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Gutenberg
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Und also heiß ihn seiner Stunde warten, da er den Tod gebären wird, den Herrn: allein und rauschend wie ein großer Garten und ein Versammelter aus fern. Das letzte Zeichen laß an uns geschehen, erscheine in der Krone deiner Kraft, und gib uns jetzt (nach aller Weiber Wehen) des Menschen ernste Mutterschaft. Erfülle, du gewaltiger Gewährer, nicht jenen Traum der Gottgebärerin, -- richt auf den Wichtigen: den Tod-Gebärer, und führ uns mitten durch die Hände derer, die ihn verfolgen werden, zu ihm hin. Denn sieh, ich sehe seine Widersacher, und sie sind mehr als Lügen in der Zeit, -- und er wird aufstehn in dem Land der Lacher und wird ein Träumer heißen: denn ein Wacher ist immer Träumer unter Trunkenheit. Du aber gründe ihn in deine Gnade, in deinem alten Glanze pflanz ihn ein; und mich laß Tänzer dieser Bundeslade, laß mich den Mund der neuen Messiade, den Tönenden, den Täufer sein. Ich will ihn preisen. Wie vor einen Heere die Hörner gehen, will ich gehn und schrein. Mein Blut soll lauter rauschen denn die Meere, mein Wort soll süß sein, daß man sein begehre, und doch nicht irremachen wie der Wein. Und in den Frühlingsnächten, wenn nicht viele geblieben sind um meine Lagerstatt, dann will ich blühn in meinem Saitenspiele so leise wie die nördlichen Aprile, die spät und ängstlich sind um jedes Blatt. Denn meine Stimme wuchs nach zweien Seiten und ist ein Duften worden und ein Schrein: die eine will den Fernen vorbereiten, die andere muß meiner Einsamkeiten Gesicht und Seligkeit und Engel sein. Und gib, daß beide Stimmen mich begleiten, streust du mich wieder aus in Stadt und Angst. Mit ihnen will ich sein im Zorn der Zeiten und dir aus meinem Klang ein Bett bereiten an jeder Stelle, wo du es verlangst. Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen den Tag, die Nacht, die Tiere und das Kind; ihr Schweigen lügt, sie lügen mit Geräuschen und mit den Dingen, welche willig sind. Nichts von dem weiten wirklichen Geschehen, das sich um dich, du Werdender, bewegt, geschieht in ihnen. Deiner Winde Wehen fällt in die Gassen, die es anders drehen, ihr Rauschen wird im Hin- und Widergehen verwirrt, gereizt und aufgeregt.
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Sie kommen auch zu Beeten und Alleen --: Denn Gärten sind, -- von Königen gebaut, die eine kleine Zeit sich drin vergnügten mit jungen Frauen, welche Blumen fügten zu ihres Lachens wunderlichem Laut. Sie hielten diese müden Parke wach; sie flüsterten wie Lüfte in den Büschen, sie leuchteten in Pelzen und in Plüschen, und ihrer Morgenkleider Seidenrüschen erklangen auf dem Kiesweg wie ein Bach. Jetzt gehen ihnen alle Gärten nach -- und fügen still und ohne Augenmerk sich in des fremden Frühlings helle Gammen und brennen langsam mit des Herbstes Flammen auf ihrer Äste großem Rost zusammen, der kunstvoll wie aus tausend Monogrammen geschmiedet scheint zu schwarzem Gitterwerk. Und durch die Gärten blendet der Palast (wie blasser Himmel mit verwischtem Lichte), in seiner Säle welke Bilderlast versunken wie in innere Gesichte, fremd jedem Feste, willig zum Verzichte und schweigsam und geduldig wie ein Gast. Dann sah ich auch Paläste, welche leben; sie brüsten sich den schönen Vögeln gleich, die eine schlechte Stimme von sich geben. Viele sind reich und wollen sich erheben, -- aber die Reichen _sind_ nicht reich. Nicht wie die Herren deiner Hirtenvölker, der klaren, grünen Ebenen Bewölker, wenn sie mit schummerigem Schafgewimmel darüber zogen wie ein Morgenhimmel. Und wenn sie lagerten und die Befehle verklungen waren in der neuen Nacht, dann wars, als sei jetzt eine andre Seele in ihrem flachen Wanderland erwacht --: Die dunklen Höhenzüge der Kamele umgaben es mit der Gebirge Pracht. Und der Geruch der Rinderherden lag dem Zuge nach bis in den zehnten Tag, war warm und schwer und wich dem Wind nicht aus. Und wie in einem hellen Hochzeitshaus die ganze Nacht die reichen Weine rinnen: so kam die Milch aus ihren Eselinnen. Und nicht wie jene Scheichs der Wüstenstämme, die nächtens auf verwelktem Teppich ruhten, aber Rubinen ihren Lieblingsstuten einsetzen ließen in die Silberkämme. Und nicht wie jene Fürsten, die des Golds nicht achteten, das keinen Duft erfand, und deren stolzes Leben sich verband mit Ambra, Mandelöl und Sandelholz. Nicht wie des Ostens weißer Gossudar, dem Reiche eines Gottes Recht erwiesen; er aber lag mit abgehärmtem Haar, die alte Stirne auf des Fußes Fliesen, und weinte, -- weil aus allen Paradiesen nicht _eine_ Stunde seine war.
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Nicht wie die Ersten alter Handelshäfen, die sorgten, wie sie ihre Wirklichkeit mit Bildern ohnegleichen überträfen und ihre Bilder wieder mit der Zeit; und die in ihres goldnen Mantels Stadt zusammgefaltet waren wie ein Blatt, nur leise atmend mit den weißen Schläfen ... Das waren Reiche, die das Leben zwangen unendlich weit zu sein und schwer und warm. Aber der Reichen Tage sind vergangen, und keiner wird sie dir zurückverlangen, nur mach die Armen endlich wieder arm. Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen, die ohne Willen sind und ohne Welt; gezeichnet mit der letzten Ängste Zeichen und überall entblättert und entstellt. Zu ihnen drängt sich aller Staub der Städte, und aller Unrat hängt sich an sie an. Sie sind verrufen wie ein Blatternbette, wie Scherben fortgeworfen, wie Skelette, wie ein Kalender, dessen Jahr verrann, -- und doch: wenn deine Erde Nöte hätte: sie reihte sie an eine Rosenkette und trüge sie wie einen Talisman. Denn sie sind reiner als die reinen Steine und wie das blinde Tier, das erst beginnt, und voller Einfalt und unendlich deine und wollen nichts und brauchen nur das _eine:_ so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind. Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ... Du bist der Arme, du der Mittellose, du bist der Stein, der keine Stätte hat, du bist der fortgeworfene Leprose, der mit der Klapper umgeht vor der Stadt. Denn dein ist nichts, so wenig wie des Windes, und deine Blöße kaum bedeckt der Ruhm; das Alltagskleidchen eines Waisenkindes ist herrlicher und wie ein Eigentum. Du bist so arm wie eines Keimes Kraft in einem Mädchen, das es gern verbürge und sich die Lenden preßt, daß sie erwürge das erste Atmen ihrer Schwangerschaft. Und du bist arm: so wie der Frühlingsregen, der selig auf der Städte Dächer fällt, und wie ein Wunsch, wenn Sträflinge ihn hegen in einer Zelle, ewig ohne Welt. Und wie die Kranken, die sich anders legen und glücklich sind; wie Blumen in Geleisen so traurig arm im irren Wind der Reisen; und wie die Hand, in die man weint, so arm ...
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Und was sind Vögel gegen dich, die frieren, was ist ein Hund, der tagelang nicht fraß, und was ist gegen dich das Sichverlieren, das stille lange Traurigsein von Tieren, die man als Eingefangene vergaß? Und alle Armen in den Nachtasylen, was sind sie gegen dich und deine Not? Sie sind nur kleine Steine, keine Mühlen, aber sie mahlen doch ein wenig Brot. Du aber bist der tiefste Mittellose, der Bettler mit verborgenem Gesicht; du bist der Armut große Rose, die ewige Metamorphose des Goldes in das Sonnenlicht. Du bist der leise Heimatlose, der nicht mehr einging in die Welt: zu groß und schwer zu jeglichem Bedarfe. Du heulst im Sturm. Du bist wie eine Harfe, an welcher jeder Spielende zerschellt. Du, der du weißt und dessen weites Wissen aus Armut ist und Armutsüberfluß: Mach, daß die Armen nicht mehr fortgeschmissen und eingetreten werden in Verdruß. Die andern Menschen sind wie ausgerissen; sie aber stehn wie eine Blumenart aus Wurzeln auf und duften wie Melissen, und ihre Blätter sind gezackt und zart. Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche: sie rühren sich wie in den Wind gestellt und ruhen aus wie etwas, was man hält. In ihren Augen ist das feierliche Verdunkeltwerden lichter Wiesenstriche, auf die ein rascher Sommerregen fällt. Sie sind so still; fast gleichen sie den Dingen. Und wenn man sich sie in die Stube lädt, sind sie wie Freunde, die sich wiederbringen, und gehn verloren unter dem Geringen und dunkeln wie ein ruhiges Gerät. Sie sind wie Wächter bei verhängten Schätzen, die sie bewahren, aber selbst nicht sahn, -- getragen von den Tiefen wie ein Kahn, und wie das Leinen auf den Bleicheplätzen so ausgebreitet und so aufgetan. Und sieh, wie ihrer Füße Leben geht: wie das der Tiere, hundertfach verschlungen mit jedem Wege; voll Erinnerungen an Stein und Schnee und an die leichten, jungen, gekühlten Wiesen, über die es weht. Sie haben Leid von jenem großen Leide, aus dem der Mensch zu kleinem Kummer fiel; des Grases Balsam und der Steine Schneide ist ihnen Schicksal, -- und sie lieben beide und gehen wie auf deiner Augen Weide und so wie Hände gehn im Saitenspiel. Und ihre Hände sind wie die von Frauen und irgendeiner Mutterschaft gemäß; so heiter wie die Vögel, wenn sie bauen, -- im Fassen warm und ruhig im Vertrauen, und anzufühlen wie ein Trinkgefäß.
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Ihr Mund ist wie der Mund an einer Büste, der nie erklang und atmete und küßte und doch aus einem Leben, das verging, das alles, weise eingeformt, empfing, und sich nun wölbt, als ob er alles wüßte -- und doch nur Gleichnis ist und Stein und Ding ... Und ihre Stimme kommt von ferneher und ist vor Sonnenaufgang aufgebrochen und war in großen Wäldern, geht seit Wochen und hat im Schlaf mit Daniel gesprochen und hat das Meer gesehn und sagt vom Meer. Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles zurückgegeben, was sie leise leiht, und weit verteilt wie Brot in Hungersnöten an Mitternächte und an Morgenröten und sind wie Regen voll des Niederfalles in eines Dunkels junge Fruchtbarkeit. Dann bleibt nicht eine Narbe ihres Namens auf ihrem Leib zurück, der keimbereit sich bettet wie der Samen jenes Samens, aus dem du stammen wirst von Ewigkeit. Und sieh: ihr Leib ist wie ein Bräutigam und fließt im Liegen hin gleich einem Bache und lebt so schön wie eine schöne Sache, so leidenschaftlich und so wundersam. In seiner Schlankheit sammelt sich das Schwache, das Bange, das aus vielen Frauen kam; doch sein Geschlecht ist stark und wie ein Drache und wartet schlafend in dem Tal der Scham. Denn sieh: sie werden leben und sich mehren und nicht bezwungen werden von der Zeit und werden wachsen wie des Waldes Beeren, den Boden bergend unter Süßigkeit. Denn selig sind, die niemals sich entfernten und still im Regen standen ohne Dach; zu ihnen werden kommen alle Ernten, und ihre Frucht wird voll sein tausendfach. Sie werden dauern über jedes Ende und über Reiche, deren Sinn verrinnt, und werden sich wie ausgeruhte Hände erheben, wenn die Hände aller Stände und aller Völker müde sind. Nur nimm sie wieder aus der Städte Schuld, wo ihnen alles Zorn ist und verworren und wo sie in den Tagen aus Tumult verdorren mit verwundeter Geduld. Hat denn für sie die Erde keinen Raum? Wen sucht der Wind? Wer trinkt des Baches Helle? Ist in der Teiche tiefem Ufertraum kein Spiegelbild mehr frei für Tür und Schwelle? Sie brauchen ja nur eine kleine Stelle, auf der sie alles haben wie ein Baum.
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Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein, drin wandelt sich das Ewige zur Speise, und wenn der Abend kommt, so kehrt es leise zu sich zurück in einem weiten Kreise und geht voll Nachklang langsam in sich ein. Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein. Des Armen Haus ist wie des Kindes Hand. Sie nimmt nicht, was Erwachsene verlangen; nur einen Käfer mit verzierten Zangen, den runden Stein, der durch den Bach gegangen, den Sand, der rann, und Muscheln, welche klangen; sie ist wie eine Wage aufgehangen und sagt das allerleiseste Empfangen langschwankend an mit ihrer Schalen Stand. Des Armen Haus ist wie des Kindes Hand. Und wie die Erde ist des Armen Haus: Der Splitter eines künftigen Kristalles, bald licht, bald dunkel in der Flucht des Falles; arm wie die warme Armut eines Stalles, -- und doch sind Abende: da ist sie alles, und alle Sterne gehen von ihr aus. Die Städte aber wollen nur das Ihre und reißen alles mit in ihren Lauf. Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere und brauchen viele Völker brennend auf. Und ihre Menschen dienen in Kulturen und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren und fahren rascher, wo sie langsam fuhren, und fühlen sich und funkeln wie die Huren und lärmen lauter mit Metall und Glas. Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte, sie können gar nicht mehr sie selber sein; das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein und ausgehohlt und warten, daß der Wein und alles Gift der Tier- und Menschensäfte sie reize zu vergänglichem Geschäfte. Und deine Armen leiden unter diesen und sind von allem, was sie schauen, schwer und glühen frierend wie in Fieberkrisen und gehn, aus jeder Wohnung ausgewiesen, wie fremde Tote in der Nacht umher; und sind beladen mit dem ganzen Schmutze und wie in Sonne Faulendes bespien, -- von jedem Zufall, von der Dirnen Putze, von Wagen und Laternen angeschrien. Und gibt es einen Mund zu ihrem Schutze, so mach ihn mündig und bewege ihn. O wo ist der, der aus Besitz und Zeit zu seiner großen Armut so erstarkte, daß er die Kleider abtat auf dem Markte und bar einherging vor des Bischofs Kleid.
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Der Innigste und Liebendste von allen, der kam und lebte wie ein junges Jahr; der braune Bruder deiner Nachtigallen, in dem ein Wundern und ein Wohlgefallen und ein Entzücken an der Erde war. Denn er war keiner von den immer Müdern, die freudeloser werden nach und nach, mit kleinen Blumen wie mit kleinen Brüdern ging er den Wiesenrand entlang und sprach. Und sprach von sich und wie er sich verwende, so daß es allem eine Freude sei; und seines hellen Herzens war kein Ende, und kein Geringes ging daran vorbei. Er kam aus Licht zu immer tieferm Lichte, und seine Zelle stand in Heiterkeit. Das Lächeln wuchs auf seinem Angesichte und hatte seine Kindheit und Geschichte und wurde reif wie eine Mädchenzeit. Und wenn er sang, so kehrte selbst das Gestern und das Vergessene zurück und kam; und eine Stille wurde in den Nestern, und nur die Herzen schrieen in den Schwestern, die er berührte wie ein Bräutigam. Dann aber lösten seines Liedes Pollen sich leise los aus seinem roten Mund und trieben träumend zu den Liebevollen und fielen in die offenen Corollen und sanken langsam auf den Blütengrund. Und sie empfingen ihn, den Makellosen, in ihrem Leib, der ihre Seele war. Und ihre Augen schlossen sich wie Rosen, und voller Liebesnächte war ihr Haar. Und ihn empfing das Große und Geringe. Zu vielen Tieren kamen Cherubim, zu sagen, daß ihr Weibchen Früchte bringe, -- und waren wunderschöne Schmetterlinge: denn ihn erkannten alle Dinge und hatten Fruchtbarkeit aus ihm. Und als er starb, so leicht wie ohne Namen, da war er ausgeteilt: sein Samen rann in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen und sah ihn ruhig aus den Blumen an. Er lag und sang. Und als die Schwestern kamen, da weinten sie um ihren lieben Mann. O wo ist er, der Klare, hingeklungen? Was fühlen ihn, den Jubelnden und Jungen, die Armen, welche harren, nicht von fern? Was steigt er nicht in ihre Dämmerungen -- der Armut großer Abendstern.
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Die Versanfänge _Erstes Buch:_ Das Buch vom mönchischen Leben (1899) Da neigt sich die Stunde und rührt mich an 7 Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen 7 Ich habe viele Brüder in Soutanen 8 Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen 8 Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden 8 Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal 9 Wenn es nur einmal so ganz stille wäre 9 Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht 10 Ich lese es heraus aus deinem Wort 10 Der blasse Abelknabe spricht 11 Du Dunkelheit, aus der ich stamme 11 Ich glaube an alles noch nie Gesagte 12 Ich bin aus der Welt zu allein und doch nicht allein genug 13 Du siehst, ich will viel 13 Wir bauen an dir mit zitternden Händen 14 Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat 15 Wer seines Lebens viele Widersinne 15 Was irren meine Hände in den Pinseln? 15 Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht 16 Mein Leben ist nicht diese steile Stunde 16 Wenn ich gewachsen wäre irgendwo 17 Ich finde dich in allen diesen Dingen 18 Ich verrinne, ich verrinne 18 Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen 19 Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz 20 Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister 20 Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin 21 So viele Engel suchen dich im Lichte 21 Das waren Tage Michelangelos 22 Der Ast vom Baume Gott, der über Italien reicht 22 Da ward auch die zur Frucht Erweckte 23 Aber als hätte die Last der Fruchtgehänge 24 So hat man sie gemalt; vor allem einer 24 Mit einem Ast, der jenem niemals glich 25 Ich kann nicht glauben, daß der kleine Tod 26 Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? 26 Du bist der raunende Verrußte 27 Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam 27 Dann bete du, wie es dich dieser lehrt 28 Ich habe Hymnen, die ich schweige 29 Gott, wie begreif ich deine Stunde 29 Alle, die ihre Hände regen 30 Der Name ist uns wie ein Licht 31 Dein allererstes Wort war: Licht 31 Du kommst und gehst.
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Die Türen fallen 32 Du bist der Tiefste, welcher ragte 33 Ich weiß: Du bist der Rätselhafte 33 So ist mein Tagwerk, über dem 34 Ihr vielen unbestürmten Städte 35 Ich komme aus meinen Schwingen heim 35 Du wirst nur mit der Tat erfaßt 37 Mein Leben hat das gleiche Kleid und Haar 37 Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe 38 Es tauchten tausend Theologen 39 Die Dichter haben dich verstreut 40 Selten ist die Sonne im Sobór 40 Da trat ich als ein Pilger ein 41 Wie der Wächter in den Weingeländen 42 Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht 42 Ich war bei den ältesten Mönchen 43 Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern 44 So bin ich nur als Kind erwacht 45 Daß ich nicht war vor einer Weile 45 Es lärmt das Licht im Wipfel deines Baumes 46 Du Williger, und deine Gnade kam 47 Eine Stunde vom Rande des Tages 47 Und dennoch: mir geschieht 48 _Zweites Buch:_ Das Buch von der Pilgerschaft (1901) Dich wundert nicht des Sturmes Wucht 51 Ich bete wieder, du Erlauchter 52 Ich bin derselbe noch, der kniete 53 Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt 56 Dir ist mein Beten keine Blasphemie 56 Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alp 57 Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn 58 Und meine Seele ist ein Weib vor dir 58 Du bist der Erbe 58 Und du erbst das Grün 59 Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen 60 Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt 61 Du bist der Alte, dem die Haare 62 Gerüchte gehn, die dich vermuten 62 Alle, welche dich suchen, versuchen dich 63 Wenn etwas mir vom Fenster fällt 64 Du meinst die Demut 65 In diesem Dorfe steht das letzte Haus 66 Manchmal steht einer auf beim Abendbrot 67 Nachtwächter ist der Wahnsinn 67 Weißt du von jenen Heiligen, mein Herr? 67 Du bist die Zukunft, großes Morgenrot 69 Du bist das Kloster zu den Wundenmalen 70 Die Könige der Welt sind alt 71 Alles wird wieder groß sein und gewaltig 71 Auch du wirst groß sein. Größer noch, als einer 72 Es wird nicht Ruhe in den Häusern 73 So möcht ich zu dir gehn 73 Du Gott, ich möchte viele Pilger sein 74 Bei Tag bist du das Hörensagen 74 Ein Pilgermorgen.
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Von den harten Lagern 74 Jetzt reifen schon die roten Berberitzen 78 Du mußt nicht bangen, Gott 78 In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz 80 _Drittes Buch:_ Das Buch von der Armut und vom Tode (1903) Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe 83 Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen 83 Mach mich zum Wächter deiner Weiten 84 Denn Herr, die großen Städte sind 84 Da leben Menschen, weißerblühte, blasse 85 O Herr, gib jedem seinen eignen Tod 86 Denn wir sind nur die Schale und das Blatt 86 Herr: wir sind ärmer denn die armen Tiere 87 Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß 88 Das letzte Zeichen laß an uns geschehen 89 Ich will ihn preisen 90 Und gib, daß beide Stimmen mich begleiten 90 Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen 90 Denn Gärten sind, -- von Königen gebaut 91 Dann sah ich auch Paläste, welche leben 91 Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen 93 Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen 94 Du bist der Arme, du der Mittellose 94 Du, der du weißt und dessen weites Wissen 95 Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche 96 Sie sind so still; fast gleichen sie den Dingen 96 Und sieh, wie ihrer Füße Leben geht 96 Und ihre Hände sind wie die von Frauen 97 Ihr Mund ist wie der Mund an einer Büste 97 Und ihre Stimme kommt von ferneher 97 Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles 97 Und sieh: ihr Leib ist wie ein Bräutigam 98 Denn sieh: sie werden leben und sich mehren 98 Nur nimm sie wieder aus der Städte Schuld 98 Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein 99 Die Städte aber wollen nur das Ihre 100 Und deine Armen leiden unter diesen 100 O wo ist der, der aus Besitz und Zeit 101 O wo ist er, der Klare, hingeklungen? 102 Titel, Kopfleiste und Anfangsinitiale dieses Buches zeichnete Walter Tiemann. Der Druck erfolgte in der Offizin W. Drugulin zu Leipzig. [Anmerkungen zur Transkription: Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen. S. 80: Denn alle Uberflüsse -> Überflüsse S. 86: zehn ihnen leise eine Weile nach -> gehn S. 90: ichts von dem weiten wirklichen Geschehen -> Nichts ] [Transcriber's Notes: The table below lists all corrections applied to the original text. p.
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80: Denn alle Uberflüsse -> Überflüsse p. 86: zehn ihnen leise eine Weile nach -> gehn p. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. Section 1. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. See paragraph 1.C below. See paragraph 1.E below. 1.C. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change. If you are outside the United States, check the laws of your country in addition to the terms of this agreement before downloading, copying, displaying, performing, distributing or creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country outside the United States. 1.E. 1.E.3. 1.E.4. 1.E.5.
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Langkau and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Franziska Mann Die Stufe Fragment einer Liebe [Abbildung: Mosaik Verlag] Im Mosaik Verlag zu Berlin 1922 _Mosaik-Bücher * Band 3_ Dieses Buch wurde für die _Mosaik Verlag_ G.m.b.H. bei Gebrüder Rennert in Berlin gedruckt. Einband und Druckanordnung von Erich Büttner. Die Verse im Text sind von L. Avellis. Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung und Verfilmung vorbehalten. Copyright by Mosaik Verlag G.m.b.H., Berlin W. 50. 1922. _Maria an Roland._ Roland, sind Sie leichtsinnig! Laufen Sie lieber vor mir davon. Oder ist Leichtsinn immer eine Krankheit -- chronisch bei den einen, akuter Natur bei den anderen? Nicht nur einfach abzuschütteln --, Heilbarkeit unsicher? Noch ist es Zeit! Ich warne Sie! Verpassen Sie nicht den rechten Augenblick zur Flucht. Sie sind fünfundzwanzig Mal im Laufe der Jahre am zehnten Mai vorübergeschritten, ich an diesem Frühlingstage, der auch mich die Reise ins Leben beginnen ließ, zweiundvierzig Mal. Es bleibt eine gewagte Angelegenheit, schön und gefährlich, dieses »die Seelen sind von keinem Alter.« Sehen Sie sich lieber die blonden und die braunen Mädel an, deren gibt es so viele. Und doch möchte ich Ihnen helfen. Sie brauchen einen _Menschen_. Ich könnte der rechte Mensch für Sie sein. Nur dürfen Sie nicht an Liebe denken; sie verwirrt immer, sie würde alles verderben. -- Nach allgemeinen Begriffen weiß ich wenig von Ihnen. Aber nie war ich begierig, Menschen, an die mich ein seelisches Fluidum zu binden begann, in hergebrachter Form _kennen_ zu lernen. Genießen wollte ich einen Blick, eine Stimme, den leisen Druck einer Hand. Ganz nur Gegenwart sollte mich umfangen, beleben, vielleicht auch berauschen, aber kennen? Nein, kennen ist drohender Alltag. Ich will meine Viertelstunde, unbekümmert um alles Gewesene. (Solch eine Viertelstunde kann lange währen, sie wird nach besonderem Maß gemessen.) Die nach mir kommen, mögen die ihre haben. Verstehen Sie das? Treu bin ich nicht, habe nie treu in hergebrachter Vorstellung sein wollen. Freunde, welche unbewegliches Festhalten brauchen, sind neben mir zu beklagen. Für mein Empfinden gibt es Wertvolleres als starres Beharren. Glauben Sie, Roland: Alles hat seine Zeit. -- Allmählich bin ich so etwas wie eine Seelensucherin geworden. Weiß selbst nicht, wie es gekommen ist. Nie habe ich diese Eigenart -- oder darf ich sagen dieses Talent? -- absichtlich in mir gesteigert, habe nie aufgehört, sie als Begnadung zu empfinden. Manchem wurde ich zur Lebenswende, zur Stufe in freiere, befreite Welten.
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Für das Glück der Vielen war ich nie geschaffen. Vielleicht vermochte ich Einigen die Kraft zur Einsamkeit zu stärken; vielleicht lehrte ich Einige sich selbst kennen zu lernen, half ihnen, eine andere Lebensresonanz zu erlauschen. Ich vergaß nie, daß ich nicht mehr werden konnte als ein Mörtelträger: sein Schloß kann sich jeder nur allein errichten, seinen Tempel oder sein Alltagshaus. -- Immer bin ich mir klar gewesen, nicht auf das Beieinander_bleiben_ kommt es an, sondern auf die Spuren, die wir in fremder Seele zurückzulassen vermögen. Das nenne ich Treue, ist _mir_ Treue. Und doch habe ich manchem etwas fürs Leben zu geben gehabt. Ich weiß, daß das einzig Sichere der Wandel ist; nie habe ich jemanden halten wollen; meist war ich es wohl, die fort war, innerlich schon ein wenig entfernt, bevor der andere es entdeckte. Doch nicht stets schritt ich nur aus Menschenliebe weiter, so selbstlos war ich nicht; oft lockte mich schon leise, ganz leise, eine fremde Seele. Mit ihr mich zu vereinen, trieb es mein Herz; denn immer hat auch mein Herz seinen Anteil haben wollen. Durch wunderbare Gefilde bin ich geschritten, -- frei und doch gefesselt. Nein, ich hätte nicht immer nur denselben Garten durchwandeln können. Ich liebte es, Neuland zu entdecken. Dort, wo viele nur kahles Feld sahen, ahnte ich bereits wogendes Blühen. Ohne Mühe neigten sich mir tausend -- den Vielen nicht sichtbare -- Herrlichkeiten entgegen. -- So einfach, Roland, dürfen Sie sich nun aber nicht das Wiederlösen vorstellen. Man muß Schmerzen lautlos zu tragen vermögen, muß sinnend nachschauen können, muß die zuckenden Lippen fest aufeinander zu pressen lernen; man muß zuletzt _ertragen_ können, wozu anfangs durchaus keine Tragfähigkeit notwendig dünkte. Gerade Ihnen möchte ich meine Vereinigung mit den Vielen -- jenen seltsamen Zwang, der mir Fremde leicht in die Nächsten wandelt -- ohne Gefallsucht deuten, jene Augenblicke, in denen ich glaube, nicht mehr zurückweichen zu können, obgleich nichts Sichtbares, nicht das geringste äußerlich Bindende mich hält. Und doch habe ich mich oft, (oder soll ich sagen _zu_ oft?) gerade in dieser Form fesseln lassen; denn ein Gefesseltsein gehört zu jener Hingabe, die auch von Glut durchpulst sein muß, wenn sie vollkommen schön sein soll. Aber ich zergliedere nicht, sobald meine Seele sich an eine fremde Seele schmiegt -- das schlösse von Beginn an jede Unbefangenheit aus. Ich möchte von einem unstillbaren Hang zur Verschwendung sprechen, unheilbar und unhemmbar.
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Mir geht es wie dem Künstler, der sich in immer neue Gebilde verliert, die seine schaffenstrunkene Phantasie formt. Kommt doch auch für ihn so überraschend schnell eine Zeit, in der er ohne Extase vor einer Schöpfung steht, die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens gewesen ist. Ihm selbst unergründliche Gewalten reißen ihn zu neuen Schöpfungen, in deren Bann er sich wehrlos verlieren muß. -- Dies alles aber berührt nicht das Bestehen von Vereinigungen festen und dauernden Gepräges. In diesen Freundschaften nimmt man sich hin, wie man ist, geheimnist nichts ineinander hinein, vergleicht nicht mit erträumter Vollkommenheit, ruht aus in mitfühlender Innigkeit, erwartet nicht letztes Verstehen und genießt doch ein schönes Beglücktsein in dieser Freunde Nähe. Im geheimen aber schämen wir uns vor ihnen der Hoffnungen, die nie sterben wollen, des Durstes nach dem Unbekannten, des immer Bereitbleibens, weiter in nebelverhangene Lande zu wandern. Erst der Tod kann uns von diesen Freunden trennen, nie das Leben. Nur den Wunsch nach Hingerissenheit können sie uns in dem gleichförmigen, wenn auch gesünderem Tale, in dem sie leben, nicht erfüllen. _Sie_ belächeln unsere Himmelsträume, soweit sie sie zu ahnen vermögen. Stürme, die kräftiges, neues Werden künden, kennen _sie_ nicht. Gelänge es mir doch, Ihnen diese scheinbare Erkaltung, von der ich vorher schrieb, diese Zwiespältigkeit meines Fühlens, dieses gefaßt dem Wandel Entgegengehen verständlich zu machen. Mich dünkt, als wollte selbst die weite Natur nicht unveränderliches Beharren. Sie bereichert, auch wenn sie scheinbar verarmt; ihre Gesetzmäßigkeit ist's ja auch, die uns zuweilen wie Grausamkeit erscheinen kann; denn Wachstum wehrt sich gegen kraftlos Gewordenes; es stößt Welkendes ab, mögen wir es auch in leiser Wehmut fallen sehen. Nur die Gewißheit ersiegen wir uns schließlich doch: nichts von allem früheren, das uns einst kostbar dünkte, kann jemals wieder ganz verloren gehen. Ein Schimmer bleibt und beglückt und kann aufleuchten wie in den Augenblicken, da wir die lange schon Entfernten, die Weitergewanderten, die von uns Zurückgelassenen oder die über uns Hinfortgestiegenen am stärksten zu lieben glaubten. -- Roland, haben Sie immer noch Mut zu mir? Wären Sie doch ein weibliches Wesen, dann beunruhigte mich nicht der Gedanke, Sie könnten sich tief in mich versenken. Gestern irrte sekundenlang ein Fremdes durch Ihren Blick; dieses Fremden halber erhalten Sie heute statt der gewohnten Zettel einen so langen Brief, lieber großer Junge, von Ihrer Mutter. _Roland an Maria._ Liebe Frau Maria, doch, ich habe Mut.
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Wie immer es auch kommen mag! Sie lächeln: »Kommen mag?« Was sollte zwischen Ihnen und mir, der immer nur Einer zwischen Vielen war, kommen? Nichts an mir berechtigte je zu besonderen Hoffnungen, eher wohl zu besonderen Sorgen. Da waren meine fünf Brüder ganz andere Kerle, begabt und draufgängerisch. Die erste Tat in meinem ganzen Leben ist der Besuch bei Ihnen gewesen; ja, _Tat_ muß ich es nennen. Unbeirrbar, ohne Zögern nahm ich den Weg, der an Ihre Schwelle führte. Jeden Tag bin ich wiedergekommen, bewußt wiedergekommen, weil ich entschlossen bin, meine Seligkeit festzuhalten; Seligkeit, auch wenn sie mich vernichtet. Immer kann ich noch bis drei Uhr der schweigsame Bankbuchhalter sein, genau bis drei Uhr. Aber dann? Sagen Sie, was bin ich dann? Oberflächlich, nur ganz oberflächlich, möchte ich Ihnen doch endlich schnell etwas von meinem Werdegang, der nie ein richtiger Werdegang wurde, sagen. Die Stunde neben Ihnen ist zu schade, Sie von der einzigen Kunst zu unterrichten, die ich bisher verstand, von der: klein zu bleiben. -- Meine Eltern sind froh gewesen, als ich mit dem Reifezeugnis nach Hause kam. Ohne dieses Zeugnis hätte mein Vater mir unter keiner Bedingung irgend welche Lebenstüchtigkeit zugetraut. Alles, was nicht zu _der_ Reife gehörte, machte einen Jungen in unserer kleinen Stadt lächerlich und mußte im Geheimen betrieben werden. So wurde jeder Gedanke in glatte Alltagsbahnen gepreßt. Niemand um mich sprach Silben, die nicht deutlich, fest und bestimmt ausdrückten, was sie ausdrücken sollten. Kein Wort hörte ich, das zu den Sternen wollte. Ich wurde nicht bleich, nicht schwermütig, -- nur alltäglich. Das Gefürchtetste bei uns bestand darin, sich irgendwie hervorzutun. Dazu genügte schon ein Hut, welcher anders war, als die Hüte der Mehrzahl; überhaupt hatten wir immer nur wie die Mehrzahl zu sein. Ausnahmegesetze erkannte mein Vater nicht an. Nie hat, so sehe ich es jetzt, ein frischer Wind durch unsere kleine Stadt geweht, der ihre heilige Ordnung hätte bedrohen können. Unantastbar blieb der Glaube an die Autorität, besonders an die Autorität der Gesellschaft. Mir fehlte, -- Bismarck rügte es treffend an fast all seinen Zeitgenossen: Zivilcourage.
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In den wenigen Monaten hier habe ich endlich erkannt, daß in der Wissenschaft, in der Kunst _der_ sehr viel weniger gilt, der Besonderes zuerst sagte, als _der_, welcher sich als Erster mutig Gehör zu schaffen verstand, und so weiß ich nicht mehr mit Bestimmtheit, ob sich unter meiner Gebundenheit nicht doch etwas regen könnte, das mich wenigstens, -- verstehen Sie dieses »wenigstens« nicht falsch -- Ihnen näher bringen könnte. -- »Zivilcourage« rufe ich mir also zu und berichte weiter: Verse, die ich heimlich, als ich noch zur Schule ging, mit Leidenschaft niederschrieb, hatten meinen Ruf nicht einwandfrei gemacht. Ich sollte ein Schwärmer sein, ein Träumer, war vielleicht schon auf denselben Abwegen wie mein Großvater, der -- Mutter vertraute es mir feierlich und warnend und weinend an -- hinterm Zaum auf der Landstraße zugrunde gegangen ist. Immer wurde mir der Großvater als warnendes Beispiel vorgeführt, nie aber erfuhr ich deutlich, worin seine Laster eigentlich bestanden haben. -- Zwei Tage hindurch wagte ich einmal einen geschlungenen Künstlerschlips zu tragen. Das Halloh, mit dem mich Groß und Klein anbrüllte, ließ mehr als nur den Schlips verschwinden; es duckte mich klaftertief. -- Bis zum Tode meines Vaters blieb ich in unserer Kleinstadt, in der Mühle, die langsam das zerrieb, aus dem ich, wäre man barmherziger damit verfahren, vielleicht ein wirkliches Leben hätte formen können. -- Hier die wenigen Monate duldeten bisher kein Umschauen. Ich habe mich zu ernähren, habe mich Aufgaben zu widmen, die, weiß der Himmel, nicht großartige sind. -- Vielleicht sahen Sie, als Sie mich vor zwei Wochen Ihrer Beachtung würdigten, den Früheren in mir, den Anderen, nicht _nur_ den simplen Bankbuchhalter. -- Ich soll jung sein, meinen die Leute; auch Sie sagten es, Frau Maria; also müßte es wahr sein. Aber sind _Sie_ nicht viel jünger? Sie haben sich Ihren Glauben an alles Hohe, Ihre Begeisterung für alles Schöne durch ein gewiß nicht leichtes Leben bewahrt. Wie konnten Sie das? Ich dagegen? Vielleicht bin ich nie jung gewesen, nie so jung, wie Sie heute, wenngleich es mir jetzt so leicht erscheint, mit Ihnen die Fahrt ins Jugendland zu beginnen. Nein, ich _begann_ diese Fahrt nie; gleich die erste Stunde allein neben Ihnen, Frau Maria, in Ihrem Heim, erweckte in mir den Wahn, Kühnheit habe von jeher auch mich ausgezeichnet. So selbstverständlich wird durch Ihre Nähe alles gesteigert.
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Sie werden zu verstehen versuchen, wie es gekommen ist, daß ich mich so früh mit einem ungelebten Leben abfand. Vererbung, Erziehung, Lebensumstände mögen die Sklavenhalter gewesen sein, die gelassen zu Tode peitschen wollten, was nicht stark genug in mir war, sich jubelnd aus der kläglichen Gebundenheit zu befreien. Noch kann ich nicht erkennen, wohin mich die Befreiung führen soll, ob sie erheben oder vernichten will; jetzt aber, in diesen leuchtenden Tagen, erfüllt sie mich mit nie gekannter Freude. Sie wünschen keine Liebe, Frau Maria; die meine ist bereits zu groß, um sie Ihnen verheimlichen zu können. _Sie_ sind so oft in Ihrem Leben geliebt worden, Sie haben so oft selbst geliebt, daß Sie ein Gefühl nicht erschrecken wird, von dessen Sterblichkeit Sie, wie Sie mir versicherten, überzeugt sind. Ich muß Ihnen glauben; denn ich kannte Liebe nicht. Mir aber bleibt dieses Gefühl für Sie das Wunder, von dem ich weiß, daß es mich zu großen Taten befähigen _muß_. Welcher Art diese Taten sein können, -- in wie hohem Grade überflüssig für die Welt, und wie zwingend ihre Ausübung für mich, -- wir wollen es nicht zu ergrübeln versuchen. Lassen Sie dieses »wir« gelten; denn, Frau Maria, mögen Sie auch getreu Ihrer Auffassung von Liebe und Freundschaft und Neubelebung nicht gerade neben mir zu ungewohnt langem Harren gezwungen werden: zu früh dürfen Sie Ihren Jünger nicht zum Alleinweiterwandern verurteilen. Nein, das können Sie nicht, auch wenn Sie es wollten. Viele Briefe werde ich Ihnen noch schreiben dürfen, viele noch von Ihnen empfangen, und die Tür zu Ihrem Zimmer wird sich mir lange noch täglich für eine Abendstunde öffnen. -- Entdeckte ich doch eine schönere Ausdrucksform für das zitternde Empfinden, das mich, seitdem ich nur an Sie zu denken vermag, durchströmt! Diese eckigen, armseligen Worte mißfallen mir gründlich. Viel tausend Grüße sendet Ihnen Ihr törichter Junge Roland. _Maria an Roland._ Roland, langsam, wie werdender Frühling, vollzieht sich oft die Vereinigung von Seelen, aber das Schicksal jagt auch Menschen so rasch zueinander, wie zwei Blätter, die der Sturm von entfernten Bäumen riß, um sie dann in dieselbe winzige Erdfurche zu wehen, auf ein so kleines Fleckchen Erde, als sei nirgends sonst Raum gerade für diese beiden. _Wir_ sind wohl dem letzten Tempo untertan. Wir! Verstehen Sie nur dieses »wir« nicht falsch. Sehen Sie es nicht als ewig Bindendes an; immer wieder möchte ich es Ihnen wiederholen.
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Zwar sagten Sie mir: »Auch die Schmerzen, die mir durch Sie kommen, will ich segnen.« Aber, großes Kind, Schmerzen sind schwer, ach, sehr schwer zu segnen. Deshalb erinnere ich wieder und wieder an mein erstes Warnen und an -- meine Jahre. Trotzdem kann ich nicht das »wir« streichen, gehören ja auch Sie zu jener kleinen Schar, für die das Dasein anders gefärbt ist, wie für jene, die in die Welt passen, wie für die Urgesunden, die unserem feinsten Fühlen fremd und überlegen lächelnd gegenüberstehen. Aus der Vereinzelung will ich Sie erlösen, die Einsamkeit für Sie fruchtbar machen. _Mehr_ will ich nicht. Glauben Sie mir, immer wird es Menschen geben, die sich wie durch graue Fluten bewegen. Musik erfüllt sie, doch sie empfinden sie wie Dissonanzen. Harmonien erklingen ihnen kaum, weil sie tastend vor allem zurückweichen, was so anders, so ganz anders in ihnen schluchzt und klagt und frohlockt, als das Glück der Vielen. Und aus der Entsagung, die sich langsam in sie schleicht, wird Erstarrung oder Verbitterung. Sie wissen nichts von Leidensgenossen; sie kennen _nicht_ sich selbst oder _nur_ sich selbst. All ihr schmerzliches Fragen verhallt ins Leere, bis ein Wunder geschieht: Eine Seele erschließt sich der ihren. Dann aber werden aus allen verirrten Klängen köstliche Melodien. Die grauen Flächen um sie verwandeln sich in schimmernde Fluten. Brennende Blutwellen steigen in ihnen empor, röten ihre Wangen, stiller Jubel umfängt sie, ein Fremdes durchdringt sie, von dem sie nicht wissen, ist es Schmerz oder Wonne. In Dämmerferne tauchen für sie lichte Türme empor. -- Lieber Junge, ähnlich einem Windhauch, der über stilles Wasser streicht, so möchte ich zu Ihnen gekommen sein, oder wie ein Silberschein, der über dunklem Gebirge schimmert. Schließen Sie die Augen, und erkennen Sie, _wovon_ wir leben in all dem Geräusch von Komödien jeglicher Art. Maria. _Roland an Maria._ Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern, daß mein ganzes Sein Ihnen gehört, in jeder Minute, in jeder Regung, in jedem Empfinden. Nur das schwingt in mir weiter, was mit Ihnen im Zusammenhang steht; _Sie_ nur kann ich fühlen, nur die Wärme, die Ihre Seele ausströmt und entfacht. Sie sind, während ich fern von Ihnen bin, mit so vielen Menschen zusammen, und mit allen sind Sie gütig, und Ihre Stimme klingt mit jenen kaum anders als mit mir. Ich aber habe nur Sie, Maria.
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Sie wissen ja nicht, was es in sich schließt, dieses: »nur Sie«, was es bedeutet, nur einen einzigen Menschen zu haben. Ihre Stimme ist die erste _menschliche_ Stimme gewesen, die ich in meinem Alleinsein je vernommen habe: Verschollene Möglichkeiten aus den Tagen meiner Kindheit richten sich auf, Möglichkeiten, die meinem Gedächtnis vollständig entschwunden waren. Wollte auch ich einst großen Zielen zuwandern, und konnte doch so rasch am Wege zusammenbrechen? Heute ist mir jeder Nerv kraftgestählt. _Sie_ haben diese Kraft geweckt, also sind _Sie_ es, die mich geschaffen hat. Ist es nicht natürlich, daß am Anfang das Geschöpf nur von seinem Schöpfer weiß? Frau Maria, erkennen Sie in mir Ihren Schüler; denn wie käme _mir_ sonst dieses »am Anfang« in den Sinn, mir, dem allein die Vorstellung an einen Wandel Lästerung dünken müßte? Der erste Beweis meines Werdens kann nichts als -- Auflehnung sein. Genügt Ihnen die Probe? Mögen Sie es hundertmal verneinen: es _muß_ eine Liebe geben, für die es kein »am Anfang« gibt und kein »am Ende.« Auf _den_ Jugendglauben mache ich Anspruch. Ja, ich behaupte: All Ihr Liebesfühlen entbehrte unantastbarer Echtheit; denn nur, wenn Menschen alles vergessen müssen, was die Ewigkeit ihrer Liebe bedroht, ist ihre Liebe echt, ich meine, unveränderlich wie ein echter Edelstein. _Sie_ haben nie alles vergessen wollen oder vergessen können, das hat Ihr Lieben beraubt. Sind Sie denn nie von der Leidenschaft zu einem Menschen besessen worden wie der Märtyrer von seiner Idee, auch wenn deren Verwirklichung ihn mit Sicherheit aufs Schaffot führen mußte, sicher und gewiß auf den Scheiterhaufen? Ich bettle nicht. Meine Seele ist still, weil es keine Grenzen für die Stärke ihrer Liebe gibt. Ich werde Sie gewinnen, ganz mir gewinnen, Maria, liebste aller Frauen. Ihr, Ihr Roland. _Maria an Roland._ Unverbesserlicher, was wollen Sie mit mir »für Zeit und Ewigkeit« anfangen? Erinnern Sie sich an das Entsetzen Ihrer früheren Mitbürger über Ihre »Abwege«. Und auch andere werden Sie nicht verstehen. Vielleicht werden Sie selbst sich in zehn Jahren unbegreiflich geworden sein. Nein! Sie und ich! Die Natur kann Ihr Herz für mich nicht gebieterisch dauernd entflammen. Aber -- hören Sie mein Bekenntnis: Ich muß auf der Hut sein, mich von _Ihren_ Irrungen nicht locken zu lassen, obwohl ich zu ahnen beginne, daß die herrschende Sitte verantwortlicher für unsere Unvereinbarkeit zu machen sein könnte als die Natur, deren Walten wohl auch zwischen uns »von Gottes Gnaden« ist.
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Wenn Liebe die größte Steigerung der in uns ruhenden Kräfte und Möglichkeiten schafft, dann -- erwidere ich Ihre Liebe. Ich sage Ihnen dies ganz ruhig, nur wie die Feststellung einer Tatsache. Hoffen Sie nicht, daß ich mich Ihnen wie eine Lebensanfängerin in die Arme stürzen werde. Nein, an Ihnen vorbei will ich mich _noch_ tiefer, _noch_ restloser meiner Kunst hingeben. -- Aber sprechen wir von etwas anderem, sprechen wir von Ihrer »Rüge«. Ja, im Fache: »briefliche Fragen beantworten« hat meine Zensur immer »mangelhaft« lauten müssen. Ich weiß es. Zwischen uns dürfte wohl das tägliche Sehen als Milderungsgrund mit in Betracht zu ziehen sein. Eine Stunde täglich! Ist das nicht unerlaubter Reichtum? In mir wird die Neigung, mich in Briefen zu erschließen, besonders durch den noch nicht verflogenen Hauch der persönlichen Nähe des mir teuren Menschen gesteigert. Nun sind Sie also dieser »Teure« für unbestimmte Zeit. Genügt Ihnen das? Sie Unerfahrener wissen eben nicht, wie rasch ein neues Erlebnis Sie von mir wegtreiben könnte. Ihrer ungelebten Vergangenheit traue ich nicht. Sie müssen nun doch erkannt haben: das Leben ist voller Verborgenheiten. _Ich_ wäre ohne diese Verborgenheiten verschmachtet. Auch Sie werden zu lauschen beginnen, ohne zu wissen, worauf Sie lauschen. Der Strom, in den unser Fühlen und Denken gleiten kann, liegt vor uns selbst in Dunkelheit. Mit dieser schönen Unsicherheit -- oder ist sie doch vielleicht nicht schön? -- sollte jeder Mensch rechnen, der das beseelte Leben liebt, nicht nur der Künstler, dem jede Stunde neue Empfängnis aus unerforschten Gründen zufluten lassen kann. Schon oft habe ich Sie bedauert, daß Ihre erste Liebe gerade mir gilt; denn unerbittlich muß ich zu Zeiten meiner künstlerischen Bestimmung gehorchen. (Sie ist nur _einer_ der vielen Gründe, die Ihre Liebe zu einer unglücklichen machen muß.) Ich _kann_ dann nicht fragen, tue ich Ihnen oder anderen Menschen, die zu mir gehören, wehe. Alles sonst Wesentliche scheint ausgelöscht, wenn auch ein helles Erinnern unbewußt durch mein Werk fließen kann. Kann! -- hören Sie? -- kann, nicht muß. Des Künstlers Reich ist wahrlich nicht von dieser Welt. Einer unnennbaren Gewalt hat er sich zu beugen, den Ueberraschungen einer elementaren Kraft sich hinzugeben, von der er nicht weiß, wohin sie ihn zwingen kann. Im Schaffensdrang betrügt er seine Nächsten. Nein, er betrügt sie nicht; denn er weiß nichts mehr von ihnen, sobald er sich ganz in seine Kunst verliert, sobald er sich von ihr willig und freudig umschlingen läßt.
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Nur während der Pausen, in denen er diesen Schaffensrausch für erstorben und erstickt hält, vermag er mit den anderen Schritt zu halten, die besser, viel besser sein können als er, die er lieben und bewundern mag, und von denen ihn doch sein Anderssein trennt, vor denen er oft geradezu auf der Flucht sein muß, wenn er _sich_ bewahren will. Was bedeutet dagegen körperliche Hingabe? Sie kann die Verirrung einer Stunde sein. Wir Künstler, wir, die wir eigentlich nur leben, solange wir maßlos in unserem Empfinden schwelgen, sind die gefährlichsten Täuscher. In jedem Dunkel können für _uns_ Funken flammen, die uns zu Lichtstegen gen Himmel werden. Daß diese Lichtbahnen immer wieder zu Boden sinken müssen, verringert ihre Schönheit nicht. -- Könnten doch auch Sie, Roland, diese Lichtstege gewahren! Seit gestern nenne ich Sie im stillen nur noch: Meine Ueberraschung! Leicht zu deuten, nicht wahr? In jedem Ihrer letzten Briefe, in jeder unserer Stunden lösen Sie mit überraschender Natürlichkeit, mit sprunghafter Schnelle das, was Sie neulich Ihre »Gebundenheit« nannten. Frei von gewollter Anempfindung wird Ihre Ausdrucksform der meinen seltsam ähnlich, und doch gleiten Sie überraschend leicht und mühelos in geistige Selbständigkeit hinein. Ohne heroisches Kämpfen stehen Sie plötzlich am anderen Ufer. Ich muß also anfangen, bei Ihnen schon jetzt mit unvorherzusehender Unerschrockenheit zu rechnen. »Meine Ueberraschung« nenne ich Sie aber auch deshalb, vielleicht mit noch viel größerer Berechtigung, seitdem ich fühle, daß eine höchst unwahrscheinliche Veränderung in raschestem Tempo auch -- mich bedroht. Maria. _Roland an Maria._ Maria, aller Frauen liebste, ich verstehe, was Sie mir zu erklären versuchten, verstehe es, wie wenn ich zu denen gehörte, die den Menschen etwas zu geben haben. Hat die Schwungkraft, mit der Sie mich behexten, vielleicht meinen Kopf verwirrt? Ich begriffe es, wenn diese unerwarteten Merkwürdigkeiten dem Bankbuchhalter Roland total die Besinnung raubten. Nie wieder wird er so ruhige Tage durchdämmern wie einst. Maria, welch ein Glück ist meine -- Verirrung. Rasch muß ich Ihnen aber von einem unerklärlichen Traumspiel -- oder Trancezustand? -- berichten, den ich erlebte, nicht etwa erfand: In dieser letzten meiner jetzt fast stets schlaflosen Nächte vernahm ich plötzlich deutlich eine Stimme, die mir Worte, viele Worte zuraunte. Nur wie ein Raunen wars, vielleicht kam es garnicht aus fremder Seele -- vielleicht aus der meinen. Ich schrieb unter einem seltsam unerklärlichen Zwange Worte nieder, in denen sich heute in hellem Tageslicht der Widerhall meines eigenen Gefühls offenbart.
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Erinnern Sie sich, daß ich jüngst von den eckigen Worten sprach, von der unvollkommenen Form für ein so gewaltiges Empfinden, wie das meinige für Sie? Wäre es möglich, daß ich, ohne es zu wissen, im Besitz jener Form gewesen bin? Ich vermag dieses Glück nicht durchzudenken; ich darf diese Vorstellung nicht nähren, sie wäre Wahnsinn -- -- In Ihrem Zimmer, neben Ihnen, möchte ich Ihnen das kleine Lied vorlesen, von dem ich nicht weiß, ob es »etwas« sein könnte, von dem nur eines gewiß ist: es entströmte der Wonne meines überseligen Herzens. Ihr Roland. _Maria an Roland._ Mein Junge, während mein Blick wieder und wieder auf das Blatt mit Deinen großen, steilen Buchstaben fällt, vernehme ich den Ton Deiner Stimme, die bebend und doch schicksalsergeben hier in meinem Zimmer noch jetzt zu verkünden scheint: »Wie heißer Kuß ist oft das erste Du -- Zwei glühende, von Sehnsucht schwere Herzen, Die zitternd brennen wie geweihte Kerzen, Sie sinken taumelnd sich einander zu. Und war doch nur ein altgewohntes Wort, Das oftmals achtlos floß von ihren Lippen, Und reißt sie nun -- hin über Fels und Klippen -- Ins unermessne Meer der Liebe fort -- --« Mit einem so gewaltigen Uebermaß von Glück überströmten mich Deine Verse, daß ich garnicht zu mir selbst zurückfinden möchte -- nicht so rasch zurückfinden; denn, zurück muß ich ja doch, zurück. Dein Lied, das mich erschreckt und erschüttert hat und aufgewühlt bis ins tiefste Innere, täuscht noch immer den Atem Deiner Nähe vor -- obwohl Du mich vor einer Stunde verlassen hast. -- Aber sagen? Was könnte ich Dir über die Wirkung (welch eine lächerliche Bezeichnung) dieser zwei heißen Verse _sagen_? Roland, ich, die ich bisher stets im Fluge mein Wollen und Wünschen, mein Empfinden auszudrücken vermochte, habe eine Weile auf das leere Blatt gestarrt und nicht gewußt, was ich Dir schreiben könnte. Auch mich bedrückt die Armseligkeit meiner Worte, genau wie Dich die Deine. -- Nicht nur Deine Verse erweckten in mir den Wahn, ich hätte noch nie einen Frühling erlebt wie diesen. Dein Glaube an mich stimmt mich jetzt immer feiertäglich. Du hast -- verzeihe den etwas pathetischen Ausdruck -- mein Weltbild ganz verändert. Offenheit ist mir zwischen Menschen, die ich _mein_ nenne, stets so natürlich, so naturgewollt erschienen wie das Erblühen einer Knospe. Ich denke aber nicht an das vergröbernde »sich alles sagen«; nein, der Wesenszug, den ich meine, ist zarteren Ursprungs.
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Das von dem veränderten Weltbilde mußte ich Dir also berichten. Dagegen halte ich es für gefährlich (ich meine niederziehend) über jeden alltäglichen Kleinkram und Kleinkrieg miteinander zu sprechen. Dergleichen schweigt man tot, redet es nicht »lebendig.« Oft ist unser Gespräch tief in die Tage Deiner frühen Jugend geglitten. Deine Kindheit, die von Verkennung und seelischer Erniedrigung ganz erfüllt war, mußte in Deine Brust Aengste und Entsetzen schleudern, deren Spuren unverlöschbar sind. Meine Kindheit glich einer langsam aufsteigenden Morgenröte. Wieviel ich dieser Sonne schulde, weiß ich erst, seitdem mir so viele, ganz verschieden geartete Menschen von Fangarmen sprachen, die sich ihr ganzes Leben hindurch nach ihnen ausstreckten, oder die sich an sie krallten, und die doch nichts anderes waren als Hemmungen und Verängstigungen aus den Tagen ihrer frühen Jugend. Die schlimmsten Morde sind unsichtbar und bleiben straffrei. -- -- Mein lieber Junge, schon oft erfuhr ich es an mir: jedes tiefe Lieben verstärkt unsere Eigenliebe. Oder weißt Du einen besseren Ausdruck für diese Ichsucht? Vertausendfacht ist die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit vor uns selber. Was sind wir? Sind wir liebenswert? Anscheinend längst verlassene Kalvarienwege liegen plötzlich wieder grell beleuchtet neben uns, Stationen, die wir für alle Zeit verlassen zu haben wähnten, tauchen auf und fordern gebieterisch erneutes Erinnern. Nie bin ich mir so fremd gewesen wie in den letzten Tagen. Wohin entschwand das Erschrecken über ein Gefühl, das so vieles fortschwemmen konnte von dem, was ich bisher kühn »meine Ueberzeugung« nannte? Bist Du je auf taufrischem Waldpfad dahingewandert, ganz hingenommen von morgendlicher Stille -- und dann plötzlich kam eine schroffe Wegbiegung, tosender Sturm brach an und schleuderte Dir Hagelschlossen in die Augen? Wir wissen oft nicht, welches Schauspiel plötzlich eine unbekannte Gegend vor uns aufrollen könnte. Wie sollten wir auch auf der weiten Erde so genau Bescheid wissen? Und dennoch mögen wir in ihr besser auf Naturerscheinungen vorbereitet sein, als in der engbegrenzten Welt unseres eigenen Herzens. Wir wissen nicht, welche Summe an vorher ungeahntem Empfinden noch in uns schlummert, welcher Steigerung unsere Seele fähig ist, welchem Brausen unser Blut unterworfen sein könnte, wieviel unerlöste Seligkeiten unsere Brust birgt. Roland, wie selbstherrlich bin ich doch gewesen! Ich lächle über mich -- -- So oft ich Deinen täglichen Brief nun in Händen halte, verflüchtigt sich alles irdisch Lastende. Für Augenblicke ist mein Zimmer in rosiges Licht getaucht, oft nur sekundenlang.
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Und doch verdanke ich diesen paar rascheren Herzensstößen eine nicht zu erschütternde Siegesstimmung für beschattete spätere Tagesstunden. Konnte ich Dir trotzdem gestern erklären, daß dieses _häufige_ Schreiben »nicht nötig« sei? Ich widerrufe, -- ach, wie viel von meiner trügerischen »Abgeklärtheit« habe ich zu widerrufen! Hoffentlich überzeugte ich Dich nicht gestern. Das wäre traurig. -- In der singenden Stunde dieses Abends, im Lindenduft, der durch die weitgeöffneten Fenster flutet, im Weiterbeben Deines Liedes in mir, empfinde ich die Möglichkeit Deines Schweigens wie ein Unglück. Drei Tage keinen Brief von Dir zu wollen, hieße dreimal ein beseligendes Heute selbst ermorden. Wie konnte ich glauben, ich bedürfe nicht täglich von neuem der Versicherung, daß ich Dir herrliche Welten geschaffen habe, daß es nicht mehr derselbe Himmelsraum ist, der über Dir glänzt, nicht mehr dieselbe Nacht, die Dich in ihre Finsternis hüllt? Als ob man Liebe überhaupt begriffe! Schreiben wir uns denn, weil wir uns schreiben _wollen_? Schrieben wir uns denn bisher nicht, weil wir einander schreiben _mußten_? Sind diese Bangnisse und Erhebungen -- Briefe? Glauben wir doch uns dieses Ueberflüssige gerade dann offenbaren zu müssen, nachdem wir eben einander ins Auge geschaut; und dünkte uns dieser Nachhall nicht gerade dann notwendig? _Der_ Tag, an dem ich aufgehört haben werde, auf Deinen Brief zu _warten_, erscheint mir heute tödlich. Wäre ich in Deinem Alter, so glaubte ich, daß dieser Tag _nie_ kommen kann. Aber, Roland, lieber Junge, ich bin _so_ weit entfernt von Deinem Alter. _Ich_ weiß um die raschen Todesfahrten der Liebe, weiß, daß sie königlich aufbaut und kalt niederzureißen vermag, daß sie Helden und Märtyrer schafft, daß sie durch Palmenhaine geleitet und in Eisesgrüfte stößt, weiß, daß Liebe eigentlich stets in Lebensgefahr ist. Ja, all dieses weiß ich und kann doch der Versuchung nicht widerstehen, die kaum vernehmbar mir unermüdlich in den letzten Tagen zuhaucht, daß sie wieder ein Recht habe, sich geltend zu machen, dasselbe Recht mich zu überglühen wie die Sonne. Oder sollten konventionelle Bedenken die Sonne verdunkeln können? Ich habe kein Talent zur Zaghaftigkeit, gar kein Talent zum Verarmen. Vielleicht stellte mich eine weise Fügung wieder einmal in einen Lebens-Brennpunkt. Man muß sich ja nicht über jede kurze Wonne »im klaren« sein. Ich bange nicht mehr! Mir ist dieses ahnungsschwere Zittern Wirklichkeit genug; nach keiner anderen Wirklichkeit wird meine Liebe zu Dir je verlangen.
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Maria, vielleicht doch _Deine_ Maria? _Roland an Maria._ Maria, wie hat Dein Brief mich beseelt. Ich lebe nur ganz in der Gegenwart; in dieser Fähigkeit entdeckte ich das Geheimnis der Lebenskunst. Ich glaube, Cromwell war's, welcher ausrief: »Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht.« Die Vergangenheit ist in mir untergegangen, mein einstiges einförmiges Leben scheine ich nie gelebt zu haben. Was kümmert es mich, wohin eine Welle mich schleudern will? Ich weiß nur von dem einen, Dich täglich sehen, Deine Stimme täglich vernehmen zu müssen, ein wenig Deine Hand täglich streicheln zu dürfen. Frei und sicher bewege ich mich, wie nie vordem. Tiefe Hingabe an ein neues Lebensgefühl wandelt mir alles zu Ueberraschungen, deren wundersamste die ist, selbstschöpferisch die Welt zu empfinden. Auch dieses: »selbstschöpferisch« ist eine Huldigung für Dich, Maria; vielleicht, Deiner Auffassung entsprechend, die wertvollste. _Deine_ Lebenskraft konnte übertragbar sein wie Fieber, das Funken und Flammen sehen läßt, auch dort, wo nüchternere Menschen nur graue Asche gewahren. Solltest Du dennoch Recht haben, daß dieses Fieber vergehen könnte, ohne daß der Wille Gewalt darüber hat? Glaube, mein Wille hätte über eines mit Gewißheit Gewalt: Ueber den Tod. Ich ließe mir nicht die Welt entheiligen. -- Willst Du anderes hören, denn nur von meinem Empfinden für Dich? Könntest Du dieses Gesprächs je müde werden? Maria, laß _das_ Meer brausen, aufschäumen, toben, von dem _Du_ erfahren zu haben glaubst, auch seine höchsten Wellen konnten verebben. Wie vertrugst Du in ständiger Wiederkehr solch Verarmen? _Muß_ man denn nicht daran zu Grunde gehen? Du bemühtest Dich gestern, mir wieder klar zu machen, daß Du mich trotz allem nicht an Dich zu fesseln wünschst. Dieses Gefesseltsein ist nicht mehr in Deine Macht gegeben. Ob Du es willst oder nicht: ich bin bei Dir. -- Zum Lied wird der Strom, der von Dir zu mir dringt. Verse tönten auch heute Nacht in mir, aber ich weiß nicht, ob es der Mühe lohnt, sie Dir zu senden. Roland -- nur noch _Dein_ Roland. _Maria an Roland._ Mein Junge, hatte ich nicht doch einen vorahnenden Geist, der mich fühlen ließ, Du würdest -- allmählich, plötzlich, gleichgiltig wann und wodurch -- die Welt mit den Augen des Schaffenden betrachten? Ich dachte damals nur an die Kraft _des_ Dichtens, die sich darin äußert, sich die Welt nicht verstümmeln, vergällen, verbittern zu lassen. Ich dachte an innere Unverletzbarkeit, an Sonnenblicke, die nie erlöschen können.
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Du schliefst, bist erwacht, bist entfesselt; Dein Leben beginnt. Was konntest _Du_ von der _Welt_ verlangen, solange Du selbst nicht bereit warst, _Dich_ ihr zu geben? Nun bist Du bereit, das verändert alles. Aber, daß Deine dichtende Seele sich immer wieder nur mir zuwendet, ist eine Gefahr für uns beide, und doch ist meine Kraft nicht mehr so stark, wie am Beginn, um Dich dieser Gefahr entreißen zu können. An Unwandelbares dachte ich ja niemals, Du weißt es; vielleicht aber begeht Kälte größere Sünden als Leidenschaft. Ich fange an, die Hoffnung aufzugeben, wir Menschen könnten dieses unübersehbar tiefe Gefühlsfeld je auch nur annähernd richtig ergründen. -- Gestern sollte ich Dir erklären, wie es möglich gewesen, daß keine Lebensverwundung mir mein Lächeln nehmen konnte. Natur -- die eigene -- und Geschick waren meine Helfer. Mir ging es genau wie jener Greisin, von der ich Dir jetzt erzählen will. Sie saß träumend auf einem Stein an blühendem Feldwege, als ein Sonnenstrahl sie fragte: »Wann habe ich Dich doch zum ersten Male beobachtet? Ja, ja, ich erinnere mich, damals, als Dir kein Baum zu hoch war, hinaufzuklettern; Du warst eben in die Schule geschickt und konntest das Stillsitzen nicht leicht lernen.« -- »Ja, damals,« lächelte die Alte -- »Und weißt Du, wann ich Dich wiedergesehen habe? Dir flogen lange Locken um den Nacken und Arm in Arm wandeltest Du mit »ihm« durch blumige Wiesen« -- »Ja, damals,« wiederholte die Alte -- »Und später sah ich Dich, als Du beseligt ein Kindchen durch Deinen Garten trugst -- als Du wähntest, Mutterglück mache unverwundbar« -- »Ja, damals.« »Und wieder strahlte ich Dich an, als Du Dich um eine Schar armer, verwahrloster Menschen bemühtest« -- »Ja, damals,« lächelte gütig die Greisin -- »Und einige Jahre später sah ich Dich, da gingst Du schon nicht mehr ganz so aufrecht, und deutlich zeigten sich graue Haare« -- »Ja, damals,« lächelte die Alte -- »Und dann begegnete ich Dir mehrmals auf Friedhöfen« -- »Ja, damals,« wiederholte versonnen die Alte -- »Und nun scheine ich schon lange über Deinen schneeigen Scheitel, und längst hast Du das Tanzen verlernt, und viel hast Du zurückgeben müssen von dem, was Dein war an Glauben und Glück, und fast immer finde ich Dich allein, aber noch hast Du Licht in den Augen. Sage mir, Alte, worüber kannst _Du_ noch lächeln? Andere, wenn sie in Deine Jahre gekommen sind, klagen und seufzen.
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Du jedoch, deren Antwort immer nur ein »damals, ja damals« war, Du _lächelst_ --?« »Das wundert Dich, Strahl, der Du das Licht zu sein glaubst? Fühlst Du denn nicht, daß jedes »damals« von einem Besitz -- einer Wonne -- einer Seligkeit -- einem Vertrauen -- einem Glauben -- einer Stärke zeugt? Und ich sollte nicht lächeln, so oft ich mich sinnend wieder in all diesen Reichtum verliere? Aber nicht nur Erinnerung ist's, aus der mein Lächeln geboren wird: Solange auch nur _ein_ Wesen zu mir gehört, um das ich mich sorgen _darf_, solange ich zu erkennen vermag, daß Kämpfer leben, die sich bemühen, die Welt gesünder und die Menschen größer zu machen, solange kann _mein_ Lächeln nicht sterben -- -- --« Roland, lieber Junge, ist diese Alte nicht meine Blutsverwandte? Kämpfe auch Du mit all Deines Herzens Glut und Kraft immer von neuem für die Menschheit, ganz besonders dann, wenn Du Dich von eigener Mühseligkeit und Belastung befreien willst. Die Verteilung der Güter ist gar nicht so ungerecht, als sie vielen bei nur oberflächlicher Betrachtung erscheint; denn -- nur ein Beispiel: Wessen wäre die Schuld gewesen, -- oder wie immer ich die Unterlassung nennen sollte -- wenn Du Dich weiter mit schwacher, wesenloser Sehnsucht beschieden hättest? -- Komm so früh Du kannst; ich warte. Maria. _Roland an Maria._ Einzige, ich weiß nicht, ob Du auch das verstehen wirst: Mit der Leidenschaft für Dich ist der Glaube zusammengeschmiedet, irgend etwas vollbringen zu müssen. Stelle ich mir vor, wieviel Jahre ich ohne Dich sein konnte -- ich sage nicht _leben_ konnte -- so fasse ich es allenfalls. Man kann ja auch in der Dürre ein Dasein fristen; toben aber möchte ich darüber, daß es mir an Denkmut gebrach, mir ein einziges Tor aufzustoßen. Für _jeden_ ist doch _sein_ Tor da, _nur_ aufzureißen muß er es verstehen. Dieser Lahmheit schäme ich mich vor mir selbst am meisten. Welch ein Schwächling war ich! Kaum etwas wie Träume hatte ich noch zu begraben! Hin und wieder, ganz selten, während ich mechanisch einige Augenblicke auf die vielen Zahlenreihen vor mir starrte, streifte mich flüchtig die Vorstellung: gleichgiltig -- gleichgiltig -- einmal wird es kommen. Aber nichts tat ich, dieses »einmal« in meinem Bewußtsein wenigstens zu klären. -- Vergiß nicht, Maria, auch wenn ich von mir spreche, spreche ich eigentlich von Dir.
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In meiner Brust muß »es« doch gewesen sein, weshalb konnte ich es nicht allein aus den Schalen schlagen, in die es sich verkapselt hatte? Wie konnte ich mich so gelassen in die trostlosen Willkürlichkeiten des Alltags finden? Kunst! Kunst! Mit welchem Recht weise ich die Vorstellung nicht mehr wie Einfältigkeit oder Wahnsinn von mir, daß sie mich an sich bannen will, daß ich auf meine Weise eine Sekunde lang _in die Zeit_ einzugreifen habe? Fragen, nichts als Fragen, als überflüssige Fragen, deren Qualen von Seligkeiten doch nicht zu unterscheiden sind. -- Dies alles schreibe ich Dir in seelischer Scham. Mit dem gleichen, nein, hundertfach verstärkten Empfinden bitte ich Dich, beigefügtes Gedicht als Dein Eigentum zu betrachten. Es ist wieder ganz im Gefühl des Triebhaften entstanden; ich selbst kann nicht beurteilen, ob es mir gelang, die Macht und die Echtheit der Empfindungen, aus denen es geboren, so zum Ausdruck zu bringen, daß es zitternd in Dir nachklingt. _Keinen anderen Ruhm könnte ich je erstreben als den, einen Widerschein in Deinen Blicken aufleuchten zu sehen -- keinen sonst_ -- -- Gestern, nachdem ich Dich verlassen, las ich wieder einmal Deine Briefe, um den Strom von Güte, menschlichem Verstehen, Reinheit und -- tiefster Zärtlichkeit zu fühlen, der von Dir ausgeht. Von der Macht dieser Zärtlichkeit scheinst Du selbst nichts zu wissen, von dieser stillen Innigkeit, die soviel bindender ist als Du es weißt und -- als es Dir erwünscht ist. Geliebteste, Du bist krank, nur wenig krank, aber ich darf Dich nicht sehen. Schreiben konntest Du heute auch nicht. Meines täglichen Brotes bin ich beraubt. Nur solange meine bisher ungesungenen Lieder sich wie frohe Sieger ins Leben drängen, ertrage ich die Oede der Tage. Mit dem, was in meinen besten Augenblicken sich in mir erhebt, kann ich nicht zu Dir stürmen. Aber immer sehe ich Dich dennoch, ich suche Deine Hand, meine Lippen neigen sich auf Deine schlanken Finger. Glaube mir, Maria, nie ist eine Frau schwärmerischer und doch auch mit tieferer Ehrfurcht geliebt worden als Du. Vergiß nun endlich, daß wir mit der herrschenden Gesellschaftsordnung in Konflikt geraten sind. Was liegt daran? Fürchtest Du plötzlich Dein Sondergepräge? Unmöglich: eine Natur wie Du, muß, solange sie lebt, in gewissem Grade unabgeschlossen bleiben. Dein Erschrecken paßt nicht zu Dir. Lasse Dich überzeugen. Noch in zehn Jahren, nein, in zwanzig Jahren wirst Du nicht vor Umwälzungen in Deinem Innern sicher sein.
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Was wußtest Du denn mit Bestimmtheit? Etwa, daß _ich_ Dir eine neue Brücke für die Zukunft werden könnte, ich, der Unbelebtesten einer? Du süße Warnerin wußtest ja auch nicht aus eigener Erfahrung, daß Liebe das Rätselvollste ist und mit der Bedeutung oder dem Wert dessen, was der andere ist, nicht im Zusammenhange stehen muß. -- Die beiden Tage ohne Dich haben mich zum Grübler gemacht. Solange ich denken kann, hat niemand dem, was ich fühlte, edle Teilnahme zugewandt; -- vielleicht Alltags-Teilnahme, aber was bedeutet sie? Oft mehr Hemmung als Befruchtung. Tausendmal werde ich es Dir wiederholen müssen: »Da fing mein Leben an, als ich Dich liebte.« Du allein, nur Du, Maria, konntest mich aus der Zufallsgemeinschaft mit den Vielen erlösen. Anfangs war es nur Deine mütterliche Heiligkeit, die mich zu Dir trieb. Noch kann ich Dir die Sekunde genau bestimmen, welche die erste leise Verschiebung hervorgerufen hat. Ich stand vor Dir, wie so oft bereits; Du sprachst anspornend, anfeuernd mit mir. Nichts hatte sich verändert. Da -- plötzlich war's, als sähe ich überall, wohin ich blickte, blühende, glühende Rosen. Eine seltsam verwirrende Beklemmung zitterte minutenlang in meiner Seele. An diesem Tage kam ich zum ersten Male nicht mehr von meiner Mutter -- nicht mehr _nur_ von meiner Mutter. Stundenlang wanderte ich nachher am Kanal entlang. So schön, nein, so schön war die Erde nie: alle Leute schienen Menschen geworden, die ihre störenden Eigenschaften abgelegt hatten. Für immer glaubte ich von allem Gewohnten und Gewöhnlichen befreit zu sein. -- Ich konnte mich nicht entschließen, das hohe Mietshaus zu betreten, in dem ich wohne; zu weit bin ich allem entrückt gewesen, was zwischen Mauern sein Dasein fristen kann; ringsumher in der Luft schimmerte ein Schein, der den Tag kündete, obwohl ich wußte, daß noch viele Stunden bis zum Sonnenaufgang verrinnen mußten. -- Werde ich morgen, endlich, endlich wieder das Rauschen Deines Gewandes vernehmen? Werde ich Deinen Blick fühlen, der tief und zärtlich in den meinen sinkt? Werde ich, ehe ich noch bei Dir sein darf, meine Lippen auf die Blätter eines Briefes pressen können? Maria, Sancta Maria, ich liebe Dich grenzenlos. Dein, immer, immer Dein Roland. _Nachschrift:_ Das Gedicht, welches ich mit ins Kuvert lege, bewerte nicht kritisch, nur Dein Herz soll von seiner Echtheit ergriffen werden.
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Mein Weg zu Dir -- wie den ich deuten soll? Von bunten Blüten ist er übervoll, Die leuchten, wo mein Fuß auch immer schreitet, Und goldner Glanz ist über sie gebreitet. Kein nüchternes und graues Häusermeer Seh ich auf meinem Wege um mich her: Umspielt ist alles rings von lichtem Schimmer -- Die Menschen, die ich treffe, lächeln immer -- Und lächelnd schau ich ihnen ins Gesicht: So scheinen sie verklärt vom gleichen Licht, Das wohl aus meiner trunknen Seele strahlt Und alles, alles glühend übermalt. Die letzte Straße ist von Deinem Bild So ganz durchleuchtet und so ganz erfüllt, Daß Traum und Wirklichkeit sich in mir eint: Ist es denn Wahrheit, was wie Traum mir scheint? Daß Deine Sehnsucht mir entgegenbebt, Daß Deine Seele für die meine lebt, Verschwenderisch von ihrem Reichtum schenkt, Und -- ganz von Zärtlichkeit für mich durchtränkt -- Mit ihrer sanften Güte mich umhaucht? Mein Weg zu Dir ist ganz in Licht getaucht. _Maria an Roland._ Geliebter, ich liebe Deine Verse, liebe Deine zarte Zärtlichkeit, liebe Dich, Dich, heute _nur_ Dich. _Ich_ kann Dir die Stunde nicht nennen, in der ich aufhörte, Dir nichts sein zu wollen als eine mütterliche Freundin. War es vielleicht in jener Dämmerstunde, in der wir durch die blühende Einsamkeit meiner Wiesen gingen -- die Sonne wollte gerade untergehen -- wir hatten zu sprechen aufgehört -- mein Herz fühlte sich unruhig -- bewegt -- hungrig? Oder waren es Deine Gedichte, bei deren Anhören es mir schien, als wehten blühende Bäume mir zu Häupten, deren stillgewordene Kronen sich leise im Winde von neuem zu regen begannen? Doch von Deinen Versen will ich Dir schreiben. Schon jetzt beginnen sie, Dir alles zu verwandeln; Hingerissenheit konnte Dich überfluten, der Du nicht zu wehren vermochtest. Aber das sollst Du ja auch garnicht. Indem Du den Gott in Dich einströmen läßt, bist Du ein Künstler; ein schlechter vielleicht für die Welt, für Dich selbst ein begnadeter. _Ich_ kann nicht wissen, ob ein herrisch forderndes Talent sich plötzlich in Dir erhob, kann nicht wissen, wie hoch und wie weit es Dich tragen wird, nur _das_ weiß ich: Der Kampf beginnt, dieser Kampf, den ich selbst in so vielen Phasen kenne: Aus glühendem Schaffensrausch, aus Siegesfreude wirst Du in marternde Bangnis sinken. Entsetzen vor eigener künstlerischer Unfähigkeit wird Dich foltern. Neues Hoffen wird Dich emporreißen. Traue der Helle in Dir mehr als allen inneren Umdüsterungen.
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Und wolle, wenn es Dein Los sein soll, unterzugehen, -- tausendmal lieber im Kampfe um die Kunst fallen, denn im Kampfe mit dem dürren Leben. Den immer Korrekten, immer Nüchternen sind _wir_ nur seltsam -- uns erscheinen _sie_ armselig; _wir_ schauen Verborgenes, von dem _sie_ nichts sehen oder nichts sehen wollen. _Wir_ stürzen uns freiwillig in Gefahren -- _sie_ sind bedacht, sich allem ihre Ruhe Gefährdendem fern zu halten. -- -- Eine seltsame Beklemmung will mich in dieser Stunde nicht verlassen. Eisern muß der eigene Glaube an das Können sein, damit wir nicht vor der Zeit stürzen. Und Du sollst nicht stürzen, hoch hinauf sollst Du steigen. Bald -- wir können die Spanne Zeit nicht abschätzen -- werde _ich_ Dir nur ein lichter Schattenriß sein, der sich vom anders getönten Firmament abhebt. Heute noch glaubst Du, ein Aufleuchten in meinen Augen, ein bebendes Mitdichten allein nur _meines_ Herzens genüge Dir. Wohl könnte das einer Liebe höchste Staffel sein, -- doch wiege Dich nicht in diesen Wahn ein. Nur zu bald wirst Du den grausamen Mut haben, mir zu erklären, daß Du weiter müssest, -- -- bevor Du es ahnst, werde ich Dich verloren haben. Verloren? Verzeihe das Wort. Dachte ich nicht noch vor kurzem anders über ein solches Weiterklimmen? War es nicht immer die stille Voraussetzung, mit der ich Menschen an mich zog? War das: »Weiter« -- war der Wandel nicht der Reiz für mich in jeder Vereinigung, war er nicht ihr Ziel? Oder könnte es doch wahr gewesen sein, daß ich selbst manch eine Blüte zerriß, die ich liebevoll ins Leben gepflegt hatte? Bleiben oder Gehen? Welches mag über das verhältnismäßig glücklichere Los entscheiden? Wie immer, all meine »geistigen Errungenschaften« entgleiten mir einem Gewande ähnlich, das nur leicht auf meinen Schultern ruhte. »Momentane Wahrheiten!« Welch eine richtige, aber -- gefährliche Auffassung. Es ist wohl auch körperliche Schwäche heute, die mich Trauer vorausfühlen läßt, feige Trauer; denn nie war ich von dem Naturgesetz überzeugter als jetzt, das den Künstler der Oeffentlichkeit zutreibt wie die Welle dem Strande. Noch aber bist Du mein. _Mein_ allein! Wie konnte ich das Wort unzählige Male aussprechen, unzählige Male schreiben, ohne seine Fülle, seine Gewalt, seine Schönheit tief in mich eingesogen zu haben! Mein, mein, heute mein, trotz alles Vergänglichen in uns und um uns.
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-- In den Tagen, die mich Dir fernhielten, waren meine Gedanken fessellos wie schwebende Adler, meine Empfindungen berauscht, als schritte ich auf blühenden Hyazinthenfeldern dahin. »Dank Dir, mein Gott, der Du Wunder tust,« tönte es in mir. »Wochen, Monde, Jahre war ich unjung in meiner vermeintlichen Gefestigtheit. Kommt: Poesie, Natur, Jugend, Liebe, macht mein Leben wieder heil mit euren Zauberhänden, tanzt euren unsterblichen Reigen in mir, führt mich wieder ein in den Olymp. Du Gott der Freude und der Schmerzen, mache mit mir, was Du willst. Die Trauer ist gut, und der Jubel ist auch gut! Du läßt mich durch den Jubel gehen. Ich empfange ihn von Dir mit dankbar demütigem Herzen.« -- Einmal, irgendwo las ich diesen Hymnus, jetzt entsteigt er neu, wie aus mir geboren, in jeder Minute meinem Herzen. Ich erwarte Dich! Maria. _Roland an Maria._ Maria, Maria, endlich kam unsere Stunde, endlich konnte ich zu Dir eilen, durfte Dich umfangen, durfte Deinen zitternden Kuß fühlen. Immer wieder zweifle ich an der Wahrheit aller Seligkeit, die ich erlebe. Und immer wieder verwandeln sich Glühen und Sehnen zu neuen Gebilden, die, herausgerissen aus meiner Brust, oder aus meinem Gehirn sich formen. Und immer wieder bist Du es, die mich entflammt, Du, nur Du. Allmählich erkenne ich die Weisheit des Schicksals, das mir lange vieles von dem versagte, dessen ich bedurfte. Meine geschonte, seit Jahren kaum angetastete Empfindungsfähigkeit schreit nun jubelnd nach ihrem Recht. Du hast mich in den Festsaal des Lebens geleitet. Mit lachenden Augen will ich Dir Liebeslieder zujauchzen; jedes Lied scheint mir das erste Liebeslied, das je erklang, und ist doch alt wie die Menschheit. Sollte ich mich meiner einstigen Fügsamkeit halber jetzt verachten, mich bemitleiden? Für beide Gefühle mangelt es mir an Zeit, denn ich _muß_ weiter. Muß, muß, weil ich ohne die Glut meines heißen Herzens verstummen könnte. Sie allein läßt mich keinen Schlaf in all den langen Nächten finden, die mich von Dir trennen. In der heutigen blieb ich auf; ich schrieb Stunde für Stunde an -- einem Stück. Lache nicht, Du, die Du mich auf einen anderen Planeten verschlagen; geliebte Heilige, lache nicht. Stille umfing mich, indes ein Plan sich in mir entfaltete. An technische Schwierigkeit dachte ich so wenig wie ein Nichtschwimmer, der dennoch ruhig ins Meer hineinschreitet.
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Wirst Du, aller Frauen geliebteste, einen verhöhnten Freund nicht verlassen? Hättest Du vorher gewußt, welche Geister Du in dem schweigsamen Menschen wachzurufen vermochtest, der fremd und hilflos wie ein Kind auf jenem Feste einige Minuten zufällig an Deine Seite geschoben wurde, hättest Du auch dann, weil Du ihn _fördern_ zu müssen glaubtest, vor ihm Halt gemacht? Schweige, Geliebte, schweige; die vibrierende Glückseligkeit Deines Herzens ist Antwort genug. Gib alle _Rechtfertigung_ auf. Komm. Steige hinan bis auf _die_ Stufe, auf der es weder Schmerz noch Sünde gibt. Nur die Stufe hat für uns noch Bedeutung. Alt, zu alt, _Du_ zu alt? Denkst Du dabei an die Vorstellungen der _Masse_, an ihre hohle Wesenheit, die sich aus Gedankenarmut und versteiften Vorurteilen zusammensetzt? Alle Wunder der Welt haben sich uns erschlossen, Maria, Du selbst der Wunder schönstes. Dein Roland. _Maria an Roland._ Roland, Du -- Du (ich glaube, es gibt keinen innigeren Ruf für uns) -- »und war doch nur ein altgewohntes Wort, das oftmals achtlos floß von ihren Lippen« -- Lange habe ich nicht mehr geträumt, heute aber sah mein Auge nach den Wolken; ich sah, wie die hellen Schichten ineinanderflossen, sich verschoben, wie sie sich in die dunklen verloren, wie sie sich wieder von ihnen lösten. Aber nichts mehr von »lösen« heute, wir haben unsere Stunde heute schon zu viel beschattet. Nur dieses noch: Du denkst doch nicht etwa, ich trüge die Vorstellung von Entsagung in mir? Das wäre ein völliges Verkennen. Meine Handlungen werden letzten Endes von den Forderungen bestimmt, die in meiner _Natur_ liegen. Also, sie sind eher das Gegenteil von Entsagung. Im Augenblick sind diese Forderungen vielleicht so verborgen, wie die Wurzeln eines Rosenbusches. Ich mute Dir, geliebter Junge, wohl oft schwierige Gedankensprünge zu? Es ist aber so herrlich, zu wissen: da lebt ein Mensch, der kann niemals denken: »komisch -- seltsam -- närrisch« -- ein Mensch, der Andacht auch vor deinen Unbegreiflichkeiten hat. Wir armen Künstler sind ja eigentlich stets gezwungen, unsere teuersten Besitztümer zu verleugnen. Wir sollen bequem im Umgange sein, wie andere »vernünftige« Leute. Kunst aber quillt aus Unvernunft, nicht aus Vernunft. Ein bedeutender Künstler darf aus Rücksicht für seine Kunst -- ich denke an ihre Vervollkommung, an ihre größtmögliche Steigerung -- Gesetze nicht nur übertreten, er kann sogar dazu verpflichtet sein. Ueber die Berechtigung seines Handelns entscheiden dann viel später seine der Welt geoffenbarten Schöpfungen.
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Ich erwähne dies nicht etwa als eine mir von _eigenen_ Gnaden zugebilligte höhere Moral. -- Gestern starb in meinem Hause ein alter Mann nach langem, viel, viel zu langem Siechtum. »Der Tod hat mich vergessen«, seufzte er, als ich ihn zum letzten Male besuchte. Ich lege Dir einige Blätter ein; lies, welche Gedanken sein Sterben in mir erweckte. _Vom verkannten Tode._ Der Tod beschloß, sich von der Welt zu entfernen. Wenn er zurückschaute, so entsetzte er sich vor der Gedankenlosigkeit der Menschen. Ihr ewiges Schluchzen ertrug er nicht mehr, besonders seitdem er wußte, wie rasch das Leben Tränen trocknete. Ihre oft sinnlosen Wehrufe mußten seine Liebe ersticken. Nur Ungerechtigkeit hatten sie ihm gezeigt. Unfaßlich war ihr Undank. _Sie verdienten gar nicht, sterben zu dürfen._ Schrie hin und wieder einer nach dem Tode, und er kam dann wirklich, änderte der Tod eines Flehenden halber seinen Weg, was geschah? Zähneklappernd versuchte der scheinbar Lebensmüde sich vor ihm zu retten. Er hatte plötzlich für die Mißhandlungen des Lebens gar kein Gedächtnis mehr. Gleich wieder war's, als sei nur der _Tod_ der Böse, der Unbarmherzige, der Lieblose, der feindlich Gesinnte. Nein, lange genug hatte der Tod das Verkanntsein ertragen. Niemand konnte _so_ mißverstanden werden wie er. Wohlan! Mochten sie versuchen, ohne ihn fertig zu werden, mochten sie sich endlos am Leben quälen, diese alle, denen seine schwarzen Schleier immer nur Entsetzen bargen. »Ich wandere aus,« entschied der Mißhandelte, hüllte sich fest in dunkle Nebel und -- entschwand. Anfangs merkten die Menschen gar nicht, wie arm sie geworden waren. Die Alten, die geduldig -- weil sie sich dem Sterben nahe wähnten -- Krankheit und Ueberflüssigkeit ertrugen, sahen noch jedem Morgen erwartungsvoll entgegen. Ihre Hoffnung werde sich ja erfüllen -- noch hatten sie Zeit. Sie wußten: Der Tod würde sie zur rechten Stunde holen. Aber sie erfüllte sich nicht; sie wurden achtzig, sie wurden neunzig, sie wurden hundert Jahre. Sie wurden ganz taub, ganz blind, ganz stumpf, ganz mürbe, sie wurden ganz überflüssig, sie nahmen nur noch Platz fort. Mit den Neuen verstanden sie sich nicht. _Man ertrug sie nur noch._ Man sah nach ihnen, weil sie eben doch _da_ waren. Niemand brauchte sie. Die Zeit war lange schon über sie fortgerauscht. Sie hatten sich selbst überlebt. Fröstelnd rangen sie ihre dünnen, knochigen Finger.
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Tag und Nacht murmelten ihre schmalen Lippen: »Vergessen vom Tode -- vergessen vom Tode!« Gleichgültig kamen die Jahre; gleichgültig gingen die Winter an den Alten vorüber. Kein Lenz ließ ihnen etwas erblühen; kein Sommer lachte ihnen. Herbst kam und Herbst ging; die Greise blieben. Einstmals konnten Menschen, deren Liebe zueinander gewaltig war, vereint auf dem Gipfel der Glückseligkeit sterben; damals, als der Tod noch im Lande war. Sie wurden nicht gezwungen, sich vom Leben plündern zu lassen. Lächelnd konnten sie sich, Brust an Brust geschmiegt, vor dem Weniger retten. Auch das hörte auf. Keiner mehr hatte Leben oder Sterben in seiner Hand. Das aber ist das Grauenvollste: Leben zu _müssen_. Menschen, die schlecht geworden, Bettler, die an ihrer Gesunkenheit litten, Unglückliche, die zu Verbrechern geworden, konnten sich nicht mehr freiwillig vom Leben lösen. Flucht aus Schande, Flucht aus unheilbaren Leiden, Flucht aus den Schmerzen unglücklicher Liebe, Flucht aus Entsetzen an mißratenen Kindern, Flucht vor Umnachtung der Gedanken gab es nicht mehr. Die Scharfrichter wurden ihres Amtes entsetzt; neue Strafen mußte der Gerichtshof ergrübeln. Allmählich war das Wort von der _Hartherzigkeit_ des Todes erloschen; aber plötzlich entstand für ihn die Bezeichnung: Todesengel -- Engel des Todes. -- Ein anderes Schluchzen drang in die Welt und ein anderes Sehnen. Nicht der Sonne streckten sich Arme inbrünstig entgegen, sondern suchend dem entschwundenen Tode. Wehklagend irrten Menschen von Scholle zu Scholle. Inbrünstig betete man, daß er wiederkehre, der qualvoll Entbehrte. Allen Menschen schien es, sie hätten ihren Erlöser verloren, seitdem der Tod ihnen unerreichbar blieb. Sie schämten sich jener Geschlechter, von denen die Sage berichtete, daß sie dem Tode händeringend entgegengestarrt haben sollten, daß sie ihm geflucht hatten. Haß und Bitterkeit, Ueberdruß und Kälte trieben die Menschen auseinander. Eltern beklagten ihre lächelnden Kinder, denen später auch die Bürde eines endlosen Lebens zu tragen bestimmt war. Denn nicht in Jugendkraft und Fülle wurde ja den Erdbewohnern zu bleiben gewährt; nein, genau wie ehedem, mußten sie alles zurückgeben: Gesundheit, Hoffnung, Glauben, um zuletzt -- körperlich und geistig vernichtet -- sonnenlos in Nacht und Finsternis dahinzuvegetieren. Es konnte nur eine Fabel sein, daß einst vom _hartherzigen_ Tode gesprochen wurde. Längst wußte man, _wer_ der Gütigste, der Erbarmer gewesen. Hatte man früher gefordert, daß er aus Mitleid entweiche, jetzt forderte man, daß er aus Mitleid zurückkehre. Doch nein, man forderte nicht, man flehte, man bat, man opferte.
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Grauen vor dem Frühling erfüllte die Menschen, dessen Süße Leben spendet, dessen Atem befruchtet. Immer freudearmer wurde die Erde; nur Kinder lächelten. Die Gedanken aller Erfahrenen schienen einem einzigen Ziele zugewandt: Dem Wiedererscheinen, der Rückkehr des Todes. Was bedeuteten die Tränen jener Zeiten, da man ihn besaß, gegen die Trauer, nun man ihn verloren hatte? Man begriff erst, was _Vernichtung_ sei, nachdem das Sterben aufgehört hatte. -- Unauffindbar, unerreichbar blieb der Tod. Vögel flogen hin und her, flogen in die Weite, weil sie hofften, ihn mit ihren wundersamsten Weisen zu rühren. Dann aber vollbrachte ein Kind das Wunder. Obwohl die Menschen den Tod nicht sehen konnten, so hatte _er_ sie doch keine Minute aus den Augen verloren; sie blieben seine schmerzliche Liebe. Und ist es nicht von jeher das Schicksal der Liebe gewesen, verkannt zu werden? Darf Liebe danach fragen? Ach, auch der Tod sehnte sich zurück nach den Menschen. Er konnte die Süße der Küsse, die ihn mit den vom Leben Befreiten vereinte, nicht vergessen, jene Küsse, von denen ja kein Lebender singen und sagen kann. Nicht den Greisen zuliebe kehrte der Tod zurück, nicht der Kranken halber, -- der Unschuldigen wegen. Ihnen vermochte er nicht zu widerstehen. Ein armes Mädchen hatte in Schande und Verlassenheit ein Kind geboren. Große strahlende Augen richtete das Neugeborene erwartungsvoll in die Welt. Diese leuchtenden Sterne verdunkelte der Tod. Schmerzlos glitt das schuldlos Verurteilte in des Todes Arme. In dem Augenblick erhob sich ein Hymnus ohne gleichen auf der Erde: einmal noch atmeten Müde tief und befreit auf, dann endlich schlossen sie die glanzlosen Augen für immer. Liebende umschlangen sich in heißer Seligkeit. Kämpfende, Irrende, Kranke knieten von dem Bewußtsein überwältigt nieder, nicht unrettbar an das Leben geknebelt zu sein. Licht überleuchtete an diesem Tage die ganze Welt. Auf dem Sonnenball stand hochaufgerichtet eine feingliedrige Gestalt. Nicht mehr wie einst umhüllten schwarze Schleier ihre Glieder. Umstrahlt von weißem Schimmer sank der Tod mitleidig wieder hernieder auf die Menschheit ... Marie, _Deine_ Maria. _Roland an Maria._ Geliebte Frau, zügele Deinen Heißsporn. (Mit wieviel Namen wirst Du ihn noch nennen können, wenn er sich so »weiter entwickelt?!«) Zügele ihn, weil er sich plötzlich für einen Beherrscher des Lebens hält, der gar nichts mehr von seiner einstigen Sklaverei weiß. Nein, zügele mich nicht.
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Wann wirst Du mir einen Tag bescheren, einen vollen, ganzen Tag? Ich mag nicht immer »vornehm geartet« sein. Roland, nur Dein Roland. _Maria an Roland._ Liebster, tagelang vergaß ich, mich zu fragen, ob die unsichtbare Verkettung, die uns bindet, berechtigt oder unberechtigt sei. Liegt aber nicht schon in dem Ausdruck »Verkettung« ein Etwas, das über alles Abwägen hinausführt? Nein, ich _kann_ nicht mehr an das Verrinnen, Verflattern von Gefühlen denken, deren Sterblichkeit grauenvoll wäre, auch wenn sie dem lichtesten Tode verfielen. Oft möchte auch ich mit Dir, Roland, in einer Sprache sprechen, wie sie noch nie gesprochen wurde. Dann verzweifle ich förmlich an meinem eigenen Unvermögen. Wir hätten uns gestern viel intensiver mit Deinem Stück beschäftigen sollen. Welch ein Glück, Dich bisher nicht von der Vorstellung gehemmt zu wissen, daß es schwerlich dem Schicksal der meisten Bühnenwerke entgehen wird, unaufgeführt zu bleiben. Ganz gewiß existiert auf Erden viel Schönheit, -- ich denke natürlich nicht nur an Kunst -- die nie aus ihrer Verborgenheit hinausgehoben wird, die nie ihre Bestimmung erfüllt, zu bereichern und zu erhöhen. Ueber wie viele wundersame Landschaften mag nie eines Menschen Auge gleiten! In diesem Augenblicke brauche ich mir nur Spitzbergen vorzustellen, wie es unbewohnt und also auch unbeschritten in glitzerndem Eisesfunkeln mit seinen unabsehbaren Flächen und Bergen in fast märchenhafter Schönheit vor mir lag. Uns kleine Menschen lähmt aber die Möglichkeit, unsere winzigen Gebilde könnten nur dazu bestimmt sein, uns selbst die Wonnen eines Schöpferrausches zu gewähren. Wird ein Baum im Urwalde nicht grünen und blühen _müssen_, schreitet auch nie ein Mensch an ihm vorüber? Wir Künstler dagegen sind enge, eitle Geschöpfe, die immer gleich an Ruhm denken -- an Dich, Ruhm, Du aller Eitelkeiten eitelste, gefährlichste. -- Also Dein Stück! Ja, haben wir die Rollen getauscht, die Auffassungen? Ist's nicht, als hätte _ich_ den Konflikt ersonnen, der eine Frau, anscheinend in ruhiger Besonnenheit, auf der Höhe aller Seligkeit in den Tod treibt, lediglich aus Angst vor der Gewißheit eines allmählichen Schwindens der großen Leidenschaft zwischen sich und ihrem Geliebten? Ein Anderer bist Du geworden -- ja, ein Anderer. Wie tief ein Anderer, wer von uns wollte es entscheiden? Du hast mein Leben in Verwirrung gebracht und ich das Deine.
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Was wird übrig bleiben oder entstanden sein, was geboren oder getötet, was wird sich aus dieser beglückenden Verwirrtheit herauskristallisieren? Nie mehr kann ich in die Welt zurückfinden, die ich verließ, oder aus der mich eine fremde Macht stieß. Ja, Du ein Anderer -- ich eine Andere, die vollgesogen ist von vielleicht kindertörichten Vorstellungen. Ach, Du, immer leben wir in Vorstellungen und Vorurteilen und nennen sie unsere Ueberzeugungen. Die Entdeckerfreude an Menschen war sicher auch ein Beglückendes, aber ich hatte zu wenig von jenem Göttlichen in mir, das ganz im Geheimen erst die Heiligkeit der irdischen Weihen verleiht. Ich meine jene Weihen, ohne die man wohl auch gut und glücklich leben und anderer Leben steigern helfen kann, ohne die man aber nie ein Genie in der Lebens-Dichtkunst wird. Nur die mit der unzerstörbaren Kraft des Ideals »Behafteten« haben kein Absterben vor dem Tode zu fürchten. Und nicht nur in der Elendswelt von Gorkis »Nachtasyl« und nicht nur in Bezug auf den Glauben gilt des Wanderers Luka Antwort auf die Frage: »Gibt's einen Gott?« »Wenn Du an ihn glaubst, gibt's einen, -- glaubst Du nicht, dann gibt's keinen. _Woran Du glaubst, das gibt's eben._« Mir scheint, ich bin ein Genie im Glauben an das Schöne in der Welt. Aus längst vergangenen Jahren fällt mir zufällig ein Erlebnis ein, an das mich der Duft Deiner beiden roten Rosen, die vor mir auf dem Schreibtisch stehen, erinnert. Ich lebte damals bereits in der Großstadt. Im Hochsommer hätte ich mein ganzes Vermögen am liebsten den wenig verführerischen Gestalten gegeben, deren Rufe: »Rosen! Rosen, sechs für zehn Pfennige!« durch die Straßen schrillten, während sie neben kleinen, mit wundervollen Blüten hochbeladenen Wagen dahingingen. Noch in diesem Augenblick bilde ich mir ein, die einförmigen, gleichgiltigen Anpreisungen zu vernehmen. Immer empfand ich leises Weh, wenn ich sah, wie die herrlichen Blumen so empfindungslos zusammengerafft wurden. Leicht erfuhr ich, wo diese Rosenmassen wuchsen. Ich freute mich schon den ganzen Winter hindurch auf einen Ausflug in die nahen Rosenfelder. In allen Farben sah ich sie im Geiste wogen und blühen. Erwartungsvoll bin ich hinausgefahren. Schmutzige, kleine Banditen wiesen mir das letzte Stück des Weges. Nicht eilig genug liefen sie mir voraus. Bald las ich auf plump gepinselten Schildern: »Zu den Rosenfeldern«. Ja, Roland, da stand ich denn erschreckt vor dem Stückchen Erde, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte.
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Mochte ich auch suchend Umschau halten, daran war nichts zu ändern, daß diese flachen, noch in ziemlicher Nähe einem Kartoffelfeld gleichenden Felder meiner Rosen Heimatboden waren. Gewiß, ich hatte einen besonders ungeeigneten Tag getroffen; der zu heftige Regen der vorherigen Tage mochte wohl der Felder Aussehen geschädigt haben. Nichts wallte und wogte. Alles war ganz niedrig gewachsen, so ganz anders, als ich es erwartete. Vielleicht wurde zu rasch und zu erbarmungslos geschnitten; sogar aller Duft war in den Augenblicken, welche ich inmitten der Felder verbrachte, wie fortgetrieben. Anderen Tags begannen sich dann die von mir mitgebrachten Knospen langsam zu erschließen. Zarter Duft erfüllte mein Zimmer. Ich genoß ihn fast wehmütig, ohne mir darüber klar zu werden, weshalb er mich so seltsam berührte. Und ebenso weiß ich nicht, wie es geschehen konnte, daß _die_ Rosenfelder, die ich nur im Geiste gesehen, unzerstörbar geblieben sind. Ihr Bild und ihren Zauber konnte die wirkliche Dürftigkeit nicht verlöschen. Wie oft wird es mir im Leben später ähnlich ergangen sein? Allmählich habe ich wohl zu ahnen begonnen, daß nur denen, deren Rosenfelder nie ganz vernichtet werden _können_, Rosen blühen, und daß jede Liebe und jedes Lebens Schönheit ebenso gefährdet ist, wie einst die meiner Rosenfelder. -- Wozu eigentlich dieser endlos lange Erguß? _Eine_ glücklich verlebte lebendige Stunde gibt mehr als ein meisterhaft stilisierter »Kommentar« zu _unserem_ Denken und Fühlen. Maria. _Roland an Maria._ Einzige, ja, warum schreiben wir uns? Auch ich frage es mich, aber ich antworte mir sehr einfach: ich weiß es nicht. Ja, was weiß ich denn? Weiß ich, warum ich geboren wurde, wann ich sterben werde? Weiß ich, warum ich -- ohne bestimmten Grund -- heute glücklich bin, morgen aber aus unbekannter Ursache unglücklich und ganz herabgestimmt sein kann? Weiß ich, warum ich heute strahlenden Auges einen großen Dichter zu genießen vermag, und warum ich mich morgen im Tumult nichtssagender Alltäglichkeiten herumschlage? Weiß ich, warum ich heute kühn bin wie ein Held und morgen verzagt wie ein Schwächling? Weiß ich, warum ich heute alles einzusehen scheine und morgen gar nichts? Weswegen ist es nun für mich gerade nötig zu wissen, warum ein Gott uns zwingt, einander zu schreiben? Vielleicht lockt nur der weiße Bogen, ihn zum Boten für schnell schwindende Stimmungen zu nehmen, für Stimmungen, die in jeder Färbung fruchtbarer Boden unseres Denkens und Dichtens werden können.
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Nur ein Hauch dringt ja bis zum Anderen, denn -- ob mündlich oder schriftlich -- es gelingt doch nie, sich ganz mitzuteilen. Weder in Briefen, noch in Werken sind wir wirklich restlos die, die wir für den anderen sein möchten. Ich muß jetzt auf der Hut vor mir selber sein, weil ich merke, daß sich etwas wie Hang zum Spott in mir entwickelt, der mir zwar leicht billigen Erfolg einbringen könnte, aber nichts sonst. Nutzlos im höchsten Grade bleibt ja alles bloße Verneinen. Spötter finden wohl eine Zeitlang ihr Echo, da der Mensch es aus Langeweile nicht ungern hört, wie alles, selbst das Heiligste, verspottet werden kann. Wer selbst andachtslos ist, glaubt im Rechte zu sein und zu gewinnen, wenn er Erhabenes herabzieht. Aber nie wird der Spötter Liebe oder Verehrung finden. Selbst nicht bei denen, welche er unterhalten und zum Lachen gereizt hat. Die Menschheit liebt und achtet instinktiv meist doch nur die, welche die Menschheit geliebt und geachtet haben. Die besten Menschen waren immer anerkennend und bereit zu verehren, wenn auch nicht im Sinne von »jedermann«. Auf Deinen Wunsch, Maria, habe ich gestern also wieder gebummelt. Das Resultat: Wie trostlos langweilig wäre es, wenn man sich immer amüsieren müßte. Glaube mir, Du und die Arbeit, Ihr seid meine Welt. Ich sehne mich nach keiner »Schule der Erfahrung«, in die ich hier leicht ohne Voranmeldung aufgenommen werden könnte; ich brauche sie nicht. Sie kann mich nur stören und verwirren. Was kümmern mich andere Frauen? Du bist mir _die_ Frau. Andere mögen jünger sein, schöner, reizvoller; meine glückliche Selbstversunkenheit schließt anderes Begehren aus. Jede Liebe trägt wohl ihr Tempo in sich; Du bist mir das Fortreißende. Du, die durch soviel oder so viele Leben geschritten bist, Du ermissest vielleicht nicht, daß gerade das Fernsein von allen brausenden und berauschenden Vorgängen mir Segen gebracht haben könnte. -- Ich bemühe mich nun weiter, Menschen auf die Bühne zu stellen, die leben; keine Phantasiegeschöpfe. Wird meine Kraft ausreichen, mehr als blasse Gestalten zu schaffen? Die Forderung, echte Menschen zu formen, will ich mir immer als erstes Gesetz ins Gedächtnis rufen. Sollte ich jemals »Einer« werden, so kann mein Gebiet nur das Leben der Ueberflüssigen, der Verlassenen, der Schwachen werden. Laß Dich nicht durch meinen Mangel an praktischer Erfahrung verwirren. Immer mehr treibt es mich zu denen, deren Leid sich den Augen entzieht, und das doch oft soviel nachhaltiger blutet als sichtbares Elend.
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Du mußt nicht immer an die Zahl meiner Jahre denken, nicht glauben, daß tiefstes Einfühlen in die Seelen der Enterbten, Gesunkenen nur der Frau eigen sei. Ueberhaupt werden männliche und weibliche Eigenschaften viel zu kraß getrennt. Eine Frau mit sogenannten nur weiblichen Tugenden, ein Mann mit Eigenschaften, die wir lediglich als männliche zu rühmen geneigt sind, können keinesfalls als ideale, vorbildliche Menschen gelten. Wenn Dir, Maria, die ganze Welt oft nichts anders als ein Garten Eden dünkt, so wirkst Du in dieser Unschuld beschämend wie ein Kind; wenn Dir die Hartherzigkeit der Gesellschaft die Augen feuchtet und sanfte Wehmut Dich verklärt, so bist Du ganz Frau, und doch, wieviele Schattierungen birgt gerade Dein Empfindungsvermögen, die von Männern mit Beschlag belegt worden sind. Siehst Du, so wagt Dein »Anderer« Dich zu sezieren, so rasch ließ er seinen Charakter verderben. Du mußt ihn unbedingt Deine Ueberlegenheit fühlen lassen, damit Fülle und Ueberfluß, wie nur Du sie über ihn ergießest, ihn erinnern, wer _Du_ bist und -- wer er. Oft wundere ich mich, Maria, Liebste, daß man, wenn man in einem verzauberten Schlosse weilt, -- und Du bist doch mein verzaubertes Schloß -- noch irgend einen Gedanken neben der Liebe haben kann. Unzählige Male möchte ich es Dir wiederholen: Ich lebe nur in Dir, und eben deshalb gleichst Du dem Samenkorn, das in tausendfachen Farben Ungeahntes zu Blüte und Frucht in mir zu treiben beginnt. Ueber die allerersten Anfänge bin ich wohl schon ein wenig hinaus. Immer mehr packt es mich, dieses Ungeahnte, das sich beim ersten tiefen Blick von Dir scheu zu regen begann. Darf man sich im Rausch einer heiteren Zuversicht hingeben, und darf man dieser heiteren Zuversicht vertrauen? Plötzlich halte ich mich für ein Glückskind. Jedesmal, wenn ich zu Dir gehe, scheint mir die Welt ringsum heller und meine Liebe gewachsen. Ich _kann_ mich nicht mehr erinnern, durch wieviele düstere Straßen jeder Erdgeborene zu schleichen hat, weiß nicht mehr, wie klein Menschenkräfte im Grunde bleiben, weiß nur von Glanz und Lebendigsein. Mag dies Fühlen auch nur schöne Täuschung sein, eine wachsende Seele braucht solchen Betrug. Nur Dich liebt Dein Roland. _Maria an Roland._ Geliebter, gestern schriebst Du von meiner Ueberlegenheit. Unsinn! Nenne es ruhig: »echt weiblich,« aber -- ich mag nicht überlegen sein.
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Ueberlegenheit, wie Du sie mir andichtest, scheint Wandlung -- geistige und seelische -- auszuschließen; Du aber mußt doch wissen, daß ich gerade in den letzten Wochen dahin gekommen bin, mich freudig auch Irrtümern zu unterwerfen. Daß jeder Tag bereit sein könnte, den vorherigen zu verneinen, übersieht unsere seltsame Kurzsichtigkeit. Fest liegen die Wurzeln, aber die Brandungen des Lebens bewegen unausgesetzt die Kronen. Aus Widersprüchen und Spannung geht Entwicklung hervor. Es ist schade, daß die meisten zu rasch, viel zu rasch aufhören nach unbegrenzten, unbestimmten, nach schimmernden Horizonten auszuschauen, gleichsam als wäre ihr Dasein verriegelt. Sie begnügen sich zu früh mit Wiederholungen, verlangen nichts als einen sicheren, festen Umriß ihres Lebens. Roland, das alles hört sich schlimmer, umstürzlerischer an, als es im Grunde ist. Allerdings, Menschen, die schon bei lebendigem Leibe »Entseelte« sind, mögen sich entsetzen, und vom Tempo der Masse entfernt es. Ich halte nicht viel von allgemein gültiger Gesetzlichkeit, kaum wenn sie Dieben und Mördern gilt. Und ich bin froh über jeden, der den allgemeinen Gesetzen mißtraut; es gibt doch in uns ein Etwas, das wir »Ritterlichkeit des Herzens« nennen könnten. In diese Ritterlichkeit sind alle ungeschriebenen Forderungen hineingeschmiedet, die ein Untergehen im Gemeinen und Häßlichen unmöglich machen. Das Schönste bleibt ja doch, daß ein Mensch _dem_ möglichst nahekomme, _was er werden könnte_ im Sinne einer Höherentwickelung. Um die aber zu erreichen, darf er Umwege, und seien sie auch Irrwege, nicht ängstlich scheuen. Ja, er hat nicht nur das Recht, er hat sogar die Pflicht, alles zu wagen, um zu sich selbst hinauf zu wachsen. Wohl legt solch Ringen Lebens- und Todesangst auf; denn wie großartig sich ein Mensch auch nach außen gebärde, seines winzigen Ichs quälende Nöte kann er vor sich selbst doch nicht verleugnen. Einst, es ist noch gar nicht lange her, nannte ein Freund mein Herz »weise«. Ich glaube, damals gab es ein paar Minuten, in denen ich mich über diesen Wahn freute. Weit, weit fort hast Du, Geliebter, diese meines Herzens vermeintliche Weisheit getragen; federleicht muß sie gewesen sein. Ob wohl viele Menschen so lächelnd ihrer Welt Untergang erleben, ihn so heiter wie ich überleben? Oder ist auch dieser Untergang nur Schein? Könnte auch _er_ nur Station sein? Zu oft noch falle ich in den Kreis jener Vorstellungen zurück, von denen ich mich, seitdem ich Dich liebe, schon hundertmal für immer entfernt zu haben wähnte.
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Jetzt erfüllt mich oft nichts als das Verlangen, mich wie ein Kind schluchzend über den Schoß einer Mutter beugen zu dürfen. Da siehst Du, Geliebter, wie es um meine Abgeklärtheit bestellt ist. Wie wenig bin ich. Oder wuchs ich dennoch vielleicht durch das große Gefühl für Dich? Deine Maria. _Roland an Maria._ Maria, immer bin ich jetzt in einem leichten Taumel; oft, vielleicht zu oft von diesem Feuerlicht geblendet, das zwischen Dir und meiner Schaffenstrunkenheit hin und her zu flammen scheint. Immer ringe ich mit »Ereignissen der Seele«, die ich niemandem schildern könnte, -- auch nicht einer Maria. Ich komme mir wie das Werkzeug vor, das gestalten muß, was der »unbekannte Gott« in ihm entfachte. Und doch muß ich »mich selber erst los werden«, muß jene Ereignisse aus mir heraus geschleudert haben, um mich von all der seligen Unwirklichkeit lösen zu können. Aber nein, nein, verzeihe, geliebte Frau, die einzige selige Unwirklichkeit erlebte ich durch Dich, danke ich Dir, Du mein holdes Verhängnis. In den letzten Tagen überfiel mich sekundenlang die Vorstellung, ein Wirbelwind könne mich Dir, in eine andere Wirklichkeit hinein, entreißen. Aber -- nicht wahr -- ein so elementarer Orkan wäre auf _dieser_ Erde unmöglich? Wie kann ich Dir nur solche Torheit beichten? Erinnere Dich, was ich war, als Du mich das erste Mal sahst! Schmerz und Erregung und unbestimmte, glückverheißende Erwartung trieben mich Dir zu, und jedesmal fliege ich mit den gleichen Empfindungen Dir entgegen. Du siehst, es war nicht nur »momentane Begeisterung«, deren Du mich anfangs beschuldigtest. Ich will Dir nie entkommen, nie. Und doch konnte diese zweite unvermutete Wonne sich über mich ergießen, die mir _auch_ eine unermeßliche Fülle von Glück geschenkt hat. Begeisterung muß lange schon in mir »aufgestapelt« gewesen sein, bevor Du kamst und mit Dir das _fröhliche_ Sehnen. Nichts soll nun in meinem Leben dahinwelken, ohne Frucht getragen zu haben, deß sei gewiß! Ob ich je etwas tun könnte, etwas denken, was Du -- ganz einfach sei es gesagt -- nicht von mir geglaubt hättest? Verjage den einsamen Hochmut, der jetzt zuweilen wie Unkraut jäh in mir aufsprießt. Oder sollte auch er eine Bedeutung haben, die ich jetzt noch nicht ermesse? Meine heutige Sprunghaftigkeit bedarf der Erklärung. Ich hätte in meiner Arbeit fortfahren sollen, weil ich ganz in sie versunken schien; und doch fühlte ich mich nicht minder stark zu Dir gezwungen.
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Du siehst in meinen Versen heute das unzulängliche Ergebnis dieses Zwiespalts. Nie möchte ich in alltäglichem Sinne mit Dir verbunden sein; nur das Vollkommenste meines Wesens darf Dich berühren, immer sollst Du mir heilig bleiben. Maria, Maria, fängt das Leben schon an, mich in ein Chaos zu stürzen, in dem es von ewigen Widersprüchen gärt? Roland. _Maria an Roland._ Roland, mein Junge, noch weiß ich nicht, wann ich die Briefe, die ich _nun_ schreibe, an Dich abschicke, weiß nicht, ob diese Gedanken, die immer ein sinnendes Sprechen mit Dir sind, überhaupt Briefe zu nennen sein werden. Aber jetzt, nachdem das tägliche Schreiben an Dich aufhören mußte, weil mein Brief nicht mehr _die_ Post für Dich sein kann, zwingt mich dennoch ein Etwas, Dir -- fast möchte ich sagen »Rechenschaft« abzulegen von all dem wundersamen Durcheinanderwogen der Welt in mir. Briefe, wie wir sie einander schrieben, verlieren in _dem_ Augenblick ihre Daseinsberechtigung, in welchem sie nicht mehr klopfenden Herzens erwartet werden. In Dein Leben trat unerwartet rasch so viel Zeit und Sammlung heischende Wirklichkeit, -- wir nennen das alles nun ja Dein Glück --, daß ich kaum die Empfindung bannen kann: »Sollte es für _mich_ nicht doch schwer sein _dürfen_, für dieses Glück Opfer zu bringen?«. Während ich jetzt schreibe, lebe ich all unsere aufregenden Augenblicke noch einmal durch. Also: Hundertmal hatte man es sich wiederholt: »es ist ja ganz egal, ob es aufgeführt wird«, und dann -- freute man sich trotz dieser Versicherung so unverhältnismäßig, dann benahm man sich wie ein ganz gewöhnlicher Mitbürger, der in der Lotterie gewann. So toll hat kaum je einer an meiner Klingel gerissen wie Du, so jubelnd mich nie jemand an sich gezogen. Wort für Wort habe ich es dann vernommen: »Haben Sie tatsächlich früher nie ein Stück geschrieben?« »Sie müssen sich aber verpflichten, all Ihre weiteren Werke zuerst unserer Bühne einzureichen.« In buntem Durcheinander hast Du berichtet und dabei meine Hände gestreichelt. War das unser schönster Abend, Roland? Nein, viele Stunden vor diesem waren erfüllt von Klang und Reichtum, aber jener Abend hatte einen besonderen Glanz. Ich dünkte mich wie eine Göttin, (gewiß ein törichter, ein alltäglicher Vergleich), deren Seele vor Monaten leuchtende Strahlen in Dich flutete, Strahlen, die nicht, wie es das Schicksal fast alles Strahlenden ist, erlöschen konnten, sondern aus denen Dein Schaffen geboren wurde.
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Auch ohne Sekt wären wir berauscht gewesen, aber wir hatten beide die kindliche Vorstellung, irgend etwas müsse äußerlich zur Feier mitdienen. Von keinen Schwierigkeiten haben wir mehr gewußt; wir gaben uns ganz einem Zauber hin, dem wir uns nicht zu entreißen vermochten. Auch mein Blut begann zu singen. In Deinen Augen brannte Liebe, nur Liebe. Wir wußten von keinem Theater mehr. Du erzähltest mir eine Geschichte, die ich kannte, und die zu hören ich nie müde wurde: die Geschichte vom Beginn unserer Liebe. Jeden Datums entsannst Du Dich, jedes erhöhenden Augenblicks. Erwartungsvoll fragte ich wie ein lauschendes Kind in jeder Pause: »Und weiter?« -- -- Wohin war alle Erdenschwere entflohen? Bin ich je sturmdurchwühlt gewesen, von Unruhe zerquält, von Zweifeln gemartert? »Da fing mein Leben an, als ich Dich liebte.« Ja, ja, so muß man das Leben behandeln: es belächeln, stolz und königlich ihm begegnen -- sich nicht sklavisch vor ihm winden -- nicht in törichtem Grübeln Kräfte vergeuden. Eine stille Mondnacht floß durch die weiten Fenster zu uns herein, aber wir brauchten mehr Luft. »Komm,« sagtest Du, sonst nichts. Wir stiegen die Treppen hinab und wanderten auf dem silbernen Mondstreifen dahin, der wie ein schmaler Teppich vor unseren Füßen flimmerte. Konnte der Traum von dem, was das Leben nie zu gewähren scheint, dennoch Erfüllung geworden sein? Lautlos umfing uns der Wald. Wir hatten zu sprechen aufgehört. Ich vernahm nichts als den Gesang meines Herzens. Erst Deine Worte unterbrachen die Stille: Am folgenden Nachmittage würden wir uns zum ersten Male nicht sehen können. Die wenigen Stunden nach Schluß Deiner Bureauarbeit mußten für wichtige Besprechungen, für entscheidende kleine Aenderungen an Deinem Stück genützt werden; all das war selbstverständlich, aber etwas kann zwar selbstverständlich erscheinen, und doch -- wehe tun. »Es ist Zeit heimzugehen,« sagte ich. Meine Stimme kam mir in diesem Augenblick verändert vor. Ich fröstelte. Ein Landmann, der zur nahen Stadt mußte, trug seine Laterne in der Hand; ihr winziges Flämmchen schwebte uns entgegen. Sicher wollte er zum frühen Markt. Da erinnerte ich mich, daß das Leben weiterging. Wir sprachen wieder mit Erregtheit von Deinem Stück, von all den neuen Aussichten, die seine Annahme eröffnete. _Später._ Roland, Roland! Am nächsten Sonnabend findet also schon die Aufführung statt! Seit Wochen gelten all unsere Gespräche diesem Ereignis. Wir können an nichts denken außer an Schauspieler, Proben, Kritik, Regie, Wirkung auf ein Publikum oder an ähnliches.
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Du hältst Dich für alle Fälle gewappnet. Mir scheint, für Niederlagen ist man nie genügend oder richtig gewappnet, aber trotzdem -- so oft Du jetzt von »verblödetem Publikum«, von »nichtssagender Presse« sprichst, steht Dir auch das. Oft sehe ich Dich, Du weißt es ja, nur stumm staunend an. In den Tiefen Deiner Seele, in Deinem großen Gefühl für mich kann sich nichts verändert haben, nur die stillen Pfade, auf denen wir dahin wandelten, sind bevölkert. Der Zufall oder das Glück haben Dich aber auch fast beängstigend rasch in die Höhe geschnellt. Zwar ist noch nichts entschieden, jedoch allein die Möglichkeit, einem Publikum Dein Können vorzuführen, bedeutet ja schon unabwägbar viel. Ein so unwahrscheinliches Zusammentreffen, wie Du es erlebtest, würde sicher in einem Roman belächelt werden, während doch die Wirklichkeit oft genug die tollsten Sprünge vollführt: ein bescheidener Bankbeamter, der nur Interesse an seinen Büchern zu haben scheint, arbeitet neben einem jungen Menschen, dessen Onkel Dramaturg an einem ersten Theater ist. Wie haben wir gelacht, als Du des Kollegen »Aufschneiderei« erwähntest. Aber man konnte ihm ja »unser« Stück anvertrauen. Wir sind gar nicht erwartungsvoll gewesen. Unsere fieberhafte Unruhe entsprang anderen Gründen, ganz anderen; sie lagen weit ab vom Theater. Schon nach acht Tagen kam die Einladung ins Büro der Direktion. _Später._ Freitag. Noch vierundzwanzig Stunden! Roland, ich habe richtige Examensangst; Herzklopfen wie ein Schulmädchen. Und weshalb? Nur weil sich morgen der Vorhang vor Deinem Stück heben wird. Dabei wiederhole ich mir immer wieder: Was bedeutete es, wenn es durchfiele? Deshalb bist Du doch »etwas«; deshalb berechtigt Dein Talent doch zu besonderen Erwartungen. Du wirst nicht leicht zu entmutigen sein, auch wenn die Presse Dich dies erste Mal ablehnt. Wie immer die Würfel fallen, _meinen_ Glauben hast Du nötig; denn auf wechselnde Stationen mußt Du Dich nun gefaßt machen: vor den ersten toten Zeiten in Deinem künstlerischen Schaffen wirst Du Dich entsetzen, vor gänzlichem Versanden zittern; Du wirst dann nicht hoffen, daß sich je wieder in Dir etwas regen könne. Mehr als je wirst Du mich brauchen, meine Erfahrung, meinen nie zu erschütternden Glauben. Das ist ja noch kein Glaube, der nicht _immer_ über einem Schaffenden schimmert, wie ein ewiges Licht, welches nie verlöschen darf. -- In diesem plötzlichen Aufstieg liegen sicher Gefahren, wenn auch ganz andere wie in stets vergeblichen Versuchen.
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Nennen sie Dich nach der ersten Aufführung »eine Hoffnung«, so wirst Du beim zweiten Stück diese Hoffnung »nicht erfüllt« haben. Hob Dich Dein erster Schritt in die Oeffentlichkeit gleich auf eine ansehnliche Höhe, so verzeichnet man beim folgenden sicher »keinen Fortschritt«. -- Auch heute können wir uns nicht sehen; morgen nur in der Unruhe vor der Aufführung. Eigentlich bist Du, mein Junge, mir halb verloren; der, welcher mich nun liebt, ist zwar _jener_ Roland, den ich ahnte, aber ich bin nicht mehr _allein_ für ihn die Welt, in der er lebt. Um die Stunden bis zum morgigen Abend schneller hinzubringen -- ich selbst bin nicht imstande, ruhig zu arbeiten -- habe ich gestern einen alten Freund zu mir gebeten, von dem mich die Erlebnisse der letzten Monate entfernten, ohne uns trennen zu können. Daß ich Dich, Geliebter, allen bisher »unterschlagen« habe, gewährt mir nun ein besonders fröhliches Empfinden. Ich fürchtete sicher keine Gefahr Deiner Gefühle für mich. Nur allein die Vorstellung, jemanden, der in mein Leben einzugreifen beginnt, von kritischen Blicken gemessen zu wissen, erscheint mir immer -- so überspannt es auch klingen mag -- wie Lästerung. Ich mag meine Freunde nicht »zur Diskussion gestellt« wissen. Immer _wundern_ sich ja doch die Anderen; für die meisten ist das Unsichtbare, das Menschen zusammentreiben kann, nicht vorhanden; in unwägbare Werte versenken sie sich nicht. Und nun gar in einem so schwierigen Fall, wie dem zwischen einer älteren Frau und einem jungen, viel zu jungen Menschen. Kopfschüttelnd würde »man« festgestellt haben: »Unbegreiflich! Wer hätte das erwartet? Ueberraschendes konnte man ihr wohl zutrauen, aber daß sie so kurzsichtig sein könne, so befangen, so blind? Was ist denn der Mensch? Was kann er? Wie alt schätzen Sie ihn? Liebe muß da doch völlig ausgeschlossen sein.« Ja, ausgeschlossen, Roland! Habe ich selbst das nicht gemeint; war ich nicht auch dessen sicher? _Am Sonnabend Nachmittag._ Wir sind zusammen auf der Generalprobe gewesen. Ein Schauspieler hielt mich für Deine Mutter. Ich erschrak; an _die_ Möglichkeit habe ich nie gedacht. Aber niemals werde ich eine andere Jugend festhalten wollen, als die des Geistes -- die soll ewig währen. Mit Farbe und Schminktopf erreicht eine Frau selten mehr als _sich selbst_ möglichst lange äußere Jugendlichkeit vorzutäuschen, es sei denn, sie habe sich durch fast ausschließliche Vertiefung in _dieser_ Art der Malerei Meisterschaft erworben. Jene Anrede wirkte im Augenblick, besonders durch Deine Gegenwart, sehr quälend.
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Wäre nur Eitelkeit die Ursache des Peinigenden, so hielte ich mich für ein Gänschen in landläufigem Sinne, und ich selbst wüßte jenes reißende Wehgefühl nicht in Einklang mit dem Grundton meines Wesens zu bringen. Doch die Minute, in der das: »ich freue mich, -- Ihre Frau Mutter« -- vernehmbar war, genügte, um die Frage in mir wieder aufzuschrecken, ob ich _mehr_ als ein kurzes, starkes Erlebnis in Deinem Leben sein darf? Monatelang hat diese Frage fast geschlafen. Ich wähnte uns über trennende Sitten, über Einflußmöglichkeiten, deren Wirkungen auch die tiefste Liebe nicht aus der Welt bannt, erhaben. Heute zeigte mir die Wirklichkeit kraß ihr Angesicht. Seltsam, daß wir uns solange einbilden, nichts nach dem Urteil der Welt zu fragen, bis irgend ein Ungefähr uns jäh das Gegenteil beweist. Ein Unterschied bleibt zwar: Ich brauche Minuten, mich wieder zurecht zu finden, während viele sich Wochen oder Monate von einem Angriff oder Ueberfall vergällen lassen. Wie konnte ich nur vollständig vergessen, daß die still wandelnde Zeit sich immer -- ich denke im Augenblick nur an äußerliche Veränderungen -- gebieterisch geltend machen _muß_. An andere Gefährdungen will ich jetzt nicht denken. Die beseligende Uebereinstimmung in uns kann nicht erschüttert werden. Und heute dulde ich in mir am wenigsten trübe Gedanken. Wie lange ist es denn her, daß ich Dich fand; ich meine, daß ich Dich zwischen den Vielen schweigend und ungelenk stehen sah? Damals bildete ich mir ein, in Deinen Augen etwas zu entdecken, das mehr verriet, als Deine scheue Haltung vermuten ließ. Traurigkeit beschattete Dich, die gar nicht in Einklang mit Deiner blühenden Jugend zu bringen war. Deine schlanke, nervige Gestalt überragte die Meisten, und doch erschienst Du keinem beachtenswert; nur mir strömte ein schwaches Fluidum entgegen, schwach und doch stark genug, mich zu Dir zu ziehen. Plötzlich stand ich neben Dir, sprach einige gleichgültige Worte und freute mich, daß nichts in Deiner Stimme war, was mich störte. Sogleich empfand ich, Du hattest Dich nicht in meine Nähe gewagt, und es wäre mir doch viel sympathischer gewesen, von Dir weniger »hochgestellt« zu werden. Noch war der Druck besonders schwerer Stunden, die ich gerade durchkämpft hatte, nicht von mir gewichen, und doch konnte mich schon seltsam freudig der Wunsch ergreifen, mit Dir, dem Fremden, allein unter einer Kirchenwölbung zu stehen oder in Waldeseinsamkeit auf kühlen, blütenreichen Wegen dahinzuschreiten. Seit Jahren kaum noch empfundene Verlegenheit ergriff mich.
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Ich belächelte mich, aber -- ich ging nicht weiter zu anderen Freunden. »Besuchen Sie mich,« sagte ich gelassen und sorglos. In der Sekunde warst Du, Roland, mir ein Ziel geworden, -- wieder einmal zwang es mich, Menschenbildner werden zu wollen. Mit welchem Ergebnis? Nimmer konnte ich diese seelischen Wandlungen, diese Beschleunigung unserer Pulse, all diese göttliche Schönheit voraussehen. -- -- Ich werde nun doch heute »unser« Kleid anlegen, in dessen schimmerndem Samt ich Dir an jenem ersten Abend begegnet bin. Deine zwei Nelken durchhauchen mein Zimmer. Du hast wie ein erfahrener Ritter gewählt; ihre rosig überhauchte Blässe eint sich herrlich der Fliederfarbe meines Gewandes. Deine Verse aber, die eben mit den Blumen abgegeben wurden, werde ich in dieser zerfahrenen Erregtheit nicht lesen; sie sollen mich heute Nacht empfangen. _Nachts._ Der Morgen steigt herauf, aber ich versuchte nicht mehr, mich niederzulegen. Wieder und wieder schaue ich auf Deine Verse; wieder und wieder beglückt -- erschüttert -- beunruhigt mich Dein Lied. Lausche in Dich hinein, Roland. Ist es nicht vielleicht schon aus dem Glück einer _neuen_ Erwartung geboren? Vor einer Stunde begleitetest Du mich nach Hause; im Kreise Deiner Mitarbeiter haben wir das Ereignis mitfeiern müssen. Wird die Presse uns auch erst morgen sagen, worin der Autor sich vergriffen hat, was von ihm in Zukunft zu erwarten, in welcher Rubrik er zu bringen ist, selbst die ungünstigste Besprechung kann nicht die Tatsache einer starken Teilnahme der Hörer aus der Welt schaffen. Auf ein so atemloses Mitempfinden des Publikums habe ich nicht gerechnet. Ist ja immer noch die Loslösung einer Frau von sittlich »feststehenden« Grundsätzen nicht gerade ein anziehendes Thema. Hätte ich auch nichts auf Dich übertragen als den Mut, Dich von all jenem Ballast zu befreien, der am schwersten auf werdenden Menschen lastet, so bliebest Du _doch_ mein Erbe. Ich habe sicher nur den Zündstoff zwischen gegebenen Zuständen und notwendigem Revoltieren gelegt. Du warst eben viel reicher als Du ahntest. Dir, wie so vielen, drohte ein Steckenbleiben, fern Deiner vorbestimmten Entwicklungsbahn. Menschen, die sich der Berechtigung ihrer angeborenen Eigenart früh bewußt werden, sind ja so selten. Nie habe _ich_ mich planvoll durch Hindernisse winden müssen; nicht etwa, weil keine Hindernisse vor meinen Füßen lagen, sondern nur weil mein Blick ausreichte, das Wesentliche meines Ichs zu erkennen, und in mir Kraft genug war, dieses Wesentliche zu entwickeln, ohne in egoistische Kälte hineinzugleiten. Der Meisten tastendes Suchen beirrt immer wieder geheime Verzweiflung.
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Sie wollen vorher mit zuverlässiger Sicherheit wissen, wann sie fehl gehen könnten, und wann es ihr gutes Recht ist, auf eigne Art »Mensch« zu werden. Ohne Verletzungen möchten sie hinaus und hinauf. Krisen erschrecken sie. Für alle Zeit trägst Du nun ein starkes Lebensempfinden in Dir, und wie immer Deine äußere Bahn sich gestalte, nie wirst Du in Deinem Werke und in Deinem Wesen die Schönheit des großen Fühlens verleugnen. Ich muß mich nun doch endlich niederlegen und zu schlafen versuchen, die Nerven könnten rebellieren. _Vier Wochen später._ Meine Gedanken beginnen ins Leben zurück zu wandern -- -- -- Wohl weiß ich: Zur Erkenntnis gehört ein bestimmter Abstand. Ist man seinen Erlebnissen noch zu nahe, so überwiegt das Einzelne so sehr, daß das Ganze nicht zu überschauen ist. Die Tragweite und der wahre Gehalt eigener Freude und eigener Leiden sind -- besonders in unmittelbarer Nähe -- nicht richtig einzuschätzen. Gewiß, gewiß, nie sind wir dem Irrtum mehr ausgesetzt, als in Augenblicken, in denen wir eine neue Erfahrung erleben. Habe ich denn aber in den letzten Wochen eine neue Erfahrung erlebt? Wohl kaum. Doch wie immer es sei, Roland, es gibt Entschlüsse, die im Zustande der Exstase gefaßt werden müssen, sonst faßt man sie nie. -- Seit acht Tagen bist Du wichtiger Besprechungen halber abwesend; ich habe Ruhe gehabt, unbeirrt von Deinem Blick, von Deiner Nähe über die reiche Festzeit nachzudenken, die wir miteinander Monate hindurch erleben durften. Jeden unserer Briefe las ich gestern nochmals durch; Dein Schreibtisch ist ja längst für mich geöffnet. Scheu berührte ich jedes Blatt. Während dann meine Blicke über die Seiten dahinglitten -- hier auf dem Platze, auf dem Du so oft meine Hand streicheltest -- in diesem Zimmer, das Du infolge der für Dich nun umgewandelten Welt seltener und oft nur flüchtig während der letzten Zeit betratest, erstarkte in mir die Vorstellung (könnte ich vielleicht auch sagen -- der Wahn?) uns vor der Tragödie der Entzauberung retten zu müssen. Ich weiß nicht, wann dieser Gedanke zuerst Besitz von mir zu ergreifen versuchte. Vielleicht bildete ich mir nur ein, Deine große Liebe habe all meine einstigen Theorien gänzlich umzuwerfen vermocht, vielleicht sind sie nie aus meinem Unterbewußtsein gewichen, vielleicht überbrauste sie nur der sich steigernde Glaube an die Möglichkeit eines Besitzes, welcher ein Leben _ganz_ auszufüllen vermag. Ich vergaß, daß es keinen Besitz gibt, dessen wir _mächtig_ sind.
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Nun ist's mir wieder eingefallen, ohne Bitterkeit, ohne Erschrecken, ohne die Absicht, irgend jemanden zur Rechenschaft dafür ziehen zu wollen. Am wenigsten Dich, geliebter Junge. Nichts ist jetzt notwendig als ein festes Herz. Seltsam, welche Fülle von Forderungen wir gerade an diesen kleinen Muskel stellen, den wir unser Herz nennen. Größe soll ihm eigen sein, Treue, Weisheit, Stärke, Heiterkeit, Güte, Sanftmut; alles -- je nach Bedarf. An mir ist es, unser großes Gefühl vor dem Prozeß des Alterns zu retten. Solche Rettung kann nicht teuer genug bezahlt werden. Noch umflutet uns ein Meer von Liebe, dessen Verfließen Dir unmöglich dünkt, aber Verhältnisse können nicht ausbleiben, die uns quälen _müssen_. Ich will Dich nie in Konflikte treiben. Heute noch bist Du fest davon überzeugt, daß Du nur _einmal so lieben_ kannst, wie Du mich liebst; aber _anders wirst Du lieben können, anders_. Deine Kunst wird dazu beitragen, daß Dich dieses »_anders_« rascher überfällt, als Du es für möglich hältst. Sollte _ich_ Dich nun für ewig beanspruchen, Dir immer fest zur Seite bleiben wollen, weil ich die erste Frau bin, die in Dein Leben eingriff, weil Dein Talent der Liebe zu mir entstieg? Glaube nicht, Roland, ich gehe, weil ich Dir entsagen will. Nein, ich gehe, ehe die gesteigerte Seelenatmosphäre, die ein wundersames Gefühl uns bescherte, und die jedes Denken an einander in jauchzendes Singen wandelte, von Mißklängen zerrissen sein könnte. Ich gehe, weil es _der_ Aufstieg ist, der uns für immer einen kann. Kein Schatten soll je das helle Licht zwischen uns trüben, nie soll des Werktags Gewalt unser Gefühl für einander gefährden; nie sollen der Gewohnheit graue Schleier zwischen uns wehen. »Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.« Ist es nicht das Gleiche, wenn Liebe nicht erst der Gewalttätigkeit und der Not des Alterns ausgesetzt wird? Denn auch Liebe altert und ist meist derselben Verarmung untertan, wie körperliches Verblühen; nur Auserwählten, Seltenen mag ein anderes Schicksal bestimmt sein. Ich fürchte das Erwachen aus dem Zustande des Verzaubertseins. _Später._ _Heute_ sehe ich in meinem Verschwinden eine zwingende Notwendigkeit, aber nicht immer werde ich fähig sein, mir diesen Schwerthieb zu deuten. _Heute_ fühle ich trotz Qual und Entsetzen, daß er nur _das_ durchschneidet, was sterblich zwischen uns ist, daß er die unzerreißbaren Zusammenhänge nicht treffen kann.
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_Heute_ glaube ich hellsehend zu sein; schon in einer Woche könnte ich mich betrügen und all dieses für einen Anfall von Schwermut halten, der _glücklich_ überwunden ist. Nein, schnell muß ich handeln, auch wenn ich inmitten meiner raschen Reisevorbereitungen wieder und wieder plötzlich nur an »zerstörende Sinnlosigkeit« denke. Roland, Geliebter, nie sollst Du genötigt werden, vor mir eine Maske anzulegen. Noch kannst Du nicht wissen, ob nicht auch Du zu den _ewig Wandernden_ gehörst. Die Schwelle in das Land, das besonders reich an romantischen Täuschungen ist, überschrittest Du ja erst jetzt. Sonnigen Träumern gewährt es am liebsten Obdach. Und freien. Wir werden beide auf bewegten Meeren bleiben, aber wir werden erstarken, wenn unser Fühlen, unser Geist nicht mehr wie überfeine Instrumente durch den leisesten Seelenhauch des Geliebten in Schwingung geraten. Suche Dir allein jetzt ein Königtum, das von ewiger Dauer ist. Kein rasches Entblättern bedrohe die Blumen, die in ihm erblühen. Es muß _erfüllt_ sein von einer Qual, einer Liebe, einer Sehnsucht, die _mehr_ verlangen als einen Menschen. In _diese_ Qual, _diese_ Liebe, _diese_ Sehnsucht werde _ich_ heimkehren. Ich kann mein Ich nicht ersticken lassen, muß ursprünglich und aufrichtig bleiben, muß auf _meine_ Weise an unserer Vollendung -- die ja doch nur Stückwerk bleibt -- arbeiten, muß uns vor Anklagen und Beschuldigungen bewahren. Aber all diese flüchtig und in wirrem Durcheinander niedergeschriebenen Worte werden Dich nicht überzeugen. Doch das gehörte ja zu dem Schönsten zwischen uns, daß Du meine Beweggründe stets achtetest, auch wenn sie nicht im Einklang mit Deinem Empfinden standen. Vor Dir habe ich nie nötig, mich zu _verteidigen_; welch eine herrliche Gewißheit! Anfangs wirst Du zu verzweifeln glauben, wirst grausam leiden, aber Du wirst nicht zu ermitteln versuchen, ob Du mich in Christiania oder in Athen finden könntest. Ach, daß man sich im Leben immer, wenn auch in friedlicher Form, zu _verteidigen_ hat! Unsere Ideale -- gleichgültig, ob wir uns öffentlich zu ihnen bekennen oder nicht -- bilden genau einen Teil unseres Selbst, wie äußerliche Vorzüge oder Fehler. Sie ewig zu entschuldigen, ist das Gleiche, als wolle man sich wegen der Farbe seiner Haare, oder wegen der Kleinheit oder Länge seiner Gestalt verteidigen. Gebe ich Dich jetzt _freiwillig_ her, so kannst Du mir nie genommen werden. Laß Dich nicht von täuschenden Ueberlieferungen beirren; klammere Dich nicht an Ausnahmen, an Beziehungen, die nie verstümmelt wurden. Wir haben unser »glückliches Jahr« gelebt.
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Laß uns unsere Liebe unverwundbar gestalten, laß uns zum _höheren_ Glück emporklimmen. Am Firmament bleiben Dir strahlende Lichtfunken. Sehnsucht ist Glanz auch in sternenlosen Nächten. Oder sollte all dies dennoch Phantasterei sein? Selbstmord? Uebertreibe ich? Irre ich in der Voraussetzung, daß durch meine Selbstbesinnung Sterbliches in Unsterbliches gewandelt wird? Kann diese Flucht, an der wir beide jetzt gleich schwer zu tragen haben, nicht allmählich zum Quell werden, dem die großen Dichter entsteigen? Ich träume Dich groß; mein _Gehen_ wird diesen Traum leichter der Wirklichkeit nahe bringen, als mein _Bleiben_. Ich aber habe mich zu mir selbst zurückzuwenden. Vielleicht denke ich dennoch zu wenig an Dein Entsetzen, an Dein Erschrecken. Junge, liebster Junge, begreife doch, daß es schöner ist, an unserem Sehnen zu leiden, als den Tag abzuwarten, an dem das Dunkel durch enge Fenster zu uns hereinfallen will. Heute noch flutet Licht durch weite Portale an uns heran. Ich kann, ich kann Dich nicht durch das Verlangen beschweren, unseren leuchtenden Stunden eine Alltagsfortsetzung geben zu sollen. Wohl kenne ich genau die Antworten, die ich erhielte, erbäte ich jemandes Rat: Von Ueberspanntheit wäre die Rede, -- vom einzigen Glück im festen Besitz -- vom Prüfstein eines starken Gefühls -- von nicht minder schönen, wenn auch gewandelten Gefühlen -- von Bündnissen, die die Zeit nur noch unlöslicher schmiedete. Aber Roland, wie alt bist Du? Wie alt ich? Weshalb denn mehr? Mehr würde zum Weniger. Zu oft sah ich Menschen, die sich hemmend aneinander fürs Leben gekettet hatten. Vielleicht ist dennoch meines Handelns Ursprung tief verwurzelt mit meinem Künstlertum. Verzweiflung und Verheißung scheinen mir zusammengeschweißt. _Später._ Selbst in diesen Tagen gibt es Augenblicke, in denen ich gar kein Weh in mir fühle. Und doch, während mir heute der Diener verschiedene Fahrpläne zur Durchsicht reichte, schreckte ich zusammen, als setzte der Schlag meines Herzens aus; mir wurde schwindlig, ich konnte nur stehen bleiben, solange ich mich an irgend einem Gegenstande im Zimmer festhielt. Merkwürdig, wie entgegengesetzte Vorstellungen zur selben Minute an mir reißen, während ich mich doch am beharrlichsten des letzten Zusammenseins mit Dir erinnere, Deiner _flüchtigen_ Innigkeit, als Du zur Bahn stürmtest. Könnte dieses Fortstürmen nicht symbolisch für Deine nächste Zukunft gewesen sein? Soeben Dein Telegramm, das mir die dortigen Erlebnisse meldet und die Verzögerung Deiner Rückkehr. _Später._ Oft hört man, daß Menschen, die beabsichtigen, sich das Leben zu nehmen, in unerklärlicher Ruhe und Besonnenheit alles für die Tat vorbereiten.
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Jetzt begreife ich auch sie. Nachdem mein Entschluß gefaßt war, konnte ich in seltsamer Ueberlegung ordnen, was geordnet sein mußte. Ich handle aus Naturnotwendigkeit, aus dem, was meiner Natur notwendig erscheint. Ob falsch, ob richtig, kann nicht mehr das Entscheidende sein; nicht ob ich göttlichen oder menschlichen Gesetzen in mir folge. Ich habe aufgehört, das enträtseln zu wollen. Während ich dies Letzte schreibe, bin ich schon weit fort; ich kritzle im Zuge, der mich eilend und rollend immer mehr von Dir entfernt. Liebe, Begeisterung und Leidenschaft für Vieles, was der nur »gesunde Verstand« verspottet, werden mein Leben immer zu einem reichen machen. Freudigkeit und Festigkeit können mich nie für immer verlassen. So nehme ich, trotz allem, fast heiter dieses -- soll ich es Martyrium nennen? -- auf mich. Ich kann auch nicht sagen: Verzeihe. Etwas eigentümlich Doppeltes ist in jedem Leben, in dem des Künstlers in verstärktem Grade. Tausend melodische Ueberraschungen werden Deinem Schmerz entsteigen. Gib Dich ganz jenen berauschenden Schöpferaugenblicken hin, deren Seligkeiten Du ja bereits erfahren; aus diesem Eden kannst _Du_ nie vertrieben werden. Bedenke ich, wie das alles anfing, wie alles zusammen- und auseinandertrieb, die Wandlungen und Handlungen, die in den wenigen Monaten liegen, so ergreift mich etwas wie Andacht vor den im Dunkel verborgenen Wurzeln des Lebens. Vermissen, Verlangen, welche Früchte mögen sie Dir tragen? Ich brachte alles über Dich in Fülle, auch jetzt das Harte, aber nun nennt Dich die Welt -- einen Dichter. Es schmerzt Dich vielleicht, und Du begreifst es kaum, Geliebter, daß ich in diesen Augenblicken fähig bin, überhaupt zu schreiben. Doch sieh, immer erscheint mir eine Eisenbahnfahrt wie ein Zwischenspiel, wie ein Akt, der trotz seiner Tatsächlichkeit eigentlich nicht mitrechnet in der Schale, auf die all unser Erleben niederfällt. Die Geräusche des fordernden Tages draußen können die Ansprüche meiner Seele beirren; die Geräusche einer Fahrt sind schwach, mir kaum vernehmbar; sie werden übertönt von feierlich schwebenden Gedanken, die zu mir zu Gast kommen. Erst wenn ich diesen Zug verlassen, wenn ich das Ziel meiner Fahrt erreicht habe -- schon Tage vorher werde ich diesen langen letzten Brief von einer Nebenstation aus an Dich schicken -- kann ich zu ermessen beginnen, was es tatsächlich bedeutet, nie mehr in heißer Sehnsucht auf Dich warten zu können. Und wie jetzt draußen wechselnde Bilder an mir vorüberziehen, so werden Stunden wechselnden Fühlens mich umfangen.
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-- Unser Leidensweg führt durch die Seele, aber der unserer tiefsten Erkenntnisse, die aufwärts tragen wollen, auch. _Ich hatte Angst vor dem kleinen Glück_, aber Menschen, in denen diese Angst nicht zu überwinden ist, müssen hart sein können -- hart gegen sich und hart gegen die, welche sie am meisten zu lieben glauben. Roland, Du Einziger, in dieser Stunde erlausche ich vieles, was wir selten in uns vernehmen. »_Ich fürchte mich nur, meiner Qual nicht würdig zu sein._« Du erinnerst Dich dieses Dostojewski-Wortes, dessen Inhalt zuerst befremdend erscheint, und das doch imstande ist, soviel Adliges in uns zu wecken. An Bäumen mit weißen Stämmen und hängenden Kronen jagt der Zug vorüber. Zahllose Bilder wirft die Natur in die dahinfliegenden Fenster: Gelbwogende Kornmeere, buntblühende Wiesen, rotknospende Büsche, leise sich wiegende Gräser; sie alle beredte Verkünder des ewig verschwendenden Nährbodens, der uns trägt. In einen seltsamen Traumzustand gleite ich hinein -- -- -- Draußen ist Erntezeit. Und in uns? Welchen Namen werden wir einst dieser Zeit geben? Maria. * * * * * * * * * * * * * * Fehler und Unregelmaßigkeiten: das Beieinander_bleiben_ _ein Wort_ die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens gewesen ist _Original hat »gewsen«_ _Roland an Maria._ [4. Brief] Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern _Original hat »Maria an Roland.«_ aus unerforschten Gründen zufluten lassen kann _Original hat »Gründe«_ eine feingliedrige Gestalt _Original hat »feingliedrge«_ Marie, Deine Maria. Langkau and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. Section 1.
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This header should be the first thing seen when viewing this Project Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the header without written permission. Included is important information about your specific rights and restrictions in how the file may be used. Menschliches, Allzumenschliches Ein Buch für freie Geister Friedrich Nietzsche Inhalt An Stelle einer Vorrede Von den ersten und letzten Dingen Zur Geschichte der moralischen Empfindungen Das religiöse Leben Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller Anzeichen höherer und niederer Cultur Der Mensch im Verkehr Weib und Kind Ein Blick auf den Staat Der Mensch mit sich allein Ein Nachspiel Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister Erster Band An Stelle einer Vorrede. - eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben überlassen und machte den Versuch, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann; zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten. Aus dem Lateinischen des Cartesius. Vorrede. 1. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten.
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Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, - ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat.
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Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von Gut und Böse"? - 2. - So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die "freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe? - 3.
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Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, - ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause" ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung.
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Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht eben dadurch auch Betrüger? müssen wir nicht auch Betrüger sein?" - solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute, was Einsamkeit ist?... 4.
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Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Willen zur Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist" - dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehn hat, - und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr bekümmern... 5. Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe aufgiengen.
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Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt dankbar zurück, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer "zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt -) auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine "gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen. 6. Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke.
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Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, - du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die Höhe wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem "du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst - darf... 7. Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und `zur Welt kommen` will." Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange, bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt.
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Gesetzt, dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen dürfen, dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die "Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Höher" und "Uebereinander", das gleichfalls "Mensch" heisst - überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir sehen hier - unser Problem!" - 8. - Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder gestellt ist -). Aber wo giebt es heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsch geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat - es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, - gerade in Deutschland ist dies Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten gehört worden: woran liegt das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: - lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nicht geben können." - Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt, dass man - schweigt. Nizza, im Frühling 1886. Erstes Hauptstück.
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Von den ersten und letzten Dingen. 1. Chemie der Begriffe und Empfindungen. - Die Philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren.- wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des "Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Uebertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. - Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren? - 2. Erbfehler der Philosophen. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraumes.
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Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. - Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am gegenwärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und insofern einen Schüssel zum Verständniss der Welt überhaupt abgeben können; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung. 3. Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. - Es ist das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat.
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- Die Verehrer der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk. 4. Astrologie und Verwandtes. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens ebenfalls nur zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt, dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein. 5. Missverständniss des Traumes. - Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des Götterglaubens.
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"Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch. 6. Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen mächtig. - Die abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich - auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbewusst die Absicht, ihr den höchsten Nutzen zuzuschreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben soll so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter, - was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden wäre; in diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus. 7. Der Störenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunct des Glücks unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch. 8. Pneumatische Erklärung der Natur. - Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die -Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen.
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Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch viel schlimmer. 9. Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. - Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss. 10. Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom "Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe: mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das "Wesen der Welt an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine "Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen. 11. Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft.
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- Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich -jetzt erst - dämmert es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte. - Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe. 12. Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag.
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Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch. 13. Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend, verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Bekleidung des ganzen Körpers, - alles diess nach seinem täglichen Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene erregten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: "diese Schlangen müssen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", - so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart.
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So weiss jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben meint. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen). - Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit. (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. - Einen verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, belebten Gruppen.
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Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. - Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie spät das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen jetzt noch unwillkürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der Künstler schiebt seinen Stimmungen und Zuständen Ursachen unter, welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen. 14. Miterklingen. - Alle stärkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, verbürgt die Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache. 15. Kein Innen und Aussen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur.
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Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das starke Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist. 16. Erscheinung und Ding an sich. - Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung - vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen - wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde - Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen.
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Spät, sehr spät - besinnt er sich: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt - oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert: um dadurch zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung - das heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und anstatt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen wird der stetige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen - wie es auch gar nicht zu wünschen ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen - und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist. 17. Metaphysische Erklärungen. - Der junge Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt.
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Später freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird. 18. Grundfragen der Metaphysik. - Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: "Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz, welches hier "ursprünglich" genannt wird, ist geworden: es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist.
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- Am fernsten liegt für jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalität: ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien Willens; wenn das fühlende Individuum sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfindung, jede Veränderung für etwas Isolirtes, das heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es isolirt sich und hält sich für willkürlich. Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten. 19. Die Zahl. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. - Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen: aber weil diese Grössen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines "Dinges" oder stofflichen "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist.
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- Wenn Kant sagt "der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt. 20. Einige Sprossen zurück. - Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen. 21. Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. - Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde.
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Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die selbe. 22. Unglaube an das "monumentum aere perennius". - Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine Jahrhundert lange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt.
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Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle. 23. Zeitalter der Vergleichung. - je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, - nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, - absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt. 24. Möglichkeit des Fortschritts. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen.
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Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, -er ist möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität. 25. Privat- und Welt-Moral. - Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. - Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts. 26. Die Reaction als Fortschritt.
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- Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte "metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung - die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht. 27. Ersatz der Religion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man schwächen und ausrotten.
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- Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und "böse" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen. 29. Vom Dufte der Blüthen berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird, - je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast jedermann glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt. 30. Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. - Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen. Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat beglückend, gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit dem selben Prädicat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen.
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Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im Allgemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie wahr. 31. Das Unlogische nothwendig. - Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweifelung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen. 32. Ungerechtsein nothwendig. - Alle Urtheile über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! - denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein.
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Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können diess erkennen: diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins. 33. Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig. - Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei übersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt.
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Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. - Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten. 34. Zur Beruhigung.- Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn man diess müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen.
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Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge? - Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das Temperament eines Menschen gegeben: ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, - jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht nichts Anderes mitzutheilen, - worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen "Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss. Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. 35. Vortheile der psychologischen Beobachtung.
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- Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man - in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht über den Menschen spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn, ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen. 36.
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Einwand.- Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins gehöre, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In der That, ein gewisser blinder Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen wünschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen Fällen hilfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est d'ordinaire qu'un fantôame formé par nos passions, à qui on donne un nom honnête pour faire impunément ce qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint. 37. Trotzdem.- Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben.
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Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat: - die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr verführerischer Duft - der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt. Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen.
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Welches ist doch der Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Bedürfniss" der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob mehr zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? - aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben. 38. Inwiefern nützlich. - Also: ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das Zweckmässige erreichen, - aber ebenfalls ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden. Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? - 39. Die Fabel von der intelligibelen Freiheit.
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- Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft, in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "böse" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet - also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. -Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth ("Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe - wie es thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft -, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, - was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit.
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Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern sei er irrthümlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei früher, als seine Existenz. - Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. -Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen. 40. Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist. 41. Der unveränderliche Charakter. - Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören.
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Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen. 42. Die Ordnung der Güter und die Moral. - Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei. 43. Grausame Menschen als zurückgeblieben. - Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen früherer Culturen gelten, welche übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfindung wälzt. 44. Dankbarkeit und Rache. - Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache.
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Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten. - Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen. 45. Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. - Der Begriff gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich einmal in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, welcher verächtlich ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - Sodann in der Seele der Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott; menschlich, göttlich gilt so viel wie teuflisch, böse. Die Zeichen der Güte, Hülfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel eines schrecklichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen, kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist.
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- Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden Stämme und Kasten aufgewachsen. 46. Mitleiden stärker als Leiden. - Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen, stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch stärker durch seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm. 47. Hypochondrie.- Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen. 48. Oekonomie der Güte. - Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren: doch ist diess unmöglich. Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten. 49. Wohlwollen.- Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt.
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