht wies die Klage mit dem angefochtenen Urteil ab. Es sah sie insbesondere als nach Art. 46 der Satzung des Gerichtshofs
der Europäischen Union unzulässig an, soweit mit ihr die Verurteilung der Kommission zum Ersatz des Schadens beantragt wurde,
der dem Rechtsmittelführer vor dem 15. September 2006 entstanden sein soll. In der Sache kam das Gericht im Wesentlichen zu
dem Ergebnis, dass die Kommission nicht gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/42 verstoßen habe.
Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof
33 Der Rechtsmittelführer beantragt,
– das angefochtene Urteil aufzuheben;
– festzustellen, dass die Kommission dadurch, dass sie in dem seit 1998 laufenden Schutzklauselverfahren für die Produkte „Inhaler“
und „effecto“ keine Entscheidung erlassen hat, gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/42 und dem Unionsrecht verstoßen
und ihm damit unmittelbar einen Schaden verursacht hat;
– die Kommission zu verurteilen, ihm den verursachten, noch zu beziffernden Schaden zu ersetzen;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen;
– hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
34 Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und Herrn Klein die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
35 Der Rechtsmittelführer macht fünf Rechtsmittelgründe geltend; mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügt er eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie eine falsche Anwendung von Art. 46 der Satzung des Gerichtshofs, mit dem zweiten eine
falsche Anwendung der Art. 8 und 18 der Richtlinie 93/42, mit dem dritten einen Verstoß gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union und den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, mit dem vierten das Unterbleiben einer Entscheidung
in Bezug auf das Produkt „effecto“ und mit dem fünften einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und eine Verfälschung
des Sachverhalts.
Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und falsche Anwendung von Art. 46 der Satzung
des Gerichtshofs
Vorbringen der Parteien
36 Der Rechtsmittelführer wirft dem Gericht erstens vor, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt zu haben, weil es nicht
auf sein Vorbringen eingegangen sei, wonach die Verjährungsfrist wegen des Umstands, dass die Kommission das Schutzklauselverfahren
nach Art. 8 der Richtlinie 93/42 nicht zu Ende geführt habe, bis zur Erhebung der Klage beim Gericht gehemmt gewesen sei.
37 Zweitens rügt er, dass das Gericht Art. 46 der Satzung des Gerichtshofs falsch angewandt habe, weil es den am 27. Juli 2010
und somit vor Klageerhebung beim Gericht gestellten Prozesskostenhilfeantrag nicht berücksichtigt habe. Infolge der Einreichung
des Prozesskostenhilfeantrags, der erfolgreich gewesen sei, sei die Verjährungsfrist gehemmt, wenn nicht sogar unterbrochen
worden. Die Einreichung eines Prozesskostenhilfeantrags müsse nämlich einer Klageerhebung gleichgestellt werden, damit Kläger,
die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage nicht imstande seien, die Kosten eines Gerichtsverfahrens zu tragen, nicht diskriminiert
würden.
38 Nach Ansicht der Kommission hat das Gericht den Anspruch des Rechtsmittelführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Sie
weist ferner darauf hin, dass nach den Art. 46 und 53 der Satzung des Gerichtshofs lediglich die Einreichung einer Klageschrift
beim Gerichtshof oder beim Gericht die Verjährungsfrist für Ansprüche aus außervertraglicher Haftung unterbreche. Nach Art. 96
§ 4 der Verfahrensordnung des Gerichts hemme die Einreichung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe allein den
Lauf der Klagefrist, nicht aber den Lauf der Verjährungsfrist.
Würdigung durch den Gerichtshof
39 Was erstens die geltend gemachte Verletzung des Anspruchs des Rechtsmittelführers auf rechtliches Gehör betrifft, ist darauf
hinzuweisen, dass dieser Anspruch in einem gerichtlichen Verfahren nicht bedeutet, dass der Richter in seiner Entscheidung
auf das gesamte Vorbringen sämtlicher Parteien umfassend eingehen muss. Der Richter hat nach Anhörung der Parteien und Würdigung
der Beweise über den Klageantrag zu entscheiden und seine Entscheidung zu begründen (vgl. u. a. Urteil Viega/Kommission, C‑276/11 P,
EU:C:2013:163, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Das Gericht hat in Rn. 51 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass die Verjährungsfrist nach ständiger Rechtsprechung beginne,
wenn alle Voraussetzungen, von denen die Ersatzpflicht abhänge, erfüllt seien und sich insbesondere der geltend gemachte Schaden
konkretisiert habe. In Rn. 52 dieses Urteils hat es sodann darauf hingewiesen, dass die Verjährungsfrist nach Art. 46 der
Satzung des Gerichtshofs im Fall eines sukzessiv eingetretenen Schadens die mehr als fünf Jahre vor der Unterbrechungshandlung
liegende Zeit erfasse, ohne etwaige später entstandene Ansprüche zu berühren.
41 Somit ist das Gericht insbesondere mit seinen Ausführungen, dass die Verjährungsfrist nach Art. 46 Abs. 1 der Satzung des
Gerichtshofs beginne, wenn sich der geltend gemachte Schaden konkretisiert habe, auf das Vorbringen des Rechtsmittelführers,
die Verjährungsfrist für seine Ansprüche aus außervertraglicher Haftung sei wegen des Umstands, dass die Kommission das Schutzklauselverfahren
nach Art. 8 der Richtlinie 93/42 nicht zu Ende geführt habe, bis zur Erhebung seiner Klage gehemmt gewesen, implizit, aber
zwangsläufig eingegangen und hat es zurückgewiesen. Folglich hatte der Umstand, dass die Kommission dieses Verfahren nicht
zu Ende geführt hat, als solcher nach Ansicht des Gerichts insoweit keine Bedeutung.
42 Unter diesen Umständen kann dem Gericht nicht vorgeworfen werden, den Anspruch des Rechtsmittelführers auf rechtliches Gehör
verletzt zu haben.
43 Was zweitens das Vorbringen des Rechtsmittelführers betrifft, durch die am 27. Juli 2010 erfolgte Einreichung seines Prozesskostenhilfeantrags,
der erfolgreich gewesen sei, sei die Verjährungsfrist gehemmt, wenn nicht sogar unterbrochen worden, ist zum einen darauf
hinzuweisen, dass die fünfjährige Verjährungsfrist für die aus außervertraglicher Haftung der Union hergeleiteten Ansprüche
nach Art. 46 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs, der gemäß Art. 53 Abs. 1 dieser Satzung auf das Verfahren vor dem Gericht
anwendbar ist, durch Einreichung der Klageschrift beim Gericht oder dadurch unterbrochen wird, dass der Geschädigte seinen
Anspruch vorher gegenüber dem zuständigen Unionsorgan geltend macht.
44 Aus Art. 46 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs geht somit nicht hervor, dass die Einreichung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe
eine Hemmung oder gar eine Unterbrechung der Verjährungsfrist zur Folge hätte.
45 Zum anderen hat ein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Art. 96 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts, wenn
er vor Klageerhebung gestellt wird, zur Folge, dass der Lauf der Klagefrist bis zu dem Zeitpunkt gehemmt wird, zu dem der
Beschluss, mit dem über diesen Antrag entschieden wird, oder der Beschluss, in dem der mit der Vertretung des Antragstellers
beauftragte Anwalt bestimmt wird, zugestellt wird.
46 Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift hat die Stellung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe somit die Hemmung der
Klagefrist und nicht die Hemmung der Verjährungsfrist zur Folge.
47 Folglich ergibt sich aus keiner Bestimmung des Unionsrechts, dass die Verjährungsfrist nach Art. 46 Abs. 1 der Satzung des
Gerichtshofs durch die Stellung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe gehemmt oder unterbrochen wird.
48 Unter diesen Umständen ist der erste Rechtsmittelgrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund: falsche Anwendung der Art. 8 und 18 der Richtlinie 93/42
Vorbringen der Parteien
49 Der Rechtsmittelführer beanstandet im Wesentlichen die vom Gericht in den Rn. 76 und 77 des angefochtenen Urteils getroffene
Feststellung, dass die Kommission nach Erhalt des Schreibens der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 nicht verpflichtet
gewesen sei, eine Entscheidung zu erlassen, weil dieses Schreiben lediglich dazu gedient habe, die Kommission von einer nach
Art. 18 der Richtlinie 93/42 getroffenen Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens in Kenntnis zu setzen.
50 Nach Ansicht des Rechtsmittelführers hätte die Kommission unverzüglich eine Anhörung nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 93/42
durchführen und dann darüber entscheiden müssen, ob die Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts
„Inhaler“ gerechtfertigt gewesen sei oder nicht.
51 Der Rechtsmittelführer macht insoweit u. a. geltend, die in den Art. 8 und 18 der Richtlinie 93/42 vorgesehenen Verfahren
schlössen einander nicht aus und könnten, wenn von einem mit dem CE-Kennzeichen versehenen Medizinprodukt eine gewisse Gefährlichkeit
ausgehe, nebeneinander angewandt werden.
52 Art. 18 der Richtlinie 93/42 stehe nämlich der Einleitung eines Schutzklauselverfahrens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser
Richtlinie nicht entgegen. Abgesehen davon, dass Art. 18 der Richtlinie 93/42 ausweislich seines Wortlauts „unbeschadet des
Artikels 8“ gelte, werde in Art. 18 Buchst. b ebenfalls auf den gesamten Art. 8 verwiesen. Folglich sei dem Gericht ein Rechtsfehler
unterlaufen, als es in Rn. 77 des angefochtenen Urteils angenommen habe, dass Art. 18 der Richtlinie ausschließlich auf deren
Art. 8 Abs. 3 verweise.
53 Der vom Gericht im angefochtenen Urteil festgestellte Sachverhalt falle jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 1
und 2 der Richtlinie 93/42, weil sowohl in der Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „Inhaler“
als auch im Schreiben der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 hinsichtlich dieses Produkts eine potenzielle Gefährdung der
Sicherheit der Patienten sowie eine Nichtbeachtung der grundlegenden Anforderungen von Anhang I der Richtlinie behauptet worden
sei.
54 Zudem habe das Gericht einen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 85 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass der
vorliegende Fall eine „unerhebliche Nichtübereinstimmung“ im Sinne des Leitfadens der Kommission für die Umsetzung der nach
dem neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien (im Folgenden: Leitfaden „neues Konzept“) darstelle und dass
eine solche Nichtübereinstimmung nicht geeignet sei, die Einleitung eines Schutzklauselverfahrens nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie
93/42 nach sich zu ziehen.
55 Die Entscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „Inhaler“ habe sich nämlich, da sie mit dem Vorliegen
eines Sicherheitsrisikos für die Patienten und der Nichtbeachtung der grundlegenden Anforderungen von Anhang I der Richtlinie
93/42 begründet worden sei, auf einen Fall einer „erheblichen Nichtübereinstimmung“ im Sinne von Abschnitt 8.2.2 des Leitfadens
„neues Konzept“ bezogen und hätte folglich die Eröffnung eines Schutzklauselverfahrens nach Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie
auslösen müssen.
56 Die Kommission trägt vor, Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 93/42 sehe ein formalisiertes Verfahren für die Produkte vor,
bei denen, auch wenn sie mit der Richtlinie konform seien, gleichwohl ein konkretes Gesundheitsrisiko bestehe. Hingegen ermögliche
Art. 18 dieser Richtlinie, nötigenfalls in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 3, ein Vorgehen der nationalen Behörden bei Produkten,
die mit der Richtlinie nicht konform seien. Zwar verweise Art. 18 Buchst. b der Richtlinie auf das „Verfahren des Artikels
8“, doch beziehe sich diese Verweisung in Wirklichkeit nur auf Art. 8 Abs. 3, weil dieser Absatz die einzige Bestimmung in
Art. 8 sei, die Fälle einer unrechtmäßigen Anbringung der CE-Kennzeichnung betreffe.
57 Im vorliegenden Fall falle das Produkt „Inhaler“, da es wegen des Fehlens erforderlicher klinischer Daten nicht mit der Richtlinie
93/42 konform sei, unter das in Art. 18 der Richtlinie vorgesehene Verfahren.
58 Das Vorbringen des Rechtsmittelführers, bei dem Produkt „Inhaler“ liege ein Fall „erheblicher Nichtübereinstimmung“ im Sinne
des Leitfadens „neues Konzept“ vor, gehe fehl, weil dieser Leitfaden keine Rechtsgrundlage für eine ihr obliegende Verpflichtung
sein könne, wie das Gericht in Rn. 85 des angefochtenen Urteils entschieden habe. Jedenfalls sei das Gericht zu Recht davon
ausgegangen, dass es sich im vorliegenden Fall um eine „unerhebliche Nichtübereinstimmung“ im Sinne des Leitfadens handele,
nachdem es in Rn. 31 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die Kommission zum einen zu dem Schluss gelangt sei,
dass hier ein Fall unrechtmäßiger Anbringung der CE-Kennzeichnung vorliege, und zum anderen Zweifel geäußert habe, dass das
Produkt „effecto“ die grundlegenden Anforderungen der Richtlinie 93/42 nicht erfüllen könnte.
59 Außerdem wolle der Kläger mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund eigentlich eine erneute Würdigung des Sachverhalts erreichen,
was jedoch im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens ausgeschlossen sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
60 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof, wenn das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt hat, gemäß Art. 256
AEUV zur Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen und der Rechtsfolgen, die das Gericht aus ihnen gezogen
hat, befugt (Urteil Chetcuti/Kommission, C‑16/07 P, EU:C:2008:549, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
61 Vorliegend wirft der Rechtsmittelführer dem Gericht im Rahmen seines zweiten Rechtsmittelgrundes vor, es habe mit der Feststellung,
dass die Kommission nach dem Erhalt des Schreibens der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 nicht verpflichtet gewesen sei,
eine Entscheidung auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 93/42 zu erlassen, gegen die Art. 8 und 18 dieser Richtlinie
verstoßen. Er beanstandet mithin die rechtliche Qualifizierung der Tatsachen, von denen das Gericht ausgegangen ist, und die
Rechtsfolgen, die es aus ihnen gezogen hat.
62 Folglich ist der zweite Rechtsmittelgrund entgegen der Auffassung der Kommission zulässig.
63 Hinsichtlich der Begründetheit des zweiten Rechtsmittelgrundes ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 („Schutzklausel“) der Richtlinie
93/42 in Abs. 1 den Mitgliedstaaten, die eine Gefährdung der „Gesundheit und/oder [der] Sicherheit der Patienten, der Anwender
oder gegebenenfalls Dritter“ durch Medizinprodukte festgestellt haben, deren Übereinstimmung mit der Richtlinie bestätigt
wurde, vorschreibt, alle geeigneten vorläufigen Maßnahmen zu treffen, um diese Produkte vom Markt zurückzuziehen und ihr Inverkehrbringen
oder ihre Inbetriebnahme zu verbieten oder einzuschränken. Der betreffende Mitgliedstaat ist in einem solchen Fall nach Art. 8
Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet, der Kommission unverzüglich die getroffenen Maßnahmen mitzuteilen und dabei die Gründe
für ihren Erlass zu nennen sowie insbesondere anzugeben, ob die Nichtübereinstimmung mit der Richtlinie auf die „Nichteinhaltung
der in Artikel 3 genannten grundlegenden Anforderungen“ zurückzuführen ist; dieser Artikel verweist auf Anhang I der Richtlinie
93/42 (vgl. in diesem Sinne Urteile Medipac-Kazantzidis, C‑6/05, EU:C:2007:337, Rn. 46, und Nordiska Dental, C‑288/08, EU:C:2009:718,
Rn. 24).
64 Wenn die auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 93/42 von den nationalen Behörden erlassenen Maßnahmen der Kommission
mitgeteilt wurden, hat diese nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie so bald wie möglich die Betroffenen zu konsultieren und festzustellen,
ob die Maßnahmen gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sind.
65 Stellt sich heraus, dass ein mit der CE-Kennzeichnung versehenes Medizinprodukt nicht die grundlegenden Anforderungen der
Richtlinie 93/42 erfüllt, muss der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie die geeigneten Maßnahmen ergreifen
und davon die Kommission sowie die übrigen Mitgliedstaaten unterrichten. Ferner geht aus Art. 18 der Richtlinie hervor, dass
unbeschadet von Art. 8 der Hersteller oder sein in der Union ansässiger Bevollmächtigter, wenn ein Mitgliedstaat feststellt,
dass die CE-Kennzeichnung unberechtigterweise angebracht wurde, den Verstoß unter den von diesem Mitgliedstaat festgelegten
Bedingungen abstellen muss (Urteil Medipac-Kazantzidis, C‑6/05, EU:C:2007:337, Rn. 47).
66 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Kommission, nachdem sie das Schreiben der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998
mit dem Betreff „Schutzklauselverfahren nach Artikel 8 der Richtlinie 93/42/EWG zu [dem Produkt ‚Inhaler‘]“ erhalten hatte,
keine Entscheidung erlassen hat.
67 Das Gericht hat in den Rn. 73 bis 80 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass die Kommission nach dem Erhalt dieses Schreibens
nicht zum Erlass einer Entscheidung verpflichtet gewesen sei, da es trotz seines Betreffs nicht als Mitteilung eines Schutzklauselverfahrens
anzusehen gewesen sei, sondern als bloße Unterrichtung nach Art. 18 der Richtlinie 93/42, die die Kommission nicht zum Tätigwerden
verpflichtet habe.
68 Diese Schlussfolgerung ist jedoch rechtsfehlerhaft.
69 Erstens hat das Gericht in Rn. 20 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass die deutschen Behörden in der Entscheidung über
die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „Inhaler“ im Wesentlichen festgestellt hätten, dass dieses Produkt nicht
die „grundlegenden Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie 93/42“ erfülle, da seine „Unbedenklichkeit … nicht ausreichend …
gesichert“ sei.
70 Ferner hat das Gericht in den Rn. 21 und 74 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass im Schreiben der deutschen Behörden
vom 7. Januar 1998 ausdrücklich auf das Schutzklauselverfahren nach Art. 8 der Richtlinie 93/42 Bezug genommen und darauf
hingewiesen worden sei, dass die vom Hersteller des Produkts „Inhaler“ gemachten Angaben weder ausreichten, um die Bedenken
hinsichtlich einer „Gefährdung“ durch dieses Produkt auszuräumen, noch, um „die Erfüllung der in den Abschnitten 1 und 3 des
Anhangs I der Richtlinie 93/42 aufgestellten grundlegenden Anforderungen“ nachzuweisen; es sei hinzugefügt worden, dass das
betreffende Produkt nicht mit den Informationen versehen gewesen sei, die ihm hätten beigegeben werden müssen, damit es sich
„im Einklang mit Abschnitt 13.6 des Anhangs I der Richtlinie 93/42“ in einem seine Benutzung ermöglichenden sicheren Zustand
befinde.
71 Eine Gefährdung der Gesundheit und/oder der Sicherheit der Patienten, der Anwender oder gegebenenfalls Dritter infolge u. a.
der Nichteinhaltung der in Anhang I der Richtlinie 93/42 genannten grundlegenden Anforderungen impliziert aber die Einleitung
eines Schutzklauselverfahrens nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie, wie aus dem Wortlaut dieser Vorschrift eindeutig hervorgeht.
72 Diese Schlussfolgerung wird durch die im Leitfaden „neues Konzept“ enthaltenen Klarstellungen gestützt. Denn aus Abschnitt 8.2.2
des Leitfadens ergibt sich zum einen, dass eine Nichteinhaltung der grundlegenden Anforderungen, weil sie eine potenzielle
oder tatsächliche Gefährdung der Gesundheit und Sicherheit von Bürgern bedeuten kann, in der Regel als „erhebliche Nichtübereinstimmung“
im Sinne dieses Leitfadens anzusehen ist, und zum anderen, dass bei einer erheblichen Nichtübereinstimmung „in der Regel das
Schutzklauselverfahren zur Anwendung [kommt]“.
73 Ferner geht aus Rn. 27 des angefochtenen Urteils hervor, dass die Bundesrepublik Deutschland am 12. Dezember 2006 der Kommission
mitteilte, dass das 1998 bezüglich des Produkts „Inhaler“ eingeleitete Verfahren ein Schutzklauselverfahren im Sinne von Art. 8
der Richtlinie 93/42 dargestellt habe. Die Kommission wiederum räumte im Februar 2007 ein, dass es sich um ein Schutzklauselverfahren
gehandelt habe, wie das Gericht in Rn. 30 des angefochtenen Urteils festgestellt hat.
74 Zweitens ist in keiner der Feststellungen des Gerichts im angefochtenen Urteil davon die Rede, dass in der Entscheidung über
die Untersagung des Inverkehrbringens des Produkts „Inhaler“ oder im Schreiben der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 auf
Art. 18 der Richtlinie 93/42, auf eine „unrechtmäßige Anbringung der CE-Kennzeichnung“ im Sinne dieser Vorschrift oder auf
die Anhänge VII und X der Richtlinie Bezug genommen worden wäre.
75 Daher wird der vom Gericht in den Rn. 75 und 76 des angefochtenen Urteils gezogene Schluss, dass die deutschen Behörden mit
einem Fall der unberechtigten Anbringung der CE-Kennzeichnung konfrontiert gewesen seien, weil die Vorgaben der Anhänge VII
und X der Richtlinie 93/42 nicht beachtet worden seien, und dass unter diesen Umständen davon auszugehen sei, dass das Schreiben
der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 allein dazu gedient habe, die Kommission von einer nach Art. 18 der Richtlinie getroffenen
Entscheidung in Kenntnis zu setzen, durch keinen objektiven Beweis gestützt.
76 Drittens entband entgegen den Ausführungen in den Rn. 76 und 77 des angefochtenen Urteils der Umstand, dass im vorliegenden
Fall möglicherweise Art. 18 der Richtlinie 93/42 zur Anwendung kam, die Kommission nicht von der Verpflichtung zum Tätigwerden
nach Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie.
77 Selbst wenn das Schreiben der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 tatsächlich einen Fall der unberechtigten Anbringung der
CE-Kennzeichnung im Sinne von Art. 18 der Richtlinie 93/42 beträfe, gilt dieser Artikel nämlich nach seinem Wortlaut „unbeschadet
des Artikels 8“. Außerdem sieht Art. 18 Buchst. b der Richtlinie vor, dass der Mitgliedstaat, falls die Nichtübereinstimmung
weiterbesteht, „nach dem Verfahren des Artikels 8“ alle geeigneten Maßnahmen ergreifen muss, um das Inverkehrbringen des betreffenden
Produkts einzuschränken oder zu untersagen oder um zu gewährleisten, dass es vom Markt genommen wird.
78 Daher konnte das Gericht, nachdem es – wie in den Rn. 69 und 70 des vorliegenden Urteils dargelegt – festgestellt hatte, dass
das Produkt „Inhaler“ wegen seiner Nichtübereinstimmung mit den in Anhang I der Richtlinie 93/42 vorgesehenen grundlegenden
Anforderungen die Gesundheit und/oder die Sicherheit der Patienten gefährden könne, nicht mit der bloßen Begründung, dass
der Hersteller auf diesem Produkt unberechtigterweise eine CE-Kennzeichnung angebracht habe, rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis
gelangen, dass das Schutzklauselverfahren nach Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie nicht zur Anwendung komme.
79 Demzufolge hat das Gericht, als es in den Rn. 77 und 86 des angefochtenen Urteils entschieden hat, dass die Kommission nach
dem Erhalt des Schreibens der deutschen Behörden vom 7. Januar 1998 nicht zum Tätigwerden verpflichtet gewesen sei, gegen
die Art. 8 und 18 der Richtlinie 93/42 verstoßen.
80 Unter diesen Umständen greift der zweite Rechtsmittelgrund durch.
81 Infolgedessen braucht der dritte Rechtsmittelgrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union und den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung gerügt wird, nicht geprüft zu werden.
Zum vierten Rechtsmittelgrund: Unterbleiben einer Entscheidung in Bezug auf das Produkt „effecto“
Vorbringen der Parteien
82 Der Rechtsmittelführer beanstandet die Schlussfolgerung des Gerichts, wonach die Kommission ohne eine förmliche Mitteilung
durch die deutschen Behörden in Bezug auf das Produkt „effecto“ nicht verpflichtet gewesen sei, eine Entscheidung nach Art. 8
Abs. 2 der Richtlinie 93/42 zu erlassen. Seines Erachtens hätte die Kommission in ihrer Eigenschaft als Hüterin der Verträge
tätig werden und die deutschen Behörden auffordern müssen, ihr eine solche Mitteilung zu machen.
83 Die Kommission wäre somit verpflichtet gewesen, in dem damals laufenden Schutzklauselverfahren hinsichtlich des Produkts „Inhaler“
den Rechtsmittelführer anzuhören und eine Entscheidung zu treffen.
84 Die Kommission hält den vierten Rechtsmittelgrund für unzulässig, da der Rechtsmittelführer die beanstandeten Passagen des
angefochtenen Urteils nicht genau bezeichnet habe.
Würdigung durch den Gerichtshof
85 Nach Art. 169 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs müssen die im Rahmen eines Rechtsmittels geltend gemachten Rechtsgründe
und ‑argumente die beanstandeten Punkte der Begründung der Entscheidung des Gerichts genau bezeichnen.
86 Ein Rechtsmittel, das sich darauf beschränkt, die bereits vor dem Gericht dargelegten Klagegründe und Argumente wiederzugeben,
ohne den Rechtsfehler speziell zu bezeichnen, mit dem das Urteil, das Gegenstand des Rechtsmittels ist, behaftet sein soll,
entspricht daher diesem Erfordernis nicht. Ein solches Rechtsmittel zielt nämlich in Wirklichkeit nur auf eine erneute Prüfung
der beim Gericht eingereichten Klage ab, was nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt (vgl. in diesem Sinne Beschluss
Kronoply/Kommission, C‑117/09 P, EU:C:2010:370, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
87 Der Rechtsmittelführer hat die von ihm im Rahmen des vierten Rechtsmittelgrundes beanstandeten Punkte der Begründung des angefochtenen
Urteils nicht genau bezeichnet; dies gilt erst recht für den Rechtsfehler, mit dem dieser Teil des angefochtenen Urteils behaftet
sein soll.
88 Unter diesen Umständen ist der vierte Rechtsmittelgrund als unzulässig zurückzuweisen.
Zum fünften Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und Verfälschung des Sachverhalts
Vorbringen der Parteien
89 Der Rechtsmittelführer wirft dem Gericht vor, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und Beweise verfälscht zu haben,
indem es verschiedene Dokumente außer Acht gelassen habe, und zwar
– ein Schreiben des Gesundheitsministeriums des Landes Sachsen-Anhalt vom 12. Dezember 1996, in dem ausgeführt werde, dass ein
ordnungsgemäßes Konformitätsbewertungsverfahren für das Produkt „Inhaler“ durchgeführt worden sei, dass dieses Produkt ordnungsgemäß
mit einem CE-Kennzeichen versehen sei und dass erforderlichenfalls ein Schutzklauselverfahren nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie
93/42 hätte eingeleitet werden müssen,
– eine E-Mail vom 9. Juni 2010 und
– die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils erwähnte Entschließung des Parlaments.
90 Die Kommission bestreitet die Zulässigkeit und – hilfsweise – die Begründetheit des fünften Rechtsmittelgrundes.
Würdigung durch den Gerichtshof
91 Wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bedeutet der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht, dass der Richter auf
das gesamte Vorbringen sämtlicher Parteien umfassend eingehen muss. Der Richter hat nach Anhörung der Parteien und nach Würdigung
der Beweismittel über den Klageantrag zu entscheiden und seine Entscheidung zu begründen.
92 Folglich kann dem Gericht nicht vorgeworfen werden, allein dadurch den Anspruch des Rechtsmittelführers auf rechtliches Gehör
verletzt zu haben, dass bestimmte von ihm vorgelegte Beweise im angefochtenen Urteil nicht ausdrücklich erwähnt worden sind.
93 Zur geltend gemachten Verfälschung des Sachverhalts genügt die Feststellung, dass dieses Vorbringen in keiner Weise substantiiert
ist.
94 Folglich ist der fünfte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.
95 Nach alledem ist das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als das Gericht darin die Klage hinsichtlich des Begehrens abgewiesen
hat, die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen, der dem Rechtsmittelführer ab dem 15. September 2006 entstanden
sein soll.
Zur Zurückverweisung der Sache an das Gericht
96 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs kann er, wenn er die Entscheidung des Gerichts aufhebt, entweder die Sache
zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen oder den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, sofern dieser zur Entscheidung
reif ist.
97 Da der Rechtsstreit im vorliegenden Fall nicht zur Entscheidung reif ist, ist die Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
Kosten
98 Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens
vorzubehalten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union Klein/Kommission (T‑309/10, EU:T:2014:19) wird insoweit aufgehoben, als das
Gericht darin die Klage hinsichtlich des Begehrens abgewiesen hat, die Europäische Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen,
der Herrn Christoph Klein ab dem 15. September 2006 entstanden sein soll.
2. Im Übrigen wird das Rechtsmittel zurückgewiesen.
3. Die Sache wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen.
4. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.
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||||||||||||
Beschluss des Gerichts (Neunte Kammer) vom 26. März 2015. # Giovanni Conte und andere gegen Rat der Europäischen Union. # Rechtssache T-121/10.
|
62010TO0121
|
ECLI:EU:T:2015:196
| 2015-03-26T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62010TO0121 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 25. März 2015. # Sea Handling SpA gegen Europäische Kommission. # Rechtssache T-456/13.
|
62013TJ0456
|
ECLI:EU:T:2015:185
| 2015-03-25T00:00:00 |
Gericht
|
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0456 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 18. März 2015. # Jean-Marie Cahier und andere gegen Rat der Europäischen Union und Europäische Kommission. # Rechtssachen T-195/11, T-458/11, T-448/12 und T-41/13.
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62011TJ0195
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ECLI:EU:T:2015:161
| 2015-03-18T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62011TJ0195 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 25. Februar 2015. # Republik Polen gegen Europäische Kommission. # Rechtssache T-257/13.
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62013TJ0257
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ECLI:EU:T:2015:111
| 2015-02-25T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62013TJ0257 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 27. Februar 2015.#Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) gegen Mohammed Achab.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamte – Dienstbezüge – Auslandszulage – Einbürgerung – Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b des Anhangs VII des Statuts – Rückforderung zu viel gezahlter Beträge – Art. 85 Abs. 1 des Statuts.#Rechtssache T-430/13 P.
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62013TJ0430
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ECLI:EU:T:2015:122
| 2015-02-27T00:00:00 |
Gericht
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Sammlung der Rechtsprechung – Sammlung von Rechtssachen im öffentlichen Dienst
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Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 12. Februar 2015.#Nóra Baczó und János István Vizsnyiczai gegen Raiffeisen Bank Zrt.#Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EWG – Art. 7 – Immobiliendarlehensvertrag – Schiedsklausel – Missbräuchlicher Charakter – Verbraucherklage – Nationale Verfahrensvorschrift – Unzuständigkeit des Gerichts, bei dem eine Klage wegen der Unwirksamkeit eines Formularvertrags anhängig ist, für einen Antrag auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, die in demselben Vertrag enthalten sind.#Rechtssache C-567/13.
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62013CJ0567
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ECLI:EU:C:2015:88
| 2015-02-12T00:00:00 |
Kokott, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0567
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
12. Februar 2015 (*1)
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verbraucherschutz — Richtlinie 93/13/EWG — Art. 7 — Immobiliendarlehensvertrag — Schiedsklausel — Missbräuchlicher Charakter — Verbraucherklage — Nationale Verfahrensvorschrift — Unzuständigkeit des Gerichts, bei dem eine Klage wegen der Unwirksamkeit eines Formularvertrags anhängig ist, für einen Antrag auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, die in demselben Vertrag enthalten sind“
In der Rechtssache C‑567/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Ungarn) mit Entscheidung vom 2. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2013, in dem Verfahren
Nóra Baczó,
János István Vizsnyiczai
gegen
Raiffeisen Bank Zrt
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
—
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
—
der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Talabér‑Ritz und M. van Beek als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29).
2 Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens aufgrund einer Klage von Frau Baczó und Herrn Vizsnyiczai gegen die Raiffeisen Bank Zrt auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Immobiliendarlehensvertrags und der darin enthaltenen Schiedsklausel.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 heißt es:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.“
4 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“
5 Art. 6 Abs. 1 der genannten Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“
6 In Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“
Ungarisches Recht
Materielles Recht
7 § 200 des Gesetzes Nr. IV von 1959 über das Bürgerliche Gesetzbuch (A Polgári Törvénykönyvről szóló 1959. évi IV. törvény, im Folgenden: Bürgerliches Gesetzbuch) sieht in seiner zum Zeitpunkt des Abschlusses des im Ausgangsverfahren streitigen Vertrags geltenden Fassung vor:
„(1) Die Parteien können den Inhalt eines Vertrags frei festlegen. Sie dürfen mit übereinstimmendem Willen von den Vorschriften über Verträge abweichen, wenn eine Rechtsvorschrift die Abweichung nicht untersagt.
(2) Ein Vertrag, der gegen eine Rechtsvorschrift verstößt oder unter Umgehung einer Rechtsvorschrift geschlossen wurde, ist nichtig, es sei denn die Rechtsvorschrift knüpft daran eine andere Rechtsfolge. Ein Vertrag ist auch nichtig, wenn er offensichtlich gegen die guten Sitten verstößt.“
8 Nach § 209 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind „[a]llgemeine Vertragsbedingungen und nicht im Einzelnen ausgehandelte Bedingungen eines Verbrauchervertrags … missbräuchlich, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben die sich aus dem Vertrag ergebenden Rechte und Pflichten der Parteien einseitig und ungerechtfertigt zum Nachteil der Vertragspartei regeln, die die Vertragsbedingungen nicht aufgestellt hat“.
9 § 209/A Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht vor, dass missbräuchliche Klauseln von der geschädigten Partei angefochten werden können. Dem zweiten Absatz dieses Paragrafen zufolge sind derartige Klauseln nichtig.
10 Nach § 227 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist „[d]er auf eine unmögliche Leistung gerichtete Vertrag … nichtig“.
11 Gemäß § 239/A Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann eine Partei bei Gericht die Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags oder einzelner seiner Bestimmungen (teilweise Unwirksamkeit) beantragen, ohne gleichzeitig die Anwendung der Folgen der Unwirksamkeit zu beantragen.
12 Nach § 213 Abs. 1 des Gesetzes Nr. CXII von 1996 über die Kreditinstitute und Finanzunternehmen (A hitelintézetekről és a pénzügyi vállalkozásokról szóló 1996. évi CXII. Törvény, im Folgenden: Gesetz über Kreditinstitute) in seiner zum Zeitpunkt des Abschlusses des im Ausgangsverfahren streitigen Vertrags geltenden Fassung sind Verbraucher- und Wohnungsdarlehensverträge nichtig, wenn sie die in dieser Vorschrift aufgezählten Angaben – zu denen u. a. der Vertragsgegenstand, der effektive Jahreszins oder der Gesamtbetrag der mit dem Vertrag zusammenhängenden Kosten gehören – nicht enthalten.
Verfahrensrecht
13 Nach § 3 Abs. 2 des Gesetzes Nr. III von 1952 über die Zivilprozessordnung (A polgári perrendtartásról szóló 1952. évi III. törvény, im Folgenden: Zivilprozessordnung) ist das Gericht vorbehaltlich abweichender Rechtsvorschriften an die Anträge und die Willenserklärungen der Parteien gebunden. Das Gericht berücksichtigt die Anträge und Erklärungen der Parteien nicht nach ihrer formellen Bezeichnung, sondern nach ihrem Inhalt.
14 Nach § 22 Abs. 1 der Zivilprozessordnung ist das Járásbíróság (Bezirksgericht) bzw. das Kerületi Bíróság (Kreisgericht) für alle Rechtsstreitigkeiten zuständig, für die das Gesetz die Zuständigkeit nicht dem Törvényszék (Gerichtshof) zuweist.
15 Gemäß § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung ist der Törvényszék für die Entscheidung in Rechtsstreitigkeiten zuständig, die die Feststellung der Unwirksamkeit missbräuchlicher Vertragsbedingungen (u. a. nach § 209/A des Bürgerlichen Gesetzbuchs) zum Gegenstand haben.
16 Nach dem Gutachten Nr. 2 vom 28. Juni 2010 des Gemeinsamen Zivilsenats der Kúria (Oberster Gerichtshof) zu bestimmten prozessualen Fragen bei Nichtigkeitsklagen muss ein Gericht die Nichtigkeit von Amts wegen nur dann berücksichtigen, wenn die Nichtigkeit offensichtlich ist und aufgrund der zur Verfügung stehenden Beweismittel als Tatsache eindeutig festgestellt werden kann.
17 Im Gutachten Nr. 2 des Gemeinsamen Zivilsenats der Kúria vom 12. Dezember 2011 zu bestimmten Fragen betreffend die Gültigkeit von Verbraucherverträgen heißt es, dass das örtliche Gericht verpflichtet ist, bei der Sachentscheidung über eine Klage die Missbräuchlichkeit einer Vertragsbedingung oder ‑klausel entweder aufgrund einer Einrede der beklagten Partei oder von Amts wegen zu prüfen.
18 Nach § 24 Abs. 1 der Zivilprozessordnung ist für die Bestimmung des Wertes des Streitgegenstands der Wert der Klageforderung oder des anderen Rechts, die bzw. das mit der Klage geltend gemacht wird, maßgebend.
19 Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Gebühren, die in einem erstinstanzlichen streitigen Verfahren zu entrichten sind, ist nach § 39 Abs. 1 des Gesetzes Nr. XCIII von 1990 über die Gebühren (Az illetékekről szóló 1990. évi XCIII. törvény; im Folgenden: Gebührengesetz) der Wert des Streitgegenstands zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.
20 Allerdings sieht § 39 Abs. 3 des Gebührengesetzes vor:
„Lässt sich der Streitwert des Verfahrens nicht nach Abs. 1 bestimmen …, ist die Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Gebühr
a)
vor dem Járásbíróság 350000 [ungarische Forint] HUF in streitigen Verfahren …,
b)
vor dem Törvényszék
—
in erstinstanzlichen streitigen Verfahren 600000 HUF …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
21 Am 13. September 2007 schlossen die Kläger des Ausgangsverfahrens, Frau Baczó und Herr Vizsnyiczai, mit der Raiffeisen Bank Zrt, einer Bank ungarischen Rechts, einen Vertrag über ein durch eine Hypothek gesichertes Immobiliendarlehen. Dieser Vertrag enthielt eine Schiedsklausel, wonach für Streitigkeiten aus dem Darlehensvertrag – mit Ausnahme von Streitigkeiten in Bezug auf Geldforderungen – ein Schiedsgericht zuständig sein sollte.
22 Am 26. Februar 2013 erhoben die Kläger beim Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Kreisgericht Pest) Klage auf Feststellung der Nichtigkeit dieses Vertrags.
23 Sie begründeten ihre Klage unter Hinweis auf § 239/A, § 200 Abs. 2 und § 227 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches damit, dass der von ihnen unterschriebene Immobiliendarlehensvertrag offensichtlich rechtswidrig sei, gegen die guten Sitten verstoße und auf eine unmögliche Leistung gerichtet sei. Sie machten außerdem geltend, dass bei diesem Vertrag Nichtigkeitsgründe nach § 213 Abs. 1 des Gesetzes über Kreditinstitute vorlägen.
24 Nachdem die Kläger vom Pesti Központi Kerületi Bíróság zu einer Mängelbeseitigung aufgefordert worden waren, beantragten sie außerdem, gemäß der Richtlinie 93/13, § 209 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches sowie dem Gutachten Nr. 2 der Kúria vom 12. Dezember 2011 die Nichtigkeit der in dem genannten Vertrag enthaltenen Schiedsklausel festzustellen.
25 In Anbetracht dieses Antrags und nachdem es den Immobiliendarlehensvertrag als „Formularvertrag“ eingestuft hatte, verwies das Pesti Központi Kerületi Bíróság die Sache mit Beschluss vom 6. Mai 2013 gemäß § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung, wonach für Rechtsstreitigkeiten, die die Unwirksamkeit missbräuchlicher Vertragsbedingungen zum Gegenstand haben, der Törvényszék zuständig ist, an den Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof).
26 Die Kläger legten gegen diesen Beschluss Rechtsmittel ein und beantragten, den Beschluss zu ändern und das örtliche Gericht für zuständig zu erklären. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Kläger bestreiten, dass sie in ihrer Klageschrift die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel ihres Immobiliendarlehensvertrags beantragt hätten und dass ihre Sache in die Zuständigkeit des Fővárosi Törvényszék falle.
27 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass ein Verbraucher nach § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel in einem Formularvertrag, wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nur vor einem Törvényszék beantragen kann, während derselbe Verbraucher vor dem örtlichen Gericht, wenn er von dem anderen Vertragsteil verklagt wird, eine Einrede mit dem Ziel, die Missbräuchlichkeit der Vertragsklausel feststellen zu lassen, erheben kann.
28 Je nach Streitwert könne jedoch die Klage eines Verbrauchers auf Feststellung der Unwirksamkeit des Formularvertrags aus anderen Gründen in die Zuständigkeit des örtlichen Gerichts fallen. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wäre es zweckmäßig, wenn das örtliche Gericht auch über den Antrag entscheiden könnte, festzustellen, dass in demselben Vertrag enthaltene missbräuchliche Klauseln unwirksam sind.
29 Schließlich ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass die Verweisung des Rechtsstreits an den Törvényszék für den Verbraucher u. a. deshalb nachteilig sein könne, weil die Regel des § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung zu höheren Verfahrenskosten führe. Das könnte der Erreichung der mit der Richtlinie 93/13 verfolgten Ziele zuwiderlaufen.
30 Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist das Verfahren für den Verbraucher nachteilig, wenn der Kläger bei einer vor dem örtlichen Gericht erhobenen Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrags (allgemeiner Vertragsbedingungen) in seiner Klageschrift auch beantragt, eine Klausel des streitigen Vertrags für missbräuchlich zu erklären, und damit die Zuständigkeit eines anderen Gerichts, des Törvényszék, begründet, während sich der Verbraucher bei einer von der anderen Vertragspartei erhobenen Klage vor dem örtlichen Gericht auf die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel berufen kann, und durch die Verweisung an den Törvényszék eine höhere Gebührenbelastung entsteht?
2. Würde eine ausgewogene Situation geschaffen, wenn sich der Verbraucher bei einer von ihm vor dem örtlichen Gericht erhobenen Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrags auch auf die Missbräuchlichkeit einzelner Vertragsklauseln berufen könnte und dasselbe örtliche Gericht für die Entscheidung hierüber zuständig wäre?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
31 Aus den Vorlagefragen und der Begründung des vorlegenden Gerichts im Zusammenhang gelesen ergibt sich, dass das vorlegende Gericht eine Entscheidung des Gerichtshofs dazu wünscht, ob eine nationale Verfahrensvorschrift mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der Richtlinie 93/13, vereinbar ist.
32 Insoweit ist daran zu erinnern, dass es zwar nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens die Vereinbarkeit nationalen Rechts oder einer nationalen Praxis mit dem Unionsrecht zu beurteilen, dass der Gerichtshof jedoch wiederholt entschieden hat, dass er befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (vgl. Urteil Pannon Gép Centrum, C‑368/09, EU:C:2010:441, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Unter diesen Umständen und soweit die Zweifel des vorlegenden Gerichts einen möglichen Nachteil betreffen, der sich aus der Anwendung von § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung für einen Verbraucher ergibt, der seine Rechte aus der Richtlinie 93/13 geltend macht, ist davon auszugehen, dass es in den Vorlagefragen um die Auslegung dieser Richtlinie, insbesondere ihres Art. 7 Abs. 1, geht.
Zur Beantwortung der Fragen
34 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegensteht, nach der dem örtlichen Gericht, das für die Entscheidung über die Klage eines Verbrauchers, die die Unwirksamkeit eines Formularvertrags zum Gegenstand hat, zuständig ist, für einen Antrag dieses Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, die in demselben Vertrag enthalten sind, die Zuständigkeit fehlt.
35 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung Anlass für das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache war, die zu dem Urteil Jőrös (C‑397/11, EU:C:2013:340) geführt hat.
36 In jener Rechtssache hatte das vorlegende Gericht den Gerichtshof u. a. gefragt, ob die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, bei dem ein Rechtsstreit über die Gültigkeit von Klauseln eines Verbrauchervertrags anhängig ist, die Missbräuchlichkeit der betreffenden Klauseln von Amts wegen prüfen und den Vertrag unter Umständen für nichtig erklären darf, auch wenn die Zuständigkeit für die Feststellung der Unwirksamkeit der missbräuchlichen Vertragsklauseln nach der nationalen Regelung einem anderen Rechtsprechungsorgan zugewiesen ist.
37 In Rn. 53 des Urteils Jőrös (EU:C:2013:340) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel festgestellt hat, das innerstaatliche Prozessrecht nach Möglichkeit so anzuwenden hat, dass alle Konsequenzen gezogen werden, die sich nach nationalem Recht aus der Feststellung der Missbräuchlichkeit der fraglichen Klausel ergeben, damit es sicher sein kann, dass diese Klausel für den Verbraucher unverbindlich ist.
38 Allerdings unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von der Rechtssache, die Anlass für das Urteil Jőrös (EU:C:2013:340) war, durch den Umstand, dass sich vorliegend die Frage stellt, ob es einem Verbraucher als Kläger möglich sein muss, selbst – neben der Unwirksamkeit eines in den Geltungsbereich der Richtlinie 93/13 fallenden Vertrags – auch die Missbräuchlichkeit von in diesem Vertrag enthaltenen Klauseln geltend zu machen, obgleich der betreffende Verbraucher wegen einer Zuständigkeitsvorschrift einen solchen Antrag bei einem anderen nationalen Gericht stellen müsste.
39 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass in ihren innerstaatlichen Rechtsordnungen angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
40 Hingegen enthält die Richtlinie 93/13 keine ausdrückliche Vorschrift, die das Gericht bestimmt, das für die Entscheidung über Klagen von Verbrauchern auf Feststellung der Unwirksamkeit missbräuchlicher Klauseln dieser Art zuständig sein soll.
41 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten jeweils Sache von deren innerstaatlichem Recht, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (Urteil Agrokonsulting‑04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Dabei dürfen allerdings nach ebenfalls gefestigter Rechtsprechung die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Gleichwertigkeit) und die Ausübung der durch die Rechtsordnung der Europäischen Union verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteile Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, EU:C:2013:800, Rn. 30).
43 Was erstens den Grundsatz der Gleichwertigkeit betrifft, ist festzustellen, dass die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung Zweifel geäußert hat, ob eine nationale Verfahrensvorschrift wie § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung, der dem überörtlichen Gericht die ausschließliche Entscheidungszuständigkeit für Klagen von Verbrauchern auf Feststellung der Unwirksamkeit von missbräuchlichen Vertragsklauseln zuweist, mit diesem Grundsatz vereinbar ist. Insoweit vergleicht die Kommission solche Klagen mit Klagen, die von Verbrauchern angestrengt werden, um die Unwirksamkeit von Vertragsklauseln aus anderen Gründen festzustellen zu lassen, da die letztgenannten Klagen je nach ihrem Streitwert in die Zuständigkeit des örtlichen Gerichts fallen können.
44 Es ist jedoch allein Sache des nationalen Richters, der unmittelbare Kenntnis von den anwendbaren Verfahrensmodalitäten hat, die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen (vgl. Urteile Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 50, und Agrokonsulting‑04, EU:C:2013:432, Rn. 39).
45 Unter der Annahme, dass Klagen von Verbrauchern auf Feststellung, dass Vertragsklauseln insbesondere oder ausschließlich aus in der Richtlinie 93/13 genannten Gründen unwirksam sind, einerseits, und Klagen von Verbrauchern auf Feststellung, dass Vertragsklauseln ausschließlich aus vom nationalen Recht vorgesehenen Gründen unwirksam sind, andererseits, einander ähnlich sind, muss geprüft werden, ob die Verfahrensmodalitäten für auf das Unionsrecht gestützte Klagen weniger günstig ausgestaltet sind als die für ausschließlich auf das nationale Recht gestützte Klagen.
46 Insoweit ist die Zuständigkeit der überörtlichen Gerichte für aus dem Unionsrecht abgeleitete Klagen nicht zwangsläufig als Verfahrensmodalität anzusehen, die als „ungünstig“ eingestuft werden kann. Denn die Bestimmung dieser Gerichte, von denen es weniger gibt als die örtlichen Gerichte und die gegenüber diesen höherrangig sind, kann geeignet sein, eine homogenere Rechtsprechung mit einer Spezialisierung auf die die Vorschriften der Richtlinie 93/13 betreffenden Angelegenheiten zu begünstigen.
47 Was die höheren Gerichtskosten betrifft, die dem Kläger möglicherweise vor den überörtlichen Gerichten entstehen, lässt sich aus diesem Umstand allein nicht ableiten, dass die Prüfung eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens bei solchen Gerichten den Grundsatz der Gleichwertigkeit beeinträchtigt. Denn bei einer solchen Auslegung würde die Frage, ob die Gewährleistung des Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte der Gewährleistung des Schutzes der dem Einzelnen aus dem nationalen Recht erwachsenden Rechte gleichwertig ist, allein anhand der Kosten beurteilt, und mögliche Vorteile des für Klagen nach dem Unionsrecht vorgesehenen Verfahrens, wie sie in der vorstehenden Randnummer genannt sind, blieben dabei unzulässigerweise außer Betracht.
48 Infolgedessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung gegen den Grundsatz der Gleichwertigkeit verstößt.
49 Was zweitens den Effektivitätsgrundsatz angeht, muss – nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs – jede Fallgestaltung, in der sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Instanzen geprüft werden (Urteil Pohotovosť, C-470/12, EU:C:2014:101, Rn. 51).
50 Hinsichtlich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Klage geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Umstand, dass dem örtlichen Gericht die Zuständigkeit zugunsten des überörtlichen Gerichts entzogen wird, für klagende Verbraucher zu zusätzlichen Kosten führen kann.
51 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Verfahrensregeln über die Struktur der innerstaatlichen Rechtswege, die ein allgemeines Interesse der geordneten Rechtspflege und der Vorhersehbarkeit verfolgen, in dem Sinne Vorrang vor Einzelinteressen haben, dass sie nicht entsprechend der besonderen wirtschaftlichen Situation einer Partei geändert werden können (Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, EU:C:2013:800, Rn. 38).
52 Die Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes setzt jedoch voraus, dass die Organisation der innerstaatlichen Rechtswege die Ausübung der Rechte, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen, nicht übermäßig erschwert oder unmöglich macht (Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, EU:C:2013:800, Rn. 39).
53 Vorliegend ergibt sich erstens aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte, dass nur bei einer bestimmten und nicht sehr häufigen Fallgestaltung die Übertragung der ausschließlichen sachlichen Zuständigkeit an die überörtlichen Gerichte gemäß § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung für den klagenden Verbraucher eine höhere Gebührenbelastung mit sich bringen kann. Denn vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht insoweit zu treffenden Feststellungen wäre dies nur der Fall, wenn sich der Streitwert nicht bestimmen ließe; in diesem Fall sieht § 39 Abs. 3 Buchst. b des Gebührengesetzes als Gebühr für eine vor dem überörtlichen Gericht erhobene Klage einen Pauschalbetrag vor.
54 Zweitens geht aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte auch hervor, dass bei Klagen vor einem überörtlichen Gericht, einschließlich von Klagen auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, Rechtsanwaltszwang besteht.
55 Jedoch müssen die Mechanismen berücksichtigt werden, die die nationale Verfahrensordnung zum Ausgleich eventueller finanzieller Schwierigkeiten des Verbrauchers vorsieht (wie z. B. die Gewährung von Prozesskostenhilfe) und die es ermöglichen könnten, die Zusatzkosten auszugleichen, die der Umstand, dass dem örtlichen Gericht zugunsten des überörtlichen Gerichts die Zuständigkeit entzogen wird, mit sich bringt und die sowohl auf die höheren Gebühren als auch auf die Notwendigkeit der Vertretung durch einen Rechtsanwalt zurückzuführen sind (vgl. Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, EU:C:2013:800, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
56 Drittens kann nach Ansicht der Kommission die räumliche Entfernung des überörtlichen Gerichts vom Wohnsitz des Verbrauchers für diesen ein Hindernis bei der Ausübung seines Rechts auf einen Rechtsbehelf darstellen.
57 Aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ergibt sich – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht zu treffenden Feststellungen – jedoch nicht, dass der ordnungsgemäße Ablauf des Prozesses das persönliche Erscheinen des klagenden Verbrauchers in allen Verfahrensstadien erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, EU:C:2013:800, Rn. 41).
58 Viertens schließlich ist zu beachten, dass – worauf die ungarische Regierung in ihren Erklärungen hingewiesen hat – § 23 Abs. 1 Buchst. k der Zivilprozessordnung bezweckt, die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten über missbräuchliche Vertragsklauseln den Richtern der überörtlichen Gerichte zu übertragen, die über mehr einschlägige Fachkompetenz verfügen, und somit eine einheitliche Praxis und einen wirksameren Schutz der Verbraucherrechte zu gewährleisten.
59 Demzufolge ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Verfahrensvorschrift nicht entgegensteht, nach der dem örtlichen Gericht, das für die Entscheidung über die Klage eines Verbrauchers, die die Unwirksamkeit eines Formularvertrags zum Gegenstand hat, zuständig ist, für einen Antrag dieses Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, die in demselben Vertrag enthalten sind, die Zuständigkeit fehlt – es sei denn, es stellte sich heraus, dass der Umstand, dass dem örtlichen Gericht die Zuständigkeit entzogen wird, zu Verfahrensnachteilen führt, die geeignet sind, die Ausübung der dem Verbraucher durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die insoweit erforderlichen Feststellungen zu treffen.
Kosten
60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Verfahrensvorschrift nicht entgegensteht, nach der dem örtlichen Gericht, das für die Entscheidung über die Klage eines Verbrauchers, die die Unwirksamkeit eines Formularvertrags zum Gegenstand hat, zuständig ist, für einen Antrag dieses Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln, die in demselben Vertrag enthalten sind, die Zuständigkeit fehlt – es sei denn, es stellte sich heraus, dass der Umstand, dass dem örtlichen Gericht die Zuständigkeit entzogen wird, zu Verfahrensnachteilen führt, die geeignet sind, die Ausübung der dem Verbraucher durch die Rechtsordnung der Europäischen Union verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die insoweit erforderlichen Feststellungen zu treffen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
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Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 5. Dezember 2014.#AF Steelcase, SA gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle).#Vorläufiger Rechtsschutz – Öffentliche Aufträge – Lieferung und Montage von Mobiliar – Ablehnung des Angebots eines Bieters – Antrag auf Aussetzung des Vollzugs – Fehlender fumus boni iuris.#Rechtssache T‑652/14 R.
|
62014TO0652
|
ECLI:EU:T:2014:1026
| 2014-12-05T00:00:00 |
Gericht
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EUR-Lex - CELEX:62014TO0652 - EN - EUR-Lex
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Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 13. November 2014.#Riccardo Nencini gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Mitglied des Europäischen Parlaments – Vergütungen zur Deckung der bei der Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben entstandenen Kosten – Rückforderung zu viel gezahlter Beträge – Einziehung – Verjährung – Angemessene Frist.#Rechtssache C‑447/13 P.
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62013CJ0447
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ECLI:EU:C:2014:2372
| 2014-11-13T00:00:00 |
Szpunar, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62013CJ0447
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
13. November 2014 (*1)
„Rechtsmittel — Mitglied des Europäischen Parlaments — Vergütungen zur Deckung der bei der Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben entstandenen Kosten — Rückforderung zu viel gezahlter Beträge — Einziehung — Verjährung — Angemessene Frist“
In der Rechtssache C‑447/13 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 2. August 2013,
Riccardo Nencini, wohnhaft in Barberino di Mugello (Italien), vertreten durch M. Chiti, avvocato,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Europäisches Parlament, vertreten durch S. Seyr und N. Lorenz als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagter im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. April 2014,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Juni 2014
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt Herr Nencini die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union Nencini/Parlament (T‑431/10 und T‑560/10, EU:T:2013:290, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht zum einen in der Rechtssache T‑560/10 seine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments vom 7. Oktober 2010 zur Rückforderung bestimmter Beträge zurückgewiesen hat, die dem Rechtsmittelführer, einem ehemaligen Mitglied des Europäischen Parlaments, als Erstattung von Reisekosten und der Kosten für parlamentarische Assistenz zu Unrecht gezahlt worden waren, sowie der Belastungsanzeige Nr. 315653 des Generaldirektors der Generaldirektion Finanzen des Parlaments vom 13. Oktober 2010 und aller anderen damit im Zusammenhang stehenden oder vorangegangenen Akte, und, hilfsweise, auf Zurückverweisung der Sache an den Generalsekretär des Parlaments zur angemessenen Neufestsetzung des Betrags, dessen Rückzahlung verlangt wurde, und mit dem es ihm zum anderen die Kosten in der Rechtssache T‑560/10 in vollem Umfang und in der Rechtssache T‑431/10 teilweise auferlegt hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wurde in den Rn. 1 bis 8 des angefochtenen Urteils dargelegt und kann wie folgt zusammengefasst werden.
3 Der Rechtsmittelführer war in der von 1994 bis 1999 dauernden Legislaturperiode Mitglied des Europäischen Parlaments.
4 Nach einer Untersuchung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) führte das Parlament im Dezember 2006 im Bereich der Ausgaben für parlamentarische Assistenz und der Reisekosten ein Nachprüfungsverfahren durch, das u. a. den Rechtsmittelführer betraf.
5 Am 16. Juli 2010 erließ der Generalsekretär des Parlaments in einem Verfahren zur Einziehung bestimmter Beträge, die zur Erstattung von Reisekosten und der Kosten für parlamentarische Assistenz zu Unrecht an den Rechtsmittelführer gezahlt worden waren, den Beschluss Nr. 311847 (im Folgenden: erster Beschluss des Generalsekretärs).
6 Gemäß dem ersten Beschluss des Generalsekretärs, der in englischer Sprache abgefasst war, war dem Rechtsmittelführer während seines parlamentarischen Mandats nach der Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments ein Gesamtbetrag von 455903,04 Euro (davon 46550,88 Euro für Reisekosten und 409 352,16 Euro für die Ausgaben für parlamentarische Assistenz) (im Folgenden: streitiger Betrag) zu Unrecht gezahlt worden. Dem Rechtsmittelführer wurde die Belastungsanzeige Nr. 312331 des Generaldirektors der Generaldirektion Finanzen des Parlaments vom 4. August 2010 über die Einziehung des streitigen Betrags (im Folgenden: erste Belastungsanzeige) zugestellt.
7 Am 7. Oktober 2010 erließ der Generalsekretär des Parlaments einen in italienischer Sprache verfassten Beschluss, der den ersten Beschluss des Generalsekretärs ersetzte (im Folgenden: zweiter Beschluss des Generalsekretärs). Diesem Beschluss war die Belastungsanzeige Nr. 315653 des Generaldirektors der Generaldirektion des Parlaments vom selben Tag beigefügt, die in Höhe des streitigen Betrags die erste Belastungsanzeige ersetzte (im Folgenden: zweite Belastungsanzeige). Die beiden Akte wurden dem Rechtsmittelführer am 13. Oktober 2010 mitgeteilt.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
8 Der Rechtsmittelführer focht in der Rechtssache T‑431/10 mit Klageschrift, die am 24. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, den ersten Beschluss des Generalsekretärs, die erste Belastungsanzeige und alle anderen damit im Zusammenhang stehenden oder vorangegangenen Akte an.
9 Mit Klageschrift, die am 10. Dezember 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, focht der Rechtsmittelführer in der Rechtssache T‑560/10 den zweiten Beschluss des Generalsekretärs und die zweite Belastungsanzeige sowie den ersten Beschluss des Generalsekretärs, die erste Belastungsanzeige und alle anderen damit im Zusammenhang stehenden oder vorangegangenen Akte an.
10 Die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz, die der Rechtsmittelführer parallel dazu eingereicht hatte, sind durch die Beschlüsse des Präsidenten des Gerichts Nencini/Parlament (T‑431/10 R, EU:T:2010:441) und Nencini/Parlament (T‑560/10 R, EU:T:2011:40) zurückgewiesen worden.
11 Die Rechtssachen T‑431/10 und T‑560/10 wurden zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
12 In der mündlichen Verhandlung vom 18. April 2012 teilte der Rechtsmittelführer dem Gericht mit, dass er seine Klage in der Rechtssache T‑431/10 zurücknehme.
13 Das Gericht hat in dem angefochtenen Urteil die Klagerücknahme in der Rechtssache T‑431/10 zur Kenntnis genommen und folglich die Streichung dieser Rechtssache aus dem Register angeordnet.
14 Im Rahmen der Entscheidung über die Klage in der Rechtssache T‑560/10 war das Gericht der Auffassung, dass sich der Antrag des Rechtsmittelführers auf Nichtigerklärung „aller anderen [mit dem zweiten Beschluss des Generalsekretärs] im Zusammenhang stehenden oder vorangegangenen Akte“ gegen rein vorbereitende Maßnahmen richte und daher unzulässig sei.
15 Es war ferner der Auffassung, dass sich der Antrag des Rechtsmittelführers auf Nichtigerklärung der zweiten Belastungsanzeige gegen eine den zweiten Beschluss des Generalsekretärs lediglich bestätigende Maßnahme richte und daher ebenfalls unzulässig sei.
16 Das Gericht hat den Antrag des Rechtsmittelführers auf Nichtigerklärung des zweiten Beschlusses des Generalsekretärs als unbegründet zurückgewiesen.
17 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht den Rechtsmittelführer zur Tragung der Kosten in der Rechtssache T‑560/10 einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes verurteilt und den Parteien in der Rechtssache T‑431/10 jeweils ihre eigenen Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes auferlegt.
Rechtsmittel
18 Der Rechtsmittelführer beantragt,
—
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit darin sein Antrag auf Nichtigerklärung des zweiten Beschlusses des Generalsekretärs zurückgewiesen wird;
—
hilfsweise, die Sache an den Generalsekretär des Parlaments zurückzuverweisen, damit dieser in angemessener Weise den geschuldeten Betrag festlegt, und
—
dem Parlament die in den Rechtssachen T‑431/10 und T‑560/10 im Verfahren vor dem Gericht entstandenen Kosten sowie die Kosten des Verfahrens vor dem Gerichtshof aufzuerlegen.
19 Das Parlament beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und dem Rechtsmittelführer die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
20 Der Rechtsmittelführer stützt sein Rechtsmittel auf fünf Gründe. Die ersten vier Rechtsmittelgründe beziehen sich auf die Begründung des Gerichts für die Zurückweisung des Vorbringens des Rechtsmittelführers in Bezug auf die Nichtigerklärung des zweiten Beschlusses des Generalsekretärs. Mit seinem fünften Rechtsmittelgrund wendet sich der Rechtsmittelführer dagegen, dass das Gericht ihm sowohl in der Rechtssache T‑431/10 als auch in der Rechtssache T‑560/10 die Kosten auferlegt hat.
21 Das Parlament macht die Unzulässigkeit bzw. die Unbegründetheit dieser Rechtsmittelgründe geltend.
Zu den Rechtsmittelanträgen, soweit sie die Auferlegung der Kosten in der Rechtssache T‑431/10 betreffen
22 Nach Art. 58 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist ein Rechtsmittel nur gegen die Kostenentscheidung oder gegen die Kostenfestsetzung unzulässig.
23 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der Tenor des angefochtenen Urteils in Bezug auf die Rechtssache T‑431/10 die Nrn. 3 und 4 enthält, wonach diese Rechtssache aus dem Register des Gerichts gestrichen wird und jede Partei ihre eigenen Kosten in dieser Rechtssache trägt.
24 Der Rechtsmittelführer wendet sich mit dem vorliegenden Rechtsmittel allerdings nur gegen die Begründung dieses Teils des angefochtenen Urteils, die sich auf die die Kosten betreffende Nr. 4 des Tenors dieses Urteils bezieht.
25 Wie jedoch aus der vorstehend genannten Vorschrift des Statuts des Gerichtshofs hervorgeht, fällt die Kontrolle der Kostenentscheidung nicht in dessen Zuständigkeit (vgl. u. a. Beschluss Eurostrategies/Kommission, C‑122/07 P, EU:C:2007:743, Rn. 24).
26 Die Rechtsmittelanträge sind unzulässig, soweit sie die Auferlegung der Kosten in der Rechtssache T‑431/10 betreffen. Soweit sie diese Rechtssache betreffen, sind die Rechtsmittelanträge daher zurückzuweisen.
Zu den Rechtsmittelanträgen, soweit sie die Rechtssache T‑560/10 betreffen
Vorbringen der Parteien
27 Der Rechtsmittelführer, der sich im ersten Rechtszug ohne Erfolg auf die Verjährung der gegen ihn erhobenen Forderung berufen hatte, macht mit dem ersten Rechtsmittelgrund geltend, das Gericht habe gegen die im vorliegenden Fall anwendbaren Verjährungsvorschriften verstoßen. Es habe nämlich bei Bestimmung des Beginns der Verjährungsfrist – erstens – Art. 73a der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 248, S. 1) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1995/2006 des Rates vom 13. Dezember 2006 (ABl. L 390, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Haushaltsordnung) und Art. 85b der Verordnung Nr. 2342/2002 der Kommission vom23. Dezember 2002 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1605/2002 (ABl. L 357, S. 1) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 478/2007 der Kommission vom 23. April 2007 (ABl. L 111, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung) falsch ausgelegt.
28 Nach Auffassung des Rechtsmittelführers ist, ohne dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und eines wirksamen Schutzes missachtet würden, die fünfjährige Verjährungsfrist, die in der höherrangigen Rechtsnorm, nämlich Art. 73a der Haushaltsordnung, vorgesehen sei, soweit sie für den Zeitraum gelte, in dem die Forderung festzulegen sei, anderer Natur als die in Art. 85b der Durchführungsverordnung vorgesehene Frist, die nur für den Zeitraum gelte, in dem diese Forderung eingezogen werden müsse. Der Beginn dieser beiden Fristen könne daher entgegen der Auffassung des Gerichts nicht zusammenfallen.
29 Für den Fall, dass dieser Auslegungsvorschlag nicht zugelassen wird, macht der Rechtsmittelführer – zweitens – im Wege einer Einrede die Rechtswidrigkeit der beiden Verordnungen geltend, da diese gegen die allgemeinen Verjährungsgrundsätze sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und eines wirksamen Schutzes verstießen und die dem Schuldner zustehenden Verteidigungsrechte verletzten. Der Rechtsmittelführer wirft dem Gericht – drittens – vor, das Argument, auf das er den Klagegrund eines Verstoßes gegen die Verjährungsvorschriften gestützt habe und mit dem er geltend gemacht habe, dass das Parlament die angemessene Frist für die Feststellung seiner Forderung nicht beachtet habe, als eigenständiges Argument geprüft zu haben.
30 Das Parlament hält diesen Rechtsmittelgrund für unzulässig, da der Rechtsmittelführer zum einen erneut die im ersten Rechtszug geltend gemachten Argumente vortrage, wonach zwei Verjährungsfristen existierten. Zum anderen werde die Einrede der Rechtswidrigkeit erstmals im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels vorgebracht.
31 Jedenfalls sei dieser Rechtsmittelgrund unbegründet, da das Gericht die absolut eindeutigen Regelungen der Art. 73a der Haushaltsordnung und 85b der Durchführungsverordnung, auf die sich der Rechtsmittelführer selbst berufe, korrekt angewandt habe.
Würdigung durch den Gerichtshof
– Zulässigkeit des ersten Rechtsmittelgrundes betreffend die Auslegung der Art. 73a der Haushaltsordnung und 85b der Durchführungsordnung
32 Aus Art. 256 AEUV, Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 169 seiner Verfahrensordnung folgt, dass ein Rechtsmittel die beanstandeten Teile des Urteils, dessen Aufhebung beantragt wird, sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen, genau bezeichnen muss. Diesem Erfordernis entspricht ein Rechtsmittel nicht, das sich darauf beschränkt, die bereits vor dem Gericht dargelegten Klagegründe und Argumente zu wiederholen oder wörtlich wiederzugeben, aber überhaupt keine Ausführungen speziell zur Bezeichnung des Rechtsfehlers enthält, mit dem das angefochtene Urteil behaftet sein soll.
33 Dagegen können im ersten Rechtszug geprüfte Rechtsfragen im Rechtsmittelverfahren erneut aufgeworfen werden, wenn ein Rechtsmittelführer die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts durch das Gericht beanstandet. Könnte nämlich ein Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel nicht in dieser Weise auf bereits vor dem Gericht geltend gemachte Klagegründe und Argumente stützen, so würde dies dem Rechtsmittelverfahren einen Teil seiner Bedeutung nehmen.
34 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund soll aber gerade die Auslegung der Haushaltsordnung und der Durchführungsverordnung durch das Gericht in Frage gestellt werden, mit der dieses den im ersten Rechtszug geltend gemachten ersten Klagegrund zurückgewiesen hat. Der Rechtsmittelführer zieht somit die ausdrückliche Antwort des Gerichts auf eine im angefochtenen Urteil behandelte Rechtsfrage in Zweifel; diese Antwort kann der Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsmittels überprüfen.
35 Der erste Rechtsmittelgrund ist demnach für zulässig zu erklären, soweit er sich auf die Auslegung der Art. 73a der Haushaltsordnung und 85b der Durchführungsverordnung durch das Gericht bezieht.
– Begründetheit des ersten Rechtsmittelgrundes betreffend die Auslegung der Art. 73a der Haushaltsordnung und 85b der Durchführungsverordnung durch das Gericht
36 Es ist darauf hinzuweisen, dass zum einen nach Art. 73a der Haushaltsordnung „[u]nbeschadet der Bestimmungen besonderer Regelungen und der Anwendung des Beschlusses des Rates über das System der Eigenmittel der [Europäischen Union] für die Forderungen der [Union] gegenüber Dritten sowie für die Forderungen Dritter gegenüber [der Union] eine Verjährungsfrist von fünf Jahren [gilt]. Der Beginn der Verjährungsfrist und die Bedingungen für ihre Unterbrechung werden in den Durchführungsbestimmungen festgelegt“. Zum anderen beginnt nach Art. 85b Abs. 1 Unterabs. 1 der Durchführungsverordnung „[d]ie Verjährungsfrist für Forderungen der [Union] gegenüber Dritten … an dem Tag, an dem die Frist, die … dem Schuldner in der Belastungsanzeige mitgeteilt wurde, abläuft“.
37 Um den Klagegrund des Rechtsmittelführers, zum Zeitpunkt des Erlasses des zweiten Beschlusses des Generalsekretärs, dem 7. Oktober 2010, habe der Maßnahme des Parlaments zur Rückforderung des streitigen Betrags nach Art. 73a der Haushaltsordnung die Verjährung entgegengestanden, zurückzuweisen, hat das Gericht zunächst im Wesentlichen in den Rn. 39 und 40 des angefochtenen Urteils die Auffassung vertreten, dass in Anwendung dieser Vorschrift in Verbindung mit Art. 85b der Durchführungsverordnung die Verjährungsfrist erst ab dem Tag zu laufen begonnen habe, an dem die Frist, die dem Rechtsmittelführer in der zweiten Belastungsanzeige mitgeteilt worden sei, abgelaufen sei, also am 20. Januar 2011. Es hat daraus in Rn. 41 des angefochtenen Urteils den Schluss gezogen, dass die Verjährungsfrist am 7. Oktober 2010 noch nicht zu laufen begonnen gehabt habe und dass daher an diesem Tag keineswegs die Verjährung eingetreten gewesen sei.
38 Sodann hat das Gericht in Rn. 43 des angefochtenen Urteils die Ansicht vertreten, dass der Rechtsmittelführer auch habe rügen wollen, dass das Parlament den ihm nach dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer obliegenden Anforderungen nicht nachgekommen sei, der es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit den Unionsorganen verwehre, die Ausübung ihrer Rechte auf unbegrenzte Zeit hinauszuschieben. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass die Pflicht, Verwaltungsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchzuführen, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstelle, dessen Beachtung der Unionsrichter sicherstelle und dass dieser Grundsatz als Bestandteil des Rechts auf eine gute Verwaltung in Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union übernommen worden sei.
39 Das Gericht hat ausgeführt, dass die Einhaltung einer angemessenen Frist in allen Fällen notwendig sei, in denen es mangels einer entsprechenden Regelung die Grundsätze der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes nicht zuließen, dass die Unionsorgane ohne jede zeitliche Begrenzung handeln könnten, und in den Rn. 45 und 46 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass im vorliegenden Fall weder die Haushaltsordnung noch die Durchführungsverordnung eine Frist festlegten, innerhalb deren eine Belastungsanzeige mitzuteilen sei, und dass es daher zu prüfen habe, ob das Parlament seine Verpflichtungen aus dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer erfüllt habe.
40 In den Rn. 47 und 49 des angefochtenen Urteils hat das Gericht die Auffassung vertreten, dass sich zum einen die Zeitspanne, die zwischen dem Ende des parlamentarischen Mandats des Rechtsmittelführers im Jahr 1999 und dem Zeitpunkt des Erlasses der zweiten Beschlusses des Generalsekretärs, dem 7. Oktober 2010, nicht als über jede Kritik im Hinblick auf den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer erhaben erweise. Zum anderen hätten die Tatsachen, die dem Betroffenen vorgeworfen worden seien, mit sich bereits im Besitz des Parlaments befindlichen Buchungsbelegen im Zusammenhang gestanden; dessen Aufmerksamkeit im Hinblick auf mögliche Fehler hätte im Übrigen durch ein Schreiben des Rechtsmittelführers vom 13. Juli 1999 geweckt werden müssen, durch das es aufgefordert worden sei, die Modalitäten für die Erstattung der Kosten für parlamentarische Assistenz zu klären.
41 Das Gericht hat daraus in Rn. 50 des angefochtenen Urteils geschlossen, dass das vom Parlament eingeleitete Nachprüfungsverfahren früher hätte durchgeführt und dass der zweite Beschluss des Generalsekretärs ebenfalls früher hätte erlassen werden können, so dass das Parlament gegen seine Verpflichtungen aus dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstoßen habe.
42 Es hat jedoch entschieden, dass der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer geltend gemacht worden sei, zurückzuweisen sei, da er zur Nichtigerklärung eines damit behafteten Rechtsakts nur dann führen könne, wenn der Adressat durch den Verstoß in der Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sei. Das Gericht hat aber in Rn. 52 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass der Rechtsmittelführer im vorliegenden Fall in seinem Vorbringen zu diesem Verstoß nichts geltend gemacht habe, woraus sich eine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte ergeben hätte.
43 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 73a der Haushaltsordnung eine allgemeine Regel festlegt, die für Forderungen der Union eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht und für die Festlegung des Beginns dieser Verjährungsfrist auf Durchführungsbestimmungen verweist, die nach Art. 183 dieser Verordnung die Europäische Kommission zu erlassen hat.
44 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zum einen, dass Art. 73a der Haushaltsordnung nicht mit Erfolg allein, ohne seine Durchführungsbestimmungen geltend gemacht werden kann, um die Verjährung einer Forderung der Union darzutun.
45 Zum anderen ist der Gesetzgeber der Union dadurch, dass er auf diese Weise eine allgemeine Regel bestimmt hat, die eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht, davon ausgegangen, dass eine solche Frist ausreiche, um die Interessen des Schuldners im Hinblick auf die Anforderungen der Grundsätze der Rechtssicherheit und des berechtigten Vertrauens zu schützen, und um es den Einrichtungen der Union zu ermöglichen, die Rückzahlung zu Unrecht gezahlter Beträge zu erwirken. Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge festgestellt hat, soll Art. 73a der Haushaltsordnung im Interesse des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung die Möglichkeit, die Forderungen der Union gegenüber Dritten einzuziehen, zeitlich beschränken. Die Durchführungsbestimmungen zu der in diesem Art. 73a aufgestellten Regelung können nur im Einklang mit diesen Zielen erlassen werden.
46 Insoweit bestimmt Art. 85b der Durchführungsverordnung den Beginn der Verjährungsfrist als den Tag, an dem die Frist abläuft, die dem Schuldner in der Belastungsanzeige – d. h. in dem Akt, mit dem die Feststellung einer Forderung durch den Anweisungsbefugten dem Schuldner, dem eine Zahlungsfrist gesetzt wird, zur Kenntnis gebracht wird – gemäß Art. 78 der Durchführungsverordnung mitgeteilt wurde.
47 Wie das Gericht in Rn. 45 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, ist jedoch weder in der Haushaltsordnung noch in der Durchführungsverordnung im Einzelnen festgelegt, innerhalb welcher Frist nach dem Zeitpunkt der Entstehung der fraglichen Forderung eine Belastungsanzeige übermittelt werden muss.
48 Somit verlangt, wie in Rn. 44 des angefochtenen Urteils festgestellt worden ist, mangels einer entsprechenden Regelung der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass das betreffende Organ diese Mitteilung innerhalb einer angemessenen Frist vornimmt. Andernfalls könnte nämlich der Anweisungsbefugte, der in der Belastungsanzeige den Zahlungstermin bestimmen darf, der nach dem Wortlaut von Art. 85b der Durchführungsverordnung den Beginn der Verjährungsfrist darstellt, diesen Beginn nach Belieben ohne Anknüpfung an den Zeitpunkt der Entstehung der fraglichen Forderung festlegen, was offensichtlich im Widerspruch zum Grundsatz der Rechtssicherheit und zum Zweck von Art. 73a der Haushaltsordnung stünde.
49 Insoweit muss unter Berücksichtigung von Art. 73a der Haushaltsordnung die Frist für die Mitteilung einer Belastungsanzeige als unangemessen gelten, wenn diese Mitteilung später als fünf Jahre nach dem Zeitpunkt erfolgt, in dem das Organ seine Forderung normalerweise hat geltend machen können. Diese Vermutung kann nur widerlegt werden, wenn das betreffende Organ nachweist, dass das verspätete Tätigwerden trotz aller Sorgfalt, die es aufgewandt habe, dem Verhalten des Schuldners zuzurechnen ist, u. a. dessen Verzögerungstaktik oder Böswilligkeit. Ohne einen solchen Nachweis muss daher festgestellt werden, dass das Organ seinen Verpflichtungen aus dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nicht nachgekommen ist.
50 Im vorliegenden Fall hat das Parlament, wie das Gericht in den Rn. 46 bis 50 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, den zweiten Beschluss des Generalsekretärs und die zweite Belastungsanzeige erst im Oktober 2010 erlassen und dem Rechtsmittelführer übermittelt, obwohl das parlamentarische Mandat des Betroffenen 1999 geendet hatte, das Parlament am 18. März 2005, dem Zeitpunkt, zu dem ihm der Abschlussbericht des OLAF übermittelt wurde, von dem fraglichen Sachverhalt Kenntnis erlangt hatte und es vor diesem Zeitpunkt über diesen Sachverhalt betreffende Buchungsbelege verfügt hatte. Mangels Beweises für ein Verhalten des Betroffenen, das diese Verspätung erklären könnte, hat das Gericht zu Recht befunden, dass das Parlament im vorliegenden Fall gegen seine Verpflichtungen aus dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstoßen habe.
51 Jedoch hat das Gericht dadurch, dass es in den Rn. 51 und 52 des angefochtenen Urteils davon ausgegangen ist, dass dieser Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer deshalb nicht zur Nichtigerklärung des zweiten Beschlusses des Generalsekretärs führen könne, weil der Rechtsmittelführer nicht dargetan habe, dass dieser Verstoß die Verteidigungsrechte beeinträchtigt habe, die Folgen, die aus dem Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zu ziehen sind, verkannt, da der Gesetzgeber der Union eine allgemeine Regel erlassen hat, die den Unionsorganen das Tätigwerden innerhalb einer bestimmten Frist vorschreibt.
52 Mit dem Erlass einer – wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt – allgemeinen Regel, nach der, wie aus Art. 73a der Haushaltsordnung hervorgeht, die Forderungen der Union gegenüber Dritten nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren verjähren, wollte der Unionsgesetzgeber etwaigen Schuldnern der Union garantieren, dass mit Ablauf dieser Frist im Einklang mit den Erfordernissen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gegen sie grundsätzlich keine Maßnahmen zur Einziehung solcher Forderungen ergehen können, ohne dass sie den Beweis zu erbringen haben, dass sie nicht Schuldner dieser Forderungen sind.
53 Es ist daher dem auf diese Weise vom Unionsgesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebrachten Willen Rechnung zu tragen, die Möglichkeit der Einziehung von Forderungen der Union gegenüber Dritten durch die Organe zeitlich zu beschränken, und es sind die Konsequenzen aus der Feststellung zu ziehen, dass eines dieser Organe seinen Verpflichtungen aus dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nicht nachgekommen ist.
54 Angesichts der Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, die diesem Willen des Gesetzgebers zugrunde liegen, ist die vom Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils angeführte Rechtsprechung, nach der ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nur in dem Fall zur Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung führen kann, in dem durch diesen Verstoß die Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sind, im vorliegenden Fall ohne Relevanz.
55 Da das Gericht vorliegend festgestellt hat, dass das Parlament seinen Verpflichtungen aus dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer nicht nachgekommen sei, konnte es von einer Nichtigerklärung des zweiten Beschlusses des Generalsekretärs nicht rechtsfehlerfrei mit der Begründung absehen, dass der Rechtsmittelführer keine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte geltend gemacht habe.
56 Daraus folgt, dass das Gericht den ersten Klagegrund des Rechtsmittelführers zu Unrecht zurückgewiesen hat.
57 Nach alledem ist das angefochtene Urteil, soweit es die Rechtssache T‑560/10 betrifft, aufzuheben, ohne dass die weiteren Rechtsmittelgründe und das weitere Vorbringen der Parteien geprüft werden müssten.
Zur Klage vor dem Gericht
58 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs kann der Gerichtshof, wenn er das angefochtene Urteil aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
59 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die von Herrn Nencini vor dem Gericht erhobene Nichtigkeitsklage entscheidungsreif und daher endgültig über sie zu entscheiden ist.
60 Dem ersten Klagegrund, mit dem der Rechtsmittelführer die Verjährung und einen Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer geltend macht, ist aus den in den Rn. 48 bis 50 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen stattzugeben.
61 Daher sind der zweite Beschluss des Generalsekretärs und die zweite Belastungsanzeige für nichtig zu erklären.
Kosten
62 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist oder wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet.
63 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach Art. 184 Abs. 1 der Verfahrensordnung auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Der Gerichtshof kann nach dieser Vorschrift jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint.
64 Im vorliegenden Fall ist zum einen der Rechtsmittelführer unterlegen, soweit sich sein Rechtsmittel auf die Rechtssache T‑431/10 bezieht. Zum anderen ist das Parlament mit seinem Vorbringen im Rahmen des Rechtsmittels in Bezug auf die Rechtssache T‑560/10 unterlegen. Da jede Partei beantragt hat, der anderen die Kosten aufzuerlegen, sind folglich dem Parlament außer seinen eigenen Kosten drei Viertel der Kosten des Rechtsmittelführers im vorliegenden Rechtsmittelverfahren aufzuerlegen.
65 Die Kosten des Verfahrens im ersten Rechtszug in der Rechtssache T‑560/10 trägt das Parlament.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union Nencini/Parlament (T‑431/10 und T‑560/10, EU:T:2013:290) wird aufgehoben, soweit es die Rechtssache T‑560/10 betrifft.
2. Der Beschluss des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments vom 7. Oktober 2010 zur Rückforderung bestimmter Beträge, die Herr Riccardo Nencini, ein ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, als Erstattung von Reisekosten und der Kosten für parlamentarische Assistenz erhalten hat, sowie die Belastungsanzeige Nr. 315653 des Generaldirektors der Generaldirektion Finanzen des Europäischen Parlaments vom 13. Oktober 2010 werden für nichtig erklärt.
3. Das Europäische Parlament trägt neben seinen eigenen Kosten drei Viertel der Herrn Riccardo Nencini im vorliegenden Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.
4. Das Europäische Parlament trägt die Kosten des Verfahrens im ersten Rechtszug in der Rechtssache T‑560/10.
5. Im Übrigen wird das Rechtsmittel zurückgewiesen.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
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Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. Oktober 2014.#Jean-François Giordano gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Gemeinsame Fischereipolitik – Fangquoten – Sofortmaßnahmen der Kommission – Außervertragliche Haftung der Union – Art. 340 Abs. 2 AEUV – Voraussetzungen – Tatsächlicher und sicherer Schaden – Subjektive Fangrechte.#Rechtssache C‑611/12 P.
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62012CJ0611
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ECLI:EU:C:2014:2282
| 2014-10-14T00:00:00 |
Cruz Villalón, Gerichtshof
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Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
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62012CJ0611
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
14. Oktober 2014 (*1)
„Rechtsmittel — Gemeinsame Fischereipolitik — Fangquoten — Sofortmaßnahmen der Kommission — Außervertragliche Haftung der Union — Art. 340 Abs. 2 AEUV — Voraussetzungen — Tatsächlicher und sicherer Schaden — Subjektive Fangrechte“
In der Rechtssache C‑611/12 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 27. Dezember 2012,
Jean-François Giordano, wohnhaft in Sète (Frankreich), Prozessbevollmächtigte: D. Rigeade und A. Scheuer, avocats,
Rechtsmittelführer,
andere Partei des Verfahrens:
Europäische Kommission, vertreten durch A. Bouquet und D. Nardi als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten C. Vajda und S. Rodin sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits (Berichterstatter), J. L. da Cruz Vilaça und F. Biltgen,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. März 2014
folgendes
Urteil
1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt Herr Giordano die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union Giordano/Kommission (T‑114/11, EU:T:2012:585, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht seine Klage auf Ersatz des Schadens, der ihm aufgrund des Erlasses der Verordnung (EG) Nr. 530/2008 der Kommission vom 12. Juni 2008 über Sofortmaßnahmen für Ringwadenfischer, die im Atlantik östlich von 45 °W und im Mittelmeer Fischerei auf Roten Thun betreiben (ABl. L 155, S. 9), entstanden sein soll, abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
2 Mit der Verordnung (EG) Nr. 2371/2002 des Rates vom 20. Dezember 2002 über die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Fischereiressourcen im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik (ABl. L 358, S. 59) soll ein mehrjähriger Ansatz bei der Bewirtschaftung von Beständen festgelegt werden, damit die Lebensfähigkeit dieses Sektors langfristig gewährleistet ist.
3 Art. 7 („Sofortmaßnahmen der Kommission“) der Verordnung Nr. 2371/2002 lautet:
„(1) Ist die Erhaltung von lebenden aquatischen Ressourcen oder des marinen Ökosystems infolge von Fischereitätigkeiten nachweislich ernsthaft gefährdet und sofortiges Handeln erforderlich, so kann die Kommission auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder von sich aus Sofortmaßnahmen mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten beschließen. Die Kommission kann die Sofortmaßnahmen mit einem erneuten Beschluss um höchstens sechs Monate verlängern.
(2) Der Mitgliedstaat übermittelt seinen Antrag gleichzeitig der Kommission, den übrigen Mitgliedstaaten und den zuständigen regionalen Beratungsgremien. Diese können der Kommission ihre schriftliche Stellungnahme binnen fünf Arbeitstagen nach Eingang des Antrags zustellen.
Die Kommission entscheidet über den Antrag nach Absatz 1 binnen 15 Arbeitstagen nach dessen Eingang.
(3) Die Sofortmaßnahmen gelten unmittelbar. Sie werden den betroffenen Mitgliedstaaten mitgeteilt und im Amtsblatt veröffentlicht.
(4) Die betroffenen Mitgliedstaaten können binnen zehn Arbeitstagen nach Eingang der Mitteilung den Rat mit der Entscheidung der Kommission befassen.
(5) Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit binnen eines Monats nach seiner Befassung eine andere Entscheidung treffen.“
4 Art. 20 („Aufteilung der Fangmöglichkeiten“) der Verordnung Nr. 2371/2002 bestimmt:
„(1) Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission über die Fang- und/oder Aufwandsbeschränkungen und über die Aufteilung der Fangmöglichkeiten auf die Mitgliedstaaten sowie über die mit diesen Beschränkungen zusammenhängenden Bedingungen. Die Fangmöglichkeiten werden in einer Weise auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt, die jedem Mitgliedstaat eine relative Stabilität für jeden Bestand bzw. jede Fischerei garantiert.
(2) Legt die Gemeinschaft neue Fangmöglichkeiten fest, so entscheidet der Rat unter Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten über die Aufteilung dieser Möglichkeiten.
(3) Jeder Mitgliedstaat beschließt im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht für die Schiffe unter seiner Flagge das Verfahren zur Aufteilung der ihm zugeteilten Fangmöglichkeiten. Er teilt der Kommission dieses Verfahren mit.
(4) Der Rat legt die Fangmöglichkeiten fest, die Drittländern in Gemeinschaftsgewässern eingeräumt werden, und teilt jedem Drittland die entsprechenden Möglichkeiten zu.
(5) Die Mitgliedstaaten können, nach entsprechender Unterrichtung der Kommission, die ihnen zugewiesenen Fangmöglichkeiten ganz oder teilweise tauschen.“
5 In diesem Zusammenhang wurde die Verordnung (EG) Nr. 40/2008 des Rates vom 16. Januar 2008 zur Festsetzung der Fangmöglichkeiten und begleitenden Fangbedingungen für bestimmte Fischbestände und Bestandsgruppen in den Gemeinschaftsgewässern sowie für Gemeinschaftsschiffe in Gewässern mit Fangbeschränkungen (2008) (ABl. L 19, S. 1) erlassen.
6 Diese Beschränkungen und Mengen wurden durch die Verordnung (EG) Nr. 446/2008 der Kommission vom 22. Mai 2008 zur Änderung bestimmter Quoten für Roten Thun für 2008 gemäß Artikel 21 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 2847/93 des Rates zur Einführung einer Kontrollregelung für die gemeinsame Fischereipolitik (ABl. L 134, S. 11) geändert.
7 In Anwendung von Art. 7 der Verordnung Nr. 2371/2002 erließ die Kommission am 12. Juni 2008 die Verordnung Nr. 530/2008.
8 Der sechste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 530/2008 lautet:
„Die verfügbaren Daten und die Daten, die von den Inspektoren der Kommission bei ihren Inspektionsreisen in den betroffenen Mitgliedstaaten erhoben wurden, zeigen, dass die Fangmöglichkeiten, die Ringwadenfischern, die die Flagge Griechenlands, Frankreichs, Italiens, Zyperns oder Maltas führen oder in einem dieser Mitgliedstaaten registriert sind, für Roten Thun im Atlantik östlich von 45 °W und im Mittelmeer zugeteilt wurden, am 16. Juni 2008 als ausgeschöpft gelten und dass die Fangmöglichkeiten, die Ringwadenfischern, die die Flagge Spaniens führen oder in diesem Mitgliedstaat registriert sind, für denselben Bestand zugeteilt wurden, am 23. Juni 2008 als ausgeschöpft gelten.“
9 Art. 1 dieser Verordnung sieht vor:
„Ab 16. Juni 2008 ist die Fischerei auf Roten Thun durch Ringwadenfischer, die die Flagge Griechenlands, Frankreichs, Italiens, Zyperns oder Maltas führen oder in einem dieser Mitgliedstaaten registriert sind, im Atlantik östlich von 45 °W und im Mittelmeer verboten.
Ab diesem Zeitpunkt ist es ebenfalls verboten, von Ringwadenfischern gefangenen Roten Thun an Bord zu halten, zum Zweck der Mast oder Aufzucht zu hältern, umzuladen, zu transferieren oder anzulanden.“
10 In Art. 2 der Verordnung heißt es:
„Ab 23. Juni 2008 ist die Fischerei auf Roten Thun durch Ringwadenfischer, die die Flagge Spaniens führen oder in diesem Mitgliedstaat registriert sind, im Atlantik östlich von 45 °W und im Mittelmeer verboten.
Ab diesem Zeitpunkt ist es ebenfalls verboten, von Ringwadenfischern gefangenen Roten Thun an Bord zu halten, zum Zweck der Mast oder Aufzucht zu hältern, umzuladen, zu transferieren oder anzulanden.“
11 Art. 3 der Verordnung Nr. 530/2008 bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich des Absatzes 2 dürfen Wirtschaftsbeteiligte aus der Gemeinschaft ab 16. Juni 2008 Roten Thun, der von Ringwadenfischern im Atlantik östlich von 45 °W und im Mittelmeer gefangen wurde, nicht zur Anlandung, zur Hälterung zum Zweck der Mast oder Aufzucht oder zur Umladung in Gemeinschaftsgewässern oder ‑häfen akzeptieren.
(2) Bis 23. Juni 2008 ist es erlaubt, Roten Thun, der von Ringwadenfischern, die die Flagge Spaniens führen oder in diesem Mitgliedstaat registriert sind, im Atlantik östlich von 45 °W und im Mittelmeer gefangen wurde, anzulanden, zum Zweck der Mast oder Aufzucht zu hältern und in Gemeinschaftsgewässern oder ‑häfen umzuladen.“
Dem Rechtsstreit zugrunde liegender Sachverhalt
12 Herr Giordano ist Eigner des Schiffs Janvier Giordano, ein Ringwadenfischer, der die Flagge Frankreichs führt und im Mittelmeer Fischfang betreibt.
13 Aufgrund der Unionsvorschriften verfügte die Französische Republik im Jahr 2008 über Fangquoten für Roten Thun von 4164 Tonnen, von denen 90 % den Ringwadenfischern zustanden, die unter französischer Flagge im Mittelmeer fischten.
14 In diesem Zusammenhang erteilte der französische Ministre de l’Agriculture et de la Pêche (Minister für Landwirtschaft und Fischerei) dem Rechtsmittelführer am 16. April 2008 eine spezielle Fangerlaubnis, mit der ihm gestattet wurde, in den Grenzen der ihm in Form einer individuellen Fangquote von 132,02 Tonnen zur Verfügung gestellten Fangmöglichkeiten Roten Thun aus dem Mittelmeer zu fangen, an Bord zu behalten, umzuladen, zu transferieren, anzulanden, zu transportieren, zu lagern und zu verkaufen. Die Erlaubnis galt für die Zeit vom 1. April 2008 bis 30. Juni 2008.
15 Aufgrund des Erlasses der Verordnung Nr. 530/2008, durch die der Fang von Rotem Thun im Mittelmeer verboten wurde, wurden die Fangsaison von Rotem Thun am 16. Juni 2008 unterbrochen und dementsprechend die Fangerlaubnis des Rechtsmittelführers mit einer Entscheidung des Präfekten der Region Languedoc-Roussillon vom 16. Juni 2008 in Durchführung dieser Verordnung widerrufen.
16 Herr Giordano klagte vor den französischen Verwaltungsgerichten auf Aufhebung dieser Entscheidung. Sowohl das Tribunal administratif de Montpellier als auch die Cour administrative d’appel de Marseille wiesen seine Klage auf Aufhebung mit der Begründung ab, dass die in Rede stehende Verbotsmaßnahme aus der Verordnung Nr. 530/2008 und nicht aus der Entscheidung des Präfekten der Region Languedoc-Roussillon resultiere.
17 Mit dem Urteil AJD Tuna (C‑221/09, EU:C:2011:153) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Verordnung Nr. 530/2008 ungültig ist, soweit die mit ihr auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2371/2002 erlassenen Verbote für die Ringwadenfischer, die die spanische Flagge führen oder in diesem Mitgliedstaat registriert sind, und die Wirtschaftsbeteiligten aus der Gemeinschaft, die mit ihnen Verträge geschlossen haben, am 23. Juni 2008 wirksam wurden, während diese Verbote für die Ringwadenfischer, die die maltesische, die griechische, die französische, die italienische oder die zyprische Flagge führen oder in einem dieser Mitgliedstaaten registriert sind, und die Wirtschaftsbeteiligten aus der Gemeinschaft, die mit ihnen Verträge geschlossen haben, am 16. Juni 2008 wirksam wurden, ohne dass diese Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt wäre.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
18 Mit Klageschrift, die am 25. Februar 2011 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Herr Giordano Klage aus außervertraglicher Haftung der Europäischen Union auf Ersatz des ihm aufgrund des Erlasses der Verordnung Nr. 530/2008 entstandenen Schadens.
19 Das Gericht hat in Rn. 12 des angefochtenen Urteils auf die ständige Rechtsprechung verwiesen, wonach die außervertragliche Haftung der Union für rechtswidriges Verhalten ihrer Organe an die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen geknüpft sei, und zunächst geprüft, ob der Kläger das tatsächliche Vorliegen des von ihm geltend gemachten Schadens nachgewiesen habe.
20 Dabei hat es in Rn. 18 des angefochtenen Urteils entschieden, dass die Quoten den Fischern keine Garantie böten, die gesamte ihnen zugeteilte Quote ausschöpfen zu können, da eine Quote nur eine theoretische Höchstfanggrenze darstelle, die keinesfalls überschritten werden dürfe.
21 Daher hat das Gericht entschieden, dass der vom Rechtsmittelführer geltend gemachte Schaden, da sich der Rechtsmittelführer lediglich darauf berufen habe, dass er wegen des durch die Verordnung Nr. 530/2008 ausgesprochenen Fangverbots seine Tätigkeit vom 16. bis zum 30. Juni 2008 nicht habe ausüben können, kein tatsächlicher Schaden sei.
22 Daher hat es die vom Rechtsmittelführer erhobene Klage abgewiesen und ihm die Kosten auferlegt.
Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien
23 Der Rechtsmittelführer beantragt,
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das angefochtene Urteil aufzuheben;
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festzustellen, dass ihm durch den Erlass der Verordnung Nr. 530/2008 ein ersatzfähiger Schaden entstanden ist;
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die Kommission zu verurteilen, ihm Schadensersatz in Höhe von 542594 Euro zu zahlen;
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der Kommission die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens im ersten Rechtszug aufzuerlegen.
24 Die Kommission beantragt,
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das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen;
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hilfsweise, das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen;
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äußerst hilfsweise, die Schadensersatzklage abzuweisen;
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dem Rechtsmittelführer die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens im ersten Rechtszug aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
Vorbringen der Parteien
25 Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund macht der Rechtsmittelführer geltend, das Gericht habe dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es in den Rn. 17 bis 22 des angefochtenen Urteils entschieden habe, dass die außervertragliche Haftung der Union wegen einer rechtswidrigen Handlung nicht gegeben sei, da der geltend gemachte Schaden nicht tatsächlich und sicher vorliege.
26 Mit dem ersten Teil dieses Rechtsmittelgrundes behauptet der Rechtsmittelführer, das Gericht habe in den Rn. 17 bis 19 des angefochtenen Urteils die Sicherheit des Schadens mit der Bestimmung seiner Höhe verwechselt.
27 Zum einen ergebe sich das tatsächliche und sichere Vorliegen des geltend gemachten Schadens daraus, dass der Rechtsmittelführer aufgrund des Erlasses der Verordnung Nr. 530/2008 verpflichtet gewesen sei, seine Fischereitätigkeit vor dem regulären Abschluss des Fischwirtschaftsjahrs einzustellen, und zum anderen erfolge die Bestimmung der Schadenshöhe zwangsläufig in einem hypothetischen Rahmen, da man nicht wissen könne, welche Fangmenge der Rechtsmittelführer hätte erzielen können.
28 Mit dem zweiten Teil seines ersten Rechtsmittelgrundes macht der Rechtsmittelführer geltend, dass er einen außergewöhnlichen und besonderen Schaden erlitten habe. Der außergewöhnliche Charakter des Schadens hänge mit der Tatsache zusammen, dass dessen Höhe der Hälfte des erwarteten Umsatzes entspreche, während der Schaden insofern ein besonderer sei, als er nur eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern der Berufsgruppe betreffe.
29 Die Kommission macht erstens geltend, dass der erste Rechtsmittelgrund als unzulässig zurückzuweisen sei, da die Beurteilung, ob ein tatsächlicher und sicherer Schaden vorliege, eine Tatsachenwürdigung darstelle, die der rechtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof entzogen sei.
30 Zweitens ist die Kommission der Auffassung, dass der erste Rechtsmittelgrund unbegründet sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zulässigkeit
31 Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist zulässig, da der Gerichtshof vom Rechtsmittelführer ersucht wird, sich dazu zu äußern, ob das Gericht bei der Qualifizierung des geltend gemachten Schadens als tatsächlich und sicher im Rahmen der außervertraglichen Haftung der Union einen Rechtsfehler begangen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Archer Daniels Midland/Kommission, C‑510/06 P, EU:C:2009:166, Rn. 105, und Kommission/Schneider Electric, C‑440/07 P, EU:C:2009:459, Rn. 191).
32 Daher ist die in Bezug auf diesen ersten Teil von der Kommission erhobene Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen.
33 Zum zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist festzustellen, dass er den an die Zulässigkeit eines Rechtsmittels zu stellenden Anforderungen nicht genügt, da der Rechtsmittelführer damit, dass er eine Reihe von Argumenten vorbringt, um darzutun, dass er einen außergewöhnlichen und besonderen Schaden erlitten habe, im Wesentlichen nur auf eine erneute Prüfung der beim Gericht eingereichten Klage abzielt (vgl. in diesem Sinne Urteile Interporc/Kommission, C‑41/00 P, EU:C:2003:125, Rn. 16, und Reynolds Tobacco u. a./Kommission, C‑131/03 P, EU:C:2006:541, Rn. 50).
34 Dieser Teil ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
Begründetheit
35 Nach ständiger Rechtsprechung hängt die außervertragliche Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen ab, die sich auf die Rechtswidrigkeit des dem Unionsorgan vorgeworfenen Verhaltens, das tatsächliche Bestehen des Schadens und die Existenz eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden beziehen (Urteil Agraz u. a./Kommission, C‑243/05 P, EU:C:2006:708, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Nach der sich auf das tatsächliche Bestehen des Schadens beziehenden Voraussetzung muss der Schaden, für den Ersatz begehrt wird, tatsächlich und sicher sein, wofür der Kläger beweispflichtig ist (Urteil Agraz u. a./Kommission, EU:C:2006:708, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im vorliegenden Fall hat das Gericht in den Rn. 17 bis 19 des angefochtenen Urteils die Auffassung vertreten, dass der vom Rechtsmittelführer geltend gemachte Schaden, der aus dem Teil seiner individuellen Quote bestehe, der wegen des Fangverbots von Rotem Thun ab dem 16. Juni 2008 nicht gefischt und nicht verkauft worden sei, nur eine hypothetische Situation widerspiegele und nicht als tatsächlich und sicher angesehen werden könne.
38 Im Einzelnen hat das Gericht entschieden, dass die Zuteilung der Quoten dem Rechtsmittelführer keine Garantie geboten habe, seine individuelle Quote voll ausschöpfen zu können, da diese eine theoretische Höchstfanggrenze darstelle und jedenfalls nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Rechtsmittelführer, selbst wenn er bis zum 30. Juni 2008 hätte fischen können, seine Quote aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht erreicht hätte.
39 Es ist jedoch festzustellen, dass das Gericht dabei einen Rechtsfehler begangen hat.
40 Das Gericht hat bei der Prüfung der Voraussetzung hinsichtlich des Schadens insbesondere dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es, wie aus Rn. 18 des angefochtenen Urteils hervorgeht, lediglich auf die Fehlerhaftigkeit der Prämisse abgestellt hat, wonach der Rechtsmittelführer über ein Fischereirecht verfügt habe und zwangsläufig seine Quote ausgeschöpft hätte. Zum einen betrifft nämlich das Bestehen eines dem Einzelnen durch eine Rechtsnorm verliehenen Rechts nicht das tatsächliche Vorliegen des behaupteten Schadens, sondern stellt eine Voraussetzung für die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes eines Unionsorgans gegen diese Norm dar, um die außervertragliche Haftung der Union zu begründen. Zum anderen ist die Zurückweisung des Vortrags des Rechtsmittelführers, dass er seine Quote ausgeschöpft hätte, durch das Gericht nur für die Bewertung des Umfangs des geltend gemachten Schadens von Bedeutung, nicht aber schon für das Vorhandensein eines solchen Schadens, dessen sicheres Vorliegen nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass hinsichtlich seines genauen Umfangs eine Unsicherheit besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Agraz u. a./Kommission, EU:C:2006:708, Rn. 36).
41 Folglich ist das angefochtene Urteil aufzuheben, ohne dass über die anderen Rechtsmittelgründe entschieden zu werden braucht.
Zur Klage vor dem Gericht
42 Nach Art. 61 Abs. 1 Satz 2 seiner Satzung kann der Gerichtshof der Europäischen Union, wenn er das angefochtene Urteil aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
43 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die von Herrn Giordano beim Gericht erhobene Schadensersatzklage entscheidungsreif und endgültig über sie zu entscheiden ist.
44 Wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hängt die außervertragliche Haftung der Union von der Erfüllung mehrerer Voraussetzungen ab. Zu diesen gehört, wenn die Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts in Frage steht, das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen (Urteil Kommission/Schneider Electric, EU:C:2009:459, Rn. 160).
45 Im vorliegenden Fall macht Herr Giordano als Erstes geltend, dass die Kommission Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2371/2002 dadurch verkannt habe, dass sie die Verordnung Nr. 530/2008 erlassen habe, obwohl sie nicht über Beweise für ein Überschreiten der den Schiffen unter französischer Flagge zugeteilten Quote 2008 verfügt habe.
46 Insoweit ist festzustellen, dass dieses Argument auf der Prämisse beruht, dass der Erlass von Sofortmaßnahmen durch die Kommission den Nachweis eines tatsächlichen Überschreitens der zugewiesenen Quote erfordere. Diese Prämisse ist jedoch falsch. Nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2371/2002 kann die Kommission nämlich solche Maßnahmen ab dem Zeitpunkt erlassen, ab dem „die Erhaltung von lebenden aquatischen Ressourcen oder des marinen Ökosystems infolge von Fischereitätigkeiten nachweislich ernsthaft gefährdet und sofortiges Handeln erforderlich“ ist, ohne die Überschreitung einer zugeteilten Quote abwarten zu müssen. Wie der Gerichtshof in den Rn. 63 bis 65 des Urteils AJD Tuna (EU:C:2011:153) festgestellt hat, enthalten jedoch verschiedene Erwägungsgründe der Verordnung Nr. 530/2008 eine Reihe von Angaben, deren Richtigkeit Herr Giordano nicht bestritten hat und die hinreichend belegen, dass eine solche ernsthafte Gefährdung im vorliegenden Fall bestand.
47 Als Zweites trägt Herr Giordano vor, der Erlass der Verordnung Nr. 530/2008 habe eine Einschränkung seiner Tätigkeit mit sich gebracht, die mit seiner Berufsfreiheit und seinem Recht auf Ausübung seiner Berufstätigkeit, wie sie von Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gewährleistet würden, sowie mit seinem Eigentumsrecht, wie es von Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährleistet werde, unvereinbar sei.
48 Hierzu ist hervorzuheben, dass die Tatsache, Inhaber eines Fischereirechts sowie einer vom zuständigen Mitgliedstaat zugeteilten Quote für ein bestimmtes Fischwirtschaftsjahr zu sein, entgegen dem Vorbringen von Herrn Giordano diesem nicht das Recht verleihen kann, diese Quote unter allen Umständen auszuschöpfen.
49 Wie der Gerichtshof entschieden hat, kann die freie Berufsausübung keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil FIAMM u. a./Rat und Kommission, C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476, Rn. 183 und die dort angeführte Rechtsprechung). Somit können Einschränkungen der Ausübung dieser Freiheit vorgenommen werden, vorausgesetzt, dass sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta vom Gesetz vorgesehen sind und dass sie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 38).
50 Im vorliegenden Fall entspricht die Verordnung Nr. 530/2008 unbestreitbar einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung der Union, nämlich gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2371/2002 derjenigen, eine ernsthafte Gefährdung für die Erhaltung und den Wiederaufbau der Bestände von Rotem Thun im Ostatlantik und im Mittelmeer zu verhindern. Außerdem ist festzustellen, wie aus den Rn. 77 bis 85 des Urteils AJD Tuna (EU:C:2011:153) hervorgeht, dass das in der Verordnung Nr. 530/2008 enthaltene Fangverbot im Vergleich zu dem, was zur Erreichung dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung notwendig ist, nicht offensichtlich ungeeignet ist und sich daher als mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar erweist.
51 Als Drittes macht Herr Giordano geltend, dass der Erlass der Verordnung Nr. 530/2008 gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoßen habe, da diese Verordnung das Fischwirtschaftsjahr für Roten Thun mit dem 16. Juni 2008 beendet habe, obwohl dieser Fischfang in Frankreich ursprünglich bis zum 30. Juni 2008 erlaubt gewesen sei.
52 Allerdings ist, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, die Möglichkeit, Maßnahmen zu erlassen, die eine Beendigung des Fischwirtschaftsjahrs vor dem regulären Datum bewirken, u. a. in Art. 7 Abs. 1 und Art. 26 Abs. 4 der Verordnung Nr. 2371/2002 vorgesehen (Urteil AJD Tuna, EU:C:2011:153, Rn. 75). Die Wirtschaftsteilnehmer aus der Gemeinschaft, deren Tätigkeit im Fischen von Rotem Thun besteht, können sich daher nicht auf die Rechtssicherheit oder den Vertrauensschutz berufen, da sie in der Lage sind, vorherzusehen, dass solche Maßnahmen erlassen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil AJD Tuna, EU:C:2011:153, Rn. 75).
53 Aus alledem folgt, dass Herr Giordano das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, nicht dargetan hat.
54 Da eine der Voraussetzungen für die Haftung der Union nicht erfüllt ist, ist die Klage als unbegründet abzuweisen, ohne dass zu prüfen ist, ob die anderen Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
Kosten
55 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet. Nach Art. 138 Abs. 2 der Verfahrensordnung, der gemäß deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, entscheidet der Gerichtshof über die Verteilung der Kosten, wenn mehrere Parteien unterliegen.
56 Da dem Rechtsmittel von Herrn Giordano stattgegeben, seine Schadensersatzklage aber abgewiesen wird, tragen Herr Giordano und die Kommission ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union Giordano/Kommission (T‑114/11, EU:T:2012:585) wird aufgehoben.
2. Die von Herrn Jean-François Giordano in der Rechtssache T‑114/11 erhobene Schadensersatzklage wird abgewiesen.
3. Herr Jean-François Giordano und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Unterschriften
(*1) Verfahrenssprache: Französisch.
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