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44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | |
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FERDINAND LASSALLE
EINE WÜRDIGUNG
DES LEHRERS UND
KÄMPFERS
VON
EDUARD BERNSTEIN
VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN
1919
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN
_DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_
Inhalt. Seite
Vorwort 5
Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7
Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede
und der Franz von Sickingen 27
Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66
Das System der erworbenen Rechte 114
Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden
und das Arbeiterprogramm 145
Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das
Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186
Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften
mit Staatskredit 213
Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins 235
Lassalle und Bismarck 263
Lassalles letzte Schritte und Tod 285
Schlußbetrachtung 293
Vorwort. Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre
1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung
„Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften
Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte,
dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß
aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer
ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene
Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe. Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte
Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen
Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik
vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der
Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an
und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das
Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu
gestalten, als es früher vor uns stand. Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der
Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer
Begründer verehrt, _für_ die Partei, also namentlich auch für
bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf
zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863
neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu
bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das
literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift
beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der
Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen
behandeln. | 3,481 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_0 | 386 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur
Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des
Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen
und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer
Führer der sozialistischen Demokratie. _Berlin-Schöneberg_, im September 1919. _Ed. Bernstein._
FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE
Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung. Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete
Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren
gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und
Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder
Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man
alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so
ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an
bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem
Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so
hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner
früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige
Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe
seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren
Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf. Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der
kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz
zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der
schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum
Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst
in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen
die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem
Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum
zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller
Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die
Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen
jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange
Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit
diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße,
vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das
aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den
zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der
bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum
ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen
Institutionen ist. | 2,786 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_1 | 373 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch
soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen
Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die
hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen
Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und
Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger
ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist
jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es
wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf
lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück. Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche
Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in
diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des
Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr
außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und
Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den
vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen
an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die
bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom
proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine
antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende
Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer
Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente
des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die
Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in
England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in
Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber
sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die
zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation
zurückbleiben. Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger
Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die
entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine
Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des
Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche
Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet,
bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren
sie auf den Herbergen. | 2,523 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_2 | 342 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre
Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des
Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem
Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und
Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie
kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen
Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die
Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute
Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei
zu kämpfen. Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in
Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch
unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen
Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort
lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits
die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren
in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit,
der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in
Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor,
während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie
bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die
Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in
Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere
Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon
meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig
große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er
sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen
einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und
die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben
dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den
Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der
Proudhonismus. In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die
Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals
in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der
Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische
Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte. In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse
der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern
teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf
verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief,
wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine
verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits
die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen. | 2,916 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_3 | 374 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Wenn diese
überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo
immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte,
so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten
des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in
Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf
der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von
ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das
Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen
unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten
noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten
ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich
an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres
gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen,
halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm
aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger
eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse
mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der
radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender
Bourgeoisphilantropen. Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten
mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor
sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der
erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England
die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley,
Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter
veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu
suchen -- nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre
„moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß”
usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren
Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch
die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen
besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern,
soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben
von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische
Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben,
trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser
Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes
„Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits
verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden
Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die
sogenannte freidenkerische Propaganda werfen. In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen,
welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne
drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund. | 2,874 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_4 | 389 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Der rege politische
Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß
nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18. Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung
einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen,
es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine
der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre
Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle
Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber
diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie
sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine
bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der
Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren
treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre
Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine
Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen
großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der
Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten
Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig
scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.)
In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der
Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren
Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben
ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in
nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche
Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich
mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen
harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher
Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der
selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur
„Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen
Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands
in ermunterndster Weise zustatten kam. Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften
weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt;
diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt
werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren. | 2,393 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_5 | 322 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Da nun die Großindustrie
in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große
Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister
der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie
angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr
ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden
fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die
Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt
hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und
Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von
Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone
des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern
als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom
Kapital. Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband
Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die
selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische
Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem
Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der
Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die
Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne
zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten
Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte
sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte,
bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche
und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften. Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen
Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch,
als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen,
die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der
Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet,
Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation
dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der
liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich
erwärmen? Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben
werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift
Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von
den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der
Arbeiter erwartete:
„Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die
Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen
den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen. | 2,718 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_6 | 369 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Denn
muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer
zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren
Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst
riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen
übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die
geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden? -- Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den
Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die
Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen
ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher
gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals
allgemein und mit Sicherheit erreicht ... „Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den
Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer
hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen
Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern,
weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während
also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen
annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und
mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen
Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem
Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer
Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur
erblicken ... „Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter
sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen
Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es
allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen,
durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird,
ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert
ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser
Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen
geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als
Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer
Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der
Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten
anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis
dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar
nicht in Ansatz kamen. | 2,613 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_7 | 372 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das
Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und
Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann
erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in
tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar
hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und
das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.)
Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862
tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine
Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen
beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten
zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen,
aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften. Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848
bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und
nehmen jetzt deren Faden wieder auf. Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen
empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der
Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen
Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage,
während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am
Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten
Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren
Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war,
sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des
„Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der
Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte
sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche
Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide
Regierungen vorderhand noch „solidarisch”. Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung,
die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850
die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die
Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und
Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall
gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall
schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue
Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr
Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am
wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III. | 2,675 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_8 | 378 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | mit
drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den
Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position
eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern
Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein
Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen
der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer
Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen
gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben
würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um
dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die
„Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen
Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen,
sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu
gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging
auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder
Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche
Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der
„Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands
Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle
zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen
Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien
angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach
die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man
nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem
Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte
Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch
abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen
sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und
Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter
von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis
geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten
hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die
liberalen „Freiheiten” brauchten? Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus
jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die
kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die
über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen. | 2,449 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_9 | 348 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Man
war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer
Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die
Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte
deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und
daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen
Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den
Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die
Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu
Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man
hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt. Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts
braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der
Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im
heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der
Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in
Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber
kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden,
daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten
Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die
nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der
kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen,
überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten
Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen
Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch
immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem
Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden
Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr
Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das
Budgetrecht der Volksvertretung. Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt
noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf
jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren
Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der
Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die
ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen
dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten
kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig
ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst
Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von
Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit
kommunistischen Schriften versehen worden war. | 2,810 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_10 | 391 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Unter diesen, und durch
sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die
Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine
eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch
wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als
eine bloße Kreatur der liberalen Partei. Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig
aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein
Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen
feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der
preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem
Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten,
_das_ „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten
-- nämlich die Klassenkämpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so
begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung
handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es
nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise
auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht
zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten,
als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das
Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein
zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen
Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” -- d. h. hübsch draußen
bleiben -- war in der Tat typisch für das Unvermögen der
Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als
den denkenden Spießbürger -- ihr Ebenbild, ihren Gott. So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger
Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur
Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge
die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war. Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz
von Sickingen. Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in
seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und
geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich,
sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunächst
innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt
Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst,
verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde -- kurz,
nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher
völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im
Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon
hatte. | 2,671 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_11 | 392 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen
Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige
Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders
zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte,
daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse
darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem
Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden
Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen
ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei
seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen. Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein. Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie
Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der
Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur
Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer
Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die
Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit
seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht
kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles
unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen
Handelns liefert. Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große,
man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir
sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder
Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das
Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen
noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines
eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie
gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine
innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß
Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden
hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum
Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren. | 2,353 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_12 | 331 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Die
Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten,
unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte
ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen
jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter
Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so
selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen
trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in
das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen
Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung
gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am
1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein
Tagebuch:
„... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer
der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu
achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben
wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich
würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu
einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen
nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der
Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die
Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den
Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder
dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die
Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen
Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”,
knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die
Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht
erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur
sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die
Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein
besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate
später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die
Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus,
auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man
mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß
die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns
helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera. | 2,415 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_13 | 375 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Die Würfel liegen, es
kommt auf den Spieler an.”
Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert,
aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen
Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle
durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr
angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und
Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die
Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer
Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen,
folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich
weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische
Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des
Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte,
Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand
ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte
betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst
geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich
bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat
sein.”
Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den
sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten
Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und
von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium
vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle
von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig
geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen,
Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die
Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für
den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen
Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater
nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er -- nach seiner
Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der
Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer
Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem
mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je
radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der
Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule
bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn
eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz
werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne. | 2,645 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_14 | 396 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | „Ich traue auf den
Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den
Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als
mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als
mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die
Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von
Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen,
als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.”
„Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu
dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich
abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß,
als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen”
Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin
oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute
sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren
„des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht
einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium
vorbereite. Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so
weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie,
geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer
größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen
Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand
der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen
Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz
richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt,
ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die
Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte,
reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen
Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann
durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich
das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat
ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen
tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die
intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf
der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich
zur Ursache seines jähen Endes geworden. | 2,478 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_15 | 370 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später
nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um
die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche,
kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen
Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843
schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit
Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt
wurde -- Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen
Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im
Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt
--, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel
mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in
mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste
leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen
Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt. Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles
Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat. Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die
Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren
vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten
Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen
ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens
zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die
Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen
aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht
mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen,
während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer
Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen
Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit
einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem
Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines
übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser
Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den
folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der
Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist
aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches
Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß
übernahm, bestanden habe. | 2,505 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_16 | 349 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der
vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus
anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen
den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um
eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und
Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt
hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an. Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der
hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren
mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf
hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche
Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur
die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen,
außergewöhnlicher Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung der
gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen Mittel des
unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im
ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewöhnlicher
Genußmensch, scheute vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen,
und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu
Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die
Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen
von dem Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder herangeschleppt
wurde, von der Qualität der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen. Und von den Rückwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im
Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle nie ganz freimachen können. Wir
meinen das nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine
späteren Liebesaffären, sondern mit Bezug auf seine von nun an
wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen und zu
benutzen, das ihm für seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir
meinen den Verlust jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung
selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm
vertretenen Grundsätzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an
wiederholt und am stärksten in der tragischen Schlußepisode seines
Lebens sich offenbarende Einbuße an gutem Geschmack und moralischem
Unterscheidungsvermögen. | 2,336 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_17 | 328 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich
in den Hatzfeldtschen Prozeß gestürzt, -- er selbst gebraucht in der
Kassettenrede das Bild des Schwimmers: „Welcher Mensch, der ein starker
Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes
fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, für einen guten
Schwimmer hielt ich mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den
Strom” -- gewiß, aber leider war es ein recht trüber Strom, in den er
sich gestürzt, ein Strom, der sich in eine große Pfütze verlief, und als
Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft,
mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen
besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes,
drängten sie auch wiederholt siegreich zurück, aber schließlich ist er
ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen,
aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur
gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben,
sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis
einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklären[1]. Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst noch der Rolle zu
gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat. Beim Ausbruch der März-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen
des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich fast
zur politischen Untätigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der
Prozeß wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen ihn statt und
er hatte alle Hände voll zu tun, sich auf diesen zu rüsten. Erst als
er nach siebentägiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann
er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit
direkten Anteil zu nehmen. Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte,
stand natürlich als Republikaner und Sozialist auf der äußersten Linken
der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx
redigierte „Neue Rheinische Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine
Zeitlang dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten an, der in Köln
seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in
nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mündlich und
schriftlich mit dem erwähnten Kreisausschuß, sandte wiederholt
Mitteilungen und Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” und
erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes. | 2,468 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_18 | 369 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | So
bildete sich allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr
zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch später noch, als Marx im
Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde. Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf
einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes
herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhältnis zwischen
den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. Was sonst noch einer über die politische Kampfgenossenschaft
hinausgehenden Intimität im Wege stand, soll später erörtert werden. Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenüber nahm
Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der „Neuen
Rheinischen Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich
ihr forderte er, als die preußische Regierung im November 1848 den
Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst
und den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, und die
Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums
in Anklagezustand, sowie mit der Erklärung geantwortet hatte, daß
dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur
Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung
auf. Gleich dem Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch
Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die königliche
Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen
freigesprochen, aber die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion
stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur
Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben,
um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat
verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre
Berufsrichter -- Lassalle schließlich auch zu sechs Monaten
Gefängnis. Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage ist unter dem Titel
„Assisen-Rede” im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich
gehalten worden, und alles, was in verschiedenen älteren Biographien
über den „tiefen” Eindruck erzählt wird, den sie auf die Geschworenen
und das Publikum gemacht habe, gehört daher in das Bereich der Fabel. Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben,
und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt
worden waren, beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit
auszuschließen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklärung, die
Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja
höchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der
Bestechung veranlaßt worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht
erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich zu verteidigen,
wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen. Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” bleibt jedenfalls ein
interessantes Dokument für das Studium der politischen Entwicklung
Lassalles. | 2,911 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_19 | 396 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Er steht in ihr fast durchgängig auf dem von Karl Marx drei
Monate vorher in dessen Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen
Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste,
ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und
Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen Ausschmückung, er geht
direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrängter
Sprache, Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik seinen
Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik
der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe
ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen
politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von
Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in -- oft sehr schönen -- Bildern
und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen
Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den
Geschworenen, sondern zu den Tribünen, zu einer imaginären
Volksversammlung, und schließt, nach Verkündigung einer Rache, die „so
vollständig” sein wird wie „die Schmach, die man dem Volke antut”,
mit einer Rezitation aus Tell. Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnäckigkeit
Vergünstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden
pflegten -- so erhielt er, was er später selbst für ungesetzlich
erklärte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu
plädieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Tätigkeit
wieder fast vollständig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in
Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus für
politische Freunde und versammelte längere Zeit einen Kreis
vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vorträge hielt. Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Prozeß der
Friedensschluß. Die Gräfin erhielt ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt
und Lassalle eine Rente von jährlich siebentausend Talern
sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen
Wünschen einzurichten. Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in Düsseldorf bei und arbeitete hier
an seinem „Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen,
u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese
Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der
das politische Leben erloschen war, aussöhnen. Es verlangte ihn nach
einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder
erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten, nach einem
größeren Wirkungskreis. | 2,601 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_20 | 381 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | So erwirkt er sich denn 1857 durch die
Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preußen von der
Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu
dürfen. Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle
hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die „schmachvolle und
unerträgliche Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die „über Preußen
hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: „Warum zu soviel Gewalt noch
soviel Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen wir nichts,
nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig
auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der
Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam
er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der
Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim
zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr
rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt,
daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative „Augsburger
Allgemeine Zeitung” schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die
wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, für sein gutes
Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewußtsein der
Festigkeit seines politischen Wollens für reine Formsache, daß er seine
betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich
da um verschiedene Anträge, der erste 1855 an den Berliner
Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den
damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darüber „Dokumente des
Sozialismus”, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten
machte er Karl Marx gegenüber kein Geheimnis. Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle durch Verbindungen der Gräfin
Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, daß sich
in den oberen Regionen Preußens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit
diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle
bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach
London gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10. | 2,133 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_21 | 312 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Februar 1854 den
Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage vorher vom Berliner
Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustände im
Berliner Kabinett -- der König und fast alle Minister für Rußland, nur
Manteuffel und der Prinz von Preußen für England -- und die für gewisse
Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen Maßregeln, worauf es heißt:
„Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als
wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier
Wochen später machte er wieder allerhand Mitteilungen über beabsichtigte
Schritte des Kabinetts, gestützt auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner
‚offiziellen’, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle”. Am 20. Mai
1854 klagt er, daß seine „diplomatische Quelle” eine weite Reise
angetreten habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man
kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit
wieder verlieren, ist überaus ärgerlich.” Aber er hat immer noch
Nebenquellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten,
und ist u. a. „zeitig vorher von Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt
worden. Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre
Berichte mögen auch Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige
Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit
vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hüter der
monarchischen Idee sie noch nicht für genügend erachteten, des Königs
Regierungsunfähigkeit auszusprechen, so wußte man doch in allen
unterrichteten Kreisen, daß der Regierungsantritt des Prinzen von
Preußen nur noch eine Frage von Monaten sei. In Berlin vollendete Lassalle zunächst den Heraklit, der Ende 1857 im
Verlage von Franz Duncker erschien. Über dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk
gehen die Meinungen der Sachverständigen auseinander. Die einen stellen
es als epochemachend hin, die andern behaupten, daß es in der Hauptsache
nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß
Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem Standpunkt steht -- die
Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens
als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die
Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende
Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, daß sie eine
sehr tüchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der
wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen. Für die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges
ist sein Werk über Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht bloß
darin von Bedeutung, daß es Lassalle als eben entschiedenen Anhänger
Hegels zeigt. | 2,726 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_22 | 395 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Man kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker G. Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer
Ausschmückung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über
Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit über Heraklit als
Schlüssel zum Verständnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es
gilt dies namentlich von Lassalles großem Kultus des Staatsgedankens --
auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf
Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer
Hinsicht:
„Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in den einen Gedanken
zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist:
‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich griechisch und modern;
aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen
Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Übereinstimmung
mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen
Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation
des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung
im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung
gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der
Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” (Vgl. a. a. O. S. 40.)
Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei
Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie
und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des „formellen
Willens der Subjekte” darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man
„nicht ungestraft in seinem Gemüte hegt”, und der in der Welt der
Prinzipien das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der „rein
äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten
Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in
und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und
schwieligen Händen sprach”. Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich hat Lassalles
althegelsche Staatsidee ihn später im Kampf gegen den Liberalismus weit
über das Ziel hinausschießen lassen. Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes:
„Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und
Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so
leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und
dem Lobe anderer. | 2,424 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_23 | 342 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die
größeren Schicksale erlangen das größere Los.’ Und er hat gesagt, was
das rechte Licht auf diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die sich
weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rat
fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige nur gut, die
Besten aber dem Ruhme nachfolgen. ‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen
die Besten eins statt allem, den immerwährenden Ruhm der
Sterblichen.’ Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größere Los,
welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre
war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein
durch Reflexion und Philosophie begründetes. ‚Der Ruhm’, sagt
Lassalle, ‚ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das
Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins
überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in
ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz
selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit
des Menschen”, und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der Grund ist,
weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und
über alle kleinen und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das
der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann
‚Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel’, so ist es auch der
Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines
spekulativen Prinzips erblickte.’”
Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst
Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz zu der
Heraklitischen Verachtung der Menge war er für den Beifall durchaus
nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr
Höflichkeitsform war, unter Umständen mit fast naiver Genugtuung für die
Sache selbst auf. Die Vorliebe für das Pathos, die sich bei Lassalle in
so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur
Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz
freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß er aus
dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe für den Lärm und
Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je
einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt
sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivetät etwas
Versöhnendes hat. | 2,386 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_24 | 379 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift
erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als
volkserwählter Präsident der Republik „von sechs Schimmeln gezogen”
seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder
an eine Übertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß
Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so
fester in dem Herzen seiner Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die
bekannte schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie von Sontzew beweist,
daß es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei
einer müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte,
sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte,
dessen Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er nennt sich --
im Jahre 1860 -- „das Haupt einer Partei”, in bezug auf das sich
„fast unsere ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren eine
-- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle „achtet, liebt,
sogar nicht selten verehrt”, für die er „ein Mann von größtem Genie
und von einem fast übermenschlichen Charakter ist, von dem sie die
größten Taten erwarten”. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie
und der größte Teil der Bourgeoisie -- fürchtet ihn „mehr als irgend
jemand anders” und haßt ihn daher „unbeschreiblich”. Werde die
Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew
nicht verzeihen, daß sie einen solchen Menschen heiratete, so werden
auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß ein
solcher Mensch sie heiratete, „sie eines Glückes halber beneiden, das
ihre Verdienste übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen
nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse Ereignisse eintreten,
eine Flut von Bewegung, Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen
würde, wenn Sie mein Weib werden.”
So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, so wenig sie
der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer
sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle
vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen Liberalen und Demokraten
auf bestem Fuße stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht hatte,
deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, die in Regierungskreisen
gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne
-- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die
in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand
und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein führte. Die
Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Pläne. | 2,593 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_25 | 392 |
44722-0-1 | Gutenberg | 9,995 | Jedes Wort der
Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafür hielt, war
für ihn Bestätigung seiner Mission, und nicht selten nahm er
Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es ist merkwürdig, welcher
Widersprüche die menschliche Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den
Berichten seiner näheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht,
mit schmeichelhaften Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren
allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn
selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht für echtes Gold. So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst
verwachsen, daß, als er später wirklich an der Spitze einer Partei
stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen
Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten
vermochte und danach behandelte. Man mißverstehe uns nicht. Es wäre
absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle den Allgemeinen deutschen
Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß der
Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war
überzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre
nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr
seine Persönlichkeit -- ich sage ausdrücklich nicht sein Leben,
aufzuopfern. Soviel an dieser Stelle hierüber. Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem
der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf
entworfenes historisches Drama und ließ es, nachdem eine anonym
eingereichte Bühnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele
abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen. Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk verfehlt war, hat
Lassalle später selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafür
den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht
das Drama, trotz einzelner höchst wirkungsvoller Szenen und der
gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die
Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es
werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft
von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, daß ein
Freund Lassalles, den dieser, während er am „Franz von Sickingen”
arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter metrischer
Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das
Stück lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, daß
ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte. | 2,542 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_26 | 372 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten
Losungsworten:
„Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?”
„Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,”
die denn auch wahrhaft erfrischend wirken. Indes diese technischen Fragen treten für uns zurück vor der Frage nach
Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von
Sickingen” über das historische Drama, wie es Schiller und Goethe
geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen
Kämpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden
liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, während die
eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen
und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse
der Zeiten und Völker zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, so
daß sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die
vielmehr nur die Träger und Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze
sind, sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke der Nationen
selbst -- „Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten
allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit
der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu
ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es
möglich,” meint Lassalle, „den Individuen aus der Bestimmtheit der
Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus
markige und feste, selbst derbe und realistische Individualität zu
geben.” (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit
Lassalle die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit sie
überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die großen
Kämpfe der Menschheit und der Völker so in Individuen verkörpern
lassen, daß nicht das eine oder das andere, die Größe und umfassende
Bedeutung jener Kämpfe oder die lebendige Persönlichkeit der
Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir
hier unerörtert lassen können. Es genügt, daß Lassalle bei der
Durchführung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun
zum Stoff des Dramas selbst. Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens
gegen die deutschen Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund
und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist
eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in
Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische oder der
theoretische Repräsentant des niederen deutschen Adels. Merkwürdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem
letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. „Lesen Sie mein
Trauerspiel,” schreibt er an Sophie von Sontzew. | 2,697 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_27 | 399 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | „Alles, was ich Ihnen
hier sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte
alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies,
da sein Schicksal und das meinige einander vollständig gleich und von
überraschender Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst Lassalle schwer
geworden sein, diese überraschende Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich
um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte in Berlin ein
luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen aller Kreise der besser
situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt
eines ähnlichen Hasses wie der fränkische Ritter, der Urheber der
leidenschaftlichen Streitschriften wider die römische Pfaffenherrschaft. Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle
und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen,
was tatsächlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei
seinem Werke geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem
Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen über sich selbst
ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns,
wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund
legt, erhalten dadurch für das Verständnis des Lassalleschen
Ideenkreises eine besondere Bedeutung. Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des
Ökolampadius gegen den geplanten Aufstand:
„Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte. Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,”
ein echt Hegelscher Satz,
„Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!”
Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung der Liebeslehre durch das
Schwert” gesprochen:
„Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert! Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist
Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,
Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren. Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet,
Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,
Den wir noch heut den Großen staunend nennen. Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt,
Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab! Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht
Und Wissenschaft und Künste uns geboren. | 2,339 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_28 | 340 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon! So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet
Das Herrliche, das die Geschichte sah,
Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen,
Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!”
Es liegt in den Sätzen „doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt
ewig die Gewalt”, und „daß alles Große, was sich jemals wird
vollbringen”, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde,
unzweifelhaft viel Übertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, daß das
für die Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene Wort”
sei, daß, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein muß, für sie
mit dem Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche,
wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr
darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr
zeitgemäß, und nicht nur für die damalige Epoche, sind auch die
Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen im letzten Akt
zurufen läßt:
„O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht
Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten
In großen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_
Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,
Wo im Gewühl die Völker dich nur an
Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen;
Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle
Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe. Dann probst du aus im ungeheuren Streit
Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens,
Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!”
Auch der Ausspruch Sickingens:
„Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg. Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,
Daß eines sich stets ändert mit dem andern,
Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”. ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider
hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen
Laufbahn unbeachtet gelassen. Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das
Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz. Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind
beide Vertreter des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit
der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist
diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das
notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur
beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz
ihre Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das Material zu
einer echten Tragödie gegeben, der vergebliche Kampf markiger
Persönlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit. | 2,589 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_29 | 393 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Merkwürdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen
Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so
bedeutungsvoll sie doch gerade für die -- wir wollen nicht einmal sagen,
sozialistische, sondern überhaupt die moderne wissenschaftliche
Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche
Unternehmen an tausend Zufälligkeiten -- Unüberlegtheit, Mißgriffe in
den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit
den Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache”, was
unwillkürlich an den recht unhistorischen Schluß in Götz von
Berlichingen erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß! Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!” Begreift man aber, warum
der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des
untergehenden Rittertums zum Helden wählen konnte, so ist es schon
schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, zu einer Zeit,
wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur
Beurteilung der Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, ein
Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin
als die Repräsentanten „eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt,
auf dessen Resultaten”, wie er sich in der Vorrede ausdrückt, „unsere
ganze Wirklichkeit lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden
Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen Prozeß noch
einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch
die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu
erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschloß ich mich zu
diesem Drama.”
Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache
des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und für die
Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des
untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der
aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung
der Verhältnisse in Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren
Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrängt
und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen
Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der
Gründung des neudeutschen Reiches daran erinnert, daß er einmal eine so
anständige Persönlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat --
den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger Jahren
und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus Hutten und
Sickingen als Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung und
ignorierte ihre Klassenbestrebungen. Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten
und Franz von Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen Freiheit
willen gegen den römischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen
Sache gegen die Einzelfürsten. | 2,906 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_30 | 396 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | „Was wir wollen,” sagt Sickingen im
Zwiegespräch mit Hutten, --
„das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland,
Zertrümmerung alles Pfaffenregiments,
Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen,
Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche,
Wiedergeburt, zeitmäßige der alten,
Der urgermanischen gemeinen Freiheit,
Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft
Und usurpierten Zwischenregiments,
Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang
Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd,
Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze
Des großen Reichs.”
Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.”
Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von Sickingen” als ein
Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg für die
Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorläufig ideale --
Stellungnahme zu den politischen Strömungen der Zeit vollzogen. Es
sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine
Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen bürgerlichen
Demokratie, auch gegenüber einer konkreten Frage des Tages offenbaren
sollte[3]. Der „Franz von Sickingen” war im Winter 1857/58 vollendet worden. Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und
begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein
Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in
die er sich bei jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem
Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung zu den großen
Kämpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und
Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich
von Huttens „berauscht”, als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen
elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf
Huttens -- wäre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne
ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu denken, den Plan des
Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst
fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” über ihn gekommen. Man spürt es dem Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut
geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich,
dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch über die ganze
Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner der deutschen Dichter
damals besser gemacht als Lassalle. | 2,354 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_31 | 345 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Fußnoten:
[1] Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses
in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im
Jahre 1855 eine von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach
London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und
Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx an
Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten. [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild. Berlin 1877. [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich
durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachlaß von
Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die
seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels
adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom
„Franz von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im
Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels
geschickt, worauf ihm diese, die damals noch örtlich getrennt lebten,
eingehend ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte Brief
Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in
einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure
beiderseitigen Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der
Hauptsache dieselben Punkte berühren”. Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß die Kritik von
Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen
kritisieren zu müssen glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,”
schreibt Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch zu
abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in nuce dasselbe gesagt,
was ich oben ausgeführt habe. Der Lassallesche Sickingen ist nicht der
streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts,
er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte Liberale des neunzehnten
Jahrhunderts, das heißt der liberale Ideologe. Seine Reden fallen
gewöhnlich vollständig aus der Epoche, in der sie gehalten sein
sollen, heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle an
einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung ‚zu sehr
zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben habe’. Du (Marx)
begründest dies so: Ich hätte Sickingen und Hutten daran untergehen
lassen müssen, daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer
Einbildung revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres
Interesse vertraten. | 2,549 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_32 | 365 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | ‚Die adligen Repräsentanten der Revolution’,
sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern von Einheit und Freiheit immer
noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert
-- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es
bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser,
und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz
bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in
viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten
Form sprechen lassen können, während jetzt in der That, außer der
religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt’. ‚Bist Du nicht selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein
Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die
lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche zu
stellen?’”
Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen
fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende
Ausführungen beziehen, hier also unverständlich wären. Im wesentlichen
verteidigt sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die
ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im historischen
Sickingen vorhanden, damit genügend zum Ausdruck gebracht zu haben,
daß Sickingen, statt sich an die ganze Nation zu wenden, statt alle
revolutionären Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und sich an
ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen ritterlichen beginnt
und fortführt, bis er an der Beschränktheit seiner ritterlichen
Mittel zugrunde geht. Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil
er nicht weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich die
revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung aber habe er in
der einen Szene des Stückes, in der er die Bauern selbst auf die
Bühne bringe, und in den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden
Balthasars usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in
Wirklichkeit innegewohnt habe und noch darüber hinaus. Geschichtlich
sei die Bauernbewegung ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels. Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in
verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, so u. a. im
„Arbeiterprogramm”. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Daß
die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit
zurückgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären,
die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs,
wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionäre in ihren
Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche. | 2,621 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_33 | 364 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Das übersieht
Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfällt,
die Geschichte aus den „Ideen” abzuleiten, so vollständig, daß er
zu der Marxschen Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem
Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen
lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, verstärkt durch ein
Ausrufungszeichen, macht. Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine Berechtigung,
wenn im Stück auch nur die leiseste Andeutung gegeben wäre, daß
Sickingens Beschränkung auf seine ritterlichen Mittel seiner
ritterlichen Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht der
Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer Fehler behandelt. Das reicht aus für die tragische Idee des Dramas, aber nicht für
die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an dem das
Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen ist. Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg. Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” als Buchdrama. Gerade
als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die
Entwicklung der Dinge in Deutschland eine große Rückwirkung ausüben
sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und
Cavour in Plombières verabredete französisch-sardinische Feldzug
behufs Losreißung der Lombardei von Österreich und der Beseitigung
der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien. Österreich gehörte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich
natürlich die Frage, welche Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem
Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des übrigen Deutschland, sich
gegenüber Frankreich mit Österreich zu identifizieren oder nicht? Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, daß der Krieg einen
zwieschlächtigen Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener war
er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und
Befreiung Italiens einen Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten
Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die
Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu stärken und
die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel stand auf
jeden Fall fest. Außerdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß
Napoleon sich von seinem Verbündeten, dem König von Sardinien, für seine
Bundesgenossenschaft einen hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen
(Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die „Einigung” Italiens
in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den
Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem
Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer
Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombières zwischen
Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloße
dynastische Intrige. Soviel war sicher, daß, wer diesen Krieg
unterstützte, zunächst Napoleon III. | 2,887 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_34 | 397 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | und dessen Pläne unterstützte. Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. Gegen Österreich allein
konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die
übrigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preußen Österreich
zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er denn
durch seine Agenten und Geschäftsträger bei den deutschen Regierungen,
in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteiführern mit allen
Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg als eine Sache behandelt werde,
die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für ein
Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich in Italien ausübe,
aufrechtzuerhalten, überhaupt einem so urreaktionären Staat wie
Österreich Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene Feind der
Freiheit der Völker; werde Österreich zertrümmert, so würde auch für
Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen. Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen Federn, daß,
wenn die Napoleonischen Pläne im Süden sich verwirklichten, der Rhein in
direkte Gefahr geriete. Ihm würde der nächste Angriff gelten. Wer das
linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen wolle,
müsse dazu beitragen, daß Österreich seine militärischen Positionen in
Oberitalien unbeeinträchtigt erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt
werden. Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen
wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei
(Einigung Deutschlands unter Preußens Spitze, unter Hinauswerfung
Österreichs aus dem deutschen Bund) überein, war direkt auf es
zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine große Anzahl kleindeutscher
Politiker nicht dazu entschließen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache
Österreichs von der des übrigen Deutschland zu trennen. Dies erschien
ihnen um so weniger zulässig, als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon
den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg
führte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im
Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin,
jetzt käme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons
abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne man weiter reden. Bis
es geschehen, müßten sich aber die Italiener gefallen lassen, daß man
sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kämpften, einfach
als dessen Verbündete behandelte. Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom kleindeutschen Standpunkt
aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der
vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte. | 2,612 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_35 | 365 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Wenn
Österreich, und namentlich dessen außerdeutsche Besitzungen, um so eher
je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum
nicht mit Vergnügen ein Ereignis begrüßen, das sich als ein Schritt zur
Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon
erklärt, daß er nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? Warum
also Österreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen
werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch für die gerechteste
Sache von der Welt kämpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er
angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein Angriff auf
ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit Österreichs
und die Beschäftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der
Einigung Deutschlands unter Preußens Führung auch durch positive
Maßnahmen einen weiteren Schritt zu fördern? Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus
konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859
erschienenen Schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens”
das Wort. Mit großer Energie bekämpft er die in den beiden Berliner
Organen des norddeutschen Liberalismus, der „National-Zeitung” und der
„Volks-Zeitung”, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles
nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von
Bonaparte ausgehenden Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich als
Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, daß Preußen den
Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine
deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte
Europas im Süden nach dem Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe
im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie,
seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen,
„während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht,
für die Erhöhung Preußens in der Deutschen Achtung zu sorgen”. Und, fügt Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung dessen
gewiß sein. | 2,054 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_36 | 289 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des
deutschen Volks als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie
selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden
werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende
Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig
Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und
zittert.”
Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre zu einem Advokaten
der „deutschen” Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt
sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte nationale Programm
als solches eine große Ähnlichkeit mit dem des im Sommer 1859
gegründeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der
Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen
Einheit unter preußischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all
seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark
im Preußentum stecken geblieben. Nicht daß er bornierter preußischer
Partikularist gewesen wäre -- wir werden gleich sehen, wie weit er
davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf
die auswärtige Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen
durch die Brille des preußischen Demokraten an, sein Haß gegen
Österreich war in dieser Hinsicht ebenso übertrieben, wie der
Preußenhaß vieler süddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten. Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa
aufzuweisen hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, neben
Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte”; Österreich ist
„ein reaktionäres Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller
Freiheitsideen”; „der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt,
zerstückt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut
werden”, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen
könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, und „wenn die Rechnung
sonst ziemlich gleichstehen möchte -- das römische Konkordat hat
Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des Klerus nicht
geschlossen”. Selbst Rußland kommt noch besser weg, als Österreich. „Rußland ist ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von seiner
despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit
ihren despotischen Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier
die Entschuldigung, daß sie nationales Element ist.” Ganz anders aber
mit Österreich. „Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die
Regierung das barbarische Prinzip, künstlich und gewaltsam seine
Kulturvölker unter dasselbe beugend.”
In dieser einseitigen und relativ -- d. h. | 2,602 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_37 | 361 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | wenn man die übrigen Staaten
in Vergleich zieht -- damals auch übertriebenen Schwarzmalerei
Österreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die
Lassallesche Broschüre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor
ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu
ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie
Hand zu lassen und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. Es war
dies die Schrift Karl Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”,
ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder
indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich
würde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange
mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus über
jeden Verdacht der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern erhaben,
daß die Möglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der
mir aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein falsches Licht auf
Lassalle zu werfen. Zum Überfluß will ich aber noch einen Passus aus der
Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die
den Beweis lieferte, daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse
schrieb und agitierte, und deren Beweisführung neun Jahre später durch
die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde -- ein
Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil er zweifelsohne gerade
auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt:
„Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten,
die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein
Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und
Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten
aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des
italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenüber
auszuführen habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen
Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden
einer späteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es
in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu
tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der
Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat
außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten,
die er wirklich vertrat.” (K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.)
Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, daß dort, wo Vogt mit
Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der
Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was übrigens Lassalle nicht
verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19. | 2,696 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_38 | 381 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Januar 1861 zu
erklären, daß er nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx'
Überzeugung, daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, „ganz
gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, der innere Beweis dafür[4]
sei „mit einer immensen Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder
Hinsicht ein meisterhaftes Ding”. Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst instruktives Buch zum
Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet
enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen
Dutzend Abhandlungen ausreichen würde. Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse. Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so
lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein großer Teil davon
handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenüber
einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch
erhalten sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, ist bis
jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen
bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die
Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre
Begründung, da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich, meist darauf
beschränkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwände gegen
dieselbe möglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des
weiteren dargelegt zu werden, warum in einer für Sozialisten
geschriebenen Abhandlung über Lassalle nicht nur dessen persönliche
Beziehung zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus,
sondern auch sein Verhältnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer
Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse
ist. Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis lange Zeit seine
fertige Schablone. Für die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete
sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht
international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren
vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die
Revolution gekümmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene
Gegenüberstellung aufgegeben werden müssen. Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, war in demselben
Verlage, wie später diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe Thema
behandelte. | 2,399 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_39 | 348 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Sie war betitelt: „Po und Rhein.” Der Verfasser, der sich
ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift,
suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß die von den Organen der
österreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe zu
seiner Verteidigung im Südwesten der italienischen Provinzen, falsch
sei, daß auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition
in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhängiges
Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund,
mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig genug Anlaß haben werde,
Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen. Oberitalien sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens im Kriege
nutzen, im Frieden immer nur schaden könne. Und auch der militärische
Vorteil im Kriege würde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25
Millionen Italienern. Aber, führte der Verfasser alsdann aus, die Frage
um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und
Italien, und nicht eine zwischen Österreich und Louis Napoleon. Gegenüber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in
anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte,
handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur
gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn
man sie nicht mehr halten kann ... „Werden wir angegriffen, so wehren
wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit
auftreten wolle, so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern
Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber
die Karte von Europa revidiert werden, „so haben wir Deutsche das
Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe, und daß
man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle
Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber
ist,” heißt es schließlich, „daß wir Deutsche einen ganz
ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio,
die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten
gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und außen stark
machen kann.”
Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer als -- Friedrich Engels. Unnütz zu sagen, daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx
veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle
hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung
ihres Inhalts an die -- damals noch unabhängige -- Wiener „Presse”
geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war. | 2,589 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_40 | 378 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Er kannte also ihren
Inhalt ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” schrieb,
polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekämpft, daß, da
der Krieg durch Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen
Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit
einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als
solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt,
Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert, und zwar in dem
Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt und seine Studien”[5]. Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen
übereinstimmten, dafür nur ein Beispiel. Österreichischerseits war auf
die Verträge von 1815 hingewiesen worden, durch welche Österreich der
Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun:
Vogt:
„Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen
Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in
frecher Weise die Verträge gebrochen hat. Von allen andern sind sie
bis jetzt respektiert worden, nur Österreich hat sie gebrochen,
indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand
gegen die durch diese Verträge garantirte Republik Krakau
ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres
einverleibte.” („Studien”, S. 58.)
Lassalle:
„Die Verträge von 1815 können nicht einmal mehr diplomatisch
ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung
Belgiens, mit Füßen getreten und zerrissen gerade von Österreich
durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die
europäischen Kabinette zu protestieren nicht unterließen, haben sie
jede rechtliche Gültigkeit für jedes Mitglied der europäischen
Staatenfamilie verloren.” („Der Ital. Krieg usw.” Ges. Schriften
Bd. I S. 43.)
Hören wir nun Marx gegen Vogt:
„Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des
Königreich Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus
‚Achtung’ vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder
die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit
moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder
besetzt von Russen, Österreichern und Preußen, wurde völlig als
erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter
Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und
Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen,
Österreicher und Preußen abermals Krakau, um es Österreich
einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen
Mächte, und die österreichische Konfiskation von 1846 war nur das
letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr Vogt”, S. | 2,720 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_41 | 379 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | 73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet
„Palmerston and Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston seit
1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes
das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert,
wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, daß Vogt
auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von
bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb. In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen
bonapartistischen Pamphlete, „La vraie question, France, -- Italie --
Autriche”, hatte es wörtlich geheißen:
„Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische Regierung die
Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben
verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit
diese Verträge garantierten?”
Vogt hatte in seiner Manier überall noch einen Extratrumpf
aufgesetzt. Phrasen wie „die einzige Regierung”, „in frecher
Weise”, „frevelnde Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am
Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die „politische Nemesis”
gegen Österreich anruft. Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, das Vogtsche Machwerk
noch nicht zu Gesicht bekommen, aber daß seine Schrift durch die von
Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle in die Presse des In-
und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt
nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe ähnlicher an die Seite
gesetzt werden können, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen
Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß die Politik ihres Heros
sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so übersahen sie dabei nur
die eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen Regierung
vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in
den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener
Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen ließ, um sie für seine damalige
Politik zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in dieser Schrift,
die später von bürgerlichen Schriftstellern als ungewöhnliche
Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts
„Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten
Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor
der preußischen Heeresreform, daß, wenn Preußen einen deutschen
Bürgerkrieg für die Herstellung einer einheitlichen deutschen
Zentralgewalt ins Werk setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen
kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” („Studien”
S. | 2,589 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_42 | 369 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | 155.) Des weiteren wußte Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich
im Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” klar
geworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und
der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur
Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Österreichs zum Schwerte
greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder
für Österreich verhindern wird, um ... seinen Lohn für diese
Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. („Studien” S. 19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht
verlangen. Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausführung gekommen. Bismarck, der dazu bereit gewesen wäre, war dem Prinzregenten von
Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als Minister des Auswärtigen genehm
zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurück,
Österreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine
Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine
Truppen zurück. So „drauf und dran” Österreich zu helfen, wie
Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht. „Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und die Aufgabe
Preußens’” -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und
Engels -- „wird Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr dort
hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese
annähernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein. Absolute Franzosenfresserei, Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, die
revolutionäre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund),
das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die
Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der
untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gießen
suchen, und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen den Willen
des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für
unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müßte ein
von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsre
demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner
Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen kommt dazu, daß man
schon jetzt den Riß, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und
gar zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand ich für Pflicht,
mich entgegenzuwerfen ... Natürlich gebe ich mich keinen Augenblick
der Täuschung hin, als könnte und würde die Regierung den sub III
eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr
fühlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er
sofort in einen Vorwurf umschlägt. | 2,640 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_43 | 384 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Er kann wie ein Eisblock wirken,
an dem sich die Wogen dieser falschen Popularität zu brechen
anfangen.”
Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die
revolutionäre als die nationale Bewegung zu fördern, die letztere der
ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage
war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale
Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle
einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine
Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. Marx
und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunächst darauf
an, den gegen Deutschland als Ganzes geführten Streich durch eine
gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, und nicht in dem
Moment, wo ein solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst nur
scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung Deutschlands führen mußte. Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage
beruht im wesentlichen darauf, daß sie sie mehr in ihrem weiteren
historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, während
Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf die augenblicklichen
Verhältnisse in der inneren Politik leiten ließ. Daher beging er auch
die Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich streng zwischen
Volk und Regierung unterschied, Österreich und das Haus Habsburg ohne
weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung Österreichs” zu
proklamieren, wo es sich zunächst doch nur um die Zertrümmerung des
habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe
an Rodbertus knüpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben:
„Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die türkische
Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten
oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen”
und sagt:
„Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich in Ihrem letzten
Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese
Ansicht meinen besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten und
mich dafür von ihnen einen Träumer nennen lassen müssen! Die ganze
Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen
orientalischen Frage hat für mich immer nur den vernünftigen Sinn und
Zusammenhang gehabt, daß die Frage so lange hinausgeschoben werden
muß, bis der naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, sie löst! Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrüder zur Welt
gekommen zu sein.” (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl
Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8. | 2,599 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_44 | 377 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Mai
1863.)
Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten sollte, nachdem
vorher Österreich „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn
und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich losgerissen
worden, ist schwer verständlich. Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehört hierher:
„Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, ist es die kleindeutsche
Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem
‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor
1½ Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner
Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir müssen alle wollen:
Großdeutschland moins les dynasties.”
„Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen
Partei zugute käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen Furcht vor:
Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stück
Nationalverrat.” (Brief vom 2. Mai 1863.)
Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er
es in „Der Italienische Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen wäre,
er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben können, denn jenes ist
ganz gewiß kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für
seine viel weitergehenden politischen Zwecke, für die Herbeiführung
der Revolution, die die nationale Frage im großdeutschen Sinne lösen
sollte, zweckmäßig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai
1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer
bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen
Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so
können wir uns hier auf einige Auszüge und kurze Zusammenfassungen
beschränken. Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne
Datum, so daß dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt
Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein
immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so,
daß unsere Regierungen den Krieg machen müssen (und sie werden dies tun)
und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre
fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig
entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit
Leidwesen gesehen ... | 2,355 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_45 | 361 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Käme nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung
beigebracht wird[6], die Regierung führe diesen Krieg als einen
nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet
Ihr sehen, wie vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade bei
Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen Treue’ das Volk an seine
Regierungen binden würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist
offenbar etwa folgendes:
„1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere
Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter
Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf und dran sei, für
Österreich einzutreten.”
Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend. „2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden unsere Regierungen
gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das
Volksinteresse für den Sieg sie unterstützt.)
„3. daß das Volk der Überzeugung sei, der Krieg werde im
volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionären Sinne, also
gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein können wir besorgen,
und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.”
Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben könne,
„einen populären Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”. Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, die er als
maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung auf die Aussichten der
revolutionären Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung auf
die Beziehungen der deutschen Demokratie zur französischen und
italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als
Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, daß er dieselbe Politik
empfehle wie Vogt, der im französischen Solde schreibe, antwortet er:
„Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad
absurdum führen? Dann könnte ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß
Du das Unglück hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu
sein.” Alsdann rühmt er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt
habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” hätten zum Rückzug
geblasen, die letztere „in einer Serie von sechs Leitartikeln eine
vollständige Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht darauf kam,
sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich
so schnell bekehren ließen! In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heißt
es: „Es ist ganz selbstredend, daß zwischen uns nicht das Prinzip,
sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffaßte, die
‚passendste Politik’ ... | 2,519 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_46 | 382 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | streitig war.” Und um wieder keinen Zweifel
darüber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h. also doch die zur revolutionären Entwicklung passendste Politik.”
Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen
muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich
meine Broschüre schrieb, sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg
gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung,
daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulär und
verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück
gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, nicht für diesen Krieg
schreiben und propagieren ... Für die gegenwärtige Lage sind wir
wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr für die
zukünftige.”
In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade
eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich
später zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen
Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preußische Regierung
überzeugt, wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch war und daß
durchgreifende Änderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu
setzen, sei es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit einiger
Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. Wer es also mit „Preußens
deutschem Beruf” ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation
einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was
ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: „Das
Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- völlige, nur verkappte -- der
Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung
eines immensen Machtmittels für Absolutismus und Junkertum ist in zwei
Worten der evidente Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt haben,
so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es durchgesetzt. Wer jetzt in
Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger
sterben!”
Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus
Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem
Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in
der ausgeführt worden war, daß, wenn Preußen Österreich gegen Frankreich
zu Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich intervenieren, d. h. Preußen _und_ Österreich den Krieg erklären würde. | 2,383 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_47 | 357 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Diese Note sei,
hatte Marx ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um einen Anschlag
gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die
Schwächung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei
zweitens eine unverschämte Einmischung Rußlands in deutsche
Angelegenheiten, die nicht geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun
Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber
selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur
„die deutschen Regierungen”. „Denn, diable! was geht Dich und mich
die Machtstellung des Prinzen von Preußen an? Da alle seine Tendenzen
und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes
gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen
Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen so gering wie
möglich ist.” Man müsse sich also eher solcher Demütigungen freuen und
sie höchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die
Franzosen unter Louis Philipp getan hätten. Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” ausdrücken, als es hier
überall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster
eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der
Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, haben nach
Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach
einpacken müssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des
„Italienischen Krieges” leiteten, sind alles andere, nur nicht eine
Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, daß
hier, wie es in den meisten bürgerlichen Biographien heißt, bei Lassalle
der Parteimann hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im Gegenteil
eher sagen, daß der Parteimann, der republikanische Revolutionär, den
Patrioten zurückdrängt. Man könnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage
aufwerfen: „Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an
Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der
Broschüre vertritt, wer garantiert dann, daß der erstere der wirklich
von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle
nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx
gegenüber getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen aber so viele
Gründe, daß es kaum der Mühe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der
wichtigste ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre und Briefen
schließlich doch nur ein scheinbarer ist. | 2,459 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_48 | 366 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Wo Lassalle in der Broschüre
etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen
deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem großen „Wenn”,
und diesem Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber nicht, dann”
gegenüber, und formuliert dieses „Dann” so: „So wird damit nur aber
und aber bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland einer
nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die positiven Behauptungen in
der Broschüre hält er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint
es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschüre
ausmachenden Darlegung, daß die Demokratie -- worunter er die
Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg
gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, weil sie sich dadurch mit den
Unterdrückern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus
ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. Bis soweit ist
denn auch die Broschüre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt
für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung
vollkommen berechtigt. Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die
gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich
bekämpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem
Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht
an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er für eine Politik
eintritt, von der er nicht auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch
tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mußte glauben, er
wünsche nichts sehnlicher, als daß die preußische Regierung die darin
von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen,
daß er sicher war, die preußische Regierung werde diese Politik nicht
befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht
gerechtfertigt. Das Advokatenstück, eine Sache nur deshalb zu
empfehlen, weil man zu wissen glaubt, daß sie doch nicht geschieht, ist
ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen
Anhänger irrezuführen, was ja später auch in diesem Falle eingetreten
ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist
das denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition
in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom „National”,
auswärtige Politik machten, ebnete später dem Mörder der Republik, dem
Bonapartismus, die Bahn. Wie die „reinen Republikaner” die
napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die
friderizianische Legende gegen die damalige preußische Regierung
ausspielen zu können. | 2,589 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_49 | 386 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Aber die friderizianische Tradition, wenigstens
soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preußischen
Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der
Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda für sie. Wie diese später, sobald Preußen sich dazu militärisch stark genug
fühlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg
zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie Österreich glücklich aus
dem deutschen Bund herausgedrängt und die „Einigung”
Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, aber
diese Realisierung des im „Italienischen Krieg” entwickelten Programms
verhält sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte, wie in der
Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7]. [Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen Frage gebracht? Österreichs Verdrängung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische
Propaganda im höchsten Grade gefördert, die österreichische Regierung
muß heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese
traten infolgedessen mit immer größeren Ansprüchen auf. Wo sie früher
mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen wären,
wollen sie heute herrschen und unterdrücken; in Prag, heute eine
tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und französische
Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die
Angliederung der deutschen Landesteile Österreichs an Deutschland wird
früher oder später freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach
ungünstigeren Verhältnissen als vor der glorreichen Herauswerfung
Österreichs aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das Deutsche Reich
ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter
um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat
Rußland so stark gemacht, daß die deutsche Politik wieder das größte
Interesse an der Erhaltung selbst dieses Österreichs hatte. Etwas ist
immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Rußland der
Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange
mag das heutige Österreich als Staat noch eine Berechtigung haben.]
Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes als die bloße
Herausdrängung Österreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung,
die Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder einen integrierenden
Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber
um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen,
dessen unmittelbare Folge der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein
Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, dessen Bevölkerung 1859
ganz entschieden auf seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke
Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle außer ihm liegenden
Rücksichten zu opfern, erklärt dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie,
die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs schärfste verurteilt
hatte. | 2,887 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_50 | 393 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der leidenschaftliche Drang, in
die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer
wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung
an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen
Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem
Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die
revolutionäre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die
Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. März 1859 an Fr. Engels
geschrieben:
„Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen und
geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von
sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht,
was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche Beginn praktischer
Bewegungen alle größere theoretische Tätigkeit sistiert.”
„Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa weiß, wenn es
dafür gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.”
Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins
monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine
Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die
Revolution für die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist
gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt:
Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Götter --
die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” --
das Volk -- in Bewegung setzen. * * * * *
Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen Krieg usw.”
folgen ließ, war ein Beitrag für eine Zeitschrift in Buchform, die der
demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel
„Demokratische Studien” im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der
später als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes politisches
Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” Man könnte ihn als ein
Nachwort zu „Der italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem
Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen für gut
befunden. Das „politische Vermächtnis” Fichtes ist, wie Lassalle unter
Vorführung eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs zu
einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit
Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung
der Einheit Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei einer Eroberung
Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten würde
„nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stämme durch
die gewaltsame Aufdrängung des spezifischen Hausgeistes unter die
Besonderheit desselben gebracht, preußifiziert, verbayert,
verösterreichert!” ... | 2,705 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_51 | 379 |
44722-0-2 | Gutenberg | 9,975 | „Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung
fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen
Besonderheiten liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das deutsche
Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.”
„Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern
mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke,
wäre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealität dieser Entschließung
ist es geradezu töricht von Männern zu verlangen” -- es ist von den
deutschen Fürsten, speziell vom König von Preußen, die Rede -- „deren
geistige Persönlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes
Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte
ist und die dies daher ebensowenig leisten können, als es einer von uns
anderen leisten würde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschließlich
durch dieselben Faktoren bestimmt worden wäre.”
Dies sind die letzten eigenen Ausführungen Lassalles in dem Aufsatze. Es
folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die Einheit
Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage der „ausgebildeten
persönlichen Freiheit”, und daß gerade deshalb die Deutschen „im
ewigen Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes Reich des Rechts”
darzustellen, ein Reich der „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles
dessen, was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es von uns, die
unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufügungen
abschwächen zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger
gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche” -- einen
Artikel über eine „brennende Tagesfrage” zu schreiben -- „nicht
buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfüllt --
wie der meinige.”
Welches aber war Lassalles Zweck bei der Veröffentlichung des Aufsatzes,
der das Datum: Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief an Marx
uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum
er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen Werkes in
Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens
habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und
tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschüre „Politische
Totenschau” zeige, wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue. | 2,288 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_52 | 332 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin,
Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedürftig
war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so für
sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den
aber Fräulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte. Es sind über diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die
Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Fräulein von Sontzew,
später die Gattin eines Gutsbesitzers in Südrußland, im Jahre 1877 in
der Petersburger Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, und
von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von
F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffäre ist
nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie
von Sontzew schreibt, daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf sie
gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt habe, ihn lieben zu können,
es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie
sich schließlich darüber klar geworden sei, daß eine Liebe, die
zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie
unter Hinweis auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen
werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht gerade auf diese Kämpfe die
junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgeständnisse und
Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite
scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein von Sontzew
beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu
sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame
hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch
wußte Lassalle sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über den
Mißerfolg bald zu trösten. Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre sind die aus Anlaß
dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor
allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” bezeichnete,
mehr als 35 Druckseiten ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines
der interessantesten Dokumente für die Charakteristik Lassalles. Sehen
wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jüngling heranreifenden Knaben,
so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling sein Ich
bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen
Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge
Lassalles ist seine -- man könnte fast sagen, unbewußte
Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine beständige Neigung,
ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte
Natur. | 2,647 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_53 | 392 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr
Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die
Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu
verbergen. Aber es war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch anders
zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften
waren viel zu stark, als daß sie sich nicht überall verraten hätten,
seine Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch jedes Gewand,
in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem
Bilde, das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl
es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mädchen erscheinen wollte,
der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern. Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und
seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, wie er in
diesem Manuskript sich im Glanze seines zukünftigen Ruhmes sonnt, sich
als der Führer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar
nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn fürchten und
hassen läßt, wo zur Furcht und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso
übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. „Nichts, Sophie,”
schreibt er über den Erfolg der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur
annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den
ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz
schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen,
die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag
verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen
und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen
diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte
mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren
Hauptführer an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, daß er aus
diesem „mit nicht weniger Glanz” hervorging. „Ich werde Ihnen meine
Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie
wird Sie amüsieren.” Daß er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt
er nicht. Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit
fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen,
statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief
hindurch klingt der Ton einer echten Überzeugung. | 2,393 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_54 | 362 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Selbst wenn Lassalle
von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt „gewisser Ereignisse”
-- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zukünftigen Frau
ausstatten würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht wahr, Sophie,
mit so großen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen
Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloße Spekulation auf
individuelles Glück machen?” -- und bemerkt weiter: „Deshalb darf man
in keiner Weise darauf rechnen.”
Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte” Lassalles von
Interesse. Er spricht sich darin sehr ausführlich über sein Verhältnis
zur Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine
früheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel
sicher, daß Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um das er gerade
warb und das als Gattin heimzuführen er so große Anstrengungen machte,
seine derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit sie über die der
Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, stärker zu schildern, als sie
wirklich waren. Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in
Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit für die Gräfin. Er
liebe sie „mit der zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert
hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte Mutter”. Er
verlangt von Sophie, daß sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin
„mit der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und hofft, obwohl
die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” sei und, ehe sie nicht
wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar
werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu können, -- um „alle
drei glücklich und vereint zu leben”[9]. Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die Sache so hinstellen, als
habe sich die Gräfin Hatzfeldt damals in Berlin und später Lassalle
einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos übertrieben haben. Die Hatzfeldt hatte ihre großen Fehler und ihre Freundschaft ist
Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst
verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten
wir es für unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem
entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen
Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene
Behauptung, Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre gestürzt,
um die Hatzfeldt loszuwerden. Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den Eindruck, den die Gräfin
Hatzfeldt persönlich auf sie gemacht habe, nur günstig aus. Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen
Aufenthalts in Aachen. Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit
der Sontzew die Rede. | 2,682 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_55 | 398 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe über
die Verhältnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle
schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des
Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders
bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er
in Berlin noch mit den Führern der liberalen Opposition auf bestem Fuße
stand, über die damalige liberale Presse und über den von den Liberalen
in den Himmel gehobenen preußischen Richterstand dachte. Da sie ebenso
kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden. Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn,
unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der
infamierendsten Handlungen verdächtigt hatte, wegen Verleumdung zur
Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum
Prozeß kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht,
am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nämlich, daß wenn
Zabel alle diese Verleumdungen Vogts über Marx wiederholt und sie dabei
noch übertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben
konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx
selbst in Preußen für unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an
Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Prozeß abgeraten
hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete:
„Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei
uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in
einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz
reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische
Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte
betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise für diesen
Satz, und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und
zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in
reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich muß die Erinnerung daran gewaltsam
unterdrücken. | 2,203 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_56 | 346 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen
Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie
Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom
ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewältigt und
niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu
werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer
Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen höre. Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu
unsern Richtern zu sein. „Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du. ‚Jedenfalls,’
sagst Du, ‚liefern mir die Preußen so ein Material in die Hand, dessen
angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!’ Nein,
lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht,
daß Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als
wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest
man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen
wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein
armseliges Wörtchen davon bringen. Sie werden sich hüten! Und unsere
liberalen Blätter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein
Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen
Richterstand’ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken
schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei
vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde
schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis
zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die deutsche Zunge reicht’,
ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel
liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel! ich weiß wirklich keinen anderen Ausdruck für sie -- es ist die
reine ......”
Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck
wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen. Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im zweiten Band der
Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz über Lessing, den er
bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: „Lessings Leben und
Werke” geschrieben, und ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches
Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen. Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig unbedeutend. | 2,482 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_57 | 392 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Er ist noch
vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich
sehr stark an die Ausführungen an, die Heine in „Über Deutschland”
mit Bezug auf Lessings Bedeutung für die Literatur und das öffentliche
Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing
als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des
Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit der Situation des
derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche
Situationen erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm da wohl Heines
Ausspruch vorgeschwebt haben: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann,
der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und
dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!”
War es doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu
werden. Wie im Hutten des „Franz von Sickingen”, so spiegelt sich auch
im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es
fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. „Allein wenn wir den
Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte
durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” fragt Lassalle, und
um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten
Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu
lösen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum „Spartakus” eine
Stelle, wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: „Ich höre,
du philosophierst, Spartakus”, zurückgibt:
„Wo du nicht willst, daß ich philosophieren soll -- Philosophieren,
es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!”
Zwei Dezennien darauf sei in der französischen Revolution diese
Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr
„wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus
und dem Konsul der Zukunft”. Fußnoten:
[4] Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der ursprünglich Vogt in
Schutz genommen, schon früher zugegeben. [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre von Engels „Savoyen,
Nizza und der Rhein”. Lassalle hatte in seiner Broschüre die Annexion
Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn
Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende Kompensation
erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. Engels weist nun
nach, welche außerordentlich starke militärische Position der Besitz
Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe,
was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen
preis, weil es im Moment mehr dafür eintauschte, die Schweizer waren
aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner,
Stämpfli, Frey-Herosé u. | 2,708 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_58 | 391 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | a., taten ihr möglichstes, die Überlieferung
des bisher neutralen Savoyer Gebiets in französische Hände zu
verhindern. Im „Herr Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver
die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen
hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher Blick auf die
Landkarte. [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: „Nur daß zum
Glück auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum
erscheint mir der revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.”
Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre? [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in
griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die
russische Revolution mit der Auflösung des russischen Imperiums den
größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die
auch Wendungen enthält, zu denen ich mich grundsätzlich nicht mehr
bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen,
weil sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo sie
geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866
geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte. In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle
Abänderung erfahren, die mir deshalb der Erwähnung wert erscheint,
weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der,
wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins
Deutsche zurückübersetzt lautet die Einleitung dort:
„Wohin hat die preußische Lösung der nationalen Frage Deutschland
gebracht? Lassen wir die Frage Elsaß-Lothringen beiseite -- die
Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und
betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenüber Rußland
und dem Panslawismus. Österreichs Verdrängung aus dem Deutschen Bund”
(weiter, wie im Original). Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens mit keiner Silbe
erwähnt war und sie für Engländer damals noch kein spezielles
Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr,
ihrer zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu
bezeichnen -- „an additional blunder” heißt es im Englischen. Ein
Beweis, wie wenig Engels diese Annexion für endgültig ansah. Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt wird: „Deutschland
gebracht”, war durch die Rücksicht auf das andre Lesepublikum von
selbst geboten. Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen
diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen. [8] Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand
Lassalles”. Die Verfasserin ist nun auch längst aus dem Leben
geschieden. | 2,646 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_59 | 374 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | [9] Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches Verhältnis
zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine
ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil die
Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, neben sich
noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine
ganze Abhandlung über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand
Lassalles, Nachtrag.)
Das System der erworbenen Rechte. Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles wissenschaftliches
Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur für den Rechtstheoretiker
geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den
praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich näher als die Materie des
„Heraklit”, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die
Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht
gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein „Riesenwerk
menschlichen Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen so
ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der erworbenen Rechte”
zugleich von der außerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem
großen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus
allen diesen Gründen wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei
diesem Buche etwas länger aufhalten. Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers dieser Abhandlung,
ein Urteil darüber zu fällen, welche positive Bereicherung die
Rechtswissenschaft dem „System der erworbenen Rechte” verdankt. Das
vermag nur der Kenner der gesamten einschlägigen Literatur, der
theoretisch gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, die
Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die
Art, wie er sie löst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner
Lösung zugrunde liegt. Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile
zerfallende Gesamtwerk trägt. „Eine Versöhnung des positiven Rechts und
der Rechtsphilosophie.” Lassalle führt in der Vorrede aus, daß trotz
Hegels Versuch, eine Versöhnung zwischen dem positiven Recht und dem
Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen
und Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst vor Hegel
gewesen. Die Schuld daran trügen aber weniger die ersteren als die
letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials
einzudringen, hätten sie sich begnügt, „im Himmel ihrer allgemeinen
Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich
zu bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche
ein wahrer „horror pleni”, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran
indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich hervorgehoben
habe, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in
die Erfahrungswissenschaften. | 2,810 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_60 | 386 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Hegels „Rechtsphilosophie” konnte, führt
Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe
erschien, „als der erste Versuch, das Recht als einen vernünftigen, sich
aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, als etwa die
allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst”. Hätten nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, bei den
„dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben -- „Eigentum, Familie,
Vertrag usw.” -- stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, eine
Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen
Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu
schreiben, so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen
positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß mit den
abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag,
Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der römische Eigentumsbegriff
ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der römische
Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der
römische Familienbegriff ein anderer als der germanische
Familienbegriff usw., d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das
Reich des historischen Geistes gehörend, es nicht mit logisch-ewigen
Kategorien zu tun hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur
Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des
geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und
Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind.” Eingehend
und erschöpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des
vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem
Beispiel desselben der Beweis geliefert, daß „jene Hegelsche
Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der
Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben werden muß und
nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre
Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu
erzeugen ...” Das gelte aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen
Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und wenn die Zeit
theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte, -- „man
kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas
(ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle mit berechtigter
Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies
in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von
ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im
Grunde nur „dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, die „nur
auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden soll. Es sind immer
die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die
nur gegen Hegel selbst Recht behalten”. | 2,821 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_61 | 381 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Hegel habe, wegen
unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht
häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin. „Wenn er die römischen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten
Verstandes auffaßte, so werden wir auf das Positivste im ganzen
Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von
unseren Juristen, von den römischen aber das strikte Gegenteil gilt. Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die
des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht
durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit des
religiösen und künstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit
wird dann immer nur erwiesen sein, daß die Hegelsche Philosophie noch
weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, und daß der spekulative
Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System der erworbenen
Rechte.)
Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem
Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits
viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, aber er hält doch
nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der
Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen
Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form
der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der
Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung
und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen
Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem
Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich bei den
Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische
Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die
„Realisationen historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen die Frage
nach den Umständen, unter denen diese Geistesbegriffe sich
entwickelten, nach den materiellen Verhältnissen, deren Ausdruck sie
sind, ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar um und will
„im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich
rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß des
jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. So muß er
naturgemäß, auch bei dem größten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen
Folgerungen gelangen. | 2,389 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_62 | 341 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Als das „großartigste Beispiel”, an welchem diese ursächliche
Abhängigkeit des „angeblich rein Positiven und Historischen” von den
historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet
Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des
Werkes, der den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und germanischen
Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung.” Die Stärke dieser
Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchführung
des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glänzenden Darstellung. Durch alle hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den
Gedanken zu verfolgen, dem römischen Erbrecht liege der Gedanke der
Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde,
während im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne
Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade
das sei, was vom römischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres
Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt
die Schwäche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie
ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt diese zwar wieder und
immer wieder, läßt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter
liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt es, daß das römische Erbrecht
die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrückt? Von der römischen
Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt
es, daß das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der „Idee der
germanischen Familie”. Welches ist die römische Unsterblichkeitsidee? Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der
germanischen Familie? Die „sittliche Identität der Personen, die zu
ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes
oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns
im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, warum
diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen
konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die
Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Römer und Germanen aus
deren wirklichen Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die letzte
Quelle des Rechts erscheint überall der „Volksgeist”. Dabei verfällt
denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit
Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er
unterscheidet zwar zwischen römischem und germanischem Volksgeist, aber
er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße des römischen Volkes
und konstruiert einen, ein für allemal -- das ganze Jahrtausend von der
Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des römischen Weltreichs
-- maßgebenden „römischen Volksgeist”, der sich zum -- ebenso
konstruierten -- „germanischen Volksgeiste” etwa verhalte, wie „Wille
zu Liebe”. | 2,864 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_63 | 396 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Allerdings darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit, wo Lassalle sein
„System der erworbenen Rechte” schrieb, die eigentliche
Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der
römischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen
lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen
Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß
er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er sie nicht
einmal richtig stellte. Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich
durch Morgans epochemachende Untersuchungen über die Gens (Sippe) ist
genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der
verschiedenen Völker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die
Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als
die germanischen Stämme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit
eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der
Barbarei durchzumachen; der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von
der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten
noch in Gentilverbänden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden
Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor:
ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein
Ding der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat
die „Liebe” -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem
altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Römern war dagegen schon vor
Abschaffung des sogenannten Königtums die alte, auf persönlichen
Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf
Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche
Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an
Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Verbände als
wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das römische Testament
erwächst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen
römischen „Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben
Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist schuf, der das
Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung[12] erfüllte. Wenn die
Römer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt
das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem
die symbolische Handlung -- die Willensübertragung -- die Hauptsache,
der substantielle Inhalt derselben -- die Vermögensübertragung --
reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch
weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Völker überhaupt alle
wichtigen ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; es sei nur an die
Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der
Grenzmarken usw. erinnert. | 2,784 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_64 | 385 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Was würde man von einem Historiker sagen,
der den römischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausfluß der
besonderen Natur des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer
speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten
Äcker Nebensache, der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache gewesen
sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des
Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes
Terminus zurückführen wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den
Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der
Testamente bei den Römern bezeichnet, in der römischen Mythologie den
letzten Grund dieser Rechtsschöpfung erblickt.[13]
Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie
unlogischen Behauptung, daß, wenn das römische Zwölftafelgesetz für den
Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem
nächsten Agnaten (Verwandte männlicher Linie) und, falls kein Agnat
vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, daß das Testament
auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das
Intestaterbe aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden sei. Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz, obwohl es die
Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung
an. Es konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz der
Testierfreiheit, daß derjenige erben soll, dem der Erblasser
testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein
Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder in Kraft, die
urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nächste Agnat und dann die
Gens, der ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut
erscheint auf den zwölf Tafeln als letztes, weil es als das älteste das
umfassendste ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz bildet. Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus
hervor, daß er sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff des
Willens” aufgebauten römischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal
gezwungen sieht, zu behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee der
Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde
liegt” und die Agnaten als „die durch das Band der Gewalt vermittelte
Personengemeinschaft” bezeichnet. Als gläubige Althegelianer haben die
alten Römer „mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” den „tiefen
Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, daß der nicht ausgedrückte
Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat
„den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen
Organisation derselbe verwirklicht ist”. | 2,646 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_65 | 365 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Das Testament, die
Testierfreiheit, ist danach älter als der römische Staat, aber das
Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat hat eines schönen
Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidiärerben eingesetzt,
und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, sondern in ihrer
Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der
Willensidentität. Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben,
daß es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat,
die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr vielmehr eines der
Rechte, eines der Ämter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen,
ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, daß erst mit der Lockerung
des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich
wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit. Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte er, wie alle
Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm über das Wesen des
ursprünglichen römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu
falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit näherzukommen,
als seine Vorgänger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren,
schneidet er sich jede Möglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu
erkennen. Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beiläufig ebenfalls
Hegelianer -- hatte römisches Intestaterbe und Testamentserbe als
miteinander kämpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei
Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine
historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu
erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, so richtig ist der ihr
zugrunde liegende Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen
Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen Rechtsbegriffe auf
verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt
gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler der historischen Schule”,
das „aus dem Gedanken Abzuleitende” als ein „äußerlich und
historisch Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern Seite erklärt
er es als einen „Grundirrtum”, wenn andere Rechtsphilosophen von der
Auffassung ausgehen, daß „das römische Intestaterbrecht seinem
Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich ist es wirklich
nichts anderes. Nur daß die hier in Betracht kommende Familie sich
nicht mit der römischen Familie deckt, sondern den weiteren
Geschlechtsverband umfaßt[14]. Wir können auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber
aus dem Bisherigen schon, daß der so kunstvoll ausgeführte Bau
Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht. | 2,676 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_66 | 373 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | So geschlossen und
streng folgerichtig daher die Beweisführung, und so geistreich auch die
Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er
mit dem ganzen Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, hat er
nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee ist nicht die
Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des römischen Testaments,
sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt
bestehen, auch wenn der religiöse Hintergrund verschwindet. Und gerade
in den vielen Formen und Formalitäten, von denen die Römer die
Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig machten, liegt unseres
Erachtens ein weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie Lassalle
meint, die frühere, sondern umgekehrt die spätere Einrichtung gewesen
ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das
römische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme
bildete, während das Intestaterbe noch die Regel war. Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie
zieht, daß das Testament nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee --
der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem Tode -- zu begreifen
sei, daß es mit dieser „begrifflich” stehe und falle? Daß das moderne
Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit der
christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des
nicht mehr auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in sich
zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, nichts als ein großes
Mißverständnis, eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies
führt uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite,
trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist. Der erste Teil des „Systems der erworbenen Rechte” führt den
Untertitel „Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der
Gesetze”. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen
Grundsatz zu ermitteln, der ein für allemal die Grenze anzeigen soll,
unter welchen Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende Kraft haben
dürfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoßen. Mit anderen
Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder
Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das erstere und wann das
letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als „erworbenes” zu
respektieren, wann es ohne weiteres der Rückwirkung unterworfen sein
soll. Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gerügte Fehler der
Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, während alle ihre
Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen Denkens, das Verständnis --
innerhalb der bezeichneten Grenzen -- für das geschichtliche Moment,
verbunden mit revolutionärer Kühnheit in der Verfolgung eines Gedankens
bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung
gelangen. | 2,811 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_67 | 396 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als
bei der Untersuchung über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie hoch
oder gering man immer die Erörterung solcher rechtsphilosophischen
Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß
Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise löst, daß sowohl der
Jurist wie der Revolutionär dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist
gewiß eine respektable Leistung. Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als Normen auf:
a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die
Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.”
b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne
Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das
Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein
menschlichen oder natürlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen
Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft
selbst in ihren organischen Institutionen ändert.”
Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbürgerlichen
Befugnisse der Angehörigen des Landes ändert, tritt sofort in Kraft,
läßt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher
ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberührt, auch wenn diese
Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das
zur Volljährigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht,
so verlieren alle Personen über 21 und unter 25 Jahren sofort die an die
Volljährigkeit geknüpfte Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen,
denn sie besaßen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die
Rechtsgeschäfte, die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die ihnen
bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue
Gesetz nicht zurück. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch
individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein
erworbenes Recht. Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist
nicht unter allen Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das Individuum
kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern,
insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen
Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” Jedem Vertrage sei „von
Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das
in demselben für sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange
Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht
überhaupt als zulässig betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des
Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame Bewußtsein des
ganzen Volks, der allgemeine Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts
könne sich daher das Individuum „niemals der Einwirkung des
allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen. | 2,789 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_68 | 391 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Nur ein solches
Individuum würde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten können,
welches, wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein Recht weder
erwerben noch ausüben und haben wollte.” „Es läßt sich vom
Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst
desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftigen
zwingenden und prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres als
„diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” liege in der
Forderung, daß „ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern
soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen”. Wenn
also „der öffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt
ist, den Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft,
Hörigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und
Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit,
fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschließen”, so
könne dabei „von irgendwelcher Kränkung erworbener Rechte ... gar
nicht die Rede sein”. So seien denn auch die Dekrete der berühmten
Nacht vom 4. August 1789, durch welche die französische
konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft
herfließenden Rechte aufhob, von „jeder Rechtsverletzung und
Rückwirkung” frei gewesen. Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein
Recht der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, auch da noch
anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom öffentlichen
Bewußtsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist,
heiße „vermöge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als
Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem öffentlichen
Geiste einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”. Von einer Entschädigung könne nur da die Rede sein, wo nicht das
Rechtsverhältnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung
aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von
Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre
des Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt werden. Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die französischen Versammlungen
nach 1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des Begriffs”
innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preußische Gesetz vom
2. März 1850 über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen
und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts
als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewußtsein
verordnete Vermögensverletzung der ärmsten Klassen zugunsten der
adeligen Grundbesitzer, d. h. „logisch-konsequent” nichts als „ein
Raub”[15]. Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte,
keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die
aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil über die
Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle,
der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch. | 2,928 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_69 | 395 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Was
aus dem ersteren folge, sei vielmehr, daß jede Zeit autonom sei, keine
Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine
„rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst noch fortwirken zu
lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von
jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut
würde”. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er
weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen,
in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrückt
habe. „Denn zum Begriff des Rechts gehört nur, daß der Volksgeist einen
geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre,
d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umständen
nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatsächliche
Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.”
Diesen Grundsatz finde man schon bei den römischen Juristen, und die
französische Gesetzgebung während und nach der französischen Revolution
habe ihn von neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent
recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionäre, es
ratifizieren müssen, wenn er die französische Revolution in ihren
rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms,
datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgänge in
Preußen und weist nach, wie im Gegensatz zur französischen Jurisprudenz
das preußische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen über das
durch die Märzrevolution von 1848 geschaffene und in der preußischen
Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrücklich anerkannte neue
Rechtsbewußtsein, daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind und
Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch Wortkünste hinweggesetzt,
Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer
„Reaktionskonvent” betätigt habe. Vier Jahre, nachdem das „System”
erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation
des Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den „liberalen
Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel
Anspruch hatte. Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen erstens durch individuelle
Willensaktion vermittelt und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem
erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die
Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der französische Konvent im
Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, daß die
Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die
seit dem 14. Juli 1789 eröffnet worden, so verstieß er damit nach
Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im
Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22. | 2,813 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_70 | 398 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Ventose desselben Jahres in
Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das Gesetz
„nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem großen
Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien
entwickelt” habe, aber das Prinzip der Nichtrückwirkung nicht einmal
„auch nur in Frage stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann
eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. das Gesetz auch auf
die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften ausdehnte. Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts
zurückzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen über römisches
und germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, auf Testamente und
Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der „Reihen, in welche die
Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende Erbrecht war danach in Rom
„erworbenes Recht”, denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der
„Substanz” des römischen Volkes, nämlich der Idee der Unsterblichkeit
des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht --
Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer
Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität
der Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen
Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe
hat”. Die Familie erbt, weil das Eigentum überhaupt nur
Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber,
nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, „nicht mehr
auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der
Familie als durch den präsumierten Willen des Toten berufen, sondern
auf der Familie als Staatsinstitution”, auf dem „die
Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des
Staates”. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht,
von dem wir jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine kompakte
theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder Intestaterbfolge noch
Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern „Regelung der
Hinterlassenschaft von Sozietäts wegen”. | 2,066 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_71 | 285 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Und Lassalle schließt sein
Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das Testament nicht
in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen
habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima
esset immortalis” -- „Testamente aber wären mit vollem Recht durchaus
null und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.”
Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklärung, was Lassalle meint,
wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den
Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht bald zeigen, daß sich aus
unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere
Folgerungen über das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben?” Was
auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, können
der Staat oder die Sozietät auch jederzeit ändern, einschränken oder
ganz aufheben, wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint. Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der
erworbenen Rechte „nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf eine
Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so
kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das
ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrücken würde -- nach
dieser Umsetzung schreit. Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den
Worten beginnt, daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft
gelöst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein
könne und dürfe, als „die rechtswissenschaftliche Herausringung des
unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen
Gedankens”? Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst? Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr
zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu
sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die
Darlegung, daß im allgemeinen „der kulturhistorische Gang aller
Rechtsgeschichte” darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre des
Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des
Privateigentums zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in
sehr feiner Entwicklung ausführt, mit Recht den größten Wert. Sie ist
ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk
begriffsscharfer Logik. Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn
sein Beispiel vom Wesen des römischen und germanischen Erbrechts
maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwäche dieses
Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu
rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen
Volksgeiste ab. | 2,682 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_72 | 379 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen
Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser
Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem
und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben
tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in
letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen
Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ändern
sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den
materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich wird. Dann entdeckt der „Volksgeist”, daß dieses Erbrecht seinem
Rechtsbewußtsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen
Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint nur als die letzte
Instanz, die über ihren Bestand entscheidet, tatsächlich ist er so
etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind
die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die
Verhältnisse, unter denen es die Gegenstände seines Bedarfs
produziert[16]. Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtümer der
alten Juristen und Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? Der
Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto
größeren Schaden für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der
Sphäre des juristischen und philosophischen „Begriffs” bleibt. Aus der
„begrifflichen” Ableitung sollen sich die Dinge erklären, die
„begriffliche” Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung bloßlegen. Die
Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre
eigenen Entwicklungsgesetze. Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger Jurist. Er brachte von
Hause aus außergewöhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf
mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte diese Eigenschaft noch
stärker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen
Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu
verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft
Glänzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche. Die juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die
sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt
sich schon hier im „System der erworbenen Rechte”, es bildet die
Schwäche dieses Werkes, es sollte sich aber auch später in seiner
sozialistischen Agitation zeigen. Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in
Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt dagegen
in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese. | 2,689 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_73 | 383 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Das ist
um so merkwürdiger, als der Schritt, der geschehen mußte, um die
Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, längst
angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte. 1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen Jahrbüchern in einem
Aufsatz, der obendrein den Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie”, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift „La
misère de la philosophie” ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx
und Engels im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner Anwendung
geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859
erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” unter
ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten Aufsatz, geschrieben:
„Meine Untersuchung” -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung
bildete -- „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie
Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der
sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern
vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Es ist
nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” Und obgleich
Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am „System” arbeitete,
obwohl er sich Marx gegenüber in den begeistertesten Ausdrücken über
es äußerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die
im Sinne des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein Vorwurf
gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wäre im höchsten Grade
abgeschmackt. Wir führen es an zur Kritik seines Standpunktes,
seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die
ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen
Auseinandersetzung mit Marx über die im „System der erworbenen Rechte”
aufgestellten Theorien des Erbrechts. Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß sich Marx sofort gegen diese
auflehnen mußte, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im
direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen
Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor,
daß die, übrigens nicht lange, brieflich geführte Debatte sich im
wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament
nur aus der römischen Mythologie, der römischen Unsterblichkeitsidee, zu
begreifen sei, und daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals für
sich allein das Testament habe entwickeln können, wenn sie es nicht
schon im römischen Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz
charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die
ökonomische Entwicklung beziehen, Lassalle schließlich immer wieder mit
juristisch-ideologischen Wendungen antwortet. | 2,744 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_74 | 392 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Die grundsätzliche
Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in
dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, zum
sprechendsten Ausdruck. Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen
geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das „System der erworbenen
Rechte” eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen,
der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, höchst anregende und
genußreiche Lektüre. Fußnoten:
[10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit
derjenigen Rechtsgrundsätze, die durch die philosophische
Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der
Rechtsverhältnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen
angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es werden daher
vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende
Begriffe gebraucht. [11] Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums
und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen”. 1. Aufl. S. 93. [12] Um das Jahr 450 v. Chr. [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß das Aufkommen des
Ahnenkultus bei allen Völkern mit dem Übergang vom Mutterrecht zum
Vaterrecht zusammentrifft. [14] Übrigens brauchen auch die Römer das Wort familia nicht bloß
zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden
Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls für den mehr oder
minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des römischen
Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrücklich zwischen
der „familia” im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im
weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle
diejenigen gehören „... die aus demselben Haus und derselben gens
hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die betreffende Stelle ein
weiterer Beweis, daß das römische Intestaterbe -- kein Familienerbe
gewesen sei. „Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht
der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben wollen!”
[15] Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung von
Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen von der Volksvertretung
erpreßt wurden, sagt Lassalle manches kräftige Wort. | 2,257 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_75 | 301 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | „Wenn eine
Staatsregierung”, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der
preußischen Regierung eingebrachten und solche Entschädigungen
stipulierenden Entwurf -- „die unbegreifliche Schwäche hat, einen
solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich
auf das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer
pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese
Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie
wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit
des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” Was
hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert hätte, noch nach
dreißig Jahren werden in Preußen solche „Schwächen” und solche
„Pflichtvergessenheit” berechtigte nationale Institutionen sein! Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß,
als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die Tories nicht die
„Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich aus ihren jetzt unspekulativ
gewordenen Güterankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen
Geist zu drehen!” Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er
erfahren haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war,
als das richtige „praktische Christentum”. Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, die Neuauflage
des „Systems der erworbenen Rechte” zu besorgen, gerade Lothar
Bucher zufallen mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten
Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, den
Nachweis zu versuchen, wie das „System in den Gesetzberatungen der
letztverflossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden
können”. Tatsächlich schlagen die meisten der dafür in Betracht
kommenden Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins
Gesicht. [16] Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar zu mechanisch
vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen können die
religiösen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem
Begriff des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum einen
großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse
ausüben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung
hindern oder verlangsamen. Schließlich sind es doch immer die
Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich
hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung
zugrunde liegen. [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es „ein
Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung hingerissen” habe. Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das
Arbeiterprogramm. Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee,
in Berlin ein demokratisches Blatt im großen Stil zu gründen. | 2,762 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_76 | 377 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | Wie er
über die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie
er danach dürstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in
Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV. eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle
daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt
wären, nach Deutschland zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches
Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten Brief”, schreibt er unterm
11. März an Marx, „fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König stürbe
und Amnestie einträte, zurückkommen würdet, hier ein Blatt
herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nämlich für
diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden
Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein großes Blatt
herauszugeben. Würdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein,
herzukommen? Und wieviel Kapital wäre zu einem großen Blatte
erforderlich? Würde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu
aufbringen könnte? Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir
darüber schriebst, denn ich denke gern an dies château en Espagne!”
In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und
am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen in der Tat eine
Amnestie herbeigeführt hatte, schreibt er dringender: „Noch einmal
stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um hier ein
Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der „Neuen
Rheinischen Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher
zurückkehren?”
Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frühjahr 1861 in
Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die
ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben
und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja „stets
in der Minorität”! Dann aber legte die preußische Regierung die
Amnestie so aus, daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch
mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehörigkeit zum
preußischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs
ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Anträge
genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von
Ausländern überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten
Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben der Regierung abhängen
sollte, jeden davon wieder „abschieben” zu können, dessen Rückkehr
ihr „unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx eingereichtes
Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen
abgelehnt, da, wie es in einem vom 11. | 2,608 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_77 | 396 |
44722-0-3 | Gutenberg | 9,985 | November 1861 datierten
Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hieß,
„zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Gründe vorhanden sind,
welche für die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen
könnten”. Damit war natürlich jeder Gedanke an eine Übersiedelung von
Marx nach Berlin ausgeschlossen. Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Gräfin Hatzfeldt
eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr
instruktiv” für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf
Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er „fast alle
leitenden Persönlichkeiten” in den verschiedenen Städten, die er
besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift
„Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles”
zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr. Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, hat Lassalle bei jenem
Besuch Garibaldi zu einem militärischen Unternehmen in großem Stil
gegen Österreich zu überreden gesucht und den Plan dann in London
auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum
Diktator aufwerfen, eine große Armee bilden und mit dieser über
Padua noch weiter vordringen, während zugleich ein an die adriatische
Küste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken und die
Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb
interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener
Zeit die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, die
unter anderm die erstrebte Lösung der deutschen Frage bringen sollte. Zu erwähnen ist noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach Italien
einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischärler
Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne
auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über Becker Lassalle
jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn
gar nicht” -- schreibt er über Becker an Marx zu seiner
„Information” -- „die, die ihn kennen, halten ihn für einen Blagueur
und Bummelfritz, für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, der
eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche
liegt.” Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx'
Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. „Du weißt, wie oft wir in
die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hüten als vor
unseren Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp war doch
jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Großsprecher, sondern
hatte wiederholt für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden,
auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es Lassalle also schon ankommen
lassen können. | 2,667 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_78 | 397 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Die
Fortschrittspartei verfügte über die große Mehrheit der Kammer und
über fast die ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die
das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten
hegten, um sich ihr anschließen zu können, hielten es für gut, ihr
zunächst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren
Kampf mit der preußischen Regierung zu Ende führen werde. Lassalle war mit denjenigen Männern, die den Mittelpunkt der
Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit
zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem
Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische Berliner
„Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das,
„wenn auch häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit
viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Preßfesseln zur
Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im
allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter
verteidigt”, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der
„Neuen Rheinischen Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären”
Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso theoretisch falsch wie
praktisch verderblich” erklärt. „Wir müssen”, schrieb er, „in
bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen
Nüancen ebensosehr die Identität, als den Unterschied unsres
sozial-revolutionären Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den
Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.”
Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt
haben, alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien den
reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre ich entschieden, daß ich
diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr überall à outrance
bekämpfen werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx
mit, daß er die Weigerung der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung
von ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als Anlaß benutzt
habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. „Umgang
meine ich, denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze den
Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte Gelegenheit noch
mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß
ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen
Gesindel gar kein Verhältnis möglich, und so werde ich denn dies
benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natürliche
Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.” In der vom 27. | 2,504 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_79 | 363 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | März
1861 datierten Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” finden wir
denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten
Angriff auf die „Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den
Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung und
Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” fassen, die sie zwingt,
„sich an bloße Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und
für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle doch mit andern
Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin
selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß
politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten. Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewöhnliche
Salonlöwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder
radikaltuende Künstler, wie Hans von Bülow usw., sich der intimen
Freundschaft Lassalles rühmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der
Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar
unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum
Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich
Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862). Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft
zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen „reizende
blondlockige Frau” jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde
ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate
darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: „Beiläufig, mit dem ganz
gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und fügt
recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, daß seine Frau die
Veranlassung davon bildet.”
Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher,
der nach Erlaß der Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war und sich
in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern
gehörte einer zahmeren zoologischen Gruppe an. Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit bestätigen, daß
dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war,
die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknüpften. Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den
Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rüstow schrieb, „in
langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen”
für seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf
eine am Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle Bezug und führt aus,
daß er es zwar für möglich halte, die bestehende Ordnung -- „oder
Unordnung” -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht,
sie niederzuhalten; mit andern Worten, daß die Zeit für eine
sozialistische Revolution noch nicht reif sei. | 2,797 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_80 | 397 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | „Bedenken Sie dazu noch
eins: daß jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit
hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns
eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine ähnliche Bewegung
wachrufen würde.” Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er
nur „die lahme Antwort Machiavellis”: Politik ist die Wahl unter
Übeln. „Ein Sieg des Militärs” -- d. h. der preußischen Regierung!! -- wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen Österreich wäre
kein Sieg des reaktionären Prinzips”. Dafür stelle er Lassalle als
Zeugen die „Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand gegen
Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schluß zu, daß
Lassalle eine Revolution erzwingen zu können glaubte und im Hinblick
hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen hatte. Damit war der
obenerwähnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu
gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der
für gewöhnlich in politischen Dingen ein sehr nüchterner Rechner war,
zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von
französischen, ungarischen oder italienischen Revolutionären angeregt
worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien
kennengelernt, muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rüstow um ihn
wußte und, wie Lassalle Marx erzählte, ihn gebilligt habe, mag er
auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militärs
zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, daß er Lassalles
eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles
übereinstimmte. Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß zu einer Revolution in
Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes
war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rückkehr zum
Studiertisch nötige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an
die große national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen,
verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen,
was bei dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen Leben übrigens
nur durchaus erklärlich war. Die erste Leistung, mit der er zunächst an die Öffentlichkeit trat, war
das gemeinsam mit Bucher verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der
Literarhistoriker”. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt
zusammengeschriebenen „Geschichte der deutschen Literatur” ist, zeigt
das Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt getroffen werden
sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm
mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte „Julian der
Grabowite” füglich der Ausdruck werden können, „welcher den geistigen
Höhepunkt dieser Partei kennzeichnet”. | 2,676 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_81 | 391 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Eine etwas übertriebene Logik,
wie es überhaupt in der Schrift an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war
der Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da gerade in jenen
Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelöst und Wilhelm I. ein
Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War
nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der
Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese
zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage
gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie in einem Augenblick traf,
wo sie zufällig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die
Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe
Geißelung der bei ihm oft in „gespreizter Bildungssprache” sich
wichtig machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt. Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe die größten
Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft fälschende und
tendenziös-gehässige Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das
Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, während Lothar Bucher
als „das Setzerweib” vorgeführt wird. Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, in einem Berliner
liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte
Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht möglich war --, den Führern
der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mündlich
gegenüberzutreten. Als Thema wählte er die Frage des Tages: den
ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung
hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen”
betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er
entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm
ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind
Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten
Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist; ein Volk
besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkür der
Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch
ohne die Verfassung sich gegen sie zu schützen. Es sei daher der größte
Fehler gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu
ändern und vor allen Dingen das Heer aus einem königlichen in ein
Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung
so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschöpft
hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder
einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, möge man diese
Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten
Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen --
d. h. | 2,728 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_82 | 398 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | als dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen Verhältnisse
weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. „Das Fürstentum, meine
Herren,” heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht
Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen
wären.”
Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar
richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie
trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die
Übersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hieß, die
Partei aber -- ein Teil der Führer überhaupt nur, der andere jedenfalls
zunächst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte. Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der
Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im großen
und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den
Zeitpunkt für eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch
Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen
Gründe, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen,
dieser Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion,
daß man für die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese
verletzte, für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine viel
günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene
Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen
Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich
wenigstens alle moralischen sichern. Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder
Fortschrittler -- ja, jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben
konnte, war er daher doch den Führern der Fortschrittspartei höchst
unangenehm, während die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände
rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, das Organ der
Junker und Mucker. Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, wenn
der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch
deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage
zwischen Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil
dadurch ihre Position als einzig zuverlässige Stütze des Thrones eine
um so befestigtere wurde. Man muß nicht vergessen, daß die
„Neue Ära” Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron
der Hohenzollern von der allzu lästig gewordenen Vormundschaft der
ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenüber
dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mußte diese dagegen dem
König als das unbedingt kleinere Übel erscheinen. | 2,591 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_83 | 382 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei weiteren
fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, daß die
fortschrittliche Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- „auf
mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die
Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über
die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich
unter diesen Verhältnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter
entwickeln werde. Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im
Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel
Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: „Über den
besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der
gegenwärtigen Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte er vorher
sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht
einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus --
unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen
Reden. Eine ebenso klare wie schöne Sprache, gedrungene, flüssige,
nirgends überladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz
fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre
formellen Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit
einigen Einschränkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die
Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte
nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umständen, unter denen
sie gehalten wurde, angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen
Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache an der Hand konkreter
Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in großen Zügen
bereits vorgezeichnet ist. Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische
Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch
auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen gleichfalls
geschieht, die Betonung der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der
Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter vermöge ihrer
Klassenlage in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche
revolutionäre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die
Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des
kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des
„Arbeiterprogramms”, unter welchem Namen der Vortrag später in Druck
erschienen ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort wieder in
juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen
verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage
selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte man darin eine bloße
Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie
Anstoß nehmen möchte. | 2,783 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_84 | 385 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Indes es muß Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt
werden, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig
zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen nach einer populären
Redewendung, die ihn vom „Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand”
sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen
Vorstellungen. Es ist derselbe Rückfall, der ihn den Begriff des
Bourgeois nicht etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten
läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge seiner ökonomischen Wirkungen
und Kräfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen
Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes genießt oder
beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen
Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen,
verwischt er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer nur dann
einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung
eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des „Arbeiterprogramm”.)
Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als
bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal
der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin. Das preußische Dreiklassenwahlsystem, eingeführt von der
feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die bürgerliche
Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des
modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man
den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten
beschränkt, aber was wird dann aus dem „vierten Stand”? Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet
Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel
der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Daß
jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern
möglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den
Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhängig
macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache
umgestoßen, daß gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte
Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem
am stärksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von den 97
Millionen Talern, die der preußische Staat im Jahre 1855 aus Steuern
einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist
übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die 10 Millionen Taler
Grundsteuer einfach für eine indirekte Steuer, da sie nicht von den
Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis
abgewälzt werde. Das Abwälzen war aber keineswegs eine so leichte Sache,
solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die Zufuhr von
außen abgesperrt waren. | 2,803 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_85 | 388 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als
eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche
von den Grundbesitzern empfunden und bei Veräußerungen behandelt worden. 9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als eine indirekte
Steuer bezeichnet werden, da aber die ärmste Klasse keineswegs die
meisten Prozesse führt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur
Entlastung des großen Kapitals sprechen, wie immer man sonst über die
Justizgebühren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des großen
Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, daß
sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden
ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht. Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von
Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafür
anführt, daß „die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen
Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer
Konsequenz durchführe, als dies der Adel im Mittelalter mit dem
Grundbesitz getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in
Preußen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der
halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte bloß den
Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten
Entfaltung gediehen war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die
kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems die Presse, und
obendrein in noch viel höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des
großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig es natürlich war, gegen
diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es
wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, daß, wo er die
Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen
will, er hier ausschließlich formal-rechtliche Einrichtungen anführt,
den Einfluß der ökonomischen Faktoren dagegen gänzlich ignoriert. Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der
„Staatsidee”, einen Dithyrambus anzustimmen. Der „vierte Stand” hat
„eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck
des Staates als die Bourgeoisie”. Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der
liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates
einzig darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein
Eigentum zu schützen. Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die Geschichte sei „ein Kampf
mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der
Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns
befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte
auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das
ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt”. | 2,899 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_86 | 399 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu
vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei
„die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen”, sein Zweck
sei, „durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen,
solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie
als einzelne niemals erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe
von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als
einzelnen schlechthin unersteiglich wäre”. Und weiter sei sein Zweck,
„das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden
Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche
Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig
ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei „die Erziehung und
Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit”. So sehr sei dies
„die wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie deshalb seit
allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch
ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner
Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde”. Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft überhaupt
haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als
einzelne befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben dies die Bestimmung
des Staates sei und sein müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des
Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich diese „sittliche
Natur” des Staates „mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein”
zu seiner Aufgabe machen und „einen Aufschwung des Geistes, die
Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit
herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”. So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an
einem großen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen
Veränderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem
Begriff und Wesen nach als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes,
als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner „Idee”
zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft
erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen
Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff ist sozusagen
ein ewiger. | 2,270 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_87 | 335 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer
Festrede von Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen die
Staatsidee des Liberalismus” an die „antike Bildung” appelliert,
welche „nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes
geworden” sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff
des Staates sei dahin zu erweitern, daß „der Staat die Einrichtung
sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen
solle”. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus
berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie
des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so
weit schießt Lassalle hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten
beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden von denen der
Gegenwart, daß die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für die
Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa die Ideen der Alten über
die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike
Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs
eine auf die Neuzeit übertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die
Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” in
sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige
Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt
es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates
sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene
gewesen. Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein
Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den
jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat
unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit
gefördert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen. Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff
der Alten unverändert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag
ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten
Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der
Kultus des Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, und
wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein
direktes Eintreten für den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so
verhinderte diese doch nicht, daß jener Kultus später von den
Anwälten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten
ausgebeutet wurde. Das ist überhaupt die Achillesferse aller auf
abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär
sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in Gefahr ist, in eine
Verklärung bestehender oder vergangener Zustände umzuschlagen. | 2,655 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_88 | 376 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Lassalles Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner Lassalle
eines Tages mit den Streitern für das absolute Königtum und den
Revolutionär Lassalle mit den eingefleischten Reaktionären
zusammenführte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten
eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte. So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen
Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der späteren
Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind. Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an
die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus
ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. „Es ziemen
Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen
Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn
der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der
Gegenwart gebaut werden soll!”
Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so
vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare
politische Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei,
zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch
sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei einem
Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen
und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die
Broschüre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862
reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen
Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der
Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen „Aufreizung der besitzlosen
Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden”. Am 17. November
beschloß das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am
16. Januar 1863 kam der Prozeß in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz
einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem
Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten gleich überlegen zeigte, und
namentlich den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde Lassalle doch zu
vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens
den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine
verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme
der Broschüre blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ Lassalle den
Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zürich in Neuauflage erscheinen. | 2,455 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_89 | 341 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschüren über den
Prozeß in der ersten Instanz -- von denen die erste die
Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die Wissenschaft
und die Arbeiter”), die zweite den stenographischen Bericht über die
mündlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des
erstinstanzlichen Urteils enthält -- und schließlich auch unter dem
Titel: „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die
eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende
Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste
Verteidigungsrede eine außerordentlich geschickte und wirkungsvolle
Beweisführung dafür, daß der Satz in der preußischen Verfassung „die
Wissenschaft und ihre Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das
Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien
den breiten Volkskreisen vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse
infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche Verbündete der für
ihre Freiheit kämpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede über die
indirekte Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung mit sehr vielem
geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit
Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das
System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch
kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem
bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, während in der ersten
Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte
betont wurde. Eine eingehendere Würdigung dieser Reden findet man in den
Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier müssen wir vorerst wieder auf
die Zeit zurückgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war,
das Frühjahr 1862. Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher zunächst kein
besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von
der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den
Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der äußeren, politischen Tendenz
nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf
eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte
Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen
Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen
die Regierung spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel radikaler an
als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der
Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Großspurigkeit der
Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hörer, ob Arbeiter
oder Bürger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von
außergewöhnlichem Radikalismus. | 2,706 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_90 | 387 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der „Philosophischen
Gesellschaft” in Berlin war, noch in demselben Frühjahr von dieser dazu
ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum
hundertjährigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu
halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen
Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen
die leitenden Persönlichkeiten damals Anstoß. Da das Bürgertum in seiner
großen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch
Ideologie treiben. Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den „Demokratischen Studien”
Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm
jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu
halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes
Aufsatzes. Und Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht
entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen. Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des
deutschen Volksgeistes.” Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes Stellung
in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt. Weiterhin aber verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche
Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und
seine Bedeutung besteht darin, daß die Deutschen die hohe
weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem „reinen Geist” heraus diesem
„nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, sondern sogar „die bloße
Stätte seines Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. „Indem
hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts
Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen,
kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trägt
hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und
vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” Und
was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt
habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen
bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” und durchbebe „unter
dem populären und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes
edlere deutsche Herz”. Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des „reinen, mit
nichts Geschichtlichem verwachsenen” Geistes hinstellen -- das ging noch
über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit
großer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte
Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie
einige Blätter schadenfroh berichteten, verließen die Hörer zum großen
Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der Festrede, „um sich nach dem
Zimmer des leckeren Mahles zu verfügen”. | 2,710 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_91 | 380 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Sie vergaßen aber
hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der
philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gästen
zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen
lediglich des guten Tons halber besuchen. Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie,
zusammen mit dem „Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über
Verfassungswesen” durch Lothar Bucher an Marx. Er habe „etwas
politisch-praktische Agitation beginnen” wollen, schreibt er unter dem
9. Juni an letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag in vier
Vereinen gehalten. Außerdem einen weit längeren Vortrag über den
Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.”
Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe mich jetzt auch
entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn drucken zu lassen; er ist bereits
unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im
weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurück, daß
durch die intensivere Beschäftigung mit anderen Dingen in den letzten
drei Jahren die nationalökonomische Materie in seinem Kopf „gleichsam
fossil” geworden sei. Erst wenn „alles wieder flüssig geworden”,
werde er an die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur Kritik der
politischen Ökonomie” gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen
Besprechung und die Ausführung seines eigenen ökonomischen Werkes --
„welch letztere freilich sehr lange dauern wird”. Dieses Programm
werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im
Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der
Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz
gehen. Er entschied sich für das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal
an Marx, und zwar:
„Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit
Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rüstow
gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt. C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er
von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort
Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine
braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wünschenswert dies
wäre. Habe also die Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von
denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem
Ziel führenden Vorschub zu tun. Tue Dein Möglichstes. „Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London komme, nimmt zu. Berlin, 19. 6. 62. Dein F. | 2,531 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_92 | 387 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Lassalle.”
Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” standen im Lager des
„Nationalvereins”, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte
sie offenbar für Aktionen verwendbar machen, die zeitgemäß werden
konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme
d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre
sind eine weitere Bestätigung für das weiter oben von den
Revolutionsplänen Lassalles Gesagte. Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und
einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die mir
vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wäre aber falsch, daraus
den Schluß zu ziehen, daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den
beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber
wissen wir von Marx, daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen
ihm und Lassalle er dem letzteren die grundsätzliche Verschiedenheit der
beiderseitigen Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen
dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach
Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein. Um so
enger schloß sich Lassalle an Bucher an, der ihn später auch mit
Rodbertus in Verbindung brachte. Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preußische
Regierung der Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere Haltung
einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis plötzlich der
König in schroffer Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich auf keine
Konzessionen in bezug auf die Verkürzung der Militärdienstpflicht
einlasse und auch keine Neigung verspüre, um Indemnität für die
verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation einzukommen. Die
Kammer antwortete damit, daß sie die Forderung der Regierung, die Kosten
der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben
aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der
Mehrheit zu brechen, berief der König an Stelle des Herrn v. d. Heydt
den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am französischen
Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe
Betonung der königlichen Vorrechte war bereits im Einverständnis mit
Bismarck erfolgt. Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” und 1849 in der
Preußischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heißsporn
aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann”
entwickelt. | 2,440 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_93 | 345 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Er hatte die junkerlichen Ideologien über Bord geworfen,
um desto wirksamer die Interessen des „befestigten Grundbesitzes”
wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus aufgegeben, um
dem Königtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern,
daß die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die
Verantwortung für die Bedürfnisse und die Politik der Monarchie
übernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus
bekannten Regierungssystems übernommen, das, wenn es von Demokratie
spricht, Regierungsgewalt meint, und von Fürsorge für das Wohl der
Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der
Arbeiter im Schilde führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er
gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit
Revolutionären Geschäfte machen kann, von der bonapartistischen, wie
man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpönten Handlung
beschuldigen muß, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im
Begriff ist. Als Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit aller
geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende Aufrichtigkeit an
den Tag zu legen, um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr
Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um die Wahrheit nicht zu
sagen. Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem
wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung
in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch „Blut und
Eisen” gelöst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das
Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß bestehen, der Regierung
nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von ihr
anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklärung, die
Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde. Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die
Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, während
die Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” auf ihrer
Seite hatte. Indes, er wußte ganz gut, daß er sich auf die preußischen
Bajonette nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der
auswärtigen Politik, geeignet, die ehemaligen „Gothaer”, d. h. die
schwachliberalen Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, war
vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte also anderwärts Verbündete gegen
die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen. | 2,420 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_94 | 346 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß man in Berlin in
Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen
Arbeiterkongresses zur Erörterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls
ernsthaft zu betreiben, und daß in Zusammenkünften, die dieser Frage
galten, ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer
Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die
Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts nützten. Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen soviel Geschrei machten,
sei es nichts, nur der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, der
behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden
Äußerungen über die Schulzesche Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand
die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein
„Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen
Arbeiterkongresses und die Gründung einer selbständigen
Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das
Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des Kongresses nach
Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn
fühlte, rückte er schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der
Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die preußische Regierung
den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der
Gründung von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, daß Herr
von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Gründung einer
Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die
Maschinenbauer waren damals, und noch lange später, in Berlin die
Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natürlich müßten sich die Arbeiter
dazu entschließen, der Fortschrittspartei den Rücken zu kehren, die
eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei. Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig
den Arbeiterkongreß betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so
geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen Regierung zuliebe in den
Rücken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch
in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner
auffällig flotten Lebensweise, die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar
nicht paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse Anspielungen auf
eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da
er ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders
Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildfläche und
tauchte später als -- preußischer Polizeibeamter auf. Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung vom 16. | 2,582 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_95 | 362 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | September 1878,
August Bebel die Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum Fürsten
avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von
sich abzuschütteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung
für sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die
Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen
auf die Wirkung dieses Kunstgriffs ließ er sich zu dem Geständnis
verleiten, Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt für
Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, und daß ihm „bei der
Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, daß Herr Eichler im Dienste der
Polizei gewesen ist und daß er Berichte geliefert hat”. (Vgl. die unter
dem Titel „Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage”
veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die Beratung des
Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche
vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” seinerzeit
einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische Vettel” entpuppte
sich als -- das Berliner Polizeipräsidium. Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag
vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: „Was
nun?” Er beruft sich dort darauf, daß die Ereignisse den Ausführungen
in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, der
Kriegsminister von Roon und der gegenwärtige Ministerpräsident von
Bismarck hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind,
bestätigt. Gestützt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich
über die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun
weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer
Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar
kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht
der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur
Wahrheit zu machen sei, da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden
wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. Soll man zu dem Mittel
der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als
solche ein wirksames Mittel nur in den Händen eines Volkes, das, wie das
englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner
Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte,
einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen „werde
unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken”. Das
einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, sobald sie
wieder zusammentrete, „aussprechen das, was ist”. Das sei „das
gewaltigste politische Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung
unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren. | 2,768 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_96 | 396 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Sobald sie wieder zusammentrete, müsse sie unverzüglich einen Beschluß
fassen, daß sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze,
es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung behilflich
zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten,
und daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so
lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die
verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. Sobald die
Kammer diesen Beschluß gefaßt habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung
nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten würden mit derselben
Parole wiedergewählt werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht
regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach außen würden
so gewaltig darunter leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen sein
werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gäbe es
aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller
Ausgaben der Regierung würden nur Volk und Regierung an die süße
Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. Noch
schlimmer würde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromiß
einlassen, etwa für den Preis der Bewilligung der zweijährigen
Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um
die es sich jetzt handle. Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um
so größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn sie sich gezwungen
sehen werde, nachzugeben. „Um so mehr erkennt sie dann die
gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an,
wenn sie erst später umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen muß.”
Dann aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. Keinen neuen
Kompromiß mit dem alten Absolutismus, sondern „den Daumen aufs Auge und
das Knie auf die Brust”. Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine versöhnliche Haltung
gegenüber der Fortschrittspartei ein. Er will „der Einigkeit zuliebe”
alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe,
unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” und ihre Hintermänner, deren
Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese
„Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, die Regierung in eine
konstitutionelle „umzulügen”, einen sehr großen Teil der
Verantwortung für den jetzigen Stand der Dinge. Aber „Friede, meine
Herren, der Vergangenheit”! Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und
wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf seinen
Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit nur oratorische
Floskel war, um ihm später eine desto schärfere Position gegen die
Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. Es mag beides
zutreffen. | 2,730 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_97 | 393 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Daß er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den
Fortschrittlern grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher
gesehen, viele persönliche Beziehungen ließen ihm das sogar als
wünschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt ließ sich bei
der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen
Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler
sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einfluß auf ihre Taktik
einräumen würden, auf den er Anspruch zu haben glaubte. Fußnoten:
[18] Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht
aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die
Veröffentlichungen R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im
Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf. [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind Mitte der achtziger
Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.)
So dünn das Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im
Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über Lassalle dem
Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht
einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten
Lassalles den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten aus dem
Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen war. In einem der
Briefe ist von „Salingers genialer Komposition” die Rede. Der
Herausgeber, der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, macht
dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. Daß der Name Salinger
bzw. Solinger Pseudonym für Hans von Bülow war, wird dagegen nicht
einmal angedeutet. Bülow hatte die Komposition des Herweghschen
Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht. Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene
Antwortschreiben, politischer Teil. Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle
vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem
Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut,
wenn man es so schnell als möglich zum Äußersten treiben wollte, wenn
man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn
weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig -- mit einer
Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch
nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne
Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf
die Tribüne in der Kammer auf den famosen „passiven Widerstand”
hinaus, über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte. | 2,561 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_98 | 376 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Durch
beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und
drastisch „aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung ebenso
wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der
Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein
von Recht für die Außerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war
ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung
vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber dem Recht
hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” sagt B. Becker sehr gut,
„waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an
juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewöhnt und den Streit
der Kammermajorität mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit
zu betrachten geneigt.”
Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, daß er,
gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach
der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei Becker heißt, schrieb
Lassalle den Aufsatz „Macht und Recht”, in welchem er der
Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm
ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar
Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den
Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin, dessen Erklärung, daß in
Preußen „Recht vor Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem
ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen
hatte. „Es hat kein Mensch im preußischen Staat das Recht, vom
‚Recht’ zu sprechen” -- ruft er aus -- „als die Demokratie, die
alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht
festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt
hat.” Und: „Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr
allein wird die Macht sein!”
Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung an die radikale
Berliner „Reform” eingesandt, verschloß letztere -- für die Lassalle
noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre
Spalten, desgleichen die „Vossische Zeitung”. Die letztere lehnte auch
die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn
als „Offenes Sendschreiben” in Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl
dieses Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” der „Vossischen
Zeitung” eigentlich rechtfertigte, kümmerte ihn nicht weiter. * * * * *
Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages „Was nun?” (Dezember 1862)
und der Abfassung des „Sendschreibens” (Februar 1863) liegen wiederum
zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei
Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter
F. W. | 2,645 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_99 | 387 |
Subsets and Splits