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24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Und also heiß ihn seiner Stunde warten,
da er den Tod gebären wird, den Herrn:
allein und rauschend wie ein großer Garten
und ein Versammelter aus fern. Das letzte Zeichen laß an uns geschehen,
erscheine in der Krone deiner Kraft,
und gib uns jetzt (nach aller Weiber Wehen)
des Menschen ernste Mutterschaft. Erfülle, du gewaltiger Gewährer,
nicht jenen Traum der Gottgebärerin, --
richt auf den Wichtigen: den Tod-Gebärer,
und führ uns mitten durch die Hände derer,
die ihn verfolgen werden, zu ihm hin. Denn sieh, ich sehe seine Widersacher,
und sie sind mehr als Lügen in der Zeit, --
und er wird aufstehn in dem Land der Lacher
und wird ein Träumer heißen: denn ein Wacher
ist immer Träumer unter Trunkenheit. Du aber gründe ihn in deine Gnade,
in deinem alten Glanze pflanz ihn ein;
und mich laß Tänzer dieser Bundeslade,
laß mich den Mund der neuen Messiade,
den Tönenden, den Täufer sein. Ich will ihn preisen. Wie vor einen Heere
die Hörner gehen, will ich gehn und schrein. Mein Blut soll lauter rauschen denn die Meere,
mein Wort soll süß sein, daß man sein begehre,
und doch nicht irremachen wie der Wein. Und in den Frühlingsnächten, wenn nicht viele
geblieben sind um meine Lagerstatt,
dann will ich blühn in meinem Saitenspiele
so leise wie die nördlichen Aprile,
die spät und ängstlich sind um jedes Blatt. Denn meine Stimme wuchs nach zweien Seiten
und ist ein Duften worden und ein Schrein:
die eine will den Fernen vorbereiten,
die andere muß meiner Einsamkeiten
Gesicht und Seligkeit und Engel sein. Und gib, daß beide Stimmen mich begleiten,
streust du mich wieder aus in Stadt und Angst. Mit ihnen will ich sein im Zorn der Zeiten
und dir aus meinem Klang ein Bett bereiten
an jeder Stelle, wo du es verlangst. Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen
den Tag, die Nacht, die Tiere und das Kind;
ihr Schweigen lügt, sie lügen mit Geräuschen
und mit den Dingen, welche willig sind. Nichts von dem weiten wirklichen Geschehen,
das sich um dich, du Werdender, bewegt,
geschieht in ihnen. Deiner Winde Wehen
fällt in die Gassen, die es anders drehen,
ihr Rauschen wird im Hin- und Widergehen
verwirrt, gereizt und aufgeregt. | 2,149 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_200 | 367 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Sie kommen auch zu Beeten und Alleen --:
Denn Gärten sind, -- von Königen gebaut,
die eine kleine Zeit sich drin vergnügten
mit jungen Frauen, welche Blumen fügten
zu ihres Lachens wunderlichem Laut. Sie hielten diese müden Parke wach;
sie flüsterten wie Lüfte in den Büschen,
sie leuchteten in Pelzen und in Plüschen,
und ihrer Morgenkleider Seidenrüschen
erklangen auf dem Kiesweg wie ein Bach. Jetzt gehen ihnen alle Gärten nach --
und fügen still und ohne Augenmerk
sich in des fremden Frühlings helle Gammen
und brennen langsam mit des Herbstes Flammen
auf ihrer Äste großem Rost zusammen,
der kunstvoll wie aus tausend Monogrammen
geschmiedet scheint zu schwarzem Gitterwerk. Und durch die Gärten blendet der Palast
(wie blasser Himmel mit verwischtem Lichte),
in seiner Säle welke Bilderlast
versunken wie in innere Gesichte,
fremd jedem Feste, willig zum Verzichte
und schweigsam und geduldig wie ein Gast. Dann sah ich auch Paläste, welche leben;
sie brüsten sich den schönen Vögeln gleich,
die eine schlechte Stimme von sich geben. Viele sind reich und wollen sich erheben, --
aber die Reichen _sind_ nicht reich. Nicht wie die Herren deiner Hirtenvölker,
der klaren, grünen Ebenen Bewölker,
wenn sie mit schummerigem Schafgewimmel
darüber zogen wie ein Morgenhimmel. Und wenn sie lagerten und die Befehle
verklungen waren in der neuen Nacht,
dann wars, als sei jetzt eine andre Seele
in ihrem flachen Wanderland erwacht --:
Die dunklen Höhenzüge der Kamele
umgaben es mit der Gebirge Pracht. Und der Geruch der Rinderherden lag
dem Zuge nach bis in den zehnten Tag,
war warm und schwer und wich dem Wind nicht aus. Und wie in einem hellen Hochzeitshaus
die ganze Nacht die reichen Weine rinnen:
so kam die Milch aus ihren Eselinnen. Und nicht wie jene Scheichs der Wüstenstämme,
die nächtens auf verwelktem Teppich ruhten,
aber Rubinen ihren Lieblingsstuten
einsetzen ließen in die Silberkämme. Und nicht wie jene Fürsten, die des Golds
nicht achteten, das keinen Duft erfand,
und deren stolzes Leben sich verband
mit Ambra, Mandelöl und Sandelholz. Nicht wie des Ostens weißer Gossudar,
dem Reiche eines Gottes Recht erwiesen;
er aber lag mit abgehärmtem Haar,
die alte Stirne auf des Fußes Fliesen,
und weinte, -- weil aus allen Paradiesen
nicht _eine_ Stunde seine war. | 2,287 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_201 | 366 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Nicht wie die Ersten alter Handelshäfen,
die sorgten, wie sie ihre Wirklichkeit
mit Bildern ohnegleichen überträfen
und ihre Bilder wieder mit der Zeit;
und die in ihres goldnen Mantels Stadt
zusammgefaltet waren wie ein Blatt,
nur leise atmend mit den weißen Schläfen ... Das waren Reiche, die das Leben zwangen
unendlich weit zu sein und schwer und warm. Aber der Reichen Tage sind vergangen,
und keiner wird sie dir zurückverlangen,
nur mach die Armen endlich wieder arm. Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen,
die ohne Willen sind und ohne Welt;
gezeichnet mit der letzten Ängste Zeichen
und überall entblättert und entstellt. Zu ihnen drängt sich aller Staub der Städte,
und aller Unrat hängt sich an sie an. Sie sind verrufen wie ein Blatternbette,
wie Scherben fortgeworfen, wie Skelette,
wie ein Kalender, dessen Jahr verrann, --
und doch: wenn deine Erde Nöte hätte:
sie reihte sie an eine Rosenkette
und trüge sie wie einen Talisman. Denn sie sind reiner als die reinen Steine
und wie das blinde Tier, das erst beginnt,
und voller Einfalt und unendlich deine
und wollen nichts und brauchen nur das _eine:_
so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind. Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ... Du bist der Arme, du der Mittellose,
du bist der Stein, der keine Stätte hat,
du bist der fortgeworfene Leprose,
der mit der Klapper umgeht vor der Stadt. Denn dein ist nichts, so wenig wie des Windes,
und deine Blöße kaum bedeckt der Ruhm;
das Alltagskleidchen eines Waisenkindes
ist herrlicher und wie ein Eigentum. Du bist so arm wie eines Keimes Kraft
in einem Mädchen, das es gern verbürge
und sich die Lenden preßt, daß sie erwürge
das erste Atmen ihrer Schwangerschaft. Und du bist arm: so wie der Frühlingsregen,
der selig auf der Städte Dächer fällt,
und wie ein Wunsch, wenn Sträflinge ihn hegen
in einer Zelle, ewig ohne Welt. Und wie die Kranken, die sich anders legen
und glücklich sind; wie Blumen in Geleisen
so traurig arm im irren Wind der Reisen;
und wie die Hand, in die man weint, so arm ... | 2,030 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_202 | 349 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Und was sind Vögel gegen dich, die frieren,
was ist ein Hund, der tagelang nicht fraß,
und was ist gegen dich das Sichverlieren,
das stille lange Traurigsein von Tieren,
die man als Eingefangene vergaß? Und alle Armen in den Nachtasylen,
was sind sie gegen dich und deine Not? Sie sind nur kleine Steine, keine Mühlen,
aber sie mahlen doch ein wenig Brot. Du aber bist der tiefste Mittellose,
der Bettler mit verborgenem Gesicht;
du bist der Armut große Rose,
die ewige Metamorphose
des Goldes in das Sonnenlicht. Du bist der leise Heimatlose,
der nicht mehr einging in die Welt:
zu groß und schwer zu jeglichem Bedarfe. Du heulst im Sturm. Du bist wie eine Harfe,
an welcher jeder Spielende zerschellt. Du, der du weißt und dessen weites Wissen
aus Armut ist und Armutsüberfluß:
Mach, daß die Armen nicht mehr fortgeschmissen
und eingetreten werden in Verdruß. Die andern Menschen sind wie ausgerissen;
sie aber stehn wie eine Blumenart
aus Wurzeln auf und duften wie Melissen,
und ihre Blätter sind gezackt und zart. Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche:
sie rühren sich wie in den Wind gestellt
und ruhen aus wie etwas, was man hält. In ihren Augen ist das feierliche
Verdunkeltwerden lichter Wiesenstriche,
auf die ein rascher Sommerregen fällt. Sie sind so still; fast gleichen sie den Dingen. Und wenn man sich sie in die Stube lädt,
sind sie wie Freunde, die sich wiederbringen,
und gehn verloren unter dem Geringen
und dunkeln wie ein ruhiges Gerät. Sie sind wie Wächter bei verhängten Schätzen,
die sie bewahren, aber selbst nicht sahn, --
getragen von den Tiefen wie ein Kahn,
und wie das Leinen auf den Bleicheplätzen
so ausgebreitet und so aufgetan. Und sieh, wie ihrer Füße Leben geht:
wie das der Tiere, hundertfach verschlungen
mit jedem Wege; voll Erinnerungen
an Stein und Schnee und an die leichten, jungen,
gekühlten Wiesen, über die es weht. Sie haben Leid von jenem großen Leide,
aus dem der Mensch zu kleinem Kummer fiel;
des Grases Balsam und der Steine Schneide
ist ihnen Schicksal, -- und sie lieben beide
und gehen wie auf deiner Augen Weide
und so wie Hände gehn im Saitenspiel. Und ihre Hände sind wie die von Frauen
und irgendeiner Mutterschaft gemäß;
so heiter wie die Vögel, wenn sie bauen, --
im Fassen warm und ruhig im Vertrauen,
und anzufühlen wie ein Trinkgefäß. | 2,303 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_203 | 390 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Ihr Mund ist wie der Mund an einer Büste,
der nie erklang und atmete und küßte
und doch aus einem Leben, das verging,
das alles, weise eingeformt, empfing,
und sich nun wölbt, als ob er alles wüßte --
und doch nur Gleichnis ist und Stein und Ding ... Und ihre Stimme kommt von ferneher
und ist vor Sonnenaufgang aufgebrochen
und war in großen Wäldern, geht seit Wochen
und hat im Schlaf mit Daniel gesprochen
und hat das Meer gesehn und sagt vom Meer. Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles
zurückgegeben, was sie leise leiht,
und weit verteilt wie Brot in Hungersnöten
an Mitternächte und an Morgenröten
und sind wie Regen voll des Niederfalles
in eines Dunkels junge Fruchtbarkeit. Dann bleibt nicht eine Narbe ihres Namens
auf ihrem Leib zurück, der keimbereit
sich bettet wie der Samen jenes Samens,
aus dem du stammen wirst von Ewigkeit. Und sieh: ihr Leib ist wie ein Bräutigam
und fließt im Liegen hin gleich einem Bache
und lebt so schön wie eine schöne Sache,
so leidenschaftlich und so wundersam. In seiner Schlankheit sammelt sich das Schwache,
das Bange, das aus vielen Frauen kam;
doch sein Geschlecht ist stark und wie ein Drache
und wartet schlafend in dem Tal der Scham. Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit. Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach. Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind. Nur nimm sie wieder aus der Städte Schuld,
wo ihnen alles Zorn ist und verworren
und wo sie in den Tagen aus Tumult
verdorren mit verwundeter Geduld. Hat denn für sie die Erde keinen Raum? Wen sucht der Wind? Wer trinkt des Baches Helle? Ist in der Teiche tiefem Ufertraum
kein Spiegelbild mehr frei für Tür und Schwelle? Sie brauchen ja nur eine kleine Stelle,
auf der sie alles haben wie ein Baum. | 2,091 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_204 | 364 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein,
drin wandelt sich das Ewige zur Speise,
und wenn der Abend kommt, so kehrt es leise
zu sich zurück in einem weiten Kreise
und geht voll Nachklang langsam in sich ein. Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein. Des Armen Haus ist wie des Kindes Hand. Sie nimmt nicht, was Erwachsene verlangen;
nur einen Käfer mit verzierten Zangen,
den runden Stein, der durch den Bach gegangen,
den Sand, der rann, und Muscheln, welche klangen;
sie ist wie eine Wage aufgehangen
und sagt das allerleiseste Empfangen
langschwankend an mit ihrer Schalen Stand. Des Armen Haus ist wie des Kindes Hand. Und wie die Erde ist des Armen Haus:
Der Splitter eines künftigen Kristalles,
bald licht, bald dunkel in der Flucht des Falles;
arm wie die warme Armut eines Stalles, --
und doch sind Abende: da ist sie alles,
und alle Sterne gehen von ihr aus. Die Städte aber wollen nur das Ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf. Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf. Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas. Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein
und ausgehohlt und warten, daß der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte. Und deine Armen leiden unter diesen
und sind von allem, was sie schauen, schwer
und glühen frierend wie in Fieberkrisen
und gehn, aus jeder Wohnung ausgewiesen,
wie fremde Tote in der Nacht umher;
und sind beladen mit dem ganzen Schmutze
und wie in Sonne Faulendes bespien, --
von jedem Zufall, von der Dirnen Putze,
von Wagen und Laternen angeschrien. Und gibt es einen Mund zu ihrem Schutze,
so mach ihn mündig und bewege ihn. O wo ist der, der aus Besitz und Zeit
zu seiner großen Armut so erstarkte,
daß er die Kleider abtat auf dem Markte
und bar einherging vor des Bischofs Kleid. | 2,148 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_205 | 375 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Der Innigste und Liebendste von allen,
der kam und lebte wie ein junges Jahr;
der braune Bruder deiner Nachtigallen,
in dem ein Wundern und ein Wohlgefallen
und ein Entzücken an der Erde war. Denn er war keiner von den immer Müdern,
die freudeloser werden nach und nach,
mit kleinen Blumen wie mit kleinen Brüdern
ging er den Wiesenrand entlang und sprach. Und sprach von sich und wie er sich verwende,
so daß es allem eine Freude sei;
und seines hellen Herzens war kein Ende,
und kein Geringes ging daran vorbei. Er kam aus Licht zu immer tieferm Lichte,
und seine Zelle stand in Heiterkeit. Das Lächeln wuchs auf seinem Angesichte
und hatte seine Kindheit und Geschichte
und wurde reif wie eine Mädchenzeit. Und wenn er sang, so kehrte selbst das Gestern
und das Vergessene zurück und kam;
und eine Stille wurde in den Nestern,
und nur die Herzen schrieen in den Schwestern,
die er berührte wie ein Bräutigam. Dann aber lösten seines Liedes Pollen
sich leise los aus seinem roten Mund
und trieben träumend zu den Liebevollen
und fielen in die offenen Corollen
und sanken langsam auf den Blütengrund. Und sie empfingen ihn, den Makellosen,
in ihrem Leib, der ihre Seele war. Und ihre Augen schlossen sich wie Rosen,
und voller Liebesnächte war ihr Haar. Und ihn empfing das Große und Geringe. Zu vielen Tieren kamen Cherubim,
zu sagen, daß ihr Weibchen Früchte bringe, --
und waren wunderschöne Schmetterlinge:
denn ihn erkannten alle Dinge
und hatten Fruchtbarkeit aus ihm. Und als er starb, so leicht wie ohne Namen,
da war er ausgeteilt: sein Samen rann
in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen
und sah ihn ruhig aus den Blumen an. Er lag und sang. Und als die Schwestern kamen,
da weinten sie um ihren lieben Mann. O wo ist er, der Klare, hingeklungen? Was fühlen ihn, den Jubelnden und Jungen,
die Armen, welche harren, nicht von fern? Was steigt er nicht in ihre Dämmerungen --
der Armut großer Abendstern. | 1,922 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_206 | 330 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Die Versanfänge
_Erstes Buch:_ Das Buch vom mönchischen Leben (1899)
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an 7
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen 7
Ich habe viele Brüder in Soutanen 8
Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen 8
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden 8
Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal 9
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre 9
Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht 10
Ich lese es heraus aus deinem Wort 10
Der blasse Abelknabe spricht 11
Du Dunkelheit, aus der ich stamme 11
Ich glaube an alles noch nie Gesagte 12
Ich bin aus der Welt zu allein und doch nicht allein genug 13
Du siehst, ich will viel 13
Wir bauen an dir mit zitternden Händen 14
Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat 15
Wer seines Lebens viele Widersinne 15
Was irren meine Hände in den Pinseln? 15
Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht 16
Mein Leben ist nicht diese steile Stunde 16
Wenn ich gewachsen wäre irgendwo 17
Ich finde dich in allen diesen Dingen 18
Ich verrinne, ich verrinne 18
Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen 19
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz 20
Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister 20
Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin 21
So viele Engel suchen dich im Lichte 21
Das waren Tage Michelangelos 22
Der Ast vom Baume Gott, der über Italien reicht 22
Da ward auch die zur Frucht Erweckte 23
Aber als hätte die Last der Fruchtgehänge 24
So hat man sie gemalt; vor allem einer 24
Mit einem Ast, der jenem niemals glich 25
Ich kann nicht glauben, daß der kleine Tod 26
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? 26
Du bist der raunende Verrußte 27
Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam 27
Dann bete du, wie es dich dieser lehrt 28
Ich habe Hymnen, die ich schweige 29
Gott, wie begreif ich deine Stunde 29
Alle, die ihre Hände regen 30
Der Name ist uns wie ein Licht 31
Dein allererstes Wort war: Licht 31
Du kommst und gehst. | 2,908 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_207 | 357 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Die Türen fallen 32
Du bist der Tiefste, welcher ragte 33
Ich weiß: Du bist der Rätselhafte 33
So ist mein Tagwerk, über dem 34
Ihr vielen unbestürmten Städte 35
Ich komme aus meinen Schwingen heim 35
Du wirst nur mit der Tat erfaßt 37
Mein Leben hat das gleiche Kleid und Haar 37
Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe 38
Es tauchten tausend Theologen 39
Die Dichter haben dich verstreut 40
Selten ist die Sonne im Sobór 40
Da trat ich als ein Pilger ein 41
Wie der Wächter in den Weingeländen 42
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht 42
Ich war bei den ältesten Mönchen 43
Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern 44
So bin ich nur als Kind erwacht 45
Daß ich nicht war vor einer Weile 45
Es lärmt das Licht im Wipfel deines Baumes 46
Du Williger, und deine Gnade kam 47
Eine Stunde vom Rande des Tages 47
Und dennoch: mir geschieht 48
_Zweites Buch:_ Das Buch von der Pilgerschaft (1901)
Dich wundert nicht des Sturmes Wucht 51
Ich bete wieder, du Erlauchter 52
Ich bin derselbe noch, der kniete 53
Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt 56
Dir ist mein Beten keine Blasphemie 56
Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alp 57
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn 58
Und meine Seele ist ein Weib vor dir 58
Du bist der Erbe 58
Und du erbst das Grün 59
Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen 60
Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt 61
Du bist der Alte, dem die Haare 62
Gerüchte gehn, die dich vermuten 62
Alle, welche dich suchen, versuchen dich 63
Wenn etwas mir vom Fenster fällt 64
Du meinst die Demut 65
In diesem Dorfe steht das letzte Haus 66
Manchmal steht einer auf beim Abendbrot 67
Nachtwächter ist der Wahnsinn 67
Weißt du von jenen Heiligen, mein Herr? 67
Du bist die Zukunft, großes Morgenrot 69
Du bist das Kloster zu den Wundenmalen 70
Die Könige der Welt sind alt 71
Alles wird wieder groß sein und gewaltig 71
Auch du wirst groß sein. Größer noch, als einer 72
Es wird nicht Ruhe in den Häusern 73
So möcht ich zu dir gehn 73
Du Gott, ich möchte viele Pilger sein 74
Bei Tag bist du das Hörensagen 74
Ein Pilgermorgen. | 3,476 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_208 | 396 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Von den harten Lagern 74
Jetzt reifen schon die roten Berberitzen 78
Du mußt nicht bangen, Gott 78
In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz 80
_Drittes Buch:_ Das Buch von der Armut und vom Tode (1903)
Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe 83
Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen 83
Mach mich zum Wächter deiner Weiten 84
Denn Herr, die großen Städte sind 84
Da leben Menschen, weißerblühte, blasse 85
O Herr, gib jedem seinen eignen Tod 86
Denn wir sind nur die Schale und das Blatt 86
Herr: wir sind ärmer denn die armen Tiere 87
Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß 88
Das letzte Zeichen laß an uns geschehen 89
Ich will ihn preisen 90
Und gib, daß beide Stimmen mich begleiten 90
Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen 90
Denn Gärten sind, -- von Königen gebaut 91
Dann sah ich auch Paläste, welche leben 91
Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen 93
Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen 94
Du bist der Arme, du der Mittellose 94
Du, der du weißt und dessen weites Wissen 95
Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche 96
Sie sind so still; fast gleichen sie den Dingen 96
Und sieh, wie ihrer Füße Leben geht 96
Und ihre Hände sind wie die von Frauen 97
Ihr Mund ist wie der Mund an einer Büste 97
Und ihre Stimme kommt von ferneher 97
Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles 97
Und sieh: ihr Leib ist wie ein Bräutigam 98
Denn sieh: sie werden leben und sich mehren 98
Nur nimm sie wieder aus der Städte Schuld 98
Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein 99
Die Städte aber wollen nur das Ihre 100
Und deine Armen leiden unter diesen 100
O wo ist der, der aus Besitz und Zeit 101
O wo ist er, der Klare, hingeklungen? 102
Titel, Kopfleiste und Anfangsinitiale dieses Buches zeichnete Walter
Tiemann. Der Druck erfolgte in der Offizin W. Drugulin zu Leipzig. [Anmerkungen zur Transkription: Die nachfolgende Tabelle enthält eine
Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen. S. 80: Denn alle Uberflüsse -> Überflüsse
S. 86: zehn ihnen leise eine Weile nach -> gehn
S. 90: ichts von dem weiten wirklichen Geschehen -> Nichts ]
[Transcriber's Notes: The table below lists all corrections applied to
the original text. p. | 3,018 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_209 | 398 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | 80: Denn alle Uberflüsse -> Überflüsse
p. 86: zehn ihnen leise eine Weile nach -> gehn
p. Creating the works from public domain print editions means that no
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24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
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21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Langkau and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Franziska Mann
Die Stufe
Fragment einer Liebe
[Abbildung: Mosaik Verlag]
Im Mosaik Verlag zu Berlin
1922
_Mosaik-Bücher * Band 3_
Dieses Buch wurde für die _Mosaik Verlag_ G.m.b.H. bei Gebrüder
Rennert in Berlin gedruckt. Einband und Druckanordnung von Erich
Büttner. Die Verse im Text sind von L. Avellis. Alle Rechte,
insbesondere das der Uebersetzung und Verfilmung vorbehalten. Copyright by Mosaik Verlag G.m.b.H., Berlin W. 50. 1922. _Maria an Roland._
Roland, sind Sie leichtsinnig! Laufen Sie lieber vor mir davon. Oder
ist Leichtsinn immer eine Krankheit -- chronisch bei den einen, akuter
Natur bei den anderen? Nicht nur einfach abzuschütteln --, Heilbarkeit
unsicher? Noch ist es Zeit! Ich warne Sie! Verpassen Sie nicht den
rechten Augenblick zur Flucht. Sie sind fünfundzwanzig Mal im Laufe der
Jahre am zehnten Mai vorübergeschritten, ich an diesem Frühlingstage,
der auch mich die Reise ins Leben beginnen ließ, zweiundvierzig Mal. Es bleibt eine gewagte Angelegenheit, schön und gefährlich, dieses »die
Seelen sind von keinem Alter.« Sehen Sie sich lieber die blonden und die
braunen Mädel an, deren gibt es so viele. Und doch möchte ich Ihnen helfen. Sie brauchen einen _Menschen_. Ich
könnte der rechte Mensch für Sie sein. Nur dürfen Sie nicht an Liebe
denken; sie verwirrt immer, sie würde alles verderben. --
Nach allgemeinen Begriffen weiß ich wenig von Ihnen. Aber nie war ich
begierig, Menschen, an die mich ein seelisches Fluidum zu binden begann,
in hergebrachter Form _kennen_ zu lernen. Genießen wollte ich einen
Blick, eine Stimme, den leisen Druck einer Hand. Ganz nur Gegenwart
sollte mich umfangen, beleben, vielleicht auch berauschen, aber kennen? Nein, kennen ist drohender Alltag. Ich will meine Viertelstunde,
unbekümmert um alles Gewesene. (Solch eine Viertelstunde kann lange
währen, sie wird nach besonderem Maß gemessen.) Die nach mir kommen,
mögen die ihre haben. Verstehen Sie das? Treu bin ich nicht, habe
nie treu in hergebrachter Vorstellung sein wollen. Freunde, welche
unbewegliches Festhalten brauchen, sind neben mir zu beklagen. Für
mein Empfinden gibt es Wertvolleres als starres Beharren. Glauben Sie,
Roland: Alles hat seine Zeit. --
Allmählich bin ich so etwas wie eine Seelensucherin geworden. Weiß
selbst nicht, wie es gekommen ist. Nie habe ich diese Eigenart -- oder
darf ich sagen dieses Talent? -- absichtlich in mir gesteigert, habe
nie aufgehört, sie als Begnadung zu empfinden. Manchem wurde ich zur
Lebenswende, zur Stufe in freiere, befreite Welten. | 2,633 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_213 | 397 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Für das Glück der
Vielen war ich nie geschaffen. Vielleicht vermochte ich Einigen die
Kraft zur Einsamkeit zu stärken; vielleicht lehrte ich Einige sich
selbst kennen zu lernen, half ihnen, eine andere Lebensresonanz zu
erlauschen. Ich vergaß nie, daß ich nicht mehr werden konnte als ein
Mörtelträger: sein Schloß kann sich jeder nur allein errichten, seinen
Tempel oder sein Alltagshaus. --
Immer bin ich mir klar gewesen, nicht auf das Beieinander_bleiben_ kommt
es an, sondern auf die Spuren, die wir in fremder Seele zurückzulassen
vermögen. Das nenne ich Treue, ist _mir_ Treue. Und doch habe ich
manchem etwas fürs Leben zu geben gehabt. Ich weiß, daß das einzig
Sichere der Wandel ist; nie habe ich jemanden halten wollen; meist war
ich es wohl, die fort war, innerlich schon ein wenig entfernt, bevor der
andere es entdeckte. Doch nicht stets schritt ich nur aus Menschenliebe
weiter, so selbstlos war ich nicht; oft lockte mich schon leise, ganz
leise, eine fremde Seele. Mit ihr mich zu vereinen, trieb es mein Herz;
denn immer hat auch mein Herz seinen Anteil haben wollen. Durch
wunderbare Gefilde bin ich geschritten, -- frei und doch gefesselt. Nein, ich hätte nicht immer nur denselben Garten durchwandeln können. Ich liebte es, Neuland zu entdecken. Dort, wo viele nur kahles Feld
sahen, ahnte ich bereits wogendes Blühen. Ohne Mühe neigten sich mir
tausend -- den Vielen nicht sichtbare -- Herrlichkeiten entgegen. --
So einfach, Roland, dürfen Sie sich nun aber nicht das Wiederlösen
vorstellen. Man muß Schmerzen lautlos zu tragen vermögen, muß sinnend
nachschauen können, muß die zuckenden Lippen fest aufeinander zu
pressen lernen; man muß zuletzt _ertragen_ können, wozu anfangs durchaus
keine Tragfähigkeit notwendig dünkte. Gerade Ihnen möchte ich meine
Vereinigung mit den Vielen -- jenen seltsamen Zwang, der mir Fremde
leicht in die Nächsten wandelt -- ohne Gefallsucht deuten, jene
Augenblicke, in denen ich glaube, nicht mehr zurückweichen zu können,
obgleich nichts Sichtbares, nicht das geringste äußerlich Bindende mich
hält. Und doch habe ich mich oft, (oder soll ich sagen _zu_ oft?) gerade
in dieser Form fesseln lassen; denn ein Gefesseltsein gehört zu jener
Hingabe, die auch von Glut durchpulst sein muß, wenn sie vollkommen
schön sein soll. Aber ich zergliedere nicht, sobald meine Seele sich
an eine fremde Seele schmiegt -- das schlösse von Beginn an jede
Unbefangenheit aus. Ich möchte von einem unstillbaren Hang zur
Verschwendung sprechen, unheilbar und unhemmbar. | 2,512 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_214 | 395 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Mir geht es wie
dem Künstler, der sich in immer neue Gebilde verliert, die seine
schaffenstrunkene Phantasie formt. Kommt doch auch für ihn so
überraschend schnell eine Zeit, in der er ohne Extase vor einer
Schöpfung steht, die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens
gewesen ist. Ihm selbst unergründliche Gewalten reißen ihn zu neuen
Schöpfungen, in deren Bann er sich wehrlos verlieren muß. --
Dies alles aber berührt nicht das Bestehen von Vereinigungen festen
und dauernden Gepräges. In diesen Freundschaften nimmt man sich hin,
wie man ist, geheimnist nichts ineinander hinein, vergleicht nicht mit
erträumter Vollkommenheit, ruht aus in mitfühlender Innigkeit, erwartet
nicht letztes Verstehen und genießt doch ein schönes Beglücktsein in
dieser Freunde Nähe. Im geheimen aber schämen wir uns vor ihnen der
Hoffnungen, die nie sterben wollen, des Durstes nach dem Unbekannten,
des immer Bereitbleibens, weiter in nebelverhangene Lande zu wandern. Erst der Tod kann uns von diesen Freunden trennen, nie das Leben. Nur
den Wunsch nach Hingerissenheit können sie uns in dem gleichförmigen,
wenn auch gesünderem Tale, in dem sie leben, nicht erfüllen. _Sie_
belächeln unsere Himmelsträume, soweit sie sie zu ahnen vermögen. Stürme, die kräftiges, neues Werden künden, kennen _sie_ nicht. Gelänge es mir doch, Ihnen diese scheinbare Erkaltung, von der ich
vorher schrieb, diese Zwiespältigkeit meines Fühlens, dieses gefaßt
dem Wandel Entgegengehen verständlich zu machen. Mich dünkt, als wollte
selbst die weite Natur nicht unveränderliches Beharren. Sie bereichert,
auch wenn sie scheinbar verarmt; ihre Gesetzmäßigkeit ist's ja auch, die
uns zuweilen wie Grausamkeit erscheinen kann; denn Wachstum wehrt sich
gegen kraftlos Gewordenes; es stößt Welkendes ab, mögen wir es auch in
leiser Wehmut fallen sehen. Nur die Gewißheit ersiegen wir uns
schließlich doch: nichts von allem früheren, das uns einst kostbar
dünkte, kann jemals wieder ganz verloren gehen. Ein Schimmer bleibt und
beglückt und kann aufleuchten wie in den Augenblicken, da wir die lange
schon Entfernten, die Weitergewanderten, die von uns Zurückgelassenen
oder die über uns Hinfortgestiegenen am stärksten zu lieben glaubten. --
Roland, haben Sie immer noch Mut zu mir? Wären Sie doch ein weibliches
Wesen, dann beunruhigte mich nicht der Gedanke, Sie könnten sich tief in
mich versenken. Gestern irrte sekundenlang ein Fremdes durch Ihren
Blick; dieses Fremden halber erhalten Sie heute statt der gewohnten
Zettel einen so langen Brief, lieber großer Junge, von
Ihrer Mutter. _Roland an Maria._
Liebe Frau Maria, doch, ich habe Mut. | 2,623 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_215 | 394 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Wie immer es auch kommen mag! Sie
lächeln: »Kommen mag?« Was sollte zwischen Ihnen und mir, der immer nur
Einer zwischen Vielen war, kommen? Nichts an mir berechtigte je zu
besonderen Hoffnungen, eher wohl zu besonderen Sorgen. Da waren meine
fünf Brüder ganz andere Kerle, begabt und draufgängerisch. Die erste Tat
in meinem ganzen Leben ist der Besuch bei Ihnen gewesen; ja, _Tat_ muß
ich es nennen. Unbeirrbar, ohne Zögern nahm ich den Weg, der an Ihre
Schwelle führte. Jeden Tag bin ich wiedergekommen, bewußt
wiedergekommen, weil ich entschlossen bin, meine Seligkeit festzuhalten;
Seligkeit, auch wenn sie mich vernichtet. Immer kann ich noch bis drei Uhr der schweigsame Bankbuchhalter sein,
genau bis drei Uhr. Aber dann? Sagen Sie, was bin ich dann? Oberflächlich, nur ganz oberflächlich, möchte ich Ihnen doch endlich
schnell etwas von meinem Werdegang, der nie ein richtiger Werdegang
wurde, sagen. Die Stunde neben Ihnen ist zu schade, Sie von der einzigen
Kunst zu unterrichten, die ich bisher verstand, von der: klein zu
bleiben. --
Meine Eltern sind froh gewesen, als ich mit dem Reifezeugnis nach Hause
kam. Ohne dieses Zeugnis hätte mein Vater mir unter keiner Bedingung
irgend welche Lebenstüchtigkeit zugetraut. Alles, was nicht zu _der_
Reife gehörte, machte einen Jungen in unserer kleinen Stadt lächerlich
und mußte im Geheimen betrieben werden. So wurde jeder Gedanke in glatte
Alltagsbahnen gepreßt. Niemand um mich sprach Silben, die nicht
deutlich, fest und bestimmt ausdrückten, was sie ausdrücken sollten. Kein Wort hörte ich, das zu den Sternen wollte. Ich wurde nicht bleich,
nicht schwermütig, -- nur alltäglich. Das Gefürchtetste bei uns bestand darin, sich irgendwie hervorzutun. Dazu genügte schon ein Hut, welcher anders war, als die Hüte der
Mehrzahl; überhaupt hatten wir immer nur wie die Mehrzahl zu sein. Ausnahmegesetze erkannte mein Vater nicht an. Nie hat, so sehe ich es
jetzt, ein frischer Wind durch unsere kleine Stadt geweht, der ihre
heilige Ordnung hätte bedrohen können. Unantastbar blieb der Glaube an
die Autorität, besonders an die Autorität der Gesellschaft. Mir fehlte,
-- Bismarck rügte es treffend an fast all seinen Zeitgenossen:
Zivilcourage. | 2,204 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_216 | 343 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | In den wenigen Monaten hier habe ich endlich erkannt, daß
in der Wissenschaft, in der Kunst _der_ sehr viel weniger gilt, der
Besonderes zuerst sagte, als _der_, welcher sich als Erster mutig Gehör
zu schaffen verstand, und so weiß ich nicht mehr mit Bestimmtheit, ob
sich unter meiner Gebundenheit nicht doch etwas regen könnte, das mich
wenigstens, -- verstehen Sie dieses »wenigstens« nicht falsch -- Ihnen
näher bringen könnte. --
»Zivilcourage« rufe ich mir also zu und berichte weiter: Verse, die ich
heimlich, als ich noch zur Schule ging, mit Leidenschaft niederschrieb,
hatten meinen Ruf nicht einwandfrei gemacht. Ich sollte ein Schwärmer
sein, ein Träumer, war vielleicht schon auf denselben Abwegen wie mein
Großvater, der -- Mutter vertraute es mir feierlich und warnend und
weinend an -- hinterm Zaum auf der Landstraße zugrunde gegangen ist. Immer wurde mir der Großvater als warnendes Beispiel vorgeführt, nie
aber erfuhr ich deutlich, worin seine Laster eigentlich bestanden haben. -- Zwei Tage hindurch wagte ich einmal einen geschlungenen
Künstlerschlips zu tragen. Das Halloh, mit dem mich Groß und Klein
anbrüllte, ließ mehr als nur den Schlips verschwinden; es duckte mich
klaftertief. -- Bis zum Tode meines Vaters blieb ich in unserer
Kleinstadt, in der Mühle, die langsam das zerrieb, aus dem ich, wäre man
barmherziger damit verfahren, vielleicht ein wirkliches Leben hätte
formen können. -- Hier die wenigen Monate duldeten bisher kein
Umschauen. Ich habe mich zu ernähren, habe mich Aufgaben zu widmen, die,
weiß der Himmel, nicht großartige sind. --
Vielleicht sahen Sie, als Sie mich vor zwei Wochen Ihrer Beachtung
würdigten, den Früheren in mir, den Anderen, nicht _nur_ den simplen
Bankbuchhalter. --
Ich soll jung sein, meinen die Leute; auch Sie sagten es, Frau Maria;
also müßte es wahr sein. Aber sind _Sie_ nicht viel jünger? Sie haben
sich Ihren Glauben an alles Hohe, Ihre Begeisterung für alles Schöne
durch ein gewiß nicht leichtes Leben bewahrt. Wie konnten Sie das? Ich
dagegen? Vielleicht bin ich nie jung gewesen, nie so jung, wie Sie
heute, wenngleich es mir jetzt so leicht erscheint, mit Ihnen die Fahrt
ins Jugendland zu beginnen. Nein, ich _begann_ diese Fahrt nie; gleich
die erste Stunde allein neben Ihnen, Frau Maria, in Ihrem Heim, erweckte
in mir den Wahn, Kühnheit habe von jeher auch mich ausgezeichnet. So
selbstverständlich wird durch Ihre Nähe alles gesteigert. | 2,427 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_217 | 386 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Sie werden zu verstehen versuchen, wie es gekommen ist, daß ich mich so
früh mit einem ungelebten Leben abfand. Vererbung, Erziehung,
Lebensumstände mögen die Sklavenhalter gewesen sein, die gelassen zu
Tode peitschen wollten, was nicht stark genug in mir war, sich jubelnd
aus der kläglichen Gebundenheit zu befreien. Noch kann ich nicht
erkennen, wohin mich die Befreiung führen soll, ob sie erheben oder
vernichten will; jetzt aber, in diesen leuchtenden Tagen, erfüllt sie
mich mit nie gekannter Freude. Sie wünschen keine Liebe, Frau Maria; die meine ist bereits zu groß,
um sie Ihnen verheimlichen zu können. _Sie_ sind so oft in Ihrem Leben
geliebt worden, Sie haben so oft selbst geliebt, daß Sie ein Gefühl
nicht erschrecken wird, von dessen Sterblichkeit Sie, wie Sie mir
versicherten, überzeugt sind. Ich muß Ihnen glauben; denn ich kannte
Liebe nicht. Mir aber bleibt dieses Gefühl für Sie das Wunder, von dem
ich weiß, daß es mich zu großen Taten befähigen _muß_. Welcher Art diese
Taten sein können, -- in wie hohem Grade überflüssig für die Welt, und
wie zwingend ihre Ausübung für mich, -- wir wollen es nicht zu ergrübeln
versuchen. Lassen Sie dieses »wir« gelten; denn, Frau Maria, mögen Sie
auch getreu Ihrer Auffassung von Liebe und Freundschaft und Neubelebung
nicht gerade neben mir zu ungewohnt langem Harren gezwungen werden: zu
früh dürfen Sie Ihren Jünger nicht zum Alleinweiterwandern verurteilen. Nein, das können Sie nicht, auch wenn Sie es wollten. Viele Briefe werde ich Ihnen noch schreiben dürfen, viele noch von Ihnen
empfangen, und die Tür zu Ihrem Zimmer wird sich mir lange noch täglich
für eine Abendstunde öffnen. --
Entdeckte ich doch eine schönere Ausdrucksform für das zitternde
Empfinden, das mich, seitdem ich nur an Sie zu denken vermag,
durchströmt! Diese eckigen, armseligen Worte mißfallen mir gründlich. Viel tausend Grüße sendet Ihnen
Ihr törichter Junge
Roland. _Maria an Roland._
Roland, langsam, wie werdender Frühling, vollzieht sich oft die
Vereinigung von Seelen, aber das Schicksal jagt auch Menschen so rasch
zueinander, wie zwei Blätter, die der Sturm von entfernten Bäumen riß,
um sie dann in dieselbe winzige Erdfurche zu wehen, auf ein so kleines
Fleckchen Erde, als sei nirgends sonst Raum gerade für diese beiden. _Wir_ sind wohl dem letzten Tempo untertan. Wir! Verstehen Sie nur
dieses »wir« nicht falsch. Sehen Sie es nicht als ewig Bindendes an;
immer wieder möchte ich es Ihnen wiederholen. | 2,475 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_218 | 393 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Zwar sagten Sie mir: »Auch
die Schmerzen, die mir durch Sie kommen, will ich segnen.« Aber, großes
Kind, Schmerzen sind schwer, ach, sehr schwer zu segnen. Deshalb
erinnere ich wieder und wieder an mein erstes Warnen und an -- meine
Jahre. Trotzdem kann ich nicht das »wir« streichen, gehören ja auch Sie
zu jener kleinen Schar, für die das Dasein anders gefärbt ist, wie für
jene, die in die Welt passen, wie für die Urgesunden, die unserem
feinsten Fühlen fremd und überlegen lächelnd gegenüberstehen. Aus der
Vereinzelung will ich Sie erlösen, die Einsamkeit für Sie fruchtbar
machen. _Mehr_ will ich nicht. Glauben Sie mir, immer wird es Menschen
geben, die sich wie durch graue Fluten bewegen. Musik erfüllt sie, doch
sie empfinden sie wie Dissonanzen. Harmonien erklingen ihnen kaum, weil
sie tastend vor allem zurückweichen, was so anders, so ganz anders in
ihnen schluchzt und klagt und frohlockt, als das Glück der Vielen. Und
aus der Entsagung, die sich langsam in sie schleicht, wird Erstarrung
oder Verbitterung. Sie wissen nichts von Leidensgenossen; sie kennen
_nicht_ sich selbst oder _nur_ sich selbst. All ihr schmerzliches Fragen
verhallt ins Leere, bis ein Wunder geschieht: Eine Seele erschließt sich
der ihren. Dann aber werden aus allen verirrten Klängen köstliche
Melodien. Die grauen Flächen um sie verwandeln sich in schimmernde
Fluten. Brennende Blutwellen steigen in ihnen empor, röten ihre Wangen,
stiller Jubel umfängt sie, ein Fremdes durchdringt sie, von dem sie
nicht wissen, ist es Schmerz oder Wonne. In Dämmerferne tauchen für sie
lichte Türme empor. --
Lieber Junge, ähnlich einem Windhauch, der über stilles Wasser streicht,
so möchte ich zu Ihnen gekommen sein, oder wie ein Silberschein, der
über dunklem Gebirge schimmert. Schließen Sie die Augen, und erkennen
Sie, _wovon_ wir leben in all dem Geräusch von Komödien jeglicher Art. Maria. _Roland an Maria._
Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern, daß mein ganzes Sein
Ihnen gehört, in jeder Minute, in jeder Regung, in jedem Empfinden. Nur
das schwingt in mir weiter, was mit Ihnen im Zusammenhang steht; _Sie_
nur kann ich fühlen, nur die Wärme, die Ihre Seele ausströmt und
entfacht. Sie sind, während ich fern von Ihnen bin, mit so vielen Menschen
zusammen, und mit allen sind Sie gütig, und Ihre Stimme klingt mit jenen
kaum anders als mit mir. Ich aber habe nur Sie, Maria. | 2,382 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_219 | 387 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Sie wissen ja
nicht, was es in sich schließt, dieses: »nur Sie«, was es bedeutet, nur
einen einzigen Menschen zu haben. Ihre Stimme ist die erste
_menschliche_ Stimme gewesen, die ich in meinem Alleinsein je vernommen
habe: Verschollene Möglichkeiten aus den Tagen meiner Kindheit richten
sich auf, Möglichkeiten, die meinem Gedächtnis vollständig entschwunden
waren. Wollte auch ich einst großen Zielen zuwandern, und konnte doch so
rasch am Wege zusammenbrechen? Heute ist mir jeder Nerv kraftgestählt. _Sie_ haben diese Kraft geweckt, also sind _Sie_ es, die mich geschaffen
hat. Ist es nicht natürlich, daß am Anfang das Geschöpf nur von seinem
Schöpfer weiß? Frau Maria, erkennen Sie in mir Ihren Schüler; denn wie käme _mir_ sonst
dieses »am Anfang« in den Sinn, mir, dem allein die Vorstellung an einen
Wandel Lästerung dünken müßte? Der erste Beweis meines Werdens kann
nichts als -- Auflehnung sein. Genügt Ihnen die Probe? Mögen Sie es
hundertmal verneinen: es _muß_ eine Liebe geben, für die es kein »am
Anfang« gibt und kein »am Ende.« Auf _den_ Jugendglauben mache ich
Anspruch. Ja, ich behaupte: All Ihr Liebesfühlen entbehrte unantastbarer
Echtheit; denn nur, wenn Menschen alles vergessen müssen, was die
Ewigkeit ihrer Liebe bedroht, ist ihre Liebe echt, ich meine,
unveränderlich wie ein echter Edelstein. _Sie_ haben nie alles vergessen
wollen oder vergessen können, das hat Ihr Lieben beraubt. Sind Sie denn
nie von der Leidenschaft zu einem Menschen besessen worden wie der
Märtyrer von seiner Idee, auch wenn deren Verwirklichung ihn mit
Sicherheit aufs Schaffot führen mußte, sicher und gewiß auf den
Scheiterhaufen? Ich bettle nicht. Meine Seele ist still, weil es keine Grenzen für die
Stärke ihrer Liebe gibt. Ich werde Sie gewinnen, ganz mir gewinnen,
Maria, liebste aller Frauen. Ihr, Ihr Roland. _Maria an Roland._
Unverbesserlicher, was wollen Sie mit mir »für Zeit und Ewigkeit«
anfangen? Erinnern Sie sich an das Entsetzen Ihrer früheren Mitbürger
über Ihre »Abwege«. Und auch andere werden Sie nicht verstehen. Vielleicht werden Sie selbst sich in zehn Jahren unbegreiflich geworden
sein. Nein! Sie und ich! Die Natur kann Ihr Herz für mich nicht
gebieterisch dauernd entflammen. Aber -- hören Sie mein Bekenntnis: Ich
muß auf der Hut sein, mich von _Ihren_ Irrungen nicht locken zu lassen,
obwohl ich zu ahnen beginne, daß die herrschende Sitte verantwortlicher
für unsere Unvereinbarkeit zu machen sein könnte als die Natur, deren
Walten wohl auch zwischen uns »von Gottes Gnaden« ist. | 2,523 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_220 | 396 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Wenn Liebe die größte Steigerung der in uns ruhenden Kräfte und
Möglichkeiten schafft, dann -- erwidere ich Ihre Liebe. Ich sage Ihnen
dies ganz ruhig, nur wie die Feststellung einer Tatsache. Hoffen Sie
nicht, daß ich mich Ihnen wie eine Lebensanfängerin in die Arme stürzen
werde. Nein, an Ihnen vorbei will ich mich _noch_ tiefer, _noch_
restloser meiner Kunst hingeben. --
Aber sprechen wir von etwas anderem, sprechen wir von Ihrer »Rüge«. Ja,
im Fache: »briefliche Fragen beantworten« hat meine Zensur immer
»mangelhaft« lauten müssen. Ich weiß es. Zwischen uns dürfte wohl das
tägliche Sehen als Milderungsgrund mit in Betracht zu ziehen sein. Eine
Stunde täglich! Ist das nicht unerlaubter Reichtum? In mir wird die
Neigung, mich in Briefen zu erschließen, besonders durch den noch nicht
verflogenen Hauch der persönlichen Nähe des mir teuren Menschen
gesteigert. Nun sind Sie also dieser »Teure« für unbestimmte Zeit. Genügt Ihnen das? Sie Unerfahrener wissen eben nicht, wie rasch ein
neues Erlebnis Sie von mir wegtreiben könnte. Ihrer ungelebten
Vergangenheit traue ich nicht. Sie müssen nun doch erkannt haben: das
Leben ist voller Verborgenheiten. _Ich_ wäre ohne diese Verborgenheiten
verschmachtet. Auch Sie werden zu lauschen beginnen, ohne zu wissen,
worauf Sie lauschen. Der Strom, in den unser Fühlen und Denken gleiten
kann, liegt vor uns selbst in Dunkelheit. Mit dieser schönen
Unsicherheit -- oder ist sie doch vielleicht nicht schön? -- sollte
jeder Mensch rechnen, der das beseelte Leben liebt, nicht nur der
Künstler, dem jede Stunde neue Empfängnis aus unerforschten Gründen
zufluten lassen kann. Schon oft habe ich Sie bedauert, daß Ihre erste Liebe gerade mir gilt;
denn unerbittlich muß ich zu Zeiten meiner künstlerischen Bestimmung
gehorchen. (Sie ist nur _einer_ der vielen Gründe, die Ihre Liebe zu
einer unglücklichen machen muß.) Ich _kann_ dann nicht fragen, tue ich
Ihnen oder anderen Menschen, die zu mir gehören, wehe. Alles sonst
Wesentliche scheint ausgelöscht, wenn auch ein helles Erinnern unbewußt
durch mein Werk fließen kann. Kann! -- hören Sie? -- kann, nicht muß. Des Künstlers Reich ist wahrlich nicht von dieser Welt. Einer
unnennbaren Gewalt hat er sich zu beugen, den Ueberraschungen einer
elementaren Kraft sich hinzugeben, von der er nicht weiß, wohin sie ihn
zwingen kann. Im Schaffensdrang betrügt er seine Nächsten. Nein, er
betrügt sie nicht; denn er weiß nichts mehr von ihnen, sobald er sich
ganz in seine Kunst verliert, sobald er sich von ihr willig und freudig
umschlingen läßt. | 2,545 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_221 | 399 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Nur während der Pausen, in denen er diesen
Schaffensrausch für erstorben und erstickt hält, vermag er mit den
anderen Schritt zu halten, die besser, viel besser sein können als er,
die er lieben und bewundern mag, und von denen ihn doch sein Anderssein
trennt, vor denen er oft geradezu auf der Flucht sein muß, wenn er
_sich_ bewahren will. Was bedeutet dagegen körperliche Hingabe? Sie kann
die Verirrung einer Stunde sein. Wir Künstler, wir, die wir eigentlich
nur leben, solange wir maßlos in unserem Empfinden schwelgen, sind die
gefährlichsten Täuscher. In jedem Dunkel können für _uns_ Funken
flammen, die uns zu Lichtstegen gen Himmel werden. Daß diese Lichtbahnen
immer wieder zu Boden sinken müssen, verringert ihre Schönheit nicht. --
Könnten doch auch Sie, Roland, diese Lichtstege gewahren! Seit gestern nenne ich Sie im stillen nur noch: Meine Ueberraschung! Leicht zu deuten, nicht wahr? In jedem Ihrer letzten Briefe, in jeder
unserer Stunden lösen Sie mit überraschender Natürlichkeit, mit
sprunghafter Schnelle das, was Sie neulich Ihre »Gebundenheit« nannten. Frei von gewollter Anempfindung wird Ihre Ausdrucksform der meinen
seltsam ähnlich, und doch gleiten Sie überraschend leicht und mühelos in
geistige Selbständigkeit hinein. Ohne heroisches Kämpfen stehen Sie
plötzlich am anderen Ufer. Ich muß also anfangen, bei Ihnen schon jetzt
mit unvorherzusehender Unerschrockenheit zu rechnen. »Meine
Ueberraschung« nenne ich Sie aber auch deshalb, vielleicht mit noch viel
größerer Berechtigung, seitdem ich fühle, daß eine höchst
unwahrscheinliche Veränderung in raschestem Tempo auch -- mich bedroht. Maria. _Roland an Maria._
Maria, aller Frauen liebste, ich verstehe, was Sie mir zu erklären
versuchten, verstehe es, wie wenn ich zu denen gehörte, die den Menschen
etwas zu geben haben. Hat die Schwungkraft, mit der Sie mich behexten,
vielleicht meinen Kopf verwirrt? Ich begriffe es, wenn diese
unerwarteten Merkwürdigkeiten dem Bankbuchhalter Roland total die
Besinnung raubten. Nie wieder wird er so ruhige Tage durchdämmern wie
einst. Maria, welch ein Glück ist meine -- Verirrung. Rasch muß ich Ihnen aber von einem unerklärlichen Traumspiel -- oder
Trancezustand? -- berichten, den ich erlebte, nicht etwa erfand: In
dieser letzten meiner jetzt fast stets schlaflosen Nächte vernahm ich
plötzlich deutlich eine Stimme, die mir Worte, viele Worte zuraunte. Nur
wie ein Raunen wars, vielleicht kam es garnicht aus fremder Seele --
vielleicht aus der meinen. Ich schrieb unter einem seltsam
unerklärlichen Zwange Worte nieder, in denen sich heute in hellem
Tageslicht der Widerhall meines eigenen Gefühls offenbart. | 2,645 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_222 | 396 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Erinnern Sie sich, daß ich jüngst von den eckigen Worten sprach, von der
unvollkommenen Form für ein so gewaltiges Empfinden, wie das meinige für
Sie? Wäre es möglich, daß ich, ohne es zu wissen, im Besitz jener Form
gewesen bin? Ich vermag dieses Glück nicht durchzudenken; ich darf diese
Vorstellung nicht nähren, sie wäre Wahnsinn -- --
In Ihrem Zimmer, neben Ihnen, möchte ich Ihnen das kleine Lied vorlesen,
von dem ich nicht weiß, ob es »etwas« sein könnte, von dem nur eines
gewiß ist: es entströmte der Wonne meines überseligen Herzens. Ihr Roland. _Maria an Roland._
Mein Junge, während mein Blick wieder und wieder auf das Blatt mit
Deinen großen, steilen Buchstaben fällt, vernehme ich den Ton Deiner
Stimme, die bebend und doch schicksalsergeben hier in meinem Zimmer noch
jetzt zu verkünden scheint:
»Wie heißer Kuß ist oft das erste Du --
Zwei glühende, von Sehnsucht schwere Herzen,
Die zitternd brennen wie geweihte Kerzen,
Sie sinken taumelnd sich einander zu. Und war doch nur ein altgewohntes Wort,
Das oftmals achtlos floß von ihren Lippen,
Und reißt sie nun -- hin über Fels und Klippen --
Ins unermessne Meer der Liebe fort -- --«
Mit einem so gewaltigen Uebermaß von Glück überströmten mich Deine
Verse, daß ich garnicht zu mir selbst zurückfinden möchte -- nicht so
rasch zurückfinden; denn, zurück muß ich ja doch, zurück. Dein Lied, das mich erschreckt und erschüttert hat und aufgewühlt bis
ins tiefste Innere, täuscht noch immer den Atem Deiner Nähe vor --
obwohl Du mich vor einer Stunde verlassen hast. -- Aber sagen? Was
könnte ich Dir über die Wirkung (welch eine lächerliche Bezeichnung)
dieser zwei heißen Verse _sagen_? Roland, ich, die ich bisher stets im Fluge mein Wollen und Wünschen,
mein Empfinden auszudrücken vermochte, habe eine Weile auf das leere
Blatt gestarrt und nicht gewußt, was ich Dir schreiben könnte. Auch mich
bedrückt die Armseligkeit meiner Worte, genau wie Dich die Deine. --
Nicht nur Deine Verse erweckten in mir den Wahn, ich hätte noch nie
einen Frühling erlebt wie diesen. Dein Glaube an mich stimmt mich jetzt
immer feiertäglich. Du hast -- verzeihe den etwas pathetischen Ausdruck
-- mein Weltbild ganz verändert. Offenheit ist mir zwischen Menschen, die ich _mein_ nenne, stets so
natürlich, so naturgewollt erschienen wie das Erblühen einer Knospe. Ich
denke aber nicht an das vergröbernde »sich alles sagen«; nein, der
Wesenszug, den ich meine, ist zarteren Ursprungs. | 2,458 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_223 | 399 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Das von dem
veränderten Weltbilde mußte ich Dir also berichten. Dagegen halte ich es
für gefährlich (ich meine niederziehend) über jeden alltäglichen
Kleinkram und Kleinkrieg miteinander zu sprechen. Dergleichen schweigt
man tot, redet es nicht »lebendig.«
Oft ist unser Gespräch tief in die Tage Deiner frühen Jugend geglitten. Deine Kindheit, die von Verkennung und seelischer Erniedrigung ganz
erfüllt war, mußte in Deine Brust Aengste und Entsetzen schleudern,
deren Spuren unverlöschbar sind. Meine Kindheit glich einer langsam
aufsteigenden Morgenröte. Wieviel ich dieser Sonne schulde, weiß ich
erst, seitdem mir so viele, ganz verschieden geartete Menschen von
Fangarmen sprachen, die sich ihr ganzes Leben hindurch nach ihnen
ausstreckten, oder die sich an sie krallten, und die doch nichts anderes
waren als Hemmungen und Verängstigungen aus den Tagen ihrer frühen
Jugend. Die schlimmsten Morde sind unsichtbar und bleiben
straffrei. -- --
Mein lieber Junge, schon oft erfuhr ich es an mir: jedes tiefe Lieben
verstärkt unsere Eigenliebe. Oder weißt Du einen besseren Ausdruck für
diese Ichsucht? Vertausendfacht ist die Bedeutung der eigenen
Persönlichkeit vor uns selber. Was sind wir? Sind wir liebenswert? Anscheinend längst verlassene Kalvarienwege liegen plötzlich wieder
grell beleuchtet neben uns, Stationen, die wir für alle Zeit verlassen
zu haben wähnten, tauchen auf und fordern gebieterisch erneutes
Erinnern. Nie bin ich mir so fremd gewesen wie in den letzten Tagen. Wohin
entschwand das Erschrecken über ein Gefühl, das so vieles fortschwemmen
konnte von dem, was ich bisher kühn »meine Ueberzeugung« nannte? Bist Du je auf taufrischem Waldpfad dahingewandert, ganz hingenommen von
morgendlicher Stille -- und dann plötzlich kam eine schroffe Wegbiegung,
tosender Sturm brach an und schleuderte Dir Hagelschlossen in die Augen? Wir wissen oft nicht, welches Schauspiel plötzlich eine unbekannte
Gegend vor uns aufrollen könnte. Wie sollten wir auch auf der weiten
Erde so genau Bescheid wissen? Und dennoch mögen wir in ihr besser auf
Naturerscheinungen vorbereitet sein, als in der engbegrenzten Welt
unseres eigenen Herzens. Wir wissen nicht, welche Summe an vorher
ungeahntem Empfinden noch in uns schlummert, welcher Steigerung unsere
Seele fähig ist, welchem Brausen unser Blut unterworfen sein könnte,
wieviel unerlöste Seligkeiten unsere Brust birgt. Roland, wie
selbstherrlich bin ich doch gewesen! Ich lächle über mich -- --
So oft ich Deinen täglichen Brief nun in Händen halte, verflüchtigt sich
alles irdisch Lastende. Für Augenblicke ist mein Zimmer in rosiges Licht
getaucht, oft nur sekundenlang. | 2,641 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_224 | 388 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Und doch verdanke ich diesen paar
rascheren Herzensstößen eine nicht zu erschütternde Siegesstimmung für
beschattete spätere Tagesstunden. Konnte ich Dir trotzdem gestern
erklären, daß dieses _häufige_ Schreiben »nicht nötig« sei? Ich
widerrufe, -- ach, wie viel von meiner trügerischen »Abgeklärtheit« habe
ich zu widerrufen! Hoffentlich überzeugte ich Dich nicht gestern. Das
wäre traurig. -- In der singenden Stunde dieses Abends, im Lindenduft,
der durch die weitgeöffneten Fenster flutet, im Weiterbeben Deines
Liedes in mir, empfinde ich die Möglichkeit Deines Schweigens wie ein
Unglück. Drei Tage keinen Brief von Dir zu wollen, hieße dreimal ein
beseligendes Heute selbst ermorden. Wie konnte ich glauben, ich bedürfe
nicht täglich von neuem der Versicherung, daß ich Dir herrliche Welten
geschaffen habe, daß es nicht mehr derselbe Himmelsraum ist, der über
Dir glänzt, nicht mehr dieselbe Nacht, die Dich in ihre Finsternis
hüllt? Als ob man Liebe überhaupt begriffe! Schreiben wir uns denn, weil
wir uns schreiben _wollen_? Schrieben wir uns denn bisher nicht, weil
wir einander schreiben _mußten_? Sind diese Bangnisse und Erhebungen --
Briefe? Glauben wir doch uns dieses Ueberflüssige gerade dann offenbaren
zu müssen, nachdem wir eben einander ins Auge geschaut; und dünkte uns
dieser Nachhall nicht gerade dann notwendig? _Der_ Tag, an dem ich
aufgehört haben werde, auf Deinen Brief zu _warten_, erscheint mir heute
tödlich. Wäre ich in Deinem Alter, so glaubte ich, daß dieser Tag _nie_
kommen kann. Aber, Roland, lieber Junge, ich bin _so_ weit entfernt von
Deinem Alter. _Ich_ weiß um die raschen Todesfahrten der Liebe, weiß,
daß sie königlich aufbaut und kalt niederzureißen vermag, daß sie Helden
und Märtyrer schafft, daß sie durch Palmenhaine geleitet und in
Eisesgrüfte stößt, weiß, daß Liebe eigentlich stets in Lebensgefahr ist. Ja, all dieses weiß ich und kann doch der Versuchung nicht widerstehen,
die kaum vernehmbar mir unermüdlich in den letzten Tagen zuhaucht, daß
sie wieder ein Recht habe, sich geltend zu machen, dasselbe Recht mich
zu überglühen wie die Sonne. Oder sollten konventionelle Bedenken die
Sonne verdunkeln können? Ich habe kein Talent zur Zaghaftigkeit, gar
kein Talent zum Verarmen. Vielleicht stellte mich eine weise Fügung
wieder einmal in einen Lebens-Brennpunkt. Man muß sich ja nicht über
jede kurze Wonne »im klaren« sein. Ich bange nicht mehr! Mir ist dieses
ahnungsschwere Zittern Wirklichkeit genug; nach keiner anderen
Wirklichkeit wird meine Liebe zu Dir je verlangen. | 2,534 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_225 | 385 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Maria, vielleicht doch _Deine_ Maria? _Roland an Maria._
Maria, wie hat Dein Brief mich beseelt. Ich lebe nur ganz in der
Gegenwart; in dieser Fähigkeit entdeckte ich das Geheimnis der
Lebenskunst. Ich glaube, Cromwell war's, welcher ausrief: »Der kommt am
weitesten, der nicht weiß, wohin er geht.« Die Vergangenheit ist in mir
untergegangen, mein einstiges einförmiges Leben scheine ich nie gelebt
zu haben. Was kümmert es mich, wohin eine Welle mich schleudern will? Ich weiß nur von dem einen, Dich täglich sehen, Deine Stimme täglich
vernehmen zu müssen, ein wenig Deine Hand täglich streicheln zu dürfen. Frei und sicher bewege ich mich, wie nie vordem. Tiefe Hingabe an ein
neues Lebensgefühl wandelt mir alles zu Ueberraschungen, deren
wundersamste die ist, selbstschöpferisch die Welt zu empfinden. Auch
dieses: »selbstschöpferisch« ist eine Huldigung für Dich, Maria;
vielleicht, Deiner Auffassung entsprechend, die wertvollste. _Deine_
Lebenskraft konnte übertragbar sein wie Fieber, das Funken und Flammen
sehen läßt, auch dort, wo nüchternere Menschen nur graue Asche gewahren. Solltest Du dennoch Recht haben, daß dieses Fieber vergehen könnte, ohne
daß der Wille Gewalt darüber hat? Glaube, mein Wille hätte über eines
mit Gewißheit Gewalt: Ueber den Tod. Ich ließe mir nicht die Welt
entheiligen. --
Willst Du anderes hören, denn nur von meinem Empfinden für Dich? Könntest Du dieses Gesprächs je müde werden? Maria, laß _das_ Meer
brausen, aufschäumen, toben, von dem _Du_ erfahren zu haben glaubst,
auch seine höchsten Wellen konnten verebben. Wie vertrugst Du in
ständiger Wiederkehr solch Verarmen? _Muß_ man denn nicht daran zu
Grunde gehen? Du bemühtest Dich gestern, mir wieder klar zu machen, daß Du mich trotz
allem nicht an Dich zu fesseln wünschst. Dieses Gefesseltsein ist nicht
mehr in Deine Macht gegeben. Ob Du es willst oder nicht: ich bin bei
Dir. --
Zum Lied wird der Strom, der von Dir zu mir dringt. Verse tönten auch
heute Nacht in mir, aber ich weiß nicht, ob es der Mühe lohnt, sie Dir
zu senden. Roland -- nur noch _Dein_ Roland. _Maria an Roland._
Mein Junge, hatte ich nicht doch einen vorahnenden Geist, der mich
fühlen ließ, Du würdest -- allmählich, plötzlich, gleichgiltig wann und
wodurch -- die Welt mit den Augen des Schaffenden betrachten? Ich dachte
damals nur an die Kraft _des_ Dichtens, die sich darin äußert, sich die
Welt nicht verstümmeln, vergällen, verbittern zu lassen. Ich dachte an
innere Unverletzbarkeit, an Sonnenblicke, die nie erlöschen können. | 2,518 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_226 | 397 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Du schliefst, bist erwacht, bist entfesselt; Dein Leben beginnt. Was
konntest _Du_ von der _Welt_ verlangen, solange Du selbst nicht bereit
warst, _Dich_ ihr zu geben? Nun bist Du bereit, das verändert alles. Aber, daß Deine dichtende Seele sich immer wieder nur mir zuwendet,
ist eine Gefahr für uns beide, und doch ist meine Kraft nicht mehr so
stark, wie am Beginn, um Dich dieser Gefahr entreißen zu können. An
Unwandelbares dachte ich ja niemals, Du weißt es; vielleicht aber begeht
Kälte größere Sünden als Leidenschaft. Ich fange an, die Hoffnung
aufzugeben, wir Menschen könnten dieses unübersehbar tiefe Gefühlsfeld
je auch nur annähernd richtig ergründen. --
Gestern sollte ich Dir erklären, wie es möglich gewesen, daß keine
Lebensverwundung mir mein Lächeln nehmen konnte. Natur -- die eigene --
und Geschick waren meine Helfer. Mir ging es genau wie jener Greisin,
von der ich Dir jetzt erzählen will. Sie saß träumend auf einem Stein an
blühendem Feldwege, als ein Sonnenstrahl sie fragte:
»Wann habe ich Dich doch zum ersten Male beobachtet? Ja, ja, ich
erinnere mich, damals, als Dir kein Baum zu hoch war, hinaufzuklettern;
Du warst eben in die Schule geschickt und konntest das Stillsitzen nicht
leicht lernen.« --
»Ja, damals,« lächelte die Alte --
»Und weißt Du, wann ich Dich wiedergesehen habe? Dir flogen lange Locken
um den Nacken und Arm in Arm wandeltest Du mit »ihm« durch blumige
Wiesen« --
»Ja, damals,« wiederholte die Alte --
»Und später sah ich Dich, als Du beseligt ein Kindchen durch Deinen
Garten trugst -- als Du wähntest, Mutterglück mache unverwundbar« --
»Ja, damals.«
»Und wieder strahlte ich Dich an, als Du Dich um eine Schar armer,
verwahrloster Menschen bemühtest« --
»Ja, damals,« lächelte gütig die Greisin --
»Und einige Jahre später sah ich Dich, da gingst Du schon nicht mehr
ganz so aufrecht, und deutlich zeigten sich graue Haare« --
»Ja, damals,« lächelte die Alte --
»Und dann begegnete ich Dir mehrmals auf Friedhöfen« --
»Ja, damals,« wiederholte versonnen die Alte --
»Und nun scheine ich schon lange über Deinen schneeigen Scheitel, und
längst hast Du das Tanzen verlernt, und viel hast Du zurückgeben müssen
von dem, was Dein war an Glauben und Glück, und fast immer finde ich
Dich allein, aber noch hast Du Licht in den Augen. Sage mir, Alte,
worüber kannst _Du_ noch lächeln? Andere, wenn sie in Deine Jahre
gekommen sind, klagen und seufzen. | 2,417 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_227 | 397 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Du jedoch, deren Antwort immer nur
ein »damals, ja damals« war, Du _lächelst_ --?«
»Das wundert Dich, Strahl, der Du das Licht zu sein glaubst? Fühlst Du
denn nicht, daß jedes »damals« von einem Besitz -- einer Wonne -- einer
Seligkeit -- einem Vertrauen -- einem Glauben -- einer Stärke zeugt? Und
ich sollte nicht lächeln, so oft ich mich sinnend wieder in all diesen
Reichtum verliere? Aber nicht nur Erinnerung ist's, aus der mein Lächeln
geboren wird: Solange auch nur _ein_ Wesen zu mir gehört, um das ich
mich sorgen _darf_, solange ich zu erkennen vermag, daß Kämpfer leben,
die sich bemühen, die Welt gesünder und die Menschen größer zu machen,
solange kann _mein_ Lächeln nicht sterben -- -- --«
Roland, lieber Junge, ist diese Alte nicht meine Blutsverwandte? Kämpfe
auch Du mit all Deines Herzens Glut und Kraft immer von neuem für die
Menschheit, ganz besonders dann, wenn Du Dich von eigener Mühseligkeit
und Belastung befreien willst. Die Verteilung der Güter ist gar nicht so
ungerecht, als sie vielen bei nur oberflächlicher Betrachtung erscheint;
denn -- nur ein Beispiel: Wessen wäre die Schuld gewesen, -- oder wie
immer ich die Unterlassung nennen sollte -- wenn Du Dich weiter mit
schwacher, wesenloser Sehnsucht beschieden hättest? --
Komm so früh Du kannst; ich warte. Maria. _Roland an Maria._
Einzige, ich weiß nicht, ob Du auch das verstehen wirst: Mit der
Leidenschaft für Dich ist der Glaube zusammengeschmiedet, irgend etwas
vollbringen zu müssen. Stelle ich mir vor, wieviel Jahre ich ohne Dich
sein konnte -- ich sage nicht _leben_ konnte -- so fasse ich es
allenfalls. Man kann ja auch in der Dürre ein Dasein fristen; toben aber
möchte ich darüber, daß es mir an Denkmut gebrach, mir ein einziges Tor
aufzustoßen. Für _jeden_ ist doch _sein_ Tor da, _nur_ aufzureißen muß
er es verstehen. Dieser Lahmheit schäme ich mich vor mir selbst am
meisten. Welch ein Schwächling war ich! Kaum etwas wie Träume hatte ich
noch zu begraben! Hin und wieder, ganz selten, während ich mechanisch
einige Augenblicke auf die vielen Zahlenreihen vor mir starrte, streifte
mich flüchtig die Vorstellung: gleichgiltig -- gleichgiltig -- einmal
wird es kommen. Aber nichts tat ich, dieses »einmal« in meinem
Bewußtsein wenigstens zu klären. --
Vergiß nicht, Maria, auch wenn ich von mir spreche, spreche ich
eigentlich von Dir. | 2,347 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_228 | 385 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | In meiner Brust muß »es« doch gewesen sein, weshalb
konnte ich es nicht allein aus den Schalen schlagen, in die es sich
verkapselt hatte? Wie konnte ich mich so gelassen in die trostlosen
Willkürlichkeiten des Alltags finden? Kunst! Kunst! Mit welchem Recht weise ich die Vorstellung nicht mehr wie
Einfältigkeit oder Wahnsinn von mir, daß sie mich an sich bannen will,
daß ich auf meine Weise eine Sekunde lang _in die Zeit_ einzugreifen
habe? Fragen, nichts als Fragen, als überflüssige Fragen, deren Qualen
von Seligkeiten doch nicht zu unterscheiden sind. --
Dies alles schreibe ich Dir in seelischer Scham. Mit dem gleichen, nein,
hundertfach verstärkten Empfinden bitte ich Dich, beigefügtes Gedicht
als Dein Eigentum zu betrachten. Es ist wieder ganz im Gefühl des
Triebhaften entstanden; ich selbst kann nicht beurteilen, ob es mir
gelang, die Macht und die Echtheit der Empfindungen, aus denen es
geboren, so zum Ausdruck zu bringen, daß es zitternd in Dir nachklingt. _Keinen anderen Ruhm könnte ich je erstreben als den, einen Widerschein
in Deinen Blicken aufleuchten zu sehen -- keinen sonst_ -- --
Gestern, nachdem ich Dich verlassen, las ich wieder einmal Deine Briefe,
um den Strom von Güte, menschlichem Verstehen, Reinheit und -- tiefster
Zärtlichkeit zu fühlen, der von Dir ausgeht. Von der Macht dieser
Zärtlichkeit scheinst Du selbst nichts zu wissen, von dieser stillen
Innigkeit, die soviel bindender ist als Du es weißt und -- als es Dir
erwünscht ist. Geliebteste, Du bist krank, nur wenig krank, aber ich darf Dich nicht
sehen. Schreiben konntest Du heute auch nicht. Meines täglichen Brotes
bin ich beraubt. Nur solange meine bisher ungesungenen Lieder sich wie
frohe Sieger ins Leben drängen, ertrage ich die Oede der Tage. Mit dem,
was in meinen besten Augenblicken sich in mir erhebt, kann ich nicht zu
Dir stürmen. Aber immer sehe ich Dich dennoch, ich suche Deine Hand,
meine Lippen neigen sich auf Deine schlanken Finger. Glaube mir, Maria,
nie ist eine Frau schwärmerischer und doch auch mit tieferer Ehrfurcht
geliebt worden als Du. Vergiß nun endlich, daß wir mit der herrschenden
Gesellschaftsordnung in Konflikt geraten sind. Was liegt daran? Fürchtest Du plötzlich Dein Sondergepräge? Unmöglich: eine Natur wie Du,
muß, solange sie lebt, in gewissem Grade unabgeschlossen bleiben. Dein
Erschrecken paßt nicht zu Dir. Lasse Dich überzeugen. Noch in zehn
Jahren, nein, in zwanzig Jahren wirst Du nicht vor Umwälzungen in Deinem
Innern sicher sein. | 2,487 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_229 | 396 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Was wußtest Du denn mit Bestimmtheit? Etwa, daß
_ich_ Dir eine neue Brücke für die Zukunft werden könnte, ich, der
Unbelebtesten einer? Du süße Warnerin wußtest ja auch nicht aus eigener
Erfahrung, daß Liebe das Rätselvollste ist und mit der Bedeutung oder
dem Wert dessen, was der andere ist, nicht im Zusammenhange stehen
muß. --
Die beiden Tage ohne Dich haben mich zum Grübler gemacht. Solange ich
denken kann, hat niemand dem, was ich fühlte, edle Teilnahme zugewandt;
-- vielleicht Alltags-Teilnahme, aber was bedeutet sie? Oft mehr Hemmung
als Befruchtung. Tausendmal werde ich es Dir wiederholen müssen: »Da
fing mein Leben an, als ich Dich liebte.« Du allein, nur Du, Maria,
konntest mich aus der Zufallsgemeinschaft mit den Vielen erlösen. Anfangs war es nur Deine mütterliche Heiligkeit, die mich zu Dir trieb. Noch kann ich Dir die Sekunde genau bestimmen, welche die erste leise
Verschiebung hervorgerufen hat. Ich stand vor Dir, wie so oft bereits;
Du sprachst anspornend, anfeuernd mit mir. Nichts hatte sich verändert. Da -- plötzlich war's, als sähe ich überall, wohin ich blickte,
blühende, glühende Rosen. Eine seltsam verwirrende Beklemmung zitterte
minutenlang in meiner Seele. An diesem Tage kam ich zum ersten Male
nicht mehr von meiner Mutter -- nicht mehr _nur_ von meiner Mutter. Stundenlang wanderte ich nachher am Kanal entlang. So schön, nein, so
schön war die Erde nie: alle Leute schienen Menschen geworden, die ihre
störenden Eigenschaften abgelegt hatten. Für immer glaubte ich von allem
Gewohnten und Gewöhnlichen befreit zu sein. -- Ich konnte mich nicht
entschließen, das hohe Mietshaus zu betreten, in dem ich wohne; zu weit
bin ich allem entrückt gewesen, was zwischen Mauern sein Dasein fristen
kann; ringsumher in der Luft schimmerte ein Schein, der den Tag kündete,
obwohl ich wußte, daß noch viele Stunden bis zum Sonnenaufgang verrinnen
mußten. --
Werde ich morgen, endlich, endlich wieder das Rauschen Deines Gewandes
vernehmen? Werde ich Deinen Blick fühlen, der tief und zärtlich in den
meinen sinkt? Werde ich, ehe ich noch bei Dir sein darf, meine Lippen
auf die Blätter eines Briefes pressen können? Maria, Sancta Maria, ich liebe Dich grenzenlos. Dein, immer, immer
Dein Roland. _Nachschrift:_
Das Gedicht, welches ich mit ins Kuvert lege, bewerte nicht kritisch,
nur Dein Herz soll von seiner Echtheit ergriffen werden. | 2,381 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_230 | 375 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Mein Weg zu Dir -- wie den ich deuten soll? Von bunten Blüten ist er übervoll,
Die leuchten, wo mein Fuß auch immer schreitet,
Und goldner Glanz ist über sie gebreitet. Kein nüchternes und graues Häusermeer
Seh ich auf meinem Wege um mich her:
Umspielt ist alles rings von lichtem Schimmer --
Die Menschen, die ich treffe, lächeln immer --
Und lächelnd schau ich ihnen ins Gesicht:
So scheinen sie verklärt vom gleichen Licht,
Das wohl aus meiner trunknen Seele strahlt
Und alles, alles glühend übermalt. Die letzte Straße ist von Deinem Bild
So ganz durchleuchtet und so ganz erfüllt,
Daß Traum und Wirklichkeit sich in mir eint:
Ist es denn Wahrheit, was wie Traum mir scheint? Daß Deine Sehnsucht mir entgegenbebt,
Daß Deine Seele für die meine lebt,
Verschwenderisch von ihrem Reichtum schenkt,
Und -- ganz von Zärtlichkeit für mich durchtränkt --
Mit ihrer sanften Güte mich umhaucht? Mein Weg zu Dir ist ganz in Licht getaucht. _Maria an Roland._
Geliebter, ich liebe Deine Verse, liebe Deine zarte Zärtlichkeit, liebe
Dich, Dich, heute _nur_ Dich. _Ich_ kann Dir die Stunde nicht nennen, in der ich aufhörte, Dir nichts
sein zu wollen als eine mütterliche Freundin. War es vielleicht in jener
Dämmerstunde, in der wir durch die blühende Einsamkeit meiner Wiesen
gingen -- die Sonne wollte gerade untergehen -- wir hatten zu sprechen
aufgehört -- mein Herz fühlte sich unruhig -- bewegt -- hungrig? Oder
waren es Deine Gedichte, bei deren Anhören es mir schien, als wehten
blühende Bäume mir zu Häupten, deren stillgewordene Kronen sich leise im
Winde von neuem zu regen begannen? Doch von Deinen Versen will ich Dir schreiben. Schon jetzt beginnen sie,
Dir alles zu verwandeln; Hingerissenheit konnte Dich überfluten, der Du
nicht zu wehren vermochtest. Aber das sollst Du ja auch garnicht. Indem
Du den Gott in Dich einströmen läßt, bist Du ein Künstler; ein
schlechter vielleicht für die Welt, für Dich selbst ein begnadeter. _Ich_ kann nicht wissen, ob ein herrisch forderndes Talent sich
plötzlich in Dir erhob, kann nicht wissen, wie hoch und wie weit es Dich
tragen wird, nur _das_ weiß ich: Der Kampf beginnt, dieser Kampf, den
ich selbst in so vielen Phasen kenne: Aus glühendem Schaffensrausch, aus
Siegesfreude wirst Du in marternde Bangnis sinken. Entsetzen vor eigener
künstlerischer Unfähigkeit wird Dich foltern. Neues Hoffen wird Dich
emporreißen. Traue der Helle in Dir mehr als allen inneren
Umdüsterungen. | 2,465 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_231 | 397 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Und wolle, wenn es Dein Los sein soll, unterzugehen,
-- tausendmal lieber im Kampfe um die Kunst fallen, denn im Kampfe mit
dem dürren Leben. Den immer Korrekten, immer Nüchternen sind _wir_ nur seltsam -- uns
erscheinen _sie_ armselig; _wir_ schauen Verborgenes, von dem _sie_
nichts sehen oder nichts sehen wollen. _Wir_ stürzen uns freiwillig in
Gefahren -- _sie_ sind bedacht, sich allem ihre Ruhe Gefährdendem fern
zu halten. -- --
Eine seltsame Beklemmung will mich in dieser Stunde nicht verlassen. Eisern muß der eigene Glaube an das Können sein, damit wir nicht vor der
Zeit stürzen. Und Du sollst nicht stürzen, hoch hinauf sollst Du
steigen. Bald -- wir können die Spanne Zeit nicht abschätzen -- werde
_ich_ Dir nur ein lichter Schattenriß sein, der sich vom anders getönten
Firmament abhebt. Heute noch glaubst Du, ein Aufleuchten in meinen
Augen, ein bebendes Mitdichten allein nur _meines_ Herzens genüge Dir. Wohl könnte das einer Liebe höchste Staffel sein, -- doch wiege Dich
nicht in diesen Wahn ein. Nur zu bald wirst Du den grausamen Mut haben,
mir zu erklären, daß Du weiter müssest, -- -- bevor Du es ahnst, werde
ich Dich verloren haben. Verloren? Verzeihe das Wort. Dachte ich nicht noch vor kurzem anders
über ein solches Weiterklimmen? War es nicht immer die stille
Voraussetzung, mit der ich Menschen an mich zog? War das: »Weiter« --
war der Wandel nicht der Reiz für mich in jeder Vereinigung, war er
nicht ihr Ziel? Oder könnte es doch wahr gewesen sein, daß ich selbst
manch eine Blüte zerriß, die ich liebevoll ins Leben gepflegt hatte? Bleiben oder Gehen? Welches mag über das verhältnismäßig glücklichere
Los entscheiden? Wie immer, all meine »geistigen Errungenschaften«
entgleiten mir einem Gewande ähnlich, das nur leicht auf meinen
Schultern ruhte. »Momentane Wahrheiten!« Welch eine richtige, aber -- gefährliche
Auffassung. Es ist wohl auch körperliche Schwäche heute, die mich Trauer
vorausfühlen läßt, feige Trauer; denn nie war ich von dem Naturgesetz
überzeugter als jetzt, das den Künstler der Oeffentlichkeit zutreibt wie
die Welle dem Strande. Noch aber bist Du mein. _Mein_ allein! Wie konnte ich das Wort unzählige
Male aussprechen, unzählige Male schreiben, ohne seine Fülle, seine
Gewalt, seine Schönheit tief in mich eingesogen zu haben! Mein, mein,
heute mein, trotz alles Vergänglichen in uns und um uns. | 2,361 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_232 | 380 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | --
In den Tagen, die mich Dir fernhielten, waren meine Gedanken fessellos
wie schwebende Adler, meine Empfindungen berauscht, als schritte ich auf
blühenden Hyazinthenfeldern dahin. »Dank Dir, mein Gott, der Du Wunder
tust,« tönte es in mir. »Wochen, Monde, Jahre war ich unjung in meiner
vermeintlichen Gefestigtheit. Kommt: Poesie, Natur, Jugend, Liebe, macht
mein Leben wieder heil mit euren Zauberhänden, tanzt euren unsterblichen
Reigen in mir, führt mich wieder ein in den Olymp. Du Gott der Freude
und der Schmerzen, mache mit mir, was Du willst. Die Trauer ist gut, und
der Jubel ist auch gut! Du läßt mich durch den Jubel gehen. Ich empfange
ihn von Dir mit dankbar demütigem Herzen.« --
Einmal, irgendwo las ich diesen Hymnus, jetzt entsteigt er neu, wie aus
mir geboren, in jeder Minute meinem Herzen. Ich erwarte Dich! Maria. _Roland an Maria._
Maria, Maria, endlich kam unsere Stunde, endlich konnte ich zu Dir
eilen, durfte Dich umfangen, durfte Deinen zitternden Kuß fühlen. Immer wieder zweifle ich an der Wahrheit aller Seligkeit, die ich
erlebe. Und immer wieder verwandeln sich Glühen und Sehnen zu neuen
Gebilden, die, herausgerissen aus meiner Brust, oder aus meinem Gehirn
sich formen. Und immer wieder bist Du es, die mich entflammt, Du, nur
Du. Allmählich erkenne ich die Weisheit des Schicksals, das mir lange vieles
von dem versagte, dessen ich bedurfte. Meine geschonte, seit Jahren kaum
angetastete Empfindungsfähigkeit schreit nun jubelnd nach ihrem Recht. Du hast mich in den Festsaal des Lebens geleitet. Mit lachenden Augen
will ich Dir Liebeslieder zujauchzen; jedes Lied scheint mir das erste
Liebeslied, das je erklang, und ist doch alt wie die Menschheit. Sollte ich mich meiner einstigen Fügsamkeit halber jetzt verachten, mich
bemitleiden? Für beide Gefühle mangelt es mir an Zeit, denn ich _muß_
weiter. Muß, muß, weil ich ohne die Glut meines heißen Herzens
verstummen könnte. Sie allein läßt mich keinen Schlaf in all den langen
Nächten finden, die mich von Dir trennen. In der heutigen blieb ich auf;
ich schrieb Stunde für Stunde an -- einem Stück. Lache nicht, Du, die Du
mich auf einen anderen Planeten verschlagen; geliebte Heilige, lache
nicht. Stille umfing mich, indes ein Plan sich in mir entfaltete. An
technische Schwierigkeit dachte ich so wenig wie ein Nichtschwimmer,
der dennoch ruhig ins Meer hineinschreitet. | 2,371 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_233 | 377 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Wirst Du, aller Frauen
geliebteste, einen verhöhnten Freund nicht verlassen? Hättest Du vorher gewußt, welche Geister Du in dem schweigsamen Menschen
wachzurufen vermochtest, der fremd und hilflos wie ein Kind auf jenem
Feste einige Minuten zufällig an Deine Seite geschoben wurde, hättest Du
auch dann, weil Du ihn _fördern_ zu müssen glaubtest, vor ihm Halt
gemacht? Schweige, Geliebte, schweige; die vibrierende Glückseligkeit
Deines Herzens ist Antwort genug. Gib alle _Rechtfertigung_ auf. Komm. Steige hinan bis auf _die_ Stufe, auf der es weder Schmerz noch Sünde
gibt. Nur die Stufe hat für uns noch Bedeutung. Alt, zu alt, _Du_ zu
alt? Denkst Du dabei an die Vorstellungen der _Masse_, an ihre hohle
Wesenheit, die sich aus Gedankenarmut und versteiften Vorurteilen
zusammensetzt? Alle Wunder der Welt haben sich uns erschlossen, Maria,
Du selbst der Wunder schönstes. Dein Roland. _Maria an Roland._
Roland, Du -- Du (ich glaube, es gibt keinen innigeren Ruf für uns) --
»und war doch nur ein altgewohntes Wort, das oftmals achtlos floß von
ihren Lippen« --
Lange habe ich nicht mehr geträumt, heute aber sah mein Auge nach den
Wolken; ich sah, wie die hellen Schichten ineinanderflossen, sich
verschoben, wie sie sich in die dunklen verloren, wie sie sich wieder
von ihnen lösten. Aber nichts mehr von »lösen« heute, wir haben unsere
Stunde heute schon zu viel beschattet. Nur dieses noch: Du denkst doch
nicht etwa, ich trüge die Vorstellung von Entsagung in mir? Das wäre ein
völliges Verkennen. Meine Handlungen werden letzten Endes von den
Forderungen bestimmt, die in meiner _Natur_ liegen. Also, sie sind eher
das Gegenteil von Entsagung. Im Augenblick sind diese Forderungen
vielleicht so verborgen, wie die Wurzeln eines Rosenbusches. Ich mute Dir, geliebter Junge, wohl oft schwierige Gedankensprünge zu? Es ist aber so herrlich, zu wissen: da lebt ein Mensch, der kann niemals
denken: »komisch -- seltsam -- närrisch« -- ein Mensch, der Andacht auch
vor deinen Unbegreiflichkeiten hat. Wir armen Künstler sind ja
eigentlich stets gezwungen, unsere teuersten Besitztümer zu verleugnen. Wir sollen bequem im Umgange sein, wie andere »vernünftige« Leute. Kunst
aber quillt aus Unvernunft, nicht aus Vernunft. Ein bedeutender Künstler
darf aus Rücksicht für seine Kunst -- ich denke an ihre Vervollkommung,
an ihre größtmögliche Steigerung -- Gesetze nicht nur übertreten,
er kann sogar dazu verpflichtet sein. Ueber die Berechtigung seines
Handelns entscheiden dann viel später seine der Welt geoffenbarten
Schöpfungen. | 2,541 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_234 | 391 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Ich erwähne dies nicht etwa als eine mir von _eigenen_
Gnaden zugebilligte höhere Moral. --
Gestern starb in meinem Hause ein alter Mann nach langem, viel, viel zu
langem Siechtum. »Der Tod hat mich vergessen«, seufzte er, als ich ihn
zum letzten Male besuchte. Ich lege Dir einige Blätter ein; lies, welche
Gedanken sein Sterben in mir erweckte. _Vom verkannten Tode._
Der Tod beschloß, sich von der Welt zu entfernen. Wenn er zurückschaute,
so entsetzte er sich vor der Gedankenlosigkeit der Menschen. Ihr ewiges
Schluchzen ertrug er nicht mehr, besonders seitdem er wußte, wie rasch
das Leben Tränen trocknete. Ihre oft sinnlosen Wehrufe mußten seine
Liebe ersticken. Nur Ungerechtigkeit hatten sie ihm gezeigt. Unfaßlich
war ihr Undank. _Sie verdienten gar nicht, sterben zu dürfen._
Schrie hin und wieder einer nach dem Tode, und er kam dann wirklich,
änderte der Tod eines Flehenden halber seinen Weg, was geschah? Zähneklappernd versuchte der scheinbar Lebensmüde sich vor ihm zu
retten. Er hatte plötzlich für die Mißhandlungen des Lebens gar kein
Gedächtnis mehr. Gleich wieder war's, als sei nur der _Tod_ der Böse,
der Unbarmherzige, der Lieblose, der feindlich Gesinnte. Nein, lange genug hatte der Tod das Verkanntsein ertragen. Niemand
konnte _so_ mißverstanden werden wie er. Wohlan! Mochten sie versuchen,
ohne ihn fertig zu werden, mochten sie sich endlos am Leben quälen,
diese alle, denen seine schwarzen Schleier immer nur Entsetzen bargen. »Ich wandere aus,« entschied der Mißhandelte, hüllte sich fest in dunkle
Nebel und -- entschwand. Anfangs merkten die Menschen gar nicht, wie arm sie geworden waren. Die
Alten, die geduldig -- weil sie sich dem Sterben nahe wähnten --
Krankheit und Ueberflüssigkeit ertrugen, sahen noch jedem Morgen
erwartungsvoll entgegen. Ihre Hoffnung werde sich ja erfüllen -- noch
hatten sie Zeit. Sie wußten: Der Tod würde sie zur rechten Stunde holen. Aber sie erfüllte sich nicht; sie wurden achtzig, sie wurden neunzig,
sie wurden hundert Jahre. Sie wurden ganz taub, ganz blind, ganz stumpf,
ganz mürbe, sie wurden ganz überflüssig, sie nahmen nur noch Platz fort. Mit den Neuen verstanden sie sich nicht. _Man ertrug sie nur noch._ Man
sah nach ihnen, weil sie eben doch _da_ waren. Niemand brauchte sie. Die
Zeit war lange schon über sie fortgerauscht. Sie hatten sich selbst
überlebt. Fröstelnd rangen sie ihre dünnen, knochigen Finger. | 2,398 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_235 | 378 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Tag und
Nacht murmelten ihre schmalen Lippen: »Vergessen vom Tode -- vergessen
vom Tode!«
Gleichgültig kamen die Jahre; gleichgültig gingen die Winter an den
Alten vorüber. Kein Lenz ließ ihnen etwas erblühen; kein Sommer lachte
ihnen. Herbst kam und Herbst ging; die Greise blieben. Einstmals konnten Menschen, deren Liebe zueinander gewaltig war, vereint
auf dem Gipfel der Glückseligkeit sterben; damals, als der Tod noch im
Lande war. Sie wurden nicht gezwungen, sich vom Leben plündern zu
lassen. Lächelnd konnten sie sich, Brust an Brust geschmiegt, vor dem
Weniger retten. Auch das hörte auf. Keiner mehr hatte Leben oder Sterben
in seiner Hand. Das aber ist das Grauenvollste: Leben zu _müssen_. Menschen, die schlecht geworden, Bettler, die an ihrer Gesunkenheit
litten, Unglückliche, die zu Verbrechern geworden, konnten sich nicht
mehr freiwillig vom Leben lösen. Flucht aus Schande, Flucht aus
unheilbaren Leiden, Flucht aus den Schmerzen unglücklicher Liebe, Flucht
aus Entsetzen an mißratenen Kindern, Flucht vor Umnachtung der Gedanken
gab es nicht mehr. Die Scharfrichter wurden ihres Amtes entsetzt; neue
Strafen mußte der Gerichtshof ergrübeln. Allmählich war das Wort von der _Hartherzigkeit_ des Todes erloschen;
aber plötzlich entstand für ihn die Bezeichnung: Todesengel -- Engel des
Todes. --
Ein anderes Schluchzen drang in die Welt und ein anderes Sehnen. Nicht
der Sonne streckten sich Arme inbrünstig entgegen, sondern suchend dem
entschwundenen Tode. Wehklagend irrten Menschen von Scholle zu Scholle. Inbrünstig betete man, daß er wiederkehre, der qualvoll Entbehrte. Allen
Menschen schien es, sie hätten ihren Erlöser verloren, seitdem der Tod
ihnen unerreichbar blieb. Sie schämten sich jener Geschlechter, von
denen die Sage berichtete, daß sie dem Tode händeringend
entgegengestarrt haben sollten, daß sie ihm geflucht hatten. Haß und Bitterkeit, Ueberdruß und Kälte trieben die Menschen
auseinander. Eltern beklagten ihre lächelnden Kinder, denen später auch die Bürde
eines endlosen Lebens zu tragen bestimmt war. Denn nicht in Jugendkraft
und Fülle wurde ja den Erdbewohnern zu bleiben gewährt; nein, genau wie
ehedem, mußten sie alles zurückgeben: Gesundheit, Hoffnung, Glauben, um
zuletzt -- körperlich und geistig vernichtet -- sonnenlos in Nacht und
Finsternis dahinzuvegetieren. Es konnte nur eine Fabel sein, daß einst vom _hartherzigen_ Tode
gesprochen wurde. Längst wußte man, _wer_ der Gütigste, der Erbarmer
gewesen. Hatte man früher gefordert, daß er aus Mitleid entweiche, jetzt
forderte man, daß er aus Mitleid zurückkehre. Doch nein, man forderte
nicht, man flehte, man bat, man opferte. | 2,640 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_236 | 389 |
21115-8-1 | Gutenberg | 9,998 | Grauen vor dem Frühling erfüllte die Menschen, dessen Süße Leben
spendet, dessen Atem befruchtet. Immer freudearmer wurde die Erde; nur Kinder lächelten. Die Gedanken
aller Erfahrenen schienen einem einzigen Ziele zugewandt: Dem
Wiedererscheinen, der Rückkehr des Todes. Was bedeuteten die Tränen
jener Zeiten, da man ihn besaß, gegen die Trauer, nun man ihn verloren
hatte? Man begriff erst, was _Vernichtung_ sei, nachdem das Sterben
aufgehört hatte. --
Unauffindbar, unerreichbar blieb der Tod. Vögel flogen hin und her,
flogen in die Weite, weil sie hofften, ihn mit ihren wundersamsten
Weisen zu rühren. Dann aber vollbrachte ein Kind das Wunder. Obwohl die Menschen den Tod nicht sehen konnten, so hatte _er_ sie doch
keine Minute aus den Augen verloren; sie blieben seine schmerzliche
Liebe. Und ist es nicht von jeher das Schicksal der Liebe gewesen,
verkannt zu werden? Darf Liebe danach fragen? Ach, auch der Tod sehnte
sich zurück nach den Menschen. Er konnte die Süße der Küsse, die ihn mit
den vom Leben Befreiten vereinte, nicht vergessen, jene Küsse, von denen
ja kein Lebender singen und sagen kann. Nicht den Greisen zuliebe kehrte der Tod zurück, nicht der Kranken
halber, -- der Unschuldigen wegen. Ihnen vermochte er nicht zu
widerstehen. Ein armes Mädchen hatte in Schande und Verlassenheit ein Kind geboren. Große strahlende Augen richtete das Neugeborene erwartungsvoll in die
Welt. Diese leuchtenden Sterne verdunkelte der Tod. Schmerzlos glitt das
schuldlos Verurteilte in des Todes Arme. In dem Augenblick erhob sich
ein Hymnus ohne gleichen auf der Erde: einmal noch atmeten Müde tief und
befreit auf, dann endlich schlossen sie die glanzlosen Augen für immer. Liebende umschlangen sich in heißer Seligkeit. Kämpfende, Irrende,
Kranke knieten von dem Bewußtsein überwältigt nieder, nicht unrettbar an
das Leben geknebelt zu sein. Licht überleuchtete an diesem Tage die
ganze Welt. Auf dem Sonnenball stand hochaufgerichtet eine feingliedrige
Gestalt. Nicht mehr wie einst umhüllten schwarze Schleier ihre Glieder. Umstrahlt von weißem Schimmer sank der Tod mitleidig wieder hernieder
auf die Menschheit ... Marie, _Deine_ Maria. _Roland an Maria._
Geliebte Frau, zügele Deinen Heißsporn. (Mit wieviel Namen wirst Du ihn
noch nennen können, wenn er sich so »weiter entwickelt?!«) Zügele ihn,
weil er sich plötzlich für einen Beherrscher des Lebens hält, der gar
nichts mehr von seiner einstigen Sklaverei weiß. Nein, zügele mich
nicht. | 2,465 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_237 | 377 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Wann wirst Du mir einen Tag bescheren, einen vollen, ganzen Tag? Ich mag
nicht immer »vornehm geartet« sein. Roland, nur Dein Roland. _Maria an Roland._
Liebster, tagelang vergaß ich, mich zu fragen, ob die unsichtbare
Verkettung, die uns bindet, berechtigt oder unberechtigt sei. Liegt aber
nicht schon in dem Ausdruck »Verkettung« ein Etwas, das über alles
Abwägen hinausführt? Nein, ich _kann_ nicht mehr an das Verrinnen,
Verflattern von Gefühlen denken, deren Sterblichkeit grauenvoll wäre,
auch wenn sie dem lichtesten Tode verfielen. Oft möchte auch ich mit Dir, Roland, in einer Sprache sprechen, wie sie
noch nie gesprochen wurde. Dann verzweifle ich förmlich an meinem
eigenen Unvermögen. Wir hätten uns gestern viel intensiver mit Deinem Stück beschäftigen
sollen. Welch ein Glück, Dich bisher nicht von der Vorstellung gehemmt
zu wissen, daß es schwerlich dem Schicksal der meisten Bühnenwerke
entgehen wird, unaufgeführt zu bleiben. Ganz gewiß existiert auf Erden
viel Schönheit, -- ich denke natürlich nicht nur an Kunst -- die nie aus
ihrer Verborgenheit hinausgehoben wird, die nie ihre Bestimmung erfüllt,
zu bereichern und zu erhöhen. Ueber wie viele wundersame Landschaften
mag nie eines Menschen Auge gleiten! In diesem Augenblicke brauche ich
mir nur Spitzbergen vorzustellen, wie es unbewohnt und also auch
unbeschritten in glitzerndem Eisesfunkeln mit seinen unabsehbaren
Flächen und Bergen in fast märchenhafter Schönheit vor mir lag. Uns
kleine Menschen lähmt aber die Möglichkeit, unsere winzigen Gebilde
könnten nur dazu bestimmt sein, uns selbst die Wonnen eines
Schöpferrausches zu gewähren. Wird ein Baum im Urwalde nicht grünen und
blühen _müssen_, schreitet auch nie ein Mensch an ihm vorüber? Wir
Künstler dagegen sind enge, eitle Geschöpfe, die immer gleich an Ruhm
denken -- an Dich, Ruhm, Du aller Eitelkeiten eitelste,
gefährlichste. --
Also Dein Stück! Ja, haben wir die Rollen getauscht, die Auffassungen? Ist's nicht, als hätte _ich_ den Konflikt ersonnen, der eine Frau,
anscheinend in ruhiger Besonnenheit, auf der Höhe aller Seligkeit in den
Tod treibt, lediglich aus Angst vor der Gewißheit eines allmählichen
Schwindens der großen Leidenschaft zwischen sich und ihrem Geliebten? Ein Anderer bist Du geworden -- ja, ein Anderer. Wie tief ein Anderer,
wer von uns wollte es entscheiden? Du hast mein Leben in Verwirrung
gebracht und ich das Deine. | 2,394 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_238 | 364 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Was wird übrig bleiben oder entstanden sein,
was geboren oder getötet, was wird sich aus dieser beglückenden
Verwirrtheit herauskristallisieren? Nie mehr kann ich in die Welt
zurückfinden, die ich verließ, oder aus der mich eine fremde Macht
stieß. Ja, Du ein Anderer -- ich eine Andere, die vollgesogen ist von
vielleicht kindertörichten Vorstellungen. Ach, Du, immer leben wir in
Vorstellungen und Vorurteilen und nennen sie unsere Ueberzeugungen. Die
Entdeckerfreude an Menschen war sicher auch ein Beglückendes, aber ich
hatte zu wenig von jenem Göttlichen in mir, das ganz im Geheimen erst
die Heiligkeit der irdischen Weihen verleiht. Ich meine jene Weihen,
ohne die man wohl auch gut und glücklich leben und anderer Leben
steigern helfen kann, ohne die man aber nie ein Genie in der
Lebens-Dichtkunst wird. Nur die mit der unzerstörbaren Kraft des Ideals
»Behafteten« haben kein Absterben vor dem Tode zu fürchten. Und nicht
nur in der Elendswelt von Gorkis »Nachtasyl« und nicht nur in Bezug auf
den Glauben gilt des Wanderers Luka Antwort auf die Frage: »Gibt's einen
Gott?« »Wenn Du an ihn glaubst, gibt's einen, -- glaubst Du nicht, dann
gibt's keinen. _Woran Du glaubst, das gibt's eben._«
Mir scheint, ich bin ein Genie im Glauben an das Schöne in der Welt. Aus
längst vergangenen Jahren fällt mir zufällig ein Erlebnis ein, an das
mich der Duft Deiner beiden roten Rosen, die vor mir auf dem
Schreibtisch stehen, erinnert. Ich lebte damals bereits in der
Großstadt. Im Hochsommer hätte ich mein ganzes Vermögen am liebsten den
wenig verführerischen Gestalten gegeben, deren Rufe: »Rosen! Rosen,
sechs für zehn Pfennige!« durch die Straßen schrillten, während sie
neben kleinen, mit wundervollen Blüten hochbeladenen Wagen dahingingen. Noch in diesem Augenblick bilde ich mir ein, die einförmigen,
gleichgiltigen Anpreisungen zu vernehmen. Immer empfand ich leises Weh,
wenn ich sah, wie die herrlichen Blumen so empfindungslos
zusammengerafft wurden. Leicht erfuhr ich, wo diese Rosenmassen wuchsen. Ich freute mich schon den ganzen Winter hindurch auf einen Ausflug in
die nahen Rosenfelder. In allen Farben sah ich sie im Geiste wogen und
blühen. Erwartungsvoll bin ich hinausgefahren. Schmutzige, kleine
Banditen wiesen mir das letzte Stück des Weges. Nicht eilig genug liefen
sie mir voraus. Bald las ich auf plump gepinselten Schildern: »Zu den
Rosenfeldern«. Ja, Roland, da stand ich denn erschreckt vor dem
Stückchen Erde, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte. | 2,487 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_239 | 389 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Mochte ich
auch suchend Umschau halten, daran war nichts zu ändern, daß diese
flachen, noch in ziemlicher Nähe einem Kartoffelfeld gleichenden Felder
meiner Rosen Heimatboden waren. Gewiß, ich hatte einen besonders
ungeeigneten Tag getroffen; der zu heftige Regen der vorherigen Tage
mochte wohl der Felder Aussehen geschädigt haben. Nichts wallte und
wogte. Alles war ganz niedrig gewachsen, so ganz anders, als ich es
erwartete. Vielleicht wurde zu rasch und zu erbarmungslos geschnitten;
sogar aller Duft war in den Augenblicken, welche ich inmitten der Felder
verbrachte, wie fortgetrieben. Anderen Tags begannen sich dann die von mir mitgebrachten Knospen
langsam zu erschließen. Zarter Duft erfüllte mein Zimmer. Ich genoß ihn
fast wehmütig, ohne mir darüber klar zu werden, weshalb er mich so
seltsam berührte. Und ebenso weiß ich nicht, wie es geschehen konnte,
daß _die_ Rosenfelder, die ich nur im Geiste gesehen, unzerstörbar
geblieben sind. Ihr Bild und ihren Zauber konnte die wirkliche
Dürftigkeit nicht verlöschen. Wie oft wird es mir im Leben später
ähnlich ergangen sein? Allmählich habe ich wohl zu ahnen begonnen, daß
nur denen, deren Rosenfelder nie ganz vernichtet werden _können_, Rosen
blühen, und daß jede Liebe und jedes Lebens Schönheit ebenso gefährdet
ist, wie einst die meiner Rosenfelder. --
Wozu eigentlich dieser endlos lange Erguß? _Eine_ glücklich verlebte
lebendige Stunde gibt mehr als ein meisterhaft stilisierter »Kommentar«
zu _unserem_ Denken und Fühlen. Maria. _Roland an Maria._
Einzige, ja, warum schreiben wir uns? Auch ich frage es mich, aber ich
antworte mir sehr einfach: ich weiß es nicht. Ja, was weiß ich denn? Weiß ich, warum ich geboren wurde, wann ich sterben werde? Weiß ich,
warum ich -- ohne bestimmten Grund -- heute glücklich bin, morgen aber
aus unbekannter Ursache unglücklich und ganz herabgestimmt sein kann? Weiß ich, warum ich heute strahlenden Auges einen großen Dichter zu
genießen vermag, und warum ich mich morgen im Tumult nichtssagender
Alltäglichkeiten herumschlage? Weiß ich, warum ich heute kühn bin wie
ein Held und morgen verzagt wie ein Schwächling? Weiß ich, warum ich
heute alles einzusehen scheine und morgen gar nichts? Weswegen ist es
nun für mich gerade nötig zu wissen, warum ein Gott uns zwingt, einander
zu schreiben? Vielleicht lockt nur der weiße Bogen, ihn zum Boten für
schnell schwindende Stimmungen zu nehmen, für Stimmungen, die in jeder
Färbung fruchtbarer Boden unseres Denkens und Dichtens werden können. | 2,503 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_240 | 385 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Nur ein Hauch dringt ja bis zum Anderen, denn -- ob mündlich oder
schriftlich -- es gelingt doch nie, sich ganz mitzuteilen. Weder in
Briefen, noch in Werken sind wir wirklich restlos die, die wir für den
anderen sein möchten. Ich muß jetzt auf der Hut vor mir selber sein, weil ich merke, daß sich
etwas wie Hang zum Spott in mir entwickelt, der mir zwar leicht billigen
Erfolg einbringen könnte, aber nichts sonst. Nutzlos im höchsten Grade
bleibt ja alles bloße Verneinen. Spötter finden wohl eine Zeitlang ihr
Echo, da der Mensch es aus Langeweile nicht ungern hört, wie alles,
selbst das Heiligste, verspottet werden kann. Wer selbst andachtslos
ist, glaubt im Rechte zu sein und zu gewinnen, wenn er Erhabenes
herabzieht. Aber nie wird der Spötter Liebe oder Verehrung finden. Selbst nicht bei denen, welche er unterhalten und zum Lachen gereizt
hat. Die Menschheit liebt und achtet instinktiv meist doch nur die,
welche die Menschheit geliebt und geachtet haben. Die besten Menschen
waren immer anerkennend und bereit zu verehren, wenn auch nicht im Sinne
von »jedermann«. Auf Deinen Wunsch, Maria, habe ich gestern also wieder gebummelt. Das
Resultat: Wie trostlos langweilig wäre es, wenn man sich immer amüsieren
müßte. Glaube mir, Du und die Arbeit, Ihr seid meine Welt. Ich sehne
mich nach keiner »Schule der Erfahrung«, in die ich hier leicht ohne
Voranmeldung aufgenommen werden könnte; ich brauche sie nicht. Sie kann
mich nur stören und verwirren. Was kümmern mich andere Frauen? Du bist
mir _die_ Frau. Andere mögen jünger sein, schöner, reizvoller; meine
glückliche Selbstversunkenheit schließt anderes Begehren aus. Jede Liebe
trägt wohl ihr Tempo in sich; Du bist mir das Fortreißende. Du, die
durch soviel oder so viele Leben geschritten bist, Du ermissest
vielleicht nicht, daß gerade das Fernsein von allen brausenden und
berauschenden Vorgängen mir Segen gebracht haben könnte. --
Ich bemühe mich nun weiter, Menschen auf die Bühne zu stellen, die
leben; keine Phantasiegeschöpfe. Wird meine Kraft ausreichen, mehr als
blasse Gestalten zu schaffen? Die Forderung, echte Menschen zu formen,
will ich mir immer als erstes Gesetz ins Gedächtnis rufen. Sollte ich
jemals »Einer« werden, so kann mein Gebiet nur das Leben der
Ueberflüssigen, der Verlassenen, der Schwachen werden. Laß Dich nicht
durch meinen Mangel an praktischer Erfahrung verwirren. Immer mehr
treibt es mich zu denen, deren Leid sich den Augen entzieht, und das
doch oft soviel nachhaltiger blutet als sichtbares Elend. | 2,510 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_241 | 399 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Du mußt nicht
immer an die Zahl meiner Jahre denken, nicht glauben, daß tiefstes
Einfühlen in die Seelen der Enterbten, Gesunkenen nur der Frau eigen
sei. Ueberhaupt werden männliche und weibliche Eigenschaften viel zu
kraß getrennt. Eine Frau mit sogenannten nur weiblichen Tugenden, ein
Mann mit Eigenschaften, die wir lediglich als männliche zu rühmen
geneigt sind, können keinesfalls als ideale, vorbildliche Menschen
gelten. Wenn Dir, Maria, die ganze Welt oft nichts anders als ein Garten
Eden dünkt, so wirkst Du in dieser Unschuld beschämend wie ein Kind;
wenn Dir die Hartherzigkeit der Gesellschaft die Augen feuchtet und
sanfte Wehmut Dich verklärt, so bist Du ganz Frau, und doch, wieviele
Schattierungen birgt gerade Dein Empfindungsvermögen, die von Männern
mit Beschlag belegt worden sind. Siehst Du, so wagt Dein »Anderer« Dich zu sezieren, so rasch ließ er
seinen Charakter verderben. Du mußt ihn unbedingt Deine Ueberlegenheit
fühlen lassen, damit Fülle und Ueberfluß, wie nur Du sie über ihn
ergießest, ihn erinnern, wer _Du_ bist und -- wer er. Oft wundere ich mich, Maria, Liebste, daß man, wenn man in einem
verzauberten Schlosse weilt, -- und Du bist doch mein verzaubertes
Schloß -- noch irgend einen Gedanken neben der Liebe haben kann. Unzählige Male möchte ich es Dir wiederholen: Ich lebe nur in Dir, und
eben deshalb gleichst Du dem Samenkorn, das in tausendfachen Farben
Ungeahntes zu Blüte und Frucht in mir zu treiben beginnt. Ueber die
allerersten Anfänge bin ich wohl schon ein wenig hinaus. Immer mehr
packt es mich, dieses Ungeahnte, das sich beim ersten tiefen Blick von
Dir scheu zu regen begann. Darf man sich im Rausch einer heiteren Zuversicht hingeben, und darf man
dieser heiteren Zuversicht vertrauen? Plötzlich halte ich mich für ein
Glückskind. Jedesmal, wenn ich zu Dir gehe, scheint mir die Welt ringsum
heller und meine Liebe gewachsen. Ich _kann_ mich nicht mehr erinnern, durch wieviele düstere Straßen
jeder Erdgeborene zu schleichen hat, weiß nicht mehr, wie klein
Menschenkräfte im Grunde bleiben, weiß nur von Glanz und Lebendigsein. Mag dies Fühlen auch nur schöne Täuschung sein, eine wachsende Seele
braucht solchen Betrug. Nur Dich liebt
Dein Roland. _Maria an Roland._
Geliebter, gestern schriebst Du von meiner Ueberlegenheit. Unsinn! Nenne
es ruhig: »echt weiblich,« aber -- ich mag nicht überlegen sein. | 2,376 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_242 | 373 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Ueberlegenheit, wie Du sie mir andichtest, scheint Wandlung -- geistige
und seelische -- auszuschließen; Du aber mußt doch wissen, daß ich
gerade in den letzten Wochen dahin gekommen bin, mich freudig auch
Irrtümern zu unterwerfen. Daß jeder Tag bereit sein könnte, den
vorherigen zu verneinen, übersieht unsere seltsame Kurzsichtigkeit. Fest
liegen die Wurzeln, aber die Brandungen des Lebens bewegen unausgesetzt
die Kronen. Aus Widersprüchen und Spannung geht Entwicklung hervor. Es ist schade, daß die meisten zu rasch, viel zu rasch aufhören nach
unbegrenzten, unbestimmten, nach schimmernden Horizonten auszuschauen,
gleichsam als wäre ihr Dasein verriegelt. Sie begnügen sich zu früh mit
Wiederholungen, verlangen nichts als einen sicheren, festen Umriß ihres
Lebens. Roland, das alles hört sich schlimmer, umstürzlerischer an, als es im
Grunde ist. Allerdings, Menschen, die schon bei lebendigem Leibe
»Entseelte« sind, mögen sich entsetzen, und vom Tempo der Masse entfernt
es. Ich halte nicht viel von allgemein gültiger Gesetzlichkeit, kaum
wenn sie Dieben und Mördern gilt. Und ich bin froh über jeden, der den
allgemeinen Gesetzen mißtraut; es gibt doch in uns ein Etwas, das wir
»Ritterlichkeit des Herzens« nennen könnten. In diese Ritterlichkeit
sind alle ungeschriebenen Forderungen hineingeschmiedet, die ein
Untergehen im Gemeinen und Häßlichen unmöglich machen. Das Schönste
bleibt ja doch, daß ein Mensch _dem_ möglichst nahekomme, _was er werden
könnte_ im Sinne einer Höherentwickelung. Um die aber zu erreichen, darf
er Umwege, und seien sie auch Irrwege, nicht ängstlich scheuen. Ja,
er hat nicht nur das Recht, er hat sogar die Pflicht, alles zu wagen,
um zu sich selbst hinauf zu wachsen. Wohl legt solch Ringen Lebens-
und Todesangst auf; denn wie großartig sich ein Mensch auch nach außen
gebärde, seines winzigen Ichs quälende Nöte kann er vor sich selbst doch
nicht verleugnen. Einst, es ist noch gar nicht lange her, nannte ein Freund mein Herz
»weise«. Ich glaube, damals gab es ein paar Minuten, in denen ich mich
über diesen Wahn freute. Weit, weit fort hast Du, Geliebter, diese
meines Herzens vermeintliche Weisheit getragen; federleicht muß sie
gewesen sein. Ob wohl viele Menschen so lächelnd ihrer Welt Untergang erleben, ihn so
heiter wie ich überleben? Oder ist auch dieser Untergang nur Schein? Könnte auch _er_ nur Station sein? Zu oft noch falle ich in den Kreis
jener Vorstellungen zurück, von denen ich mich, seitdem ich Dich liebe,
schon hundertmal für immer entfernt zu haben wähnte. | 2,533 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_243 | 390 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Jetzt erfüllt mich oft nichts als das Verlangen, mich wie ein Kind
schluchzend über den Schoß einer Mutter beugen zu dürfen. Da siehst Du, Geliebter, wie es um meine Abgeklärtheit bestellt ist. Wie
wenig bin ich. Oder wuchs ich dennoch vielleicht durch das große Gefühl
für Dich? Deine Maria. _Roland an Maria._
Maria, immer bin ich jetzt in einem leichten Taumel; oft, vielleicht zu
oft von diesem Feuerlicht geblendet, das zwischen Dir und meiner
Schaffenstrunkenheit hin und her zu flammen scheint. Immer ringe ich mit
»Ereignissen der Seele«, die ich niemandem schildern könnte, -- auch
nicht einer Maria. Ich komme mir wie das Werkzeug vor, das gestalten
muß, was der »unbekannte Gott« in ihm entfachte. Und doch muß ich »mich
selber erst los werden«, muß jene Ereignisse aus mir heraus geschleudert
haben, um mich von all der seligen Unwirklichkeit lösen zu können. Aber
nein, nein, verzeihe, geliebte Frau, die einzige selige Unwirklichkeit
erlebte ich durch Dich, danke ich Dir, Du mein holdes Verhängnis. In den letzten Tagen überfiel mich sekundenlang die Vorstellung, ein
Wirbelwind könne mich Dir, in eine andere Wirklichkeit hinein,
entreißen. Aber -- nicht wahr -- ein so elementarer Orkan wäre auf
_dieser_ Erde unmöglich? Wie kann ich Dir nur solche Torheit beichten? Erinnere Dich, was ich war, als Du mich das erste Mal sahst! Schmerz und
Erregung und unbestimmte, glückverheißende Erwartung trieben mich Dir
zu, und jedesmal fliege ich mit den gleichen Empfindungen Dir entgegen. Du siehst, es war nicht nur »momentane Begeisterung«, deren Du mich
anfangs beschuldigtest. Ich will Dir nie entkommen, nie. Und doch konnte
diese zweite unvermutete Wonne sich über mich ergießen, die mir _auch_
eine unermeßliche Fülle von Glück geschenkt hat. Begeisterung muß lange
schon in mir »aufgestapelt« gewesen sein, bevor Du kamst und mit Dir das
_fröhliche_ Sehnen. Nichts soll nun in meinem Leben dahinwelken, ohne Frucht getragen zu
haben, deß sei gewiß! Ob ich je etwas tun könnte, etwas denken, was Du
-- ganz einfach sei es gesagt -- nicht von mir geglaubt hättest? Verjage den einsamen Hochmut, der jetzt zuweilen wie Unkraut jäh in mir
aufsprießt. Oder sollte auch er eine Bedeutung haben, die ich jetzt noch
nicht ermesse? Meine heutige Sprunghaftigkeit bedarf der Erklärung. Ich hätte in meiner
Arbeit fortfahren sollen, weil ich ganz in sie versunken schien; und
doch fühlte ich mich nicht minder stark zu Dir gezwungen. | 2,443 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_244 | 390 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Du siehst in
meinen Versen heute das unzulängliche Ergebnis dieses Zwiespalts. Nie möchte ich in alltäglichem Sinne mit Dir verbunden sein; nur das
Vollkommenste meines Wesens darf Dich berühren, immer sollst Du mir
heilig bleiben. Maria, Maria, fängt das Leben schon an, mich in ein Chaos zu stürzen, in
dem es von ewigen Widersprüchen gärt? Roland. _Maria an Roland._
Roland, mein Junge, noch weiß ich nicht, wann ich die Briefe, die ich
_nun_ schreibe, an Dich abschicke, weiß nicht, ob diese Gedanken, die
immer ein sinnendes Sprechen mit Dir sind, überhaupt Briefe zu nennen
sein werden. Aber jetzt, nachdem das tägliche Schreiben an Dich aufhören
mußte, weil mein Brief nicht mehr _die_ Post für Dich sein kann, zwingt
mich dennoch ein Etwas, Dir -- fast möchte ich sagen »Rechenschaft«
abzulegen von all dem wundersamen Durcheinanderwogen der Welt in mir. Briefe, wie wir sie einander schrieben, verlieren in _dem_ Augenblick
ihre Daseinsberechtigung, in welchem sie nicht mehr klopfenden Herzens
erwartet werden. In Dein Leben trat unerwartet rasch so viel Zeit und
Sammlung heischende Wirklichkeit, -- wir nennen das alles nun ja Dein
Glück --, daß ich kaum die Empfindung bannen kann: »Sollte es für _mich_
nicht doch schwer sein _dürfen_, für dieses Glück Opfer zu bringen?«. Während ich jetzt schreibe, lebe ich all unsere aufregenden Augenblicke
noch einmal durch. Also: Hundertmal hatte man es sich wiederholt: »es ist ja ganz egal,
ob es aufgeführt wird«, und dann -- freute man sich trotz dieser
Versicherung so unverhältnismäßig, dann benahm man sich wie ein ganz
gewöhnlicher Mitbürger, der in der Lotterie gewann. So toll hat kaum je
einer an meiner Klingel gerissen wie Du, so jubelnd mich nie jemand an
sich gezogen. Wort für Wort habe ich es dann vernommen: »Haben Sie
tatsächlich früher nie ein Stück geschrieben?« »Sie müssen sich aber
verpflichten, all Ihre weiteren Werke zuerst unserer Bühne
einzureichen.« In buntem Durcheinander hast Du berichtet und dabei meine
Hände gestreichelt. War das unser schönster Abend, Roland? Nein, viele Stunden vor diesem
waren erfüllt von Klang und Reichtum, aber jener Abend hatte einen
besonderen Glanz. Ich dünkte mich wie eine Göttin, (gewiß ein törichter,
ein alltäglicher Vergleich), deren Seele vor Monaten leuchtende Strahlen
in Dich flutete, Strahlen, die nicht, wie es das Schicksal fast alles
Strahlenden ist, erlöschen konnten, sondern aus denen Dein Schaffen
geboren wurde. | 2,450 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_245 | 384 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Auch ohne Sekt wären wir berauscht gewesen, aber wir hatten beide die
kindliche Vorstellung, irgend etwas müsse äußerlich zur Feier mitdienen. Von keinen Schwierigkeiten haben wir mehr gewußt; wir gaben uns ganz
einem Zauber hin, dem wir uns nicht zu entreißen vermochten. Auch mein
Blut begann zu singen. In Deinen Augen brannte Liebe, nur Liebe. Wir
wußten von keinem Theater mehr. Du erzähltest mir eine Geschichte, die
ich kannte, und die zu hören ich nie müde wurde: die Geschichte vom
Beginn unserer Liebe. Jeden Datums entsannst Du Dich, jedes erhöhenden
Augenblicks. Erwartungsvoll fragte ich wie ein lauschendes Kind in jeder
Pause: »Und weiter?« -- --
Wohin war alle Erdenschwere entflohen? Bin ich je sturmdurchwühlt
gewesen, von Unruhe zerquält, von Zweifeln gemartert? »Da fing mein
Leben an, als ich Dich liebte.«
Ja, ja, so muß man das Leben behandeln: es belächeln, stolz und
königlich ihm begegnen -- sich nicht sklavisch vor ihm winden -- nicht
in törichtem Grübeln Kräfte vergeuden. Eine stille Mondnacht floß durch die weiten Fenster zu uns herein, aber
wir brauchten mehr Luft. »Komm,« sagtest Du, sonst nichts. Wir stiegen
die Treppen hinab und wanderten auf dem silbernen Mondstreifen dahin,
der wie ein schmaler Teppich vor unseren Füßen flimmerte. Konnte der Traum von dem, was das Leben nie zu gewähren scheint, dennoch
Erfüllung geworden sein? Lautlos umfing uns der Wald. Wir hatten zu
sprechen aufgehört. Ich vernahm nichts als den Gesang meines Herzens. Erst Deine Worte unterbrachen die Stille: Am folgenden Nachmittage
würden wir uns zum ersten Male nicht sehen können. Die wenigen Stunden
nach Schluß Deiner Bureauarbeit mußten für wichtige Besprechungen, für
entscheidende kleine Aenderungen an Deinem Stück genützt werden; all das
war selbstverständlich, aber etwas kann zwar selbstverständlich
erscheinen, und doch -- wehe tun. »Es ist Zeit heimzugehen,« sagte ich. Meine Stimme kam mir in diesem Augenblick verändert vor. Ich fröstelte. Ein Landmann, der zur nahen Stadt mußte, trug seine Laterne in der Hand;
ihr winziges Flämmchen schwebte uns entgegen. Sicher wollte er zum
frühen Markt. Da erinnerte ich mich, daß das Leben weiterging. Wir
sprachen wieder mit Erregtheit von Deinem Stück, von all den neuen
Aussichten, die seine Annahme eröffnete. _Später._
Roland, Roland! Am nächsten Sonnabend findet also schon die Aufführung
statt! Seit Wochen gelten all unsere Gespräche diesem Ereignis. Wir
können an nichts denken außer an Schauspieler, Proben, Kritik, Regie,
Wirkung auf ein Publikum oder an ähnliches. | 2,555 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_246 | 393 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Du hältst Dich für alle
Fälle gewappnet. Mir scheint, für Niederlagen ist man nie genügend oder
richtig gewappnet, aber trotzdem -- so oft Du jetzt von »verblödetem
Publikum«, von »nichtssagender Presse« sprichst, steht Dir auch das. Oft
sehe ich Dich, Du weißt es ja, nur stumm staunend an. In den Tiefen Deiner Seele, in Deinem großen Gefühl für mich kann sich
nichts verändert haben, nur die stillen Pfade, auf denen wir dahin
wandelten, sind bevölkert. Der Zufall oder das Glück haben Dich aber auch fast beängstigend rasch
in die Höhe geschnellt. Zwar ist noch nichts entschieden, jedoch allein
die Möglichkeit, einem Publikum Dein Können vorzuführen, bedeutet ja
schon unabwägbar viel. Ein so unwahrscheinliches Zusammentreffen, wie Du
es erlebtest, würde sicher in einem Roman belächelt werden, während doch
die Wirklichkeit oft genug die tollsten Sprünge vollführt: ein
bescheidener Bankbeamter, der nur Interesse an seinen Büchern zu haben
scheint, arbeitet neben einem jungen Menschen, dessen Onkel Dramaturg an
einem ersten Theater ist. Wie haben wir gelacht, als Du des Kollegen
»Aufschneiderei« erwähntest. Aber man konnte ihm ja »unser« Stück
anvertrauen. Wir sind gar nicht erwartungsvoll gewesen. Unsere
fieberhafte Unruhe entsprang anderen Gründen, ganz anderen; sie lagen
weit ab vom Theater. Schon nach acht Tagen kam die Einladung ins Büro der Direktion. _Später._
Freitag. Noch vierundzwanzig Stunden! Roland, ich habe richtige
Examensangst; Herzklopfen wie ein Schulmädchen. Und weshalb? Nur weil
sich morgen der Vorhang vor Deinem Stück heben wird. Dabei wiederhole
ich mir immer wieder: Was bedeutete es, wenn es durchfiele? Deshalb bist
Du doch »etwas«; deshalb berechtigt Dein Talent doch zu besonderen
Erwartungen. Du wirst nicht leicht zu entmutigen sein, auch wenn die
Presse Dich dies erste Mal ablehnt. Wie immer die Würfel fallen,
_meinen_ Glauben hast Du nötig; denn auf wechselnde Stationen mußt Du
Dich nun gefaßt machen: vor den ersten toten Zeiten in Deinem
künstlerischen Schaffen wirst Du Dich entsetzen, vor gänzlichem
Versanden zittern; Du wirst dann nicht hoffen, daß sich je wieder in Dir
etwas regen könne. Mehr als je wirst Du mich brauchen, meine Erfahrung,
meinen nie zu erschütternden Glauben. Das ist ja noch kein Glaube, der
nicht _immer_ über einem Schaffenden schimmert, wie ein ewiges Licht,
welches nie verlöschen darf. --
In diesem plötzlichen Aufstieg liegen sicher Gefahren, wenn auch ganz
andere wie in stets vergeblichen Versuchen. | 2,493 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_247 | 380 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Nennen sie Dich nach der
ersten Aufführung »eine Hoffnung«, so wirst Du beim zweiten Stück diese
Hoffnung »nicht erfüllt« haben. Hob Dich Dein erster Schritt in die
Oeffentlichkeit gleich auf eine ansehnliche Höhe, so verzeichnet man
beim folgenden sicher »keinen Fortschritt«. --
Auch heute können wir uns nicht sehen; morgen nur in der Unruhe vor der
Aufführung. Eigentlich bist Du, mein Junge, mir halb verloren; der,
welcher mich nun liebt, ist zwar _jener_ Roland, den ich ahnte, aber ich
bin nicht mehr _allein_ für ihn die Welt, in der er lebt. Um die Stunden bis zum morgigen Abend schneller hinzubringen -- ich
selbst bin nicht imstande, ruhig zu arbeiten -- habe ich gestern einen
alten Freund zu mir gebeten, von dem mich die Erlebnisse der letzten
Monate entfernten, ohne uns trennen zu können. Daß ich Dich, Geliebter,
allen bisher »unterschlagen« habe, gewährt mir nun ein besonders
fröhliches Empfinden. Ich fürchtete sicher keine Gefahr Deiner Gefühle
für mich. Nur allein die Vorstellung, jemanden, der in mein Leben
einzugreifen beginnt, von kritischen Blicken gemessen zu wissen,
erscheint mir immer -- so überspannt es auch klingen mag -- wie
Lästerung. Ich mag meine Freunde nicht »zur Diskussion gestellt« wissen. Immer _wundern_ sich ja doch die Anderen; für die meisten ist das
Unsichtbare, das Menschen zusammentreiben kann, nicht vorhanden; in
unwägbare Werte versenken sie sich nicht. Und nun gar in einem so
schwierigen Fall, wie dem zwischen einer älteren Frau und einem jungen,
viel zu jungen Menschen. Kopfschüttelnd würde »man« festgestellt haben:
»Unbegreiflich! Wer hätte das erwartet? Ueberraschendes konnte man ihr
wohl zutrauen, aber daß sie so kurzsichtig sein könne, so befangen, so
blind? Was ist denn der Mensch? Was kann er? Wie alt schätzen Sie ihn? Liebe muß da doch völlig ausgeschlossen sein.«
Ja, ausgeschlossen, Roland! Habe ich selbst das nicht gemeint; war ich
nicht auch dessen sicher? _Am Sonnabend Nachmittag._
Wir sind zusammen auf der Generalprobe gewesen. Ein Schauspieler hielt
mich für Deine Mutter. Ich erschrak; an _die_ Möglichkeit habe ich nie
gedacht. Aber niemals werde ich eine andere Jugend festhalten wollen,
als die des Geistes -- die soll ewig währen. Mit Farbe und Schminktopf
erreicht eine Frau selten mehr als _sich selbst_ möglichst lange äußere
Jugendlichkeit vorzutäuschen, es sei denn, sie habe sich durch fast
ausschließliche Vertiefung in _dieser_ Art der Malerei Meisterschaft
erworben. Jene Anrede wirkte im Augenblick, besonders durch Deine
Gegenwart, sehr quälend. | 2,550 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_248 | 394 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Wäre nur Eitelkeit die Ursache des Peinigenden,
so hielte ich mich für ein Gänschen in landläufigem Sinne, und ich
selbst wüßte jenes reißende Wehgefühl nicht in Einklang mit dem Grundton
meines Wesens zu bringen. Doch die Minute, in der das: »ich freue mich,
-- Ihre Frau Mutter« -- vernehmbar war, genügte, um die Frage in mir
wieder aufzuschrecken, ob ich _mehr_ als ein kurzes, starkes Erlebnis in
Deinem Leben sein darf? Monatelang hat diese Frage fast geschlafen. Ich
wähnte uns über trennende Sitten, über Einflußmöglichkeiten, deren
Wirkungen auch die tiefste Liebe nicht aus der Welt bannt, erhaben. Heute zeigte mir die Wirklichkeit kraß ihr Angesicht. Seltsam, daß wir
uns solange einbilden, nichts nach dem Urteil der Welt zu fragen, bis
irgend ein Ungefähr uns jäh das Gegenteil beweist. Ein Unterschied
bleibt zwar: Ich brauche Minuten, mich wieder zurecht zu finden, während
viele sich Wochen oder Monate von einem Angriff oder Ueberfall vergällen
lassen. Wie konnte ich nur vollständig vergessen, daß die still wandelnde Zeit
sich immer -- ich denke im Augenblick nur an äußerliche Veränderungen --
gebieterisch geltend machen _muß_. An andere Gefährdungen will ich jetzt
nicht denken. Die beseligende Uebereinstimmung in uns kann nicht
erschüttert werden. Und heute dulde ich in mir am wenigsten trübe
Gedanken. Wie lange ist es denn her, daß ich Dich fand; ich meine, daß ich Dich
zwischen den Vielen schweigend und ungelenk stehen sah? Damals bildete
ich mir ein, in Deinen Augen etwas zu entdecken, das mehr verriet, als
Deine scheue Haltung vermuten ließ. Traurigkeit beschattete Dich, die
gar nicht in Einklang mit Deiner blühenden Jugend zu bringen war. Deine
schlanke, nervige Gestalt überragte die Meisten, und doch erschienst Du
keinem beachtenswert; nur mir strömte ein schwaches Fluidum entgegen,
schwach und doch stark genug, mich zu Dir zu ziehen. Plötzlich stand ich
neben Dir, sprach einige gleichgültige Worte und freute mich, daß nichts
in Deiner Stimme war, was mich störte. Sogleich empfand ich, Du hattest
Dich nicht in meine Nähe gewagt, und es wäre mir doch viel sympathischer
gewesen, von Dir weniger »hochgestellt« zu werden. Noch war der Druck besonders schwerer Stunden, die ich gerade
durchkämpft hatte, nicht von mir gewichen, und doch konnte mich schon
seltsam freudig der Wunsch ergreifen, mit Dir, dem Fremden, allein unter
einer Kirchenwölbung zu stehen oder in Waldeseinsamkeit auf kühlen,
blütenreichen Wegen dahinzuschreiten. Seit Jahren kaum noch empfundene
Verlegenheit ergriff mich. | 2,538 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_249 | 393 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Ich belächelte mich, aber -- ich ging nicht
weiter zu anderen Freunden. »Besuchen Sie mich,« sagte ich gelassen und
sorglos. In der Sekunde warst Du, Roland, mir ein Ziel geworden, -- wieder einmal
zwang es mich, Menschenbildner werden zu wollen. Mit welchem Ergebnis? Nimmer konnte ich diese seelischen Wandlungen, diese Beschleunigung
unserer Pulse, all diese göttliche Schönheit voraussehen. --
-- Ich werde nun doch heute »unser« Kleid anlegen, in dessen
schimmerndem Samt ich Dir an jenem ersten Abend begegnet bin. Deine zwei
Nelken durchhauchen mein Zimmer. Du hast wie ein erfahrener Ritter
gewählt; ihre rosig überhauchte Blässe eint sich herrlich der
Fliederfarbe meines Gewandes. Deine Verse aber, die eben mit den Blumen
abgegeben wurden, werde ich in dieser zerfahrenen Erregtheit nicht
lesen; sie sollen mich heute Nacht empfangen. _Nachts._
Der Morgen steigt herauf, aber ich versuchte nicht mehr, mich
niederzulegen. Wieder und wieder schaue ich auf Deine Verse; wieder und
wieder beglückt -- erschüttert -- beunruhigt mich Dein Lied. Lausche in
Dich hinein, Roland. Ist es nicht vielleicht schon aus dem Glück einer
_neuen_ Erwartung geboren? Vor einer Stunde begleitetest Du mich nach Hause; im Kreise Deiner
Mitarbeiter haben wir das Ereignis mitfeiern müssen. Wird die Presse uns
auch erst morgen sagen, worin der Autor sich vergriffen hat, was von ihm
in Zukunft zu erwarten, in welcher Rubrik er zu bringen ist, selbst die
ungünstigste Besprechung kann nicht die Tatsache einer starken Teilnahme
der Hörer aus der Welt schaffen. Auf ein so atemloses Mitempfinden des Publikums habe ich nicht
gerechnet. Ist ja immer noch die Loslösung einer Frau von sittlich
»feststehenden« Grundsätzen nicht gerade ein anziehendes Thema. Hätte
ich auch nichts auf Dich übertragen als den Mut, Dich von all jenem
Ballast zu befreien, der am schwersten auf werdenden Menschen lastet, so
bliebest Du _doch_ mein Erbe. Ich habe sicher nur den Zündstoff zwischen
gegebenen Zuständen und notwendigem Revoltieren gelegt. Du warst eben
viel reicher als Du ahntest. Dir, wie so vielen, drohte ein
Steckenbleiben, fern Deiner vorbestimmten Entwicklungsbahn. Menschen,
die sich der Berechtigung ihrer angeborenen Eigenart früh bewußt werden,
sind ja so selten. Nie habe _ich_ mich planvoll durch Hindernisse winden
müssen; nicht etwa, weil keine Hindernisse vor meinen Füßen lagen,
sondern nur weil mein Blick ausreichte, das Wesentliche meines Ichs zu
erkennen, und in mir Kraft genug war, dieses Wesentliche zu entwickeln,
ohne in egoistische Kälte hineinzugleiten. Der Meisten tastendes Suchen
beirrt immer wieder geheime Verzweiflung. | 2,637 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_250 | 398 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Sie wollen vorher mit
zuverlässiger Sicherheit wissen, wann sie fehl gehen könnten, und wann
es ihr gutes Recht ist, auf eigne Art »Mensch« zu werden. Ohne
Verletzungen möchten sie hinaus und hinauf. Krisen erschrecken sie. Für alle Zeit trägst Du nun ein starkes Lebensempfinden in Dir, und wie
immer Deine äußere Bahn sich gestalte, nie wirst Du in Deinem Werke und
in Deinem Wesen die Schönheit des großen Fühlens verleugnen. Ich muß mich nun doch endlich niederlegen und zu schlafen versuchen, die
Nerven könnten rebellieren. _Vier Wochen später._
Meine Gedanken beginnen ins Leben zurück zu wandern -- -- --
Wohl weiß ich: Zur Erkenntnis gehört ein bestimmter Abstand. Ist man
seinen Erlebnissen noch zu nahe, so überwiegt das Einzelne so sehr, daß
das Ganze nicht zu überschauen ist. Die Tragweite und der wahre Gehalt
eigener Freude und eigener Leiden sind -- besonders in unmittelbarer
Nähe -- nicht richtig einzuschätzen. Gewiß, gewiß, nie sind wir dem
Irrtum mehr ausgesetzt, als in Augenblicken, in denen wir eine neue
Erfahrung erleben. Habe ich denn aber in den letzten Wochen eine neue
Erfahrung erlebt? Wohl kaum. Doch wie immer es sei, Roland, es gibt
Entschlüsse, die im Zustande der Exstase gefaßt werden müssen, sonst
faßt man sie nie. --
Seit acht Tagen bist Du wichtiger Besprechungen halber abwesend; ich
habe Ruhe gehabt, unbeirrt von Deinem Blick, von Deiner Nähe über die
reiche Festzeit nachzudenken, die wir miteinander Monate hindurch
erleben durften. Jeden unserer Briefe las ich gestern nochmals durch; Dein Schreibtisch
ist ja längst für mich geöffnet. Scheu berührte ich jedes Blatt. Während
dann meine Blicke über die Seiten dahinglitten -- hier auf dem Platze,
auf dem Du so oft meine Hand streicheltest -- in diesem Zimmer, das Du
infolge der für Dich nun umgewandelten Welt seltener und oft nur
flüchtig während der letzten Zeit betratest, erstarkte in mir die
Vorstellung (könnte ich vielleicht auch sagen -- der Wahn?) uns vor der
Tragödie der Entzauberung retten zu müssen. Ich weiß nicht, wann dieser Gedanke zuerst Besitz von mir zu ergreifen
versuchte. Vielleicht bildete ich mir nur ein, Deine große Liebe habe
all meine einstigen Theorien gänzlich umzuwerfen vermocht, vielleicht
sind sie nie aus meinem Unterbewußtsein gewichen, vielleicht überbrauste
sie nur der sich steigernde Glaube an die Möglichkeit eines Besitzes,
welcher ein Leben _ganz_ auszufüllen vermag. Ich vergaß, daß es keinen
Besitz gibt, dessen wir _mächtig_ sind. | 2,481 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_251 | 392 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Nun ist's mir wieder
eingefallen, ohne Bitterkeit, ohne Erschrecken, ohne die Absicht, irgend
jemanden zur Rechenschaft dafür ziehen zu wollen. Am wenigsten Dich,
geliebter Junge. Nichts ist jetzt notwendig als ein festes Herz. Seltsam, welche Fülle
von Forderungen wir gerade an diesen kleinen Muskel stellen, den wir
unser Herz nennen. Größe soll ihm eigen sein, Treue, Weisheit, Stärke,
Heiterkeit, Güte, Sanftmut; alles -- je nach Bedarf. An mir ist es, unser großes Gefühl vor dem Prozeß des Alterns zu retten. Solche Rettung kann nicht teuer genug bezahlt werden. Noch umflutet uns ein Meer von Liebe, dessen Verfließen Dir unmöglich
dünkt, aber Verhältnisse können nicht ausbleiben, die uns quälen
_müssen_. Ich will Dich nie in Konflikte treiben. Heute noch bist Du
fest davon überzeugt, daß Du nur _einmal so lieben_ kannst, wie Du mich
liebst; aber _anders wirst Du lieben können, anders_. Deine Kunst wird
dazu beitragen, daß Dich dieses »_anders_« rascher überfällt, als Du es
für möglich hältst. Sollte _ich_ Dich nun für ewig beanspruchen, Dir immer fest zur Seite
bleiben wollen, weil ich die erste Frau bin, die in Dein Leben eingriff,
weil Dein Talent der Liebe zu mir entstieg? Glaube nicht, Roland, ich gehe, weil ich Dir entsagen will. Nein, ich
gehe, ehe die gesteigerte Seelenatmosphäre, die ein wundersames Gefühl
uns bescherte, und die jedes Denken an einander in jauchzendes Singen
wandelte, von Mißklängen zerrissen sein könnte. Ich gehe, weil es _der_
Aufstieg ist, der uns für immer einen kann. Kein Schatten soll je das helle Licht zwischen uns trüben, nie soll des
Werktags Gewalt unser Gefühl für einander gefährden; nie sollen der
Gewohnheit graue Schleier zwischen uns wehen. »Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.« Ist es nicht das
Gleiche, wenn Liebe nicht erst der Gewalttätigkeit und der Not des
Alterns ausgesetzt wird? Denn auch Liebe altert und ist meist derselben
Verarmung untertan, wie körperliches Verblühen; nur Auserwählten,
Seltenen mag ein anderes Schicksal bestimmt sein. Ich fürchte das
Erwachen aus dem Zustande des Verzaubertseins. _Später._
_Heute_ sehe ich in meinem Verschwinden eine zwingende Notwendigkeit,
aber nicht immer werde ich fähig sein, mir diesen Schwerthieb zu deuten. _Heute_ fühle ich trotz Qual und Entsetzen, daß er nur _das_
durchschneidet, was sterblich zwischen uns ist, daß er die
unzerreißbaren Zusammenhänge nicht treffen kann. | 2,421 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_252 | 376 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | _Heute_ glaube ich
hellsehend zu sein; schon in einer Woche könnte ich mich betrügen und
all dieses für einen Anfall von Schwermut halten, der _glücklich_
überwunden ist. Nein, schnell muß ich handeln, auch wenn ich inmitten
meiner raschen Reisevorbereitungen wieder und wieder plötzlich nur an
»zerstörende Sinnlosigkeit« denke. Roland, Geliebter, nie sollst Du genötigt werden, vor mir eine Maske
anzulegen. Noch kannst Du nicht wissen, ob nicht auch Du zu den _ewig Wandernden_
gehörst. Die Schwelle in das Land, das besonders reich an romantischen
Täuschungen ist, überschrittest Du ja erst jetzt. Sonnigen Träumern
gewährt es am liebsten Obdach. Und freien. Wir werden beide auf bewegten Meeren bleiben, aber wir werden erstarken,
wenn unser Fühlen, unser Geist nicht mehr wie überfeine Instrumente
durch den leisesten Seelenhauch des Geliebten in Schwingung geraten. Suche Dir allein jetzt ein Königtum, das von ewiger Dauer ist. Kein
rasches Entblättern bedrohe die Blumen, die in ihm erblühen. Es muß
_erfüllt_ sein von einer Qual, einer Liebe, einer Sehnsucht, die _mehr_
verlangen als einen Menschen. In _diese_ Qual, _diese_ Liebe, _diese_
Sehnsucht werde _ich_ heimkehren. Ich kann mein Ich nicht ersticken lassen, muß ursprünglich und
aufrichtig bleiben, muß auf _meine_ Weise an unserer Vollendung -- die
ja doch nur Stückwerk bleibt -- arbeiten, muß uns vor Anklagen und
Beschuldigungen bewahren. Aber all diese flüchtig und in wirrem Durcheinander niedergeschriebenen
Worte werden Dich nicht überzeugen. Doch das gehörte ja zu dem Schönsten
zwischen uns, daß Du meine Beweggründe stets achtetest, auch wenn sie
nicht im Einklang mit Deinem Empfinden standen. Vor Dir habe ich nie
nötig, mich zu _verteidigen_; welch eine herrliche Gewißheit! Anfangs
wirst Du zu verzweifeln glauben, wirst grausam leiden, aber Du wirst
nicht zu ermitteln versuchen, ob Du mich in Christiania oder in Athen
finden könntest. Ach, daß man sich im Leben immer, wenn auch in
friedlicher Form, zu _verteidigen_ hat! Unsere Ideale -- gleichgültig,
ob wir uns öffentlich zu ihnen bekennen oder nicht -- bilden genau einen
Teil unseres Selbst, wie äußerliche Vorzüge oder Fehler. Sie ewig zu
entschuldigen, ist das Gleiche, als wolle man sich wegen der Farbe
seiner Haare, oder wegen der Kleinheit oder Länge seiner Gestalt
verteidigen. Gebe ich Dich jetzt _freiwillig_ her, so kannst Du mir nie genommen
werden. Laß Dich nicht von täuschenden Ueberlieferungen beirren;
klammere Dich nicht an Ausnahmen, an Beziehungen, die nie verstümmelt
wurden. Wir haben unser »glückliches Jahr« gelebt. | 2,581 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_253 | 393 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Laß uns unsere Liebe
unverwundbar gestalten, laß uns zum _höheren_ Glück emporklimmen. Am
Firmament bleiben Dir strahlende Lichtfunken. Sehnsucht ist Glanz auch
in sternenlosen Nächten. Oder sollte all dies dennoch Phantasterei sein? Selbstmord? Uebertreibe
ich? Irre ich in der Voraussetzung, daß durch meine Selbstbesinnung
Sterbliches in Unsterbliches gewandelt wird? Kann diese Flucht, an der
wir beide jetzt gleich schwer zu tragen haben, nicht allmählich zum
Quell werden, dem die großen Dichter entsteigen? Ich träume Dich groß;
mein _Gehen_ wird diesen Traum leichter der Wirklichkeit nahe bringen,
als mein _Bleiben_. Ich aber habe mich zu mir selbst zurückzuwenden. Vielleicht denke ich dennoch zu wenig an Dein Entsetzen, an Dein
Erschrecken. Junge, liebster Junge, begreife doch, daß es schöner ist,
an unserem Sehnen zu leiden, als den Tag abzuwarten, an dem das Dunkel
durch enge Fenster zu uns hereinfallen will. Heute noch flutet Licht durch weite Portale an uns heran. Ich kann, ich
kann Dich nicht durch das Verlangen beschweren, unseren leuchtenden
Stunden eine Alltagsfortsetzung geben zu sollen. Wohl kenne ich genau
die Antworten, die ich erhielte, erbäte ich jemandes Rat: Von
Ueberspanntheit wäre die Rede, -- vom einzigen Glück im festen Besitz --
vom Prüfstein eines starken Gefühls -- von nicht minder schönen, wenn
auch gewandelten Gefühlen -- von Bündnissen, die die Zeit nur noch
unlöslicher schmiedete. Aber Roland, wie alt bist Du? Wie alt ich? Weshalb denn mehr? Mehr würde zum Weniger. Zu oft sah ich Menschen, die
sich hemmend aneinander fürs Leben gekettet hatten. Vielleicht ist
dennoch meines Handelns Ursprung tief verwurzelt mit meinem Künstlertum. Verzweiflung und Verheißung scheinen mir zusammengeschweißt. _Später._
Selbst in diesen Tagen gibt es Augenblicke, in denen ich gar kein Weh in
mir fühle. Und doch, während mir heute der Diener verschiedene Fahrpläne
zur Durchsicht reichte, schreckte ich zusammen, als setzte der Schlag
meines Herzens aus; mir wurde schwindlig, ich konnte nur stehen bleiben,
solange ich mich an irgend einem Gegenstande im Zimmer festhielt. Merkwürdig, wie entgegengesetzte Vorstellungen zur selben Minute an mir
reißen, während ich mich doch am beharrlichsten des letzten
Zusammenseins mit Dir erinnere, Deiner _flüchtigen_ Innigkeit, als Du
zur Bahn stürmtest. Könnte dieses Fortstürmen nicht symbolisch für Deine
nächste Zukunft gewesen sein? Soeben Dein Telegramm, das mir die dortigen Erlebnisse meldet und die
Verzögerung Deiner Rückkehr. _Später._
Oft hört man, daß Menschen, die beabsichtigen, sich das Leben zu nehmen,
in unerklärlicher Ruhe und Besonnenheit alles für die Tat vorbereiten. | 2,675 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_254 | 397 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | Jetzt begreife ich auch sie. Nachdem mein Entschluß gefaßt war, konnte
ich in seltsamer Ueberlegung ordnen, was geordnet sein mußte. Ich handle aus Naturnotwendigkeit, aus dem, was meiner Natur notwendig
erscheint. Ob falsch, ob richtig, kann nicht mehr das Entscheidende
sein; nicht ob ich göttlichen oder menschlichen Gesetzen in mir folge. Ich habe aufgehört, das enträtseln zu wollen. Während ich dies Letzte schreibe, bin ich schon weit fort; ich kritzle
im Zuge, der mich eilend und rollend immer mehr von Dir entfernt. Liebe, Begeisterung und Leidenschaft für Vieles, was der nur »gesunde
Verstand« verspottet, werden mein Leben immer zu einem reichen machen. Freudigkeit und Festigkeit können mich nie für immer verlassen. So nehme
ich, trotz allem, fast heiter dieses -- soll ich es Martyrium nennen? --
auf mich. Ich kann auch nicht sagen: Verzeihe. Etwas eigentümlich
Doppeltes ist in jedem Leben, in dem des Künstlers in verstärktem Grade. Tausend melodische Ueberraschungen werden Deinem Schmerz entsteigen. Gib
Dich ganz jenen berauschenden Schöpferaugenblicken hin, deren
Seligkeiten Du ja bereits erfahren; aus diesem Eden kannst _Du_ nie
vertrieben werden. Bedenke ich, wie das alles anfing, wie alles zusammen- und
auseinandertrieb, die Wandlungen und Handlungen, die in den wenigen
Monaten liegen, so ergreift mich etwas wie Andacht vor den im Dunkel
verborgenen Wurzeln des Lebens. Vermissen, Verlangen, welche Früchte
mögen sie Dir tragen? Ich brachte alles über Dich in Fülle, auch jetzt das Harte, aber nun
nennt Dich die Welt -- einen Dichter. Es schmerzt Dich vielleicht, und Du begreifst es kaum, Geliebter, daß
ich in diesen Augenblicken fähig bin, überhaupt zu schreiben. Doch sieh,
immer erscheint mir eine Eisenbahnfahrt wie ein Zwischenspiel, wie ein
Akt, der trotz seiner Tatsächlichkeit eigentlich nicht mitrechnet in der
Schale, auf die all unser Erleben niederfällt. Die Geräusche des
fordernden Tages draußen können die Ansprüche meiner Seele beirren; die
Geräusche einer Fahrt sind schwach, mir kaum vernehmbar; sie werden
übertönt von feierlich schwebenden Gedanken, die zu mir zu Gast kommen. Erst wenn ich diesen Zug verlassen, wenn ich das Ziel meiner Fahrt
erreicht habe -- schon Tage vorher werde ich diesen langen letzten Brief
von einer Nebenstation aus an Dich schicken -- kann ich zu ermessen
beginnen, was es tatsächlich bedeutet, nie mehr in heißer Sehnsucht auf
Dich warten zu können. Und wie jetzt draußen wechselnde Bilder an mir
vorüberziehen, so werden Stunden wechselnden Fühlens mich umfangen. | 2,550 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_255 | 389 |
21115-8-2 | Gutenberg | 8,496 | --
Unser Leidensweg führt durch die Seele, aber der unserer tiefsten
Erkenntnisse, die aufwärts tragen wollen, auch. _Ich hatte Angst vor dem kleinen Glück_, aber Menschen, in denen diese
Angst nicht zu überwinden ist, müssen hart sein können -- hart gegen
sich und hart gegen die, welche sie am meisten zu lieben glauben. Roland, Du Einziger, in dieser Stunde erlausche ich vieles, was wir
selten in uns vernehmen. »_Ich fürchte mich nur, meiner Qual nicht
würdig zu sein._« Du erinnerst Dich dieses Dostojewski-Wortes, dessen
Inhalt zuerst befremdend erscheint, und das doch imstande ist, soviel
Adliges in uns zu wecken. An Bäumen mit weißen Stämmen und hängenden Kronen jagt der Zug vorüber. Zahllose Bilder wirft die Natur in die dahinfliegenden Fenster:
Gelbwogende Kornmeere, buntblühende Wiesen, rotknospende Büsche, leise
sich wiegende Gräser; sie alle beredte Verkünder des ewig
verschwendenden Nährbodens, der uns trägt. In einen seltsamen
Traumzustand gleite ich hinein -- -- --
Draußen ist Erntezeit. Und in uns? Welchen Namen werden wir einst dieser
Zeit geben? Maria. * * * * *
* * * *
* * * * *
Fehler und Unregelmaßigkeiten:
das Beieinander_bleiben_
_ein Wort_
die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens gewesen ist
_Original hat »gewsen«_
_Roland an Maria._ [4. Brief]
Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern
_Original hat »Maria an Roland.«_
aus unerforschten Gründen zufluten lassen kann
_Original hat »Gründe«_
eine feingliedrige Gestalt
_Original hat »feingliedrge«_
Marie, Deine Maria. Langkau and the Online
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how the file may be used. Menschliches, Allzumenschliches
Ein Buch für freie Geister
Friedrich Nietzsche
Inhalt
An Stelle einer Vorrede
Von den ersten und letzten Dingen
Zur Geschichte der moralischen Empfindungen
Das religiöse Leben
Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller
Anzeichen höherer und niederer Cultur
Der Mensch im Verkehr
Weib und Kind
Ein Blick auf den Staat
Der Mensch mit sich allein
Ein Nachspiel
Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister
Erster Band
An Stelle einer Vorrede. - eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen
sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch,
die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier zu
erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen
Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem
Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens
darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der
Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte,
nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon
gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem
Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann;
zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu
Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und
durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so
voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun
konnten. Aus dem Lateinischen des Cartesius. Vorrede. 1. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt
worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen
Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin
veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie
enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze
für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte
Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter
Gewohnheiten. | 2,368 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_259 | 351 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem
Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art
Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht
und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen:
wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat
meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der
Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem
gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als
gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch
zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den
Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den
Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte
Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird
auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum
zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in
irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder
Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was
ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht
dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu
wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am
nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das
war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, -
ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und
Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit
zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen,
Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und
Scheinbarkeit hat. | 1,823 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_260 | 272 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte
mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken
könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor
Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer
Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass
ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie
als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die
Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es
gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir
vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie
viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut
in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit
mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner
Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben
ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es
lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits
wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und
Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von
Gut und Böse"? -
2. - So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die
"freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit
dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen
"freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie
damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben
inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia,
Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man
schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und
die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein
Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister
einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen
und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird,
leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als
Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten
zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und
vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich
zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf
welchen Wegen ich sie kommen sehe? -
3. | 2,473 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_261 | 378 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist"
einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein
entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und
dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an
seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche
Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und
ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie
der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und
Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für
die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten,
- ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden,
am dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für
solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele
wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie
selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang
waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch
erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige
gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert
in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die
gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause"
ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken
und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen
Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches,
vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde,
Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die
Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts,
dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth
der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich,
dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern,
in dem sich ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein
räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg
immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur
Geschichte der grossen Loslösung. | 2,185 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_262 | 329 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Sie ist eine Krankheit zugleich,
die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und
Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum
freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden
Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste
sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er
schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er
erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er
zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er
verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie
diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an
der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet,
was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und
versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines
Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs
wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren
Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht
Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles
vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind
wir nicht eben dadurch auch Betrüger? müssen wir nicht auch Betrüger
sein?" - solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort,
immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer
drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und
mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute, was Einsamkeit
ist?... 4. | 1,606 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_263 | 246 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher
Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren
überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit
selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der
Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche
ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege
zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener
inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die
Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen
Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht
sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden,
nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das
Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien
Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und
sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht
des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung
liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen,
beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Willen zur
Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu
verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein
Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein
blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von
Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem
sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist"
- dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man
lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne ja, ohne
Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend,
ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist
verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich
gesehn hat, - und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge
bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen
nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr
bekümmern... 5. Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert
sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast
misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl
und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe
aufgiengen. | 2,511 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_264 | 374 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt
dankbar zurück, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und
Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer
"zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es
ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche
Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches
Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des
Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu
spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf
das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die
dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem
Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt
solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein
kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich
geredet: es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den
Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt -) auf die
Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank
zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine
"gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die
Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen. 6. Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern
einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien,
immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu
entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast
unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange
kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend,
was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte,
dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt
und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du
solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge
neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für
und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder
einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. | 2,447 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_265 | 383 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Du solltest das
Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die
Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und
was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in
Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle
Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du
solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider
begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben,
das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine
Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die
Ungerechtigkeit immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am
kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und
dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen
und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich
und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, -
du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht
und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die Höhe
wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem
"du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt
erst - darf... 7. Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel
von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall
verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es
mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe
leibhaft werden und `zur Welt kommen` will." Die heimliche Gewalt
und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen
Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange,
bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen
weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht
kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. | 1,911 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_266 | 296 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Gesetzt,
dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen dürfen,
dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage
unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege,
Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe
es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und
widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren
mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die
"Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Höher" und "Uebereinander", das
gleichfalls "Mensch" heisst - überallhin dringend, fast ohne Furcht,
nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom
Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen
durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues Problem! Hier eine
lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen
sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein Höher, ein
Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung,
die wir sehen hier - unser Problem!" -
8. - Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick
verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung
das vorliegende Buch gehört (oder gestellt ist -). Aber wo giebt es
heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland;
sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb
sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen
könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsch
geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in einem weiten
Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat - es
ist ungefähr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend welche Musik
und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren
zum Horchen verführt werden, - gerade in Deutschland ist dies Buch am
nachlässigsten gelesen, am schlechtesten gehört worden: woran liegt
das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich
an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und
verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an
Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: -
lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also
auch nicht geben können." - Nach einer so artigen Antwort räth mir
meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal
man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch
Philosoph bleibt, dass man - schweigt. Nizza, im Frühling 1886. Erstes Hauptstück. | 2,582 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_267 | 396 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Von den ersten und letzten Dingen. 1. Chemie der Begriffe und Empfindungen. - Die Philosophischen Probleme
nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage
an, wie vor zweitausend Jahren.- wie kann Etwas aus seinem Gegensatz
entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes
aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus
begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus
Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese
Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus
dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen
Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des "Dinges
an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar
nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die
allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen
Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass
es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Uebertreibung der
populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der
Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer
Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln,
noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur
Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint
und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. - Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der
einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der
moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen,
ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der
Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie,
wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem
Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen
gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu
folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge
sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um
den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren? -
2. Erbfehler der Philosophen. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen
Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch
eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich
schwebt ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein
Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge
vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber
im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr
beschränkten Zeitraumes. | 2,677 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_268 | 388 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler
aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste
Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter
Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als
die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen,
dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen
geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus
diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. - Nun ist
alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich
gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr
kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am gegenwärtigen Menschen und
nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen
gehören und insofern einen Schüssel zum Verständniss der Welt
überhaupt abgeben können; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass
man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen
redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine
natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine
ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. -
Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit
ihm die Tugend der Bescheidung. 3. Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. - Es ist das Merkmal einer
höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit
strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die
beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und
künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man
gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als könne hier gar nichts
Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht,
nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend,
berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam
Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss
noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist
männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte
Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie
sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften
Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und
wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. | 2,464 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_269 | 351 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | - Die Verehrer
der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen,
werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der
unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur
Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht
dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem
Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von
ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen
nachmachen (und diess schlecht genug, wie es jemand thut, dem nicht
mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch
strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen
von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des
Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie
unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger
werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt,
was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch
die Formen unseres Lebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten
vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das
Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und
erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr
gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk. 4. Astrologie und Verwandtes. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte
des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens ebenfalls nur
zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt,
dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich,
weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen,
und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese
meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der
moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen
liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein. 5. Missverständniss des Traumes. - Im Traume glaubte der Mensch in den
Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen
zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum
hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch
die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des
Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also
die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des
Götterglaubens. | 2,489 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_270 | 384 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | "Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden
im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch. 6. Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen mächtig. - Die
abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich
behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als
Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich
- auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht auf
den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in ihren
Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze
der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach dem
Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat
unbewusst die Absicht, ihr den höchsten Nutzen zuzuschreiben. Desshalb
giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und
eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der
Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben soll
so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen
den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere
will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und
Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter,
- was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen
gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie
der Erkenntniss geworden wäre; in diesem Puncte wenigstens ist ein
jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen
werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist
ihrem Wesen nach Optimismus. 7. Der Störenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von
der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige
Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am
glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen:
durch den Gesichtspunct des Glücks unterband man die Blutadern der
wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch. 8. Pneumatische Erklärung der Natur. - Die Metaphysik erklärt die Schrift
der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es
ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um
auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden,
wie jetzt die -Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit
der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber
nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. | 2,531 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_271 | 375 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Wie aber
selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs
völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft
noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer
Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch
viel schlimmer. 9. Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt
geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen
alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht
abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt
noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein
rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen
Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen
werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat,
ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten
Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben
lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen
Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man
gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben
von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. - Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als
ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es
wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Wäre die Existenz einer
solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die
gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch
gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von
der chemischen Analysis des Wassers sein muss. 10. Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion,
Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man
sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer
Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen,
hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom
"Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe:
mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das "Wesen der Welt
an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine "Ahnung" kann
uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser
Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt
unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte
der Organismen und Begriffe überlassen. 11. Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. | 2,614 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_272 | 390 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | - Die Bedeutung der
Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der
Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen
er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln
zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch
an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch
lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz
angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich
in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner
war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur
Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste
Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache
die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an
die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten
Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich -jetzt erst - dämmert
es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem
Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu
spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben
beruht, wieder rückgängig machen könnte. - Auch die Logik beruht auf
Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht,
z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität
des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene
Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es
dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es
mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man
von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade
Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe. 12. Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am
meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es
ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit
zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am
Tage und im Wachen gewesen sein mag. | 2,077 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_273 | 335 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Willkürlich und verworren, wie es
ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten
Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit
dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende
zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie
sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses hin und her zu
taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn
hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das
schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund
des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen:
so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor
uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die
vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den
unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung hat, erinnert
uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination
ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker
gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum
früheren Menschenthums noch einmal durch. 13. Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem
durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe
secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen
Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine
Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut
und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden
sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit
sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend,
verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige
Bekleidung des ganzen Körpers, - alles diess nach seinem täglichen
Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte
System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert
Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen dieser
Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der
Ursachen für jene erregten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen
Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet,
träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln: diess ist
zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden
bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: "diese Schlangen müssen die
causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", -
so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste
Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. | 2,647 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_274 | 378 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | So
weiss jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken
an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in
seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erklärt, so
dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben
meint. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so
fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam
und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm
die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um
sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den
Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für
völlig erwiesen). - Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume
schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende
hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas,
das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als
Wahrheit. (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden
heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in
uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich
entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum
bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und
giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken
wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken
der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen
Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt
worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn,
welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu
genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. - Einen
verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des
Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen
wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken
und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller
jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun
verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an
sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten,
Landschaften, belebten Gruppen. | 2,289 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_275 | 358 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Der eigentliche Vorgang dabei ist
wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem
der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt
er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die
Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei
offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine
veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie
fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des
Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die
Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der
Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit
ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler
eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich
wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander
ausnehmen kann. - Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie
spät das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache
und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und
Verstandesfunctionen jetzt noch unwillkürlich nach jenen primitiven
Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte
unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der
Künstler schiebt seinen Stimmungen und Zuständen Ursachen unter,
welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres
Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen. 14. Miterklingen. - Alle stärkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen
verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam
das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird
sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich
angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche
zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal
mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem
Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie
als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit
hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, verbürgt die
Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache. 15. Kein Innen und Aussen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben
und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben,
so die Philosophen überhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen
und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man
tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. | 2,567 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_276 | 382 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Aber diese
Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse
complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief
nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für
tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr
fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom
tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das
starke Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss,
als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht
die Wahrheit des Geglaubten beweist. 16. Erscheinung und Ding an sich. - Die Philosophen pflegen sich vor das
Leben und die Erfahrung - vor Das, was sie die Welt der Erscheinung
nennen - wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal
entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen
Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen
Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht
habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund
der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben
strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf
als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt
hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der
metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt:
so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich
erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von
beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde
- Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allmählich
geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als
feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss
über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur
ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen,
ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft
oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des
unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt
allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll
geworden, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen
gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen
lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge
hineingetragen. | 2,417 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_277 | 363 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Spät, sehr spät - besinnt er sich: und jetzt scheinen
ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich
verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses
ablehnt - oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben
unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert: um dadurch
zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben
Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung - das
heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns
angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und anstatt den
Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache
dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt
und die Erlösung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen
wird der stetige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt
einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten
Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat
vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt
die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und
Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen
allmählich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als
aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als
Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser
Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich
nur in geringem Maasse zu lösen - wie es auch gar nicht zu wünschen
ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung
nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der
Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise
aufhellen - und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang
hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines
homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und
eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist. 17. Metaphysische Erklärungen. - Der junge Mensch schätzt metaphysische
Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder
verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er
mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das
innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so
sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die
Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte
Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. | 2,556 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_278 | 369 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Später freilich bekommt
er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht
er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben
so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und
historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der
Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben
und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird. 18. Grundfragen der Metaphysik. - Wenn einmal die Entstehungsgeschichte
des denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines
ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen:
"Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects
besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in
seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also
selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und
unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses
Gesetz, welches hier "ursprünglich" genannt wird, ist geworden:
es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen
Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser
Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann,
wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer
werden, allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber
jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem
solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil;
dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im
Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen
oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue
dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen
Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns
organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als
sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den
Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den
Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens:
da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken
keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter
nicht merkt, dass jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind
gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus
der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube
vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste
Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der
Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass
die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. | 2,672 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_279 | 381 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | - Am fernsten liegt für
jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalität: ja jetzt noch
meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des
freien Willens; wenn das fühlende Individuum sich selbst betrachtet,
so hält es jede Empfindung, jede Veränderung für etwas Isolirtes, das
heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne
Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen
ursprünglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern
jenes Gefühl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es
isolirt sich und hält sich für willkürlich. Also: der Glaube an die
Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen,
so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube
an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein
ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber
alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens
abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche
von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es
Grundwahrheiten. 19. Die Zahl. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des
ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere
gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches),
mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme
der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach
vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren
wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. - Unsere Empfindungen von
Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf
logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen
rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen: aber
weil diese Grössen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere
Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft
doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange
mit einander; man kann auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte
Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler,
in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der
Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines "Dinges"
oder stofflichen "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die
ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles
Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch
hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen
aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem
Wesen von Alters her verknotet ist. | 2,671 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_280 | 396 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | - Wenn Kant sagt "der Verstand
schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser
vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr,
welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als
Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung
einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche
nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich
unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt. 20. Einige Sprossen zurück. - Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung
ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse
Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die
lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu
reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er
auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik
zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss
die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen
Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung
der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine
solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen
Menschheit berauben würde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik
sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede
positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige,
welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die
letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr
stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich
von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie
zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut,
um das Ende der Bahn herumzubiegen. 21. Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. - Man lasse einmal den skeptischen
Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische
Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig
bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden
wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken,
es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches
wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal
abgelehnt würde. | 2,321 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_281 | 354 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit,
sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im
Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie
wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer
solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche
Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die
Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man
gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen
die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht
mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in Betreff einer
unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die
selbe. 22. Unglaube an das "monumentum aere perennius". - Ein wesentlicher
Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich
bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze
Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt,
an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen;
es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt,
und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine
Jahrhundert lange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange
Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn
metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte
endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle
Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei;
der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein
Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der
Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der
Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate
erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als
treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der
unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen
überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik
der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke
zu gründen. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten
Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter
noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der
einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere
Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich
dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. | 2,545 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_282 | 375 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Ein ganz moderner
Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein
Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern
wolle. 23. Zeitalter der Vergleichung. - je weniger die Menschen durch das
Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der
Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe,
das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich
und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch
etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander
nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der
Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung
dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten,
Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was
früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht
möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen
Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen
Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden
Formen entscheiden: sie wird die meisten, - nämlich alle, welche durch
dasselbe abgewiesen werden, - absterben lassen. Ebenso findet jetzt
ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit
statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren
Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das
ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir
uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche
das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so
wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die ebenso sich
über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als
über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als
auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt. 24. Möglichkeit des Fortschritts. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur
es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den
Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre
Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen,
zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein
unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei
nöthig, um diess zu leugnen. | 2,441 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_283 | 363 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | Aber die Menschen können mit Bewusstsein
beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während
sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt
bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch
verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen
und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als
Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt
hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, -er ist
möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu
glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen müsse; aber wie
könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt
im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn
romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren
Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht:
jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr
Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität. 25. Privat- und Welt-Moral. - Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass
ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller
anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich
hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze
Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die
Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen
Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder
ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der
Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth
seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend,
dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des
Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein
zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus
nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln,
vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken
der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse
Aufgaben zu stellen sein. - Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich
nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten
soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss
der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für
ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe
der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts. 26. Die Reaction als Fortschritt. | 2,609 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_284 | 363 |
7207-8-1 | Gutenberg | 9,991 | - Mitunter erscheinen schroffe,
gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene
Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal
heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen,
welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas
an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart
halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in
seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch
unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht
ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein
erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in
unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch
jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so
konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und
Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der
längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine
Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein,
aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte
"metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz
unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er
unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der
Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein
Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit
ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen
möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen
asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was
namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich
ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem
wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung
mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben,
dürfen wir die Fahne der Aufklärung - die Fahne mit den drei Namen:
Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus
der Reaction einen Fortschritt gemacht. 27. Ersatz der Religion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes
nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk
hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie
gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang
aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer,
gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat
man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch
lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und
nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese
selbst kann man schwächen und ausrotten. | 2,785 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_285 | 387 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | - Abgesehen von
aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die
Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die
schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und "böse" nur in
Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der
Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der
schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in
jedem Falle entschlagen. 29. Vom Dufte der Blüthen berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint
man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man
glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er
sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird,
- je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so näher
werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen:
diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint
diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind
zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt
näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge
gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast jedermann
glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch
gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste,
herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande
gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die
unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich,
sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich,
tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess
Resultat führt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung:
welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie
mit deren Gegentheile vereinigen lässt. 30. Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. - Die gewöhnlichsten Irrschlüsse
der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der
Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen. Sodann: eine
Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also
ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat
beglückend, gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun
die Ursache mit dem selben Prädicat gut, aber hier im Sinne des
Logisch-Gültigen. | 2,387 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_286 | 376 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich
nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält,
regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte
dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an
ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die
entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im Allgemeinen natürlich
ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen,
also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie
wahr. 31. Das Unlogische nothwendig. - Zu den Dingen, welche einen Denker
in Verzweifelung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das
Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen
vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der
Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem
Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit
diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu
naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen
in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der
Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf
diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch
bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner
unlogischen Grundstellung zu allen Dingen. 32. Ungerechtsein nothwendig. - Alle Urtheile über den Werth des Lebens
sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des
Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich
sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet
wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials
wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller
Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen,
stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein
logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle
Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass,
womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben
Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein
festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns
gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man
gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne
abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! - denn alles
Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles
Geneigtsein. | 2,553 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_287 | 394 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl
davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche,
ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth
des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein
unlogische und daher ungerechte Wesen, und können diess erkennen:
diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des
Daseins. 33. Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig. - Jeder Glaube an
Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist
allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben
und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken,
fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile
desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich
auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen
Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen
Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den
Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei
übersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen
in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die
weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen
Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im
Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also
auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber
so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter
den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen
das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth
des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich jeder allein will und
behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles
Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher
Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für
den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt,
als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht,
dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so
wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. | 2,290 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_288 | 361 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Wer dagegen
wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens
verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in
sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das
Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit hat im Ganzen keine
Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes,
nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit
der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den
Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als
Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe
von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. - Wer
ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen
sich immer zu trösten. 34. Zur Beruhigung.- Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage
scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu
wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn
man diess müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen
giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja
durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die
Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden
bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für
Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern
(insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten
Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze
menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne
kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner
Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine
gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den
Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben
hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. | 2,057 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_289 | 320 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Ist es wahr, bliebe
einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss
die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung
nach sich zöge? - Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung
der Erkenntniss wird durch das Temperament eines Menschen gegeben:
ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen
Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein
viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das
jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren
Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her,
allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss
schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich
wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie
an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten
hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des
Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht
weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes
Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele,
eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf
der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem
knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, - jenen bekannten
lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der
Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem
Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er
nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja
fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid
und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste
Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten,
Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die
Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht
nichts Anderes mitzutheilen, - worin freilich eine Entbehrung, eine
Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird
er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen,
den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht
verhehlen: denn mit dessen "Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss. Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. 35. Vortheile der psychologischen Beobachtung. | 2,412 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_290 | 363 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | - Dass das Nachdenken über
Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck
lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln gehöre,
vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass
die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und
Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass
man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen
Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen
könne: das glaubte man, wusste man - in früheren Jahrhunderten. Warum
vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja
in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele
Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle
und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von
Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher
Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der
psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft
aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht über
den Menschen spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und
harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht
einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn,
ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La
Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist
selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und
sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche
Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler
ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend,
die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er
nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt,
ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für
leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht
scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen
ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen
Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den
gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht
lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber
noch, fortzulaufen. 36. | 2,333 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_291 | 341 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Einwand.- Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische
Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins
gehöre, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den
unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit
Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In
der That, ein gewisser blinder Glaube an die Güte der menschlichen
Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher
Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit
der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen
wünschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen Fällen hilfreiche
Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat
der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an
eine Fülle des unpersönlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen
besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen
Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd
nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der
menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische
Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der
Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit
vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie
sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes
morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est
d'ordinaire qu'un fantôame formé par nos passions, à qui on donne un
nom honnête pour faire impunément ce qu'on veut." La Rochefoucauld
und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich
neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen
Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen,
welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's
Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen,
aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der
Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine
Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die
Seelen der Menschen zu pflanzen scheint. 37. Trotzdem.- Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in
dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist
die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der
grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer
und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. | 2,577 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_292 | 357 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Denn hier
gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der
sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten
die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen
hat: - die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und
ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen
Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen,
nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der
grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen
Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen
haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel
der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich
aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches
Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser
trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung
hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der
psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen
die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem
legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde
wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf
es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen
Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu
bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches
und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst
entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der
wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht
jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der
Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr
verführerischer Duft - der ganzen Gattung angehängt: so dass
seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges
Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt. Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt
sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der
psychologischen Beobachtung aufwachsen. | 2,265 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_293 | 306 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Welches ist doch der Hauptsatz
zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des
Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge
seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns
gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen
(metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch."
Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der
historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher
Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfniss"
der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob mehr zum Segen, als zum
Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? - aber
jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und
furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend,
welches alle grossen Erkenntnisse haben. 38. Inwiefern nützlich. - Also: ob die psychologische Beobachtung mehr
Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin
unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die
Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt
keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur
sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten
Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so
wird auch die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in
Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja
vielfach, fördern und das Zweckmässige erreichen, - aber ebenfalls
ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen
Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht
nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich indessen umsehen und er wird
Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen,
welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie
kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden. Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach
Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche
zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig
haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches
ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden
und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir
wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch
sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter
als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? -
39. Die Fabel von der intelligibelen Freiheit. | 2,598 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_294 | 382 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | - Die Geschichte der
Empfindungen, vermöge deren wir jemanden verantwortlich machen, also
der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft, in folgenden
Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne
alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder
schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser
Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht
auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "böse" innewohne: mit
demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als
hart, den Baum selber als grün bezeichnet - also dadurch, dass man,
was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder
Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als
moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder
böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines
Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich,
herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine
Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und
endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich,
dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern
es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und
Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass
der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein
Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der
moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums
von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der
Freiheit des Willens ruht. -Schopenhauer schloss dagegen so: weil
gewisse Handlungen Unmuth ("Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so
muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre
kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit
Nothwendigkeit verliefe - wie es thatsächlich, und auch nach der
Einsicht dieses Philosophen, verläuft -, sondern der Mensch selber
mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, - was
Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt
Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch
irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen,
aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht
so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und
Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre
der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit. | 2,635 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_295 | 394 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern
sei er irrthümlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That
eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums,
sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei
früher, als seine Existenz. - Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass
aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige
Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem
Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz
der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That
braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn
er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht
nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für
frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und
Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich
abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen
gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur
geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen
Zeit der Weltgeschichte vorhanden. -Niemand ist für seine Thaten
verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als
ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst
richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier
jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht
vor den Folgen. 40. Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral
ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die
Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch
Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und
sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen
die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige
Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu
erklären ist. 41. Der unveränderliche Charakter. - Dass der Charakter unveränderlich
sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte
Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen
die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um
die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. | 2,402 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_296 | 369 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Dächte
man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man
an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine
Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen
Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen. 42. Die Ordnung der Güter und die Moral. - Die einmal angenommene
Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster
Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das
Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel
Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit)
vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit
vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten
feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so
ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem
der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer
die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue
Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug
empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem
Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der Güter selber wird nicht
nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird
nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine
Handlung moralisch oder unmoralisch sei. 43. Grausame Menschen als zurückgeblieben. - Die Menschen, welche jetzt
grausam sind, müssen uns als Stufen früherer Culturen gelten, welche
übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die
tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind
zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle
im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet
worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns
erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein
Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich
auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen,
wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an
Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind
nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer
Empfindung wälzt. 44. Dankbarkeit und Rache. - Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar
ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der
Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt:
nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des
Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form
der Rache. | 2,700 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_297 | 392 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der
Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich
der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten. - Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben
Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen. 45. Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. - Der Begriff gut und böse
hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich einmal in der Seele der
herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes
mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also
dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist
und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter
zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle
Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten
sind. Man gehört als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen
unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut
und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr
und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann
vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht
Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, welcher verächtlich
ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das
Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche
hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten
unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel
einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit
Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - Sodann in der Seele der
Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als
feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm
oder niedrig; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes
lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott;
menschlich, göttlich gilt so viel wie teuflisch, böse. Die Zeichen der
Güte, Hülfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel
eines schrecklichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen,
kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des
Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste
Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse
herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe
ist. | 2,533 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_298 | 387 |
7207-8-2 | Gutenberg | 9,950 | - Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden
Stämme und Kasten aufgewachsen. 46. Mitleiden stärker als Leiden. - Es giebt Fälle, wo das Mitleiden
stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel
schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu
Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich
glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann
ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen,
stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein
Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die
übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das
Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen,
sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch stärker durch
seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm. 47. Hypochondrie.- Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für
eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art
des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es
auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religiös
bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi
fortwährend vor Augen stellen. 48. Oekonomie der Güte. - Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter
und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man
wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen
Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren: doch ist diess unmöglich. Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten. 49. Wohlwollen.- Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb
sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu
geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen
zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im
Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen,
von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen
ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für
ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der
Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles
wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und
blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die
Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende
Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der
Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die
man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. | 2,603 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_299 | 389 |
Subsets and Splits