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44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin
gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern des
Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen
Fortschrittsführern am 2. November einer großen Arbeiterversammlung
beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das
Mandat für die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu
übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die selbst schon Sozialisten
waren, daß die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen,
dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei von einer
selbständigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Spätere
Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des
Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwähnte klassische
Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” des
Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren
die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch
außerdem für keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so
vortreffliche Kammer zusammengebracht, man könne es also schon noch eine
Weile mitansehen. Daß die vortreffliche, d. h. die oppositionelle
Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse war, kam
den guten Leuten nicht zum Bewußtsein. Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem späteren
Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand
Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” aufmerksam gemacht
und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht
denken, wie sehr dies dessen Entschluß bestärken mußte, nunmehr das
„Friede der Vergangenheit, meine Herren” zurückzunehmen. Als er das
Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, war bereits zwischen ihm und
dem Leipziger Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem offiziellen
Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten über die Aufgaben der
Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend
erscheinenden Form darzulegen, und daß diese Form eben die einer
Flugschrift sein sollte. Die äußerst interessanten damaligen Briefe
Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in
Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht
worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß Lassalle, so froh
er über die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem
doch in keiner Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden
Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr gut, worauf sie
hinauswollten; worüber man noch unentschlossen war, das war weniger
das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es
war durchaus nicht „das Bewußtsein seiner eigenen Unklarheit”, wie
Bernh. | 2,766 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_100 | 381 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” stellenden
Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das
Komitee veranlaßte, in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an die
deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, aber gegen
Übereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen. Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, aber nicht so bald,
daß nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan
haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten Aufruf
erließ, beschloß das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu
schicken, der auch tags darauf abging:
„Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin. Sehr geehrter Herr! Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen
Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall von
den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das
Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung
ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche
Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen
Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt,
genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der
Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig
erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6)
hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das
Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug
leisten könne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von
Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die
gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch
wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch
vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung:
Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und
geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner
Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen:
Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form
Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren
dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert
der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse,
auszusprechen. Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der
angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch
Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir
ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung
unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der
Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gruß und Handschlag! Leipzig, 11. Februar 63. Für das Zentralkomitee zur Berufung eines
Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses
Otto Dammer.”
Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1. | 2,914 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_101 | 395 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | März 1863 datierte
„Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines
allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand
Lassalle”. Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger
Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation
Lassalles und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen
Arbeitervereins”. * * * * *
Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt zunächst der Ansicht
entgegen, daß die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekümmern
hätten. Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der Politik zu
beteiligen, bloß dürften sie dies nicht in der Weise tun, daß sie sich
als den „selbstlosen Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei
betrachteten. Der Nachweis dafür, daß die Fortschrittspartei den
Anspruch darauf verwirkt habe, stützt sich im wesentlichen auf das von
dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern
nicht überall von gleichmäßiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf
Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, daß sie „nur .... das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes
habe”, so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage „Was nun?”
als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des
Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei
auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Sünde
anrechnete, daß sie
„sich durch ihr Dogma von der preußischen Spitze zwingt, in der
preußischen Regierung den berufenen Messias für die deutsche
Wiedergeburt zu sehen, während es, mit Einschluß Hessens, nicht
eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preußischen
in politischer Beziehung zurückstände, während es, und zwar mit
Einschluß Österreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung
gibt, welche der preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.”
Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich recht. Die
Organisation der Arbeiter als selbständige politische Partei mit eigenem
Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung
der politischen Zustände Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen
konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom
Heerbann der gegen den Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei
abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser
Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hieß die selbständige
Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung der
Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Daß sie diese in der Tat zur
Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei
selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenüber der neuen
Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches
Lassalle dieser Bewegung gab. | 2,837 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_102 | 392 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” gesehen, welch
abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff
„Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß er einen
wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. „Das uralte Vestafeuer
aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene
modernen Barbaren” -- nämlich die Manchesterpartei -- ruft er in der
Rede „Die indirekte Steuer” den Richtern des Berliner Kammergerichts
zu, und ähnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor. Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin,
die Ursache von allerhand verhängnisvollen Fehlgriffen. Die
althegelisch-ideologische Vorstellung vom „Staat” veranlaßte
Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische
Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für sie zunächst noch
darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst
loszuwerden. Es hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen
Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, Sie wollten über
Freizügigkeit debattieren? Ich weiß Ihnen hierauf nur mit dem
Distichon Schillers zu antworten:
„Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen,
Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” --
Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem
gesetzgebenden Körper „stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr
debattiert”. Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die
Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, während die Arbeiter sie
unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und
Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Rang auf einem
Arbeiterkongreß einzunehmen hatten, war der, daß sie zugleich in hohem
Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus waren; aber überflüssig
war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in
Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit über ihre Bedeutung herrschte. Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die
Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen,
zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig
wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse für die politische Aktion
aufzurütteln, sie zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen
Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung der demokratischen
Forderungen zu erwärmen. Und kein Zweifel, daß ihm zu jener Zeit diese
zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge
selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er
diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren. | 2,604 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_103 | 367 |
44722-0-4 | Gutenberg | 9,988 | Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu überzeugen,
wie sie von bürgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf
das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den
Klassikern der politischen Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von
Ricardo formuliert worden war, das „eherne und grausame Gesetz, wonach
unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche
Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt,
der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur
Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er zeitweilig über diesen Satz,
so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung
der Arbeiterbevölkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen
der Lohn wieder auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er aber
unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, größere Sterblichkeit
unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine
Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Löhne wieder
stiegen. So tanzten „Arbeiter und Arbeitslohn immer um den äußersten
Rand dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem
notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, und dies „ändert sich nie”. Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen
Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise
zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der
Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese
vereinzelt blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile
verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein würden, würden
die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie
als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage
der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes
ökonomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des
Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr
eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Gründung
selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die
erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal
verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die
Mitglieder in die „widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln
und Unternehmergesinnungen” verwandelte. Die großen Fragen ließen sich
nur mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die Assoziationen in
großartigem Maßstabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmäßige
Großindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das nötige
Kapital, bzw. der nötige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei
durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus. | 2,720 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_104 | 374 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen,
handgreiflicher als aus dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der
ärmeren Klassen, große Assoziation -- das ist der Staat.” Und wie
den Staat zu der geforderten Intervention vermögen? Dies werde nur
durch das allgemeine und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn die
gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten
Wahlrecht hervorgehen -- „dann und nur dann werden Sie den Staat
bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen”. Das
allgemeine und direkte Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches,
es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller
sozialen Hilfe”. Darum mögen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen
deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die
Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen
Ländern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der
Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der
Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet, so
werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen würde. „Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder
Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren
und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach
rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines
und direktes Wahlrecht heißt oder damit in Zusammenhang steht und
dazu führen kann.”
Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt des „Offenen
Antwortschreibens” und zugleich der Lassalleschen Agitation überhaupt. Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen
Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest,
die Bewegung auf diesen einen Punkt: „Allgemeines Wahlrecht behufs
Erlangung von Staatshilfe für Produktionsgenossenschaften” zu
beschränken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, daß die
Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf
einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu
behalten, wenn man an die agitatorische Tätigkeit Lassalles den
richtigen Maßstab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn,
auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen. | 2,262 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_105 | 333 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Ausdrücklich verweist Lassalle im „Offenen Antwortschreiben” auf die
Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso
scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu
haben, wie der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an die Erklärung
des Chartistenpredigers Stephens erinnert: „Der Chartismus, meine
Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und
Gabelfrage.”
Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer
praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage der
damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube ich die Frage unbedingt
bejahen zu müssen. Daß später Bismarck, wenn auch freilich nur zum
Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einführte,
ist für mich dabei nicht maßgebend. Allerhand Umstände hätten das
verhindern können, ohne daß dadurch die Tatsache umgestoßen worden wäre,
daß Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt,
obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen Landtag beibehalten
wurde, bleibt der Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach
durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wußte ganz genau,
daß, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele
Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafür in den Kreisen der
Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer scheeleren
Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Blätter sprachen sich
bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte es,
wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch
die er genau über die Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen
unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht
nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg -- der
ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte -- schließlich kaum etwas
anderes übrig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen und
ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem
Schritt mußte sie sich um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke,
von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung bestand, die die
Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte. Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg mußte ihr dies als der
beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig
gegen sich im Rücken zu haben[21]. Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also
Lassalle unzweifelhaft recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht
auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen
Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht
nachgeben zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts
mindestens noch weiter hinausgeschoben. | 2,790 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_106 | 388 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | „Seien Sie taub für alles, was
nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder damit im
Zusammenhang steht und dazu führen kann”, heißt es im „Offenen
Antwortschreiben”. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, würde
dieses, das muß man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrücklich
ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage
lösen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie
überhaupt die Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache selbst
gerechtfertigt? Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur
Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus
nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar während der
Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung
gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt worden durch
die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das
allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig
verhindert, daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen können als
„Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die
Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat
proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine
Epoche sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, so daß
nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafür gegeben waren, daß sie
im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik hätte
werden können. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch
das Kaiserreich gestürzt werden? Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” sagt, was am
2. Dezember 1851 gestürzt worden, das sei „nicht die Republik”
gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz
vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten
Zensus zur Ausschließung der Arbeiter eingeführt hatte; die Republik
des allgemeinen Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen
Arbeiter einen unübersteiglichen Wall gefunden haben”, so wiederholt
er damit ein Schlagwort der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la
Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur
verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche Wall”, als die auf Grund
des allgemeinen Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? Warum
hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich der Bourgeoisie”
nicht verhindert? Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so würde er auf die Tatsache
gestoßen sein, daß die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht
halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche hätte
stützen müssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht
entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes. | 2,716 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_107 | 383 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Das moderne
industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, für einen
Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen,
aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem
Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf
die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgänge einzugehen sucht,
hält ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite
wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das Ökonomische packt er
gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf,
juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, daß er, um den
Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevölkerung des
Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung,
und zwar ausschließlich an sie hält. Der Streit, der sich damals an
diese Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, ist ein
verhältnismäßig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentsätze
nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde
wenig an, die Tatsache, daß die große Masse der Bevölkerung in dürftigen
Verhältnissen lebt, während nur eine kleine Minderheit im Überfluß
schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle
damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht
aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht
berücksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89
Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, als deren „große
Assoziation” er den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil davon
Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter
bildeten, die noch großenteils völlig unter der geistigen
Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz unerörtert. Über die Hälfte der Bevölkerung Preußens entfiel damals auf den
Ackerbau, die größeren Städte spielten bei weitem nicht die Rolle,
die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung
betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit
vereinzelten Oasen[22]. Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine Wahlrecht an der
Zusammensetzung der Kammer ändern? War von ihm ein besseres Resultat zu
erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848
und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von
Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich
gewiß sehr zu wünschen. | 2,450 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_108 | 357 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Aber im übrigen mußte es, gerade je mehr es die
Wirkung erfüllte, die Lassalle von ihm versprach -- nämlich einen
Volksvertretungskörper zusammenbringen, der „das genaue, treue Ebenbild
ist des Volkes, das ihn gewählt hat” („Arbeiterprogramm”) -- die
Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. Denn so jämmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch
wenigstens bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen
Klassen zwar unter Umständen sämtlich revolutionäre Truppen stellen,
aber keineswegs samt und sonders revolutionäre Klassen sind, er vergaß,
daß die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern
bestanden. Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen möglich war, so ist doch
damit noch keineswegs gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder als
Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigeführt haben würde. Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse der
Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst das Gegenteil bewirken,
statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in größerer
Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren
aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen
Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil Ideologen, welche
gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen
Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur
an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger
Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafür, daß
das allgemeine Stimmrecht „nicht notwendig dem Arbeiterstande die
Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt worden, das allgemeine
Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu
verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar”. „Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, daß hier das Mittel mit
zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen
muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus
geht auch hervor, daß, beinahe mehr noch als Rodbertus'
gegensätzliches Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften,
sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, daß er
trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein nicht beitrat[23]. Und wie man sonst auch über Rodbertus denken mag, seine Motive werden
auf das Unzweifelhafteste durch den Schlußsatz seines Briefes
charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl Lassalle recht habe,
daß man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und
freie Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in ihr Programm
aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, der Ihnen schaden könnte, höchst
wirksam zurückzuscheuchen”. | 2,785 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_109 | 395 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus übertrieben, so
nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die
er später tatsächlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach
von vornherein in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine Stelle aus
dem teilweise schon früher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20. Juni 1859 über die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es:
„Im Anfang, als mit solcher Wut überall das nationale Geschrei
eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’
(Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr Redakteur) in einem
Leitartikel triumphierend aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei
aller Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine
welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von
der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.’ --
Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt dieses
Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewiß nicht! Ein
populärer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbürgerlichen
Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller
Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs
auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution
hinein würde die Wirkung dieser Strömung sich bemerklich machen. Wir haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten Feind, den
wir haben, dem deutschen Spießbürgerindividualismus, durch einen
blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner
klassischen Form, in Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen.”
So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der „Volkszeitung” verdiente in
gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt,
aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische
Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus,
während die Partei der „Volkszeitung” auf England, als ihr politisches
Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht
reaktionär, oder doch reaktionär nur insoweit, als es eben einseitig
war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus
Frankreichs ein Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, ihn mit
dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine
reaktionäre Seite ganz unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder
einseitig. So weit über die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu
seiner ökonomischen. Fußnoten:
[20] Wohl ein Druckfehler. D. H. [21] Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen Krieges”
gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht in die Schablone des „guten
Patrioten” passenden Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger
Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend
dafür ist auch eine Stelle in der Schrift „Was nun?”, die schon
deshalb hierher gehört, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag
tatsächlich nur zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder
Revolution. | 3,021 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_110 | 396 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Anknüpfend daran, wie unmöglich und unhaltbar die
auswärtige diplomatische Stellung der preußischen Regierung wäre,
wenn sein Vorschlag befolgt würde, fährt Lassalle fort:
„Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein
unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der
Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden
Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter
einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den
diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und,
gleichviel ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt
in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft
habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei
historischen Studien mir die große Wahrheit auf das Genaueste zu
vergegenwärtigen, daß fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe
der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen würden,
wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen
unter einander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu
Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist
die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen
eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die
Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die
Geschichte genau und mit innerem Verständniß betrachten, so werden
Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so
riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa
vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit und Unverwüstlichkeit
unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten
wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl
unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische
zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche
derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen
kann -- das deutsche Volk!”
Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man
zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß, ein so wichtiger Faktor
des Fortschritts der Völker die Rivalität der Regierenden sein kann
und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein
Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des
Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des
heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg zwar
ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslöschen, es
aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schädigen kann,
daß er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber
auf die man nicht spekulieren soll. | 2,777 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_111 | 399 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | In dem erwähnten Beispiel tut
Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlußsatz und seine Briefe
zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine übrigens
weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekämpfende Tendenz. [22] Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft
kamen damals in Preußen erst 766180 selbsttätige Personen in der
Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter und Beamten eingeschlossen. [23] Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem Brief” geheißen:
„Und ich wiederhole, daß ich mir auch von den Produktivassoziationen
nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die
Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch Lassalles wurden aber
diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine
Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen
Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn sie so schroffen
Widerstreit zwischen ihren Führern sehen, entmutigen müsse”. (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.)
Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit. Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das
Beiwort „ehern” gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24]
nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode --
der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden
Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen
Großindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten
Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperität, der rasch sich
vollziehenden Steigerung der Produktivität der Arbeit usw. zum
mindesten überlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von
Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört
ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert
gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung
des Arbeitsverhältnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle
entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so
hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die
guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als
Lassalle. Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn
bestimmenden Gesetze, weil er den stärksten Schlag gegen die moderne
Gesellschaft damit zu führen meinte, daß er nachwies, der Arbeiter
erhalte unter keinen Umständen seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen
Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen
rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch höchst wirksam
erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der
Frage. | 2,693 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_112 | 378 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den
früheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein „ehernes”
Gesetz es verhindert, daß der Lohn dauernd unter ein bestimmtes
Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle
ausdrücklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam
hebt, aber doch hebt, so war der Beweis für die Notwendigkeit der von
ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen. Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst später, und nur
beiläufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit
einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese
Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen
Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den in wechselnden
Zeiträumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von
beständigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse -- der
schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden
Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die
wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten
Abhängigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfällen des industriellen
Zyklus sich zu befreien, die beständige Bedrohung mit dem
Hinausgeworfenwerden aus einer Sphäre der Industrie in eine andre,
tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die
Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich
macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum
Schlechteren unterscheidet. Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit der
scheinbaren Freiheit nur größer geworden. Sie ist es, die mit eherner
Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der
wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhöhe dagegen wechselt
heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen
Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die tatsächlich einen gewissen
Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den
verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils höher, teils aber
auch geringer als in früheren Produktionsepochen. Beide hängen von sehr
veränderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu
Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den größten
Veränderungen unterworfen, und beständig ist nur die Tendenz des
Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die
eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen. Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der
Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte,
die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen
Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat
der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines
Abhilfemittels von vornherein angezeigt. | 2,872 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_113 | 397 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Es ignoriert, oder, um Lassalle
auch nicht Unrecht zu tun, es unterschätzt die Stärke und den Umfang der
Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale
Rückwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir müssen hier
wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. Sein Ziel war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel
aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich
organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die
sich von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, daß sie mit
Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles
weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der
freiwilligen Entschließung jener überlassen -- es wird von ihnen erwartet,
aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern,
die sich zu assoziieren wünschten, die erforderlichen Mittel dazu auf
dem Wege der Kreditgewährung vorstrecken. Die Assoziationen einer bestimmten Industrie würden also, solange sie
nicht diese ganze Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen
ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen
dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche
Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der Assoziationen
Sonderinteressen herausentwickeln mußten, daß jede Assoziation danach
streben mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu steigern, sei es auch
auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit
Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen
von mehr oder minder großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle
Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glückschancen mußten
daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn
und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie für andre
Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gestützt darauf,
daß 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr
stark war --, daß sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter
Industrien an den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation
zusammentun würden, und sprach sich zweitens im „Bastiat-Schulze”
später sogar dahin aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur einer
Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil
werden” lassen würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in
dieselbe offen haltend”, aber selbst solche örtlich einheitlich
organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch große Assekuranz- und
Kreditverbände der Assoziationen untereinander in ihren ökonomischen
Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, daß diese
Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war
für nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie. | 2,903 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_114 | 392 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Sonst mußte die Überproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft
sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie
es oben heißt, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die
Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte sich da, von seinem
sozialistischen Gewissen getrieben, in einen großen Widerspruch. „Den
Eintritt offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme jedes sich
meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem „Offenen Antwortschreiben”
sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber vollkommen unabhängig
sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle
der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit
obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhängigen in ein
öffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhältnissen staatliches
Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt
hätte scheitern müssen. Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist
folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen
eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, unterstanden sie den
Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja
gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion im Auge hatte, die
zugleich die großen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz
besteht, besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den
Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder
eine Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, daß sein Produkt
jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht
gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird. Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und
Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine
Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur möglich
nach Maßgabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar
durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz in der heutigen
Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor
Übervorteilung zu schützen und die Produktionskosten beständig zu
senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten
der Monopolinhaber zu überteuern und den Fortschritt der Technik, wenn
nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn
die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die
Aufhebung des geschäftlichen Risikos für die Assoziationen würde also im
Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn überhaupt zu
verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich
gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenüber die große
Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wäre ein
unlösbarer Antagonismus. | 2,793 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_115 | 368 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das natürlich leicht zu
verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der
subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der
Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der
Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf
gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische
Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen
so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die
Lassalleschen Produktivgenossenschaften würden sich von den
Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe,
nicht dem Wesen nach unterschieden haben. Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu
durchgebildeter Ökonom war, als daß ihm diese schwache Seite der
Lassalleschen Assoziationen hätte entgehen können. Wir haben bereits aus
dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus
sich in seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern wollen, und die
auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich
deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war. Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an
Rudolph Meyer hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, einige
der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen. Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus:
„... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, daß
dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen,
das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel
schlechteres, zu weit größeren Ungerechtigkeiten führendes Grund- und
Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen
hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich überführt, zu welchen
Absurditäten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen müsse
und (was ihm besonders unangenehm war) daß er gar nicht der Schöpfer
dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la Révolution
entlehnt habe.”[25]
Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe
ich gegen diese Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am
Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie
Settegast mit Recht sagt -- und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale
Frage nicht gelöst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem
Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich zu einem
Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum
liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege. | 2,567 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_116 | 350 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Der Beweis würde
mich zu weit führen, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon
in unserer Korrespondenz getrieben, daß er mir in einem seiner
letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen denn, daß ich will, daß
der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehören_ soll!’
(sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter
an den einzelnen Betrieben wäre ein weit übleres Eigentum, als das
individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer
Kapitalistenassoziation.” ... Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur
Veröffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber
kaum anzunehmen, daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt haben
würde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er
gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht
nämlich dagegen, daß Lassalle sich nicht in der Tat einmal so
ausgedrückt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von
den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat für das
vorgeschossene Kapital zu zahlen hätten. Es liegt also in dem Satz noch
nicht einmal ein Zugeständnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein
solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich in eine --
unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlägt,
findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai
1863. Dort heißt es:
„Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, wenn dem Arbeiter Boden,
Kapital und Arbeitsprodukt gehört[26], von einer Lösung der sozialen
Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch
annähernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung
geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. Bei der ländlichen
Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein
Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der
Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich
genau und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk schreibe, sehr
explizit nachweisen.”
Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der
vorstehenden Sätze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die
Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier
gleichgültigen Zwischensatz lasse ich fort):
„Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation wird dann der
Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’,
ist jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu verstehen. Ich
verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz
stattfinden könnte. | 2,603 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_117 | 394 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw. Äckern würden doch zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die
Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen
Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben. Allein schon daraus allein, daß einer in der Gesellschaft mehr hat als
sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, daß ein andrer weniger haben muß,
als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns
dieselbe übereinstimmend (vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen
Briefes) denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen würde. Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgültigen
Lösung der sozialen Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier
immer als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem ‚mehr oder weniger’
unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich ländlich oder industriell
unter beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen kann,
während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen mit derselben
Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungünstigeren mit derselben
Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wäre
der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivität, der
bestimmt wird durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum
zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht. Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes können Sie das unmöglich
bestreiten. Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation
Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall
sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes
Arbeitsprodukt.”
Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier gar nicht mehr möglich. Die
„Idee”, welche Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt,
ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der
Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen
oder der Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich durchaus dessen
bewußt, daß, solange der letztere den Verteilungsmaßstab bildet, ein
Bruchteil der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise
weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten
Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter
Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen zunächst
eine neue Ungleichheit schaffen würden. Gerade mit Rücksicht darauf
habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines
Vorschlages das Wort „Lösung der sozialen Frage” sorgfältig vermieden
-- „nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern
aus jenen theoretischen Gründen”. Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, daß die
Ungleichheit bei den ländlichen Assoziationen durch eine
differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden könne, welche „die
ganze Grundrente abolieren, d. h. | 2,796 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_118 | 381 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | in die Hände des Staats bringen, den
Arbeitern nur den wirklich gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll --
die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer würde die
Bezahlung bilden für die Überlassung der Bodenfläche an die
assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heißt -- „schon aus
Gerechtigkeit und Neid” von den ländlichen Assoziationen
„leidenschaftlich begünstigt werden”. Der Staat aber hätte an dieser
Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, öffentliche
Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen
solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, daß sobald die
Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer großen
Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhören
und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden
würde. „Würde hiermit nicht zugleich getötet werden, was man heut
Überproduktion und Handelskrise nennt?”
Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der
Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthält keinen
Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr
wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung
irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der
Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfüllung gehen
kann, aber nicht notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht,
solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt
wird. Und selbst wenn sie in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus
nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder der einzelnen
Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine größere oder
unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts
erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. Es
stände immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse. Hören wir noch einmal Rodbertus. Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel
des „Neuen Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß Lassalle der
„weitgehendsten Richtung des Sozialismus” angehört habe, und meint,
das sei wohl richtig, es sei
„aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und der (Neue)
‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine Produktivassoziation angestrebt
haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher der
Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören sollte, nur daß
Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu
sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es
ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar). Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt,
setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ voraus. | 2,776 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_119 | 377 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Wie soll also
jene ‚weitgehendste Richtung’ mit einer solchen Assoziation
vermittelt werden können?”
Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation
als „provisorische Institution” gedacht werden könne, und
fährt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die
Produktivassoziation, die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ in der
Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als Übergangszustand zu jenem
‚weitgehendsten’ Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gemäß,
würde er nicht zu allgemeiner Brüderlichkeit, sondern zu dem
schärfsten Korporationseigentum zurückführen, in welchem nur die
Personen der Besitzenden gewechselt hätten, und das sich tausendmal
verhaßter machen würde, als das heutige individuale Eigentum. Der
Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben
niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt
ziemlich über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale
Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum. Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die
Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei
Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die
Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum
zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen
gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem
Führer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ Ziel
anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” (Briefe usw. von
Rodbertus-Jagetzow.)
Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen lassen, weil er Lassalle
vielleicht am objektivsten gegenüberstand und in seiner Auffassung vom
Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl
niemand so eingehend mit Lassalle über die Produktivgenossenschaften
diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch
nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der „Lösung der
sozialen Frage” hatte, nämlich den Normalwerksarbeitstag und den
verhältnismäßigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der
Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet,
wenn er sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle
wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel,
und weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem „Mob” -- worunter er
den ganzen Troß der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits
zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte,
stellte er das ihm ungefährlicher scheinende Postulat der
Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf. Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz über Franz
von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er
„listete” mit der „Idee”, wie es in jenem Aufsatz heißt, und
täuschte die Freunde mehr, als die Feinde. | 2,870 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_120 | 397 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Aber er tat es, wie
Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenüber
Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu
verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel
zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schluß ziehen,
daß Lassalle nicht von der Güte seines Mittels durchaus überzeugt
war. Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so
eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie
sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung in bezug
auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: „Kurz, ich begreife nicht,
wie man nicht sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat ausgehend,
der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren führt.” --
Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser
Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen
Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel
schwerwiegender wäre, als der eines theoretischen Irrtums. Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit
der Zweck, dem diese dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der
sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzügen bereits
enthalten, daß hier in der Tat -- worauf er so großes Gewicht legte --
„das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen”
sei. Nun ist ja auch tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück
Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit,
und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die
Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen Befreiung der
Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den
Zusammenhang mit dem großen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation
verlorenging, möglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht
nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr die Einheitlichkeit des
Gedankens bei ihm im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen,
welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser für ihn nicht der
jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände
war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch
jeweilige historische Einflüsse zwar beeinträchtigt, dessen ewige
„wahre Natur” aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher
Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der
Staatshilfe mehr als eine bloße praktische Maßregel zu erblicken
und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des
Sozialismus, eine selbständige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29]. Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in
engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen
Lohngesetzes. Sie fußt auf denselben ökonomischen Voraussetzungen. | 2,780 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_121 | 395 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Kurz, es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß. Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an die Richtigkeit seines
Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so
unbestimmt wie nur möglich äußerte. Er, der in dem schon zitierten
Aufsatz über den „Franz von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte,
welche Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten Zwecke der Bewegung
andern (‚und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim
zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen
„sittliche Schuld” erblickt hatte, die seinen Untergang herbeiführen
mußte, den Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm
vertretenen Idee, ein „Abweichen von seinem Prinzip”, ein „halbes
Gebrochensein” -- er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen
dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck
zuzuspitzen. Die Entschuldigung, daß man diesen Zweck dem „Mob” noch
nicht sagen durfte, oder daß die Massen für ihn noch nicht zu
gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen für das wirkliche
Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese
überhaupt verfrüht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn
erlangt, nicht zum Ziele führen. In den Händen einer Arbeiterschaft,
die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag,
konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als nützen und mußten
die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden
Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer liefern. War aber die
Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen,
dann mußte dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit
noch nicht als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes Ziel
hingestellt zu werden, aber nicht nur der Führer, sondern auch jeder
der Geführten mußte wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß es
nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wäre dadurch nicht
mehr vor den Kopf gestoßen worden, als es durch den Kampf um das
Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der
Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz
handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung mit Recht, „sind
zu täuschen, Klassen niemals.”
Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär erscheint, der sei auf die
Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit
will ich zum Schluß auf dieses Thema übergehen. | 2,432 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_122 | 375 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Fußnoten:
[24] „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des ehernen
Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung ist von mir später
gesondert in das Buch „Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes”
(erster Teil der Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des
Sozialismus”, Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden. [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc
„entlehnt” -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner
Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung
zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit dem ersteren
hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbständigkeit der
Assoziation gemein. [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen
Briefe heißt es „nicht gehört”. Das „nicht” beruht aber, wie
sich im folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem
Abdruck des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463). [27] D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über einen gewissen
Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt nicht bewirtschaftet wird,
weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte
Arbeit abwirft. [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen von Henry George,
Flürscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der
Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir früher gesehen haben,
jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern
müßte. [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle
z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur Arbeiterfrage” den sogenannten
Manchestermännern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß
sie, wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden in der
Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, daß
die Manchestermänner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft
untergehen lassen wollen. Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation können hier nicht
dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen
Werkes annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, vorderhand
nur die allgemeinen Züge der Bewegung hervorzuheben. Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst nur zum Teil die Wirkung,
die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in
Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze liest sich mit solcher
Leichtigkeit, daß es dem Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon
jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk,
sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu
verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben. | 2,707 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_123 | 378 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden
bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft
ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen
in Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und Industrieorten am
Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge
eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie
namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus
der Zeit vor und während der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das
Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf
längere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt und
betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Führer der
Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion. Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen und außerhalb Preußens
anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen
wahren Sturm erregt -- nämlich einen wahren Sturm der Entrüstung, der
leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so groß vorgekommen, so
erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und
nun wurde ihnen plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen
Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, das ihnen das
Volk bisher entgegengebracht, unwürdig erwiesen hätten und daß daher
jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder
Arbeiter, ihnen den Rücken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung
verträgt keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in
einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die
Feindseligkeiten zwischen ihr und der preußischen Regierung hatten
allmählich einen Höhegrad erreicht, daß eine gewaltsame Lösung des
Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mußte man sich auf das
Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, daß
die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe,
hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten können, das Volk, das
politisch denke, stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht
hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. Denn wenn die
Fortschrittler auch keine große Lust hatten, Revolution zu machen, an
Drohungen mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen[30]. Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne,
der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen,
man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser
Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte? Das hieß ihnen Unmenschliches zumuten. | 2,665 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_124 | 390 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr
Möglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu
lassen, und die nachträgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser
Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist,
um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. Die Art der Gegenwehr
nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. Daß
die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion
hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf
gemacht werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal nicht bestreiten,
daß Lassalles „Antwortschreiben” zunächst Wasser auf die Mühle der
preußischen Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu beschränken,
Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine
starke Position, oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken
Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner
Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und
entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit
hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht zugleich mit einer so
riesigen Dosis von Selbstüberhebung gepaart gewesen wäre. Lassalles
einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte
getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des
Staats gegenüber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil
unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die
platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen
Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaßen sie so sehr
alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst früher in bezug auf die
nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben
hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die
Übertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen
Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen
über Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten
Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszüge aus der 1858
erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausführungen Schulzes in
seinem „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” -- eine
Zusammenstellung von sechs Vorträgen, die letzten davon bestimmt,
Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Während
dort es als eine der schönsten Wirkungen der selbsthilflerischen
Assoziationen bezeichnet wurde, daß sie den Unternehmergewinn
herunterdrücken hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft ein
solches Ding wie Unternehmergewinn” gar nicht kenne und also
auch natürlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und
Unternehmergewinn. Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und b)
Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenüber
solcher „Wissenschaft” brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu
sein, um mit ihr fertig zu werden. | 2,867 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_125 | 390 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz seiner packenden
Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenüber nicht den
Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des „Offenen
Antwortschreibens” gleich der der von Luther an die Wittenberger
Schloßkirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits
erwähnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunächst
auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in
Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen
„Arbeitertag des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, in einer
zum Abschluß derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer
Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, für
das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne
Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in
Anwesenheit von Delegierten aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln,
Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und
Frankfurt a. M.), der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet,
auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten
demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte. Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische,
was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den
Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an die Gründung eines allgemeinen
Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen
gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der
Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich
die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten für
die Person des Präsidenten, der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar
sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten
konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche
Präsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenüber Lassalles
ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte Annahme der Statuten nicht
durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde
Lassalle zum Präsidenten erwählt, und nachdem man ihm noch die Befugnis
zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen
Vizepräsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an. Er war somit anerkannter Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber
blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhängerschaft
beschränkt. Drei Monate nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wäre das ein gar
nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz
andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer
Propagandagesellschaft, sondern der Führer einer Massenbewegung sein. | 2,826 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_126 | 392 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern. Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine
wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war
das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht
sechs Wochen alt, da trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige
Erholungsreise an -- zunächst in die Schweiz, dann an die Nordsee. Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine
rege Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für den Verein zu
gewinnen, wobei er übrigens nicht sehr wählerisch vorging, aber gerade
das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ er ruhen. Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafür, daß der Verein
wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, obwohl es
ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begnügte sich mit
gelegentlichen Subventionen an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten
Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” und den in Leipzig von
einem Eigenbrödler, Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”,
womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten wurden, ohne
jedoch deshalb aufzuhören beständig zwischen Leben und Sterben zu
schweben. Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der
vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den bürgerlichen
Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem
Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute war, wie bereits erwähnt,
stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium,
andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches Mißtrauen gegen
Lassalle davon abgehalten, sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder
andere hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei
von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein
beitraten, ließen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und
verhielten sich im übrigen durchaus passiv. Dafür agitierten zwar andere
Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse
hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretär des Vereins, Jul. Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für
den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den
Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit der
unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des
Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem
Verfassungskampf in Preußen als ein fast unübersteigbares Hindernis, so
daß an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft
die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel
unpolitischer Natur, Gründung von Unterstützungskassen usw., das
Werbegeschäft fördern solle. | 2,772 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_127 | 390 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser
Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den
Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation
usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, daß der
Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ändern mußte. Er würde
aufgehört haben, eine jederzeit disponible politische Maschine
abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert. Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit
der er bei seiner Rückkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und
zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm am günstigsten erwiesen
hatte. Es ist dies die Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter
Abgeordnetentag”. Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in
Barmen, Solingen und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in
seiner Agitation. Welche Einflüsse während der Sommermonate auf ihn
eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden können, indes wird
man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin Hatzfeldt und ihre
Verbindungen schließt. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein
noch größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als
dieser selbst; für sie ging das Interesse am Sozialismus vollständig auf
im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie überhaupt erst
zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre
große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet,
die wohl versprachen, seinem persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu
verschaffen, die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade
kompromittieren konnten. Für sie war eben die Bewegung Lassalle und
Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille
der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigennützigen Freunde
sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber
obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen
Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbständigen
Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie
bestärken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und
Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf
jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als
der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache für dieses
Unrecht, sie hetzen und schüren und intrigieren -- alles in bester
Absicht, aber zum größten Schaden dessen, für den es vermeintlich
geschieht. | 2,596 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_128 | 383 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so
sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf
Erfahrung überlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab
er viel auf ihren Rat; er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen
Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schluß seiner Laufbahn
geschriebenen Briefe an die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die
Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des
Präsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe. Das ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle hätte wohl auch
ohne die Gräfin das Präsidium angenommen. Aber in solchen Situationen
läßt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was
man selbst möchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. Die Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es
liegt der Schluß mehr als nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge
getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preußens damals
vorbereiteten. Es sei nur an die Erklärung Lassalles in seiner
Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon vom ersten
Tage, wo er seine Agitation begann, gewußt habe, daß Bismarck das
allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklärung,
daß, als er das „Offene Antwortschreiben” erließ, ihm „klar” war,
daß „große auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es
unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. Er stellt es zwar dort so
hin, als ob dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse mit
sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber
gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die
„Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus „diplomatischen
Quellen” über die Vorgänge in Regierungskreisen zugingen. Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen
Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als Lassalle
selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und
stillen Diplomatie abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf verfallen,
hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich
als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an
Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um
jeden Preis zu erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament und
seinem hochgradigen Selbstgefühl nur zu bereitwillige Unterstützung. | 2,465 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_129 | 372 |
44722-0-5 | Gutenberg | 9,976 | Inwieweit damals schon die Fäden angeknüpft waren, die später Lassalle
ins Palais des Herrn von Bismarck führten, läßt sich heute nicht mehr
feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede
„Die Feste, die Presse usw.” für den Druck niederschrieb, an seinen
Freund Levy richtete: „Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein
paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst
beweisen, daß an diesen Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die
Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die
teilweise sehr übertrieben sind, während dagegen dem Minister Bismarck
unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und
der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so
meistert hier der Demagoge die ersteren. Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, nachdem sie den Landtag
nach Hause geschickt, die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche
die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger zweimaliger
Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inländischen Zeitung oder
Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche Wohlfahrt
gefährdender Haltung zeitweise oder dauernd” zu verbieten. Die
liberale Presse, ausschließlich in den Händen von Privatunternehmern,
hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der Dauer der
Preßordonnanzen überhaupt nichts mehr über die innere Politik zu
schreiben. Das war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es war auch
nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es
hinstellt. Lassalle übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht
beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaßten
Blätter der Opposition geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene
oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der
Begründung der Preßordonnanz hatte es ausdrücklich geheißen:
„Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse derselben (d. h. der
liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon
deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die
meisten der oppositionellen Organe durch eine langjährige Gewöhnung
des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden
Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu
bekämpfen ist.”
Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf ankommen ließen,
verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Möglichkeit,
andere Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen
abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maßregel wurde also gerade
durch dies zeitweilige Schweigen über die innere Politik vereitelt. Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck. | 2,706 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_130 | 379 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Indes, die
Erbitterung war nicht minder groß, wenn der Spießer zwar seine gewohnte
Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben
vordemonstriert wurde, daß seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er
zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt. Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, die nicht aufrechtzuerhalten
war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein
Provisorium, und die liberalen Blätter hatten gar keine Ursache, während
desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrückt -- „mit Ehren
zu sterben”. Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe
spiegelten diese Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle drückt das
so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die reaktionären Blätter wußten
damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren kaum
hinreichenden Ausdruck zu geben.” Und er zitiert als Beweis die
„Berliner Revue”, das Organ des reaktionärsten Muckertums. Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, ihren Angriffen auf die
liberale Presse ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, sich zu
gebärden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen. Statt jedoch gegen diese Fälschung des sozialistischen Gedankens zu
protestieren und jede Solidarität mit ihren Urhebern zurückzuweisen,
leistete Lassalle dem Spiel der Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre
Blechmünzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab. Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute ein Geldgeschäft ist, ein
großer Übelstand, ein mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen
Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das kapitalistische
Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten
durch beschränkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten
Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die
Freiheit der Presse ermöglicht. Davon aber wollte die preußische
Regierung nichts wissen, und Lassalle unterstützte ihren Widerstand
noch, indem er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber zugleich
erklärte, daß diese ohnmächtig sein würde, das Wesen der Presse
umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen würde,
Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde die Presse nämlich aufhören,
eine lukrative Geldspekulation zu sein, und würden wieder nur solche
Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl und das geistige
Interesse des Volkes kämpfen. Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos
dieses Mittel wäre? Lassalle hätte nur seine Blicke über den
Grenzbereich des preußischen Staates hinaus nach England und Frankreich
zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu
überzeugen. | 2,717 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_131 | 385 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen
eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, während in Frankreich
den Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber
durch eine hohe Steuer fast unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert
war. War deshalb die französische Presse besser als die englische? Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit
nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem
Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse für seine Zwecke
zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse
Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel höherem Grade
dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war. Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine
Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen
Lebens bezeichnet werden muß. War der Zeitpunkt auch schlecht gewählt,
war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und für sich bleibt
die Tatsache, daß die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein
kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die
Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden muß, soll sie sich vom
Einfluß der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber
war, was Lassalle über die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863
Bismarck zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß die Feste weiter
nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die
Regierung, wie sie in Frankreich und England unter ähnlichen
Verhältnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren,
so mußte er hervorheben, daß mit den Festen allein noch nichts getan
war, daß, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die
Regierung um keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte er
sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse über die Feste zu
wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen suchte,
noch zu überbieten. Niemand, der die Geschichte der preußischen
Verfassungskämpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der
Lassalleschen Rede lesen können, ohne sie zu mißbilligen. Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu
Frankfurt a. M. | 2,265 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_132 | 339 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wäre
berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo
er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den
deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen --
wir haben gesehen, wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” das
„Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen und Preußen als den
reaktionärsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn
Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel
getrieben hätte, wie die Fortschrittler, nur daß er nach der andern
Seite hin liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe gegen
Bismarck und die preußische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe
direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie
„mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” über die
Beschlüsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis
aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler alte Weiber seien. Noch ein Passus der Rede zeugt von der veränderten Frontrichtung
Lassalles. Der Führer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den
Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut,
wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft der Volkspartei und
die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionären
Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk sei nicht bloß einmütig,
sondern auch so gemäßigt bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche
nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann,
keine Verantwortung dafür habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte,
welche, weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung greife.”
Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung eine zwar recht
lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. „Wir
wollen keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen unsere Hände in
Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und
dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, wenn man wirklich die
ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider
zugleich auch sehr gebräuchliche Art zu drohen -- so gebräuchlich, daß,
wie gesagt, über den Sinn der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich
war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht
verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die
Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern
um ihnen zu drohen für den Fall, daß es zu einer Revolution oder einem
Staatsstreich kommen sollte. | 2,547 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_133 | 380 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn
von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen:
„Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals
dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege käme, es den
Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis
zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor.”
Und „die ganze Versammlung erhebt in großer Aufregung ihre Hände”,
heißt es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht über die
Rede. Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” bedeuten? Es war kaum eine
andre Auslegung möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn nicht
direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es „auf diesem
oder jenem Wege” zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. Eine solche
Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die
Fortschrittler, statt sie vorwärtszutreiben, erst recht kopfscheu zu
machen. In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten. Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu
unterbrechen, wurden von exaltierten Anhängern desselben mit
Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse löste der
Bürgermeister eine halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf
Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das andere ausbringenden
Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck
aufgab, das mit den Worten beginnt: „Fortschrittlicher Bürgermeister hat
soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen
und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene
Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst”, und mit
der „Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß. Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung
angeführt werden kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten der
Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttäuschung über die
verhältnismäßig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen
Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige,
aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre
-- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt,
so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend
geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- daß Lassalle, als er
nach Deutschland zurückkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich
so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches
Telegramm hätte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn
einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, und der
seiner inneren Überzeugung nach sicherlich sich noch für einen solchen
hielt. | 2,798 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_134 | 396 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Wenn nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste Taktgefühl
Lassalle verbieten müssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt
herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann. Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflösung
der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, so
folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung unternommene Schritte,
die ebenfalls den politischen Grundsätzen, als deren Vertreter Lassalle
auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem
in enger Verbindung mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht. Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch
gemacht haben sollten, waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen
Gefängnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen
Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten,
unterstützt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an
den König von Preußen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige
Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu
seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, „wie wenig entmonarchisiert”
das Volk in Preußen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen
hatte: „Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als
zu Demokraten”, er, der als Führer der neuen Bewegung doch vor allem die
Pflicht hatte, seinen Anhängern das Beispiel demokratischen Stolzes zu
geben, ermuntert sie, vom König von Preußen Begnadigung zu erbetteln. Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am 20. April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte Klings, daß gegen
Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Sämtliche
Hauptmitglieder des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. „Die
beiden von hier Verurteilten gehören zu der entschiedensten
Arbeiterpartei und würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht zu
bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen
widerstreitet, Sr. Majestät verpflichtet zu sein.”
Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er
schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem Stolz. Aber den Gedanken der Adresse an den König gab er noch immer nicht auf,
sondern suchte nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch der
Verurteilten von großem Nutzen sein könne. | 2,368 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_135 | 335 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Es kann, heißt es wörtlich,
„vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn die Adresse
von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte
oben eine -- für uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche
man sich um so mehr ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an die
Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein
Schritt, den man, wie Ihnen der beigefügte Leitartikel der
ministeriellen Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) zeigt,
oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. Indes auch diese
Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des
empfohlenen Schrittes zu überzeugen, und so blieb der Bewegung diese
Bloßstellung erspart. Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurückkehrte, ging er
zunächst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt für seine Sache zu
erobern. Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter Berlins”, ließ ihn
in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter
den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam
geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte
der Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” und „Reform”)
über die rheinischen Versammlungen anknüpft, war der Erfolg doch
zunächst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in
Berlin fanden in kleineren Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött
Anlaß, und als in der ersten größeren Versammlung Lassalle auf
Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde,
klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der
Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der
Vorträge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen
bald wieder ab, so daß der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis
auf über 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864
kaum noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein ein großer
Teil Nichtarbeiter waren. Neben der Agitation beschäftigten Lassalle auch sehr stark seine
Prozesse und sonstigen Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm dem
Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen
die Fortschrittspartei kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in
Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges Werkzeug
gebrauchen ließ. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren
Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu überschütten. Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen
Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch „mürbe” zu bekommen. | 2,581 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_136 | 375 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede
„Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und erhob gegen Lassalle
Anklage auf Verletzung der §§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches
(Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung
von Anordnungen der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle
unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster
Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war,
mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefängnis. Wegen der Flugschrift „An die Arbeiter Berlins” erhob die
Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle
und ließ auch, wie bereits erwähnt, Lassalle in Untersuchungshaft
nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides,
Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persönlichen Rachsucht des
Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr
vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bös zerzaust
hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. März 1864 vor dem
Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht
weniger als drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen
Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat
lautete, auf Freisprechung und überwies die Behandlung der
untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verstöße gegen
das Strafgesetz der zuständigen Gerichtsabteilung. Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist ein wichtiges Dokument für
die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie
eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen Arbeit Lassalles
zu erwähnen, die Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein
propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden muß. Es ist dies die
Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische
Julian, oder Kapital und Arbeit”. Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, die
Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und
unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” als
Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation veröffentlichte. Diese,
aus den plattesten Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie
zusammengesetzten Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe,
den auf der Höhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei,
die in ihm ihren ökonomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu
vernichten. | 2,481 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_137 | 333 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Berücksichtigt man, daß Lassalle zu systematischen
ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment,
wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk machen wollte,
durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man
außerdem in Betracht, daß Lassalle, während er den „Bastiat-Schulze”
schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten für die Leitung des
Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin,
in diesem Buch einen neuen Beweis für das außergewöhnliche Talent, die
staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des Lassalleschen Geistes
zu erblicken. Freilich trägt der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs
deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik
der Popularität der Schrift zugute kommt, sind die Umstände, unter denen
diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so
größer war, als Lassalle wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine
falsche Position geriet -- die Enttäuschung einerseits, und das
Bestreben, sich über diese Enttäuschung selbst hinwegzutäuschen,
andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. Aber auch
inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Höhe des Gegenstandes,
sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein
nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche
und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht
frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen hat der „Bastiat-Schulze”
jedoch das große Verdienst, den historischen Sinn und das Verständnis
für die tieferen Probleme der Ökonomie unter den deutschen Arbeitern in
hohem Grade gefördert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung
auf die Höhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen
Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf. Fußnoten:
[30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war,
noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen
Eindrücke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- überall wurde
in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir Knaben nur
in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer
Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschüler gehörten den
bürgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber
die einen wie die andern waren gleich fest davon überzeugt, daß eine
Revolution „kommen muß”, denn „mein Vater hat es auch gesagt”. Jede Äußerung der Wortführer der Fortschrittspartei, die als
ein Hinweis auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde
triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse
auf den König und seine Minister. [31] So ist z. B. | 2,744 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_138 | 398 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | gleich der erste Einwurf Lassalles gegen
Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach Befriedigung”
seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen für dieselbe Sache”
falsch. Beides fällt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs
dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber lustig,
daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und
tierischer Arbeit darin erblicke, daß die erstere Arbeit für künftige
Bedürfnisse sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren
Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, daß der Mensch mit
Bewußtsein, das Tier ohne solches tätig sei. Und ähnlich an anderen
Stellen. Lassalle und Bismarck. Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen und geschrieben
hat, trägt immer deutlicher die Züge der inneren Ermattung, der
geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprüngliche,
das natürliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die
Stärke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man
vergleiche das „Arbeiterprogramm” mit der Ronsdorfer Rede, die
Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter” mit der
Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, und man wird das hier Gesagte
verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke treten an
ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische
Beweisführung, und statt zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer
mehr auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern
vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten
Erfolgen. Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die
Behauptung der Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation die
schließliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit großem Geschick
das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt
zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von
„Wallensteins Tod”:
„Wär's möglich? -- könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?”
Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation
um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser
jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, wie der Friedländer -- um
sein eigenes Bild zu brauchen -- „Dinge getan, welche er à deux mains
verwenden konnte”. Er hatte sich nicht damit begnügt, die Vorgänge in
der inneren und äußeren Politik objektiv zu studieren, um den günstigen
Moment zur Aktion für seine Pläne auszunützen, er war bereits dazu
übergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen die er
kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte
Unterhandlung getreten. | 2,685 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_139 | 388 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein
sagen:
„Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam
Nicht über diese Schwelle noch!”
Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch
innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu
treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht die Versuchung von
sich wies”? Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende
Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck
hatte, ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die langjährige
Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer
1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche
Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern
derselben unter Hinzufügung der näheren Umstände mitgeteilt, und als
August Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom 16. September 1878 die
Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags
darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte
nur in Abrede zu stellen, daß es sich dabei um politische
Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen
der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es drehte sich bei diesen
Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um
Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die
Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Fürst
Bismarck war für diesen Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er
weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung
des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der
schleswig-holsteinische Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei. Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen
zwischen Lassalle und dem Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der
letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich
ausdrücklich konstatieren muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte
und erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu
können.” Darauf antwortete nun Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten
sich gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umständen
aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so
ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung
einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht gekommen.” Er habe es „mit
einem gewissen Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert. Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er „von deren
Unzweckmäßigkeit noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die damals
eingetretenen politischen Ereignisse die Fortführung der in dieser
Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht er,
sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, ihn brieflich darum
gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu
herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren. | 2,859 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_140 | 391 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | „Was hätte mir
Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In
allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du
gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man
anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, was
kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als
Minister hätte geben können.”
Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der „offiziell noch nie gelogen”
hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloßen
Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und
würde dieser nicht den „revolutionären Juden” wiederholt -- er selbst
gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, während Sophie Hatzfeldt
behauptet hatte, daß es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche
gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert
haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in
der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche
nachzulesen, um sich zu überzeugen, wie stark sich das Ministerium
Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht
einzuführen, und dazu gab es unter den obwaltenden Umständen kaum
einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert
in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige
Äußerungen und knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten
Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte mit Bismarck
bekannt geworden, richtig gewürdigt werden können:
„Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte
Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen! Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich
Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es
vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt! Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust
zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr
mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine
und direkte Wahlrecht oktroyiert. Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf
dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen
mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene
Notwendigkeit gegründet sind. | 2,308 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_141 | 353 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird
vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die
Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht
ist oktroyiert!”
Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewußt, „schon
an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erlaß meines
Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand
entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffaßte”. Aber wenn es
auch zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter 1862/63 in
Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es möglich sei, durch
eine Änderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu
sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32],
so würde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer
bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben
und immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn er nicht aus seinen
Unterhaltungen mit Bismarck die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun
vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, diese Oktroyierung
beschlossene Sache sei. Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, daß es
zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen
schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen überzeugt hatte,
daß Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt
unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer
möglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die
Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, geht schon daraus
hervor, daß Lassalle fortfuhr, von allen seinen Veröffentlichungen usw. durch das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” ein
Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift
„persönlich” an Bismarck übersenden zu lassen. Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß seine Verhandlungen mit
Lassalle wegen des „do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen führen
konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachträglich
protzenhaft mit der Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel geben? Er
hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Bismarck
hatte es zu jener Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe
brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache
war nur die, daß es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles
Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, daß
Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: „Sie
können unsre Bevollmächtigten keine Unwahrheiten sagen lassen. | 2,645 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_142 | 393 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Sie
können sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen,
während wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen über diesen
Punkt, aber lügen schickt sich für uns nicht” -- nach seiner Rückkehr
nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge übertrieb. Er
wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit
wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre
Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie es
in Wirklichkeit mit der Bewegung stand. Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst seine eigne Bewandtnis. Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren
darüber, daß er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen
politischen Verbündeten haben würde, solange dieses Bündnis im
Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern
Worten, daß Lassalle genau so mit ihm verfahren würde, wie er mit
ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald er das
von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mußte ihn die erste
Unterredung mit Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie
Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein Fisch ohne Gräten”
war, sondern ganz gehörige Gräten und Stacheln hatte. Mit der
Aussicht auf ein Pöstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da
nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle
leicht sehr unbequem werden, also warum sich übereilen? Die Agitation
Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger
gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck
brauchte. In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter”,
gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklärt:
„Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die Einführung des
Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, daß sie dem deutschen
Bürgertum zur Last falle?... Die preußische Regierung ist es, nicht die
besitzenden Klassen in Preußen, welche für alle Zeiten und vor allem
Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten
Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: „Bourgeoisie und Arbeiter
sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre
Unterdrücker” -- d. h. also gegen die Regierung. Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. März 1864 -- ist ihm der
Verfassungskonflikt in Preußen nur noch der Kampf zwischen dem
Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” könne das Königtum
nicht weichen, „vollkommen wohl” aber könne es „das Volk auf die
Bühne rufen und sich auf es stützen. | 2,529 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_143 | 389 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Es brauche sich hierzu nur
seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich
Volkskönigtum gewesen.”
„Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der
Bourgeoisie könnte dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch aus
seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des
Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen
ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.”
Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im weiteren Verlaufe seiner
Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung
als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt. Niemand lasse aber „gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband
drehen, an welchem er erwürgt wird, und das ist niemand zu verdenken,
und daher auch dem Königtum nicht”. Beständig auf das angebliche
„Recht” hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, daß es mehr
in seiner Stellung läge, sich auf das wirkliche Recht zurückzuziehen
und das Volk auf die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen und
von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband
winden zu lassen, an dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle,
sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung gestürzt und das
allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der
intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte. Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur durch die Tatsache seiner
Agitation -- was unter Umständen nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion
vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die
Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch immer mit
Wallenstein ausrufen:
„Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht
Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!”
Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar
machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck
abschütteln zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal der
Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck seinen „Bevollmächtigten”. Aber
er vergaß, daß es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker ist als
selbst der stärkste individuelle Wille, und daß, indem er überhaupt
um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu
vertrauen und ausschließlich ihr seine Energie zu widmen, er nach
seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab. | 2,395 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_144 | 365 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles
über die Grundidee seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: mit
der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen Schwenkung war
Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz
als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es
ist merkwürdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal
vorgezeichnet hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende
Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke durch diplomatische
Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen
Gegner -- die preußische Regierung -- zu täuschen, aber er täuschte
tatsächlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er
nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp
persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie Lassalle von Sickingen
schreibt, daß „dieser große Diplomat und Realist, der alles sorgsam
vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen will, gerade dadurch
zuletzt gezwungen ist, dem zufälligsten Zufall alles anheim zu
geben”, und, „während die Rechnung auf jene Täuschung durch den
Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen an der bewußten Natur des
Bestehenden zugrunde gehen muß, die Entscheidung, statt wie er
wollte, aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus denen des
ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen muß”[33] -- so sieht
auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit dem Zufall
zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen in der inneren und
äußeren Politik abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine
realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, daß beim
Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler
lahmzulegen, der die meisten Trümpfe in der Hand -- beim politischen
Spiel, der über die meisten tatsächlichen Machtfaktoren zu gebieten
hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war,
konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich mehr Bismarcks, als
dieser sein „Bevollmächtigter” wurde. Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, „die
Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen
des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine
schwächste Agitationsrede, ausschließlich auf den äußeren Effekt
berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede bewußt war,
zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den überall
eingestreuten Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze -- Krücken,
deren ein Vortrag, der an Hand und Fuß gesund ist, durchaus entbehren
kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar
beeinträchtigen würden. | 2,671 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_145 | 388 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der
Vorzüge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen
deren Fehler. Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz
nach tadelnswerter als alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen. Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die
Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin
geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe gegen die Übelstände,
unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da
es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte,
auf Veranlassung Bismarcks vom König empfangen worden und hatten auf
ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König habe seine Minister
angewiesen, „eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig
und mit allem Ernst vorzubereiten”. Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang
der Deputation von Seiten des Königs als einen Erfolg seiner
Agitation hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich war,
niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere Übertreibungen in
der Ansprache, erklärte sich auch diese aus der Situation Lassalles. Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der
Deputation durch den König und den Worten des letzteren eine
Auslegung, die zunächst nur als eine Reklame für jenen und dessen
Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der
offiziösen „Zeidlerschen Korrespondenz” über den Empfang der
Deputation beim König und liest gerade die dem Königtum günstigste
Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrücklich
verzeichnet, „mit dem höchsten Nachdruck der Stimme und begleitet
sie mit der eindringlichsten Handbewegung”[34]. In den Worten des Königs liege, erklärt er, „die Anerkennung des
Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” --
nämlich, daß eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung
notwendig sei -- ferner, „das Versprechen des Königs, daß diese
Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die
Gesetzgebung erfolgen soll”, und drittens, da „eine
Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz
erwählte Kammer, dem Könige niemals die zu diesem Zwecke
erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn die
Sache ohne Geld zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu einem
solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in dem königlichen
Versprechen, „innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen”
auch „das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden”. Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, welche diesem
ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ... | 2,713 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_146 | 387 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | zugehört” habe, in einen „nicht zu beschreibenden Jubel” ausbrechen,
der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu
sprechen versuchte. War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, daß die Arbeiter Lassalles
Auslegung des königlichen Versprechens für bare Münze nahmen, das
schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte. Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in
Betracht kamen, diese nur durch möglichst glänzende Ausmalung der
bisher erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit für den
Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere
Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine
in der „Kreuzzeitung” erschienene Rezension des „Bastiat-Schulze”,
die nach Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, als daß die in
ihr an Lassalle gerichteten Fragen hätten unbeantwortet bleiben
dürfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes
ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und läßt die Erwiderung und zwei
Exemplare der Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck senden. Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck
zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche
Jubel” sollte Köder für Bismarck und den König sein. Aber niemand
kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu
gestalten, daß sie den gewünschten Effekt nach oben mache, bewirkte,
daß sie tatsächlich einen durch und durch cäsaristischen Charakter
erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus:
Cäsarismus in den Reihen der Partei, und Cäsarismus in der Politik
der Partei. „Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres,
nichts Unintelligenteres,” heißt es in der Einsendung an die
„Kreuzzeitung”, „als der unruhige, nörgelnde liberale
Individualismus, diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser
unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit,
sondern wurzelt notwendig und naturgemäß nur in den Viertels- und
Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie. Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage
angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die
Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner würden hier in
diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehört zu werden. Der
oligarchische Boden allein ist der homogene, mütterliche Boden für den
negativen, ätzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und
ihre subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.”
Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen:
„Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe
ich zu erwähnen. | 2,646 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_147 | 365 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit
und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser
Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein
epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte,
da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen
Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines
Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt
oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis
zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein ‚Nein’
gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut
habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit
beruhende!... Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den
Arbeitern Worte gehört, die sich in den Satz zusammenfassen:
Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer
zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen,
zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige
Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit dem Hammer! Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar
betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten,
Freiheit und Autorität, -- die höchsten Gegensätze, sie sind auf das
innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im
kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen darstellt. Nicht
eine Spur ist in uns von jenem nörgelnden Geiste des Liberalismus, von
jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von
welchem der Körper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...”
Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der
nämlich, daß in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen
Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf
die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und daß in der Tat schon die
Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist
der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, während umgekehrt der
Bourgeois nur unter anormalen Verhältnissen, nicht aber durch die bloße
Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion
sich veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt aber durch die
obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion
heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; wo die Masse ihren
Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus
einem revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden. | 2,534 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_148 | 364 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Die persönliche
Diktatur ist in den Kämpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der
Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionären
Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den „negativen, ätzenden
Individualismus” aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein
Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefährdet erscheint. In
solchen Momenten wird das Schlagwort von der „einen reaktionären
Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung sich
verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich
unfähig fühlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern
unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persönlichkeit
ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser
Persönlichkeit entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden
Individualismus”. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den
letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die
Partei, die tatsächlich am konsequentesten deren Klassenforderungen
vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren
Interessen, weil sie durch ihre „Nörgelei” die staatserhaltende
Tätigkeit der Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre 1851
die französische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter
jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum
Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten
usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der
Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloßen Hüters
der Ruhe und Ordnung für die Bourgeoisie zu begnügen. Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat absolut keinen Anlaß,
ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das
„Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber zu verzichten. Und wir
haben bei der Solinger Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle
den Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz pochte, er
gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und
kräftiges „Nein” hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum
Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten
Anlaß ein ebensolches „Nein” gehört -- er sprach, wenn er sich
rühmte, in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und Freiheit” in
der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen
Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus. Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß er von Anfang an die
persönliche Spitze für unerläßlich gehalten hatte. Zu diesem bloßen
Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis hinzu. Die Politik, die
er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder
und Anhänger der Bewegung kritiklos dem Führer folgten und ohne Murren
taten, was er von ihnen verlangte. | 2,753 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_149 | 387 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Wie Lassalle selbst das Versprechen
des Königs von Preußen gegenüber den schlesischen Webern in einer Weise
behandelte, daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt den
Demokraten -- man möchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das
übrige aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so mußten auch sie
bereit sein, auf Kommando das Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn
eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag,
so ist es die Tatsache, daß sie für Lassalle unter den gegebenen
Verhältnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die
Arbeiter je nach Bedürfnis für seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu
haben, und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, um nach oben hin
als eine bündnisfähige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige
Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr
möglich. Fußnoten:
[32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert. Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schlußwort einer
Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck
und tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer Sitzung des
konservativen preußischen Volksvereins vom 2. November 1862: „Meine
Herren, täuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn
sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu
lösen, so ist all Euer Laufen und Mühen umsonst. Ich schließe deshalb
mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und
Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch
mehr Energie, treiben wir es nicht bloß für die Zeit der Wahlen.”
[33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen
Schriften dem für das große Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum
Franz von Sickingen angefügt (vgl. Bd. I). [34] Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst baldigen
gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhülfe ihrer Not
entließen Seine Majestät die Deputation. Das königliche Versprechen
wird erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges
widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue
Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.”
Lassalles letzte Schritte und Tod. Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere
Vereinsleitung als auch was die geplante nächste äußere Aktion des
Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung. | 2,469 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_150 | 365 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Im
Verein drang er auf die Ausstoßung Vahlteichs, der in bezug auf die
Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei
nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so daß den Vereinsmitgliedern
kaum etwas anderes übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn
Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit
höchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich
gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise
zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens
erst kennenlernen mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder bereits
gegen ihn beeinflußt waren. Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge zur Abänderung der
Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken
an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache
hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst
bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein
letzter Versuch, „einen Druck auf die Ereignisse auszuüben”,
mißglücken sollte. Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in
Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben
von Dänemark eroberten Herzogtümer Schleswig-Holstein. Als im Winter 1863 der Tod des Königs von Dänemark die
schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrängt hatte, hatte
Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung
stand und deshalb ein großes Interesse daran hatte, je nach derjenigen
Politik, für die die preußische Regierung sich entschloß, den Verein
Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den
„Schleswig-Holstein-Dusel” Stimmung gemacht[35] und eine Resolution
ausgearbeitet und überall annehmen lassen, in der erklärt wurde:
„Die einheitliche Gestaltung Deutschlands würde die
schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser
großen Aufgabe gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in
Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben ein ausländischer
Fürst ist, von verhältnismäßig sehr untergeordnetem Interesse.”
Im übrigen enthält die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine
Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die
Einverleibung der Herzogtümer in Deutschland „nötigenfalls mit
Waffengewalt” durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der
Hut zu sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen
Aufgaben abziehen”. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird
der Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit
benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage
abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen
sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember
1863. | 2,830 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_151 | 390 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es handelte sich um die Frage,
was mit ihnen geschehen solle. Ein großer Teil der Fortschrittler trat
für die legitimen Ansprüche des Herzogs von Augustenburg ein, während
man in maßgebenden Kreisen Preußens auf die Annexion der Herzogtümer in
Preußen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien
hatten, zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in Deutschland noch
einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache,
der zur Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs
zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches
Taktgefühl verloren, daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine
große Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution
beschließen zu lassen, des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die
Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und der übrigen deutschen
Staaten an Preußen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte
bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu
welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs
gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung
entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausführung des Vorhabens
gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer
demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren
Führer glücklicherweise erspart. Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch einen Prozeß ausgefochten,
in die Schweiz gegangen. Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad,
und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Fräulein Helene von
Dönniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht
und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen
hatte. Es entwickelte sich im Anschluß an den Besuch jene Liebesaffäre,
deren Schlußresultat der frühzeitige Tod Lassalles war. Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre sind heute so bekannt und
die für Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affäre so
über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine Wiedererzählung des
ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte
sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er
entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen
gelernt haben -- man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre im kleinen und
auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen
Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dönniges
das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist,
das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den
mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner Persönlichkeit gelingen
muß, diese Schwierigkeit zu überwinden. | 2,768 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_152 | 393 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Selbstbewußt, und zugleich mit
umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er
seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern
und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie
mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines,
unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der
jungen Dame erfahren die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung
und erklären, Lassalle unter keinen Umständen als Schwiegersohn annehmen
zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph
wird nur um so größer sein, je größer der Widerstand der Eltern. Von
diesem Selbstbewußtsein getragen, begeht er einen Schritt, der die
Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum
Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen selbst
an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein
anderer. Und ohne Rücksicht darauf, was er sich und seiner politischen
Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es für ihn
nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das
Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges
beobachten und über jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch die
Vermittlung Hans von Bülows wird Richard Wagner ersucht, den König von
Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dönniges zu
intervenieren, während dem Bischof Ketteler von Mainz der Übertritt
Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen
Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht
die geringsten Gedanken darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen
Mission war, die er übernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu
antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch
kümmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten würdig
erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur
Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er hätte stolz sein
dürfen, wo er stolz sein mußte, war er es nicht. Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts
tun, weil Helene von Dönniges protestantisch war, und der
Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswärtigen an
den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm,
führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, daß er durch die Art
seines Vorgehens sich und das Weib, für das er kämpfte, in eine total
falsche Position gebracht hatte. | 2,565 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_153 | 386 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Obwohl er gewußt hatte, daß Helene
jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug für sein
zukünftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- „erhalten Sie mir
Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist”, hatte
er am 2. August an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr
jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste Willensstärke erforderte,
und war empört darüber, daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen
suchte. Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, die Dinge
ausschließlich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen
zu betrachten, hatte er ganz außer Erwägung gelassen, daß gerade die
unterwürfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ändern,
und sah den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste Spiel” einer
„verworfenen Dirne”, wo weiter nichts vorlag, als die Unbeständigkeit
eines verwöhnten Weltkindes. Indes, er war nervös total heruntergekommen und besaß längst nicht mehr
die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu
Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und
Hölle in Bewegung zu setzen, die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen
oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft,
sondern eines hochgradigen Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel
von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach den übereinstimmenden
Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich
auf ein stark zerrüttetes Nervensystem. In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die erlittene Niederlage
ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu
verschaffen für die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So töricht
das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden
Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affäre spielte,
ist das Duell das reinigende Bad für allen Schmutz und allen Schimpf,
und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besaß, sich im Kampf um
irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschränken, welche sich für den
Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft
schicken, so war es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich
erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu
verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell
gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der
verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der
erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit
die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte. Fußnoten:
[35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten Dr. | 2,676 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_154 | 390 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Dammer,
an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus
widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wörtlich geheißen:
„Die erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der ganze
Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht höchst unangenehm ist.”
Der Widerspruch in den Telegrammen erklärt sich jetzt durch die
widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war,
ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei. Schlußbetrachtung. So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles,
seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so,
vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein
Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt,
war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit
hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr
problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der
er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben. Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl
getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen
wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert
worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt. Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt
hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich
seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst
anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl
hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent
weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf
diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen
lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß
genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz
hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte,
ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten
Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu
Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel,
geben?”
Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen
ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland
niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen,
bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”,
selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution
beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts
geändert haben würde, liegt auf der Hand. | 2,636 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_155 | 388 |
44722-0-6 | Gutenberg | 9,993 | Wie gering diese Aussicht
war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges
genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt
des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen
an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „... Ich muß noch vorher in
Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich
wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage
und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel”
von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses
Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige
Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck
kommen. Sie lautet:
„Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich
nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur
genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben. Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher,
als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft
und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde
ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste
Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel
sähe, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich für mich schickt;
denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber
bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium
übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre,
mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!)
Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam
entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und
chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane
Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus
besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse
auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht
versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon! Ach könnte ich mich zurückziehen!” --
In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig
und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte
Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die
jene resignierten Sätze diktierten. Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am
3. | 2,497 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_156 | 397 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11. August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.”
Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate. Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an
ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um
Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend
des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und
setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente
von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von
jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen
Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten
Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den
Arbeiterstand zum Siege führen”. Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles
Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken
zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre
gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den
Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu
räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen
politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich
zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die
Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen,
sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei,
wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So
liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch
sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in
seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit
stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich
in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür
gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht
darüber im „Nordstern” erschien. In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten
-- so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte,
er stets das Ich hatte vorangehen lassen. Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte
es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber
ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit
wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus. Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser
Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im
hohen Grade fördernd erwiesen hat. | 2,706 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_157 | 394 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | Es liegt nun einmal in den meisten
Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so
mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind,
gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht
ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob
Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein
anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß
zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer
Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über
diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener
hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers
in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte
anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen
Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und
konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen,
aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur
großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende
entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte,
während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung,
die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit. Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr
begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für
den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent
geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte
hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große
agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene
Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende
für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen
Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der
Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie
in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verständiger
Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der
aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in
ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon
Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in
seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen
hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. | 2,465 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_158 | 353 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | Wenn die deutsche
Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten
zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des
Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das
äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen
aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine
Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare
Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die
Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug
auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben. Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre
Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen
doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug,
zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer
Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst
aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die
er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in
dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die
Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche
anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik
fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen
irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der
Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent
im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft;
kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines
Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß
von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner
sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die
bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war
unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an
Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner
bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit
den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch
konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus
Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle
nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die
verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter
denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden,
einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie
getan. | 2,677 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_159 | 378 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat
langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden
wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich
oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie
heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen
sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der
Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften
von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne
Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der
Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das
Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb. Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende
Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl
Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und
Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da
sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten,
ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und
dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so
bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der
Arbeiterbewegung. Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne
Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung
darunter litt, und darum sei es hier erwähnt. Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher
von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute
hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht
in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu
untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des
einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht,
und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat
keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre
Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher
auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt
darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in
Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich
gefördert haben. Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße,
als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders
gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für
die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte. | 2,563 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_160 | 389 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | Es sind dieselben
Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit
andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht
wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein. Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der
Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele
Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab
sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die
Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung
und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft. Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig
wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es
bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und
brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber
wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so
gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat,
-- so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur
erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er
hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen
Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen
politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den
Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein
eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein
vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung
des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der
Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins
für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun
gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der
Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als
nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen
Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime
Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes
und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war
freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen. | 2,366 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_161 | 350 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich
gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land
geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen
zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen
ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine
politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten
auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es
im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen
deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen _organischen_ Weg
gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden
Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das große, das unvergängliche
Verdienst Ferdinand Lassalles. +--------------------------------------------------------------------+
| Anmerkungen zur Transkription |
| |
| Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide |
| Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: |
| |
| anderm -- anderem |
| andern -- anderen |
| Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein |
| eigne -- eigene |
| garnicht -- gar nicht |
| heut -- heute |
| Testamentrecht -- Testamentsrecht |
| Vermittelung -- Vermittlung |
| Verständniß -- Verständnis |
| |
| Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: |
| |
| Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. |
| Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. |
| S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert. |
| S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert. |
| S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert. |
| S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert. |
| S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert. |
| S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert |
| (Fußnote). |
| S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert. |
| S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt. |
| S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt. |
| S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert. |
| S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt. |
| S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote). |
| S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert. |
| S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert. |
| S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14). |
| S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert. |
| S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert. |
| S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt. |
| S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert. |
| S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert. |
| S. | 3,406 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_162 | 399 |
44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | 206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt. |
| S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert. |
| S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht. |
| S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert. |
| S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert. |
| S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert. |
| S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert. |
| S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert. |
| Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert. Creating the works from public domain print editions means that no
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44722-0-7 | Gutenberg | 3,497 | If you are outside the United States, check
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24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | bis 16. Tausend
Gelegt in die Hände von Lou
Erstes Buch
Das Buch vom mönchischen Leben
(1899)
[Illustration]
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann --
und ich fasse den plastischen Tag. Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still. Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will. Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los ... Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang. Ich habe viele Brüder in Soutanen
im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht. Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen,
und träume oft von jungen Tizianen,
durch die der Gott in Gluten geht. Doch wie ich mich auch in mich selber neige:
mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken. Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken. Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen,
du Dämmernde, aus der der Morgen stieg. Wir holen aus den alten Farbenschalen
die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,
mit denen dich der Heilige verschwieg. Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;
so daß schon tausend Mauern um dich stehn. Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,
sooft dich unsre Herzen offen sehn. Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden. Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe. Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen. | 2,271 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_166 | 377 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, --
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal. Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen. Ich bin ganz nah. Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds --
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut. Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut. Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen. Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen. Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt. Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen --
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank. Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht. Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Händen dreht. Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,
auf der noch alles werden kann. Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite
und sehn einander dunkel an. Ich lese es heraus aus deinem Wort,
aus der Geschichte der Gebärden,
mit welchen deine Hände um das Werden
sich ründeten, begrenzend, warm und weise. Du sagtest leben laut und sterben leise
und wiederholtest immer wieder: Sein. Doch vor dem ersten Tode kam der Mord. Da ging ein Riß durch deine reifen Kreise
und ging ein Schrein
und riß die Stimmen fort,
die eben erst sich sammelten,
um dich zu sagen,
um dich zu tragen,
alles Abgrunds Brücke --
Und was sie seither stammelten,
sind Stücke
deines alten Namens. Der blasse Abelknabe spricht:
Ich bin nicht. Der Bruder hat mir was getan,
was meine Augen nicht sahn. Er hat mir das Licht verhängt. Er hat mein Gesicht verdrängt
mit seinem Gesicht. Er ist jetzt allein. Ich denke, er muß noch sein. Denn ihm tut niemand, wie er mir getan. | 2,226 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_167 | 392 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Es gingen alle meine Bahn,
kommen alle vor seinen Zorn,
gehen alle an ihm verlorn. Ich glaube, mein großer Bruder wacht
wie ein Gericht. An mich hat die Nacht gedacht;
an ihn nicht. Du Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgendeinen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß. Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie's errafft,
Menschen und Mächte --
Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft. Ich glaube an Nächte. Ich glaube an alles noch nie Gesagte. Ich will meine frömmsten Gefühle befrein. Was noch keiner zu wollen wagte,
wird mir einmal unwillkürlich sein. Ist das vermessen, mein Gott, vergib. Aber ich will dir damit nur sagen:
Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb,
so ohne Zürnen und ohne Zagen;
so haben dich ja die Kinder lieb. Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden
in breiten Armen ins offene Meer,
mit dieser wachsenden Wiederkehr
will ich dich bekennen, will ich dich verkünden
wie keiner vorher. Und ist das Hoffart, so laß mich hoffärtig sein
für mein Gebet,
das so ernst und allein
vor deiner wolkigen Stirne steht. Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,
um jede Stunde zu weihn. Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,
um vor dir zu sein wie ein Ding,
dunkel und klug. Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten
die Wege zur Tat;
und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,
wenn etwas naht,
unter den Wissenden sein
oder allein. Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt
und will niemals blind sein oder zu alt,
um dein schweres schwankendes Bild zu halten. Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben
wie ein Bild, das ich sah
lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,
wie ein Schiff,
das mich trug
durch den tödlichsten Sturm. Du siehst, ich will viel. Vielleicht will ich alles:
das Dunkel jedes unendlichen Falles
und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel. Es leben so viele und wollen nichts
und sind durch ihres leichten Gerichts
glatte Gefühle gefürstet. | 2,295 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_168 | 397 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Aber du freust dich jedes Gesichts,
das dient und dürstet. Du freust dich aller, die dich gebrauchen
wie ein Gerät. Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät,
in deine werdenden Tiefen zu tauchen,
wo sich das Leben ruhig verrät. Wir bauen an dir mit zitternden Händen,
und wir türmen Atom auf Atom. Aber wer kann dich vollenden,
du Dom. Was ist Rom? Es zerfällt. Was ist die Welt? Sie wird zerschlagen,
eh deine Türme Kuppeln tragen,
eh aus Meilen von Mosaik
deine strahlende Stirne stieg. Aber manchmal im Traum
kann ich deinen Raum
überschaun
tief vom Beginne
bis zu des Daches goldenem Grate. Und ich seh: meine Sinne
bilden und baun
die letzten Zierate. Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen. Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen. Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift. Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt,
der drängt
die Lärmenden aus dem Palast,
wird anders festlich, und du bist der Gast,
den er an sanften Abenden empfängt. Du bist der zweite seiner Einsamkeit,
die ruhige Mitte seinen Monologen;
und jeder Kreis, um dich gezogen,
spannt ihm den Zirkel aus der Zeit. Was irren meine Hände in den Pinseln? Wenn ich dich _male_, Gott, du merkst es kaum. Ich _fühle_ dich. An meiner Sinne Saum
beginnst du zögernd, wie mit vielen Inseln,
und deinen Augen, welche niemals blinzeln,
bin ich der Raum. Du bist nicht mehr inmitten deines Glanzes,
wo alle Linien des Engeltanzes
die Fernen dir verbrauchen mit Musik, --
du wohnst in deinem allerletzten Haus. Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus,
weil ich mich sinnend dir verschwieg. Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht
mit allen meinen Sinnen an dir branden? Meine Gefühle, welche Flügel fanden,
umkreisen weiß dein Angesicht. Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht
vor dir in einem Kleid aus Stille steht? Reift nicht mein mailiches Gebet
an deinem Blicke wie an einem Baum? Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum. Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille
und werde mächtig aller Herrlichkeit
und ründe mich wie eine Sternenstille
über der wunderlichen Stadt der Zeit. | 2,282 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_169 | 393 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,
darin du mich so eilen siehst. Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,
ich bin nur einer meiner vielen Munde
und jener, welcher sich am frühsten schließt. Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,
die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:
denn der Ton Tod will sich erhöhn --
Aber im dunklen Intervall versöhnen
sich beide zitternd. Und das Lied bleibt schön. Wenn ich gewachsen wäre irgendwo,
wo leichtere Tage sind und schlanke Stunden,
ich hätte dir ein großes Fest erfunden,
und meine Hände hielten dich nicht so,
wie sie dich manchmal halten, bang und hart. Dort hätte ich gewagt, dich zu vergeuden,
du grenzenlose Gegenwart. Wie einen Ball
hätt ich dich in alle wogenden Freuden
hineingeschleudert, daß einer dich finge
und deinem Fall
mit hohen Händen entgegenspringe,
du Ding der Dinge. Ich hätte dich wie eine Klinge
blitzen lassen. Vom goldensten Ringe
ließ ich dein Feuer umfassen,
und er müßte mirs halten
über die weißeste Hand. Gemalt hätte ich dich: nicht an die Wand,
an den Himmel selber von Rand zu Rand,
und hätt dich gebildet, wie ein Gigant
dich bilden würde: als Berg, als Brand,
als Samum, wachsend aus Wüstensand --
oder
es kann auch sein: ich fand
dich einmal ... Meine Freunde sind weit,
ich höre kaum noch ihr Lachen schallen;
und du: du bist aus dem Nest gefallen,
bist ein junger Vogel mit gelben Krallen
und großen Augen und tust mir leid. (Meine Hand ist dir viel zu breit.)
Und ich heb mit dem Finger vom Quell einen Tropfen
und lausche, ob du ihn lechzend langst,
und ich fühle dein Herz und meines klopfen
und beide aus Angst. Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen,
und in den großen gibst du groß dich hin. Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,
daß sie so dienend durch die Dinge gehn:
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte
und in den Wipfeln wie ein Auferstehn. Stimme eines jungen Bruders. Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt. Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind. Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen. Aber am meisten mitten im Herzen. Ich möchte sterben. Laß mich allein. | 2,220 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_170 | 386 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen. Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen,
der gestern noch ein Knabe war; von Frauen
sind seine Hände noch zusammgefügt
zu einem Falten, welches halb schon lügt. Denn seine Rechte will schon von der Linken,
um sich zu wehren oder um zu winken
und um am Arm allein zu sein. Noch gestern war die Stirne wie ein Stein
im Bach, geründet von den Tagen,
die nichts bedeuten als ein Wellenschlagen
und nichts verlangen, als ein Bild zu tragen
von Himmeln, die der Zufall drüberhängt;
heut drängt
auf ihr sich eine Weltgeschichte
vor einem unerbittlichen Gerichte,
und sie versinkt in seinem Urteilsspruch. Raum wird auf einem neuen Angesichte. Es war kein Licht vor diesem Lichte,
und wie noch nie beginnt dein Buch. Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen,
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen. Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, --
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
daß du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst. Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn
und dulde stumm, was wir dir dunkel tun. Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff. Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff. Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küßte,
die strahlend und als ob sie alles wüßte
von dir kommt wie der Wind vom Meer. Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern,
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß. Erst wenn es dunkelt, lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern. Gott, du bist groß. Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin,
wenn ich mich nur in deine Nähe stelle. Du bist so dunkel; meine kleine Helle
an deinem Saum hat keinen Sinn. Dein Wille geht wie eine Welle,
und jeder Tag ertrinkt darin. | 2,204 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_171 | 387 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn
und steht vor dir wie aller Engel größter:
ein fremder, bleicher und noch unerlöster,
und hält dir seine Flügel hin. Er will nicht mehr den uferlosen Flug,
an dem die Monde blaß vorüberschwammen,
und von den Welten weiß er längst genug. Mit seinen Flügeln will er wie mit Flammen
vor deinem schattigen Gesichte stehn
und will bei ihrem weißen Scheine sehn,
ob deine grauen Brauen ihn verdammen. So viele Engel suchen dich im Lichte
und stoßen mit den Stirnen nach den Sternen
und wollen dich aus jedem Glanze lernen. Mir aber ist, sooft ich von dir dichte,
daß sie mit abgewendetem Gesichte
von deines Mantels Falten sich entfernen. Denn du warst selber nur ein Gast des Golds. Nur einer Zeit zuliebe, die dich flehte
in ihre klaren marmornen Gebete,
erschienst du wie der König der Komete,
auf deiner Stirne Strahlenströme stolz. Du kehrtest heim, da jene Zeit zerschmolz. Ganz dunkel ist dein Mund, von dem ich wehte,
und deine Hände sind von Ebenholz. Das waren Tage Michelangelos,
von denen ich in fremden Büchern las. Das war der Mann, der über einem Maß,
gigantengroß,
die Unermeßlichkeit vergaß. Das war der Mann, der immer wiederkehrt,
wenn eine Zeit noch einmal ihren Wert,
da sie sich enden will, zusammenfaßt. Da hebt noch einer ihre ganze Last
und wirft sie in den Abgrund seiner Brust. Die vor ihm hatten Leid und Lust;
er aber fühlt nur noch des Lebens Masse
und daß er alles wie ein Ding umfasse, --
nur Gott bleibt über seinem Willen weit:
da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse
für diese Unerreichbarkeit. Der Ast vom Baume Gott, der über Italien reicht,
hat schon geblüht. Er hätte vielleicht
sich schon gerne, mit Früchten gefüllt, verfrüht,
doch er wurde mitten im Blühen müd,
und er wird keine Früchte haben. Nur der Frühling Gottes war dort,
nur sein Sohn, das Wort,
vollendete sich. Es wendete sich
alle Kraft zu dem strahlenden Knaben. Alle kamen mit Gaben
zu ihm;
alle sangen wie Cherubim
seinen Preis. Und er duftete leis
als Rose der Rosen. Er war ein Kreis
um die Heimatlosen. Er ging in Mänteln und Metamorphosen
durch alle steigenden Stimmen der Zeit. Da ward auch die zur Frucht Erweckte,
die schüchterne und schönerschreckte,
die heimgesuchte Magd geliebt. Die Blühende, die Unentdeckte,
in der es hundert Wege gibt. | 2,291 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_172 | 392 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Da ließen sie sie gehn und schweben
und treiben mit dem jungen Jahr;
ihr dienendes Marien-Leben
ward königlich und wunderbar. Wie feiertägliches Geläute
ging es durch alle Häuser groß;
und die einst mädchenhaft Zerstreute
war so versenkt in ihren Schoß
und so erfüllt von jenem Einen
und so für Tausende genug,
daß alles schien, sie zu bescheinen,
die wie ein Weinberg war und trug. Aber als hätte die Last der Fruchtgehänge
und der Verfall der Säulen und Bogengänge
und der Abgesang der Gesänge
sie beschwert,
hat die Jungfrau sich in anderen Stunden,
wie von Größerem noch unentbunden,
kommenden Wunden
zugekehrt. Ihre Hände, die sich lautlos lösten,
liegen leer. Wehe, sie gebar noch nicht den Größten. Und die Engel, die nicht trösten,
stehen fremd und furchtbar um sie her. So hat man sie gemalt; vor allem einer,
der seine Sehnsucht aus der Sonne trug. Ihm reifte sie aus allen Rätseln reiner,
aber im Leiden immer allgemeiner:
sein ganzes Leben war er wie ein Weiner,
dem sich das Weinen in die Hände schlug. Er ist der schönste Schleier ihrer Schmerzen,
der sich an ihre wehen Lippen schmiegt,
sich über ihnen fast zum Lächeln biegt --
und von dem Licht aus sieben Engelskerzen
wird sein Geheimnis nicht besiegt. Mit einem Ast, der jenem niemals glich,
wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich
verkündend werden und aus Reife rauschen;
in einem Lande, wo die Menschen lauschen,
wo jeder ähnlich einsam ist wie ich. Denn nur dem Einsamen wird offenbart,
und vielen Einsamen der gleichen Art
wird mehr gegeben als dem schmalen Einen. Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,
bis sie erkennen, nah am Weinen,
daß durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht. Das ist das endlichste Gebet,
das dann die Sehenden sich sagen:
die Wurzel Gott hat Frucht getragen,
geht hin, die Glocken zu zerschlagen;
wir kommen zu den stillern Tagen,
in denen reif die Stunde steht. Die Wurzel Gott hat Frucht getragen. Seid ernst und seht. Ich kann nicht glauben, daß der kleine Tod,
dem wir doch täglich übern Scheitel schauen,
uns eine Sorge bleibt und eine Not. Ich kann nicht glauben, daß er ernsthaft droht;
ich lebe noch, ich habe Zeit zu bauen:
mein Blut ist länger als die Rosen rot. Mein Sinn ist tiefer als das witzige Spiel
mit unsrer Furcht, darin er sich gefällt. | 2,353 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_173 | 398 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Ich bin die Welt,
aus der er irrend fiel. Wie er
kreisende Mönche wandern so umher;
man fürchtet sich vor ihrer Wiederkehr,
man weiß nicht: ist es jedesmal derselbe,
sind's zwei, sind's zehn, sind's tausend oder mehr? Man kennt nur diese fremde gelbe Hand,
die sich ausstreckt so nackt und nah --
da da:
als käm sie aus dem eigenen Gewand. Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn. Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen. Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin. Dein großer Mantel läßt dich los. Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange --
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoß. Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange. Du bist der raunende Verrußte,
auf allen Öfen schläfst du breit. Das Wissen ist nur in der Zeit. Du bist der dunkle Unbewußte
von Ewigkeit zu Ewigkeit. Du bist der Bittende und Bange,
der aller Dinge Sinn beschwert. Du bist die Silbe im Gesange,
die immer zitternder im Zwange
der starken Stimmen wiederkehrt. Du hast dich anders nie gelehrt:
Denn du bist nicht der Schönumscharte,
um welchen sich der Reichtum reiht. Du bist der Schlichte, welcher sparte. Du bist der Bauer mit dem Barte
von Ewigkeit zu Ewigkeit. An den jungen Bruder. Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam:
daß sich dein Blut in Blindheit nicht vergeude. Du meinst nicht den Genuß, du meinst die Freude;
du bist gebildet als ein Bräutigam,
und deine Braut soll werden: deine Scham. Die große Lust hat auch nach dir Verlangen,
und alle Arme sind auf einmal nackt. Auf frommen Bildern sind die bleichen Wangen
von fremden Feuern überflackt;
und deine Sinne sind wie viele Schlangen,
die, von des Tones Rot umfangen,
sich spannen in der Tamburine Takt. Und plötzlich bist du ganz allein gelassen
mit deinen Händen, die dich hassen --
und wenn dein Wille nicht ein Wunder tut:
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Aber da gehen wie durch dunkle Gassen
von Gott Gerüchte durch dein dunkles Blut. | 2,192 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_174 | 399 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | An den jungen Bruder. Dann bete du, wie es dich dieser lehrt,
der selber aus der Wirrnis wiederkehrt
und so, daß er zu heiligen Gestalten,
die alle ihres Wesens Würde halten,
in einer Kirche und auf goldnen Smalten
die Schönheit malte, und sie hielt ein Schwert. Er lehrt dich sagen:
Du mein tiefer Sinn,
vertraue mir, daß ich dich nicht enttäusche;
in meinem Blute sind so viel Geräusche,
ich aber weiß, daß ich aus Sehnsucht bin. Ein großer Ernst bricht über mich herein. In seinem Schatten ist das Leben kühl. Ich bin zum erstenmal mit dir allein,
du, mein Gefühl. Du bist so mädchenhaft. Es war ein Weib in meiner Nachbarschaft
und winkte mir aus welkenden Gewändern. Du aber sprichst mir von so fernen Ländern. Und meine Kraft
schaut nach den Hügelrändern. Ich habe Hymnen, die ich schweige. Es gibt ein Aufgerichtetsein,
darin ich meine Sinne neige:
du siehst mich groß, und ich bin klein. Du kannst mich dunkel unterscheiden
von jenen Dingen, welche knien;
sie sind wie Herden, und sie weiden,
ich bin der Hirt am Hang der Heiden,
vor welchem sie zu Abend ziehn. Dann komm ich hinter ihnen her
und höre dumpf die dunklen Brücken,
und in dem Rauch von ihren Rücken
verbirgt sich meine Wiederkehr. Gott, wie begreif ich deine Stunde,
als du, daß sie im Raum sich runde,
die Stimme vor dich hingestellt;
dir war das Nichts wie eine Wunde,
da kühltest du sie mit der Welt. Jetzt heilt es leise unter uns. Denn die Vergangenheiten tranken
die vielen Fieber aus dem Kranken,
wir fühlen schon in sanftem Schwanken
den ruhigen Puls des Hintergrunds. Wir liegen lindernd auf dem Nichts,
und wir verhüllen alle Risse;
du aber wächst ins Ungewisse
im Schatten deines Angesichts. Alle, die ihre Hände regen
nicht in der Zeit, der armen Stadt,
alle, die sie an Leises legen,
an eine Stelle, fern den Wegen,
die kaum noch einen Namen hat, --
sprechen dich aus, du Alltagssegen,
und sagen sanft auf einem Blatt:
Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
daß sie nichts schufen, was nicht flehte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit. Die Zeit ist eine vielgestalte. Wir hören manchmal von der Zeit
und tun das Ewige und Alte;
wir wissen, daß uns Gott umwallte
groß wie ein Bart und wie ein Kleid. | 2,278 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_175 | 395 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Wir sind wie Adern im Basalte
in Gottes harter Herrlichkeit. Der Name ist uns wie ein Licht
hart an die Stirn gestellt. Da senkte sich mein Angesicht
vor diesem zeitigen Gericht
und sah (von dem es seither spricht)
dich, großes dunkelndes Gewicht
an mir und an der Welt. Du bogst mich langsam aus der Zeit,
in die ich schwankend stieg;
ich neigte mich nach leisem Streit:
jetzt dauert deine Dunkelheit
um deinen sanften Sieg. Jetzt hast du mich und weißt nicht wen,
denn deine breiten Sinne sehn
nur, daß ich dunkel ward. Du hältst mich seltsam zart
und horchst, wie meine Hände gehn
durch deinen alten Bart. Dein allererstes Wort war: Licht:
da ward die Zeit. Dann schwiegst du lange. Dein zweites Wort ward Mensch und bange
(wir dunkeln noch in seinem Klange),
und wieder sinnt dein Angesicht. Ich aber will dein drittes nicht. Ich bete nachts oft: Sei der Stumme,
der wachsend in Gebärden bleibt
und den der Geist im Traume treibt,
daß er des Schweigens schwere Summe
in Stirnen und Gebirge schreibt. Sei du die Zuflucht vor dem Zorne,
der das Unsagbare verstieß. Es wurde Nacht im Paradies:
sei du der Hüter mit dem Horne,
und man erzählt nur, daß er blies. Du kommst und gehst. Die Türen fallen
viel sanfter zu, fast ohne Wehn. Du bist der Leiseste von allen,
die durch die leisen Häuser gehn. Man kann sich so an dich gewöhnen,
daß man nicht aus dem Buche schaut,
wenn seine Bilder sich verschönen,
von deinem Schatten überblaut;
weil dich die Dinge immer tönen
nur einmal leis und einmal laut. Oft wenn ich dich in Sinnen sehe,
verteilt sich deine Allgestalt;
du gehst wie lauter lichte Rehe,
und ich bin dunkel und bin Wald. Du bist ein Rad, an dem ich stehe:
von deinen vielen dunklen Achsen
wird immer wieder eine schwer
und dreht sich näher zu mir her,
und meine willigen Werke wachsen
von Wiederkehr zu Wiederkehr. Du bist der Tiefste, welcher ragte,
der Taucher und der Türme Neid. Du bist der Sanfte, der sich sagte,
und doch: wenn dich ein Feiger fragte,
so schwelgtest du in Schweigsamkeit. Du bist der Wald der Widersprüche. Ich darf dich wiegen wie ein Kind,
und doch vollziehn sich deine Flüche,
die über Völkern furchtbar sind. | 2,148 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_176 | 377 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Dir ward das erste Buch geschrieben,
das erste Bild versuchte dich,
du warst im Leiden und im Lieben,
dein Ernst war wie aus Erz getrieben
auf jeder Stirn, die mit den sieben
erfüllten Tagen dich verglich. Du gingst in Tausenden verloren,
und alle Opfer wurden kalt;
bis du in hohen Kirchenchoren
dich rührtest hinter goldnen Toren;
und eine Bangnis, die geboren,
umgürtete dich mit Gestalt. Ich weiß: Du bist der Rätselhafte,
um den die Zeit in Zögern stand. O wie so schön ich dich erschaffte
in einer Stunde, die mich straffte,
in einer Hoffart meiner Hand. Ich zeichnete viel ziere Risse,
behorchte alle Hindernisse, --
dann wurden mir die Pläne krank:
es wirrten sich wie Dorngerank
die Linien und die Ovale,
bis tief in mir mit einem Male
aus einem Griff ins Ungewisse
die frommste aller Formen sprang. Ich kann mein Werk nicht überschaun
und fühle doch: es steht vollendet. Aber, die Augen abgewendet,
will ich es immer wieder baun. So ist mein Tagwerk, über dem
mein Schatten liegt wie eine Schale. Und bin ich auch wie Laub und Lehm,
sooft ich bete oder male,
ist Sonntag, und ich bin im Tale
ein jubelndes Jerusalem. Ich bin die stolze Stadt des Herrn
und sage ihn mit hundert Zungen;
in mir ist Davids Dank verklungen:
ich lag in Harfendämmerungen
und atmete den Abendstern. Nach Aufgang gehen meine Gassen. Und bin ich lang vom Volk verlassen,
so ist's: damit ich größer bin. Ich höre jeden in mir schreiten
und breite meine Einsamkeiten
von Anbeginn zu Anbeginn. Ihr vielen unbestürmten Städte,
habt ihr euch nie den Feind ersehnt? O daß er euch belagert hätte
ein langes schwankendes Jahrzehnt. Bis ihr ihn trostlos und in Trauern,
bis daß ihr hungernd ihn ertrugt;
er liegt wie Landschaft vor den Mauern,
denn also weiß er auszudauern
um jene, die er heimgesucht. Schaut aus vom Rande eurer Dächer:
da lagert er und wird nicht matt
und wird nicht weniger und schwächer
und schickt nicht Droher und Versprecher
und Überreder in die Stadt. Er ist der große Mauerbrecher,
der eine stumme Arbeit hat. Ich komme aus meinen Schwingen heim,
mit denen ich mich verlor. Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr. Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet. Den andern war ich wie ein Wind,
da ich sie rüttelnd rief. | 2,309 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_177 | 398 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Weit war ich, wo die Engel sind,
hoch, wo das Licht in nichts zerrinnt --
Gott aber dunkelt tief. Die Engel sind das letzte Wehn
an seines Wipfels Saum;
daß sie aus seinen Ästen gehn,
ist ihnen wie ein Traum. Sie glauben dort dem Lichte mehr
als Gottes schwarzer Kraft,
es flüchtete sich Luzifer
in ihre Nachbarschaft. Er ist der Fürst im Land des Lichts,
und seine Stirne steht
so steil am großen Glanz des Nichts,
daß er, versengten Angesichts,
nach Finsternissen fleht. Er ist der helle Gott der Zeit,
zu dem sie laut erwacht,
und weil er oft in Schmerzen schreit
und oft in Schmerzen lacht,
glaubt sie an seine Seligkeit
und hangt an seiner Macht. Die Zeit ist wie ein welker Rand
an einem Buchenblatt. Sie ist das glänzende Gewand,
das Gott verworfen hat,
als Er, der immer Tiefe war,
ermüdete des Flugs
und sich verbarg vor jedem Jahr,
bis ihm sein wurzelhaftes Haar
durch alle Dinge wuchs. Du wirst nur mit der Tat erfaßt,
mit Händen nur erhellt;
ein jeder Sinn ist nur ein Gast
und sehnt sich aus der Welt. Ersonnen ist ein jeder Sinn,
man fühlt den feinen Saum darin
und daß ihn einer spann:
Du aber kommst und gibst dich hin
und fällst den Flüchtling an. Ich will nicht wissen, wo du bist,
sprich mir aus überall. Dein williger Evangelist
verzeichnet alles und vergißt
zu schauen nach dem Schall. Ich geh doch immer auf dich zu
mit meinem ganzen Gehn;
denn wer bin ich und wer bist du,
wenn wir uns nicht verstehn? Mein Leben hat das gleiche Kleid und Haar
wie aller alten Zaren Sterbestunde. Die Macht entfremdete nur meinem Munde,
doch meine Reiche, die ich schweigend runde,
versammeln sich in meinem Hintergrunde
und meine Sinne sind noch Gossudar. Für sie ist beten immer noch: erbauen,
aus allen Maßen bauen, daß das Grauen
fast wie die Größe wird und schön, --
und: jedes Hinknien und Vertrauen
(daß es die andern nicht beschauen)
mit vielen goldenen und blauen
und bunten Kuppeln überhöhn. Denn was sind Kirchen und sind Klöster
in ihrem Steigen und Erstehn
als Harfen, tönende Vertröster,
durch die die Hände Halberlöster
vor Königen und Jungfraun gehn. Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe:
Den Königen sei Grausamkeit. Sie ist der Engel vor der Liebe,
und ohne diesen Bogen bliebe
mir keine Brücke in die Zeit. | 2,266 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_178 | 393 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Und Gott befiehlt mir, daß ich male:
Die Zeit ist mir mein tiefstes Weh,
so legte ich in ihre Schale:
das wache Weib, die Wundenmale,
den reichen Tod (daß er sie zahle),
der Städte bange Bacchanale,
den Wahnsinn und die Könige. Und Gott befiehlt mir, daß ich baue:
Denn König bin ich von der Zeit. Dir aber bin ich nur der graue
Mitwisser deiner Einsamkeit. Und bin das Auge mit der Braue ... Das über meine Schulter schaue
von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es tauchten tausend Theologen
in deines Namens alte Nacht. Jungfrauen sind zu dir erwacht,
und Jünglinge in Silber zogen
und schimmerten in dir, du Schlacht. In deinen langen Bogengängen
begegneten die Dichter sich
und waren Könige von Klängen
und mild und tief und meisterlich. Du bist die sanfte Abendstunde,
die alle Dichter ähnlich macht;
du drängst dich dunkel in die Munde,
und im Gefühl von einem Funde
umgibt ein jeder dich mit Pracht. Dich heben hunderttausend Harfen
wie Schwingen aus der Schweigsamkeit. Und deine alten Winde warfen
zu allen Dingen und Bedarfen
den Hauch von deiner Herrlichkeit. Die Dichter haben dich verstreut
(es ging ein Sturm durch alles Stammeln),
ich aber will dich wieder sammeln
in dem Gefäß, das dich erfreut. Ich wanderte in vielem Winde;
da triebst du tausendmal darin. Ich bringe alles, was ich finde:
als Becher brauchte dich der Blinde,
sehr tief verbarg dich das Gesinde,
der Bettler aber hielt dich hin;
und manchmal war bei einem Kinde
ein großes Stück von deinem Sinn. Du siehst, daß ich ein Sucher bin. Einer, der hinter seinen Händen
verborgen geht und wie ein Hirt;
(mögst du den Blick, der ihn beirrt,
den Blick der Fremden von ihm wenden.)
Einer, der träumt, dich zu vollenden
und: daß er sich vollenden wird. Selten ist die Sonne im Sobór. Die Wände wachsen aus Gestalten,
und durch die Jungfraun und die Alten
drängt sich, wie Flügel im Entfalten,
das goldene, das Kaiser-Tor. An seinem Säulenrand verlor
die Wand sich hinter den Ikonen;
und, die im stillen Silber wohnen,
die Steine steigen wie ein Chor
und fallen wieder in die Kronen
und schweigen schöner als zuvor. Und über sie, wie Nächte blau,
von Angesichte blaß,
schwebt, die dich freuete, die Frau:
die Pförtnerin, der Morgentau,
die dich umblüht wie eine Au
und ohne Unterlaß. Die Kuppel ist voll deines Sohns
und bindet rund den Bau. | 2,383 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_179 | 393 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Willst du geruhen deines Throns,
den ich in Schauern schau. Da trat ich als ein Pilger ein
und fühlte voller Qual
an meiner Stirne dich, du Stein. Mit Lichtern, sieben an der Zahl,
umstellte ich dein dunkles Sein
und sah in jedem Bilde dein
bräunliches Muttermal. Da stand ich, wo die Bettler stehn,
die schlecht und hager sind:
aus ihrem Auf- und Niederwehn
begriff ich dich, du Wind. Ich sah den Bauer, überjahrt,
bärtig wie Joachim,
und daraus, wie er dunkel ward,
von lauter Ähnlichen umschart,
empfand ich dich wie nie so zart
so ohne Wort geoffenbart
in allen und in ihm. Du läßt der Zeit den Lauf,
und dir ist niemals Ruh darin:
der Bauer findet deinen Sinn
und hebt ihn auf und wirft ihn hin
und hebt ihn wieder auf. Wie der Wächter in den Weingeländen
seine Hütte hat und wacht,
bin ich Hütte, Herr, in deinen Händen
und bin Nacht, o Herr, von deiner Nacht. Weinberg, Weide, alter Apfelgarten,
Acker, der kein Frühjahr überschlägt,
Feigenbaum, der auch im marmorharten
Grunde hundert Früchte trägt:
Duft geht aus aus deinen runden Zweigen. Und du fragst nicht, ob ich wachsam sei;
furchtlos, aufgelöst in Säften, steigen
deine Tiefen still an mir vorbei. Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand. Hinter den Dingen wachse als Brand,
daß ihre Schatten ausgespannt
immer mich ganz bedecken. Laß dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen
an seinem Ernste. Gib mir die Hand. Ich war bei den ältesten Mönchen, den Malern und Mythenmeldern,
die schrieben ruhig Geschichten und zeichneten Runen des Ruhms. Und ich seh dich in meinen Gesichten mit Winden, Wassern und Wäldern
rauschend am Rande des Christentums,
du Land, nicht zu lichten. Ich will dich erzählen, ich will dich beschaun und beschreiben,
nicht mit Bol und mit Gold, nur mit Tinte aus Apfelbaumrinden;
ich kann auch mit Perlen dich nicht an die Blätter binden,
und das zitterndste Bild, das mir meine Sinne erfinden,
du würdest es blind durch dein einfaches Sein übertreiben. | 2,284 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_180 | 390 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | So will ich die Dinge in dir nur bescheiden und schlichthin benamen,
will die Könige nennen, die ältesten, woher sie kamen,
und will ihre Taten und Schlachten berichten am Rand meiner Seiten. Denn du bist der Boden. Dir sind nur wie Sommer die Zeiten,
und du denkst an die nahen nicht anders als an die entfernten
und ob sie dich tiefer besamen und besser bebauen lernten:
du fühlst dich nur leise berührt von den ähnlichen Ernten
und hörst weder Säer noch Schnitter, die über dich schreiten. Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern. Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern
und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern
und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern
und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern --:
Eh du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis
in der Stunde der unerfaßlichen Angst,
da du dein unvollendetes Bildnis
von allen Dingen zurückverlangst. Gib mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben,
bis sie dir alle würdig sind und weit. Ich will nur sieben Tage, sieben,
auf die sich keiner noch geschrieben,
sieben Seiten Einsamkeit. Wem du das Buch gibst, welches die umfaßt,
der wird gebückt über den Blättern bleiben. Es sei denn, daß du ihn in Händen hast,
um selbst zu schreiben. So bin ich nur als Kind erwacht,
so sicher im Vertraun,
nach jeder Angst und jeder Nacht
dich wieder anzuschaun. Ich weiß, sooft mein Denken mißt,
wie tief, wie lang, wie weit --:
du aber bist und bist und bist,
umzittert von der Zeit. Mir ist, als wär ich jetzt zugleich
Kind, Knab und Mann und mehr. Ich fühle nur, der Ring ist reich
durch seine Wiederkehr. Ich danke dir, du tiefe Kraft,
die immer leiser mit mir schafft
wie hinter vielen Wänden;
jetzt ward mir erst der Werktag schlicht
und wie ein heiliges Gesicht
zu meinen dunklen Händen. Daß ich nicht war vor einer Weile,
weißt du davon? Und du sagst nein. Da fühl ich, wenn ich nur nicht eile,
so kann ich nie vergangen sein. Ich bin ja mehr als Traum im Traume. Nur was sich sehnt nach einem Saume,
ist wie ein Tag und wie ein Ton;
es drängt sich fremd durch deine Hände,
daß es die viele Freiheit fände,
und traurig lassen sie davon. | 2,274 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_181 | 392 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | So blieb das Dunkel dir allein,
und, wachsend in die leere Lichte,
erhob sich eine Weltgeschichte
aus immer blinderem Gestein. Ist einer noch, der daran baut? Die Massen wollen wieder Massen,
die Steine sind wie losgelassen,
und keiner ist von dir behauen. Es lärmt das Licht im Wipfel deines Baumes
und macht dir alle Dinge bunt und eitel,
sie finden dich erst, wenn der Tag verglomm. Die Dämmerung, die Zärtlichkeit des Raumes,
legt tausend Hände über tausend Scheitel,
und unter ihnen wird das Fremde fromm. Du willst die Welt nicht anders an dich halten
als so, mit dieser sanftesten Gebärde. Aus ihren Himmeln greifst du dir die Erde
und fühlst sie unter deines Mantels Falten. Du hast so eine leise Art zu sein. Und jene, die dir laute Namen weihn,
sind schon vergessen deiner Nachbarschaft. Von deinen Händen, die sich bergig heben,
steigt, unsern Sinnen das Gesetz zu geben,
mit dunkler Stirne deine stumme Kraft. Du Williger, und deine Gnade kam
immer in alle ältesten Gebärden. Wenn einer die Hände zusammenflicht,
so daß sie zahm
und um ein kleines Dunkel sind --:
auf einmal fühlt er dich in ihnen werden,
und wie im Winde
senkt sich sein Gesicht
in Scham. Und da versucht er, auf dem Stein zu liegen
und aufzustehn, wie er bei andern sieht,
und seine Mühe ist, dich einzuwiegen
aus Angst, daß er dein Wachsein schon verriet. Denn wer dich fühlt, kann sich mit dir nicht brüsten;
er ist erschrocken, bang um dich und flieht
vor allen Fremden, die dich merken müßten:
du bist das Wunder in den Wüsten,
das Ausgewanderten geschieht. Eine Stunde vom Rande des Tages,
und das Land ist zu allem bereit. Was du sehnst, meine Seele, sag es:
Sei Heide und, Heide, sei weit. Habe alte, alte Kurgane,
wachsend und kaum erkannt,
wenn es Mond wird über das plane,
langvergangene Land. Gestalte dich, Stille. Gestalte
die Dinge (es ist ihre Kindheit,
sie werden dir willig sein). Sei Heide, sei Heide, sei Heide,
dann kommt vielleicht auch der Alte,
den ich kaum von der Nacht unterscheide,
und bringt seine riesige Blindheit
in mein horchendes Haus herein. Ich seh ihn sitzen und sinnen,
nicht über mich hinaus;
für ihn ist alles innen,
Himmel und Heide und Haus. Nur die Lieder sind ihm verloren,
die er nie mehr beginnt;
aus vielen tausend Ohren
trank sie die Zeit und der Wind;
aus den Ohren der Toren. | 2,309 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_182 | 399 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Und dennoch: mir geschieht,
als ob ich ein jedes Lied
tief in mir ihm ersparte. Er schweigt hinterm bebenden Barte,
er möchte sich wiedergewinnen
aus seinen Melodien. Da komm ich zu seinen Knien:
und seine Lieder rinnen
rauschend zurück in ihn. Zweites Buch
Das Buch von der Pilgerschaft
(1901)
Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, --
du hast ihn wachsen sehn; --
die Bäume flüchten. Ihre Flucht
schafft reitende Alleen. Da weißt du, der, vor dem sie fliehn,
ist der, zu dem du gehst,
und deine Sinne singen ihn,
wenn du am Fenster stehst. Des Sommers Wochen standen still,
es stieg der Bäume Blut;
jetzt fühlst du, daß es fallen will
in den, der alles tut. Du glaubtest schon erkannt die Kraft,
als du die Frucht erfaßt,
jetzt wird sie wieder rätselhaft,
und du bist wieder Gast. Der Sommer war so wie dein Haus,
drin weißt du alles stehn --
jetzt mußt du in dein Herz hinaus
wie in die Ebene gehn. Die große Einsamkeit beginnt,
die Tage werden taub,
aus deinen Sinnen nimmt der Wind
die Welt wie welkes Laub. Durch ihre leeren Zweige sieht
der Himmel, den du hast;
sei Erde jetzt und Abendlied
und Land, darauf er paßt. Demütig sei jetzt wie ein Ding,
zu Wirklichkeit gereift, --
daß Der, von dem die Kunde ging,
dich fühlt, wenn er dich greift. Ich bete wieder, du Erlauchter,
du hörst mich wieder durch den Wind,
weil meine Tiefen nie gebrauchter
rauschender Worte mächtig sind. Ich war zerstreut; an Widersacher
in Stücken war verteilt mein Ich. O Gott, mich lachten alle Lacher,
und alle Trinker tranken mich. In Höfen hab ich mich gesammelt
aus Abfall und aus altem Glas,
mit halbem Mund dich angestammelt,
dich, Ewiger aus Ebenmaß. Wie hob ich meine halben Hände
zu dir in namenlosem Flehn,
daß ich die Augen wiederfände,
mit denen ich dich angesehn. Ich war ein Haus nach einem Brand,
darin nur Mörder manchmal schlafen,
eh ihre hungerigen Strafen
sie weiterjagen in das Land;
ich war wie eine Stadt am Meer,
wenn eine Seuche sie bedrängte,
die sich wie eine Leiche schwer
den Kindern an die Hände hängte. Ich war mir fremd wie irgendwer
und wußte nur von ihm, daß er
einst meine junge Mutter kränkte,
als sie mich trug,
und daß ihr Herz, das eingeengte,
sehr schmerzhaft an mein Keimen schlug. | 2,253 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_183 | 388 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Jetzt bin ich wieder aufgebaut
aus allen Stücken meiner Schande
und sehne mich nach einem Bande,
nach einem einigen Verstande,
der mich wie ein Ding überschaut, --
nach deines Herzens großen Händen --
(o kämen sie doch auf mich zu)
ich zähle mich, mein Gott, und du,
du hast das Recht, mich zu verschwenden. Ich bin derselbe noch, der kniete
vor dir im mönchischen Gewand:
der tiefe, dienende Levite,
den du erfüllt, der dich erfand. Die Stimme einer stillen Zelle,
an der die Welt vorüberweht, --
und du bist immer noch die Welle,
die über alle Dinge geht. Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen. Es ist nichts andres denn ein Schweigen
von schönen Engeln und von Geigen,
und der Verschwiegene ist der,
zu dem sich alle Dinge neigen
von seiner Stärke Strahlen schwer. Bist du denn alles, -- ich der Eine,
der sich ergibt und sich empört? Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört? Hörst du denn etwas neben mir? Sind da noch Stimmen außer meiner? Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer,
und meine Wälder winken dir. Ist da ein Lied, ein krankes, kleines,
das dich am Micherhören stört, --
auch ich bin eines, höre meines,
das einsam ist und unerhört. Ich bin derselbe noch, der bange
dich manchmal fragte, wer du seist. Nach jedem Sonnenuntergange
bin ich verwundet und verwaist,
ein blasser allem Abgelöster
und ein Verschmähter jeder Schar,
und alle Dinge stehn wie Klöster,
in denen ich gefangen war. Dann brauch ich dich, du Eingeweihter,
du sanfter Nachbar jeder Not,
du meines Leidens leiser Zweiter,
du Gott, dann brauch ich dich wie Brot. Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
für Menschen, die nicht schlafen, sind:
da sind sie alle Ungerechte,
der Greis, die Jungfrau und das Kind. Sie fahren auf wie totgesagt,
von schwarzen Dingen nah umgeben,
und ihre weißen Hände beben
verwoben in ein wildes Leben,
wie Hunde in ein Bild der Jagd. Vergangenes steht noch bevor,
und in der Zukunft liegen Leichen,
ein Mann im Mantel pocht am Tor,
und mit dem Auge und dem Ohr
ist noch kein erstes Morgenzeichen,
kein Hahnruf ist noch zu erreichen. Die Nacht ist wie ein großes Haus. | 2,175 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_184 | 381 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Und mit der Angst der wunden Hände
reißen sie Türen in die Wände, --
dann kommen Gänge ohne Ende,
und nirgends ist ein Tor hinaus. Und so, mein Gott, ist jede Nacht;
immer sind welche aufgewacht,
die gehn und gehn und dich nicht finden. Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden
das Dunkel treten? Auf Treppen, die sich niederwinden,
hörst du sie beten? Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen? Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen. Ich suche dich, weil sie vorübergehn
an meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn. Wen soll ich rufen, wenn nicht den,
der dunkel ist und nächtiger als Nacht,
den Einzigen, der ohne Lampe wacht
und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht
noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß,
weil er mit Bäumen aus der Erde bricht
und weil er leis
als Duft in mein gesenktes Angesicht
aus Erde steigt. Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt. Ich liebe dich wie einen lieben Sohn,
der mich einmal verlassen hat als Kind,
weil ihn das Schicksal rief auf einen Thron,
vor dem die Länder alle Täler sind. Ich bin zurückgeblieben wie ein Greis,
der seinen großen Sohn nicht mehr versteht
und wenig von den neuen Dingen weiß,
zu welchen seines Samens Wille geht. Ich bebe manchmal für dein tiefes Glück,
das auf so vielen fremden Schiffen fährt,
ich wünsche manchmal dich in mich zurück,
in dieses Dunkel, das dich großgenährt. Ich bange manchmal, daß du nicht mehr bist,
wenn ich mich sehr verliere an die Zeit. Dann les ich von dir: Der Evangelist
schreibt überall von deiner Ewigkeit. Ich bin der Vater; doch der Sohn ist mehr,
ist alles, was der Vater war, und der,
der er nicht wurde, wird in jenem groß;
er ist die Zukunft und die Wiederkehr,
er ist der Schoß, er ist das Meer ... Dir ist mein Beten keine Blasphemie:
als schlüge ich in alten Büchern nach,
daß ich dir sehr verwandt bin -- tausendfach. Ich will dir Liebe geben. Die und die ... | 1,876 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_185 | 341 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Liebt man denn einen Vater? Geht man nicht,
wie du von mir gingst, Härte im Gesicht,
von seinen hülflos leeren Händen fort? Legt man nicht leise sein verwelktes Wort
in alte Bücher, die man selten liest? Fließt man nicht wie von einer Wasserscheide
von seinem Herzen ab zu Lust und Leide? Ist uns der Vater denn nicht das, was war;
vergangne Jahre, welche fremd gedacht,
veraltete Gebärde, tote Tracht,
verblühte Hände und verblichnes Haar? Und war er selbst für seine Zeit ein Held,
er ist das Blatt, das, wenn wir wachsen, fällt. Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alp,
und seine Stimme ist uns wie ein Stein, --
wir möchten seiner Rede hörig sein,
aber wir hören seine Worte halb. Das große Drama zwischen ihm und uns
lärmt viel zu laut, einander zu verstehn,
wir sehen nur die Formen seines Munds,
aus denen Silben fallen, die vergehn. So sind wir noch viel ferner ihm als fern,
wenn auch die Liebe uns noch weit verwebt,
erst wenn er sterben muß auf diesem Stern,
sehn wir, daß er auf diesem Stern gelebt. Das ist der Vater uns. Und ich -- ich soll
dich Vater nennen? Das hieße tausendmal mich von dir trennen. Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen,
wie man sein einzigliebes Kind erkennt, auch dann,
wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann. Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören. Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen. Und meine Seele ist ein Weib vor dir. Und ist wie der Naëmi Schnur, wie Ruth. Sie geht bei Tag um deiner Garben Hauf
wie eine Magd, die tiefe Dienste tut. Aber am Abend steigt sie in die Flut
und badet sich und kleidet sich sehr gut
und kommt zu dir, wenn alles um dich ruht,
und kommt und deckt zu deinen Füßen auf. Und fragst du sie um Mitternacht, sie sagt
mit tiefer Einfalt: Ich bin Ruth, die Magd. Spann deine Flügel über deine Magd. Du bist der Erbe ... | 2,096 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_186 | 392 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Und meine Seele schläft dann, bis es tagt,
bei deinen Füßen, warm von deinem Blut. Und ist ein Weib vor dir. Und ist wie Ruth. Du bist der Erbe. Söhne sind die Erben,
denn Väter sterben. Söhne stehn und blühn. Du bist der Erbe. Und du erbst das Grün
vergangner Gärten und das stille Blau
zerfallner Himmel. Tau aus tausend Tagen,
die vielen Sommer, die die Sonnen sagen,
und lauter Frühlinge mit Glanz und Klagen,
wie viele Briefe einer jungen Frau. Du erbst die Herbste, die wie Prunkgewänder
in der Erinnerung von Dichtern liegen,
und alle Winter, wie verwaiste Länder,
scheinen sich leise an dich anzuschmiegen. Du erbst Venedig und Kasan und Rom,
Florenz wird dein sein, der Pisaner Dom,
die Troïtzka Lawra und das Monastir,
das unter Kiews Gärten ein Gewirr
von Gängen bildet, dunkel und verschlungen, --
Moskau mit Glocken wie Erinnerungen, --
und Klang wird dein sein: Geigen, Hörner, Zungen,
und jedes Lied, das tief genug erklungen,
wird an dir glänzen wie ein Edelstein. Für dich nur schließen sich die Dichter ein
und sammeln Bilder, rauschende und reiche,
und gehn hinaus und reifen durch Vergleiche
und sind ihr ganzes Leben so allein ... Und Maler malen ihre Bilder nur,
damit du unvergänglich die Natur,
die du vergänglich schufst, zurückempfängst:
alles wird ewig. Sieh, das Weib ist längst
in der Madonna Lisa reif wie Wein;
es müßte nie ein Weib mehr sein,
denn Neues bringt kein neues Weib hinzu. Die, welche bilden, sind wie du. Sie wollen Ewigkeit. Sie sagen: Stein,
sei ewig. Und das heißt: sei dein! Und auch, die lieben, sammeln für dich ein:
Sie sind die Dichter einer kurzen Stunde,
sie küssen einem ausdruckslosen Munde
ein Lächeln auf, als formten sie ihn schöner,
und bringen Lust und sind die Angewöhner
zu Schmerzen, welche erst erwachsen machen. Sie bringen Leiden mit in ihrem Lachen,
Sehnsüchte, welche schlafen, und erwachen,
um aufzuweinen in der fremden Brust. Sie häufen Rätselhaftes an und sterben,
wie Tiere sterben, ohne zu begreifen, --
aber sie werden vielleicht Enkel haben,
in denen ihre grünen Leben reifen;
durch diese wirst du jene Liebe erben,
die sie sich blind und wie im Schlafe gaben. So fließt der Dinge Überfluß dir zu. Und wie die obern Becken von Fontänen
beständig überströmen, wie von Strähnen
gelösten Haares, in die tiefste Schale, --
so fällt die Fülle dir in deine Tale,
wenn Dinge und Gedanken übergehn. | 2,368 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_187 | 399 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen,
der in das Leben aus der Zelle sieht
und der, den Menschen ferner als den Dingen,
nicht wagt zu wägen, was geschieht. Doch willst du mich vor deinem Angesicht,
aus dem sich dunkel deine Augen heben,
dann halte es für meine Hoffart nicht,
wenn ich dir sage: Keiner lebt sein Leben. Zufälle sind die Menschen, Stimmen, Stücke,
Alltage, Ängste, viele kleine Glücke,
verkleidet schon als Kinder, eingemummt,
als Masken mündig, als Gesicht verstummt. Ich denke oft: Schatzhäuser müssen sein,
wo alle diese vielen Leben liegen
wie Panzer oder Sänften oder Wiegen,
in welche nie ein Wirklicher gestiegen,
und wie Gewänder, welche ganz allein
nicht stehen können und sich sinkend schmiegen
an starke Wände aus gewölbtem Stein. Und wenn ich abends immer weiterginge
aus meinem Garten, drin ich müde bin, --
ich weiß: Dann führen alle Wege hin
zum Arsenal der ungelebten Dinge. Dort ist kein Baum, als legte sich das Land,
und wie um ein Gefängnis hängt die Wand
ganz fensterlos in siebenfachem Ringe. Und ihre Tore mit den Eisenspangen,
die denen wehren, welche hinverlangen,
und ihre Gitter sind von Menschenhand. Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt
wie aus dem Kerker, der ihn haßt und hält, --
es ist ein großes Wunder in der Welt:
ich fühle: _alles Leben wird gelebt._
Wer lebt es denn? Sind das die Dinge, die
wie eine ungespielte Melodie
im Abend wie in einer Harfe stehn? Sind das die Winde, die von Wassern wehn,
sind das die Zweige, die sich Zeichen geben,
sind das die Blumen, die die Düfte weben,
sind das die langen alternden Alleen? Sind das die warmen Tiere, welche gehn,
sind das die Vögel, die sich fremd erheben? Wer lebt es denn? Lebst du es, Gott, -- das Leben? Du bist der Alte, dem die Haare
von Ruß versengt sind und verbrannt,
du bist der große Unscheinbare
mit deinem Hammer in der Hand. Du bist der Schmied, das Lied der Jahre,
der immer an dem Amboß stand. Du bist, der niemals Sonntag hat,
der in die Arbeit Eingekehrte,
der sterben könnte überm Schwerte,
das noch nicht glänzend wird und glatt. Wenn bei uns Mühle steht und Säge
und alle trunken sind und träge,
dann hört man deine Hammerschläge
an allen Glocken in der Stadt. | 2,192 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_188 | 380 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | Du bist der Mündige, der Meister,
und keiner hat dich lernen sehn;
ein Unbekannter, Hergereister,
von dem bald flüsternder, bald dreister
die Reden und Gerüchte gehn. Gerüchte gehn, die dich vermuten,
und Zweifel gehn, die dich verwischen. Die Trägen und die Träumerischen
mißtrauen ihren eignen Gluten
und wollen, daß die Berge bluten,
denn eher glauben sie dich nicht. Du aber senkst dein Angesicht. Du könntest den Bergen die Adern aufschneiden
als Zeichen eines großen Gerichts;
aber dir liegt nichts
an den Heiden. Du willst nicht streiten mit allen Listen
und nicht suchen die Liebe des Lichts;
denn dir liegt nichts
an den Christen. Dir liegt an den Fragenden nichts. Sanften Gesichts
siehst du den Tragenden zu. Alle, welche dich suchen, versuchen dich. Und die, so dich finden, binden dich
an Bild und Gebärde. Ich aber will dich begreifen,
wie dich die Erde begreift;
mit meinem Reifen
reift
dein Reich. Ich will von dir keine Eitelkeit,
die dich beweist. Ich weiß, daß die Zeit
anders heißt
als du. Tu mir kein Wunder zulieb. Gib deinen Gesetzen recht,
die von Geschlecht zu Geschlecht
sichtbarer sind. Wenn etwas mir vom Fenster fällt
(und wenn es auch das Kleinste wäre)
wie stürzt sich das Gesetz der Schwere
gewaltig wie ein Wind vom Meere
auf jeden Ball und jede Beere
und trägt sie in den Kern der Welt. Ein jedes Ding ist überwacht
von einer flugbereiten Güte
wie jeder Stein und jede Blüte
und jedes kleine Kind bei Nacht. Nur wir, in unsrer Hoffart, drängen
aus einigen Zusammenhängen
in einer Freiheit leeren Raum,
statt, klugen Kräften hingegeben,
uns aufzuheben wie ein Baum. Statt in die weitesten Geleise
sich still und willig einzureihn,
verknüpft man sich auf manche Weise, --
und wer sich ausschließt jedem Kreise,
ist jetzt so namenlos allein. Da muß er lernen von den Dingen,
anfangen wieder wie ein Kind,
weil sie, die Gott am Herzen hingen,
nicht von ihm fortgegangen sind. Eins muß er wieder können: fallen,
geduldig in der Schwere ruhn,
der sich vermaß, den Vögeln allen
im Fliegen es zuvorzutun. (Denn auch die Engel fliegen nicht mehr. Schweren Vögeln gleichen die Seraphim,
welche um ihn sitzen und sinnen;
Trümmern von Vögeln, Pinguinen
gleichen sie, wie sie verkümmern ...)
Du meinst die Demut. Angesichter
gesenkt in stillem Dichverstehn. So gehen abends junge Dichter
in den entlegenen Alleen. | 2,338 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_189 | 386 |
24288-8-1 | Gutenberg | 9,996 | So stehn die Bauern um die Leiche,
wenn sich ein Kind im Tod verlor, --
und was geschieht, ist doch das gleiche:
es geht ein Übergroßes vor. Wer dich zum erstenmal gewahrt,
den stört der Nachbar und die Uhr,
der geht, gebeugt zu deiner Spur,
und wie beladen und bejahrt. Erst später naht er der Natur
und fühlt die Winde und die Fernen,
hört dich, geflüstert von der Flur,
sieht dich, gesungen von den Sternen,
und kann dich nirgends mehr verlernen,
und alles ist dein Mantel nur. Ihm bist du neu und nah und gut
und wunderschön wie eine Reise,
die er in stillen Schiffen leise
auf einem großen Flusse tut. Das Land ist weit, in Winden, eben,
sehr großen Himmeln preisgegeben
und alten Wäldern untertan. Die kleinen Dörfer, die sich nahn,
vergehen wieder wie Geläute
und wie ein Gestern und ein Heute
und so wie alles, was wir sahn. Aber an dieses Stromes Lauf
stehn immer wieder Städte auf
und kommen wie auf Flügelschlägen
der feierlichen Fahrt entgegen. Und manchmal lenkt das Schiff zu Stellen,
die einsam, sonder Dorf und Stadt,
auf etwas warten an den Wellen, --
auf den, der keine Heimat hat ... Für solche stehn dort kleine Wagen
(ein jeder mit drei Pferden vor),
die atemlos nach Abend jagen
auf einem Weg, der sich verlor. In diesem Dorfe steht das letzte Haus
so einsam wie das letzte Haus der Welt. Die Straße, die das kleine Dorf nicht hält,
geht langsam weiter in die Nacht hinaus. Das kleine Dorf ist nur ein Übergang
zwischen zwei Weiten, ahnungsvoll und bang,
ein Weg an Häusern hin statt eines Stegs. Und die das Dorf verlassen, wandern lang,
und viele sterben vielleicht unterwegs. Manchmal steht einer auf beim Abendbrot
und geht hinaus und geht und geht und geht, --
weil eine Kirche wo im Osten steht. Und seine Kinder segnen ihn wie tot. Und einer, welcher stirbt in seinem Haus,
bleibt drinnen wohnen, bleibt in Tisch und Glas,
so daß die Kinder in die Welt hinaus
zu jener Kirche ziehn, die er vergaß. Nachtwächter ist der Wahnsinn,
_weil_ er wacht. Bei jeder Stunde bleibt er lachend stehn,
und einen Namen sucht er für die Nacht
und nennt sie: sieben, achtundzwanzig, zehn ... | 2,104 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_190 | 371 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Seit dreimal hundert Jahren liegen sie,
und ihre Leiber können nicht zerfallen. Das Dunkel häuft sich wie ein Licht, das rußt,
auf ihren langen lagernden Gestalten,
die unter Tüchern heimlich sich erhalten, --
und ihrer Hände ungelöstes Falten
liegt ihnen wie Gebirge auf der Brust. Du großer alter Herzog des Erhabnen:
hast du vergessen, diesen Eingegrabnen
den Tod zu schicken, der sie ganz verbraucht,
weil sie sich tief in Erde eingetaucht? Sind die, die sich Verstorbenen vergleichen,
am ähnlichsten der Unvergänglichkeit? Ist das das große Leben deiner Leichen,
das überdauern soll den Tod der Zeit? Sind sie dir noch zu deinen Plänen gut? Erhältst du unvergängliche Gefäße,
die du, der allen Maßen Ungemäße,
einmal erfüllen willst mit deinem Blut? Du bist die Zukunft, großes Morgenrot
über den Ebenen der Ewigkeit. Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,
der Tau, die Morgenmette und die Maid,
der fremde Mann, die Mutter und der Tod. Du bist die sich verwandelnde Gestalt,
die immer einsam aus dem Schicksal ragt,
die unbejubelt bleibt und unbeklagt
und unbeschrieben wie ein wilder Wald. Du bist der Dinge tiefer Inbegriff,
der seines Wesens letztes Wort verschweigt
und sich den andern immer anders zeigt:
dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff. Du bist das Kloster zu den Wundenmalen. Mit zweiunddreißig alten Kathedralen
und fünfzig Kirchen, welche aus Opalen
und Stücken Bernstein aufgemauert sind. Auf jedem Ding im Klosterhofe
liegt deines Klanges eine Strophe,
und das gewaltige Tor beginnt. In langen Häusern wohnen Nonnen,
Schwarzschwestern, siebenhundertzehn. Manchmal kommt eine an den Bronnen,
und eine steht wie eingesponnen,
und eine, wie in Abendsonnen,
geht schlank in schweigsamen Alleen. Aber die meisten sieht man nie;
sie bleiben in der Häuser Schweigen
wie in der kranken Brust der Geigen
die Melodie, die keiner kann ... Und um die Kirchen rings im Kreise,
von schmachtendem Jasmin umstellt,
sind Gräberstätten, welche leise
wie Steine reden von der Welt. Von jener Welt, die nicht mehr ist,
obwohl sie an das Kloster brandet,
in eitel Tag und Tand gewandet
und gleich bereit zu Lust und List. Sie ist vergangen: denn du bist. Sie fließt noch wie ein Spiel von Lichtern
über das teilnahmslose Jahr;
doch dir, dem Abend und den Dichtern
sind, unter rinnenden Gesichtern,
die dunkeln Dinge offenbar. Die Könige der Welt sind alt
und werden keine Erben haben. | 2,403 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_191 | 387 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Die Söhne sterben schon als Knaben,
und ihre bleichen Töchter gaben
die kranken Kronen der Gewalt. Der Pöbel bricht sie klein zu Geld,
der zeitgemäße Herr der Welt
dehnt sie im Feuer zu Maschinen,
die seinem Wollen grollend dienen;
aber das Glück ist nicht mit ihnen. Das Erz hat Heimweh. Und verlassen
will es die Münzen und die Räder,
die es ein kleines Leben lehren. Und aus Fabriken und aus Kassen
wird es zurück in das Geäder
der aufgetanen Berge kehren,
die sich verschließen hinter ihm. Alles wird wieder groß sein und gewaltig. Die Lande einfach und die Wasser faltig,
die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;
und in den Tälern, stark und vielgestaltig,
ein Volk von Hirten und von Ackerbauern. Und keine Kirchen, welche Gott umklammern
wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern
wie ein gefangenes und wundes Tier, --
die Häuser gastlich allen Einlaßklopfern
und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern
in allem Handeln und in dir und mir. Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein. Auch du wirst groß sein. Größer noch, als einer,
der jetzt schon leben muß, dich sagen kann. Viel ungewöhnlicher und ungemeiner
und noch viel älter als ein alter Mann. Man wird dich fühlen: daß ein Duften ginge
aus eines Gartens naher Gegenwart;
und wie ein Kranker seine liebsten Dinge
wird man dich lieben ahnungsvoll und zart. Es wird kein Beten geben, das die Leute
zusammenschart. Du bist nicht im Verein;
und wer dich fühlte und sich an dir freute,
wird wie der Einzige auf Erden sein:
ein Ausgestoßener und ein Vereinter,
gesammelt und vergeudet doch zugleich;
ein Lächelnder und doch ein Halbverweinter,
klein wie ein Haus und mächtig wie ein Reich. Es wird nicht Ruhe in den Häusern, sei's,
daß einer stirbt und sie ihn weitertragen,
sei es, daß wer auf heimliches Geheiß
den Pilgerstock nimmt und den Pilgerkragen,
um in der Fremde nach dem Weg zu fragen,
auf welchem er dich warten weiß. Die Straßen werden derer niemals leer,
die zu dir wollen wie zu jener Rose,
die alle tausend Jahre einmal blüht. Viel dunkles Volk und beinah Namenlose,
und wenn sie dich erreichen, sind sie müd. | 2,218 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_192 | 379 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Aber ich habe ihren Zug gesehn;
und glaube seither, daß die Winde wehn
aus ihren Mänteln, welche sich bewegen,
und stille sind, wenn sie sich niederlegen --:
so groß war in den Ebenen ihr Gehn. So möcht ich zu dir gehn: von fremden Schwellen
Almosen sammelnd, die mich ungern nähren. Und wenn der Wege wirrend viele wären,
so würd ich mich den Ältesten gesellen. Ich würde mich zu kleinen Greisen stellen,
und wenn sie gingen, schaut ich wie im Traum,
daß ihre Kniee aus der Bärte Wellen
wie Inseln tauchen, ohne Strauch und Baum. Wir überholten Männer, welche blind
mit ihren Knaben wie mit Augen schauen,
und Trinkende am Fluß und müde Frauen
und viele Frauen, welche schwanger sind. Und alle waren mir so seltsam nah, --
als ob die Männer einen Blutsverwandten,
die Frauen einen Freund in mir erkannten,
und auch die Hunde kamen, die ich sah. Du Gott, ich möchte viele Pilger sein,
um so, ein langer Zug, zu dir zu gehn,
und um ein großes Stück von dir zu sein:
du Garten mit den lebenden Alleen. Wenn ich so gehe, wie ich bin, allein, --
wer merkt es denn? Wer _sieht_ mich zu dir gehn? Wen reißt es hin? Wen regt es auf, und wen
bekehrt es dir? Als wäre nichts geschehn,
-- lachen sie weiter. Und da bin ich froh,
daß ich so gehe, wie ich bin; denn so
kann keiner von den Lachenden mich sehn. Bei Tag bist du das Hörensagen,
das flüsternd um die vielen fließt;
die Stille nach dem Stundenschlagen,
welche sich langsam wieder schließt. Je mehr der Tag mit immer schwächern
Gebärden sich nach Abend neigt,
je mehr bist du, mein Gott. Es steigt
dein Reich wie Rauch aus allen Dächern. Ein Pilgermorgen. Von den harten Lagern,
auf das ein jeder wie vergiftet fiel,
erhebt sich bei dem ersten Glockenspiel
ein Volk von hagern Morgensegen-Sagern,
auf das die frühe Sonne niederbrennt:
Bärtige Männer, welche sich verneigen,
Kinder, die ernsthaft aus den Pelzen steigen,
und in den Mänteln, schwer von ihrem Schweigen,
die braunen Fraun von Tiflis und Taschkent. Christen mit den Gebärden des Islam
sind um die Brunnen, halten ihre Hände
wie flache Schalen hin, wie Gegenstände,
in die die Flut wie eine Seele kam. | 2,114 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_193 | 373 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Sie neigen das Gesicht hinein und trinken,
reißen die Kleider auf mit ihrer Linken
und halten sich das Wasser an die Brust,
als wär's ein kühles weinendes Gesicht,
das von den Schmerzen auf der Erde spricht. Und diese Schmerzen stehen ringsumher
mit welken Augen; und du weißt nicht, wer
sie sind und waren. Knechte oder Bauern,
vielleicht Kaufleute, welche Wohlstand sahn,
vielleicht auch laue Mönche, die nicht dauern,
und Diebe, die auf die Versuchung lauern,
offene Mädchen, die verkümmert kauern,
und Irrende in einem Wald von Wahn --:
alle wie Fürsten, die in tiefem Trauern
die Überflüsse von sich abgetan. Wie Weise alle, welche viel erfahren,
Erwählte, welche in der Wüste waren,
wo Gott sie nährte durch ein fremdes Tier;
Einsame, die durch Ebenen gegangen
mit vielen Winden an den dunklen Wangen,
von einer Sehnsucht fürchtig und befangen
und doch so wundersam erhöht von ihr. Gelöste aus dem Alltag, eingeschaltet
in große Orgeln und in Chorgesang,
und Knieende, wie Steigende gestaltet;
Fahnen mit Bildern, welche lang
verborgen waren und zusammgefaltet:
Jetzt hängen sie sich langsam wieder aus. Und manche stehn und schaun nach einem Haus,
darin die Pilger, welche krank sind, wohnen;
denn eben wand sich dort ein Mönch heraus,
die Haare schlaff und die Soutane kraus,
das schattige Gesicht voll kranker Blaus
und ganz verdunkelt von Dämonen. Er neigte sich, als bräch er sich entzwei,
und warf sich in zwei Stücken auf die Erde,
die jetzt an seinem Munde wie ein Schrei
zu hängen schien und so, als sei
sie seiner Arme wachsende Gebärde. Und langsam ging sein Fall an ihm vorbei. Er flog empor, als ob er Flügel spürte,
und sein erleichtertes Gefühl verführte
ihn zu dem Glauben seiner Vogelwerdung. Er hing in seinen magern Armen schmal,
wie eine schiefgeschobne Marionette,
und glaubte, daß er große Schwingen hätte
und daß die Welt schon lange wie ein Tal
sich ferne unter seinen Füßen glätte. Ungläubig sah er sich mit einem Mal
herabgelassen auf die fremde Stätte
und auf den grünen Meergrund seiner Qual. Und war ein Fisch und wand sich schlank und schwamm
durch tiefes Wasser, still und silbergrau,
sah Quallen hangen am Korallenstamm
und sah die Haare einer Meerjungfrau,
durch die das Wasser rauschte wie ein Kamm. Und kam zu Land und war ein Bräutigam
bei einer Toten, wie man ihn erwählt,
damit kein Mädchen fremd und unvermählt
des Paradieses Wiesenland beschritte. | 2,395 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_194 | 394 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Er folgte ihr und ordnete die Tritte
und tanzte rund, sie immer in der Mitte,
und seine Arme tanzten rund um ihn. Dann horchte er, als wäre eine dritte
Gestalt ganz sachte in das Spiel getreten,
die diesem Tanzen nicht zu glauben schien. Und da erkannte er: jetzt mußt du beten,
denn dieser ist es, welcher den Propheten
wie eine große Krone sich verliehn. Wir halten ihn, um den wir täglich flehten,
wir ernten ihn, den einstens Ausgesäten,
und kehren heim mit ruhenden Geräten
in langen Reihen wie in Melodien. Und er verneigte sich ergriffen, tief. Aber der Alte war, als ob er schliefe,
und sah es nicht, obwohl sein Aug nicht schlief. Und er verneigte sich in solche Tiefe,
daß ihm ein Zittern durch die Glieder lief. Aber der Alte ward es nicht gewahr. Da faßte sich der kranke Mönch am Haar
und schlug sich wie ein Kleid an einen Baum. Aber der Alte stand und sah es kaum. Da nahm der kranke Mönch sich in die Hände,
wie man ein Richtschwert in die Hände nimmt,
und hieb und hieb, verwundete die Wände
und stieß sich endlich in den Grund ergrimmt. Aber der Alte blickte unbestimmt. Da riß der Mönch sein Kleid sich ab wie Rinde,
und knieend hielt er es dem Alten hin. Und sieh: er kam. Kam wie zu einem Kinde
und sagte sanft: Weißt du auch, _wer_ ich bin? Das wußte er. Und legte sich gelinde
dem Greis wie eine Geige unters Kinn. Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet. Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten und sich nie besitzen. Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,
gewiß, daß eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet, bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten: --
der ist vergangen wie ein alter Mann. Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu,
und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn täglich in die Tiefe zieht. Du mußt nicht bangen, Gott. Sie sagen: _mein_
zu allen Dingen, die geduldig sind. Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift
und sagt: _mein_ Baum. Sie merken kaum,
wie alles glüht, was ihre Hand ergreift, --
so daß sie's auch an seinem letzten Saum
nicht halten könnten, ohne zu verbrennen. | 2,182 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_195 | 397 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Sie sagen mein, wie manchmal einer gern
den Fürsten Freund nennt im Gespräch mit Bauern,
wenn dieser Fürst sehr groß ist und -- sehr fern. Sie sagen mein von ihren fremden Mauern
und kennen gar nicht ihres Hauses Herrn. Sie sagen mein und nennen das Besitz,
wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn,
so wie ein abgeschmackter Scharlatan
vielleicht die Sonne sein nennt und den Blitz. So sagen sie: mein Leben, meine Frau,
mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau,
daß alles: Leben, Frau und Hund und Kind
fremde Gebilde sind, daran sie blind
mit ihren ausgestreckten Händen stoßen. Gewißheit freilich ist das nur den Großen,
die sich nach Augen sehnen. Denn die andern
_wollen's_ nicht hören, daß ihr armes Wandern
mit keinem Dinge rings zusammenhängt,
daß sie, von ihrer Habe fortgedrängt,
nicht anerkannt von ihrem Eigentume,
das Weib so wenig _haben_ wie die Blume,
die eines fremden Lebens ist für alle. Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht. Auch der dich liebt und der dein Angesicht
erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht
in deinem Atem schwankt, -- besitzt dich nicht. Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt,
so daß du kommen mußt in sein Gebet:
Du bist der Gast,
der wieder weitergeht. Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein,
von keines Eigentümers Hand gestört,
so wie der noch nicht ausgereifte Wein,
der immer süßer wird, sich selbst gehört. In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz. Denn alle Überflüsse die ich sah,
sind Armut und armseliger Ersatz
für deine Schönheit, die noch nie geschah. Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit
und, weil ihn lange keiner ging, verweht. O, du bist einsam. Du bist Einsamkeit,
du Herz, das zu entfernten Talen geht. Und meine Hände, welche blutig sind
vom Graben, heb ich offen in den Wind,
so daß sie sich verzweigen wie ein Baum. Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum,
als hättest du dich einmal dort zerschellt
in einer ungeduldigen Gebärde
und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt,
aus fernen Sternen wieder auf die Erde
sanft, wie ein Frühlingsregen fällt. Drittes Buch
Das Buch von der Armut und vom Tode
(1903)
Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe,
und alle Nähe wurde Stein. | 2,342 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_196 | 395 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, --
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist du es aber: mach dich schwer, brich ein:
daß deine ganze Hand an mir geschehe
und ich an dir mit meinem ganzen Schrein. Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen, --
Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen,
ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen,
und Träger jener Tale der Zyklamen,
aus denen aller Duft der Erde geht;
du, aller Berge Mund und Minaret
(von dem noch nie der Abendruf erschallte):
Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte
wie ein noch ungefundenes Metall? Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte,
und deine Härte fühl ich überall. Oder ist das die Angst, in der ich bin? die tiefe Angst der übergroßen Städte,
in die du mich gestellt hast bis ans Kinn? O daß dir einer recht geredet hätte
von ihres Wesens Wahn und Abersinn. Du stündest auf, du Sturm aus Anbeginn,
und triebest sie wie Hülsen vor dir hin ... Und willst du jetzt von mir: so rede recht, --
so bin ich nicht mehr Herr in meinem Munde,
der nichts als zugehn will wie eine Wunde;
und meine Hände halten sich wie Hunde
an meinen Seiten, jedem Ruf zu schlecht. Du zwingst mich, Herr, zu einer fremden Stunde. Mach mich zum Wächter deiner Weiten,
mach mich zum Horchenden am Stein,
gib mir die Augen auszubreiten
auf deiner Meere Einsamsein;
laß mich der Flüsse Gang begleiten
aus dem Geschrei zu beiden Seiten
weit in den Klang der Nacht hinein. Schick mich in deine leeren Länder,
durch die die weiten Winde gehn,
wo große Klöster wie Gewänder
um ungelebte Leben stehn. Dort will ich mich zu Pilgern halten,
von ihren Stimmen und Gestalten
durch keinen Trug mehr abgetrennt,
und hinter einem blinden Alten
des Weges gehn, den keiner kennt. Denn Herr, die großen Städte sind
Verlorene und Aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, --
und ist kein Trost, daß er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt. Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr. | 2,076 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_197 | 366 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen,
die immer in demselben Schatten sind,
und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen
zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, --
und müssen Kind sein und sind traurig Kind. Da blühen Jungfraun auf zum Unbekannten
und sehnen sich nach ihrer Kindheit Ruh;
das aber ist nicht da, wofür sie brannten,
und zitternd schließen sie sich wieder zu. Und haben in verhüllten Hinterzimmern
die Tage der enttäuschten Mutterschaft,
der langen Nächte willenloses Wimmern
und kalte Jahre ohne Kampf und Kraft. Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten,
und langsam sehnen sie sich dazu hin;
und sterben lange, sterben wie in Ketten
und gehen aus wie eine Bettlerin. Da leben Menschen, weißerblühte, blasse,
und sterben staunend an der schweren Welt. Und keiner sieht die klaffende Grimasse,
zu der das Lächeln einer zarten Rasse
in namenlosen Nächten sich entstellt. Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh,
sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen,
und ihre Kleider werden welk an ihnen,
und ihre schönen Hände altern früh. Die Menge drängt und denkt nicht sie zu schonen,
obwohl sie etwas zögernd sind und schwach, --
nur scheue Hunde, welche nirgends wohnen,
gehn ihnen leise eine Weile nach. Sie sind gegeben unter hundert Quäler,
und, angeschrien von jeder Stunde Schlag,
kreisen sie einsam um die Hospitäler
und warten angstvoll auf den Einlaßtag. Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Grüße
sie in der Kindheit wundersam gestreift, --
der kleine Tod, wie man ihn dort begreift;
ihr eigener hängt grün und ohne Süße
wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift. O Herr, gib jedem seinen eignen Tod,
das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht. Um ihretwillen heben Mädchen an
und kommen wie ein Baum aus einer Laute,
und Knaben sehnen sich um sie zum Mann;
und Frauen sind den Wachsenden Vertraute
für Ängste, die sonst niemand nehmen kann. Um ihretwillen bleibt das Angeschaute
wie Ewiges, auch wenn es lang verrann, --
und jeder, welcher bildete und baute,
ward Welt um diese Frucht und fror und taute
und windete ihr zu und schien sie an. | 2,218 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_198 | 377 |
24288-8-2 | Gutenberg | 8,413 | In sie ist eingegangen alle Wärme,
der Herzen und der Hirne weißes Glühn --:
Doch deine Engel ziehn wie Vogelschwärme,
und sie erfanden alle Früchte grün. HERR: wir sind ärmer denn die armen Tiere,
die ihres Todes enden, wenn auch blind,
weil wir noch alle ungestorben sind. Den gib uns, der die Wissenschaft gewinnt,
das Leben aufzubinden in Spaliere,
um welche zeitiger der Mai beginnt. Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer,
daß es nicht _unser_ Tod ist; einer, der
uns endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen;
drum geht ein Sturm, uns alle abzustreifen. Wir stehn in deinem Garten Jahr und Jahr
und sind die Bäume, süßen Tod zu tragen;
aber wir altern in den Erntetagen,
und so wie Frauen, welche du geschlagen,
sind wir verschlossen, schlecht und unfruchtbar. Oder ist meine Hoffart ungerecht:
sind Bäume besser? Sind wir nur Geschlecht
und Schoß von Frauen, welche viel gewähren? --
Wir haben mit der Ewigkeit gehurt,
und wenn das Kreißbett da ist, so gebären
wir unsres Todes tote Fehlgeburt;
den krummen, kummervollen Embryo,
der sich (als ob ihn Schreckliches erschreckte)
die Augenkeime mit den Händen deckte
und dem schon auf der ausgebauten Stirne
die Angst von allem steht, was er nicht litt, --
und alle schließen so wie eine Dirne
in Kindbettkrämpfen und am Kaiserschnitt. Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß,
bau seinem Leben einen schönen Schoß,
und seine Scham errichte wie ein Tor
in einem blonden Wald von jungen Haaren,
und ziehe durch das Glied des Unsagbaren
den Reisigen den weißen Heeresscharen,
den tausend Samen, die sich sammeln, vor. Und eine Nacht gib, daß der Mensch empfinge,
was keines Menschen Tiefen noch betrat;
gib eine Nacht: da blühen alle Dinge,
und mach sie duftender als die Syringe
und wiegender denn deines Windes Schwinge
und jubelnder als Josaphat. Und gib ihm eines langen Tragens Zeit
und mach ihn weit in wachsenden Gewändern,
und schenk ihm eines Sternes Einsamkeit,
daß keines Auges Staunen ihn beschreit,
wenn seine Züge schmelzend sich verändern. Erneue ihn mit einer reinen Speise,
mit Tau, mit ungetötetem Gericht,
mit jenem Leben, das wie Andacht leise
und warm wie Atem aus den Feldern bricht. Mach, daß er seine Kindheit wieder weiß;
das Unbewußte und das Wunderbare
und seiner ahnungsvollen Anfangsjahre
unendlich dunkelreichen Sagenkreis. | 2,317 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_199 | 377 |
Subsets and Splits