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| | Informationen zu Korrekturen befinden sich am Ende des Texts. | +--------------------------------------------------------------------+ FERDINAND LASSALLE EINE WÜRDIGUNG DES LEHRERS UND KÄMPFERS VON EDUARD BERNSTEIN VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN 1919 ALLE RECHTE VORBEHALTEN COPYRIGHT 1919 BY PAUL CASSIRER, BERLIN _DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG_ Inhalt. Seite Vorwort 5 Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung 7 Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz von Sickingen 27 Ferdinand Lassalle und der Italienische Krieg 66 Das System der erworbenen Rechte 114 Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm 145 Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil 186 Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreibens. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit 213 Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 235 Lassalle und Bismarck 263 Lassalles letzte Schritte und Tod 285 Schlußbetrachtung 293 Vorwort. Die vorliegende Schrift wurde von mir in ihrer ersten Gestalt im Jahre 1891 verfaßt, als eine Einleitung zu der damals von der Buchhandlung „Vorwärts” veranstalteten Sammelausgabe von Reden und Schriften Lassalles. Der Umstand, daß ich zu jener Zeit noch in London lebte, dessen Bibliotheken nur Teile der Lassalle-Literatur darboten, und daß aus buchhändlerischen Gründen die Ausarbeitung der Schrift in einer ziemlich kurz bemessenen Frist geschehen mußte, hatte verschiedene Mängel zur Folge, die ich später oft bedauert habe. Daß nun eine Neuausgabe notwendig geworden ist, hat mir die ersehnte Gelegenheit geboten, hier zu bessern, was nach meiner eigenen Überzeugung und dem Urteil der von mir als berechtigt anerkannten Kritik vornehmlich zu bessern war. Insbesondere aber sind die in der Zwischenzeit erschienenen, teilweise recht bedeutsamen Briefe von, an und über Lassalle berücksichtigt worden, die dazu beigetragen haben, das Bild des großen Lehrers und Kämpfers ganz wesentlich einheitlicher zu gestalten, als es früher vor uns stand. Lassalle als Vorkämpfer zu würdigen war die besondere Aufgabe der Schrift. Von einem Mitglied der Partei, die in Lassalle einen ihrer Begründer verehrt, _für_ die Partei, also namentlich auch für bildungsdürstige Arbeiter geschrieben, hatte sie das Hauptgewicht darauf zu legen, die Bedeutung Lassalles als Lehrer und Führer der von ihm 1863 neu ins Leben gerufenen Partei in möglichster Klarheit zur Anschauung zu bringen. Das hatte insofern eine gewisse Beschränkung zur Folge, als das literarhistorische Moment ziemlich zurücktreten mußte. Die Schrift beansprucht nicht, mit Arbeiten zu rivalisieren, die Lassalle von der Warte des außenstehenden Geschichtsschreibers oder Literaturpsychologen behandeln.
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Aber dafür glaubt sie dasjenige Moment um so heller zur Erkenntnis zu bringen, das gerade in unseren Tagen im Vordergrund des Interesses steht und an dem Lassalle am meisten gelegen war: sein Wollen und Wirken als bahnbrechender Lehrer des Sozialismus und als politischer Führer der sozialistischen Demokratie. _Berlin-Schöneberg_, im September 1919. _Ed. Bernstein._ FERDINAND LASSALLE UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE Deutschland am Vorabend der Lassalleschen Bewegung. Seit es herrschende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete Klassen gibt, hat es auch Auflehnungen der letzteren gegen die ersteren gegeben, haben sich Staatsmänner und Philosophen, Ehrgeizige und Schwärmer gefunden, welche gesellschaftliche Reformen zur Milderung oder Beseitigung des Ausbeutungsverhältnisses in Vorschlag brachten. Will man alle diese Bestrebungen unter den Begriff Sozialismus zusammenfassen, so ist der Sozialismus so alt wie die Zivilisation. Hält man sich jedoch an bestimmtere Erkennungsmerkmale als das bloße Verlangen nach einem Gesellschaftszustand der Harmonie und des allgemeinen Wohlstandes, so hat der Sozialismus der Gegenwart als Ideengebilde mit dem irgendeiner früheren Epoche nur soviel gemein, daß er wie jener der geistige Niederschlag der besonderen, von den Besitzlosen geführten Klassenkämpfe seiner Zeit ist. Überall drückt die Struktur der Gesellschaft, auf deren Boden er gewachsen ist, dem Sozialismus der Epoche ihren Stempel auf. Der moderne Sozialismus ist das Produkt des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft, er wurzelt in dem Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und modernem Proletariat, einem Gegensatz, der schon verhältnismäßig früh in der Geschichte in wirklichen Kämpfen zum Ausdruck kommt, ohne freilich gleich im Anfang von den Kämpfenden selbst in seiner vollen Tragweite begriffen zu werden. In seinem Anlauf gegen die privilegierten Stände der feudalen Gesellschaft, sowie in seinem Ringen mit dem absolutistischen Polizeistaat sieht sich das Bürgertum zunächst veranlaßt, sich als den Anwalt der Interessen aller Nichtprivilegierten aufzuspielen, die Beseitigung ihm unbequemer und die Schaffung ihm behufs Entfaltung seiner Kräfte notwendiger Einrichtungen jedesmal im Namen des ganzen Volkes zu verlangen. Es handelt dabei lange Zeit im guten Glauben, denn nur die Vorstellung, die es selbst mit diesen Forderungen verbindet, erscheint ihm als deren vernunftgemäße, vor dem gesunden Menschenverstand Bestand habende Auslegung. Das aufkommende Proletariat aber, soweit es sich selbst bereits von den zunftbürgerlichen Vorurteilen freigemacht, nimmt die Verheißungen der bürgerlichen Wortführer so lange für bare Münze, als das Bürgertum ausschließlich Opposition gegen die Vertreter der ständischen Institutionen ist.
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Hat jenes aber einmal die letzteren besiegt oder doch soweit zurückgedrängt, um an die Verwirklichung seiner eigenen Bestrebungen gehen zu können, so stellt sich bald heraus, daß die hinter ihm stehenden Plebejer ganz andere Begriffe von dem versprochenen Reich Gottes auf Erden haben, als ihre bisherigen Freunde und Beschützer, und es kommt zu Zusammenstößen, die um so heftiger ausfallen, je größer vorher die Illusionen waren. Das Proletariat ist jedoch noch nicht stark genug, seinen Widerstand aufrechtzuerhalten, es wird mit rücksichtsloser Gewalt zum Schweigen gebracht und tritt auf lange Zeit wieder vom Schauplatz zurück. Dies war der Fall in allen bürgerlichen Erhebungen des 16., 17. und 18. und selbst noch der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die rasche Entwicklung, welche die Revolution der Produktionsverhältnisse in diesem Jahrhundert nahm, änderte jedoch auch das Verhalten des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie. Es bedurfte nicht mehr außergewöhnlicher Veranlassungen, um den Gegensatz der Interessen und Bestrebungen der beiden an den Tag treten zu lassen, er kam in den vorgeschrittenen Ländern auch ohne solche zum Ausdruck. Arbeiter fingen an, sich zum Widerstand gegen Kapitalisten zu organisieren, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung wurde vom proletarischen Standpunkt aus der Kritik unterworfen, es entstand eine antibürgerliche sozialistische Literatur. Verhältnismäßig unbedeutende Reibereien im Schoße der Bourgeoisie, ein bloßer Konflikt eines ihrer Flügel gegen einen andern aber genügten, um die tatkräftigeren Elemente des Proletariats als selbständige Partei mit eigenen Forderungen in die Aktion treten zu lassen. Die Reformbewegung des liberalen Bürgertums in England wurde das Signal zur Chartistenbewegung, die Julirevolution in Frankreich leitete erst eine rein republikanische Propaganda, dann aber sozialistische und proletarisch-revolutionäre Bewegungen ein, die zusammen an Ausdehnung kaum hinter der Chartistenagitation zurückbleiben. Literarisch und propagandistisch schlägt die Bewegung in den vierziger Jahren nach Deutschland hinüber. Schriftsteller und Politiker, die entweder als Exilierte oder um dem Polizeigeruch in der Heimat für eine Zeitlang zu entgehen, sich ins Ausland begeben, werden Proselyten des Sozialismus und suchen ihn nach Deutschland zu verpflanzen, deutsche Arbeiter, die auf ihrer Wanderschaft in Paris oder London gearbeitet, bringen die sozialistische Lehre in die Heimat zurück und kolportieren sie auf den Herbergen.
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Es werden geheime sozialistisch-revolutionäre Propagandagesellschaften gegründet und schließlich, am Vorabend des Revolutionsjahres 1848, tritt der Kommunistenbund ins Leben mit einem Programm, das mit unübertroffener revolutionärer Schärfe und Entschiedenheit den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie kennzeichnet, aber zugleich auch ausspricht, daß die besonderen Verhältnisse in Deutschland dort dem Proletariat zunächst noch die Aufgabe zuweisen, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die reaktionäre Kleinbürgerei zu kämpfen. Die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution in Deutschland fanden das erstere in seinen Zentren stark sozialistisch unterwühlt, das letztere gleichfalls schon mit einer relativ großen Anzahl sozialistisch gesinnter Arbeiter durchsetzt. Hier wie dort lieferten die Arbeiter, wenn auch nicht in gleichem Verhältnis, bereits die tatkräftigsten Elemente der Revolution. Aber die Verhältnisse waren in Frankreich, trotz seiner politischen und ökonomischen Überlegenheit, der Verwirklichung des Sozialismus nicht viel günstiger als in Deutschland. Auf dem Lande herrschte der kleinbäuerliche Grundsatz vor, während in den Städten und Industriebezirken zwar die große Industrie bereits um sich gegriffen, aber doch noch lange nicht die Alleinherrschaft erobert hatte. Neben ihr spielte, und zwar gerade in Paris, dem Hauptplatz der Luxusgewerbe, das kleinere und mittlere Handwerk, wenn es auch aufgehört hatte, Zunfthandwerk zu sein und schon meist für den Großindustriellen arbeitete, noch eine verhältnismäßig große Rolle, ganz besonders auch das sogenannte Kunsthandwerk. Dementsprechend hatte der französische Sozialismus selbst dort, wo er sich vom eigentlichen Utopismus freigemacht hatte, mit wenigen Ausnahmen einen stark kleinbürgerlichen Zug. Und auch die Februarrevolution und die furchtbare Lehre der Junischlacht änderten daran nichts. Sie gaben dem utopistischen Sozialismus bei den französischen Arbeitern den Todesstoß, aber an seine Stelle trat auf Jahre hinaus -- der Proudhonismus. In dieser relativen Unreife der ökonomischen Verhältnisse liegt die Erklärung für die sonst unbegreifliche Tatsache, daß, während es damals in Frankreich von Sozialisten wimmelte, während über 200 Mitglieder der Deputiertenkammer sich „Sozialdemokraten” nannten, die bonapartistische Repression die Arbeiter mit leeren Redensarten abzuspeisen vermochte. In Deutschland war die Unreife natürlich noch größer. Die große Masse der Arbeiter steckte nicht nur noch tief in kleinbürgerlichen, sondern teilweise sogar in direkt zunftbürgerlichen Anschauungen. Auf verschiedenen der Arbeiterkongresse, die das Jahr 1848 ins Leben rief, wurden die reaktionärsten Vorschläge diskutiert. Nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit der deutschen Arbeiter hatte bereits die revolutionäre Mission der Arbeiterklasse begriffen.
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Wenn diese überall in den vordersten Reihen der Volksparteien kämpfte, wenn sie, wo immer sie konnte, die bürgerliche Demokratie vorwärtszutreiben suchte, so zahlte sie die Kosten dafür an ihrem eigenen Leibe. Die Kommunisten des Jahres 1848 fielen auf den Barrikaden, auf den Schlachtfeldern in Baden, sie füllten die Gefängnisse, oder mußten, als die Reaktion auf der ganzen Linie gesiegt, das Exil aufsuchen, wo ein großer Teil von ihnen im Elend zugrunde ging. Die jungen Arbeiterorganisationen, die das Frühjahr 1848 ins Leben gerufen, wurden von den Regierungen unterschiedlos aufgelöst oder zu Tode drangsaliert. Was an Sozialisten noch im Lande blieb, zog sich entweder in Erwartung günstigerer Zeiten ganz von der Öffentlichkeit zurück, oder verphilisterte und schloß sich an die ihm adäquate Fraktion des bürgerlichen Liberalismus an. Letzteres gilt namentlich auch von einer Anzahl Vertreter des halb schöngeistigen, halb sansculottischen „wahren” Sozialismus, der mit so vielem Lärm aufgetreten war. Die Arbeiter selbst aber, mehr oder weniger eingeschüchtert, lassen von dem Gedanken ihrer Organisation als Klasse mit selbständigen Zielen ab und verfallen der Vormundschaft der radikalen Bourgeoisparteien oder der Protektion wohlmeinender Bourgeoisphilantropen. Es vollzieht sich eine Entwicklung, die in allen wesentlichen Punkten mit den in England und Frankreich unter den gleichen Umständen vor sich gegangenen Wandlungen übereinstimmt. Der Fehlschlag der erneuerten Agitation der Chartisten im Jahre 1848 hatte in England die Wirkung, daß der christliche Sozialismus der Maurice, Kingsley, Ludlow sich in den Vordergrund drängte und einen Teil der Arbeiter veranlaßte, in selbsthilflerischen Genossenschaften ihre Befreiung zu suchen -- nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre „moralische”, ihre Befreiung vom „Egoismus”, vom „Klassenhaß” usw. Wenn nun diese ‚christlichen Sozialisten’ auch mit ihren Bestrebungen weder selbstsüchtige, persönliche Zwecke verbanden, noch die Geschäfte irgendeiner besonderen Partei der besitzenden Klassen besorgten, so war die Wirkung ihrer Propaganda unter den Arbeitern, soweit ihr Einfluß reichte, doch zunächst die der Ablenkung derselben von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse, d. h. politische Entmannung. Soweit es gelang, den „Klassenegoismus” zu vertreiben, trat in den meisten Fällen an seine Stelle ein philiströser Genossenschaftsegoismus und ein nicht minder philisterhaftes „Bildungs”-Pharisäertum. Die Gewerkvereinsbewegung ihrerseits verliert sich fast ganz in der Verfolgung der allernächstliegenden Interessen, während die Reste der Oweniten sich meist auf die sogenannte freidenkerische Propaganda werfen. In Frankreich war es die Niederlage der Juni-Insurrektion gewesen, welche die Arbeiterklasse in den Hintergrund der revolutionären Bühne drängte. Jedoch vorerst nur in den Hintergrund.
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Der rege politische Geist des Pariser Proletariats konnte selbst durch diesen Riesenaderlaß nicht sofort ertötet werden. „Es versucht sich”, wie Marx im 18. Brumaire schreibt, „jedesmal wieder vorzudrängen, sobald die Bewegung einen neuen Anlauf zu nehmen scheint.” Indes seine Kraft war gebrochen, es konnte selbst nicht einmal mehr vorübergehend siegen. „Sobald eine der höher über ihm liegenden Gesellschaftsschichten in revolutionäre Gärung gerät, geht es eine Verbindung mit ihr ein und teilt so alle Niederlagen, die die verschiedenen Parteien nacheinander erleiden. Aber diese nachträglichen Schläge schwächen sich immer mehr ab, je mehr sie sich auf die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen. Seine bedeutenderen Führer in der Versammlung und in der Presse fallen der Reihe nach den Gerichten zum Opfer, und immer zweideutigere Figuren treten an seine Spitze. Zum Teil wirft es sich auf doktrinäre Experimente, Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen, seine Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig scheitert.” (Der achtzehnte Brumaire, 3. Aufl., S. 14 und 15.) In Deutschland endlich, wo von einer eigentlichen Niederlage der Arbeiter keine Rede sein konnte, weil diese sich zu einer größeren Aktion als Klasse noch gar nicht aufgeschwungen hatten, unterblieben ebenfalls auf lange hinaus alle Versuche von Arbeitern, sich in nennenswerter Weise selbständig zu betätigen. Während die bürgerliche Philanthropie in Vereinen „für das Wohl der arbeitenden Klasse” sich mit der Frage der Arbeiterwohnungen, Krankenkassen und anderen harmlosen Dingen beschäftigte, nahm sich ein kleinbürgerlicher Demokrat, der preußische Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der selbsthilflerischen Genossenschaften an, um vermittelst ihrer zur „Lösung der sozialen Frage” zu gelangen, bei welchem löblichen Unternehmen ihm gerade die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands in ermunterndster Weise zustatten kam. Von vornherein hatte Schulze-Delitzsch bei seinen Genossenschaften weniger die Arbeiter, als die kleineren Handwerksmeister im Auge gehabt; diese sollten durch Kredit- und Rohstoffvereine in den Stand gesetzt werden, mit der Großindustrie zu konkurrieren.
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Da nun die Großindustrie in Deutschland noch wenig entwickelt war, es dafür aber eine große Anzahl von Handwerksmeistern gab, die sich noch nicht, wie die Meister der kleinen Industrie in Frankreich und England, an die große Industrie angepaßt hatten, sondern noch nach irgendeinem Schutz vor ihr ausschauten, so mußte bei diesen seine Idee auf einen fruchtbaren Boden fallen, die geschilderten Genossenschaften ihnen auch, solange sich die Großindustrie ihres besonderen Produktionszweiges noch nicht bemächtigt hatte, wirklich von Nutzen sein. So sproßten denn die Kredit- und Rohstoffvereine fröhlich auf, neben ihnen auch Konsumvereine von Kleinbürgern und Arbeitern, und im Hintergrunde winkten -- als die Krone des Ganzen erscheinend -- die Produktivgenossenschaften von Arbeitern als die Verwirklichung des Gedankens der Befreiung der Arbeit vom Kapital. Ebensowenig wie die englischen christlichen Sozialisten verband Schulze-Delitzsch ursprünglich mit der Propaganda für die selbsthilflerischen Genossenschaften spezifische politische Parteizwecke, sondern folgte, gleich jenen, nur einer mit seinem Klasseninstinkt verträglichen Philanthropie. Zur Zeit, als er sich der Bewegung zuwandte, war die politische Partei, zu der er gehörte, die Linke der preußischen Nationalversammlung, von der öffentlichen Bühne zurückgetreten. Nachdem sie sich von der Krone und deren geliebten Krautjunkern nach allen Regeln der Kunst hatte hineinlegen lassen, hatte sie, als die preußische Regierung das Dreiklassenwahlsystem oktroyierte, bis auf weiteres das Feld geräumt. Sie ballte die Faust in der Tasche und ließ die Reaktion sich selbst abwirtschaften. Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle, aber Kleinbürger mit liberalen Anschauungen, dabei in seiner Art wohlmeinend, hatte Schulze-Delitzsch, als er von der Reaktion gemaßregelt worden war, eine Idee aufgegriffen, die damals allgemein in der Luft lag. „Assoziation” hatte der Ruf der Sozialisten in den dreißiger und vierziger Jahren gelautet, Assoziationen hatten Arbeiter im Revolutionsjahr gegründet, Assoziation dozierte der konservative Schriftsteller V. A. Huber, warum sollte der liberale Kreisrichter Schulze nicht auch für „Assoziationen” sich erwärmen? Da wir auf die Assoziationsfrage an anderer Stelle einzugehen haben werden, so seien hier nur aus einer 1858 veröffentlichten Schrift Schulze-Delitzschs einige Sätze zitiert über die Wirkungen, die er von den selbsthilflerischen Genossenschaften in bezug auf die Lage der Arbeiter erwartete: „Und was die im Lohndienst verbleibenden Arbeiter anbelangt, so ist die Konkurrenz, welche die Assoziationsgeschäfte ihrer bisherigen Genossen den Unternehmern machen, auch für sie von den günstigsten Folgen.
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Denn muß nicht die solchergestalt vermehrte Nachfrage seitens der Unternehmer zum Vorteil der Arbeiter rücksichtlich der Lohnbedingungen ausschlagen? Sind nicht die Inhaber der großen Etablissements dadurch genötigt, ihren Arbeitern möglichst gute Bedingungen zu bieten, weil sie sonst riskieren, daß dieselben zu einer der bestehenden Assoziationen übertreten, oder gar selbst eine dergleichen gründen, wozu natürlich die geschicktesten und strebsamsten Arbeiter am ersten geneigt sein werden? -- Gewiß, nur auf diese Weise, indem die Arbeiter selbst den Arbeitgebern Konkurrenz bieten, läßt sich ein dauernder Einfluß auf die Lohnerhöhung, auf eine günstigere Stellung der Arbeiter im ganzen ausüben, den man mittelst gesetzlicher Zwangsmittel, wie wir früher gesehen haben, oder durch die Appellation an die Humanität niemals allgemein und mit Sicherheit erreicht ... „Ist nur erst eine Anzahl solcher Assoziationsetablissements von den Arbeitern errichtet und das bisherige Monopol der Großunternehmer hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern, weil sie den Arbeitern ihr Teil davon zukommen lassen müssen. Während also der Reichtum von der einen Seite etwas bescheidenere Dimensionen annehmen wird, schwindet auf der andern Seite der Notstand mehr und mehr, und die Zustände beginnen sich dem Niveau eines allgemeinen Wohlstandes zu nähern. Damit ist sowohl dem Mammonismus wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Kultur erblicken ... „Nur darauf kommen wir immer wieder zurück: daß ehe nicht die Arbeiter sich aus eigener Kraft und aus eigenem Triebe an dergleichen Unternehmungen wagen und tatsächlich die Möglichkeit dartun, daß sie es allenfalls auch allein, ohne Beteiligung der übrigen Klassen, durchzusetzen vermögen, man sich von seiten dieser wohl hüten wird, ihnen dabei entgegenzukommen, weil man viel zu sehr dabei interessiert ist, sie in der bisherigen Abhängigkeit zu erhalten. Erst wenn dieser Beweis bis zu einem durch die Konkurrenz fühlbaren Grade von ihnen geliefert ist, erst nachdem sie den Unternehmern einmal selbst als Unternehmer entgegengetreten sind, dürfen sie auf Beachtung ihrer Wünsche, auf das Entgegenkommen des Publikums, insbesondere der Kapitalisten rechnen, welche sie erst dann als Leute zu betrachten anfangen werden, welche im Verkehr auch mitzählen, während sie ihnen bis dahin für bloße Nullen galten, die beim Exempel selbständig für sich gar nicht in Ansatz kamen.
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Auf dem Gebiete des Erwerbs hat einmal das Eigeninteresse die unbestrittene Herrschaft, und Ansprüche und Strebungen, mögen sie noch so gerecht und billig sein, finden nur dann erst Geltung, wenn sie in sich selbst soweit erstarkt sind, daß sie in tatsächlichen, lebenskräftigen Gestaltungen sich unabweisbar hervordrängen.” ... (Vgl. Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland. Leipzig 1858, S. 58, 61 und 63.) Indes auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß, der im Sommer 1862 tagte, mußte Schulze eingestehen, daß noch fast gar keine Produktivgenossenschaften und nur eine winzige Anzahl von Konsumvereinen beständen. Nur die aus Handwerksmeistern und kleinen Geschäftsleuten zusammengesetzten Kredit- und Vorschußvereine gediehen, neben ihnen, aber in geringerer Anzahl, die Rohstoffgenossenschaften. Wir sind damit unserer Darstellung des Ganges der Ereignisse von 1848 bis zum Beginn der Lassalleschen Agitation etwas vorausgeeilt, und nehmen jetzt deren Faden wieder auf. Bereits der Krimkrieg hatte der europäischen Reaktion einen empfindlichen Stoß versetzt, indem er die „Solidarität der Regierungen”, die eine ihrer Bedingungen war, arg ins Wanken brachte. Die Rivalität zwischen Preußen und Österreich trat in dem verschiedenen Verhalten des Wiener und Berliner Kabinetts zu Rußland von neuem zutage, während der Tod Nikolaus I. und die Lage, in der sich das Zarenreich am Ende des Krieges befand, die Reaktionsparteien in Europa ihres stärksten Hortes beraubte. Rußland hatte vorläufig so viel mit seinen inneren Angelegenheiten zu tun, daß es auf Jahre hinaus nicht in der Lage war, sich für die Sache der Ordnung in irgendeinem andern Lande des „Prinzips” halber zu interessieren, es kam für die innere Politik der Nachbarstaaten vor der Hand außer Betracht. Zunächst jedoch beschränkte sich die Rivalität zwischen Preußen und Österreich auf kleinliche Kabinettsintrigen, ihren Landeskindern gegenüber blieben beide Regierungen vorderhand noch „solidarisch”. Einen zweiten Stoß gab der Reaktion die allgemeine Geschäftsstockung, die 1857 und 1858 sich einstellte. Wie die allgemeine Prosperität 1850 die wankenden Throne zum Stehen gebracht hatte, so brachte die Handelskrise von 1857, die alle ihre Vorgängerinnen an Ausdehnung und Intensität übertraf, die stehenden Throne wieder ins Wanken. Überall gärte es in den unter der Krisis leidenden Volkskreisen, überall schöpfte die Opposition aus dieser Unzufriedenheit der Massen neue Kraft, überall erhoben die „Mächte des Umsturzes” von neuem ihr Haupt. Am drohendsten in Frankreich, wo der Thron freilich am wenigsten fest stand. Noch einmal versuchte es Napoleon III.
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mit drakonischen Gewaltmaßregeln, zu denen das Attentat Orsinis ihm den Vorwand lieferte; aber als er merkte, daß er dadurch seine Position eher verschlimmerte als sie zu verbessern, griff er zu einem andern Mittel. Er versuchte durch einen populären auswärtigen Krieg sein Regiment im Innern wieder zu befestigen und sein Leben vor den Dolchen der Carbonari zu beschützen. Diese hatten das einstige Mitglied ihrer Verschwörung durch Orsini wissen lassen, daß, wenn er sein ihnen gegebenes Wort nicht einlöse, sich immer neue Rächer gegen ihn erheben würden. Der italienische Feldzug wurde also eingeleitet. Fast um dieselbe Zeit nimmt in Preußen mit der Regentschaft Wilhelms I. die „Neue Ära” ihren Anfang. Von dem vorderhand noch geheimgehaltenen Wunsch beherrscht, Österreichs Hegemonie in Deutschland zu brechen, sucht Wilhelm I., damals noch Prinzregent, das liberale Bürgertum zu gewinnen und ernennt ein diesem genehmes Ministerium. Anfangs ging auch alles gut. Gerührt, daß er so ganz ohne sein Zutun wieder Gelegenheit bekam, mit dreinzureden, überbot sich der bürgerliche Liberalismus in allen möglichen Loyalitätsbeteuerungen. Der „Nationalverein” wurde gegründet mit dem Programm: Deutschlands Einigung unter Preußens Spitze. Preußen wurde die ehrenvolle Rolle zuerteilt, die politischen und nationalen Aspirationen der liberalen Bourgeoisie zu verwirklichen. Ein neuer Völkerfrühling schien angebrochen und ein viel schönerer als der von 1848, denn er versprach die Rose ohne die Dornen. Bei einer revolutionären Erhebung ist man nie sicher, wo sie Halt macht und welche Elemente sie in ihrem Verlaufe entfesselt. Jetzt aber brauchte man nicht die unbekannte Masse aufzurufen, alles versprach sich hübsch parlamentarisch abzuspielen. Wenn es jedoch wider Erwarten zu jenem Äußersten kommen sollte -- hatte nicht das Beispiel der Schulze-Delitzschen Spar- und Konsumvereine, der Vorschuß- und Rohstoffgenossenschaften die Arbeiter von ihren sozialistischen Utopien geheilt und ihnen den Beweis geliefert, welche große Dinge sie von der Selbsthilfe zu erwarten hätten, sie überzeugt, daß sie nichts, aber auch gar nichts als die liberalen „Freiheiten” brauchten? Wer heute die sozialpolitische Literatur des deutschen Liberalismus jener Tage wieder nachliest, dem fällt nichts so sehr auf als die kolossale Naivetät, die darin in bezug auf alle Fragen vorherrscht, die über den engen Horizont des aufgeklärten Gewürzkrämers hinausgehen.
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Man war sehr gebildet, sehr belesen, man wußte sehr viel von altathenischer Verfassung und englischem Parlamentarismus zu erzählen, aber die Nutzanwendung, die man aus allem zog, war immer die, daß der aufgeklärte deutsche Gewürzkrämer oder Schlossermeister der Normalmensch sei, und daß, was diesem nicht in den Kram passe, wert sei, daß es zugrunde gehe. Mit dieser selbstgefälligen Naivetät trieb man es im preußischen Abgeordnetenhaus zum Verfassungskonflikt, noch ehe man sich fest in den Sattel gesetzt, und mit dieser Naivetät entfremdete man sich die Arbeiterklasse, lange bevor ein ernsthafter Interessengegensatz dazu Veranlassung gab. Man wußte erschrecklich viel Geschichte, aber man hatte „auch wirklich nichts” aus ihr gelernt. Auf die Ursachen und den Gegenstand des preußischen Verfassungskonflikts braucht hier nicht eingegangen zu werden. Genug, er brach aus, und der Liberalismus sah sich plötzlich, er wußte selbst nicht wie, im heftigsten Krakeel mit eben der Regierung, die er die schöne Rolle der Wiederherstellung des Deutschen Reiches zugedacht, die Hegemonie in Deutschland zugesprochen hatte. Indes das war vorläufig nur Pech, aber kein Unglück. Die liberale Partei war mittlerweile so stark geworden, daß sie den Streit eine gute Weile aushalten konnte. Dank dem bornierten Trotz ihres Widersachers hatte sie fast das ganze Volk hinter sich. Die nationale Strömung hatte alle Klassen der Bevölkerung erfaßt; von der kleinen Vetterschaft der ostelbischen Feudalen und Betbrüder abgesehen, überließen sie namentlich der inzwischen konstituierten Fortschrittspartei die Ausfechtung des Kampfes mit der preußischen Regierung. Welche Fehler diese Partei auch beging, wie gemischt auch immer ihre Elemente, wie unzulänglich auch ihr Programm, in jenem Zeitpunkt vertrat sie, gegenüber der aufs neue ihr Haupt erhebenden Koalition von Junkertum und Polizeiabsolutismus, eine Sache, bei der ihr Sieg im Interesse aller nicht feudalen Gesellschaftselemente lag: das Budgetrecht der Volksvertretung. Aber einer Partei zeitweilig eine politische Aufgabe zuerkennen, heißt noch nicht, sich ihr mit Haut und Haaren verschreiben, ihr gegenüber auf jede Selbständigkeit verzichten. Das fühlten auch die entwickelteren Elemente unter den deutschen Arbeitern. Ihnen konnte die Rolle der Statisten, die ihnen die liberalen Wortführer zumuteten, die Kost, die ihnen in den von diesen patronisierten Bildungs- usw. Vereinen dargeboten wurde, unmöglich auf die Dauer genügen. Noch waren die alten kommunistischen und revolutionären Traditionen nicht völlig ausgestorben, noch gab es gar manchen Arbeiter, der entweder selbst Mitglied irgendeiner der kommunistischen Verbindungen gewesen oder von Mitgliedern über deren Grundsätze aufgeklärt, von ihnen mit kommunistischen Schriften versehen worden war.
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Unter diesen, und durch sie angeregt, fing man an, in immer weiteren Kreisen der Arbeiter die Frage zu erörtern, ob es nicht an der Zeit sei, wenn nicht sofort eine eigne Arbeiterpartei mit einem eignen Arbeiterprogramm, so doch wenigstens einen Arbeiterverband zu schaffen, der etwas mehr sei als eine bloße Kreatur der liberalen Partei. Hätten die Herren Fortschrittler und Nationalvereinler nur ein wenig aus der Geschichte anderer Länder gelernt gehabt, es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, zu verhindern, daß diese Bewegung sich ihnen feindselig gegenüberstellte, solange sie selbst im Kampf mit der preußischen Regierung lagen. Aber sie waren viel zu viel von dem Gefühl durchdrungen, daß sie, da sie ja die Volkssache vertraten, _das_ „Volk”, und als „Volk der Denker” über die Einseitigkeiten -- nämlich die Klassenkämpfe -- des Auslandes erhaben seien; und so begriffen sie denn auch nicht, daß es sich hier um eine Strömung handelte, die früher oder später eintreten mußte, und daß es nur darauf ankam, sich mit ihr auf eine verständige Weise auseinanderzusetzen. So verliebt waren sie in sich, daß sie gar nicht zu fassen vermochten, daß die Arbeiter noch nach mehr geizen konnten, als nach der Ehre, durch sie vertreten zu sein. Die Antwort auf das Gesuch, den Arbeitern die Eintrittsbedingungen in den Nationalverein zu erleichtern: „Die Arbeiter sollen sich als die geborenen Ehrenmitglieder des Vereins betrachten” -- d. h. hübsch draußen bleiben -- war in der Tat typisch für das Unvermögen der Parteigenossen des braven Schulze, etwas anderes zu begreifen, als den denkenden Spießbürger -- ihr Ebenbild, ihren Gott. So kam es unter anderem zu jenen Diskussionen in Leipziger Arbeiterversammlungen, deren Ergebnis die Bildung eines Komitees zur Einberufung eines Kongresses deutscher Arbeiter und in weiterer Folge die Anknüpfung von Verhandlungen mit Ferdinand Lassalle war. Lassalles Jugend, der Hatzfeldt-Prozeß, die Assisenrede und der Franz von Sickingen. Als das Leipziger Komitee sich an Lassalle wandte, stand dieser in seinem 37. Lebensjahre, in der Vollkraft seiner körperlichen und geistigen Entwicklung. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich, sich politisch und wissenschaftlich -- beides allerdings zunächst innerhalb bestimmter Kreise -- einen Namen gemacht, er unterhielt Verbindungen mit hervorragenden Vertretern der Literatur und Kunst, verfügte über ansehnliche Geldmittel und einflußreiche Freunde -- kurz, nach landläufigen Begriffen konnte ihm das Komitee, eine aus bisher völlig unbekannten Persönlichkeiten zusammengesetzte Vertretung einer im Embryozustand befindlichen Bewegung, nichts bieten, was er nicht schon hatte.
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Trotzdem ging er mit der größten Bereitwilligkeit auf dessen Wünsche ein und traf die einleitenden Schritte, der Bewegung diejenige Richtung zu geben, die seinen Ansichten und Zwecken am besten entsprach. Von anderen Rücksichten abgesehen, zog ihn gerade der Umstand besonders zu ihr hin, daß die Bewegung noch keine bestimmte Form angenommen hatte, daß sie sich ihm als eine ohne Schwierigkeit zu modelnde Masse darstellte. Ihr erst Form zu geben, sie zu einem Heerbann in seinem Sinne zu gestalten, das entsprach nicht nur seinen hochfliegenden Plänen, das war überhaupt eine Aufgabe, die seinen natürlichen Neigungen ungemein sympathisch sein mußte. Die Einladung traf ihn nicht nur bei seiner sozialistischen Überzeugung, sondern auch bei seinen Schwächen. Und so ging er denn mit großer Bereitwilligkeit auf sie ein. Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, eine eigentliche Biographie Ferdinand Lassalles zu geben, die sehr ansehnliche Zahl der Lebensbeschreibungen des Gründers des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins noch um eine weitere zu vermehren. Der für sie zur Verfügung stehende Raum gebietet von vielem abzusehen, was zu einer Biographie gehörte. Was sie in erster Reihe will, ist vielmehr die Persönlichkeit und Bedeutung Ferdinand Lassalles zu schildern, insoweit seine politisch-literarische und agitatorische Tätigkeit in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist ein Rückblick auf den Lebenslauf Lassalles unerläßlich, da er erst den Schlüssel zum Verständnis seines politischen Handelns liefert. Schon seine Abstammung scheint auf die Entwicklung Lassalles eine große, man kann sogar sagen verhängnisvolle Wirkung ausgeübt zu haben. Wir sprechen hier nicht schlechthin von vererbten Eigenschaften oder Dispositionen, sondern von der bedeutungsvollen Tatsache, daß das Bewußtsein, von jüdischer Herkunft zu sein, Lassalle eingestandenermaßen noch in vorgeschrittenen Jahren peinlich war, und daß es ihm trotz seines eifrigen Bemühens oder vielleicht gerade wegen dieses Bemühens nie gelang, sich tatsächlich über seine Abstammung hinwegzusetzen, eine innerliche Befangenheit loszuwerden. Aber man darf nicht vergessen, daß Lassalles Wiege im östlichen Teil der preußischen Monarchie gestanden hatte -- er wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren --, wo bis zum Jahre 1848 die Juden nicht einmal formell völlig emanzipiert waren.
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Die Wohlhabenheit seiner Eltern ersparte Lassalle viele Widerwärtigkeiten, unter denen die ärmeren Juden damals zu leiden hatten, aber sie schützte ihn nicht vor den allerhand kleinen Kränkungen, denen die Angehörigen jeder für untergeordnet gehaltenen Rasse, auch wenn sie sich in guter Lebensstellung befinden, ausgesetzt sind, und die in einer so selbstbewußten Natur, wie Lassalle von Jugend auf war, zunächst einen trotzigen Fanatismus des Widerstandes erzeugen, der dann später oft in das Gegenteil umschlägt. Wie stark dieser Fanatismus bei dem jungen Lassalle war, geht aus seinem durch Paul Lindau zur Veröffentlichung gebrachten Tagebuch aus den Jahren 1840 und 1841 hervor. Am 1. Februar 1840 schreibt der noch nicht 15 Jahre alte Ferdinand in sein Tagebuch: „... Ich sagte ihm dies, und in der Tat, ich glaube, ich bin einer der besten Juden, die es gibt, ohne auf das Zeremonialgesetz zu achten. Ich könnte, wie jener Jude in Bulwers ‚Leila’ mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reißen. Ich würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie wieder zu einem geachteten Volke machen. O, wenn ich meinen kindischen Träumen nachhänge, so ist es immer meine Lieblingsidee, an der Spitze der Juden mit den Waffen in der Hand sie selbständig zu machen.” Die Mißhandlungen der Juden in Damaskus im Mai 1840 entlocken ihm den Ausruf: „Ein Volk, das dies erträgt, ist schrecklich, es räche oder dulde die Behandlung.” Und an den Satz eines Berichterstatters: „Die Juden dieser Stadt erdulden Grausamkeiten, wie sie nur von diesen Parias der Erde ohne furchtbare Reaktion ertragen werden können”, knüpft er die von Börne übernommene Betrachtung an: „Also sogar die Christen wundern sich über unser träges Blut, daß wir uns nicht erheben, nicht lieber auf dem Schlachtfeld, als auf der Tortur sterben wollen. Waren die Bedrückungen, um deren willen sich die Schweizer einst erhoben, größer?... Feiges Volk, du verdienst kein besseres Los.” Noch leidenschaftlicher äußert er sich einige Monate später (30. Juli): „Wieder die abgeschmackten Geschichten, daß die Juden Christenblut brauchten. Dieselbe Geschichte, wie in Damaskus, auch in Rhodos und Lemberg. Daß aber aus allen Winkeln der Erde man mit diesen Beschuldigungen hervortritt, scheint mir anzudeuten, daß die Zeit bald reif ist, in der wir in der Tat durch Christenblut uns helfen werden. Aide-toi et le ciel t'aidera.
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Die Würfel liegen, es kommt auf den Spieler an.” Diese kindischen Ideen verfliegen, je mehr sich der Blick erweitert, aber die Wirkung, die solche Jugendeindrücke auf die geistigen Dispositionen ausüben, bleibt. Zunächst wurde der frühreife Lassalle durch den Stachel der „Torturen”, von denen er schreibt, um so mehr angetrieben, sich für seine Person um jeden Preis Anerkennung und Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite wird der Rebell gegen die Unterdrückung der Juden durch die Christen bald politischer Revolutionär. Dabei macht er einmal, als er Schillers Fiesko gesehen, folgende, von merkwürdig scharfer Selbstkritik zeugende Bemerkung: „Ich weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische Gesinnungen habe wie einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte, Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich bloß ein schlichter Bürgerssohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat sein.” Sein politischer Radikalismus ist es auch, der 1841 den sechzehnjährigen Lassalle veranlaßt, den vorübergehend gefaßten Entschluß, sich zum Kaufmannsberuf vorzubereiten, wieder aufzugeben und von seinem Vater die Erlaubnis zu erwirken, sich zum Universitätsstudium vorzubereiten. Die lange Zeit verbreitete Anschauung, als sei Lassalle von seinem Vater wider seinen Willen auf die Handelsschule nach Leipzig geschickt worden, ist durch das Tagebuch als durchaus falsch erwiesen, Lassalle hat selbst seine Übersiedelung vom Gymnasium auf die Handelsschule betrieben. Freilich nicht aus vorübergehender Vorliebe für den Kaufmannsberuf, sondern um den Folgen einer Reihe von leichtsinnigen Streichen zu entgehen, die er zu dem Zweck begangen hatte, seinem Vater nicht die tadelnden Zensuren zeigen zu müssen, welche er -- nach seiner Ansicht unverdient -- zu erhalten pflegte. Als es ihm aber auf der Leipziger Handelsschule nicht besser erging als auf dem Breslauer Gymnasium, als er auch dort mit den meisten der Lehrer, und vor allem mit dem Direktor in Konflikte geriet, die sich immer mehr zuspitzten, je radikaler Lassalles Ansichten wurden, da war's auch sofort mit der Kaufmannsidee bei ihm vorbei. Im Mai 1840 hat er die Handelsschule bezogen, und schon am 3. August „hofft” er, daß der „Zufall” ihn eines Tages aus dem Kontor herausreißen und auf einen Schauplatz werfen werde, auf dem er öffentlich wirken könne.
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„Ich traue auf den Zufall und auf meinen festen Willen, mich mehr mit den Musen als den Haupt- und Strazzabüchern, mich mehr mit Hellas und dem Orient, als mit Indigo und Runkelrüben, mehr mit Thalien und ihren Priestern, als mit Krämern und ihren Kommis zu beschäftigen, mich mehr um die Freiheit, als um die Warenpreise zu bekümmern, heftiger die Hunde von Aristokraten, die dem Menschen sein erstes, höchstes Gut wegnehmen, als die Konkurrenten, die den Preis verschlechtern, zu verwünschen.” „Aber beim Verwünschen soll's nicht bleiben,” setzt er noch hinzu. Zu dem Radikalismus kommt der immer stärkere Drang, den Juden in sich abzuschütteln, und dieser Drang ist schließlich so energisch, daß, als Lassalle im Mai 1841 dem Vater seinen „unwiderruflichen” Entschluß mitteilt, doch zu studieren, er zugleich ablehnt, Medizin oder Jura zu studieren, weil „der Arzt wie der Advokat Kaufleute sind, die mit ihrem Wissen Handel treiben”. Er aber wolle studieren „des Wirkens wegen”. Mit dem letzteren war der Vater zwar nicht einverstanden, er willigte aber ein, daß Lassalle sich zum Studium vorbereite. Nun arbeitete Lassalle mit Rieseneifer, und war im Jahre 1842 schon so weit, sein Maturitätsexamen abzulegen. Er studiert zuerst Philologie, geht aber dann zur Philosophie über und entwirft den Plan zu einer größeren philologisch-philosophischen Arbeit über den Philosophen Herakleitos von Ephesus. Daß er sich gerade diesen Denker zum Gegenstand der Untersuchung auswählte, von dem selbst die größten Philosophen Griechenlands bekannt hatten, daß sie nie sicher seien, ob sie ihn ganz richtig verstanden, und der deshalb den Beinamen „der Dunkle” erhielt, ist wiederum in hohem Grade bezeichnend für Lassalle. Mehr noch als die Lehre Heraklits, den Hegel selbst als seinen Vorläufer anerkannt hatte, reizte ihn das Bewußtsein, daß hier nur durch glänzende Leistungen Lorbeeren zu erlangen waren. Neben dem schon erwähnten Trieb, jedermann durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen, hatte Lassalle zugleich das Bewußtsein, jede Aufgabe, die er sich stellte, auch lösen zu können. Dieses grenzenlose Selbstvertrauen war das Fatum seines Lebens. Es hat ihn in der Tat Dinge unternehmen und zu Ende führen lassen, vor denen tausend andere zurückgeschreckt wären, selbst wenn sie über die intellektuellen Fähigkeiten Lassalles verfügt hätten, es ist aber auf der andern Seite zum Anlaß verhängnisvoller Fehlgriffe und schließlich zur Ursache seines jähen Endes geworden.
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Nach vollendetem Studium ging Lassalle 1845 an den Rhein und später nach Paris, teils um dort in den Bibliotheken zu arbeiten, teils um die Weltstadt, das Zentrum des geistigen Lebens der Epoche, kennenzulernen. In Paris gingen damals die Wogen der sozialistischen Bewegung sehr hoch, und so zog es auch Lassalle dorthin, der 1843 schon sein sozialistisches Damaskus gefunden hatte. Ob und inwieweit Lassalle mit den in Paris lebenden deutschen Sozialisten bekannt wurde -- Karl Marx war, nachdem die „Deutsch-französischen Jahrbücher” eingegangen und der „Vorwärts” sistiert worden war, im Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden und nach Brüssel übersiedelt --, darüber fehlen zuverlässige Angaben. Wir wissen nur, daß er viel mit Heinrich Heine verkehrte, an den er empfohlen war, und dem er in mißlichen Geldangelegenheiten (einem Erbschaftsstreit) große Dienste leistete. Die Briefe, in denen der kranke Dichter dem zwanzigjährigen Lassalle seine Dankbarkeit und Bewunderung aussprach, sind bekannt. Sie lassen unter anderem erkennen, welch starken Eindruck Lassalles Selbstbewußtsein auf Heine gemacht hat. Nach Deutschland zurückgekehrt, machte Lassalle im Jahre 1846 die Bekanntschaft der Gräfin Sophie von Hatzfeldt, die sich seit Jahren vergeblich bemühte, von ihrem Manne, einem der einflußreichsten Aristokraten, der sie allen Arten von Demütigungen und Kränkungen ausgesetzt hatte, gesetzliche Scheidung und Herausgabe ihres Vermögens zu erlangen. Man hat über die Motive, welche Lassalle veranlaßten, die Führung der Sache der Gräfin zu übernehmen, vielerlei Vermutungen aufgestellt. Man hat sie auf ein Liebesverhältnis mit der zwar nicht mehr jugendlichen, aber noch immer schönen Frau zurückführen wollen, während Lassalle selbst sich im Kassettenprozeß mit großer Leidenschaftlichkeit dagegen verwahrt hat, durch irgendeinen anderen Beweggrund dazu veranlaßt worden zu sein, als den des Mitleids mit einer verfolgten, von allen helfenden Freunden verlassenen Frau, dem Opfer ihres Standes, dem Gegenstand der brutalen Verfolgungen eines übermütigen Aristokraten. Es liegt absolut kein Grund vor, dieser Lassalleschen Beteuerung nicht zu glauben. Ob nicht Lassalle in den folgenden Jahren vorübergehend in ein intimeres Verhältnis als das der Freundschaft zur Gräfin getreten ist, mag dahingestellt bleiben; es ist aber schon aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich, daß ein solches Verhältnis gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft, als Lassalle den Prozeß übernahm, bestanden habe.
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Viel wahrscheinlicher ist es, daß neben der vielleicht etwas romantisch übertriebenen, aber doch durchaus anerkennenswerten Parteinahme für eine verfolgte Frau und dem Haß gegen den hochgestellten Adligen gerade das Bewußtsein, daß es sich hier um eine Sache handelte, die nur mit Anwendung außergewöhnlicher Mittel und Kraftentfaltung zu gewinnen war, einen großen Reiz auf Lassalle ausgeübt hat. Was andere abgeschreckt hätte, zog ihn unbedingt an. Er hat in dem Streit gesiegt, er hat den Triumph gehabt, daß der hochmütige Aristokrat vor ihm, dem „dummen Judenjungen” kapitulieren mußte. Aber er ist gleichfalls nicht unverletzt aus dem Kampf hervorgegangen. Um ihn zu gewinnen, hatte er freilich außergewöhnliche Mittel aufwenden müssen, aber es waren nicht, oder richtiger, nicht nur die Mittel außergewöhnlicher Vertiefung in die rechtlichen Streitfragen, außergewöhnlicher Schlagfertigkeit und Schärfe in der Widerlegung der gegnerischen Finten; es waren auch die außergewöhnlichen Mittel des unterirdischen Krieges: die Spionage, die Bestechung, das Wühlen im ekelhaftesten Klatsch und Schmutz. Der Graf Hatzfeldt, ein gewöhnlicher Genußmensch, scheute vor keinem Mittel zurück, seine Ziele zu erreichen, und um seine schmutzigen Manöver zu durchkreuzen, nahm die Gegenseite zu Mitteln ihre Zuflucht, die nicht gerade viel sauberer waren. Wer die Aktenstücke des Prozesses nicht gelesen, kann sich keine Ahnung machen von dem Schmutz, der dabei aufgewühlt und immer wieder herangeschleppt wurde, von der Qualität der beiderseitigen Anklagen und -- Zeugen. Und von den Rückwirkungen der umgekehrten Augiasarbeit im Hatzfeldt-Prozeß hat sich Lassalle nie ganz freimachen können. Wir meinen das nicht im spießbürgerlichen Sinne, etwa im Hinblick auf seine späteren Liebesaffären, sondern mit Bezug auf seine von nun an wiederholt bewiesene Bereitwilligkeit, jedes Mittel gutzuheißen und zu benutzen, das ihm für seine jeweiligen Zwecke dienlich erschien; wir meinen den Verlust jenes Taktgefühls, das dem Mann von Überzeugung selbst im heftigsten Kampfe jeden Schritt verbietet, der mit den von ihm vertretenen Grundsätzen in Widerspruch steht, wir meinen die von da an wiederholt und am stärksten in der tragischen Schlußepisode seines Lebens sich offenbarende Einbuße an gutem Geschmack und moralischem Unterscheidungsvermögen.
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Als jugendlicher Enthusiast hatte Lassalle sich in den Hatzfeldtschen Prozeß gestürzt, -- er selbst gebraucht in der Kassettenrede das Bild des Schwimmers: „Welcher Mensch, der ein starker Schwimmer ist, sieht einen andern von den Wellen eines Stromes fortgetrieben, ohne ihm Hilfe zu bringen? Nun wohl, für einen guten Schwimmer hielt ich mich, unabhängig war ich, so sprang ich in den Strom” -- gewiß, aber leider war es ein recht trüber Strom, in den er sich gestürzt, ein Strom, der sich in eine große Pfütze verlief, und als Lassalle herauskam, war er von der eigenartigen Moral der Gesellschaft, mit der er sich zu befassen gehabt, angesteckt. Seine ursprünglichen besseren Instinkte kämpften lange gegen die Wirkungen dieses Giftes, drängten sie auch wiederholt siegreich zurück, aber schließlich ist er ihnen doch erlegen. Das hier Gesagte mag manchem zu scharf erscheinen, aber wir werden im weiteren Verlauf unserer Skizze sehen, daß es nur gerecht gegen Lassalle ist. Wir haben hier keine Apologie zu schreiben, sondern eine kritische Darstellung zu geben, und das erste Erfordernis einer solchen ist, die Wirkungen aus den Ursachen zu erklären[1]. Bevor wir jedoch weitergehen, haben wir zunächst noch der Rolle zu gedenken, die Lassalle im Jahre 1848 gespielt hat. Beim Ausbruch der März-Revolution war Lassalle so tief in den Maschen des Hatzfeldtschen Prozesses verwickelt, daß er sich ursprünglich fast zur politischen Untätigkeit verurteilt sah. Im August 1848 fand der Prozeß wegen „Verleitung zum Kassettendiebstahl” gegen ihn statt und er hatte alle Hände voll zu tun, sich auf diesen zu rüsten. Erst als er nach siebentägiger Verhandlung freigesprochen worden war, gewann er wieder Zeit, an den politischen Ereignissen jener bewegten Zeit direkten Anteil zu nehmen. Lassalle, der damals in Düsseldorf, der Geburtsstadt Heines, lebte, stand natürlich als Republikaner und Sozialist auf der äußersten Linken der Demokratie. Organ dieser im Rheinland war die von Karl Marx redigierte „Neue Rheinische Zeitung”. Karl Marx gehörte ferner eine Zeitlang dem Kreisausschuß der rheinischen Demokraten an, der in Köln seinen Sitz hatte. So war eine doppelte Gelegenheit gegeben, Lassalle in nähere Verbindung mit Marx zu bringen. Er verkehrte mündlich und schriftlich mit dem erwähnten Kreisausschuß, sandte wiederholt Mitteilungen und Korrespondenzen an die „Neue Rheinische Zeitung” und erschien auch gelegentlich selbst auf der Redaktion dieses Blattes.
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So bildete sich allmählich ein freundschaftlicher persönlicher Verkehr zwischen Lassalle und Marx heraus, der auch später noch, als Marx im Exil lebte, in Briefen und auch zweimal in Besuchen fortgesetzt wurde. Lassalle besuchte Marx 1862 in London, nachdem Marx im Jahre 1861 auf einer Reise nach Deutschland Lassalle in Berlin besucht hatte. Indes herrschte zu keiner Zeit ein tieferes Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden, dazu waren schon ihre Naturen viel zu verschieden angelegt. Was sonst noch einer über die politische Kampfgenossenschaft hinausgehenden Intimität im Wege stand, soll später erörtert werden. Der hereinbrechenden Reaktion des Jahres 1848 gegenüber nahm Lassalle genau dieselbe Haltung ein, wie die Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung” und die Partei, die hinter dieser stand. Gleich ihr forderte er, als die preußische Regierung im November 1848 den Sitz der Nationalversammlung verlegt, die Bürgerwehr aufgelöst und den Belagerungszustand über Berlin verhängt hatte, und die Nationalversammlung ihrerseits mit der Versetzung des Ministeriums in Anklagezustand, sowie mit der Erklärung geantwortet hatte, daß dieses Ministerium nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben, zur Organisierung des bewaffneten Widerstandes gegen die Steuererhebung auf. Gleich dem Ausschuß der rheinischen Demokraten ward auch Lassalle wegen Aufreizung zur Bewaffnung gegen die königliche Gewalt unter Anklage gestellt, gleich ihm von den Geschworenen freigesprochen, aber die immer rücksichtsloser auftretende Reaktion stellte außerdem gegen Lassalle noch die Eventualanklage, zur Widersetzlichkeit gegen Regierungsbeamte aufgefordert zu haben, um ihn vor das Zuchtpolizeigericht zu bringen. Und in der Tat verurteilte dieses -- die Regierung kannte unzweifelhaft ihre Berufsrichter -- Lassalle schließlich auch zu sechs Monaten Gefängnis. Lassalles Antwort auf die ersterwähnte Anklage ist unter dem Titel „Assisen-Rede” im Druck erschienen. Sie ist jedoch nie wirklich gehalten worden, und alles, was in verschiedenen älteren Biographien über den „tiefen” Eindruck erzählt wird, den sie auf die Geschworenen und das Publikum gemacht habe, gehört daher in das Bereich der Fabel. Lassalle hatte die Rede noch vor der Verhandlung in Druck gegeben, und da einzelne der fertigen Druckbogen auch vorher in Umlauf gesetzt worden waren, beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit auszuschließen. Als trotz Lassalles Protest und der Erklärung, die Verbreitung der Druckbogen sei ohne sein Vorwissen erfolgt, ja höchstwahrscheinlich von seinen Feinden durch das Mittel der Bestechung veranlaßt worden, der Gerichtshof den Beschluß aufrecht erhielt, verzichtete Lassalle überhaupt darauf, sich zu verteidigen, wurde aber nichtsdestoweniger freigesprochen. Ob aber gehalten oder nicht, die „Assisen-Rede” bleibt jedenfalls ein interessantes Dokument für das Studium der politischen Entwicklung Lassalles.
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Er steht in ihr fast durchgängig auf dem von Karl Marx drei Monate vorher in dessen Rede vor den Kölner Geschworenen vertretenen Standpunkt. Ein Vergleich der beiden Reden zeigt dies aufs deutlichste, ebenso aber auch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Marx und Lassalle. Marx enthält sich aller oratorischen Ausschmückung, er geht direkt auf die Sache ein, entwickelt in einfacher und gedrängter Sprache, Satz für Satz, scharf und mit rücksichtsloser Logik seinen Standpunkt und schließt ohne jede Apostrophe mit einer Charakteristik der politischen Situation. Man sollte meinen, seine eigene Person stehe ganz außer Frage, und er habe nur die Aufgabe, den Geschworenen einen politischen Vortrag zu halten. Lassalle dagegen peroriert fast von Anfang bis zu Ende, er erschöpft sich in -- oft sehr schönen -- Bildern und in Superlativen. Alles ist Pathos, ob von der durch ihn vertretenen Sache oder von seiner Person die Rede ist, er spricht nicht zu den Geschworenen, sondern zu den Tribünen, zu einer imaginären Volksversammlung, und schließt, nach Verkündigung einer Rache, die „so vollständig” sein wird wie „die Schmach, die man dem Volke antut”, mit einer Rezitation aus Tell. Noch im Gefängnis, wo er sich durch seine Energie und Hartnäckigkeit Vergünstigungen ertrotzte, die sonst Gefangenen nie erteilt zu werden pflegten -- so erhielt er, was er später selbst für ungesetzlich erklärte, wiederholt Urlaub, um in den Prozessen der Gräfin Hatzfeldt zu plädieren -- und in den darauffolgenden Jahren wurde Lassalles Tätigkeit wieder fast vollständig durch die Hatzfeldtsche Angelegenheit in Anspruch genommen. Daneben hielt Lassalle ein gastliches Haus für politische Freunde und versammelte längere Zeit einen Kreis vorgeschrittener Arbeiter um sich, denen er politische Vorträge hielt. Endlich erfolgte im Jahre 1854 im Hatzfeldtschen Prozeß der Friedensschluß. Die Gräfin erhielt ein bedeutendes Vermögen ausbezahlt und Lassalle eine Rente von jährlich siebentausend Talern sichergestellt, die ihm gestattete, seine Lebensweise ganz nach seinen Wünschen einzurichten. Zunächst behielt er seinen Wohnsitz in Düsseldorf bei und arbeitete hier an seinem „Heraklit” weiter. Daneben unternahm er allerhand Reisen, u. a. auch eine in den Orient. Auf die Dauer aber konnten ihn diese Unterbrechungen nicht mit dem Aufenthalt in der Provinzialstadt, in der das politische Leben erloschen war, aussöhnen. Es verlangte ihn nach einem freieren, anregenderen Leben, als es die rheinische Stadt bot oder erlaubte, nach dem Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten, nach einem größeren Wirkungskreis.
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So erwirkt er sich denn 1857 durch die Vermittlung Alexander von Humboldts beim Prinzen von Preußen von der Berliner Polizei die Erlaubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu dürfen. Dieses Gesuch wie die erteilte Erlaubnis verdienen Beachtung. Lassalle hatte im Mai 1849 in flammenden Worten die „schmachvolle und unerträgliche Gewaltherrschaft” gebrandmarkt, die „über Preußen hereingebrochen”; er hatte ausgerufen: „Warum zu soviel Gewalt noch soviel Heuchelei? Doch das ist preußisch” und „vergessen wir nichts, nie, niemals... Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig auf, wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist der Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft.” (Assisenrede.) Wie kam er nun dazu, ein solches Gesuch zu stellen, und es dem guten Willen der Regierung, die in der angegebenen Weise angegriffen worden war, anheim zu stellen, es zu bewilligen? Er konnte in politischen Dingen sehr rigoros sein und hat es 1860 in einem Brief an Marx scharf verurteilt, daß Wilhelm Liebknecht für die großdeutsch-konservative „Augsburger Allgemeine Zeitung” schrieb. Aber er hielt es im Hinblick auf die wissenschaftlichen Arbeiten, die ihn beschäftigten, für sein gutes Recht, die Aufenthaltsbewilligung zu verlangen, und im Bewußtsein der Festigkeit seines politischen Wollens für reine Formsache, daß er seine betreffenden Eingaben als Gesuche abzufassen hatte. Denn es handelt sich da um verschiedene Anträge, der erste 1855 an den Berliner Polizeigewaltigen Hinckeldey, der zweite, im Juni 1856, direkt an den damaligen Prinzregenten gerichtet (Vgl. darüber „Dokumente des Sozialismus”, Jahrgang 1903, S. 130 und 407 ff.) Aus diesen Schritten machte er Karl Marx gegenüber kein Geheimnis. Es ist zudem nicht unmöglich, daß Lassalle durch Verbindungen der Gräfin Hatzfeldt, die ziemlich weit reichten, davon unterrichtet war, daß sich in den oberen Regionen Preußens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit diese Verbindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx nach London gelangen ließ. So teilt er Marx unterm 10.
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Februar 1854 den Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage vorher vom Berliner Kabinett nach Paris und London abgegangen sei, schildert die Zustände im Berliner Kabinett -- der König und fast alle Minister für Rußland, nur Manteuffel und der Prinz von Preußen für England -- und die für gewisse Eventualitäten vom Kabinett beschlossenen Maßregeln, worauf es heißt: „Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so betrachten, als wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens eigenem Munde hättest!” Vier Wochen später machte er wieder allerhand Mitteilungen über beabsichtigte Schritte des Kabinetts, gestützt auf Mitteilungen „zwar nicht aus meiner ‚offiziellen’, aber doch aus ziemlich glaubhafter Quelle”. Am 20. Mai 1854 klagt er, daß seine „diplomatische Quelle” eine weite Reise angetreten habe. „Eine so vorzügliche Quelle, durch die man kabinettsmäßig informiert war, zu haben und dann auf so lange Zeit wieder verlieren, ist überaus ärgerlich.” Aber er hat immer noch Nebenquellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten, und ist u. a. „zeitig vorher von Bonins Entlassung usw.” benachrichtigt worden. Einige dieser Quellen standen dem Berliner Hof sehr nahe, und ihre Berichte mögen auch Lassalles Schritt veranlaßt haben. Die geistige Zerrüttung Friedrich Wilhelm IV. war um das Jahr 1857 bereits sehr weit vorgeschritten, und wenn auch die getreuen Minister und Hüter der monarchischen Idee sie noch nicht für genügend erachteten, des Königs Regierungsunfähigkeit auszusprechen, so wußte man doch in allen unterrichteten Kreisen, daß der Regierungsantritt des Prinzen von Preußen nur noch eine Frage von Monaten sei. In Berlin vollendete Lassalle zunächst den Heraklit, der Ende 1857 im Verlage von Franz Duncker erschien. Über dieses beinahe mehr noch philologische als philosophische Werk gehen die Meinungen der Sachverständigen auseinander. Die einen stellen es als epochemachend hin, die andern behaupten, daß es in der Hauptsache nichts sage, was nicht schon bei Hegel zu finden sei. Richtig ist, daß Lassalle hier fast durchgängig auf althegelschem Standpunkt steht -- die Dinge werden aus den Begriffen entwickelt, die Kategorien des Gedankens als ewige metaphysische Wesenheiten behandelt, deren Bewegung die Geschichte erzeugt. Aber auch diejenigen, welche die epochemachende Bedeutung der Lassalleschen Arbeit bestreiten, geben zu, daß sie eine sehr tüchtige Leistung ist. Sie verschaffte Lassalle in der wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen. Für die Charakteristik Lassalles und seines geistigen Entwicklungsganges ist sein Werk über Herakleitos den Dunklen von Ephesos aber nicht bloß darin von Bedeutung, daß es Lassalle als eben entschiedenen Anhänger Hegels zeigt.
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Man kann auch dem bekannten dänischen Literarhistoriker G. Brandes zustimmen, wenn er in seiner oft zugunsten belletristischer Ausschmückung mit den Tatsachen ziemlich frei umspringenden Studie über Lassalle[2] auf verschiedene Stellen in der Arbeit über Heraklit als Schlüssel zum Verständnis von Lassalles Lebensanschauungen hinweist. Es gilt dies namentlich von Lassalles großem Kultus des Staatsgedankens -- auch in dieser Hinsicht war Lassalle Althegelianer -- und in bezug auf Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm. Brandes schreibt in ersterer Hinsicht: „Heraklits Ethik, sagt Lassalle, faßt sich in den einen Gedanken zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: ‚Hingabe an das Allgemeine.’ Das ist zugleich griechisch und modern; aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speziellen Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Übereinstimmung mit Hegels Staatsphilosophie nachzuweisen: ‚Wie in der Hegelschen Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklits gleich sehr von der Kategorie der empirischen Allheit entfernt.’” (Vgl. a. a. O. S. 40.) Brandes hat nicht Unrecht, wenn er zwischen dieser Staatsidee, die bei Lassalle immer wiederkehrt, und Lassalles Bekennerschaft zur Demokratie und zum allgemeinen Stimmrecht -- die doch die Herrschaft des „formellen Willens der Subjekte” darstellen -- einen Gegensatz erblickt, den man „nicht ungestraft in seinem Gemüte hegt”, und der in der Welt der Prinzipien das Gegenstück zu dem Kontrast darstelle, der „rein äußerlich zutage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und schwieligen Händen sprach”. Das ist belletristisch ausgedrückt. Tatsächlich hat Lassalles althegelsche Staatsidee ihn später im Kampf gegen den Liberalismus weit über das Ziel hinausschießen lassen. Über Lassalles Auffassung von Ehre und Ruhm schreibt Brandes: „Noch eine Übereinstimmung, die letzte zwischen -- Heraklit und Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und dem Lobe anderer.
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Heraklit hat das oft zitierte Wort gesprochen: ‚Die größeren Schicksale erlangen das größere Los.’ Und er hat gesagt, was das rechte Licht auf diesen Satz wirft: ‚Daß die Menge und die sich weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rat fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, wenige nur gut, die Besten aber dem Ruhme nachfolgen. ‚Denn,’ fügt er hinzu, ‚es wählen die Besten eins statt allem, den immerwährenden Ruhm der Sterblichen.’ Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größere Los, welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein durch Reflexion und Philosophie begründetes. ‚Der Ruhm’, sagt Lassalle, ‚ist in der Tat das Entgegengesetzte von allem, das Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in ihrem Nichtsein, eine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit des Menschen”, und mit Wärme fügt er hinzu: ‚Wie dies der Grund ist, weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und über alle kleinen und beschränkten Ziele hinausgehoben hatte, wie das der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann ‚Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel’, so ist es auch der Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisierung seines spekulativen Prinzips erblickte.’” Allerdings lag es nicht in Lassalles Natur, sich mit dem Ruhm, der erst Hand in Hand mit dem Todesengel annaht, zu begnügen. Im Gegensatz zu der Heraklitischen Verachtung der Menge war er für den Beifall durchaus nicht unempfindlich und nahm ihn selbst dann, wenn er mehr Höflichkeitsform war, unter Umständen mit fast naiver Genugtuung für die Sache selbst auf. Die Vorliebe für das Pathos, die sich bei Lassalle in so hohem Grade zeigte, deutet in der Regel auf eine Neigung zur Schauspielerei. Ist Lassalle nun auch von einer Dosis davon nicht ganz freizusprechen, so kann man ihn wenigstens nicht anklagen, daß er aus dem, was Brandes „seine unselige Vorliebe für den Lärm und Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten” nennt, je einen Hehl gemacht habe. In seinen Schriften, in seinen Briefen tritt sie mit einer Offenheit zutage, die in ihrer Naivetät etwas Versöhnendes hat.
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Wenn Helene von Rakowitza in ihrer Rechtfertigungsschrift erzählt, daß Lassalle ihr in Bern ausgemalt habe, wie er einst als volkserwählter Präsident der Republik „von sechs Schimmeln gezogen” seinen Einzug in Berlin halten werde, so ist man versucht, entweder an eine Übertreibung der Schreiberin zu glauben, oder anzunehmen, daß Lassalle sich durch Ausmalen einer so verlockenden Zukunft um so fester in dem Herzen seiner Erwählten festzusetzen hoffte. Indes, die bekannte schriftliche „Seelenbeichte” an Sophie von Sontzew beweist, daß es sich bei diesem Zukunftsbild keineswegs nur um die Spielerei einer müßigen Stunde, um den Einfall eines Verliebten handelte, sondern um einen Gedanken, in dem Lassalle selbst sich berauschte, dessen Zauber einen mächtigen Reiz auf ihn ausübte. Er nennt sich -- im Jahre 1860 -- „das Haupt einer Partei”, in bezug auf das sich „fast unsere ganze Gesellschaft” in zwei Parteien teile, deren eine -- ein Teil der Bourgeoisie und das Volk -- Lassalle „achtet, liebt, sogar nicht selten verehrt”, für die er „ein Mann von größtem Genie und von einem fast übermenschlichen Charakter ist, von dem sie die größten Taten erwarten”. Die andere Partei -- die ganze Aristokratie und der größte Teil der Bourgeoisie -- fürchtet ihn „mehr als irgend jemand anders” und haßt ihn daher „unbeschreiblich”. Werde die Frauenwelt dieser aristokratischen Gesellschaft es Sophie von Sontzew nicht verzeihen, daß sie einen solchen Menschen heiratete, so werden auf der andern Seite viele Frauen es ihr nicht verzeihen, daß ein solcher Mensch sie heiratete, „sie eines Glückes halber beneiden, das ihre Verdienste übersteige”. Und „freilich, ich verhehle es Ihnen nicht, es könnte wohl sein, daß, wenn gewisse Ereignisse eintreten, eine Flut von Bewegung, Geräusch und Glanz auf Ihr Leben fallen würde, wenn Sie mein Weib werden.” So übertrieben alle diese Äußerungen erscheinen, so wenig sie der Wirklichkeit entsprachen zu einer Zeit, wo von einer sozialistisch-demokratischen Partei gar keine Rede war, Lassalle vielmehr gesellschaftlich mit den bürgerlichen Liberalen und Demokraten auf bestem Fuße stand und soeben eine Broschüre veröffentlicht hatte, deren Inhalt mit Aspirationen übereinstimmte, die in Regierungskreisen gehegt wurden, so wohnt ihnen doch eine große subjektive Wahrheit inne -- Lassalle selbst glaubte an sie. Lassalle glaubte an die Partei, die in ihm ihr Haupt erblickte, wenn sie auch vorläufig bloß aus ihm bestand und selbst in seinen Ideen noch ein sehr unbestimmtes Dasein führte. Die Partei, das war er -- seine Bestrebungen und seine Pläne.
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Jedes Wort der Anerkennung von seiten seiner Freunde oder aber, was er dafür hielt, war für ihn Bestätigung seiner Mission, und nicht selten nahm er Schmeichelei für aufrichtige Huldigung. Es ist merkwürdig, welcher Widersprüche die menschliche Natur fähig ist. Lassalle war, wie aus den Berichten seiner näheren Bekannten und aus seinen Briefen hervorgeht, mit schmeichelhaften Adjektiven äußerst freigebig, aber sie waren allenfalls Flitterwerk, wenn er sie verschleuderte, von anderen auf ihn selbst angewendet, nahm er sie dagegen leicht für echtes Gold. So sehr war seine Partei in seiner Vorstellung mit ihm selbst verwachsen, daß, als er später wirklich an der Spitze einer Partei stand, oder wenigstens an der Spitze einer im Entstehen begriffenen Partei, er sie nur aus dem Gesichtswinkel seiner Person zu betrachten vermochte und danach behandelte. Man mißverstehe uns nicht. Es wäre absurd, etwa zu sagen, daß Lassalle den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein nur ins Leben rief, um seinem Ehrgeiz zu frönen, daß der Sozialismus ihm nur Mittel, aber nicht Zweck war. Lassalle war überzeugter Sozialist, das unterliegt gar keinem Zweifel. Aber er wäre nicht imstande gewesen, in die sozialistische Bewegung aufzugehen, ihr seine Persönlichkeit -- ich sage ausdrücklich nicht sein Leben, aufzuopfern. Soviel an dieser Stelle hierüber. Dem griechischen Philosophen folgte ein deutscher Ritter. Kurz nachdem der Heraklit erschienen, vollendete Lassalle ein bereits in Düsseldorf entworfenes historisches Drama und ließ es, nachdem eine anonym eingereichte Bühnenbearbeitung von der Intendantur der Kgl. Schauspiele abgelehnt worden war, 1859 unter seinem Namen im Druck erscheinen. Daß der „Franz von Sickingen” als Bühnenwerk verfehlt war, hat Lassalle später selbst eingesehen, und er hat als Hauptursache dafür den Mangel an dichterischer Phantasie bezeichnet. In der Tat macht das Drama, trotz einzelner höchst wirkungsvoller Szenen und der gedankenreichen Sprache, im ganzen einen trockenen Eindruck, die Tendenz tritt zu absichtlich auf, es ist zuviel Reflexion da, und es werden vor allem viel zuviel Reden gehalten. Auch ist die Metrik oft von einer erstaunlichen Unbeholfenheit. Brandes erzählt, daß ein Freund Lassalles, den dieser, während er am „Franz von Sickingen” arbeitete, um seinen Rat ersuchte, und der ein bewährter metrischer Künstler gewesen, Lassalle den Vorschlag gemacht habe, er solle das Stück lieber in Prosa schreiben, und man kann Brandes beistimmen, daß ein besserer Rat gar nicht gegeben werden konnte.
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Eine Ausnahme machen sie nur bei den bekannten Losungsworten: „Loset, sagt an: Was ist das für ein Wesen?” „Wir können vor Pfaffen und Adel nicht genesen,” die denn auch wahrhaft erfrischend wirken. Indes diese technischen Fragen treten für uns zurück vor der Frage nach Inhalt und Tendenz des Dramas. Lassalle wollte mit dem „Franz von Sickingen” über das historische Drama, wie es Schiller und Goethe geschaffen, einen weiteren Schritt hinaus machen. Die historischen Kämpfe sollten nicht, wie namentlich bei Schiller, nur erst den Boden liefern, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt, während die eigentliche dramatische Handlung sich um rein individuelle Interessen und Geschicke dreht, vielmehr sollten die kulturhistorischen Prozesse der Zeiten und Völker zum eigentlichen Subjekt der Tragödie werden, so daß sich diese nicht mehr um die Individuen als solche dreht, die vielmehr nur die Träger und Verkörperungen der kämpfenden Gegensätze sind, sondern um jene größten und gewaltigsten Geschicke der Nationen selbst -- „Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des gesamten allgemeinen Geistes entscheiden und von den dramatischen Personen mit der verzehrenden Leidenschaft, welche historische Zwecke erzeugen, zu ihrer eigenen Lebensfrage gemacht werden. Bei alledem sei es möglich,” meint Lassalle, „den Individuen aus der Bestimmtheit der Gedanken und Zwecke heraus, denen sie sich zuteilen, eine durchaus markige und feste, selbst derbe und realistische Individualität zu geben.” (Vgl. das Vorwort zum Franz von Sickingen.) Ob und inwieweit Lassalle die so gestellte Aufgabe gelöst hat und inwieweit sie überhaupt lösbar ist, unter welchen Voraussetzungen sich die großen Kämpfe der Menschheit und der Völker so in Individuen verkörpern lassen, daß nicht das eine oder das andere, die Größe und umfassende Bedeutung jener Kämpfe oder die lebendige Persönlichkeit der Individuen dabei zu kurz kommt, ist ebenfalls eine Frage, die wir hier unerörtert lassen können. Es genügt, daß Lassalle bei der Durchführung des Dramas von jener Auffassung ausgegangen ist. Und nun zum Stoff des Dramas selbst. Wie schon der Titel anzeigt, hat es das Unternehmen Franz von Sickingens gegen die deutschen Fürsten zum Mittelpunkt. Sickingen und sein Freund und Ratgeber Ulrich von Hutten sind die Helden des Dramas, und es ist eigentlich schwer zu sagen, wer von beiden das Interesse mehr in Anspruch nimmt, der militärische und staatsmännische oder der theoretische Repräsentant des niederen deutschen Adels. Merkwürdigerweise hat Lassalle nicht in dem ersteren, sondern in dem letzteren sich selbst zu zeichnen versucht. „Lesen Sie mein Trauerspiel,” schreibt er an Sophie von Sontzew.
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„Alles, was ich Ihnen hier sagen könnte, habe ich Hutten aussprechen lassen. Auch er hatte alle Verleumdungen, alle Arten von Haß, jede Feindseligkeit zu ertragen. Ich habe aus ihm den Spiegel meiner Seele gemacht, und ich konnte dies, da sein Schicksal und das meinige einander vollständig gleich und von überraschender Ähnlichkeit sind.” Es würde selbst Lassalle schwer geworden sein, diese überraschende Ähnlichkeit zu beweisen, namentlich um die Zeit, wo er diesen Brief schrieb. Er führte in Berlin ein luxuriöses Leben, verkehrte mit Angehörigen aller Kreise der besser situierten Gesellschaft und erfreute sich als Politiker nicht entfernt eines ähnlichen Hasses wie der fränkische Ritter, der Urheber der leidenschaftlichen Streitschriften wider die römische Pfaffenherrschaft. Nur in einigen Äußerlichkeiten lassen sich Analogien zwischen Lassalle und Hutten ziehen, aber in diesem Falle kann es weniger darauf ankommen, was tatsächlich war, sondern was Lassalle glaubte und wovon er sich bei seinem Werke geistig leiten ließ. Menschen mit so ausgeprägtem Selbstgefühl sind in der Regel leicht Täuschungen über sich selbst ausgesetzt. Genug, wir haben in dem Hutten des Dramas Lassalle vor uns, wie er um jene Zeit dachte, und die Reden, die er Hutten in den Mund legt, erhalten dadurch für das Verständnis des Lassalleschen Ideenkreises eine besondere Bedeutung. Hierher gehört namentlich die Antwort Huttens auf die Bedenken des Ökolampadius gegen den geplanten Aufstand: „Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte. Ihr habt ganz recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,” ein echt Hegelscher Satz, „Doch ihre Form bleibt ewig -- die Gewalt!” Und dann, als Ökolampadius von der „Entweihung der Liebeslehre durch das Schwert” gesprochen: „Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert! Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt, Der Gott, der in der Wirklichkeit geboren. Das Christentum, es ward durchs Schwert verbreitet, Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft, Den wir noch heut den Großen staunend nennen. Es ward durchs Schwert das Heidentum gestürzt, Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab! Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben, Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht Und Wissenschaft und Künste uns geboren.
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Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon! So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet Das Herrliche, das die Geschichte sah, Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen, Dem _Schwert_ zuletzt verdankt es sein Gelingen!” Es liegt in den Sätzen „doch ihre -- der Geschichte -- Form bleibt ewig die Gewalt”, und „daß alles Große, was sich jemals wird vollbringen”, dem Schwert zuletzt sein Gelingen verdanken werde, unzweifelhaft viel Übertreibung. Trotzdem hatte der Hinweis, daß das für die Freiheit geschwungene Schwert das „fleischgewordene Wort” sei, daß, wer die Freiheit erwerben will, bereit sein muß, für sie mit dem Schwert zu kämpfen, seine volle Berechtigung in einer Epoche, wo man in weiten Kreisen der ehemaligen Demokratie sich immer mehr darauf verlegte, alles von der Macht des Wortes zu erwarten. Sehr zeitgemäß, und nicht nur für die damalige Epoche, sind auch die Worte, die Lassalle den alten Balthasar Slör Sickingen im letzten Akt zurufen läßt: „O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten In großen Dingen schlau zu sein. _Verkleidung_ Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht, Wo im Gewühl die Völker dich nur an Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen; Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle Dich kühn in deines eig'nen Banners Farbe. Dann probst du aus im ungeheuren Streit Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens, Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können!” Auch der Ausspruch Sickingens: „Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg. Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel, Daß eines sich stets ändert mit dem andern, Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt”. ist ein Satz aus dem politischen Glaubensbekenntnis Lassalles. Leider hat er ihn jedoch gerade in der kritischsten Periode seiner politischen Laufbahn unbeachtet gelassen. Halten wir uns jedoch nicht bei Einzelheiten auf, sondern nehmen wir das Ganze des Dramas, ziehen wir seine Quintessenz. Die Rolle Huttens und Sickingens in der Geschichte ist bekannt. Sie sind beide Vertreter des spätmittelalterlichen Rittertums, einer um die Zeit der Reformation im Untergehen begriffenen Klasse. Was sie wollen, ist diesen Untergang aufhalten, ein vergebliches Beginnen, das notwendigerweise scheitert und dasjenige, was es verhindern will, nur beschleunigt. Da Hutten wie Sickingen durch Charakter wie Intelligenz ihre Klasse weit überragen, so ist hier in der Tat das Material zu einer echten Tragödie gegeben, der vergebliche Kampf markiger Persönlichkeiten gegen die geschichtliche Notwendigkeit.
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Merkwürdigerweise wird aber diese Seite der Hutten-Sickingenschen Bewegung im Lassalleschen Drama am wenigsten behandelt, so bedeutungsvoll sie doch gerade für die -- wir wollen nicht einmal sagen, sozialistische, sondern überhaupt die moderne wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ist. Im Drama geht das Hutten-Sickingensche Unternehmen an tausend Zufälligkeiten -- Unüberlegtheit, Mißgriffe in den Mitteln, Verrat usw. -- zugrunde, und Hutten-Lassalle schließt mit den Worten: „Künft'gen Jahrhunderten vermach' ich unsere Rache”, was unwillkürlich an den recht unhistorischen Schluß in Götz von Berlichingen erinnert: „Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß! Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!” Begreift man aber, warum der junge Goethe im achtzehnten Jahrhundert sich einen Vertreter des untergehenden Rittertums zum Helden wählen konnte, so ist es schon schwerer zu verstehen, wie nahezu hundert Jahre später, zu einer Zeit, wo die Geschichtsforschung bereits ganz andere Gesichtspunkte zur Beurteilung der Kämpfe des Reformationszeitalters eröffnet hatte, ein Sozialist wie Lassalle zwei Vertreter eben dieses Rittertums schlechthin als die Repräsentanten „eines kulturhistorischen Prozesses hinstellt, auf dessen Resultaten”, wie er sich in der Vorrede ausdrückt, „unsere ganze Wirklichkeit lebt”. „Ich wollte,” sagt er an der betreffenden Stelle weiter, „wenn möglich, diesen kulturhistorischen Prozeß noch einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie gegeben -- und darum entschloß ich mich zu diesem Drama.” Nun vertreten allerdings Hutten und Sickingen neben und mit der Sache des Rittertums noch den Kampf gegen die Oberherrschaft Roms und für die Einheit des Reiches, zwei Forderungen, welche ideologisch die des untergehenden Rittertums waren, geschichtlich aber im Interesse der aufkommenden Bourgeoisie lagen, und die denn auch durch die Entwicklung der Verhältnisse in Deutschland nach Überwindung der unmittelbaren Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges wieder in den Vordergrund gedrängt und im neunzehnten Jahrhundert in erster Reihe von dem liberalen Bürgertum verfochten wurden. Der deutsche Adel hat sich erst nach der Gründung des neudeutschen Reiches daran erinnert, daß er einmal eine so anständige Persönlichkeit wie Franz von Sickingen hervorgebracht hat -- den Hutten kann er noch immer nicht verdauen; in den fünfziger Jahren und noch später feierte der „Gartenlauben”-Liberalismus Hutten und Sickingen als Vorkämpfer der nationalen und Aufklärungsbewegung und ignorierte ihre Klassenbestrebungen. Genau dasselbe ist im Lassalleschen Drama der Fall. Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen kämpfen lediglich um der geistigen Freiheit willen gegen den römischen Antichrist, nur im Interesse der nationalen Sache gegen die Einzelfürsten.
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„Was wir wollen,” sagt Sickingen im Zwiegespräch mit Hutten, -- „das ist ein ein'ges großes, mächt'ges Deutschland, Zertrümmerung alles Pfaffenregiments, Vollständ'ger Bruch mit allem röm'schen Wesen, Die reine Lehr' als Deutschlands ein'ge Kirche, Wiedergeburt, zeitmäßige der alten, Der urgermanischen gemeinen Freiheit, Vernichtung unsrer Fürstenzwergherrschaft Und usurpierten Zwischenregiments, Und machtvoll auf der Zeit gewaltigem Drang Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd, Ein -- evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze Des großen Reichs.” Und Hutten antwortet: „Treu ist das Bild.” Da Lassalle ausdrücklich den „Franz von Sickingen” als ein Tendenzdrama bezeichnet, so haben wir in ihm einen Beleg für die Wandlung, die sich in ihm in bezug auf seine -- vorläufig ideale -- Stellungnahme zu den politischen Strömungen der Zeit vollzogen. Es sollte indes gar nicht lange dauern, bis sich diese Wandlung, eine Annäherung an die Auffassungsweise der norddeutschen bürgerlichen Demokratie, auch gegenüber einer konkreten Frage des Tages offenbaren sollte[3]. Der „Franz von Sickingen” war im Winter 1857/58 vollendet worden. Lassalle hatte ihn, wie er an Marx schreibt, bereits entworfen und begonnen, während er noch am Heraklit arbeitete. Es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, sich zeitweilig aus der abstrakten Gedankenwelt, in die er sich bei jener Arbeit „einspintisieren” mußte, mit einem Gegenstand zu beschäftigen, der in direkterer Beziehung zu den großen Kämpfen der Menschheit stand. Daher habe er nebenbei Mittelalter und Reformationszeit studiert und sich an den Werken und dem Leben Ulrich von Huttens „berauscht”, als ihn die Lektüre eines gerade erschienenen elenden „modernen” Dramas auf den Gedanken brachte: Das -- der Kampf Huttens -- wäre ein Stoff, der Behandlung wert. So habe er ohne ursprünglich an sich als ausführenden Dichter zu denken, den Plan des Dramas entworfen, wurde sich aber alsbald klar, daß er es auch selbst fertig machen müsse. Es sei „wie eine Eingebung” über ihn gekommen. Man spürt es dem Drama auch an, daß es mit warmem Herzblut geschrieben wurde. Trotz der oben bezeichneten Fehler erhebt es sich, dank seines geistigen Gehalts, immer noch himmelhoch über die ganze Dramenliteratur jener Zeit. Es hätte es keiner der deutschen Dichter damals besser gemacht als Lassalle.
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Fußnoten: [1] Auf Vorgänge, die mit Führung und Ausgang des Hatzfeldt-Prozesses in Verbindung stehen, bezieht sich ein Teil der Anklagen, welche im Jahre 1855 eine von Düsseldorf, dem damaligen Wohnort Lassalles, nach London entsandte Deputation rheinischer Sozialisten bei Karl Marx und Freiligrath gegen Lassalle erhob und die auf diese beiden, wie Marx an Engels schrieb, einen _entscheidenden Eindruck_ machten. [2] G. Brandes, Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild. Berlin 1877. [3] Das Vorstehende war seinerzeit gerade geschrieben, als ich durch die Freundlichkeit von Friedrich Engels die im Nachlaß von Karl Marx vorgefundenen Briefe Lassalles an Karl Marx erhielt, die seitdem von Franz Mehring herausgegeben sind (Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachfolger). Ein vom 7. Mai 1859 datierter, an Marx und Engels adressierter Brief handelt bis auf wenige Zeilen ausschließlich vom „Franz von Sickingen”. Lassalle hatte von dem Drama, sobald es im Druck erschienen, je ein Exemplar an Karl Marx und Friedrich Engels geschickt, worauf ihm diese, die damals noch örtlich getrennt lebten, eingehend ihre Urteile über es mitteilten, und der erwähnte Brief Lassalles ist dessen Antwort auf diese Urteile. Er verbindet sie in einem und demselben Schreiben, weil, wie er sich ausdrückt, „Eure beiderseitigen Einwürfe, ohne geradezu identisch zu sein, doch in der Hauptsache dieselben Punkte berühren”. Aus dem Lassalleschen Schreiben geht hervor, daß die Kritik von Marx wie Engels eben die Punkte betrifft, die auch ich im obigen kritisieren zu müssen glaubte. „Ihr stimmt beide darin überein,” schreibt Lassalle an einer Stelle, „daß auch Sickingen noch zu abstrakt gezeichnet ist.” In diesem Satze ist in nuce dasselbe gesagt, was ich oben ausgeführt habe. Der Lassallesche Sickingen ist nicht der streitbare Ritter der ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts, er ist der in des letzteren Rüstung gesteckte Liberale des neunzehnten Jahrhunderts, das heißt der liberale Ideologe. Seine Reden fallen gewöhnlich vollständig aus der Epoche, in der sie gehalten sein sollen, heraus. „Ihr begegnet Euch Beide”, schreibt Lassalle an einer andern Stelle, „daß ich die Bauernbewegung ‚zu sehr zurückgesetzt’, ‚nicht genug hervorgehoben habe’. Du (Marx) begründest dies so: Ich hätte Sickingen und Hutten daran untergehen lassen müssen, daß sie, wie der polnische Adel etwa, nur in ihrer Einbildung revolutionär waren, in der Tat aber ein reaktionäres Interesse vertraten.
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‚Die adligen Repräsentanten der Revolution’, sagst Du, ‚hinter deren Stichwörtern von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des alten Kaiserthums und des Faustrechts lauert -- durften dann nicht so alles Interesse absorbiren, wie sie es bei Dir thun, sondern die Vertreter der Bauern, namentlich dieser, und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz bedeutend aktiveren Hintergrund bilden. Du hättest dann auch in viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen lassen können, während jetzt in der That, außer der religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bleibt’. ‚Bist Du nicht selbst’, rufst Du aus, ‚gewissermaßen wie Dein Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch-bürgerliche zu stellen?’” Ich habe aus diesem Zitat die Lassalleschen Zwischenbemerkungen fortgelassen, weil sie sich meist auf im Brief vorhergehende Ausführungen beziehen, hier also unverständlich wären. Im wesentlichen verteidigt sich Lassalle damit, daß er nachzuweisen sucht, die ritterliche Beschränktheit, soweit sie überhaupt im historischen Sickingen vorhanden, damit genügend zum Ausdruck gebracht zu haben, daß Sickingen, statt sich an die ganze Nation zu wenden, statt alle revolutionären Kräfte im Reich zum Aufstand aufzurufen und sich an ihre Spitze zu stellen, seinen Aufstand als einen ritterlichen beginnt und fortführt, bis er an der Beschränktheit seiner ritterlichen Mittel zugrunde geht. Gerade darin, daß Sickingen unterliegt, weil er nicht weit genug gegangen, liege die tragische und zugleich die revolutionäre Idee des Dramas. Der Bauernbewegung aber habe er in der einen Szene des Stückes, in der er die Bauern selbst auf die Bühne bringe, und in den verschiedenen Hinweisen auf sie in den Reden Balthasars usw., vollauf die Bedeutung zugeschrieben, welche ihr in Wirklichkeit innegewohnt habe und noch darüber hinaus. Geschichtlich sei die Bauernbewegung ebenso reaktionär gewesen, wie die des Adels. Die letztere Auffassung hat Lassalle bekanntlich auch in verschiedenen seiner späteren Schritten verfochten, so u. a. im „Arbeiterprogramm”. Sie ist aber m. E. keineswegs richtig. Daß die Bauern mit Forderungen auftraten, die auf die Vergangenheit zurückgriffen, stempelt ihre Bewegung noch zu keiner reaktionären, die Bauern waren zwar keine neue Klasse, aber sie waren keineswegs, wie die Ritter, eine untergehende Klasse. Das Reaktionäre in ihren Forderungen ist nur formell, nicht das Wesentliche.
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Das übersieht Lassalle, der als Hegelianer hier wieder in den Fehler verfällt, die Geschichte aus den „Ideen” abzuleiten, so vollständig, daß er zu der Marxschen Bemerkung: „Du hättest dann auch in viel höherem Grade gerade die modernsten Ideen in ihrer naivsten Form sprechen lassen können”, ein doppeltes Fragezeichen, verstärkt durch ein Ausrufungszeichen, macht. Der andere Teil seiner Verteidigung hätte dann seine Berechtigung, wenn im Stück auch nur die leiseste Andeutung gegeben wäre, daß Sickingens Beschränkung auf seine ritterlichen Mittel seiner ritterlichen Beschränktheit geschuldet war. Das ist aber nicht der Fall. Im Stück wird sie lediglich als ein taktischer Fehler behandelt. Das reicht aus für die tragische Idee des Dramas, aber nicht für die Veranschaulichung des historischen Anachronismus, an dem das Sickingensche Unternehmen in Wirklichkeit zugrunde gegangen ist. Ferdinand Lassalle und der italienische Krieg. Anfang 1859 erschien der „Franz von Sickingen” als Buchdrama. Gerade als er herauskam, stand Europa am Vorabend eines Krieges, der auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland eine große Rückwirkung ausüben sollte. Es war der bereits im Sommer 1858 zwischen Louis Napoleon und Cavour in Plombières verabredete französisch-sardinische Feldzug behufs Losreißung der Lombardei von Österreich und der Beseitigung der österreichischen Oberherrschaft in Mittelitalien. Österreich gehörte damals zum deutschen Bund, und so erhob sich natürlich die Frage, welche Haltung die übrigen Bundesstaaten in diesem Streit einnehmen sollten. Sei es Pflicht des übrigen Deutschland, sich gegenüber Frankreich mit Österreich zu identifizieren oder nicht? Die Beantwortung der Frage war dadurch erschwert, daß der Krieg einen zwieschlächtigen Charakter trug. Für die ihn betreibenden Italiener war er ein nationaler Befreiungskampf, der die Sache der Einigung und Befreiung Italiens einen Schritt vorwärts bringen sollte. Von seiten Frankreichs dagegen war er ein Kabinettskrieg, unternommen, um die Herrschaft des bonapartistischen Regimes in Frankreich zu stärken und die Machtstellung Frankreichs in Europa zu erhöhen. Soviel stand auf jeden Fall fest. Außerdem pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß Napoleon sich von seinem Verbündeten, dem König von Sardinien, für seine Bundesgenossenschaft einen hübschen Kaufpreis in Gebietsabtretungen (Nizza und Savoyen) ausbedungen hatte und daß die „Einigung” Italiens in jenem Moment nur soweit stattfinden sollte, als sich mit den Interessen des bonapartistischen Kaiserreichs vertrug. Aus diesem Grunde denunzierte z. B. ein so leidenschaftlicher italienischer Patriot wie Mazzini bereits Ende 1858 den in Plombières zwischen Napoleon und Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag als eine bloße dynastische Intrige. Soviel war sicher, daß, wer diesen Krieg unterstützte, zunächst Napoleon III.
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und dessen Pläne unterstützte. Napoleon III. brauchte aber Unterstützung. Gegen Österreich allein konnte er im Bunde mit Sardinien den Krieg aufnehmen, kamen aber die übrigen Staaten des Deutschen Bundes und namentlich Preußen Österreich zu Hilfe, so stand die Sache wesentlich bedenklicher. So ließ er denn durch seine Agenten und Geschäftsträger bei den deutschen Regierungen, in der deutschen Presse und unter den deutschen Parteiführern mit allen Mitteln dagegen agitieren, daß der Krieg als eine Sache behandelt werde, die Deutschland etwas angehe. Was habe das deutsche Volk für ein Interesse, die Gewaltherrschaft, die Österreich in Italien ausübe, aufrechtzuerhalten, überhaupt einem so urreaktionären Staat wie Österreich Hilfe zu leisten? Österreich sei der geschworene Feind der Freiheit der Völker; werde Österreich zertrümmert, so würde auch für Deutschland ein schönerer Morgen anbrechen. Auf der anderen Seite entwickelten die österreichischen Federn, daß, wenn die Napoleonischen Pläne im Süden sich verwirklichten, der Rhein in direkte Gefahr geriete. Ihm würde der nächste Angriff gelten. Wer das linke Rheinufer vor Frankreichs gierigen Händen sicherstellen wolle, müsse dazu beitragen, daß Österreich seine militärischen Positionen in Oberitalien unbeeinträchtigt erhalte, der Rhein müsse am Po verteidigt werden. Die von den napoleonischen Agenten ausgegebene Parole stimmte in vielen wesentlichen Punkten mit dem Programm der kleindeutschen Partei (Einigung Deutschlands unter Preußens Spitze, unter Hinauswerfung Österreichs aus dem deutschen Bund) überein, war direkt auf es zugeschnitten. Trotzdem konnten sich eine große Anzahl kleindeutscher Politiker nicht dazu entschließen, gerade in diesem Zeitpunkt die Sache Österreichs von der des übrigen Deutschland zu trennen. Dies erschien ihnen um so weniger zulässig, als es weiterhin bekannt war, daß Napoleon den Krieg im Einvernehmen mit der zarischen Regierung in Petersburg führte, dieser also den weiteren Zweck hatte, den russischen Intrigen im Südosten Europas Vorschub zu leisten. Vielmehr ging ihre Meinung dahin, jetzt käme es vor allen Dingen darauf an, den Angriff Napoleons abzuschlagen. Erst wenn das geschehen sei, könne man weiter reden. Bis es geschehen, müßten sich aber die Italiener gefallen lassen, daß man sie, solange sie unter der Schutzherrschaft Bonapartes kämpften, einfach als dessen Verbündete behandelte. Es läßt sich nun nicht leugnen, daß man vom kleindeutschen Standpunkt aus auch zu einer andern Auffassung der Situation gelangen, in der vorentwickelten Gedankenreihe eine Inkonsequenz erblicken konnte.
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Wenn Österreich, und namentlich dessen außerdeutsche Besitzungen, um so eher je besser aus dem Deutschen Bund hinausgeworfen werden sollten, warum nicht mit Vergnügen ein Ereignis begrüßen, das sich als ein Schritt zur Verwirklichung dieses Programms darstellte? Hatte nicht Napoleon erklärt, daß er nur Österreich und nicht Deutschland bekriege? Warum also Österreich gegen Frankreich beistehen, zumal man dadurch gezwungen werde, auch die Italiener zu bekriegen, die doch für die gerechteste Sache von der Welt kämpften? Warum den Rhein verteidigen, ehe er angegriffen, ehe auch nur eine Andeutung gefallen, daß ein Angriff auf ihn beabsichtigt sei? Warum nicht lieber die Verlegenheit Österreichs und die Beschäftigung Napoleons in Italien benutzen, um die Sache der Einigung Deutschlands unter Preußens Führung auch durch positive Maßnahmen einen weiteren Schritt zu fördern? Dieser -- es sei wiederholt -- vom kleindeutschen Standpunkt aus konsequenteren Politik spricht Lassalle in seiner, Ende Mai 1859 erschienenen Schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens” das Wort. Mit großer Energie bekämpft er die in den beiden Berliner Organen des norddeutschen Liberalismus, der „National-Zeitung” und der „Volks-Zeitung”, -- in der ersteren unter anderm auch von Lassalles nachmaligem Freunde, Lothar Bucher -- verfochtene Ansicht, einem von Bonaparte ausgehenden Angriff gegenüber müsse Preußen Österreich als Bundesgenosse zur Seite stehen, und fordert er dagegen, daß Preußen den Moment benutzen solle, den deutschen Kleinstaaten gegenüber seine deutsche Hegemonie geltend zu machen und, wenn Napoleon die Karte Europas im Süden nach dem Prinzip der Nationalitäten revidiere, dasselbe im Namen Deutschlands im Norden zu tun, wenn jener Italien befreie, seinerseits Schleswig-Holstein zu nehmen. Jetzt sei der Moment gekommen, „während die Demolierung Österreichs sich schon von selbst vollzieht, für die Erhöhung Preußens in der Deutschen Achtung zu sorgen”. Und, fügt Lassalle schließlich hinzu, „möge die Regierung dessen gewiß sein.
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In diesem Kriege, der ebensosehr ein Lebensinteresse des deutschen Volks als Preußens ist, würde die deutsche Demokratie selbst Preußens Banner tragen und alle Hindernisse vor ihm zu Boden werfen mit einer Expansivkraft, wie ihrer nur der berauschende Ausbruch einer nationalen Leidenschaft fähig ist, welche seit fünfzig Jahren komprimiert in dem Herzen eines großen Volkes zuckt und zittert.” Man hat Lassalle später auf Grund dieser Broschüre zu einem Advokaten der „deutschen” Politik Bismarcks zu stempeln gesucht, und es läßt sich nicht bestreiten, daß das in ihr entwickelte nationale Programm als solches eine große Ähnlichkeit mit dem des im Sommer 1859 gegründeten Nationalvereins und ebenso, mutatis mutandis, mit der Politik hat, die Bismarck bei der Verwirklichung der deutschen Einheit unter preußischer Spitze befolgte. Lassalle war eben bei all seinem theoretischen Radikalismus in der Praxis noch ziemlich stark im Preußentum stecken geblieben. Nicht daß er bornierter preußischer Partikularist gewesen wäre -- wir werden gleich sehen, wie weit er davon entfernt war --, aber er sah die nationale Bewegung und die auf die auswärtige Politik bezüglichen Angelegenheiten im wesentlichen durch die Brille des preußischen Demokraten an, sein Haß gegen Österreich war in dieser Hinsicht ebenso übertrieben, wie der Preußenhaß vieler süddeutscher Demokraten und selbst Sozialisten. Österreich ist ihm „der kulturfeindlichste Staatsbegriff, den Europa aufzuweisen hat”, er möchte „den Neger kennen lernen, der, neben Österreich gestellt, nicht ins Weißliche schimmerte”; Österreich ist „ein reaktionäres Prinzip”, der „gefährlichste Feind aller Freiheitsideen”; „der Staatsbegriff Österreich” muß „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt -- in alle vier Winde zerstreut werden”, jede politische Schandtat, die man Napoleon III. vorwerfen könne, habe Österreich auch auf dem Gewissen, und „wenn die Rechnung sonst ziemlich gleichstehen möchte -- das römische Konkordat hat Louis Napoleon trotz seiner Begünstigung des Klerus nicht geschlossen”. Selbst Rußland kommt noch besser weg, als Österreich. „Rußland ist ein naturwüchsig-barbarisches Reich, welches von seiner despotischen Regierung soweit zu zivilisieren gesucht wird, als mit ihren despotischen Interessen verträglich ist. Die Barbarei hat hier die Entschuldigung, daß sie nationales Element ist.” Ganz anders aber mit Österreich. „Hier vertritt, im Gegensatz zu seinen Völkern, die Regierung das barbarische Prinzip, künstlich und gewaltsam seine Kulturvölker unter dasselbe beugend.” In dieser einseitigen und relativ -- d. h.
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wenn man die übrigen Staaten in Vergleich zieht -- damals auch übertriebenen Schwarzmalerei Österreichs und auch sonst in verschiedenen Punkten, begegnet sich die Lassallesche Broschüre mit einer Schrift, die schon einige Wochen vor ihr erschienen war und ebenfalls die Tendenz hatte, die Deutschen zu ermahnen, Napoleon in Italien, solange er den Befreier spiele, freie Hand zu lassen und der Zertrümmerung Österreichs zu applaudieren. Es war dies die Schrift Karl Vogts „Studien zur gegenwärtigen Lage Europas”, ein die bonapartistischen Schlagworte wiedergebendes und direkt oder indirekt auch auf bonapartistischen Antrieb geschriebenes Buch. Ich würde Anstand genommen haben, diese Schrift in irgendeinem Zusammenhange mit der Lassalleschen zu zitieren, indes Lassalle ist so durchaus über jeden Verdacht der Komplizität mit Vogt oder dessen Einbläsern erhaben, daß die Möglichkeit absolut ausgeschlossen ist, durch den Vergleich, der mir aus sachlichen Gründen notwendig erscheint, ein falsches Licht auf Lassalle zu werfen. Zum Überfluß will ich aber noch einen Passus aus der Vorrede zum „Herr Vogt” von Karl Marx hierhersetzen, jener Schrift, die den Beweis lieferte, daß Vogt damals im bonapartistischen Interesse schrieb und agitierte, und deren Beweisführung neun Jahre später durch die in den Tuilerien vorgefundenen Dokumente bestätigt wurde -- ein Passus, der schon deshalb hierher gehört, weil er zweifelsohne gerade auch auf Lassalle sich bezieht. Marx schreibt: „Von Männern, die schon vor 1848 miteinander darin übereinstimmten, die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens nicht nur als ein Recht dieser Länder, sondern als das Interesse Deutschlands und Europas zu vertreten, wurden ganz entgegengesetzte Ansichten aufgestellt über die Taktik, die Deutschland bei Gelegenheit des italienischen Krieges von 1859 Louis Bonaparte gegenüber auszuführen habe. Dieser Gegensatz entsprang aus gegensätzlichen Urteilen über tatsächliche Voraussetzungen, über die zu entscheiden einer späteren Zeit vorbehalten bleibt. Ich für meinen Teil habe es in dieser Schrift nur mit den Ansichten Vogts und seiner Klique zu tun. Selbst die Ansicht, die er zu vertreten vorgab, und in der Einbildung eines urteilslosen Haufens vertrat, fällt in der Tat außerhalb der Grenzen meiner Kritik. Ich behandle die Ansichten, die er wirklich vertrat.” (K. Marx „Herr Vogt”. Vorwort V, VI.) Trotzdem war es natürlich nicht zu vermeiden, daß dort, wo Vogt mit Argumenten operiert, die sich auch bei Lassalle finden, dieser in der Marxschen Schrift mitkritisiert wird, was übrigens Lassalle nicht verhindert hat, in einem Briefe an Marx vom 19.
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Januar 1861 zu erklären, daß er nach der Lektüre des „Herr Vogt” Marx' Überzeugung, daß Vogt von Bonaparte bestochen sei, „ganz gerechtfertigt und in der Ordnung” finde, der innere Beweis dafür[4] sei „mit einer immensen Evidenz geführt”. Das Buch sei „in jeder Hinsicht ein meisterhaftes Ding”. Jedenfalls ist der „Herr Vogt” ein äußerst instruktives Buch zum Verständnis der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; dieses Pamphlet enthält eine Fülle von geschichtlichem Material, das zu einem ganzen Dutzend Abhandlungen ausreichen würde. Für unsere Betrachtung hat es aber noch ein besonderes Interesse. Die Korrespondenz zwischen Marx und Lassalle war zu keiner Zeit so lebhaft, als in den Jahren 1859 und 1860, und ein großer Teil davon handelt eben von dem italienischen Krieg und der ihm gegenüber einzunehmenden Haltung. Ob die Briefe Marx' hierüber an Lassalle noch erhalten sind und wenn, in welchen Händen sie sich befinden, ist bis jetzt nicht bekannt, noch ob der jetzige Besitzer sie zu veröffentlichen bereit ist. Aus den Lassalleschen Briefen ist jedoch die Stellung, die Marx damals einnahm, nur unvollkommen zu ersehen, und noch weniger ihre Begründung, da sich Lassalle, wie übrigens ganz natürlich, meist darauf beschränkt, seine Stellungnahme zu motivieren und die Einwände gegen dieselbe möglichst zu widerlegen. Es braucht aber wohl nicht des weiteren dargelegt zu werden, warum in einer für Sozialisten geschriebenen Abhandlung über Lassalle nicht nur dessen persönliche Beziehung zu den Begründern des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, sondern auch sein Verhältnis zu ihrer theoretischen Doktrin und zu ihrer Behandlung der politischen und sozialen Fragen von besonderem Interesse ist. Der Tagesliterat hatte in bezug auf dieses Verhältnis lange Zeit seine fertige Schablone. Für die Politik im engeren Sinne des Wortes lautete sie: Lassalle war national, Marx und Engels waren in jeder Hinsicht international, Lassalle war deutscher Patriot, Marx und Engels waren vaterlandslos, sie haben sich immer nur um die Weltrepublik und die Revolution gekümmert, was aus Deutschland wurde, war ihnen gleichgültig. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift hat jene Gegenüberstellung aufgegeben werden müssen. Noch ehe Lassalles „Italienischer Krieg” erschien, war in demselben Verlage, wie später diese, eine Broschüre erschienen, die dasselbe Thema behandelte.
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Sie war betitelt: „Po und Rhein.” Der Verfasser, der sich ebensowenig nannte, wie Lassalle in der ersten Auflage seiner Schrift, suchte militärwissenschaftlich nachzuweisen, daß die von den Organen der österreichischen Regierung ausgegebene Parole, Deutschland bedürfe zu seiner Verteidigung im Südwesten der italienischen Provinzen, falsch sei, daß auch ohne diese Deutschland noch eine starke Defensivposition in den Alpen habe, namentlich sobald ein einheitliches und unabhängiges Italien geschaffen sei, da ein solches kaum je einen triftigen Grund, mit Deutschland zu hadern, wohl aber häufig genug Anlaß haben werde, Deutschlands Bundesgenossenschaft gegen Frankreich zu suchen. Oberitalien sei ein Anhängsel, das Deutschland höchstens im Kriege nutzen, im Frieden immer nur schaden könne. Und auch der militärische Vorteil im Kriege würde erkauft durch die geschworene Feindschaft von 25 Millionen Italienern. Aber, führte der Verfasser alsdann aus, die Frage um den Besitz dieser Provinzen ist eine zwischen Deutschland und Italien, und nicht eine zwischen Österreich und Louis Napoleon. Gegenüber einem Dritten, einem Napoleon, der um seiner eigenen, in anderer Beziehung anti-deutschen Interessen willen sich einmischte, handle es sich um die einfache Behauptung einer Provinz, die man nur gezwungen abtritt, einer militärischen Position, die man nur räumt, wenn man sie nicht mehr halten kann ... „Werden wir angegriffen, so wehren wir uns.” Wenn Napoleon als Paladin der italienischen Unabhängigkeit auftreten wolle, so möge er erst bei sich anfangen und den Italienern Korsika abtreten, dann werde man sehen, wie ernst es ihm ist. Solle aber die Karte von Europa revidiert werden, „so haben wir Deutsche das Recht, zu fordern, daß es gründlich und unparteiisch geschehe, und daß man nicht, wie es beliebte Mode ist, verlange, Deutschland allein solle Opfer bringen.” „Das Endresultat dieser ganzen Untersuchung aber ist,” heißt es schließlich, „daß wir Deutsche einen ganz ausgezeichneten Handel machen würden, wenn wir den Po, den Mincio, die Etsch und den ganzen italienischen Plunder vertauschen könnten gegen die Einheit ... die allein uns nach innen und außen stark machen kann.” Der Verfasser dieser Broschüre war kein anderer als -- Friedrich Engels. Unnütz zu sagen, daß Engels sie im Einverständnis mit Karl Marx veröffentlicht hatte. Den Verleger hatte Lassalle besorgt. Lassalle hatte auch, wie aus einem seiner Briefe hervorgeht, eine Besprechung ihres Inhalts an die -- damals noch unabhängige -- Wiener „Presse” geschickt, deren Redakteur mit ihm verwandt war.
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Er kannte also ihren Inhalt ganz genau, als er seinen „Italienischen Krieg” schrieb, polemisiert somit auch gegen sie, wenn er die Ansicht bekämpft, daß, da der Krieg durch Napoleons Führung aus einem Befreiungskrieg in ein gegen Deutschland gerichtetes Unternehmen verwandelt sei, das notgedrungen mit einem Angriff auf den Rhein enden werde, er auch deutscherseits nur als solches zu behandeln sei. Auf der andern Seite wird, wie schon erwähnt, Lassalles Schrift im „Herr Vogt” mitkritisiert, und zwar in dem Abschnitt VIII „Dâ-dâ-Vogt und seine Studien”[5]. Wie sehr die Darlegungen Lassalles oft mit den Vogtschen übereinstimmten, dafür nur ein Beispiel. Österreichischerseits war auf die Verträge von 1815 hingewiesen worden, durch welche Österreich der Besitz der Lombardei garantiert worden war. Darauf antworten nun: Vogt: „Es ist sonderbar, eine solche Sprache in dem Munde der einzigen Regierung (bei Vogt unterstrichen) zu vernehmen, die bis jetzt in frecher Weise die Verträge gebrochen hat. Von allen andern sind sie bis jetzt respektiert worden, nur Österreich hat sie gebrochen, indem es mitten im Frieden, ohne Ursache, seine frevelnde Hand gegen die durch diese Verträge garantirte Republik Krakau ausstreckte und dieselbe dem Kaiserstaat ohne weiteres einverleibte.” („Studien”, S. 58.) Lassalle: „Die Verträge von 1815 können nicht einmal mehr diplomatisch ernstlich aufgerufen werden. Verletzt durch die Konstituirung Belgiens, mit Füßen getreten und zerrissen gerade von Österreich durch die gewaltsame Okkupation Krakaus, gegen welche die europäischen Kabinette zu protestieren nicht unterließen, haben sie jede rechtliche Gültigkeit für jedes Mitglied der europäischen Staatenfamilie verloren.” („Der Ital. Krieg usw.” Ges. Schriften Bd. I S. 43.) Hören wir nun Marx gegen Vogt: „Nikolaus natürlich vernichtete Konstitution und Selbständigkeit des Königreich Polen, durch die Verträge von 1815 garantiert, aus ‚Achtung’ vor den Verträgen von 1815. Rußland achtete nicht minder die Integrität Krakaus, als es die freie Stadt im Jahre 1831 mit moskowitischen Truppen besetzte. Im Jahre 1836 wurde Krakau wieder besetzt von Russen, Österreichern und Preußen, wurde völlig als erobertes Land behandelt und appellierte noch im Jahre 1840, unter Berufung auf die Verträge von 1815, vergebens an England und Frankreich. Endlich am 22. Februar 1846 besetzten Russen, Österreicher und Preußen abermals Krakau, um es Österreich einzuverleiben. Der Vertragsbruch geschah durch die drei nordischen Mächte, und die österreichische Konfiskation von 1846 war nur das letzte Wort des russischen Einmarsches von 1831.” („Herr Vogt”, S.
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73/74.) In einer Note weist dann Marx noch auf sein Pamphlet „Palmerston and Poland” hin, wo nachgewiesen sei, daß Palmerston seit 1831 ebenfalls an der Intrige gegen Krakau mitgearbeitet habe. Indes das letztere ist eine Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, wohl aber interessiert uns der andere Nachweis bei Marx, daß Vogt auch mit der Verweisung auf das Beispiel Krakaus nur eine von bonapartistischer Seite ausgehende Argumentation ab- und umschrieb. In einem der Anfang 1859 bei Dentu in Paris herausgekommenen bonapartistischen Pamphlete, „La vraie question, France, -- Italie -- Autriche”, hatte es wörtlich geheißen: „Mit welchem Rechte übrigens würde die österreichische Regierung die Unverletzbarkeit der Verträge von 1815 anrufen, sie, welche dieselben verletzt hat durch die Konfiskation von Krakau, dessen Unabhängigkeit diese Verträge garantierten?” Vogt hatte in seiner Manier überall noch einen Extratrumpf aufgesetzt. Phrasen wie „die einzige Regierung”, „in frecher Weise”, „frevelnde Hand” sind sein Eigentum. Ebenso wenn er am Schluß des obenzitierten Satzes pathetisch die „politische Nemesis” gegen Österreich anruft. Lassalle hatte, als er seine Broschüre schrieb, das Vogtsche Machwerk noch nicht zu Gesicht bekommen, aber daß seine Schrift durch die von Bonaparte ausgegebenen und durch tausend Kanäle in die Presse des In- und Auslandes lancierten Schlagworte beeinflußt war, das unterliegt nach diesem Beispiel, dem noch eine ganze Reihe ähnlicher an die Seite gesetzt werden können, gar keinem Zweifel. Wenn die nationalliberalen Bismarckanbeter sich später darauf beriefen, daß die Politik ihres Heros sogar die Sanktion Lassalles erhalten habe, so übersahen sie dabei nur die eine Tatsache, daß das von Lassalle der preußischen Regierung vorgehaltene Programm, wie immer es von Lassalle selbst gemeint war, in den entscheidenden Punkten dem Programm glich, das Bonaparte zu jener Zeit den deutschen Patrioten vorsetzen ließ, um sie für seine damalige Politik zu gewinnen. Alle die Ausführungen Lassalles in dieser Schrift, die später von bürgerlichen Schriftstellern als ungewöhnliche Vorhersagungen bezeichnet worden sind, finden sich auch in Vogts „Studien” und andern aus bonapartistischen Quellen gespeisten Pamphleten. Gerade Vogt wußte z. B. schon im Jahre 1859, also noch vor der preußischen Heeresreform, daß, wenn Preußen einen deutschen Bürgerkrieg für die Herstellung einer einheitlichen deutschen Zentralgewalt ins Werk setzen würde, dieser Krieg „nicht so viel Wochen kosten würde, als der italienische Feldzug Monate.” („Studien” S.
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155.) Des weiteren wußte Vogt, daß das Berliner Kabinett Österreich im Stich lassen werde, es mußte nach ihm „dem Kurzsichtigsten” klar geworden sein, daß ein Einverständnis zwischen Preußens Regierung und der kaiserlichen Regierung Frankreichs besteht; daß Preußen nicht zur Verteidigung der außerdeutschen Provinzen Österreichs zum Schwerte greifen ... jede Teilnahme des Bundes oder einzelner Bundesglieder für Österreich verhindern wird, um ... seinen Lohn für diese Anstrengungen in norddeutschen Flachlanden zu erhalten. („Studien” S. 19.) Mehr Vorhersagungen kann man wirklich von einem Propheten nicht verlangen. Allerdings ist dies Programm nicht sofort zur Ausführung gekommen. Bismarck, der dazu bereit gewesen wäre, war dem Prinzregenten von Preußen noch zu sehr Stürmer, um ihm als Minister des Auswärtigen genehm zu sein. Der nachmalige Wilhelm I. schreckte vor dem Gedanken zurück, Österreich rundheraus die Bundeshilfe zu versagen. Er stellte seine Bedingungen, und als man in Wien nicht auf sie einging, hielt er seine Truppen zurück. So „drauf und dran” Österreich zu helfen, wie Lassalle eine Zeitlang annahm, war auch er nicht. „Meine Broschüre ‚Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens’” -- schreibt Lassalle unterm 27. Mai 1859 an Marx und Engels -- „wird Euch zugekommen sein. Ich weiß nicht, ob Ihr dort hinreichend deutsche Zeitungen lest, um mindestens durch diese annähernd von der Stimmung hier unterrichtet gewesen zu sein. Absolute Franzosenfresserei, Franzosenhaß (Napoleon nur Vorwand, die revolutionäre Entwicklung Frankreichs der wirkliche geheime Grund), das ist das Horn, in das alle hiesigen Zeitungen blasen, und die Leidenschaft, die sie, die nationale Ader anschlagend, ins Herz der untersten Volksklassen und der demokratischen Kreise zu gießen suchen, und leider mit Erfolg genug. So nützlich ein gegen den Willen des Volkes von der Regierung unternommener Krieg gegen Frankreich für unsere revolutionäre Entwicklung sein würde, so schädlich müßte ein von verblendeter Volkspopularität getragener Krieg auf unsre demokratische Entwicklung einwirken. Zu den im 6. Kapitel meiner Broschüre in dieser Hinsicht exponierten Gründen kommt dazu, daß man schon jetzt den Riß, der uns von unsern Regierungen trennt, ganz und gar zuwachsen läßt. Solchem drohenden Unheil fand ich für Pflicht, mich entgegenzuwerfen ... Natürlich gebe ich mich keinen Augenblick der Täuschung hin, als könnte und würde die Regierung den sub III eingeschlagenen Weg ergreifen. Im Gegenteil!... Aber eben um so mehr fühlte ich mich gedrungen, diesen Vorschlag zu machen, gerade weil er sofort in einen Vorwurf umschlägt.
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Er kann wie ein Eisblock wirken, an dem sich die Wogen dieser falschen Popularität zu brechen anfangen.” Danach kam es Lassalle bei Abfassung seiner Schrift mehr darauf an, die revolutionäre als die nationale Bewegung zu fördern, die letztere der ersteren zu subordinieren. Der Gedanke an sich war berechtigt, die Frage war eben nur, ob das Mittel das richtige war, ob es nicht die nationale Bewegung, über deren zeitweilige Berechtigung zwischen Lassalle einerseits und Marx und Engels andererseits durchaus keine Meinungsverschiedenheit bestand, in falsche Bahnen lenken mußte. Marx und Engels behaupteten das. Nach ihrer Ansicht kam es zunächst darauf an, den gegen Deutschland als Ganzes geführten Streich durch eine gemeinsame Aktion aller Deutschen zurückzuschlagen, und nicht in dem Moment, wo ein solcher Schlag geführt wurde, eine Politik selbst nur scheinbar zu unterstützen, die zur Zerreißung Deutschlands führen mußte. Die Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und Lassalle in dieser Frage beruht im wesentlichen darauf, daß sie sie mehr in ihrem weiteren historischen und internationalen Zusammenhang betrachteten, während Lassalle sich mehr durch die Rücksicht auf die augenblicklichen Verhältnisse in der inneren Politik leiten ließ. Daher beging er auch die Inkonsequenz, während er in bezug auf Frankreich streng zwischen Volk und Regierung unterschied, Österreich und das Haus Habsburg ohne weiteres zu identifizieren und die „Zertrümmerung Österreichs” zu proklamieren, wo es sich zunächst doch nur um die Zertrümmerung des habsburgischen Regierungssystems handeln konnte. In einem seiner Briefe an Rodbertus knüpft er an folgenden Satz an, den dieser ihm geschrieben: „Und ich hoffe noch die Zeit zu erleben, wo -- die türkische Erbschaft an Deutschland gefallen sein wird und deutsche Soldaten oder Arbeiter-Regimenter am Bosporus stehen” und sagt: „Es hat mich zu eigentümlich berührt, als ich in Ihrem letzten Schreiben diese Worte las! Denn wie oft habe ich nicht gerade diese Ansicht meinen besten Freunden gegenüber vergeblich vertreten und mich dafür von ihnen einen Träumer nennen lassen müssen! Die ganze Verschiebung der seit 1839 so oft in Angriff genommenen orientalischen Frage hat für mich immer nur den vernünftigen Sinn und Zusammenhang gehabt, daß die Frage so lange hinausgeschoben werden muß, bis der naturgemäße Anwärter, die deutsche Revolution, sie löst! Wir scheinen im Geist als siamesische Zwillingsbrüder zur Welt gekommen zu sein.” (Briefe von Ferdinand Lassalle an Carl Rodbertus-Jagetzow, herausgegeben von Ad. Wagner, Brief vom 8.
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Mai 1863.) Wie Deutschland die türkische Erbschaft antreten sollte, nachdem vorher Österreich „zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt”, Ungarn und die slawischen Landesteile von Deutsch-Österreich losgerissen worden, ist schwer verständlich. Noch eine andere Stelle aus den Briefen an Rodbertus gehört hierher: „Wenn ich etwas in meinem Leben gehaßt habe, ist es die kleindeutsche Partei. Alles Kleindeutsche ist Gothaerei und Gagerei (von Gagern, dem ‚Staatsmann’ der Kleindeutschen, abgeleitet) und reine Feigheit. Vor 1½ Jahren hielt ich hier einmal bei mir eine Versammlung meiner Freunde ab, worin ich die Sache so formulierte: Wir müssen alle wollen: Großdeutschland moins les dynasties.” „Ich habe in meinem Leben kein Wort geschrieben, das der kleindeutschen Partei zugute käme, betrachte sie als das Produkt der bloßen Furcht vor: Ernst, Krieg, Revolution, Republik und als ein gutes Stück Nationalverrat.” (Brief vom 2. Mai 1863.) Es ist klar, daß, wenn es Lassalle mit dem nationalen Programm, wie er es in „Der Italienische Krieg usw.” entwickelte, ernst gewesen wäre, er unmöglich die obigen Sätze hätte schreiben können, denn jenes ist ganz gewiß kleindeutsch. Er benutzte es vielmehr nur, weil es ihm für seine viel weitergehenden politischen Zwecke, für die Herbeiführung der Revolution, die die nationale Frage im großdeutschen Sinne lösen sollte, zweckmäßig erschien. In den, auf sein Schreiben vom 27. Mai 1859 folgenden Briefen an Marx und Engels spricht er sich immer bestimmter in diesem Sinne aus. Da die meist sehr ausführlichen Briefe nun in ihrem vollen Wortlaut zum Abdruck gekommen sind, so können wir uns hier auf einige Auszüge und kurze Zusammenfassungen beschränken. Etwa am 20. Juni 1859 (die Lassalleschen Briefe sind sehr oft ohne Datum, so daß dieses aus dem Inhalt kombiniert werden mußte) schreibt Lassalle an Marx: „Nur in dem populären Kriege gegen Frankreich ... sehe ich ein Unglück. In dem bei der Nation unpopulären Kriege aber ein immenses Glück für die Revolution ... Die Aufgabe verteilt sich also so, daß unsere Regierungen den Krieg machen müssen (und sie werden dies tun) und wir ihn unpopularisieren müssen ... Ihr scheint dort, zehn Jahre fern von hier, wirklich noch gar keine Ahnung zu haben, wie wenig entmonarchisiert unser Volk ist. Ich habe es auch erst in Berlin mit Leidwesen gesehen ...
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Käme nun noch hinzu, daß dem Volk die Überzeugung beigebracht wird[6], die Regierung führe diesen Krieg als einen nationalen, sie habe sich zu einer nationalen Tat erhoben, so solltet Ihr sehen, wie vollständig die Versöhnung würde und wie, gerade bei Unglücksfällen, das Band der ‚deutschen Treue’ das Volk an seine Regierungen binden würde ...” Was in unserm Interesse liegt, ist offenbar etwa folgendes: „1. daß der Krieg gemacht wird. (Dies besorgen, wie gesagt, unsere Regierungen schon von selbst.) Alle Nachrichten, die mir aus guter Quelle zukommen, besagen, daß der Prinz drauf und dran sei, für Österreich einzutreten.” Das war, wie oben bemerkt, keineswegs so unbedingt zutreffend. „2. daß er schlecht geführt wird. (Dies werden unsere Regierungen gleichfalls von selbst besorgen, und um so mehr, je weniger das Volksinteresse für den Sieg sie unterstützt.) „3. daß das Volk der Überzeugung sei, der Krieg werde im volksfeindlichen, im dynastischen, im kontrerevolutionären Sinne, also gegen seine Interessen, unternommen. -- Dies allein können wir besorgen, und dies zu besorgen ist daher unsere Pflicht.” Lassalle geht dann auf die Frage ein, welchen Zweck es haben könne, „einen populären Krieg gegen Frankreich bei uns erregen zu wollen”. Auch hier aber sind es lediglich zwei Rücksichten, die er als maßgebend anerkennt: 1. die Rückwirkung auf die Aussichten der revolutionären Parteien hüben und drüben, und 2. die Rückwirkung auf die Beziehungen der deutschen Demokratie zur französischen und italienischen Demokratie. Die Frage der Interessen Deutschlands als Nation berührt er gar nicht. Auf den Vorhalt, daß er dieselbe Politik empfehle wie Vogt, der im französischen Solde schreibe, antwortet er: „Willst Du mich durch die schlechte Gesellschaft, die ich habe, ad absurdum führen? Dann könnte ich Dir das Kompliment zurückgeben, daß Du das Unglück hast, diesmal mit Venedey und Waldeck einer Meinung zu sein.” Alsdann rühmt er sich, daß seine Broschüre „immens” gewirkt habe, „Volks-Zeitung” und „National-Zeitung” hätten zum Rückzug geblasen, die letztere „in einer Serie von sechs Leitartikeln eine vollständige Schwenkung gemacht”. Daß Lassalle gar nicht darauf kam, sich zu fragen, warum denn diese Organe kleindeutscher Richtung sich so schnell bekehren ließen! In einem Brief an Marx von Mitte Juli 1859 -- nach Villafranca -- heißt es: „Es ist ganz selbstredend, daß zwischen uns nicht das Prinzip, sondern, wie Du sagst und wie ich es nie anders auffaßte, die ‚passendste Politik’ ...
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streitig war.” Und um wieder keinen Zweifel darüber zu lassen, wie er das meine, setzt er die Worte hinzu: „d. h. also doch die zur revolutionären Entwicklung passendste Politik.” Anfang 1860 an Fr. Engels: „Nur zur Vermeidung von Mißverständnissen muß ich bemerken, daß ich übrigens auch im vorigen Jahre, als ich meine Broschüre schrieb, sehnlichst wünschte, daß Preußen den Krieg gegen Napoleon mache. Aber ich wünschte ihn nur unter der Bedingung, daß die Regierung ihn mache, er aber beim Volke so unpopulär und verhaßt wie möglich sei. Dann freilich wäre er ein großes Glück gewesen. Aber dann mußte die Demokratie gegen, nicht für diesen Krieg schreiben und propagieren ... Für die gegenwärtige Lage sind wir wahrscheinlich ganz einer Meinung und wohl ebensosehr für die zukünftige.” In dem gleichen Brief kommt Lassalle auch auf die damals gerade eingebrachte Militärreorganisations-Vorlage zu sprechen, die bekanntlich später zum Konflikt zwischen der Regierung und der liberalen Bourgeoisie führte. Die Mobilmachung 1859 hatte die preußische Regierung überzeugt, wie wenig schlagfertig die preußische Armee noch war und daß durchgreifende Änderungen notwendig waren, um sie in den Stand zu setzen, sei es nun gegen Frankreich oder Österreich, mit einiger Aussicht auf Erfolg ins Feld zu rücken. Wer es also mit „Preußens deutschem Beruf” ernst nahm, der mußte auch in die Heeresreorganisation einwilligen oder mindestens objektiv ihre Berechtigung anerkennen, was ja auch die Fortschrittler anfangs taten. Hören wir nun Lassalle: „Das Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung -- völlige, nur verkappte -- der Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung eines immensen Machtmittels für Absolutismus und Junkertum ist in zwei Worten der evidente Zweck desselben. Nie würde Manteuffel gewagt haben, so etwas vorzuschlagen! Nie hätte er es durchgesetzt. Wer jetzt in Berlin lebt und nicht am Liberalismus stirbt, der wird nie am Ärger sterben!” Schließlich sei noch eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an Marx aus Aachen vom 11. September 1860 zitiert. Marx hatte u. a. auch in einem Briefe an Lassalle auf eine Zirkularnote Gortschakoffs hingewiesen, in der ausgeführt worden war, daß, wenn Preußen Österreich gegen Frankreich zu Hilfe käme, Rußland seinerseits für Frankreich intervenieren, d. h. Preußen _und_ Österreich den Krieg erklären würde.
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Diese Note sei, hatte Marx ausgeführt, erstens ein Beweis, daß es sich um einen Anschlag gehandelt habe, bei dem die Befreiung Italiens nur Vorwand, die Schwächung Deutschlands aber der wirkliche Zweck war, und sie sei zweitens eine unverschämte Einmischung Rußlands in deutsche Angelegenheiten, die nicht geduldet werden dürfe. Darauf erwidert nun Lassalle, er könne in der Note eine Beleidigung nicht erblicken, aber selbst wenn eine solche darin enthalten sei, so treffe sie ja doch nur „die deutschen Regierungen”. „Denn, diable! was geht Dich und mich die Machtstellung des Prinzen von Preußen an? Da alle seine Tendenzen und Interessen gegen die Tendenzen und Interessen des deutschen Volkes gerichtet sind, so liegt es vielmehr gerade im Interesse des deutschen Volkes, wenn die Machtstellung des Prinzen nach außen so gering wie möglich ist.” Man müsse sich also eher solcher Demütigungen freuen und sie höchstens in dem Sinne gegen die Regierungen benutzen, wie es die Franzosen unter Louis Philipp getan hätten. Man kann sich wohl nicht „hochverräterischer” ausdrücken, als es hier überall geschieht, und diejenigen, die ehedem Lassalle als das Muster eines guten Patrioten im nationalliberalen Sinne dieses Wortes der Sozialdemokratie von heute gegenüberstellten, haben nach Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach einpacken müssen. Die Motive, die Lassalle bei der Abfassung des „Italienischen Krieges” leiteten, sind alles andere, nur nicht eine Anerkennung der nationalen Mission der Hohenzollern. Weit entfernt, daß hier, wie es in den meisten bürgerlichen Biographien heißt, bei Lassalle der Parteimann hinter den Patrioten zurücktritt, kann man im Gegenteil eher sagen, daß der Parteimann, der republikanische Revolutionär, den Patrioten zurückdrängt. Man könnte freilich mit einem gewissen Schein von Recht die Frage aufwerfen: „Ja, wenn der Standpunkt, den Lassalle in seinen Briefen an Marx entwickelt, so grundverschieden ist von dem, den er in der Broschüre vertritt, wer garantiert dann, daß der erstere der wirklich von Lassalle im Innersten seines Herzens eingenommene ist? Kann Lassalle nicht, da er doch das eine Mal sein wahres Gesicht verhüllt, dies Marx gegenüber getan haben?” Gegen diese Annahme sprechen aber so viele Gründe, daß es kaum der Mühe lohnt, sich mit ihr zu belassen. Der wichtigste ist der, daß der Widerspruch zwischen Broschüre und Briefen schließlich doch nur ein scheinbarer ist.
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Wo Lassalle in der Broschüre etwas sagt, was sich nicht mit den in seinen Briefen entwickelten Ideen deckt, da spricht er immer nur hypothetisch mit einem großen „Wenn”, und diesem Wenn stellt er am Schluß ein „Wenn aber nicht, dann” gegenüber, und formuliert dieses „Dann” so: „So wird damit nur aber und aber bewiesen sein, daß die Monarchie in Deutschland einer nationalen Tat nicht mehr fähig ist.” Die positiven Behauptungen in der Broschüre hält er aber alle auch in den Briefen aufrecht. Er meint es vollkommen aufrichtig mit der, den Hauptinhalt der Broschüre ausmachenden Darlegung, daß die Demokratie -- worunter er die Gesamtheit der entschiedenen Oppositionsparteien verstand -- den Krieg gegen Frankreich nicht gutheißen dürfe, weil sie sich dadurch mit den Unterdrückern Italiens identifiziere, und es war ihm ferner durchaus ernst mit dem Wunsche der Zertrümmerung Österreichs. Bis soweit ist denn auch die Broschüre, ob man nun den in ihr entwickelten Standpunkt für richtig hält oder nicht, als subjektive Meinungsäußerung vollkommen berechtigt. Anders mit dem Schlußkapitel. Dort treibt Lassalle eine Diplomatie, die gerade er in seinem Kommentar zum Franz von Sickingen als verwerflich bekämpft hatte. Auch der demokratische Politiker braucht nicht in jedem Zeitpunkt seine letzten Absichten auszuposaunen. Aber es steht ihm nicht an und bringt ihn in eine falsche Lage, wenn er für eine Politik eintritt, von der er nicht auch will, daß sie befolgt werde. Das jedoch tut Lassalle. Der uneingeweihte Leser seiner Schrift mußte glauben, er wünsche nichts sehnlicher, als daß die preußische Regierung die darin von ihm entwickelte Politik befolge. Wohl konnte er sich darauf berufen, daß er sicher war, die preußische Regierung werde diese Politik nicht befolgen. Damit war aber das Doppelspiel sicherlich nicht gerechtfertigt. Das Advokatenstück, eine Sache nur deshalb zu empfehlen, weil man zu wissen glaubt, daß sie doch nicht geschieht, ist ein durchaus falsches Mittel der Politik, nur geeignet, die eigenen Anhänger irrezuführen, was ja später auch in diesem Falle eingetreten ist. Das Beispiel, auf das Lassalle sich für seine Taktik beruft, ist das denkbar unglücklichste. Die Art, wie die republikanische Opposition in Frankreich unter Louis Philipp, die Herren vom „National”, auswärtige Politik machten, ebnete später dem Mörder der Republik, dem Bonapartismus, die Bahn. Wie die „reinen Republikaner” die napoleonische Legende gegen Louis Philipp, so glaubte Lassalle die friderizianische Legende gegen die damalige preußische Regierung ausspielen zu können.
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Aber die friderizianische Tradition, wenigstens soweit sie hier in Betracht kam, war keineswegs von der preußischen Regierung aufgegeben, und statt gegen die Hauspolitik der Hohenzollern, machte Lassalle Propaganda für sie. Wie diese später, sobald Preußen sich dazu militärisch stark genug fühlte, energisch aufgenommen wurde, wie sie zunächst zum Bürgerkrieg zwischen Nord- und Süddeutschland führte, wie Österreich glücklich aus dem deutschen Bund herausgedrängt und die „Einigung” Rumpf-Deutschlands alsdann vollzogen wurde, haben wir gesehen, aber diese Realisierung des im „Italienischen Krieg” entwickelten Programms verhält sich zu der Lösung, die Lassalle vorschwebte, wie in der Lessingschen Fabel das Kamel zum Pferd[7]. [Wohin hat uns die preußische Lösung der deutschen Frage gebracht? Österreichs Verdrängung aus dem deutschen Bund hat die panslawistische Propaganda im höchsten Grade gefördert, die österreichische Regierung muß heute den Slawen eine Konzession nach der andern machen, und diese traten infolgedessen mit immer größeren Ansprüchen auf. Wo sie früher mit Anerkennung ihrer Sprache und Nationalität zufrieden gewesen wären, wollen sie heute herrschen und unterdrücken; in Prag, heute eine tschechische Stadt, fraternisierten Tschechen und französische Chauvinisten und toastierten auf den Kampf wider das Deutschtum. Die Angliederung der deutschen Landesteile Österreichs an Deutschland wird früher oder später freilich doch erfolgen, aber unter zehnfach ungünstigeren Verhältnissen als vor der glorreichen Herauswerfung Österreichs aus dem deutschen Bunde. Vorläufig muß das Deutsche Reich ruhig zusehen, wie in jenen Landesteilen die Slawisierung immer weiter um sich greift, denn die Bismarckische Art der Einigung Deutschlands hat Rußland so stark gemacht, daß die deutsche Politik wieder das größte Interesse an der Erhaltung selbst dieses Österreichs hatte. Etwas ist immer noch besser als gar nichts. Und freilich, solange in Rußland der Zarismus mit seinen panslawistischen Aspirationen herrscht, so lange mag das heutige Österreich als Staat noch eine Berechtigung haben.] Lassalle wollte natürlich ganz etwas anderes als die bloße Herausdrängung Österreichs aus dem Reiche. Er wollte die Zertrümmerung, die Vernichtung Österreichs, dessen deutsche Länder einen integrierenden Teil der einen und unteilbaren deutschen Republik bilden sollten. Aber um so weniger durfte er auch nur zum Schein ein Programm aufstellen, dessen unmittelbare Folge der Bürgerkrieg in Deutschland sein mußte, ein Krieg von Norddeutschland gegen Süddeutschland, dessen Bevölkerung 1859 ganz entschieden auf seiten Österreichs stand. Nur Lassalles starke Geneigtheit, dem jeweilig verfolgten Zweck alle außer ihm liegenden Rücksichten zu opfern, erklärt dieses Zurückgreifen auf eine Diplomatie, die er noch soeben im „Franz von Sickingen” aufs schärfste verurteilt hatte.
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Hinzu kam bei Abfassung der Broschüre der leidenschaftliche Drang, in die aktuelle Politik einzugreifen. Er spricht sich immer und immer wieder in seinen Briefen aus. Wenn Lassalle um jene Zeit die Beteiligung an irgendeiner Sache mit dem Hinweis auf seine wissenschaftlichen Arbeiten, die er noch vorhabe, ablehnt, so geschieht es mit dem Vorbehalt: Aber wenn sich eine Möglichkeit bietet, unmittelbar auf die revolutionäre Entwicklung einzuwirken, dann lasse ich auch die Wissenschaft liegen. So hatte er auch am 21. März 1859 an Fr. Engels geschrieben: „Vielmehr werde ich beim nationalökonomischen und geschichtsphilosophischen Fache -- ich meine Geschichte im Sinne von sozialer Kulturentwicklung -- von nun an wohl verbleiben, wenn nicht, was freilich sehr zu hoffen wäre, der endliche Beginn praktischer Bewegungen alle größere theoretische Tätigkeit sistiert.” „Wie gerne will ich ungeschrieben lassen, was ich etwa weiß, wenn es dafür gelingt, einiges von dem zu tun, was wir (Partei-Plural) können.” Und sechs Wochen, nachdem er das geschrieben, sollte Lassalle ins monarchistisch-kleindeutsche Lager abgeschwenkt sein? Nein, seine Diplomatie war falsch, aber seine Absicht war die alte geblieben: die Revolution für die eine und unteilbare deutsche Republik. Sie ist gemeint, wenn er der Schrift das Motto aus dem Virgil voransetzt: Flectere si nequeo superos acheronta movebo -- wenn ich die Götter -- die Regierung -- nicht beeinflussen kann, werde ich den „Acheron” -- das Volk -- in Bewegung setzen. * * * * * Die nächste Publikation, die Lassalle dem „Italienischen Krieg usw.” folgen ließ, war ein Beitrag für eine Zeitschrift in Buchform, die der demokratische Schriftsteller Ludwig Walesrode unter dem Titel „Demokratische Studien” im Sommer 1860 herausgab. Es ist dies der später als Broschüre herausgegebene Aufsatz: „Fichtes politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart.” Man könnte ihn als ein Nachwort zu „Der italienische Krieg usw.” bezeichnen, in welchem Lassalle das offen heraussagt, was er dort zu verhüllen für gut befunden. Das „politische Vermächtnis” Fichtes ist, wie Lassalle unter Vorführung eines im Fichteschen Nachlaß vorgefundenen Entwurfs zu einer politischen Abhandlung darlegt, der Gedanke der Einheit Deutschlands als unitarische Republik. Anders sei die Verwirklichung der Einheit Deutschlands überhaupt nicht möglich. Bei einer Eroberung Deutschlands durch irgendeinen der bestehenden deutschen Staaten würde „nicht Deutschland hergestellt, sondern nur die anderen Stämme durch die gewaltsame Aufdrängung des spezifischen Hausgeistes unter die Besonderheit desselben gebracht, preußifiziert, verbayert, verösterreichert!” ...
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„Und indem so auch noch diejenige Ausgleichung fortfiele, welche jetzt noch in dem Dasein der verschiedenen Besonderheiten liegt,” schreibt er, „würde gerade dadurch das deutsche Volk auch noch in seiner geistigen Wurzel aufgehoben.” „Die Eroberung Deutschlands, nicht im spezifischen Hausgeiste, sondern mit freiem Aufgehen desselben in den nationalen Geist und seine Zwecke, wäre freilich ein ganz anderes! Aber die Idealität dieser Entschließung ist es geradezu töricht von Männern zu verlangen” -- es ist von den deutschen Fürsten, speziell vom König von Preußen, die Rede -- „deren geistige Persönlichkeit doch wie die aller anderen ein bestimmtes Produkt ihrer Faktoren in Erziehung, Tradition, Neigung und Geschichte ist und die dies daher ebensowenig leisten können, als es einer von uns anderen leisten würde, wenn seine Bildung und Erziehung ausschließlich durch dieselben Faktoren bestimmt worden wäre.” Dies sind die letzten eigenen Ausführungen Lassalles in dem Aufsatze. Es folgen dann nur noch Darlegungen Fichtes, daß und warum die Einheit Deutschlands nur möglich sei auf Grundlage der „ausgebildeten persönlichen Freiheit”, und daß gerade deshalb die Deutschen „im ewigen Weltenplane” berufen seien, ein „wahrhaftes Reich des Rechts” darzustellen, ein Reich der „Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt”. Und „ferne sei es von uns, die unerreichbare Gewalt dieser Worte durch irgendwelche Hinzufügungen abschwächen zu wollen,” schließt Lassalle. Dann, zum Verleger gewendet: „Habe ich nun, geehrter Herr, auch Ihrem Wunsche” -- einen Artikel über eine „brennende Tagesfrage” zu schreiben -- „nicht buchstäblich entsprochen, so ist doch, denke ich, Ihr Zweck erfüllt -- wie der meinige.” Welches aber war Lassalles Zweck bei der Veröffentlichung des Aufsatzes, der das Datum: Januar 1860, trägt? Auch darüber gibt ein Brief an Marx uns Auskunft. Unter dem 14. April 1860 legt Lassalle diesem dar, warum er, obwohl seine ganze Zeit zur Fertigstellung eines großen Werkes in Anspruch genommen sei, Walesrodes Einladung angenommen habe. Erstens habe er in diesem einen sehr redlichen Mann gefunden, der mutvoll und tapfer, wie auch seine verdienstliche Broschüre „Politische Totenschau” zeige, wohl verdiene, daß man etwas für ihn tue.
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Dort machte er die Bekanntschaft einer jungen Russin, Sophie von Sontzew, die ihren Vater, der ebenfalls einer Kur bedürftig war, nach Aachen begleitet hatte, und diese Dame nahm Lassalle so für sich ein, daß er ihr noch in Aachen einen Heiratsantrag machte, den aber Fräulein von Sontzew nach einigen Wochen Bedenkzeit ablehnte. Es sind über diese Episode aus dem bewegten Leben Lassalles fast nur die Aufzeichnungen bekannt geworden, die das damalige Fräulein von Sontzew, später die Gattin eines Gutsbesitzers in Südrußland, im Jahre 1877 in der Petersburger Revue „Der Europäische Bote” veröffentlicht hat, und von denen eine Übersetzung ins Deutsche ein Jahr darauf im Verlage von F. A. Brockhaus in Leipzig erschien[8]. Die eigentliche Liebesaffäre ist nicht besonders interessant. Es geht alles ungemein korrekt zu. Sophie von Sontzew schreibt, daß Lassalle zwar einen großen Eindruck auf sie gemacht, daß sie auch vorübergehend geglaubt habe, ihn lieben zu können, es seien aber stets sofort wieder Zweifel in ihr aufgetaucht, bis sie sich schließlich darüber klar geworden sei, daß eine Liebe, die zweifelt, keine Liebe sei -- vor allem keine Liebe, wie Lassalle sie unter Hinweis auf die Kämpfe beanspruchte, die die Zukunft ihm bringen werde. Vielleicht, daß auch die Aussicht gerade auf diese Kämpfe die junge Dame mehr schreckte, als sie zugesteht -- Tagebuchgeständnisse und Memoiren sagen bekanntlich nie die volle Wahrheit. Auf der andern Seite scheint uns die Auffassung, die es dem damaligen Fräulein von Sontzew beinahe als ein Verbrechen anrechnet, von Lassalle geliebt worden zu sein, ohne seine Liebe zu erwidern, etwas gar zu sentimental. Die Dame hatte ein unbestrittenes Recht, ihr Herz nicht zu verschenken, auch wußte Lassalle sich, so stürmisch seine Werbungen gewesen, über den Mißerfolg bald zu trösten. Weit interessanter als die eigentliche Liebesaffäre sind die aus Anlaß dieser geschriebenen Briefe Lassalles an Sophie von Sontzew, und vor allem der schon früher erwähnte, als „Seelenbeichte” bezeichnete, mehr als 35 Druckseiten ausfüllende Manuskriptbrief. Dieser ist eines der interessantesten Dokumente für die Charakteristik Lassalles. Sehen wir in dessen erstem Tagebuch den zum Jüngling heranreifenden Knaben, so sehen wir hier den zum Mann herangereiften Jüngling sein Ich bloßlegen. Freilich gilt auch in diesem Falle das oben von solchen Bekenntnissen Gesagte, aber einer der hervorstechendsten Charakterzüge Lassalles ist seine -- man könnte fast sagen, unbewußte Wahrhaftigkeit. Lassalle war, wie schon seine beständige Neigung, ins Pathetische zu verfallen, zeigt, eine theatralisch angelegte Natur.
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Er schauspielerte gern ein wenig und war viel zu sehr Gesellschaftsmensch, um darin ein Unrecht zu erblicken, wenn er die Sprache nach dem Rezept Talleyrands dazu verwendete, seine Gedanken zu verbergen. Aber es war ihm doch nicht möglich, sich als Mensch anders zu geben, als er wirklich war. Seine Neigungen und Leidenschaften waren viel zu stark, als daß sie sich nicht überall verraten hätten, seine Persönlichkeit viel zu ausgeprägt, um nicht durch jedes Gewand, in dem er auftreten mochte, hindurchzublicken. So schaut auch aus dem Bilde, das Lassalle für Sophie von Sontzew von sich entwirft, obwohl es eine Schilderung gibt, wie er dem jungen Mädchen erscheinen wollte, der richtige Lassalle heraus, mit seinen Vorzügen und seinen Fehlern. Auf Schritt und Tritt kommt hier sein hochgradiges Selbstvertrauen und seine Einbildungskraft zum Ausdruck. Es wurde schon erzählt, wie er in diesem Manuskript sich im Glanze seines zukünftigen Ruhmes sonnt, sich als der Führer einer Partei hinstellt, die in Wirklichkeit noch gar nicht existierte, die Aristokratie und Bourgeoisie ihn fürchten und hassen läßt, wo zur Furcht und zum Haß damals jeder Anlaß fehlte. Ebenso übertreibt er seine schon erzielten Triumphe. „Nichts, Sophie,” schreibt er über den Erfolg der Kassettenrede, „kann Ihnen auch nur annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den ich hervorbrachte. Die ganze Stadt, die Bevölkerung der ganzen Provinz schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus ... alle Klassen, die ganze Bourgeoisie war trunken vor Enthusiasmus ... dieser Tag verschafft mir in der Rheinprovinz den Ruf eines Redners ohnegleichen und eines Mannes von unbegrenzter Energie, und die Zeitungen trugen diesen Ruf durch die ganze Monarchie ... Seit diesem Tage erkannte mich die demokratische Partei in der Rheinprovinz als ihren Hauptführer an.” Dann schreibt er vom Düsseldorfer Prozeß, daß er aus diesem „mit nicht weniger Glanz” hervorging. „Ich werde Ihnen meine Rede aus diesem Prozesse geben, da diese gleichfalls gedruckt ist; sie wird Sie amüsieren.” Daß er die Rede gar nicht gehalten hat, schreibt er nicht. Neben diesen Zügen einer wahrhaft kindlichen oder kindischen Eitelkeit fehlen aber auch nicht solche eines berechtigten, weil auf Grundsätzen, statt auf äußeren Ehren, beruhenden Stolzes, und durch den ganzen Brief hindurch klingt der Ton einer echten Überzeugung.
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Selbst wenn Lassalle von dem „Glanz” spricht, mit dem der Eintritt „gewisser Ereignisse” -- der erwarteten Revolution -- das Leben seiner zukünftigen Frau ausstatten würde, setzt er sofort hinzu: „Aber, nicht wahr, Sophie, mit so großen Dingen, die das Ziel der Anstrengungen des ganzen Menschengeschlechts bilden, darf man nicht eine bloße Spekulation auf individuelles Glück machen?” -- und bemerkt weiter: „Deshalb darf man in keiner Weise darauf rechnen.” Noch in einer anderen Hinsicht ist die „Seelenbeichte” Lassalles von Interesse. Er spricht sich darin sehr ausführlich über sein Verhältnis zur Gräfin Hatzfeldt aus. Mag nun auch manches in bezug auf seine früheren Beziehungen zu dieser Frau idealisiert sein, so ist doch soviel sicher, daß Lassalle keinen Grund hatte, einem Mädchen, um das er gerade warb und das als Gattin heimzuführen er so große Anstrengungen machte, seine derzeitigen Empfindungen für die Gräfin, soweit sie über die der Achtung und Dankbarkeit hinausgingen, stärker zu schildern, als sie wirklich waren. Tatsächlich ergeht sich Lassalle nun in dem Brief in Ausdrücken geradezu leidenschaftlicher Zärtlichkeit für die Gräfin. Er liebe sie „mit der zärtlichsten Liebe eines Sohnes, die je existiert hat”, noch „dreimal mehr wie seine zärtlich geliebte Mutter”. Er verlangt von Sophie, daß sie, wenn sie ihn zum Mann nehme, die Gräfin „mit der wahren Zärtlichkeit einer Tochter” liebe, und hofft, obwohl die Gräfin „außerordentlich zartfühlend” sei und, ehe sie nicht wisse, ob Sophie Sontzew sie auch liebe, nicht bei dem jungen Paar werde wohnen wollen, sie doch dazu bestimmen zu können, -- um „alle drei glücklich und vereint zu leben”[9]. Daraus geht hervor, daß diejenigen, die die Sache so hinstellen, als habe sich die Gräfin Hatzfeldt damals in Berlin und später Lassalle einer Klette gleich aufgedrungen, jedenfalls maßlos übertrieben haben. Die Hatzfeldt hatte ihre großen Fehler und ihre Freundschaft ist Lassalle unseres Erachtens nach mehreren Richtungen hin äußerst verderblich gewesen, aber gerade weil wir dieser Ansicht sind, halten wir es für unsere Pflicht, da, wo dieser Frau Unrecht geschehen, dem entgegenzutreten. Nichts abgeschmackter als die, von verschiedenen Schriftstellern dem bekannten Beckerschen Pamphlet nachgeschriebene Behauptung, Lassalle habe sich später in die Dönniges-Affäre gestürzt, um die Hatzfeldt loszuwerden. Sophie Sontzew spricht sich übrigens über den Eindruck, den die Gräfin Hatzfeldt persönlich auf sie gemacht habe, nur günstig aus. Drei Briefe Lassalles an Marx datieren aus der Zeit seines damaligen Aufenthalts in Aachen. Natürlich ist in keinem von der Liebesaffäre mit der Sontzew die Rede.
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Nur einige Bemerkungen in einem der Briefe über die Verhältnisse am russischen Hofe lassen auf die Sontzews als Quelle schließen. Aber die Briefe enthalten sonst ziemlich viel des Interessanten, und eine Stelle in einem davon ist ganz besonders bemerkenswert, weil sie zeigt, wie Lassalle selbst zu einer Zeit, wo er in Berlin noch mit den Führern der liberalen Opposition auf bestem Fuße stand, über die damalige liberale Presse und über den von den Liberalen in den Himmel gehobenen preußischen Richterstand dachte. Da sie ebenso kurz wie drastisch ist, mag sie hier einen Platz finden. Marx hatte den Redakteur der Berliner National-Zeitung, Zabel, der ihn, unter Benutzung des gegen ihn gerichteten Vogtschen Pamphlets der infamierendsten Handlungen verdächtigt hatte, wegen Verleumdung zur Rechenschaft ziehen wollen, war aber in drei Instanzen, noch ehe es zum Prozeß kam, abgewiesen worden. Die betreffenden Richter am Stadtgericht, am Kammergericht und am Obertribunal in Berlin fanden nämlich, daß wenn Zabel alle diese Verleumdungen Vogts über Marx wiederholt und sie dabei noch übertrumpft hatte, er dabei durchaus nicht die Absicht gehabt haben konnte, Marx zu beleidigen. Ein solches Rechtsverfahren nun hatte Marx selbst in Preußen für unmöglich gehalten, und er schrieb das auch an Lassalle, worauf ihm dieser, der Marx von Anfang an vom Prozeß abgeraten hatte, weil doch auf Recht nicht zu hoffen sei, wie folgt antwortete: „Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozeß bringen kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal Unrecht getan, als ich in einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische Justiz wenigstens scheinst Du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise für diesen Satz, und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in reinen Zivilprozessen ... Uff! Ich muß die Erinnerung daran gewaltsam unterdrücken.
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Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor den Augen und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom ersticken wollte! Nun, ich habe das alles lange bewältigt und niedergelebt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer Verachtung, als wenn ich von Richtern und Recht bei uns sprechen höre. Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu unsern Richtern zu sein. „Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du. ‚Jedenfalls,’ sagst Du, ‚liefern mir die Preußen so ein Material in die Hand, dessen angenehme Folgen in der Londoner Presse sie bald merken sollen!’ Nein, lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, daß Du sie in der Londoner Presse darstellen und vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest man bei uns nicht, und, siehst Du, von unseren deutschen Zeitungen wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein armseliges Wörtchen davon bringen. Sie werden sich hüten! Und unsere liberalen Blätter am allermeisten! Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen Richterstand’ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken schnalzen -- sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei vollen Pausbacken aus -- und vor Respekt mit dem Kopf auf die Erde schlagen! O, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis zum Rhein und soweit sonst nur immer ‚die deutsche Zunge reicht’, ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? O, unsere Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel liberaleres Institut als unsere Presse! Es ist -- hilf Himmel! ich weiß wirklich keinen anderen Ausdruck für sie -- es ist die reine ......” Das Wort, das Lassalle hier braucht, ist zu burschikos, um es im Druck wiederzugeben, der Leser mag es nach Belieben selbst ergänzen. Im Jahre 1861 veröffentlichte Lassalle im zweiten Band der Demokratischen Studien einen kleinen Aufsatz über Lessing, den er bereits 1858, beim Erscheinen des Stahrschen Buches: „Lessings Leben und Werke” geschrieben, und ließ endlich sein großes rechtsphilosophisches Werk „Das System der erworbenen Rechte” erscheinen. Der Aufsatz über Lessing ist verhältnismäßig unbedeutend.
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Er ist noch vorwiegend in althegelianischer Sprache gehalten und lehnt sich sachlich sehr stark an die Ausführungen an, die Heine in „Über Deutschland” mit Bezug auf Lessings Bedeutung für die Literatur und das öffentliche Leben in Deutschland abgibt. Wie Heine feiert auch Lassalle Lessing als den zweiten Luther Deutschlands, und wenn er am Schluß des Aufsatzes unter Hinweis auf die große Ähnlichkeit der Situation des derzeitigen Deutschland mit der zur Zeit Lessings ausruft: „ähnliche Situationen erzeugen ähnliche Charaktere”, so mag ihm da wohl Heines Ausspruch vorgeschwebt haben: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf -- der dritte Befreier!” War es doch sein höchstes Streben, selbst dieser dritte Befreier zu werden. Wie im Hutten des „Franz von Sickingen”, so spiegelt sich auch im Lessing dieses Aufsatzes Lassalles eigene Gedankenwelt wider. Es fehlt selbst die Apotheose des Schwertes nicht. „Allein wenn wir den Begriff Lessings durch die Gebiete der Kunst, Religion, Geschichte durchgeführt haben, wie ist es mit der Politik?” fragt Lassalle, und um denjenigen, die nach Lessings Stellungnahme auf den vorerwähnten Gebieten darüber noch nicht im klaren seien, die letzten Zweifel zu lösen, zitiert er aus den Lessingschen Fragmenten zum „Spartakus” eine Stelle, wo Spartakus auf die höhnende Frage des Konsuls: „Ich höre, du philosophierst, Spartakus”, zurückgibt: „Wo du nicht willst, daß ich philosophieren soll -- Philosophieren, es macht mich lachen! -- Nun wohlan! Wir wollen fechten!” Zwei Dezennien darauf sei in der französischen Revolution diese Prophezeiung Lessings eingetroffen. Und dieser Ausgang werde nach Stahr „wohl auch das Ende vom Liede sein in dem Handel zwischen dem Spartakus und dem Konsul der Zukunft”. Fußnoten: [4] Daß Vogt verdächtig war, hatte Lassalle, der ursprünglich Vogt in Schutz genommen, schon früher zugegeben. [5] Desgleichen auch in einer zweiten Broschüre von Engels „Savoyen, Nizza und der Rhein”. Lassalle hatte in seiner Broschüre die Annexion Savoyens an Frankreich als eine ganz selbstverständliche und, wenn Deutschland eine dieser Vergrößerung aufwiegende Kompensation erhielte, „ganz unanstößige” Sache hingestellt. Engels weist nun nach, welche außerordentlich starke militärische Position der Besitz Savoyens Frankreich Italien und der Schweiz gegenüber verschaffe, was doch auch in Betracht zu ziehen war. Sardinien gab Savoyen preis, weil es im Moment mehr dafür eintauschte, die Schweizer waren aber durchaus nicht erbaut von dem Handel, und ihre Staatsmänner, Stämpfli, Frey-Herosé u.
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a., taten ihr möglichstes, die Überlieferung des bisher neutralen Savoyer Gebiets in französische Hände zu verhindern. Im „Herr Vogt” kann man nachlesen, durch welche Manöver die bonapartistischen Agenten in der Schweiz jene Bemühungen hintertrieben. Alles übrige sagt ein einfacher Blick auf die Landkarte. [6] Hierzu macht Lassalle in Klammern die Bemerkung: „Nur daß zum Glück auch Ihr ihm dieselbe nicht beibringen werdet, und darum erscheint mir der revolutionäre Nutzen allerdings als gesichert.” Wenn dem aber so war, wozu dann erst die Broschüre? [7] Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage die oben in griechische Klammern gesetzte Betrachtung, die nicht nur durch die russische Revolution mit der Auflösung des russischen Imperiums den größten Teil ihrer sachlichen Bedeutung verloren hat, sondern die auch Wendungen enthält, zu denen ich mich grundsätzlich nicht mehr bekennen kann. Ich habe sie nur deshalb nicht ganz weggestrichen, weil sie immerhin erkennen läßt, wie sich zur Zeit, wo sie geschrieben wurde -- 1891 -- nach meiner Ansicht die durch 1866 geschaffene Lage unter deutschem Gesichtspunkt darstellte. In der englischen Ausgabe hat die Betrachtung eine redaktionelle Abänderung erfahren, die mir deshalb der Erwähnung wert erscheint, weil sie zweifelsohne auf Friedrich Engels zurückzuführen ist, der, wie im Vorwort mitgeteilt wurde, jene Ausgabe durchgesehen hat. Ins Deutsche zurückübersetzt lautet die Einleitung dort: „Wohin hat die preußische Lösung der nationalen Frage Deutschland gebracht? Lassen wir die Frage Elsaß-Lothringen beiseite -- die Annexion dieser Provinzen war ein weiterer Bockstreich -- und betrachten wir nur die Lage des deutschen Volkes gegenüber Rußland und dem Panslawismus. Österreichs Verdrängung aus dem Deutschen Bund” (weiter, wie im Original). Obwohl bei mir die Annexion Elsaß-Lothringens mit keiner Silbe erwähnt war und sie für Engländer damals noch kein spezielles Interesse hatte, nimmt Friedrich Engels doch die Gelegenheit wahr, ihrer zu erwähnen, um sie als einen groben politischen Fehler zu bezeichnen -- „an additional blunder” heißt es im Englischen. Ein Beweis, wie wenig Engels diese Annexion für endgültig ansah. Daß im Englischen statt „uns gebracht” gesagt wird: „Deutschland gebracht”, war durch die Rücksicht auf das andre Lesepublikum von selbst geboten. Ich würde aber heute auch aus stilistischen Gründen diese präzisere Ausdrucksweise vorziehen. [8] Unter dem Titel „Eine Liebes-Episode aus dem Leben Ferdinand Lassalles”. Die Verfasserin ist nun auch längst aus dem Leben geschieden.
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[9] Noch hinreißender schildert Lassalle sein seelisches Verhältnis zu Sophie von Hatzfeldt in einem Fragment gebliebenen Brief an eine ungenannte Adressatin, der er darin die Liebe aufkündigt, weil die Dame ihm erklärt hatte, sie könne es nicht vertragen, neben sich noch Sophie von Hatzfeldt um Lassalle zu sehen. Der Brief ist eine ganze Abhandlung über seelische Liebe. (Vgl. Intime Briefe Ferdinand Lassalles, Nachtrag.) Das System der erworbenen Rechte. Das „System der erworbenen Rechte”, Lassalles wissenschaftliches Hauptwerk, ist zwar in erster Linie nur für den Rechtstheoretiker geschrieben, doch liegt der Gegenstand, den es behandelt, den praktischen Kämpfen der Gegenwart wesentlich näher als die Materie des „Heraklit”, und wir wollen daher versuchen, wenigstens die Hauptgedanken dieser Arbeit darzustellen, von der Lassalle mit Recht gelegentlich den Ausdruck gebrauchen durfte, ein „Riesenwerk menschlichen Fleißes”. Darüber herrscht bei Sachverständigen so ziemlich Einstimmigkeit, daß das „System der erworbenen Rechte” zugleich von der außerordentlichen geistigen Schaffenskraft, wie dem großen juristischen Scharfsinn seines Verfassers Zeugnis ablegt. Aus allen diesen Gründen wird man es berechtigt finden, wenn wir uns bei diesem Buche etwas länger aufhalten. Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des Schreibers dieser Abhandlung, ein Urteil darüber zu fällen, welche positive Bereicherung die Rechtswissenschaft dem „System der erworbenen Rechte” verdankt. Das vermag nur der Kenner der gesamten einschlägigen Literatur, der theoretisch gebildete Jurist. Wir beschränken uns hier darauf, die Aufgabe zu kennzeichnen, die Lassalle sich mit seinem Buche stellt, die Art, wie er sie löst, und den theoretischen Standpunkt, der seiner Lösung zugrunde liegt. Die Aufgabe selbst ist in dem Untertitel gegeben, den das in zwei Teile zerfallende Gesamtwerk trägt. „Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie.” Lassalle führt in der Vorrede aus, daß trotz Hegels Versuch, eine Versöhnung zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht[10] herzustellen, die Entfremdung zwischen positiven Juristen und Rechtsphilosophen zurzeit größer sei, als sie selbst vor Hegel gewesen. Die Schuld daran trügen aber weniger die ersteren als die letzteren; statt in den Reichtum des positiven Rechtsmaterials einzudringen, hätten sie sich begnügt, „im Himmel ihrer allgemeinen Redensarten der groben Erde des realen Rechtsstoffs so fern wie möglich zu bleiben”. Unter den Rechtsphilosophen der Hegelschen Richtung herrsche ein wahrer „horror pleni”, ein Grauen vor dem positiven Stoffe, woran indes Hegel selbst unschuldig sei, der vielmehr unermüdlich hervorgehoben habe, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in die Erfahrungswissenschaften.
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Hegels „Rechtsphilosophie” konnte, führt Lassalle aus, nach den gesamten Grundbedingungen, unter denen dieselbe erschien, „als der erste Versuch, das Recht als einen vernünftigen, sich aus sich selbst entwickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen Rechtsphilosophie gar kein anderes Verhältnis einnehmen, als etwa die allgemeine logische Disposition eines Werkes zu dem Werke selbst”. Hätten nun die Philosophen sich nicht darauf beschränkt, bei den „dünnen, allgemeinen Grundlinien” derselben -- „Eigentum, Familie, Vertrag usw.” -- stehenzubleiben, „wären sie dazu übergegangen, eine Philosophie des Staatsrechts in dem ... Sinne einer philosophischen Entwicklung der konkreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu schreiben, so würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß mit den abstrakt-allgemeinen Kategorien vom Eigentum, Erbrecht, Vertrag, Familie usw. überhaupt nichts getan ist, daß der römische Eigentumsbegriff ein anderer ist, als der germanische Eigentumsbegriff, der römische Erbtumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtumsbegriff, der römische Familienbegriff ein anderer als der germanische Familienbegriff usw., d. h. daß die Rechtsphilosophie, als in das Reich des historischen Geistes gehörend, es nicht mit logisch-ewigen Kategorien zu tun hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur Realisationen historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck des geistigen Inhalts der verschiedenen historischen Volksgeister und Zeitperioden, und daher nur als solche zu begreifen sind.” Eingehend und erschöpfend sei dies durch den ganzen zweiten Teil des vorliegenden Werkes an dem Erbtumsbegriff nachgewiesen und an dem Beispiel desselben der Beweis geliefert, daß „jene Hegelsche Disposition selbst, wie der gesamte Bau und die Architektonik der Hegelschen Rechtsphilosophie vollständig aufgegeben werden muß und nichts von der Hegelschen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre Grundprinzipien und ihre Methode, um die wahre Rechtsphilosophie zu erzeugen ...” Das gelte aber auch von dem Verhältnis des Hegelschen Systems zur Geistesphilosophie überhaupt, und wenn die Zeit theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte, -- „man kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara temporum felicitas (ein seltenes Glück) nennen”, fügt Lassalle mit berechtigter Bitterkeit hinzu -- so werde er, Lassalle, vielleicht eines Tages dies in einem neuen System der Philosophie nachweisen. Indes werde die von ihm verlangte totale Reformation der Hegelschen Philosophie doch im Grunde nur „dieselbe von Hegel getragene Fahne” darstellen, die „nur auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden soll. Es sind immer die Grundprinzipien und die Methode der Hegelschen Philosophie, die nur gegen Hegel selbst Recht behalten”.
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Hegel habe, wegen unzureichender Bekanntschaft mit dem Stoffe, dem Recht vielleicht häufig größeres Unrecht getan, als irgendeiner anderen Disziplin. „Wenn er die römischen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten Verstandes auffaßte, so werden wir auf das Positivste im ganzen Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie dies nur von unseren Juristen, von den römischen aber das strikte Gegenteil gilt. Wir werden sehen, wie ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die des spekulativen Begriffs ist, nur eine sich selbst nicht durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der Tätigkeit des religiösen und künstlerischen Geistes der Fall ist ... Allein hiermit wird dann immer nur erwiesen sein, daß die Hegelsche Philosophie noch weit mehr recht hatte, als Hegel selbst wußte, und daß der spekulative Begriff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als Hegel selbst erkannt hatte.” (Vorwort zum System der erworbenen Rechte.) Aus diesen Ausführungen geht bereits hervor, wie weit Lassalle in dem Werke selbst noch auf Hegelschem Boden fußt. Er steht Hegel bereits viel unabhängiger gegenüber als im „Heraklit”, aber er hält doch nicht nur an der Methode, sondern auch noch an den Grundprinzipien der Hegelschen Philosophie fest, d. h. nicht nur an der dialektischen Behandlung des zu untersuchenden Gegenstandes, der dialektischen Form der Untersuchung, sondern auch noch an dem Hegelschen Idealismus, der Zurückführung der geschichtlichen Erscheinungen auf die Entwicklung und Bewegung der Ideen ohne gleichzeitige Untersuchung der materiellen Grundlage dieser Bewegung. Wie Hegel bleibt auch Lassalle auf halbem Wege stehen. Er hebt ganz richtig hervor, daß es sich bei den Rechtsinstituten nicht um logisch-ewige, sondern um historische Kategorien handelt, aber er behandelt diese Kategorien nur als die „Realisationen historischer Geistesbegriffe”, läßt dagegen die Frage nach den Umständen, unter denen diese Geistesbegriffe sich entwickelten, nach den materiellen Verhältnissen, deren Ausdruck sie sind, ganz unberührt. Ja, er dreht das Verhältnis sogar um und will „im konkreten Stoffe selbst nachzuweisen suchen, wie das angeblich rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß des jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist”. So muß er naturgemäß, auch bei dem größten Aufwand von Scharfsinn, zu falschen Folgerungen gelangen.
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Als das „großartigste Beispiel”, an welchem diese ursächliche Abhängigkeit des „angeblich rein Positiven und Historischen” von den historischen Geistesbegriffen in seinem Werk erwiesen sei, bezeichnet Lassalle die gesamte Darstellung des Erbrechts im zweiten Bande des Werkes, der den Titel trägt: „Das Wesen des römischen und germanischen Erbrechts in historisch-philosophischer Entwickelung.” Die Stärke dieser Arbeit beruht in ihrer Einheitlichkeit, der konsequenten Durchführung des leitenden Gedankens und der oft wahrhaft glänzenden Darstellung. Durch alle hierhergehörigen Rechtsformen hindurch sucht Lassalle den Gedanken zu verfolgen, dem römischen Erbrecht liege der Gedanke der Fortdauer des subjektiven Willens des Erblassers im Erben zugrunde, während im altgermanischen Erbrecht, dem Intestaterbrecht (Erbrecht ohne Testament), die Idee der Familie den leitenden Gedanken bilde, es gerade das sei, was vom römischen Erbrecht mit Unrecht behauptet werde: „wahres Familienrecht”. Das ist soweit im allgemeinen richtig. Aber nun beginnt die Schwäche der Lassalleschen Arbeit. Seine Dialektik, so scharf sie ist, bleibt an der Oberfläche haften, durchwühlt diese zwar wieder und immer wieder, läßt keine Scholle davon ununtersucht, aber was darunter liegt, bleibt total unberührt. Woher kommt es, daß das römische Erbrecht die Fortpflanzung des subjektiven Willens ausdrückt? Von der römischen Unsterblichkeitsidee, von dem Kultus der Laren und Manen. Woher kommt es, daß das germanische Erbrecht Familienrecht ist? Von der „Idee der germanischen Familie”. Welches ist die römische Unsterblichkeitsidee? Die Fortdauer des subjektiven Willens. Welches ist die Idee der germanischen Familie? Die „sittliche Identität der Personen, die zu ihrer substantiellen Grundlage ... die empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe hat.” Damit sind wir so klug wie vorher, wir drehen uns im Kreise der Ideen und Begriffe, erhalten aber keine Erklärung, warum diese Idee hier, jener Begriff dort die ihm zugewiesene Rolle spielen konnten. Auch mit keiner Silbe wird der Versuch gemacht, die Rechtsvorstellungen und Rechtsbestimmungen der Römer und Germanen aus deren wirklichen Lebensverhältnissen selbst zu erklären, als die letzte Quelle des Rechts erscheint überall der „Volksgeist”. Dabei verfällt denn Lassalle in denselben Fehler, den er an einer andern Stelle mit Recht den bisherigen Rechtsphilosophen zum Vorwurf macht, er unterscheidet zwar zwischen römischem und germanischem Volksgeist, aber er ignoriert alle historische Entwicklung im Schoße des römischen Volkes und konstruiert einen, ein für allemal -- das ganze Jahrtausend von der Gründung Roms bis gegen die Zeit der Zersetzung des römischen Weltreichs -- maßgebenden „römischen Volksgeist”, der sich zum -- ebenso konstruierten -- „germanischen Volksgeiste” etwa verhalte, wie „Wille zu Liebe”.
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Allerdings darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit, wo Lassalle sein „System der erworbenen Rechte” schrieb, die eigentliche Geschichtsforschung in bezug auf die Entstehung und Entwicklung der römischen Gesellschaft und der germanischen Vorzeit noch sehr im argen lag, selbst die Historiker von Fach in bezug auf sie in wichtigen Punkten im Dunkeln tappten. Es trifft ihn also weniger der Vorwurf, daß er die Frage nicht richtig beantwortete, als der, daß er sie nicht einmal richtig stellte. Erst durch die Fortschritte der vergleichenden Ethnologie und namentlich durch Morgans epochemachende Untersuchungen über die Gens (Sippe) ist genügend Licht in bezug auf die urgeschichtliche Entwicklung der verschiedenen Völker geschaffen worden, um erkennen zu lassen, warum die Römer mit einem ganz andern Erbrecht in die Geschichte eintraten, als die germanischen Stämme zur Zeit des Tacitus. Diese waren zu jener Zeit eben dabei, die Entwicklung von der Mittelstufe zur Oberstufe der Barbarei durchzumachen; der Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht, von der Paarungsehe zur Monogamie war noch nicht ganz vollzogen, sie lebten noch in Gentilverbänden -- auf Blutsverwandtschaft beruhenden Genossenschaften -- und noch herrschte der Kommunismus der Sippe vor: ein auf dem subjektiven Willen beruhendes Erbrecht war daher einfach ein Ding der Unmöglichkeit. So viel die Blutsverwandtschaft, so wenig hat die „Liebe” -- eine viel modernere Erfindung -- etwas mit dem altgermanischen Erbrecht zu tun. Bei den Römern war dagegen schon vor Abschaffung des sogenannten Königtums die alte, auf persönlichen Blutbanden beruhende Gesellschaftsordnung gesprengt und eine neue, auf Gebietseinteilung und Vermögensunterschied begründete, wirkliche Staatsverfassung an ihre Stelle gesetzt worden[11]. Privateigentum an Boden und Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Verbände als wirtschaftliche Einheit sind der Boden, auf dem das römische Testament erwächst, nicht als Produkt eines von vornherein gegebenen besonderen römischen „Volksgeists”, sondern als ein Produkt derselben Entwicklung, die den besonderen römischen Volksgeist schuf, der das Römertum zur Zeit der Zwölftafelgesetzgebung[12] erfüllte. Wenn die Römer dem Testament eine gewisse feierliche Weihe gaben, so berechtigt das keineswegs dazu, das Testament als einen Akt hinzustellen, bei dem die symbolische Handlung -- die Willensübertragung -- die Hauptsache, der substantielle Inhalt derselben -- die Vermögensübertragung -- reine Nebensache gewesen sei. Auf einer gewissen Kulturstufe, und noch weit in die Zivilisation hinein, kleiden die Völker überhaupt alle wichtigen ökonomischen Handlungen in religiöse Akte; es sei nur an die Feierlichkeiten bei den Landaufteilungen, an die Einweihung der Grenzmarken usw. erinnert.
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Was würde man von einem Historiker sagen, der den römischen Kultus des Gottes Terminus als den Ausfluß der besonderen Natur des römischen Volksgeistes, als den Ausdruck einer speziell römischen „Idee” hinstellen wollte, bei der die eingegrenzten Äcker Nebensache, der Begriff der „Endlichkeit” die Hauptsache gewesen sei? Was von einem Rechtshistoriker, der das Aufkommen des Privateigentums an Grund und Boden in Rom auf den Kultus des Gottes Terminus zurückführen wollte? Und genau dies ist es, wenn Lassalle den Kultus der Manen und Laren als die Ursache des Aufkommens der Testamente bei den Römern bezeichnet, in der römischen Mythologie den letzten Grund dieser Rechtsschöpfung erblickt.[13] Auf diese Weise kommt er denn zu der ebenso unhistorischen wie unlogischen Behauptung, daß, wenn das römische Zwölftafelgesetz für den Fall der Abwesenheit eines Testamentserben die Hinterlassenschaft dem nächsten Agnaten (Verwandte männlicher Linie) und, falls kein Agnat vorhanden, der Gens zuschreibt, dies ein Beweis sei, daß das Testament auch der geschichtlichen Zeitfolge nach zuerst aufgetreten, das Intestaterbe aber erst nachträglich, subsidiär, eingeführt worden sei. Tatsächlich zeigt gerade das Zwölftafelgesetz, obwohl es die Reihenfolge umkehrt, den wirklichen Gang der historischen Entwicklung an. Es konstatiert zuerst den neueingeführten Rechtsgrundsatz der Testierfreiheit, daß derjenige erben soll, dem der Erblasser testamentarisch die Hinterlassenschaft zugeschrieben hat. Ist aber kein Testament da, so tritt das frühere Erbrecht wieder in Kraft, die urwüchsige Intestaterbschaft: zuerst erbt der nächste Agnat und dann die Gens, der ursprüngliche Blutsverband. Das geschichtlich erste Institut erscheint auf den zwölf Tafeln als letztes, weil es als das älteste das umfassendste ist, und als solches naturgemäß die letzte Instanz bildet. Wie erkünstelt dagegen Lassalles Konstruktion ist, geht schon daraus hervor, daß er sich, um seine Theorie von dem, auf den „Begriff des Willens” aufgebauten römischen Erbrecht aufrechtzuerhalten, einmal gezwungen sieht, zu behaupten, daß „den Agnaten nicht die Idee der Blutsverwandtschaft in irgendwelcher physischen Auffassung zugrunde liegt” und die Agnaten als „die durch das Band der Gewalt vermittelte Personengemeinschaft” bezeichnet. Als gläubige Althegelianer haben die alten Römer „mit gewaltiger begrifflicher Konsequenz” den „tiefen Satz der spekulativen Logik” verwirklicht, daß der nicht ausgedrückte Wille des Individuums der allgemeine Wille ist, der als Inhalt hat „den allgemeinen Willen des Volkes oder den Staat, in dessen Organisation derselbe verwirklicht ist”.
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Das Testament, die Testierfreiheit, ist danach älter als der römische Staat, aber das Intestaterbe ist vom Staat eingeführt, der Staat hat eines schönen Tages Agnaten und Gentilgenossenschaft als Subsidiärerben eingesetzt, und zwar nicht auf Grund der Abstammungsidentität, sondern in ihrer Eigenschaft als Organe der Staatsordnung, als Organe der Willensidentität. Wir wissen heute, daß sich die Dinge gerade umgekehrt zugetragen haben, daß es nicht der Staat ist, der die Gens mit Rechten ausgestattet hat, die sie vorher nicht besaß, sondern daß er ihr vielmehr eines der Rechte, eines der Ämter, die sie innegehabt, nach dem andern abgenommen, ihre Funktionen immer mehr eingeschränkt hat, daß erst mit der Lockerung des Gentilverbandes, mit seiner inneren Zersetzung der Staat möglich wurde, und erst mit und in dem Staate die Testierfreiheit. Da Lassalle die Gens nicht kannte, so mußte er, wie alle Rechtsgelehrten, die gleichzeitig mit ihm und vor ihm über das Wesen des ursprünglichen römischen Erbrechts schrieben, notwendigerweise zu falschen Schlüssen gelangen. Aber anstatt der Wahrheit näherzukommen, als seine Vorgänger, steht er ihr vielmehr viel ferner als diese. Bemüht, die Dinge aus dem spekulativen Begriff zu konstruieren, schneidet er sich jede Möglichkeit ab, ihren wirklichen Zusammenhang zu erkennen. Der berühmte Rechtslehrer Eduard Gans -- beiläufig ebenfalls Hegelianer -- hatte römisches Intestaterbe und Testamentserbe als miteinander kämpfende Gedanken hingestellt, die keinerlei Gemeinschaftlichkeit ihres Gedankeninhalts haben und sie als eine historische Stammesverschiedenheit zwischen Patriziern und Plebejern zu erklären versucht. So fehlerhaft diese Erklärung, so richtig ist der ihr zugrunde liegende Gedanke, daß es sich hier um einen grundsätzlichen Gegensatz handelt und daß die gegensätzlichen Rechtsbegriffe auf verschiedenem historischen Boden entstanden sind. Lassalle aber erblickt gerade in ihm einen Rückfall in den „Fehler der historischen Schule”, das „aus dem Gedanken Abzuleitende” als ein „äußerlich und historisch Gegebenes vorauszusetzen”. Und auf der andern Seite erklärt er es als einen „Grundirrtum”, wenn andere Rechtsphilosophen von der Auffassung ausgehen, daß „das römische Intestaterbrecht seinem Gedanken nach wahres Familienrecht sei”. Tatsächlich ist es wirklich nichts anderes. Nur daß die hier in Betracht kommende Familie sich nicht mit der römischen Familie deckt, sondern den weiteren Geschlechtsverband umfaßt[14]. Wir können auf den Gegenstand hier nicht weiter eingehen, man sieht aber aus dem Bisherigen schon, daß der so kunstvoll ausgeführte Bau Lassalles auf absolut unhaltbarem Fundamente ruht.
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So geschlossen und streng folgerichtig daher die Beweisführung, und so geistreich auch die Analyse, so treffend vielfach Lassalles Kommentare -- gerade das, was er mit dem ganzen Buch über das römische Erbrecht beweisen wollte, hat er nicht bewiesen. Die römische Unsterblichkeitsidee ist nicht die Grundlage, sondern die ideologische Umkleidung des römischen Testaments, sie erklärt seine Formen, aber nicht seinen Inhalt. Dieser bleibt bestehen, auch wenn der religiöse Hintergrund verschwindet. Und gerade in den vielen Formen und Formalitäten, von denen die Römer die Rechtsgültigkeit der Testamente abhängig machten, liegt unseres Erachtens ein weiterer Beweis, daß das Testament nicht, wie Lassalle meint, die frühere, sondern umgekehrt die spätere Einrichtung gewesen ist und wahrscheinlich -- wie auch bei den Deutschen, nachdem diese das römische Recht bereits angenommen hatten, -- lange Zeit die Ausnahme bildete, während das Intestaterbe noch die Regel war. Wie steht es aber mit der Nutzanwendung, die Lassalle aus seiner Theorie zieht, daß das Testament nur aus der römischen Unsterblichkeitsidee -- der Fortdauer der Willenssubjektivität nach dem Tode -- zu begreifen sei, daß es mit dieser „begrifflich” stehe und falle? Daß das moderne Testamentsrecht, nachdem die römische Willensunsterblichkeit der christlichen Idee der Geistesunsterblichkeit, der Unsterblichkeit des nicht mehr auf die Außenwelt bezogenen, sondern des „in sich zurückgezogenen Geistes” gewichen sei, nichts als ein großes Mißverständnis, eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei? Dies führt uns zurück auf den ersten Teil seines Werkes, zu dem der zweite, trotz seiner Abgeschlossenheit, eben doch nur eine Art Anhang ist. Der erste Teil des „Systems der erworbenen Rechte” führt den Untertitel „Die Theorie der erworbenen Rechte und der Kollision der Gesetze”. Lassalle sucht darin einen rechtswissenschaftlichen Grundsatz zu ermitteln, der ein für allemal die Grenze anzeigen soll, unter welchen Umständen und wie weit Gesetze rückwirkende Kraft haben dürfen, ohne gegen die Rechtsidee selbst zu verstoßen. Mit anderen Worten, wann da, wo neues Gesetz oder Recht und altes Gesetz oder Recht aufeinanderstoßen (kollidieren), das erstere und wann das letztere entscheiden, wann ein Recht wirklich als „erworbenes” zu respektieren, wann es ohne weiteres der Rückwirkung unterworfen sein soll. Bei der Beantwortung dieser Frage macht sich der oben gerügte Fehler der Lassalleschen Untersuchungsmethode weniger geltend, während alle ihre Vorzüge: die Schärfe des begrifflichen Denkens, das Verständnis -- innerhalb der bezeichneten Grenzen -- für das geschichtliche Moment, verbunden mit revolutionärer Kühnheit in der Verfolgung eines Gedankens bis in seine letzten Konsequenzen -- zu ihrer vollen Entfaltung gelangen.
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So ist das Resultat denn auch ein viel befriedigenderes, als bei der Untersuchung über das Wesen des römischen Erbrechts. Wie hoch oder gering man immer die Erörterung solcher rechtsphilosophischen Fragen veranschlagen mag, so wird sich kaum bestreiten lassen, daß Lassalle die oben gestellte Frage in einer Weise löst, daß sowohl der Jurist wie der Revolutionär dabei zu ihrem Rechte kommen. Und das ist gewiß eine respektable Leistung. Lassalle stellt zunächst folgende zwei Sätze als Normen auf: a) „Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die Vermittelung seiner Willensaktionen trifft.” b) „Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein menschlichen oder natürlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft selbst in ihren organischen Institutionen ändert.” Ein Gesetz z. B., welches die privatrechtlichen oder staatsbürgerlichen Befugnisse der Angehörigen des Landes ändert, tritt sofort in Kraft, läßt aber die Handlungen, welche die Individuen auf Grund der vorher ihnen zustehenden Befugnisse getroffen haben, unberührt, auch wenn diese Befugnisse selbst durch es aufgehoben werden. Wenn heute ein Gesetz das zur Volljährigkeit erforderliche Alter vom 21. auf das 25. Jahr erhöht, so verlieren alle Personen über 21 und unter 25 Jahren sofort die an die Volljährigkeit geknüpfte Handlungsfähigkeit, die sie bisher besaßen, denn sie besaßen sie nicht durch individuellen Willensakt. Aber auf die Rechtsgeschäfte, die sie vor Erlaß des Gesetzes, gestützt auf die ihnen bisher zuerkannte Volljährigkeit, abgeschlossen hatten, wirkt das neue Gesetz nicht zurück. Nur das durch eignes Tun und Wollen, durch individuelle Willensaktion der einzelnen verwirklichte Recht ist ein erworbenes Recht. Aber selbst das durch individuelle Willenshandlung erworbene Recht ist nicht unter allen Umständen der Rückwirkung entzogen. „Das Individuum kann sich und andern nur insoweit und auf so lange Rechte sichern, insoweit und solange die jederzeit bestehenden Gesetze diesen Rechtsinhalt als einen erlaubten ansehen.” Jedem Vertrage sei „von Anfang an die stillschweigende Klausel hinzuzudenken, als solle das in demselben für sich oder andere stipulierte Recht nur auf so lange Zeit Geltung haben, solange die Gesetzgebung ein solches Recht überhaupt als zulässig betrachten wird”. „Die alleinige Quelle des Rechts”, führt Lassalle aus, „ist das gemeinsame Bewußtsein des ganzen Volks, der allgemeine Geist”. Durch Erwerbung eines Rechts könne sich daher das Individuum „niemals der Einwirkung des allgemeinen Rechtsbewußtseins entziehen wollen.
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Nur ein solches Individuum würde diese Einwirkung wirklich von sich abhalten können, welches, wenn dies denkbar wäre, nun und niemals ein Recht weder erwerben noch ausüben und haben wollte.” „Es läßt sich vom Individuum kein Pflock in den Rechtsboden schlagen und sich mittelst desselben für selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künftigen zwingenden und prohibitiven Gesetze erklären.” Nichts andres als „diese verlangte Selbstsouveränität des Individuums” liege in der Forderung, daß „ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten fortdauern soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit ausschließen”. Wenn also „der öffentliche Geist in seiner Fortentwicklung dazu gelangt ist, den Fortbestand eines früheren Rechts, z. B. Leibeigenschaft, Hörigkeit, Robotten, Bann- und Zwanggerechtigkeiten, Dienste und Abgaben bestimmter Natur, Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, fideikommissarische Erbfolge usw. von jetzt ab auszuschließen”, so könne dabei „von irgendwelcher Kränkung erworbener Rechte ... gar nicht die Rede sein”. So seien denn auch die Dekrete der berühmten Nacht vom 4. August 1789, durch welche die französische konstituierende Nationalversammlung alle aus der Feudalherrschaft herfließenden Rechte aufhob, von „jeder Rechtsverletzung und Rückwirkung” frei gewesen. Es gab da „nichts zu entschädigen”. Ein Recht der Entschädigung, führt Lassalle treffend aus, auch da noch anzunehmen, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechts vom öffentlichen Bewußtsein bereits prohibiert, d. h. als widerrechtlich bestimmt ist, heiße „vermöge der Kraft der Logik gar nichts Geringeres, als Klassen oder Individuen das Recht zusprechen, dem öffentlichen Geiste einen Tribut für seine Fortentwicklung aufzuerlegen”. Von einer Entschädigung könne nur da die Rede sein, wo nicht das Rechtsverhältnis selbst, sondern nur bestimmte Arten der Befriedigung aus demselben aufgehoben, nicht eine bestimmte Klasse von Rechtsobjekten, sondern nur einzelne ihrer Exemplare aus der Sphäre des Privatrechts in die des öffentlichen Rechts übergeführt werden. Diesen Grundsatz haben, weist er nach, die französischen Versammlungen nach 1789 durchgängig mit der „wahrhaften Logik des Begriffs” innegehalten. Dagegen sei beispielsweise das preußische Gesetz vom 2. März 1850 über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse in einer Reihe von Bestimmungen nichts als eine widerrechtlich und wider das eigne Rechtsbewußtsein verordnete Vermögensverletzung der ärmsten Klassen zugunsten der adeligen Grundbesitzer, d. h. „logisch-konsequent” nichts als „ein Raub”[15]. Dem bekannten konservativen Rechtslehrer Stahl, der geschrieben hatte, keine Zeit sei berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die aus derselben stammenden Rechte, je nach ihrem Urteil über die Angemessenheit, anzuerkennen oder zu vernichten, -- erwidert Lassalle, der Vordersatz sei sehr richtig, aber der Nachsatz sei sehr falsch.
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Was aus dem ersteren folge, sei vielmehr, daß jede Zeit autonom sei, keine Zeit unter der Herrschaft der anderen stehe, und also auch keine „rechtlich verpflichtet sein könne, in ihr selbst noch fortwirken zu lassen, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von jetzt ab als ein Dasein des Unrechts, statt des Rechts, angeschaut würde”. Es sei aber durchaus nicht unbedingt erforderlich, führt er weiterhin aus, daß ein Volk seine neue Rechtsidee, seinen neuen Willen, in Worten -- durch den Mund der Volksvertretung etwa -- ausgedrückt habe. „Denn zum Begriff des Rechts gehört nur, daß der Volksgeist einen geistigen Inhalt als Gegenstand seines Willens in die Rechtssphäre, d. h. die Wirklichkeit, gesetzt habe. Dies kann aber unter Umständen nicht weniger bestimmt und energisch als durch Worte durch tatsächliche Zertrümmerung eines Rechtszustandes geschehen, den ein Volk vornimmt.” Diesen Grundsatz finde man schon bei den römischen Juristen, und die französische Gesetzgebung während und nach der französischen Revolution habe ihn von neuem bestätigt. Die Geschichte selbst habe dem Konvent recht gegeben, die Geschichtsschreibung, auch die reaktionäre, es ratifizieren müssen, wenn er die französische Revolution in ihren rechtlichen Wirkungen vom 14. Juli 1789, dem Tage des Bastillesturms, datierte. Und wieder exemplifiziert Lassalle auf analoge Vorgänge in Preußen und weist nach, wie im Gegensatz zur französischen Jurisprudenz das preußische Obertribunal sich in mehreren Erkenntnissen über das durch die Märzrevolution von 1848 geschaffene und in der preußischen Verfassung (selbst der oktroyierten) ausdrücklich anerkannte neue Rechtsbewußtsein, daß „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind und Standesvorrechte nicht stattfinden”, durch Wortkünste hinweggesetzt, Standesvorrechte wiederhergestellt, kurz, sich als ein wahrer „Reaktionskonvent” betätigt habe. Vier Jahre, nachdem das „System” erschienen, bewies das genannte Tribunal in der famosen Interpretation des Artikel 84 der preußischen Verfassung auch den „liberalen Kalbsköpfen”, wie sehr es auf diesen, ihm von Lassalle verliehenen Titel Anspruch hatte. Wir haben gesehen, erworbene Rechte müssen erstens durch individuelle Willensaktion vermittelt und zweitens in Übereinstimmung sein mit dem erkennbar zum Ausdruck gelangten Volksgeist. Das ist in kurzem die Theorie der erworbenen Rechte. Wenn also der französische Konvent im Gesetz vom 17. Nivose des Jahres II (6. Januar 1794) bestimmte, daß die Vorschriften dieses Gesetzes, das die fideikommissarischen usw. Erbschaften aufhob, auf alle Erbschaften Anwendung finden sollten, die seit dem 14. Juli 1789 eröffnet worden, so verstieß er damit nach Lassalle durchaus nicht gegen den Grundsatz der erworbenen Rechte. Im Gegenteil durfte er mit vollem Recht am 22.
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Ventose desselben Jahres in Beantwortung mehrerer Petitionen sich darauf berufen, daß das Gesetz „nur die seit jenem Tage -- eben dem 14. Juli 1789 -- von einem großen Volke, das seine Rechte wieder ergriff, proklamierten Prinzipien entwickelt” habe, aber das Prinzip der Nichtrückwirkung nicht einmal „auch nur in Frage stelle”, daß unstatthafte Rückwirkung jedoch dann eintrete, wenn man diese Grenze überschritte, d. h. das Gesetz auch auf die vor dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften ausdehnte. Es leuchtet hiernach ein, um damit zur Frage des Erbrechts zurückzukehren, worauf Lassalle mit seinen Untersuchungen über römisches und germanisches Erbrecht hinaus will. Das römische, auf Testamente und Intestaterbfolge nicht der Familie, sondern der „Reihen, in welche die Willensgemeinschaft sich gliedert”, beruhende Erbrecht war danach in Rom „erworbenes Recht”, denn es entsprach dem römischen Volksgeist, der „Substanz” des römischen Volkes, nämlich der Idee der Unsterblichkeit des Willenssubjekts. Ebenso war das altgermanische Erbrecht -- Intestatrecht der Familie -- erworbenes Recht, denn es entsprach einer Idee des altgermanischen Volksgeistes, der auf der „sittlichen Identität der Personen” beruhenden Familie, die „zu ihrer substantiellen Grundlage die sich empfindende Einheit des Geistes oder die Liebe hat”. Die Familie erbt, weil das Eigentum überhaupt nur Familieneigentum ist. Die heutige Intestaterbfolge beruhe aber, nachdem das Eigentum rein individuelles Eigentum geworden, „nicht mehr auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der Familie als durch den präsumierten Willen des Toten berufen, sondern auf der Familie als Staatsinstitution”, auf dem „die Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des Staates”. Und das letztere sei auch der Fall mit dem Testamentrecht, von dem wir jetzt gesehen haben, daß es heutzutage „eine kompakte theoretische Unmöglichkeit” sei. Weder Intestaterbfolge noch Testamentrecht sind heute Naturrechte, sondern „Regelung der Hinterlassenschaft von Sozietäts wegen”.
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Und Lassalle schließt sein Werk mit dem Hinweis auf Leibniz, der, trotzdem er das Testament nicht in seinem vollen Sinne erkannt, doch den tiefen Satz ausgesprochen habe: „Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima esset immortalis” -- „Testamente aber wären mit vollem Recht durchaus null und nichtig, wenn die Seele nicht unsterblich wäre.” Braucht es hiernach noch einer besonderen Erklärung, was Lassalle meint, wenn er, gegen Hegels Beurteilung des Testaments polemisierend, in den Satz ausbricht: „Und es wird sich vielleicht bald zeigen, daß sich aus unseren objektiven Darstellungen zwar andere, aber noch radikalere Folgerungen über das moderne Testamentsrecht von selbst ergeben?” Was auf keinem Naturrecht beruht, sondern nur Staatsinstitution ist, können der Staat oder die Sozietät auch jederzeit ändern, einschränken oder ganz aufheben, wie es dem Bedürfnis der Sozietät angemessen erscheint. Wenn daher G. Brandes und andere nach ihm im ganzen System der erworbenen Rechte „nicht eine Zeile” gefunden haben, welche auf eine Umsetzung der Lassalleschen Erbrechtstheorie in die Praxis hinweise, so kann man ihnen aufrichtig beipflichten. Nicht eine Zeile, nein, das ganze Werk ist es, das -- wie Lassalle sich ausdrücken würde -- nach dieser Umsetzung schreit. Was anders kann Lassalle wohl gemeint haben, wenn er die Vorrede mit den Worten beginnt, daß, wenn das vorliegende Werk seine Aufgabe wahrhaft gelöst haben soll, es in seinem letzten Resultate nichts Geringeres sein könne und dürfe, als „die rechtswissenschaftliche Herausringung des unserer ganzen Zeitperiode zugrunde liegenden politisch-sozialen Gedankens”? Hat Lassalle aber seine Aufgabe gelöst? Was seine Theorie der erworbenen Rechte anbetrifft, so scheint die ihr zugrunde liegende Auffassung heut so ziemlich allgemein anerkannt zu sein. Sehr gelungen ist ferner, von der Urgeschichte abgesehen, die Darlegung, daß im allgemeinen „der kulturhistorische Gang aller Rechtsgeschichte” darin bestehe, „immer mehr die Eigentumssphäre des Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb des Privateigentums zu setzen”. Lassalle legte auf die Stelle, wo er dies in sehr feiner Entwicklung ausführt, mit Recht den größten Wert. Sie ist ein ganzes geschichtsphilosophisches Programm, ein Meisterwerk begriffsscharfer Logik. Bedenklich dagegen steht es mit Lassalles Anwendung der Theorie, wenn sein Beispiel vom Wesen des römischen und germanischen Erbrechts maßgebend sein soll. Wir haben die Ursache der Schwäche dieses Vergleichs bereits oben gekennzeichnet und brauchen daher hier nur zu rekapitulieren. Lassalle leitet das Erbrecht aus dem spezifischen Volksgeiste ab.
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Wenngleich nun ein intimer Zusammenhang zwischen Erbsystem und Volksgeist nicht abgeleugnet werden soll, so ist dieser Zusammenhang doch nicht der von letzter Ursache und Wirkung. Erbsystem und Volksgeist stellen vielmehr zwei Wirkungen einer und derselben tieferliegenden Ursache oder Gruppe von Ursachen an. Beide sind in letzter Instanz das Produkt oder der Ausdruck der jeweiligen materiellen Lebensbedingungen eines Volkes, wachsen aus diesen heraus und ändern sich mit ihnen, d. h. das Erbrecht wird geändert, sobald es mit den materiellen Lebensbedingungen eines Volkes unverträglich wird. Dann entdeckt der „Volksgeist”, daß dieses Erbrecht seinem Rechtsbewußtsein nicht mehr entspreche. Und so mit allen übrigen Rechtseinrichtungen. Der „Volksgeist” erscheint nur als die letzte Instanz, die über ihren Bestand entscheidet, tatsächlich ist er so etwas wie Gerichtsvollzieher, die wirklich bestimmende Instanz sind die materiellen Lebensbedingungen des Volkes, die Art, wie, und die Verhältnisse, unter denen es die Gegenstände seines Bedarfs produziert[16]. Wieso kam aber Lassalle zu einer so grundfalschen, die Irrtümer der alten Juristen und Rechtsphilosophen noch überbietenden Theorie? Der Fehler liegt daran, daß er zwar mit eiserner Konsequenz, aber zum desto größeren Schaden für seine Untersuchung, von Anfang bis zu Ende in der Sphäre des juristischen und philosophischen „Begriffs” bleibt. Aus der „begrifflichen” Ableitung sollen sich die Dinge erklären, die „begriffliche” Ableitung die Gesetze ihrer Entwicklung bloßlegen. Die Dinge aber richten sich nicht nach den Begriffen, sie haben ihre eigenen Entwicklungsgesetze. Unzweifelhaft war Lassalle ein sehr tüchtiger Jurist. Er brachte von Hause aus außergewöhnliche Anlagen dazu mit, und der jahrelange Kampf mit den Gerichten in der Hatzfeldt-Affäre hatte diese Eigenschaft noch stärker in ihm entwickelt. Wo es gilt, ein Gesetz zu zergliedern, einen Rechtsgrundsatz bis in die geheimsten Tiefen seines Begriffs zu verfolgen, da ist er in seinem Fahrwasser, da leistet er wahrhaft Glänzendes. Aber seine starke Seite ist zugleich auch seine Schwäche. Die juristische Seite überwuchert bei ihm. Und so sieht er auch die sozialen Probleme vorwiegend mit den Augen des Juristen an. Das zeigt sich schon hier im „System der erworbenen Rechte”, es bildet die Schwäche dieses Werkes, es sollte sich aber auch später in seiner sozialistischen Agitation zeigen. Das „System usw.” sollte laut Vorrede zugleich eine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie sein. Es kritisiert sie aber nur in Nebenpunkten, macht nur einen halben Schritt vorwärts, bleibt dagegen in der Hauptsache auf demselben Standpunkt stehen, wie diese.
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Das ist um so merkwürdiger, als der Schritt, der geschehen mußte, um die Kritik zu einer wirklich den Kernpunkt treffenden zu gestalten, längst angegeben war, und zwar in Schriften, die Lassalle sämtlich kannte. 1844 hatte Karl Marx in den deutsch-französischen Jahrbüchern in einem Aufsatz, der obendrein den Titel führt: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie”, auf ihn hingewiesen, 1846 in der Schrift „La misère de la philosophie” ihn deutlich vorgezeichnet, 1847 hatten Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest” das Beispiel seiner Anwendung geliefert, und endlich hatte Karl Marx in der Vorrede zu seiner 1859 erschienenen Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie” unter ausdrücklichem Hinweis auf den ersterwähnten Aufsatz, geschrieben: „Meine Untersuchung” -- zu der jener Aufsatz nur die Einleitung bildete -- „mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” Und obgleich Lassalle dieses Buch schon kannte, als er noch am „System” arbeitete, obwohl er sich Marx gegenüber in den begeistertesten Ausdrücken über es äußerte[17], findet sich in seinem Werk auch nicht eine Zeile, die im Sinne des Vorstehenden zu deuten wäre. Soll damit ein Vorwurf gegen Lassalle ausgesprochen werden? Das wäre im höchsten Grade abgeschmackt. Wir führen es an zur Kritik seines Standpunktes, seiner Auffassungsweise. Diese war zu jener Zeit noch die ideologisch-juristische. Das zeigte sich auch in der brieflichen Auseinandersetzung mit Marx über die im „System der erworbenen Rechte” aufgestellten Theorien des Erbrechts. Es liegt nach dem Obigen auf der Hand, daß sich Marx sofort gegen diese auflehnen mußte, denn sie standen mit seinem theoretischen Standpunkt im direkten Widerspruch. Was er Lassalle entgegenhielt, ist aus dessen Briefen nur unvollkommen zu ersehen, aber so viel geht aus ihnen hervor, daß die, übrigens nicht lange, brieflich geführte Debatte sich im wesentlichen um die Lassallesche Behauptung drehte, daß das Testament nur aus der römischen Mythologie, der römischen Unsterblichkeitsidee, zu begreifen sei, und daß die ökonomische Bourgeoisentwicklung niemals für sich allein das Testament habe entwickeln können, wenn sie es nicht schon im römischen Recht vorgefunden hätte. Und es ist ganz charakteristisch zu sehen, wie auf Fragen von Marx, die sich auf die ökonomische Entwicklung beziehen, Lassalle schließlich immer wieder mit juristisch-ideologischen Wendungen antwortet.
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Die grundsätzliche Verschiedenheit der theoretischen Ausgangspunkte beider Denker kommt in dieser Korrespondenz, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, zum sprechendsten Ausdruck. Um es jedoch noch einmal zu wiederholen, trotz des falschen geschichtstheoretischen Standpunktes bleibt das „System der erworbenen Rechte” eine sehr bedeutende Leistung und eine, selbst für denjenigen, der Lassalles theoretischen Standpunkt nicht teilt, höchst anregende und genußreiche Lektüre. Fußnoten: [10] Unter Naturrecht oder Vernunftrecht versteht man die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundsätze, die durch die philosophische Untersuchung vom Begriff und Wesen des Rechts und der Rechtsverhältnisse gewonnen werden und als den Menschen sozusagen angeborenes, ihr natürliches Recht gelten sollen. Es werden daher vielfach Rechtsphilosophie und Naturrecht als Gleiches bezeichnende Begriffe gebraucht. [11] Vgl. Fr. Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen”. 1. Aufl. S. 93. [12] Um das Jahr 450 v. Chr. [13] Neuere Untersuchungen haben festgestellt, daß das Aufkommen des Ahnenkultus bei allen Völkern mit dem Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht zusammentrifft. [14] Übrigens brauchen auch die Römer das Wort familia nicht bloß zur Bezeichnung der einzelnen, unter einem Oberhaupt stehenden Hausgenossenschaft, sondern bereits ebenfalls für den mehr oder minder gelockerten Geschlechtsverband. In einer Stelle des römischen Juristen Ulpian, die Lassalle zitiert, wird ausdrücklich zwischen der „familia” im engeren Sinne (jure proprio) und der familia im weiteren Sinne (communi jure) unterschieden, zu welch letzterer alle diejenigen gehören „... die aus demselben Haus und derselben gens hervorgegangen sind.” Für Lassalle ist die betreffende Stelle ein weiterer Beweis, daß das römische Intestaterbe -- kein Familienerbe gewesen sei. „Denn,” sagt er u. a., „man wird doch ... das Erbrecht der Gentilen nicht als ein ‚Familienrecht’ ausgeben wollen!” [15] Auch gegen die Art, wie in Preußen bei der Aufhebung von Grundsteuerfreiheiten usw. Entschädigungen von der Volksvertretung erpreßt wurden, sagt Lassalle manches kräftige Wort.
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„Wenn eine Staatsregierung”, schreibt er mit Bezug auf einen, 1859 von der preußischen Regierung eingebrachten und solche Entschädigungen stipulierenden Entwurf -- „die unbegreifliche Schwäche hat, einen solchen Vorschlag zu machen, so verzichtet sie dabei grundsätzlich auf das Souveränitätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer pflichtvergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen, so würde sie wenigstens weit logischer handeln, gleich geradezu die Hörigkeit des Volkes von den adeligen Grundbesitzern neu zu proklamiren.” Was hätte er wohl gesagt, wenn ihm jemand erwidert hätte, noch nach dreißig Jahren werden in Preußen solche „Schwächen” und solche „Pflichtvergessenheit” berechtigte nationale Institutionen sein! Freilich, Lassalle war damals noch naiv genug, zu schreiben, daß, als in England die Kornzölle aufgehoben wurden, die Tories nicht die „Schamlosigkeit” gehabt haben, „sich aus ihren jetzt unspekulativ gewordenen Güterankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen Geist zu drehen!” Hätte er dreißig Jahre länger gelebt, so würde er erfahren haben, daß was den Tories 1846 fehlte, weiter nichts war, als das richtige „praktische Christentum”. Aber welche Ironie der Geschichte, daß die Aufgabe, die Neuauflage des „Systems der erworbenen Rechte” zu besorgen, gerade Lothar Bucher zufallen mußte. Bucher schrieb 1880 im Vorwort zur zweiten Ausgabe, nur seine Berufstätigkeit habe ihn verhindert, den Nachweis zu versuchen, wie das „System in den Gesetzberatungen der letztverflossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden können”. Tatsächlich schlagen die meisten der dafür in Betracht kommenden Gesetze der Ära Bismarck dem Geist dieses Buches direkt ins Gesicht. [16] Man muß sich freilich das Verhältnis nicht gar zu mechanisch vorstellen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkungen können die religiösen, Rechts- usw. Anschauungen, kurz das, was man unter dem Begriff des Volksgeistes zusammenfaßt, ihrerseits wiederum einen großen Einfluß auf die Gestaltung der Produktionsverhältnisse ausüben, innerhalb gewisser Grenzen z. B. ihre Fortentwicklung hindern oder verlangsamen. Schließlich sind es doch immer die Menschen, die ihre eigene Geschichte machen. Aber es handelt sich hier um die letzten Ursachen, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen. [17] In einem Briefe vom 11. September 1860 nennt er es „ein Meisterwerk”, das ihn „zur höchsten Bewunderung hingerissen” habe. Der preußische Verfassungskonflikt, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm. Lassalle trug sich in den Jahren 1860 und 1861 sehr stark mit der Idee, in Berlin ein demokratisches Blatt im großen Stil zu gründen.
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Wie er über die liberale Presse dachte, haben wir oben gesehen, und ebenso, wie er danach dürstete, unmittelbar auf die Entwicklung der Dinge in Deutschland einwirken zu können. Da beim Ableben Friedrich Wilhelms IV. eine allgemeine Amnestie in Aussicht stand, so wandte sich Lassalle daher an Marx mit der Frage, ob er und Engels in diesem Falle geneigt wären, nach Deutschland zurückzukehren und mit ihm gemeinsam ein solches Blatt herauszugeben. „In meinem vorletzten Brief”, schreibt er unterm 11. März an Marx, „fragte ich an: ob Ihr denn, wenn der König stürbe und Amnestie einträte, zurückkommen würdet, hier ein Blatt herauszugeben? Antworte doch darauf. Ich trage mich nämlich für diesen Fall mit der freilich noch sehr unbestimmten, weitaussehenden Hoffnung, dann mit Euch (hier in Berlin) ein großes Blatt herauszugeben. Würdet Ihr also in solchem Falle geneigt sein, herzukommen? Und wieviel Kapital wäre zu einem großen Blatte erforderlich? Würde es hinreichen, wenn man etwa 10000 Taler dazu aufbringen könnte? Oder wieviel? Es wäre mir lieb, wenn Du mir darüber schriebst, denn ich denke gern an dies château en Espagne!” In den folgenden Briefen kommt er wiederholt auf die Idee zurück, und am 19. Januar 1861, als der Thronwechsel in Preußen in der Tat eine Amnestie herbeigeführt hatte, schreibt er dringender: „Noch einmal stelle ich Dir die Frage: 1. wieviel Kapital ist nötig, um hier ein Blatt zu stiften? 2. Wer von den ehemaligen Redakteuren der „Neuen Rheinischen Zeitung” würde eventuell zu solchem Zweck hierher zurückkehren?” Obwohl Marx einer Einladung Lassalles folgte und ihn im Frühjahr 1861 in Berlin besuchte, zerschlug sich der Plan. Erstens stellte Lassalle die ganz merkwürdige Bedingung, er solle in der Redaktion eine Stimme haben und Marx und Engels zusammen auch nur eine, denn sonst sei er ja „stets in der Minorität”! Dann aber legte die preußische Regierung die Amnestie so aus, daß diejenigen politischen Flüchtlinge, die durch mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande ihrer Zugehörigkeit zum preußischen Staatsverband verlustig gegangen seien, sie keineswegs ohne weiteres wieder erhalten, sondern ihre dahingehenden Anträge genau so behandelt werden sollten, wie die Naturalisationsgesuche von Ausländern überhaupt. Das heißt, da das erstere für die meisten Flüchtlinge zutraf, daß es von dem Belieben der Regierung abhängen sollte, jeden davon wieder „abschieben” zu können, dessen Rückkehr ihr „unbequem” war. Ein von Lassalle für Marx eingereichtes Naturalisationsgesuch wurde denn auch richtig in allen Instanzen abgelehnt, da, wie es in einem vom 11.
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November 1861 datierten Bescheid des -- liberalen -- Ministers Schwerin an Lassalle hieß, „zur Zeit wenigstens durchaus keine besonderen Gründe vorhanden sind, welche für die Erteilung der Naturalisation an den p. Marx sprechen könnten”. Damit war natürlich jeder Gedanke an eine Übersiedelung von Marx nach Berlin ausgeschlossen. Im Spätsommer 1861 machte Lassalle zusammen mit der Gräfin Hatzfeldt eine Reise nach Italien, die, wie er an Marx schreibt, „sehr instruktiv” für ihn gewesen sei. Sein Aufenthalt bei Garibaldi auf Caprera sei sehr interessant gewesen, auch habe er „fast alle leitenden Persönlichkeiten” in den verschiedenen Städten, die er besichtigt, kennengelernt. Wie Bernhard Becker in seiner Schrift „Enthüllungen über das tragische Lebensende Ferdinand Lassalles” zuerst bekannt gegeben hat und unter anderem durch Marx' Brief an Fr. Engels vom 30. Juli 1862 bestätigt wird, hat Lassalle bei jenem Besuch Garibaldi zu einem militärischen Unternehmen in großem Stil gegen Österreich zu überreden gesucht und den Plan dann in London auch Mazzini vorgelegt. Garibaldi sollte sich danach in Neapel zum Diktator aufwerfen, eine große Armee bilden und mit dieser über Padua noch weiter vordringen, während zugleich ein an die adriatische Küste geworfenes detachiertes Korps nach Ungarn vorrücken und die Ungarn insurgieren sollte. Ein Plan, der namentlich deshalb interessant ist, weil er zeigt, wie leicht sich Lassalle zu jener Zeit die Schaffung einer revolutionären Situation vorstellte, die unter anderm die erstrebte Lösung der deutschen Frage bringen sollte. Zu erwähnen ist noch, daß Marx Lassalle für diese Reise nach Italien einen Empfehlungsbrief an den deutschen Sozialisten und Freischärler Johann Philipp Becker gegeben hatte, ungünstige, aber zweifelsohne auf Klatsch beruhende Angaben einiger Italiener über Becker Lassalle jedoch bewogen, jenem aus dem Wege zu gehen. „Die meisten kennen ihn gar nicht” -- schreibt er über Becker an Marx zu seiner „Information” -- „die, die ihn kennen, halten ihn für einen Blagueur und Bummelfritz, für einen Humbug ... Gut steht er nur mit Türr, der eine entschieden napoleonische Kreatur ist, und dem er auf der Tasche liegt.” Infolgedessen habe er, Lassalle, beschlossen, von Marx' Empfehlungsbrief keinen Gebrauch zu machen. „Du weißt, wie oft wir in die Lage kommen, im Ausland uns vor nichts mehr zu hüten als vor unseren Landsleuten.” Nun, der wackere Jean Philipp war doch jedenfalls nicht der erste beste hergelaufene Großsprecher, sondern hatte wiederholt für die Sache der Freiheit seinen Mann gestanden, auf eine Zusammenkunft mit ihm hätte es Lassalle also schon ankommen lassen können.
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Die Fortschrittspartei verfügte über die große Mehrheit der Kammer und über fast die ganze öffentliche Meinung im Lande. Selbst Leute, die das innere Wesen dieser Partei durchschauten und zu radikale Ansichten hegten, um sich ihr anschließen zu können, hielten es für gut, ihr zunächst nicht entgegenzutreten, sondern abzuwarten, wie sie ihren Kampf mit der preußischen Regierung zu Ende führen werde. Lassalle war mit denjenigen Männern, die den Mittelpunkt der Fortschrittspartei in Berlin bildeten, schon seit einiger Zeit zerfallen. Anfangs 1860 hatte er noch mit großer Emphase in einem Brief an Marx für die kleinbürgerlich-demokratische Berliner „Volkszeitung” eine Lanze eingelegt, sie ein Blatt genannt, das, „wenn auch häufig mit viel weniger Mut, als erforderlich ist, und mit viel weniger Konsequenz, als es sich trotz der Preßfesseln zur Pflicht machen sollte, doch immerhin den demokratischen Standpunkt im allgemeinen durch alle die Jahre hindurch verteidigt hat und weiter verteidigt”, und hatte jede andere Politik, als die 1848 von der „Neuen Rheinischen Zeitung” gegenüber den „blau-revolutionären” Blättern und Parteien eingenommene für „ebenso theoretisch falsch wie praktisch verderblich” erklärt. „Wir müssen”, schrieb er, „in bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen Nüancen ebensosehr die Identität, als den Unterschied unsres sozial-revolutionären Standpunktes mit ihnen festhalten. Bloß den Unterschied herauskehren -- wird Zeit sein, wenn sie gesiegt haben.” Sollte die Partei in London dagegen sich zu dem Standpunkt entwickelt haben, alle bloß blau-revolutionären Blätter und Parteien den reaktionären gleichzustellen, dann „erkläre ich entschieden, daß ich diese Wandlung nicht mitmachen, sie vielmehr überall à outrance bekämpfen werde”. Im Brief vom 19. Januar 1861 teilt er jedoch Marx mit, daß er die Weigerung der „Volkszeitung”, eine längere Einsendung von ihm gegen die „Nationalzeitung” abzudrucken, als Anlaß benutzt habe, um mit ihrem Herausgeber, Franz Duncker, zu brechen. „Umgang meine ich, denn andres bestand überhaupt nicht. Ich benutze den Anlaß, sage ich. Denn es ist mir eine erwünschte Gelegenheit noch mehr als ein Grund. Es ist schon lange dahin gekommen mit ihm, daß ich diese Notwendigkeit einsah; es ist mit diesem mattherzigen Gesindel gar kein Verhältnis möglich, und so werde ich denn dies benutzen, um alle Beziehungen zu ihm, was ich ohne meine natürliche Gutmütigkeit schon lange getan, aufzuheben.” In der vom 27.
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März 1861 datierten Vorrede zum „System der erworbenen Rechte” finden wir denn auch schon einen an jener Stelle sogar ziemlich unvermittelten Angriff auf die „Wortführer der liberalen Bourgeoisie”, die den Begriff des Politischen in einer „geistlosen Verflachung und Oberflächlichkeit”, in einer „Isoliertheit” fassen, die sie zwingt, „sich an bloße Worte hinzuverlieren, und auf Worten mit Worten und für Worte zu kämpfen”. Indes blieb Lassalle doch mit andern Fortschrittlern und Nationalvereinlern in Verkehr, und in Berlin selbst hatte der Bruch mit Duncker vorerst nur die Folge, daß politisch noch zweideutigere Gestalten Lassalles Umgang bildeten. Abgesehen von einigen wirklichen Gelehrten, durften ganz gewöhnliche Salonlöwen, wie der Baron Korff, Meyerbeers Schwiegersohn, oder radikaltuende Künstler, wie Hans von Bülow usw., sich der intimen Freundschaft Lassalles rühmen[19]. In der Rechtfertigungsschrift der Frau Helene von Racowitza wird von der Schreiberin, zwar unabsichtlich aber desto eindrucksvoller, die sehr gemischte und zum Teil ziemlich angefaulte Gesellschaft geschildert, in der sich Lassalle bewegte, als sie seine Bekanntschaft machte (Anfang 1862). Vom Rechtsanwalt Hiersemenzel, in dessen Haus die erste Zusammenkunft zwischen Helene und Lassalle stattfand, und dessen „reizende blondlockige Frau” jener Lassalle als „einen der intimsten Freunde ihres Mannes” bezeichnete, schreibt Lassalle selbst wenige Monate darauf -- am 9. Juni 1862 -- an Marx: „Beiläufig, mit dem ganz gemeinen Hecht Hiersemenzel habe ich for ever gebrochen” und fügt recht bezeichnend hinzu: „Glaube etwa nicht, daß seine Frau die Veranlassung davon bildet.” Dauerhafter erwies sich die Freundschaft Lassalles mit Lothar Bucher, der nach Erlaß der Amnestie nach Deutschland zurückgekehrt war und sich in Berlin niedergelassen hatte. Bucher war freilich kein Hecht, sondern gehörte einer zahmeren zoologischen Gruppe an. Verschiedene Briefe von und an Lassalle aus jener Zeit bestätigen, daß dieser aus Italien mit ziemlich abenteuerlichen Plänen heimgekehrt war, die an seinen Garibaldi vorgeschlagenen Revolutionsplan anknüpften. Einer der interessantesten davon ist der Brief Lothar Buchers vom 19. Januar 1862. Bucher, dem es damals herzlich schlecht ging und den Lassalle, wie er unterm 9. Februar 1862 an W. Rüstow schrieb, „in langen, mit rasender geistiger Anstrengung verbundenen Unterredungen” für seine Ideen zu gewinnen versucht hatte, nimmt in jenem Brief auf eine am Abend vorher geführte Debatte mit Lassalle Bezug und führt aus, daß er es zwar für möglich halte, die bestehende Ordnung -- „oder Unordnung” -- der Dinge in Deutschland niederzuwerfen, aber noch nicht, sie niederzuhalten; mit andern Worten, daß die Zeit für eine sozialistische Revolution noch nicht reif sei.
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„Bedenken Sie dazu noch eins: daß jede sozialistische Bewegung in Frankreich auf lange Zeit hinaus mit dem Kot und Gift des Bonapartismus versetzt sein und bei uns eine Menge gesunder und reiner Elemente gegen eine ähnliche Bewegung wachrufen würde.” Auf die Frage, was denn also geschehen solle, habe er nur „die lahme Antwort Machiavellis”: Politik ist die Wahl unter Übeln. „Ein Sieg des Militärs” -- d. h. der preußischen Regierung!! -- wäre „ein Übel”, aber „ein Sieg des heutigen Österreich wäre kein Sieg des reaktionären Prinzips”. Dafür stelle er Lassalle als Zeugen die „Berliner Revue” usw. usw. Diese als Einwand gegen Lassalle vorgebrachten Darlegungen lassen nur den Schluß zu, daß Lassalle eine Revolution erzwingen zu können glaubte und im Hinblick hierauf Österreich für den Vorstoß ausersehen hatte. Damit war der obenerwähnte Versuch, Garibaldi zu einem Freischarenzug nach Wien zu gewinnen, hinlänglich erklärt. Fraglich ist nur, wie Lassalle, der für gewöhnlich in politischen Dingen ein sehr nüchterner Rechner war, zu einem so abenteuerlichen Plan kommen konnte. Ob er von französischen, ungarischen oder italienischen Revolutionären angeregt worden war, die Lassalle auf seiner Reise nach und durch Italien kennengelernt, muß dahingestellt bleiben. Da Wilhelm Rüstow um ihn wußte und, wie Lassalle Marx erzählte, ihn gebilligt habe, mag er auch auf Anregungen dieses etwas phantasiereichen Militärs zurückzuführen sein. Es ist schwer zu glauben, daß er Lassalles eignem Kopf entsprungen war, so sehr er mit gewissen Ideen Lassalles übereinstimmte. Jedenfalls überzeugte sich Lassalle daheim, daß zu einer Revolution in Deutschland vor allem noch die deutschen Revolutionäre fehlten. Indes war die Situation doch zu bewegt, um die zu einer Rückkehr zum Studiertisch nötige Ruhe in ihm aufkommen zu lassen. Statt alsbald an die große national-ökonomische Arbeit zu gehen, die er sich vorgenommen, verschob er sie immer wieder, um sich den Fragen des Tages zu widmen, was bei dem täglich lebhafter pulsierenden öffentlichen Leben übrigens nur durchaus erklärlich war. Die erste Leistung, mit der er zunächst an die Öffentlichkeit trat, war das gemeinsam mit Bucher verfaßte Pamphlet „Julian Schmidt, der Literarhistoriker”. Obwohl die Schrift formell Kritik einer von Schmidt zusammengeschriebenen „Geschichte der deutschen Literatur” ist, zeigt das Vorwort, daß mit ihr die liberale Presse überhaupt getroffen werden sollte. Und auch die liberale Partei. Da Schmidt deren Programm mitunterschrieben hatte und eifrig verfocht, sollte „Julian der Grabowite” füglich der Ausdruck werden können, „welcher den geistigen Höhepunkt dieser Partei kennzeichnet”.
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Eine etwas übertriebene Logik, wie es überhaupt in der Schrift an Übertreibungen nicht fehlt. Auch war der Zeitpunkt für sie nicht sehr günstig gewählt, da gerade in jenen Tagen die Regierung das Abgeordnetenhaus aufgelöst und Wilhelm I. ein Reskript gegen die fortschrittlich-liberale Presse erlassen hatte. War nun auch die Fraktion Grabow -- die altliberale Partei -- nicht mit der Fortschrittspartei identisch, sondern noch ein gutes Teil mehr als diese zu Kompromissen geneigt, so machte sie doch in der Verfassungsfrage gemeinsame Sache mit ihr, so daß der Hieb sie in einem Augenblick traf, wo sie zufällig sich besser zeigte, als sonst. Im ganzen aber war die Julian Schmidt applizierte Lektion eine wohlverdiente, die scharfe Geißelung der bei ihm oft in „gespreizter Bildungssprache” sich wichtig machenden Oberflächlichkeit durchaus berechtigt. Lassalle-Bucher verteidigen mit Witz und Schärfe die größten Denker und Dichter Deutschlands gegen die oft fälschende und tendenziös-gehässige Schmidtsche Überkritik. Wo „der Setzer” das Wort nimmt, ist es immer Lassalle, der spricht, während Lothar Bucher als „das Setzerweib” vorgeführt wird. Eine Einladung, die er im Frühjahr 1862 erhielt, in einem Berliner liberalen Bezirksverein einen Vortrag zu halten, gab Lassalle erwünschte Gelegenheit -- da es ihm in der Presse nicht möglich war --, den Führern der Fortschrittspartei vor ihren eignen Leuten mündlich gegenüberzutreten. Als Thema wählte er die Frage des Tages: den ausgebrochenen Verfassungskonflikt. Aber mit geschickter Berechnung hielt er sich in dem ersten Vortrag, den er „Über Verfassungswesen” betitelte, noch absolut auf dem Boden akademischer Darlegung. Er entwickelt seinen prinzipiellen Standpunkt, ohne die sich aus ihm ergebenden Folgerungen selbst darzulegen. Verfassungsfragen sind Machtfragen, eine Verfassung hat nur dann und so lange gesicherten Bestand, als sie der Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist; ein Volk besitzt nur dann in der Verfassung einen Schutz gegen Willkür der Regierenden, wenn es in der Lage und gewillt ist, im gegebenen Fall auch ohne die Verfassung sich gegen sie zu schützen. Es sei daher der größte Fehler gewesen, daß man 1848, anstatt zuerst die realen Machtfaktoren zu ändern und vor allen Dingen das Heer aus einem königlichen in ein Volksheer zu verwandeln, die Zeit mit dem Ausarbeiten einer Verfassung so lange vertrödelte, bis die Gegenrevolution Kraft genug geschöpft hatte, die Nationalversammlung auseinanderzujagen. Wenn das Volk wieder einmal in die Lage komme, eine Verfassung zu machen, möge man diese Erfahrung daher beherzigen. Die von der Regierung eingebrachten Heeresvorlagen seien ebenfalls aus diesem Gesichtspunkt zu beurteilen -- d. h.
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als dem Bestreben entsprungen, die tatsächlichen Verhältnisse weiter zugunsten der Regierung umzugestalten. „Das Fürstentum, meine Herren,” heißt es am Schluß, „hat praktische Diener, nicht Schönredner, aber praktische Diener, wie sie Ihnen zu wünschen wären.” Der Grundgedanke, von dem Lassalle hier ausgeht, ist unbestreitbar richtig. Auch die meisten Fortschrittler sahen das wohl ein. Wenn sie trotzdem einen andern Standpunkt fingierten, so taten sie dies, weil die Übersetzung des ersteren in die Praxis einfach die Revolution hieß, die Partei aber -- ein Teil der Führer überhaupt nur, der andere jedenfalls zunächst -- den Kampf auf parlamentarischem Boden zu führen wünschte. Man brauchte aber auch keineswegs ein so geschworener Gegner der Revolution zu sein, als wie Lassalle die Fortschrittler -- und im großen und ganzen auch durchaus mit Recht -- damals hinstellte, um den Zeitpunkt für eine solche als noch nicht gekommen zu erachten. Auch Lassalles Freund Bucher war ja, wie wir gesehen haben, trotz der vielen Gründe, die er hatte, die bestehende Ordnung der Dinge zu hassen, dieser Ansicht. Für den parlamentarischen Kampf bot jedoch die Fiktion, daß man für die bestehende Verfassung gegen die Regierung, die diese verletzte, für das „Recht” gegen die Macht kämpfte, eine viel günstigere, oder sagen wir lieber, bequemere Position, als die offene Proklamierung des Kampfes um die Macht selbst. Die materiellen Machtmittel hatte die Regierung in der Hand, darum wollte man sich wenigstens alle moralischen sichern. Obwohl Lassalle in seinem Vortrage nichts gesagt hatte, was nicht jeder Fortschrittler -- ja, jeder vernünftige Mensch überhaupt unterschreiben konnte, war er daher doch den Führern der Fortschrittspartei höchst unangenehm, während die Regierungs- und Reaktionspartei sich die Hände rieb. Ganz offen bejubelte ihn die „Kreuz-Zeitung”, das Organ der Junker und Mucker. Nicht nur, daß es ihr überhaupt angenehm war, wenn der Konflikt ins Herz des Feindes getragen wurde, lag ihr auch deshalb daran, die Verfassungsfrage als eine reine Machtfrage zwischen Königtum und Volksvertretung dargestellt zu sehen, weil dadurch ihre Position als einzig zuverlässige Stütze des Thrones eine um so befestigtere wurde. Man muß nicht vergessen, daß die „Neue Ära” Wilhelms I. nebenbei ein Versuch gewesen war, den Thron der Hohenzollern von der allzu lästig gewordenen Vormundschaft der ostelbischen Junker und der Bureaukratie zu emanzipieren. Gegenüber dem Programm, wie es Lassalle formulierte, mußte diese dagegen dem König als das unbedingt kleinere Übel erscheinen.
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Lassalle ließ den Vortrag, den er noch in drei weiteren fortschrittlichen Versammlungen gehalten hat -- ein Beweis, daß die fortschrittliche Wählerschaft nichts Bedenkliches an ihm fand -- „auf mehrfaches Andringen” in Druck erscheinen. Inzwischen hatten die Neuwahlen zum Landtage einen eklatanten Sieg der Fortschrittspartei über die Regierung gebracht, und alles harrte gespannten Blicks, wie sich unter diesen Verhältnissen der Konflikt zwischen den beiden weiter entwickeln werde. Ebenfalls im Frühjahr 1862 hielt Lassalle in Berlin -- im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, dem Maschinenbauerviertel Berlins -- noch einen zweiten Vortrag, dem er den Titel gab: „Über den besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit der gegenwärtigen Geschichtsperiode”. Auch diesen Vortrag hatte er vorher sorgfältig ausgearbeitet. Und er ist, wenngleich in Einzelheiten nicht einwandfrei -- schon der Titel fordert zur Kritik heraus -- unzweifelhaft eine der besten, wenn nicht die beste der Lassalleschen Reden. Eine ebenso klare wie schöne Sprache, gedrungene, flüssige, nirgends überladene und doch nie trockene Darstellung, von Satz zu Satz fortschreitende systematische Entwicklung des Grundgedankens, sind ihre formellen Vorzüge, während sie ihrem Inhalte nach -- wie gesagt, mit einigen Einschränkungen -- eine vortreffliche Einleitung in die Gedankenwelt des Sozialismus genannt werden kann. Es nimmt ihrem Werte nichts, wenn ich sie als eine, der Zeit und den Umständen, unter denen sie gehalten wurde, angepaßte Umschreibung des „Kommunistischen Manifestes” bezeichne; sie führt in der Hauptsache an der Hand konkreter Beispiele aus, was im historischen Teil des Manifestes in großen Zügen bereits vorgezeichnet ist. Noch immer spielen freilich die Hegelsche Ideologie und die juristische Auffassungsweise in die Darstellung hinein, aber neben ihnen tritt doch auch, wie das übrigens im Vortrag über Verfassungswesen gleichfalls geschieht, die Betonung der ökonomischen Grundlagen der Bewegung der Geschichte in den Vordergrund. Daß die Arbeiter vermöge ihrer Klassenlage in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die eigentliche revolutionäre Klasse bilden, diejenige Klasse, die berufen ist, die Gesellschaft auf eine neue Grundlage zu stellen -- die Grundidee des kommunistischen Manifestes -- ist auch der leitende Gedanke des „Arbeiterprogramms”, unter welchem Namen der Vortrag später in Druck erschienen ist. Nur daß sich für Lassalle die Sache sofort wieder in juristische Begriffe kristallisiert und mit ideologischen Vorstellungen verquickt wird. Wenn Lassalle im Titel und durchgängig im Vortrage selbst vom Arbeiterstand spricht, so könnte man darin eine bloße Konzession an den Sprachgebrauch erblicken, an der nur Pedanterie Anstoß nehmen möchte.
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Indes es muß Lassalle zu seinem Lobe nachgesagt werden, daß er in der Wahl seiner Ausdrücke durchaus nicht leichtfertig zu Werke ging; es ist kein bloßes Zugreifen nach einer populären Redewendung, die ihn vom „Arbeiterstand”, von einem „vierten Stand” sprechen läßt, sondern eine Folge seiner wesentlich juristischen Vorstellungen. Es ist derselbe Rückfall, der ihn den Begriff des Bourgeois nicht etwa von der tatsächlichen Machtstellung herleiten läßt, die der Kapitalbesitz rein vermöge seiner ökonomischen Wirkungen und Kräfte verleiht, sondern -- von den rechtlichen und staatlichen Privilegien, die der Kapitalist auf Grund seines Besitzes genießt oder beansprucht. Statt den fundamentalen Unterschied zwischen dem modernen Bourgeois und dem mittelalterlichen Feudalherrn scharf zu kennzeichnen, verwischt er ihn auf solche Weise und läßt den Kapitalbesitzer nur dann einen Bourgeois sein, wenn er staatlich und rechtlich die Stellung eines Feudalen beansprucht. (Vgl. S. 20-22 des „Arbeiterprogramm”.) Und, wie immer, konsequent selbst in seinem Irrtum, stellt er als bezeichnendes Merkmal -- d. h. nicht als ein, sondern als _das_ Merkmal der Bourgeoisie-Gesellschaft -- das Klassen- oder Zensuswahlsystem hin. Das preußische Dreiklassenwahlsystem, eingeführt von der feudalistisch-absolutistischen Reaktion gegen die bürgerliche Revolution des Jahres 1848, erscheint bei ihm als das Wahlsystem des modernen Bourgeoisiestaates. Das hat allenfalls einen Sinn, wenn man den Begriff Bourgeois auf die wenigen neufeudalen Großkapitalisten beschränkt, aber was wird dann aus dem „vierten Stand”? Als weiteres Kennzeichen des so bestimmten Bourgeoisiestaates bezeichnet Lassalle die Ausbildung des Systems der indirekten Steuern als Mittel der Abwälzung der Steuerlast auf die nicht privilegierten Klassen. Daß jeder privilegierten Klasse die Tendenz innewohnt, sich von den Steuern möglichst zu befreien, kann unbestritten bleiben. Aber wenn Lassalle den Begriff des Klassenstaates vom Bestand von Wahlvorrechten abhängig macht, dann wird seine Theorie schon durch die einfache Tatsache umgestoßen, daß gerade in dem Lande, wo das allgemeine und direkte Wahlrecht am längsten besteht, in Frankreich, das indirekte Steuersystem am stärksten ausgebildet ist. Lassalles Deduktion, daß von den 97 Millionen Talern, die der preußische Staat im Jahre 1855 aus Steuern einnahm, nur etwa 13 Millionen aus direkten Steuern herstammen, ist übrigens gleichfalls anfechtbar. Er erklärt die 10 Millionen Taler Grundsteuer einfach für eine indirekte Steuer, da sie nicht von den Grundbesitzern bezahlt, sondern von diesen auf den Getreidepreis abgewälzt werde. Das Abwälzen war aber keineswegs eine so leichte Sache, solange die Landesgrenzen nicht durch Einfuhrzölle gegen die Zufuhr von außen abgesperrt waren.
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Die Grundsteuer hat vielmehr lange Zeit als eine reine Reallast auf den Grundbesitz gewirkt und ist auch als solche von den Grundbesitzern empfunden und bei Veräußerungen behandelt worden. 9 Millionen Taler Einnahme aus dem Justizdienst mögen als eine indirekte Steuer bezeichnet werden, da aber die ärmste Klasse keineswegs die meisten Prozesse führt, so kann man hier nicht von einer Steuer zur Entlastung des großen Kapitals sprechen, wie immer man sonst über die Justizgebühren denkt. Kurz, die relative Steuerfreiheit des großen Kapitals ist kein notwendiges Kriterium der Bourgeoisiegesellschaft. Diese unterscheidet sich eben von der feudalen Gesellschaft dadurch, daß sie nicht an gesetzliche Statuierung der Klassenunterschiede gebunden ist, vielmehr auch bei formeller Gleichberechtigung aller fortbesteht. Anfechtbar war es auch, wenn Lassalle die Auferlegung von Zeitungskautionen und der Zeitungsstempelsteuer als einen Beleg dafür anführt, daß „die Bourgeoisie die Herrschaft ihres besonderen Privilegiums und Elementes -- des Kapitals -- mit noch strengerer Konsequenz durchführe, als dies der Adel im Mittelalter mit dem Grundbesitz getan hatte”. Zeitungskautionen und Zeitungsstempel waren in Preußen keineswegs Regierungsmittel der Bourgeoisie, sondern der halb-feudalen und bureaukratischen Reaktion. Lassalle brauchte bloß den Blick nach England zu wenden, wo die Bourgeoisie zur weitesten Entfaltung gediehen war, um sich zu überzeugen, wie auch ohne die kleinen Mittel eines rückständigen Regierungssystems die Presse, und obendrein in noch viel höherem Maße als in Preußen, „Privilegium des großen Kapitalbesitzes” werden kann. So richtig es natürlich war, gegen diese Mittel der politischen Repression die Stimme zu erheben, so ist es wiederum ein Beweis von Lassalles juristischer Denkweise, daß, wo er die Wirkung der Herrschaft der Bourgeoisie auf das Preßwesen darstellen will, er hier ausschließlich formal-rechtliche Einrichtungen anführt, den Einfluß der ökonomischen Faktoren dagegen gänzlich ignoriert. Und schließlich führt ihn seine Ideologie dahin, dem Staat, der „Staatsidee”, einen Dithyrambus anzustimmen. Der „vierte Stand” hat „eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie”. Als Staatsidee der Bourgeoisie stellt Lassalle die Auffassung der liberalen Freihandelsschule hin, nach welcher die Aufgabe des Staates einzig darin bestehe, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein Eigentum zu schützen. Das sei aber eine „Nachtwächteridee”. Die Geschichte sei „ein Kampf mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht am Anfang der Geschichte auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit -- das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt”.
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Diese Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen, das sei die wahrhafte Aufgabe des Staates. Der Staat sei „die Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen”, sein Zweck sei, „durch diese Vereinigung die einzelnen in den Stand zu setzen, solche Zwecke, eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie als einzelne niemals erreichen könnten, sie zu befähigen, eine Summe von Bildung, Macht und Freiheit zu erlangen, die ihnen sämtlich als einzelnen schlechthin unersteiglich wäre”. Und weiter sei sein Zweck, „das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung -- d. i. die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist -- zum wirklichen Dasein zu gestalten”. Er sei „die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit”. So sehr sei dies „die wahre und höhere Aufgabe” des Staates, daß „sie deshalb seit allen Zeiten durch den Zwang der Dinge selbst von dem Staate, auch ohne seinen Willen, auch unbewußt, auch gegen den Willen seiner Leiter, mehr oder weniger ausgeführt wurde”. Und der Arbeiterstand, die unteren Klassen der Gesellschaft überhaupt haben schon durch die hilflose Lage, in der sich ihre Mitglieder als einzelne befänden, den „tiefen Instinkt, daß eben dies die Bestimmung des Staates sei und sein müsse”. Ein unter die Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes gesetzter Staat aber würde sich diese „sittliche Natur” des Staates „mit höchster Klarheit und völligem Bewußtsein” zu seiner Aufgabe machen und „einen Aufschwung des Geistes, die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit herbeiführen, wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte”. So schön das Ganze entwickelt ist, so leidet diese Darstellung doch an einem großen Fehler: Trotz aller Betonung der geschichtlichen Veränderungen in Staat und Gesellschaft erscheint der Staat hier seinem Begriff und Wesen nach als ein für alle Zeit gleicherweise Gegebenes, als habe er von Anfang an einen bestimmten, einen seiner „Idee” zugrunde liegenden Zweck gehabt, der zeitweise verkannt, mangelhaft erkannt oder ignoriert worden sei und dem daher zur vollen Anerkennung verholfen werden müsse. Der Staatsbegriff ist sozusagen ein ewiger.
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In diesem Sinne zitiert Lassalle eine Stelle aus einer Festrede von Boeckh, wo der berühmte Altertumskenner „gegen die Staatsidee des Liberalismus” an die „antike Bildung” appelliert, welche „nun einmal die unverlierbare Grundlage des deutschen Geistes geworden” sei und von der aus sich die Ansicht erzeuge, der Begriff des Staates sei dahin zu erweitern, daß „der Staat die Einrichtung sei, in welcher die ganze Tugend der Menschheit sich verwirklichen solle”. So begreiflich und innerhalb gewisser Grenzen auch durchaus berechtigt der Protest gegen die sich damals breitmachende Theorie des absoluten sozialpolitischen Gehen- und Geschehenlassens war, so weit schießt Lassalle hier selbst über das Ziel. Der Staat der Alten beruhte auf Gesellschaftszuständen, so grundverschieden von denen der Gegenwart, daß die Ideen der Alten aber den Staat ebensowenig für die Gegenwart maßgebend sein können, wie etwa die Ideen der Alten über die Arbeit, das Geld, die Familie. Gleich diesen ist die antike Staatsidee nur Material der vergleichenden Forschung, aber keineswegs eine auf die Neuzeit übertragbare Theorie. Wenn nach Boeckh die Staatsidee des Liberalismus die Gefahr einer „modernen Barbarei” in sich trug, so die Aufpfropfung der antiken Staatsidee auf die heutige Gesellschaft die Gefahr einer modernen Staatssklaverei. Ferner stimmt es auch durchaus nicht, was Lassalle von den Wirkungen des Staates sagt. Diese sind vielmehr zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene gewesen. Großartige Kulturfortschritte sind vollzogen worden, ehe ein Staat bestand, und wichtige Kulturaufgaben erfüllt worden, ohne den jeweiligen Staat oder auch in Gegensatz zu ihm; der Staat hat unzweifelhaft im wesentlichen den Fortschritt der Menschheit gefördert, aber doch auch oft sich ihm als ein Hemmschuh erwiesen. Natürlich dachte Lassalle nicht so unhistorisch, den Staatsbegriff der Alten unverändert wieder herstellen zu wollen -- auch Boeckh lag ein solcher Gedanke fern --, aber mit dem schlechtweg abgeleiteten Staatsbegriff wurde die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Der Kultus des Staates schlechthin heißt der Kultus jedes Staates, und wenn auch bei Lassalles demokratisch-sozialistischer Gesinnung ein direktes Eintreten für den bestehenden Staat ausgeschlossen war, so verhinderte diese doch nicht, daß jener Kultus später von den Anwälten des bestehenden Staates weidlich zu dessen Gunsten ausgebeutet wurde. Das ist überhaupt die Achillesferse aller auf abgeleitete Begriffe aufgebauten Theorie, daß sie, so revolutionär sie auch gedacht ist, tatsächlich immer in Gefahr ist, in eine Verklärung bestehender oder vergangener Zustände umzuschlagen.
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Lassalles Staatsidee war die Brücke, die den Republikaner Lassalle eines Tages mit den Streitern für das absolute Königtum und den Revolutionär Lassalle mit den eingefleischten Reaktionären zusammenführte. Der philosophische Absolutismus hatte zu allen Zeiten eine Ader, die ihn dem politischen Absolutismus nahe brachte. So enthält dieser Vortrag, trotz seiner sonst vortrefflichen Eigenschaften, im Keim bereits alle Fehler, welche in der späteren Lassalleschen Bewegung zutage getreten sind. Zum Schluß ermahnt Lassalle die Arbeiter, sich ganz von dem Gedanken an die hohe geschichtliche Mission ihrer Klasse durchdringen zu lassen, aus ihm die Pflicht zu einer ganz neuen Haltung herzuleiten. „Es ziemen Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchen die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll!” Lassalle ließ, wie gesagt, auch diesen Vortrag drucken. Aber so vorsichtig er auch gehalten ist, so sehr Lassalle jede unmittelbare politische Schlußfolgerung vermeidet, so witterte die Berliner Polizei, zumal ihr Lassalles politische Bestrebungen sehr gut bekannt waren, doch sofort, worauf der Vortrag hinauslief. Sie ließ die ganze, bei einem Berliner Drucker hergestellte Auflage von 3000 Exemplaren beschlagnahmen und gegen Lassalle Strafuntersuchung einleiten. Ende Juni war die Broschüre im Druck vollendet und konfisziert worden. Am 4. November 1862 reichte der Staatsanwalt von Schelling -- ein Sohn des Philosophen Schelling -- beim Berliner Stadtgericht das Gesuch ein um Einleitung der Strafuntersuchung gegen Lassalle wegen „Aufreizung der besitzlosen Klassen zu Haß und Verachtung gegen die Besitzenden”. Am 17. November beschloß das Stadtgericht, dem Gesuch Folge zu geben, und am 16. Januar 1863 kam der Prozeß in erster Instanz zur Verhandlung. Trotz einer wahrhaft brillanten Verteidigung, in der sich Lassalle dem Staatsanwalt und dem Gerichtspräsidenten gleich überlegen zeigte, und namentlich den ersteren Spießruten laufen ließ, wurde Lassalle doch zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er appellierte und hatte wenigstens den Erfolg, daß das Kammergericht die Gefängnisstrafe in eine verhältnismäßig unerhebliche Geldstrafe umwandelte. Die Beschlagnahme der Broschüre blieb allerdings aufrechterhalten, indes ließ Lassalle den Vortrag nun bei Meyer & Zeller in Zürich in Neuauflage erscheinen.
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Ebenfalls bei Meyer & Zeller erschienen die drei Broschüren über den Prozeß in der ersten Instanz -- von denen die erste die Verteidigungsrede Lassalles (unter dem Sondertitel: „Die Wissenschaft und die Arbeiter”), die zweite den stenographischen Bericht über die mündlichen Verhandlungen, und die dritte eine etwas breite Kritik des erstinstanzlichen Urteils enthält -- und schließlich auch unter dem Titel: „Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen”, die eine ganze Geschichte und Kritik der indirekten Steuer darbietende Verteidigungsrede in der zweiten Instanz. War die erste Verteidigungsrede eine außerordentlich geschickte und wirkungsvolle Beweisführung dafür, daß der Satz in der preußischen Verfassung „die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei” sinnlos wäre, wenn er nicht das Recht in sich begriffe, die Lehren der Wissenschaft und ihre Theorien den breiten Volkskreisen vorzutragen, und daß gerade die Arbeiterklasse infolge ihrer gesellschaftlichen Lage die natürliche Verbündete der für ihre Freiheit kämpfenden Wissenschaft sei, so ist die Rede über die indirekte Steuer eine ganze ökonomische Abhandlung mit sehr vielem geschichtlichen und statistischen Material, die man noch heute mit Frucht lesen wird, eine der wuchtigsten Anklageschriften gegen das System der indirekten Steuern, die je geschrieben wurden. Politisch kommt in dieser zweiten Rede schon der Kampf Lassalles mit dem bürgerlichen Liberalismus zu schärfstem Ausdruck, während in der ersten Rede noch die Gemeinsamkeit des Kampfes beider wider die Reaktionsmächte betont wurde. Eine eingehendere Würdigung dieser Reden findet man in den Vorworten des Schreibers zu ihnen. Hier müssen wir vorerst wieder auf die Zeit zurückgehen, in welcher der Vortrag selbst gehalten worden war, das Frühjahr 1862. Es ist begreiflich, daß der Vortrag als solcher zunächst kein besonderes Aufsehen machte. So sehr er sich dem inneren Gehalt nach von der Kost unterschied, die den Berliner Arbeitern damals von den Fortschrittsrednern vorgesetzt wurde, der äußeren, politischen Tendenz nach wich er wenig von ihr ab. An radikalen Wendungen, Anspielungen auf eine Neuauflage der 1848er Revolution, Angriffen auf die indirekte Steuer usw. ließen es auch die fortschrittlich-demokratischen Dutzendredner nicht fehlen. Ja, da sie ihre Reden mit Ausfällen gegen die Regierung spickten, hörten sich diese gewöhnlich viel radikaler an als der fast ganz akademisch gehaltene Vortrag Lassalles. Wenn der Philister oppositionell ist, nimmt er es in der Großspurigkeit der Redensarten mit jedem auf. Auf die Mehrheit seiner Hörer, ob Arbeiter oder Bürger, machte der Vortrag noch nicht den Eindruck von außergewöhnlichem Radikalismus.
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So wurde denn auch Lassalle, der Mitglied der „Philosophischen Gesellschaft” in Berlin war, noch in demselben Frühjahr von dieser dazu ausersehen, bei der auf den 19. Mai veranstalteten Gedenkfeier zum hundertjährigen Geburtstage des Philosophen Fichte die Festrede zu halten. Weder an seinem sozialen noch an seinem politischen Radikalismus, der natürlich in diesen Kreisen wohl bekannt war, nahmen die leitenden Persönlichkeiten damals Anstoß. Da das Bürgertum in seiner großen Mehrheit oppositionell war, durften auch seine Gelehrten noch Ideologie treiben. Sechs Monate zuvor hatte Lassalle in den „Demokratischen Studien” Fichte als Apostel der deutschen Republik gefeiert; wenn man ihm jetzt den Auftrag erteilte, dem Andenken Fichtes eine Festrede zu halten, so war das im Grunde nichts als eine Anerkennung jenes Aufsatzes. Und Lassalle ließ sich denn auch die Gelegenheit nicht entgehen, das dort Gesagte in anderer Umkleidung zu wiederholen. Die Rede trägt den Titel: „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes.” Sie ist glänzend, soweit sie Fichtes Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie zur Anschauung bringt. Weiterhin aber verfällt Lassalle wieder in eine ganz althegelsche Ideologie. Der deutsche Volksgeist ist die metaphysische Volksidee, und seine Bedeutung besteht darin, daß die Deutschen die hohe weltgeschichtliche Aufgabe haben, aus dem „reinen Geist” heraus diesem „nicht bloß eine reale Wirklichkeit”, sondern sogar „die bloße Stätte seines Daseins, sein Territorium”, erst zu schaffen. „Indem hier das Sein aus dem reinen Geist selbst erzeugt wird, mit nichts Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen, kann es nur sein, des reinen Gedankens, Ebenbild sein, und trägt hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und vollendetsten Geistigkeit der Freiheit, die ihm Fichte weissagt.” Und was Fichte philosophisch in der Einsamkeit seines Denkens aufgestellt habe, das sei, einen anderen Ausspruch dieses Philosophen bewahrheitend, bereits „zur Religion geworden” und durchbebe „unter dem populären und dogmatischen Namen der deutschen Einheit jedes edlere deutsche Herz”. Das Streben nach der deutschen Einheit als die Frucht des „reinen, mit nichts Geschichtlichem verwachsenen” Geistes hinstellen -- das ging noch über die Ideologie des Liberalismus hinaus. Deshalb scheint auch der mit großer Konsequenz und Einheitlichkeit des Gedankens durchgeführte Vortrag seine Wirkung auf das Festpublikum total verfehlt zu haben. Wie einige Blätter schadenfroh berichteten, verließen die Hörer zum großen Verdruß Lassalles allmählich das Zimmer der Festrede, „um sich nach dem Zimmer des leckeren Mahles zu verfügen”.
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Sie vergaßen aber hinzuzusetzen, daß die Hörerschaft sich nicht nur aus Mitgliedern der philosophischen Gesellschaft, sondern in der Mehrheit aus deren Gästen zusammensetzte -- meist also Leute, die solche Festversammlungen lediglich des guten Tons halber besuchen. Lassalle ließ auch diese Rede im Separatdruck erscheinen und sandte sie, zusammen mit dem „Julian Schmidt”, und dem Vortrag „über Verfassungswesen” durch Lothar Bucher an Marx. Er habe „etwas politisch-praktische Agitation beginnen” wollen, schreibt er unter dem 9. Juni an letzteren. „So habe ich den Verfassungsvortrag in vier Vereinen gehalten. Außerdem einen weit längeren Vortrag über den Arbeiterstand geschrieben und in einem Arbeiterverein gehalten.” Es ist dies das „Arbeiterprogramm”. „Ich habe mich jetzt auch entschlossen,” setzt er hinzu, „ihn drucken zu lassen; er ist bereits unter der Presse. Sowie er fertig ist, sende ich ihn Dir.” Im weiteren Verlauf seines Briefes kommt er wieder darauf zurück, daß durch die intensivere Beschäftigung mit anderen Dingen in den letzten drei Jahren die nationalökonomische Materie in seinem Kopf „gleichsam fossil” geworden sei. Erst wenn „alles wieder flüssig geworden”, werde er an die zweite Lektüre des Marxschen Buches „Zur Kritik der politischen Ökonomie” gehen, und dann ziemlich gleichzeitig an dessen Besprechung und die Ausführung seines eigenen ökonomischen Werkes -- „welch letztere freilich sehr lange dauern wird”. Dieses Programm werde ohnehin durch eine zweimonatige Reise unterbrochen, denn im Sommer halte er es in Berlin nicht aus. Im Juli werde er nach der Schweiz reisen oder erst nach London kommen und dann in die Schweiz gehen. Er entschied sich für das letztere. Vorher aber schrieb er noch einmal an Marx, und zwar: „Lieber Marx! Der Überbringer ist der Hauptmann Schweigert, der mit Auszeichnung unter Garibaldi und speziell unter meinem Freund Rüstow gedient hat. Er ist der ehrlichste und zuverlässigste Kerl von der Welt. C'est un homme d'action. Er steht an der Spitze der Wehrvereine, die er von Coburg aus organisiert und geht jetzt nach London, um dort Geldmittel für 3000 Gewehre aufzutreiben, die er für die Wehrvereine braucht. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, wie wünschenswert dies wäre. Habe also die Güte, ihn mit allen Leuten in Rapport zu setzen, von denen er Geld für diesen Zweck erhalten kann oder sonstigen zu diesem Ziel führenden Vorschub zu tun. Tue Dein Möglichstes. „Die Wahrscheinlichkeit, daß ich nach London komme, nimmt zu. Berlin, 19. 6. 62. Dein F.
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Lassalle.” Die von Coburg aus organisierten „Wehrvereine” standen im Lager des „Nationalvereins”, der seinen Sitz in jener Stadt hatte. Rüstow wollte sie offenbar für Aktionen verwendbar machen, die zeitgemäß werden konnten, wenn Garibaldi sich von neuem erhob. Die Betonung des „homme d'action”, und das große Interesse an der Beschaffung der 3000 Gewehre sind eine weitere Bestätigung für das weiter oben von den Revolutionsplänen Lassalles Gesagte. Mit zwei kurzen Briefen aus London selbst, die sich auf Besuche und einen zu unternehmenden gemeinsamen Ausflug beziehen, schließen die mir vorliegenden Briefe Lassalles an Marx ab. Es wäre aber falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß es bei dem Besuch zu einem Bruch zwischen den beiden gekommen wäre. Ein solcher hat nie stattgefunden. Wohl aber wissen wir von Marx, daß in den mündlichen Auseinandersetzungen zwischen ihm und Lassalle er dem letzteren die grundsätzliche Verschiedenheit der beiderseitigen Standpunkte rückhaltlos dargelegt, sich rundweg gegen dessen Pläne erklärt habe. Bald nachdem Lassalle im Herbst 1862 nach Berlin zurückgekehrt war, schlief die Korrespondenz gänzlich ein. Um so enger schloß sich Lassalle an Bucher an, der ihn später auch mit Rodbertus in Verbindung brachte. Im Spätsommer 1862 schien es einen Augenblick, als wolle die preußische Regierung der Volksvertretung gegenüber eine nachgiebigere Haltung einschlagen. Wieder wurde hin- und herverhandelt, bis plötzlich der König in schroffer Weise der Kammer erklären ließ, daß er sich auf keine Konzessionen in bezug auf die Verkürzung der Militärdienstpflicht einlasse und auch keine Neigung verspüre, um Indemnität für die verfassungswidrige Durchführung der Armeeorganisation einzukommen. Die Kammer antwortete damit, daß sie die Forderung der Regierung, die Kosten der Heeresorganisation in den Etat der ordentlichen Ausgaben aufzunehmen, mit 308 gegen 11 Stimmen verwarf. Um den Widerstand der Mehrheit zu brechen, berief der König an Stelle des Herrn v. d. Heydt den gerade in Berlin befindlichen Gesandten Preußens am französischen Hofe, Otto v. Bismarck, ins Ministerium. Die vorhergegangene schroffe Betonung der königlichen Vorrechte war bereits im Einverständnis mit Bismarck erfolgt. Bismarck, der 1847 im „Vereinigten Landtag” und 1849 in der Preußischen Nationalversammlung als feudal-junkerlicher Heißsporn aufgetreten war, hatte sich inzwischen zum „modernen Staatsmann” entwickelt.
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Er hatte die junkerlichen Ideologien über Bord geworfen, um desto wirksamer die Interessen des „befestigten Grundbesitzes” wahrzunehmen, er hatte den vormärzlichen Absolutismus aufgegeben, um dem Königtum dadurch eine um so privilegiertere Stellung zu sichern, daß die Volksvertretung die Verantwortung, aber auch nichts als die Verantwortung für die Bedürfnisse und die Politik der Monarchie übernehmen sollte. Kurz, er hatte die Maximen des als Bonapartismus bekannten Regierungssystems übernommen, das, wenn es von Demokratie spricht, Regierungsgewalt meint, und von Fürsorge für das Wohl der Armen deklamiert, wenn es einen Steuerfeldzug auf die Taschen der Arbeiter im Schilde führt. Von der zarischen Diplomatie hatte er gelernt, wie man absolutistisch regieren und unter der Hand mit Revolutionären Geschäfte machen kann, von der bonapartistischen, wie man stets in dem Augenblick den Gegner einer verpönten Handlung beschuldigen muß, wo man selbst eben diese Handlung zu begehen im Begriff ist. Als Spezialität übte er außerdem die Gepflogenheit aller geriebenen Diplomaten, zeitweilig eine verblüffende Aufrichtigkeit an den Tag zu legen, um bei der nächsten Gelegenheit mit desto mehr Erfolg die Sprache gebrauchen zu können, um die Wahrheit nicht zu sagen. Mit dieser „Aufrichtigkeit” trat Bismarck auch vor die Kammer, trotzdem wurde ihm jedoch sein deutsches Programm nicht geglaubt. Seine Erklärung in der Budgetkommission, die deutsche Frage werde nur durch „Blut und Eisen” gelöst werden, reizte nur um so mehr zum Widerstand. Das Abgeordnetenhaus blieb bei seinem Beschluß bestehen, der Regierung nichts zu bewilligen, bevor nicht sein verfassungsmäßiges Recht von ihr anerkannt sei, worauf Bismarck das Haus vertagte mit der Erklärung, die Regierung werde vorderhand das Geld nehmen, wo sie es finde. Indes war seine Lage keineswegs eine sehr gesicherte. Wohl hatte er die Regierungsgewalt, d. h. die organisierte Macht, hinter sich, während die Kammer vorläufig nichts als die „öffentliche Meinung” auf ihrer Seite hatte. Indes, er wußte ganz gut, daß er sich auf die preußischen Bajonette nicht „setzen” konnte. Auf durchgreifende Erfolge in der auswärtigen Politik, geeignet, die ehemaligen „Gothaer”, d. h. die schwachliberalen Kleindeutschen, für die Regierung zurückzugewinnen, war vorderhand nicht zu rechnen. Er mußte also anderwärts Verbündete gegen die Fortschrittspartei zu gewinnen suchen.
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Es war um diese Zeit, im Herbst 1862, daß man in Berlin in Arbeiterkreisen anfing, die Einberufung eines Allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zur Erörterung von besonderen Fragen des Arbeiterwohls ernsthaft zu betreiben, und daß in Zusammenkünften, die dieser Frage galten, ein beschäftigungsloser Arbeiter namens Eichler mit besonderer Heftigkeit die Fortschrittspartei der Lahmheit anklagte und gegen die Schulzeschen Genossenschaften loszog, die dem Arbeiter nichts nützten. Mit der „Selbsthilfe”, von der die Liberalen soviel Geschrei machten, sei es nichts, nur der Staat könne den Arbeitern helfen. Eichler, der behauptete, von seinem Prinzipal wegen seiner absprechenden Äußerungen über die Schulzesche Selbsthilfe gemaßregelt zu sein, fand die Mittel, nach Leipzig zu reisen, wo im dortigen Arbeiterverein „Vorwärts” gleichfalls die Idee der Einberufung eines allgemeinen Arbeiterkongresses und die Gründung einer selbständigen Arbeiterorganisation lebhaft diskutiert wurde. Er suchte das Leipziger Zentralkomitee für die Einberufung des Kongresses nach Berlin zu gewinnen, und als man ihm etwas genauer auf den Zahn fühlte, rückte er schließlich in der Hitze des Gefechtes mit der Erklärung heraus, er wisse ganz genau, daß die preußische Regierung den guten Willen habe, den Arbeitern zu helfen, namentlich bei der Gründung von Produktivgenossenschaften; er könne mitteilen, daß Herr von Bismarck bereit sei, 30000 Taler zur Gründung einer Maschinenbauer-Produktivgenossenschaft zu liefern -- die Maschinenbauer waren damals, und noch lange später, in Berlin die Kerntruppe der Fortschrittspartei! Natürlich müßten sich die Arbeiter dazu entschließen, der Fortschrittspartei den Rücken zu kehren, die eine Partei der Bourgeoisie, der Hauptfeindin der Arbeiter, sei. Damit fiel Eichler indes ab, denn so wenig die Leute, welche in Leipzig den Arbeiterkongreß betrieben, Verehrer der Fortschrittler waren, so geringe Lust hatten sie, ihnen der preußischen Regierung zuliebe in den Rücken zu fallen. Eichler zog unverrichteter Sache heim und scheint auch in Berlin wenig ausgerichtet zu haben. Als man ihm wegen seiner auffällig flotten Lebensweise, die zu seiner „Arbeitslosigkeit” so gar nicht paßte, auf den Pelz rückte, machte er mysteriöse Anspielungen auf eine reiche vornehme Dame, die Wohlgefallen an ihm gefunden habe, und da er ein hübscher Bursche war, hatte das auch nichts besonders Unwahrscheinliches. Eichler verschwand dann von der Bildfläche und tauchte später als -- preußischer Polizeibeamter auf. Als 16 Jahre später, in der Reichstagssitzung vom 16.
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September 1878, August Bebel die Eichlersche „Mission” dem inzwischen zum Fürsten avancierten Bismarck vorhielt, suchte dieser tags darauf den Eichler von sich abzuschütteln, indem er ein Versehen Bebels in der Zeitbestimmung für sich ausnutzte -- Bebel hatte September statt Oktober 1862 als die Zeit des Eichlerschen Gastspiels in Leipzig angegeben; aber im Vertrauen auf die Wirkung dieses Kunstgriffs ließ er sich zu dem Geständnis verleiten, Eichler habe späterhin „Forderungen an mich gestellt für Dienste, die er mir nicht geleistet hatte”, und daß ihm „bei der Gelegenheit erst in Erinnerung gekommen, daß Herr Eichler im Dienste der Polizei gewesen ist und daß er Berichte geliefert hat”. (Vgl. die unter dem Titel „Die Sozialdemokratie vor dem deutschen Reichstage” veröffentlichten amtlichen Stenogramme über die Beratung des Sozialistengesetzes, 1878, S. 85.) Mit andern Worten, die angebliche vornehme Dame, oder, wie sich der Leipziger „Volksstaat” seinerzeit einmal drastisch ausdrückte, die „aristokratische Vettel” entpuppte sich als -- das Berliner Polizeipräsidium. Ebenfalls im Herbst 1862, nachdem am 13. Oktober Bismarck den Landtag vertagt hatte, hielt Lassalle seinen zweiten Verfassungsvortrag: „Was nun?” Er beruft sich dort darauf, daß die Ereignisse den Ausführungen in seinem ersten Vortrage recht gegeben haben. Die „Kreuzzeitung”, der Kriegsminister von Roon und der gegenwärtige Ministerpräsident von Bismarck hätten seine Theorie, daß Verfassungsfragen Machtfragen sind, bestätigt. Gestützt auf ihre Macht habe die Regierung fortgefahren, sich über die Beschlüsse der Kammer hinwegzusetzen. Es handle sich nun weniger um die Frage, wie der Verfassung von 1850 zur Fortdauer ihrer Existenz zu verhelfen sei, an deren Bestimmungen das Volk zum Teil gar kein Interesse habe, sondern einfach um die Frage, wie das Budgetrecht der Volksvertretung aufrechtzuerhalten, das parlamentarische Regime zur Wahrheit zu machen sei, da „in ihm, und nur in ihm das Wesen einer jeden wahrhaft konstitutionellen Regierung” bestehe. Soll man zu dem Mittel der Steuerverweigerung greifen? Nein, antwortet Lassalle. Diese sei als solche ein wirksames Mittel nur in den Händen eines Volkes, das, wie das englische, die vielen Machtmittel der organisierten Macht auf seiner Seite habe. Sie hätte nur dann einen Sinn, wenn sie dazu dienen sollte, einen allgemeinen Aufstand zu entflammen. Aber an einen solchen „werde unter den jetzigen Umständen hoffentlich wohl niemand denken”. Das einzige Mittel sei, auszusprechen, was ist. Die Kammer müsse, sobald sie wieder zusammentrete, „aussprechen das, was ist”. Das sei „das gewaltigste politische Mittel”. Die Kammer müsse es der Regierung unmöglich machen, mit dem Scheinkonstitutionalismus weiter zu regieren.
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Sobald sie wieder zusammentrete, müsse sie unverzüglich einen Beschluß fassen, daß sie, solange die Regierung ihren Verfassungsbruch fortsetze, es ablehne, durch Forttagen und Fortbeschließen der Regierung behilflich zu sein, den Schein eines verfassungsmäßigen Zustandes aufrechtzuhalten, und daß sie daher ihre Sitzungen „auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so lange aussetze, bis die Regierung den Nachweis antritt, daß die verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden”. Sobald die Kammer diesen Beschluß gefaßt habe, sei die Regierung besiegt. Auflösung nutze ihr nichts, denn die neuen Abgeordneten würden mit derselben Parole wiedergewählt werden. Ohne Kammer könne sie aber auch nicht regieren. Ihr Kredit, ihr Ansehen, ihre Machtstellung nach außen würden so gewaltig darunter leiden, daß sie über kurz oder lang gezwungen sein werde, nachzugeben. Ein anderes Mittel, den Konflikt beizulegen, gäbe es aber nicht. Durch Forttagen und Verweigern anderer oder auch aller Ausgaben der Regierung würden nur Volk und Regierung an die süße Gewohnheit der Nichtbeachtung von Kammerbeschlüssen gewöhnt. Noch schlimmer würde es sein, wollte die Kammer sich auf einen Kompromiß einlassen, etwa für den Preis der Bewilligung der zweijährigen Dienstzeit. Nein, kein Nachgeben in der konstitutionellen Grundfrage, um die es sich jetzt handle. Je hartnäckiger sich die Regierung stelle, um so größer werde alsdann ihre Demütigung sein, wenn sie sich gezwungen sehen werde, nachzugeben. „Um so mehr erkennt sie dann die gesellschaftliche Macht des Bürgertums als die ihr überlegene Macht an, wenn sie erst später umkehrend sich vor Volk und Kammer beugen muß.” Dann aber „keinen Versöhnungsdusel, meine Herren”. Keinen neuen Kompromiß mit dem alten Absolutismus, sondern „den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust”. Lassalle nimmt in diesem Vortrag im ganzen eine versöhnliche Haltung gegenüber der Fortschrittspartei ein. Er will „der Einigkeit zuliebe” alle schweren Anklagen, die er gegen sie auf dem Herzen habe, unterdrücken. Nur die „Volkszeitung” und ihre Hintermänner, deren Politik das Aussprechen was nicht ist, sei, greift er an. Diese „Geistesärmsten” trügen durch ihre Versuche, die Regierung in eine konstitutionelle „umzulügen”, einen sehr großen Teil der Verantwortung für den jetzigen Stand der Dinge. Aber „Friede, meine Herren, der Vergangenheit”! Ob Lassalle im Innersten seines Herzens so friedlich gesinnt war und wirklich sich dem Glauben hingab, die Fortschrittler würden auf seinen Vorschlag eingehen, oder ob diese Versöhnlichkeit nur oratorische Floskel war, um ihm später eine desto schärfere Position gegen die Fortschrittler zu verleihen, läßt sich schwer feststellen. Es mag beides zutreffen.
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Daß er einem zeitweiligen Zusammengehen mit den Fortschrittlern grundsätzlich nicht abgeneigt war, haben wir vorher gesehen, viele persönliche Beziehungen ließen ihm das sogar als wünschenswert erscheinen, und vom prinzipiellen Standpunkt ließ sich bei der damaligen Sachlage auch nichts dagegen einwenden. Auf der anderen Seite war es aber immer zweifelhafter geworden, ob die Fortschrittler sich mit ihm einlassen und ihm denjenigen Einfluß auf ihre Taktik einräumen würden, auf den er Anspruch zu haben glaubte. Fußnoten: [18] Daß die Führer der Italiener Becker sehr gut kannten, geht aus einem Briefe Mazzinis an Becker vom Juni 1861 hervor. Vgl. die Veröffentlichungen R. Rüeggs aus den Papieren Joh. Ph. Beckers im Jahrgang 1888 der „Neuen Zeit”, S. 458 usf. [19] Die Briefe Lassalles an Hans von Bülow sind Mitte der achtziger Jahre im Buchhandel erschienen. (Dresden und Leipzig, H. Minden.) So dünn das Bändchen, so liederlich ist es zusammengestellt. Im Vorwort wird eine Stelle aus einem Brief Heines über Lassalle dem Fürsten Pückler-Muskau zugeschrieben; die Briefe selbst sind nicht einmal chronologisch geordnet, wozu deren Nichtdatierung von seiten Lassalles den Vorwand liefern muß, obwohl bei den meisten aus dem Inhalt das ungefähre Datum leicht festzustellen war. In einem der Briefe ist von „Salingers genialer Komposition” die Rede. Der Herausgeber, der die Briefe von Hans von Bülow selbst erhalten, macht dazu die Note „Arbeiterhymne von Herwegh”. Daß der Name Salinger bzw. Solinger Pseudonym für Hans von Bülow war, wird dagegen nicht einmal angedeutet. Bülow hatte die Komposition des Herweghschen Gedichts unter dem Namen Solinger veröffentlicht. Lassalle und das Leipziger Arbeiterkomitee. -- Das Offene Antwortschreiben, politischer Teil. Jedenfalls gingen sie auf die Friedensbedingung, d. h. die von Lassalle vorgeschlagene Kampfesmethode, nicht ein. Man kann ihnen auch von ihrem Standpunkt aus nicht unrecht geben. Lassalles Vorschlag war sehr gut, wenn man es so schnell als möglich zum Äußersten treiben wollte, wenn man entschlossen, sowie in der Lage war, auf einen Staatsstreich -- denn weiter blieb der Regierung bei dieser Taktik nichts übrig -- mit einer Revolution zu antworten. Soweit waren aber die Fortschrittler noch nicht, und darum zogen sie die Methode des Hinziehens vor. Ohne Revolution in unmittelbarer Reserve lief der freiwillige Verzicht auf die Tribüne in der Kammer auf den famosen „passiven Widerstand” hinaus, über den Lassalle sich mit Recht selbst lustig machte.
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Durch beharrliche Verweigerung des Budgets konnte man ebenso laut und drastisch „aussprechen, was ist”, die öffentliche Meinung ebenso wirksam oder noch mehr in Erregung halten, als durch das Mittel der Vertagung ins Unbestimmte, das der Regierung obendrein einen Schein von Recht für die Außerkraftsetzung der Verfassung lieferte. Das war ja aber die Hauptidee der Taktik der Fortschrittler, die Regierung vor allem als Vertreterin der Gewalt gegenüber dem Recht hinzustellen. „Ihre Hauptwortführer,” sagt B. Becker sehr gut, „waren meist Leute aus dem Richter- und Advokatenstande, folglich an juristisch-advokatorische _Dehnbarkeit_[20] gewöhnt und den Streit der Kammermajorität mit der Regierung wie einen langen Rechtsstreit zu betrachten geneigt.” Sie erhoben denn auch von neuem gegen Lassalle den Vorwurf, daß er, gleich der Regierung, Macht vor Recht gestellt habe. Und nun, nicht nach der ersten Verfassungs-Broschüre, wie es bei Becker heißt, schrieb Lassalle den Aufsatz „Macht und Recht”, in welchem er der Fortschrittspartei rund heraus den Fehdehandschuh hinwarf. Es war ihm ein leichtes, die ganze Lächerlichkeit jenes Vorwurfs mit ein paar Worten schlagend nachzuweisen und den Fortschrittlern als Zugabe den Beweis zu liefern, daß ihr Abgott Schwerin, dessen Erklärung, daß in Preußen „Recht vor Macht gehe”, sie so laut bejubelten, an einem ganzen Dutzend Rechtsbrüchen, wo Macht vor Recht ging, teilgenommen hatte. „Es hat kein Mensch im preußischen Staat das Recht, vom ‚Recht’ zu sprechen” -- ruft er aus -- „als die Demokratie, die alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt hat.” Und: „Bei der Demokratie allein ist alles Recht -- und bei ihr allein wird die Macht sein!” Dieser Kriegserklärung, in Form einer Berichtigung an die radikale Berliner „Reform” eingesandt, verschloß letztere -- für die Lassalle noch im Juni 1862 bei Marx ein gutes Wort eingelegt hatte -- ihre Spalten, desgleichen die „Vossische Zeitung”. Die letztere lehnte auch die Aufnahme des Aufsatzes als bezahltes Inserat ab, worauf Lassalle ihn als „Offenes Sendschreiben” in Zürich erscheinen ließ. Daß die Wahl dieses Verlagsortes die „preßgesetzlichen Bedenken” der „Vossischen Zeitung” eigentlich rechtfertigte, kümmerte ihn nicht weiter. * * * * * Zwischen der Veröffentlichung des Vortrages „Was nun?” (Dezember 1862) und der Abfassung des „Sendschreibens” (Februar 1863) liegen wiederum zwei Monate. Noch vor dieser Zeit (Ende Oktober 1862) waren zwei Mitglieder des Leipziger Arbeiterkomitees, der Tabakarbeiter F. W.
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