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Fritzsche und der Schuhmacher Julius Vahlteich, nach Berlin gefahren und hatten dort, nach Konferenzen mit führenden Mitgliedern des Berliner Arbeiterkomitees, sowie mit Schulze-Delitzsch und noch etlichen Fortschrittsführern am 2. November einer großen Arbeiterversammlung beigewohnt, in der mit überwiegender Mehrheit beschlossen wurde, das Mandat für die Einberufung des Kongresses dem Leipziger Komitee zu übertragen. Der Besuch überzeugte sie, die selbst schon Sozialisten waren, daß die Arbeiter Berlins noch stark an Schulze-Delitzsch hingen, dieser aber und die übrigen Führer der Fortschrittspartei von einer selbständigen Arbeiterbewegung sehr wenig wissen wollten. Spätere Anfragen bestärkten diesen Eindruck noch. In bezug auf die Frage des Beitritts zum Nationalverein erhielt man die bereits erwähnte klassische Antwort, die Arbeiter sollten sich als „Ehrenmitglieder” des Nationalvereins betrachten. In bezug auf die Frage des Wahlrechts waren die Unruh, Schulze-Delitzsch usw. selbst gespalten, hielten sie auch außerdem für keine brennende. Das Dreiklassenwahlsystem hatte ja eine so vortreffliche Kammer zusammengebracht, man könne es also schon noch eine Weile mitansehen. Daß die vortreffliche, d. h. die oppositionelle Kammer, lediglich das Produkt der besonderen Zeitverhältnisse war, kam den guten Leuten nicht zum Bewußtsein. Von dem jugendlichen Berliner Demokraten, dem späteren Fortschrittsabgeordneten Ludwig Löwe, wurden die Leipziger auf Ferdinand Lassalle und dessen Vortrag „Das Arbeiterprogramm” aufmerksam gemacht und setzten sich nun mit Lassalle in Verbindung. Man kann sich leicht denken, wie sehr dies dessen Entschluß bestärken mußte, nunmehr das „Friede der Vergangenheit, meine Herren” zurückzunehmen. Als er das Sendschreiben „Macht und Recht” erließ, war bereits zwischen ihm und dem Leipziger Komitee verabredet, daß dieses ihn in einem offiziellen Schreiben ersuchen sollte, seine Ansichten über die Aufgaben der Arbeiterbewegung und die Frage der Assoziationen in einer ihm passend erscheinenden Form darzulegen, und daß diese Form eben die einer Flugschrift sein sollte. Die äußerst interessanten damaligen Briefe Lassalles an die Leipziger sind neuerdings von Prof. H. Oncken in Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus” veröffentlicht worden (Jahrgang 2, Heft 2 und 3). Sie zeigen, daß Lassalle, so froh er über die Verbindung mit dem Leipziger Komitee war, sich diesem doch in keiner Weise aufdrängte. Die Leipziger, d. h. die treibenden Elemente im Arbeiterverein, wußten sehr gut, worauf sie hinauswollten; worüber man noch unentschlossen war, das war weniger das Wesen der zu unternehmenden Aktion, als das Aktionsprogramm. Es war durchaus nicht „das Bewußtsein seiner eigenen Unklarheit”, wie Bernh.
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Becker in seiner „Die Wahrheit über alles” stellenden Geschichte der Lassalleschen Arbeiteragitation schreibt, die das Komitee veranlaßte, in einem vom 10. Februar datierten „Aufruf an die deutschen Arbeiter” gleichzeitig für Beschleunigung, aber gegen Übereilung des zu berufenden Arbeiterkongresses sich auszusprechen. Der Kongreß sollte möglichst bald stattfinden, aber nicht so bald, daß nicht inzwischen die Lassallesche Antwort ihre Wirkung getan haben konnte. In derselben Sitzung, wo es den vorerwähnten Aufruf erließ, beschloß das Komitee, folgenden Brief an Lassalle zu schicken, der auch tags darauf abging: „Herrn Ferdinand Lassalle in Berlin. Sehr geehrter Herr! Ihre Broschüre: ‚Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes’ ist hier überall von den Arbeitern mit großem Beifall aufgenommen worden und das Zentralkomitee hat sich in Ihrem Sinne in der Arbeiterzeitung ausgesprochen. Andrerseits sind von verschiedenen Seiten sehr ernstliche Bedenken ausgesprochen worden, ob die von Schulze-Delitzsch empfohlenen Assoziationen der großen Mehrzahl der Arbeiter, die gar nichts besitzt, genügend helfen können, ob namentlich durch dieselben die Stellung der Arbeiter im Staat in der Art verändert werden kann, wie es notwendig erscheinen muß. Das Zentralkomitee hat in der Arbeiterzeitung (Nr. 6) hierüber seine Ansichten ausgesprochen; es ist der Überzeugung, daß das Assoziationswesen unter unsern jetzigen Verhältnissen nicht genug leisten könne. -- Da nun aber aller Orten die Ideen von Schulze-Delitzsch als maßgebend für den Arbeiterstand, unter dem wir die gedrückteste Klasse des Volkes verstehen, empfohlen werden, und da doch wohl noch andere Mittel und Wege, als die von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen, denkbar wären, um die Ziele der Arbeiterbewegung: Verbesserung der Lage der Arbeiter in politischer, materieller und geistiger Beziehung zu erreichen, so hat das Zentralkomitee in seiner Sitzung vom 10. Februar cr. einstimmig beschlossen: Sie zu ersuchen, in irgendeiner Ihnen passend erscheinenden Form Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren dieselbe sich zu bedienen hat, sowie besonders auch über den Wert der Assoziationen für die ganz unbemittelte Volksklasse, auszusprechen. Wir legen den größten Wert auf Ihre Ansichten, welche Sie in der angeführten Broschüre ausgesprochen haben, und werden deshalb auch Ihre ferneren Mitteilungen vollkommen zu würdigen wissen. Wir ersuchen Sie schließlich nur noch um möglichst baldige Erfüllung unserer Bitte, da uns viel daran liegt, die Entwicklung der Arbeiterbewegung zu beschleunigen. -- Mit Gruß und Handschlag! Leipzig, 11. Februar 63. Für das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses Otto Dammer.” Die Antwort auf diesen Brief bildete das vom 1.
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März 1863 datierte „Offene Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig von Ferdinand Lassalle”. Mit dieser Schrift und ihrer Annahme im Komitee und im Leipziger Arbeiterverein selbst beginnt die eigentlich sozialistische Agitation Lassalles und die Geschichte des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins”. * * * * * Das „Offene Antwortschreiben” Lassalles tritt zunächst der Ansicht entgegen, daß die Arbeiter sich nicht um die Politik zu bekümmern hätten. Im Gegenteil, sie hätten sich durchaus an der Politik zu beteiligen, bloß dürften sie dies nicht in der Weise tun, daß sie sich als den „selbstlosen Chor und Resonanzboden” der Fortschrittspartei betrachteten. Der Nachweis dafür, daß die Fortschrittspartei den Anspruch darauf verwirkt habe, stützt sich im wesentlichen auf das von dieser im Verfassungskonflikt beobachtete Verhalten und ist insofern nicht überall von gleichmäßiger Beweiskraft. Wenn Lassalle z. B. auf Seite 4 der Schrift der Fortschrittspartei vorwarf, daß sie „nur .... das Festhalten am Budgetbewilligungsrecht zum Inhalt ihres Kampfes habe”, so vergaß er, daß er selbst es noch im Vortrage „Was nun?” als das eigentliche und mit aller Energie zu vertretende Objekt des Kampfes bezeichnet hatte. Ebenso konnte sich die Fortschrittspartei auf ihn selbst berufen, wenn er es ihr als eine politische Sünde anrechnete, daß sie „sich durch ihr Dogma von der preußischen Spitze zwingt, in der preußischen Regierung den berufenen Messias für die deutsche Wiedergeburt zu sehen, während es, mit Einschluß Hessens, nicht eine einzige deutsche Regierung gibt, welche hinter der preußischen in politischer Beziehung zurückstände, während es, und zwar mit Einschluß Österreichs (!!), fast keine einzige deutsche Regierung gibt, welche der preußischen nicht noch bedeutend voraus wäre.” Indes in der Sache selbst hatte Lassalle natürlich recht. Die Organisation der Arbeiter als selbständige politische Partei mit eigenem Programm war eine geschichtliche Notwendigkeit, und wenn die Entwicklung der politischen Zustände Deutschlands es zweifelhaft erscheinen lassen konnte, ob es gerade in jenem Augenblick geraten war, die Arbeiter vom Heerbann der gegen den Absolutismus kämpfenden Fortschrittspartei abzutrennen, so lag von seiten der letzteren genug vor, was zu dieser Abtrennung geradezu herausforderte. Zudem hieß die selbständige Organisierung der Arbeiter an sich noch nicht Beeinträchtigung der Aggressivkraft der Fortschrittspartei. Daß sie diese in der Tat zur Folge hatte, ist in nicht geringem Grade Schuld der Fortschrittspartei selbst -- ihrer wahrhaft bornierten Haltung gegenüber der neuen Bewegung. Zum Teil allerdings auch Schuld des Programms, welches Lassalle dieser Bewegung gab.
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Wir haben bei Besprechung des „Arbeiterprogramms” gesehen, welch abstrakte, rein ideologische Vorstellung Lassalle mit dem Begriff „Staat” verband. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß er einen wahren Kultus mit dem Staatsbegriff trieb. „Das uralte Vestafeuer aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene modernen Barbaren” -- nämlich die Manchesterpartei -- ruft er in der Rede „Die indirekte Steuer” den Richtern des Berliner Kammergerichts zu, und ähnliche Stellen finden sich in fast allen seinen Reden vor. Dieser Staatskultus ist die Achillesferse der Lassalleschen Doktrin, die Ursache von allerhand verhängnisvollen Fehlgriffen. Die althegelisch-ideologische Vorstellung vom „Staat” veranlaßte Lassalle, in einem Augenblick den Arbeitern eine halbmystische Verehrung des Staats einzuprägen, wo es sich für sie zunächst noch darum handelte, die Bevormundungen des Polizeistaats erst loszuwerden. Es hört sich sehr hübsch an, wenn er im „Offenen Antwortschreiben” den Arbeitern zuruft: „Wie, Sie wollten über Freizügigkeit debattieren? Ich weiß Ihnen hierauf nur mit dem Distichon Schillers zu antworten: „Jahrelang bedien' ich mich schon meiner Nase zum Riechen, Aber hab' ich an sie auch ein erweisliches Recht?” -- Freizügigkeit und Gewerbefreiheit seien Dinge, die man in einem gesetzgebenden Körper „stumm und lautlos dekretiert, aber nicht mehr debattiert”. Tatsächlich jedoch waren diese Dinge und mit ihnen die Koalitionsfreiheit eben noch nicht da, während die Arbeiter sie unbedingt brauchten. Der wirkliche Grund, warum Freizügigkeit und Gewerbefreiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Rang auf einem Arbeiterkongreß einzunehmen hatten, war der, daß sie zugleich in hohem Grade Forderungen des bürgerlichen Liberalismus waren; aber überflüssig war ihre Diskutierung schon deshalb nicht, weil selbst in Arbeiterkreisen noch sehr viel Unklarheit über ihre Bedeutung herrschte. Lassalle schob diese Fragen beiseite, weil ihm wichtiger als sie die Forderung der Staatshilfe schien. Einmal der Sache selbst wegen, zweitens aber, weil er in dem Ausblick auf die Staatshilfe das einzig wirksame Mittel erblickte, die Arbeiterklasse für die politische Aktion aufzurütteln, sie zugleich von der Vormundschaft der bürgerlichen Parteien zu emanzipieren und doch für die Erkämpfung der demokratischen Forderungen zu erwärmen. Und kein Zweifel, daß ihm zu jener Zeit diese zweite Seite die wichtigere war. Sie war es auch nach Lage der Dinge selbst. Es handelte sich nur darum, ob Methode und Mittel, durch die er diesen Zweck zu erreichen suchte, richtig waren.
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Um die Arbeiter von der Wirkungslosigkeit der Selbsthilfe zu überzeugen, wie sie von bürgerlicher Seite gepredigt wurde, berief sich Lassalle auf das Lohngesetz der kapitalistischen Produktion, wie es von den Klassikern der politischen Ökonomie, insbesondere und am schärfsten von Ricardo formuliert worden war, das „eherne und grausame Gesetz, wonach unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist”. Steige er zeitweilig über diesen Satz, so bewirkten leichtere Verehelichung und Fortpflanzung eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und damit des Arbeiterangebots, infolgedessen der Lohn wieder auf den früheren Lohnsatz zurückfalle. Falle er aber unter diesen Satz, so bewirkten Auswanderung, größere Sterblichkeit unter den Arbeitern, Enthaltung von Ehe und Fortpflanzung eine Verminderung des Arbeiterangebots, infolgedessen die Löhne wieder stiegen. So tanzten „Arbeiter und Arbeitslohn immer um den äußersten Rand dessen herum, was nach dem Bedürfnis jeder Zeit zu dem notwendigsten Lebensunterhalt gehört”, und dies „ändert sich nie”. Es sei daher jeder Versuch der Arbeiterklasse, durch die individuellen Anstrengungen ihrer Mitglieder ihre Lage zu verbessern, notwendigerweise zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso sei es verfehlt, die Lage der Arbeiter durch Konsumvereine verbessern zu wollen. So lange diese vereinzelt blieben, könnten sie hier und da den Arbeitern Vorteile verschaffen. Von dem Zeitpunkt aber an, wo sie allgemein würden, würden die Arbeiter als Produzenten, an ihrem Lohne, wieder verlieren, was sie als Konsumenten, beim Einkauf ihrer Bedarfsartikel, gewönnen. Die Lage der Arbeiterklasse könne vielmehr dauernd nur von dem Druck jenes ökonomischen Gesetzes befreit werden, wenn an die Stelle des Arbeitslohns der Arbeitsertrag trete, wenn die Arbeiterklasse ihr eigener Unternehmer werde. Das sei aber nicht durch die Gründung selbsthilflerischer Assoziationen zu erreichen, da diesen die erforderlichen Mittel dazu fehlten, und da sie nur zu oft dem Schicksal verfielen, daß in ihnen der Unternehmergeist seinen Einzug halte und die Mitglieder in die „widrige Karikatur der Arbeiter mit Arbeitermitteln und Unternehmergesinnungen” verwandelte. Die großen Fragen ließen sich nur mit großen Mitteln lösen, und darum müßten die Assoziationen in großartigem Maßstabe und mit Ausdehnung auf die fabrikmäßige Großindustrie ins Leben gerufen, die Mittel dazu aber -- das nötige Kapital, bzw. der nötige Kredit -- vom Staat dargeboten werden. Das sei durchaus kein Kommunismus oder Sozialismus.
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fragte ich, und Sie ersehen jetzt aus wenigen Zahlen, handgreiflicher als aus dicken Büchern, die Antwort: Ihre, der ärmeren Klassen, große Assoziation -- das ist der Staat.” Und wie den Staat zu der geforderten Intervention vermögen? Dies werde nur durch das allgemeine und direkte Wahlrecht möglich sein. Nur wenn die gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten Wahlrecht hervorgehen -- „dann und nur dann werden Sie den Staat bestimmen können, sich dieser seiner Pflicht zu unterziehen”. Das allgemeine und direkte Wahlrecht ... „ist nicht nur Ihr politisches, es ist auch ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller sozialen Hilfe”. Darum mögen sich die Arbeiter zu einem allgemeinen deutschen Arbeiterverein organisieren, der zum Zweck habe die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen Ländern. Werde diese Forderung von den 89 bis 96 Prozent der Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet, so werde es keine Macht geben, die sich dem lange widersetzen würde. „Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt -- auf den wichtigsten Punkt -- zu konzentrieren und nicht nach rechts und links zu sehen. Blicken Sie nicht nach rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht heißt oder damit in Zusammenhang steht und dazu führen kann.” Dies in möglichst knapper Form der Gedankeninhalt des „Offenen Antwortschreibens” und zugleich der Lassalleschen Agitation überhaupt. Denn wenn natürlich hiermit nicht das letzte Wort der Bestrebungen Lassalles gesagt war, so hielt doch Lassalle bis zuletzt daran fest, die Bewegung auf diesen einen Punkt: „Allgemeines Wahlrecht behufs Erlangung von Staatshilfe für Produktionsgenossenschaften” zu beschränken, eben im Sinne des oben entwickelten Grundsatzes, daß die Kunst praktischer Erfolge darin besteht, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Es ist von Wichtigkeit, dies im Auge zu behalten, wenn man an die agitatorische Tätigkeit Lassalles den richtigen Maßstab anlegen will. Sie ist, wenigstens in ihrem Beginn, auf den unmittelbaren, praktischen Erfolg berechnet gewesen.
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Ausdrücklich verweist Lassalle im „Offenen Antwortschreiben” auf die Agitation und den Erfolg der Kornzoll-Liga in England, und ebenso scheint ihm die Agitation der englischen Chartisten vorgeschwebt zu haben, wie der Satz von der „Magenfrage” beweist, der an die Erklärung des Chartistenpredigers Stephens erinnert: „Der Chartismus, meine Freunde, ist keine politische Frage, sondern eine Messer- und Gabelfrage.” Wenn wir uns nun zunächst die Frage vorlegen, ob denn ein unmittelbarer praktischer Erfolg der so abgesteckten Agitation überhaupt nach Lage der damaligen Verhältnisse möglich war, so glaube ich die Frage unbedingt bejahen zu müssen. Daß später Bismarck, wenn auch freilich nur zum Norddeutschen Reichstag, wirklich das allgemeine Wahlrecht einführte, ist für mich dabei nicht maßgebend. Allerhand Umstände hätten das verhindern können, ohne daß dadurch die Tatsache umgestoßen worden wäre, daß Lassalles Berechnung ihrer Zeit eine richtige war. Umgekehrt, obgleich das Dreiklassenwahlsystem zum preußischen Landtag beibehalten wurde, bleibt der Lassallesche Kalkül doch richtig; er entsprach durchaus der damaligen politischen Situation. Lassalle wußte ganz genau, daß, wenn im Lager der Fortschrittspartei das allgemeine Wahlrecht viele Gegner und im ganzen nur laue Freunde hatte, dafür in den Kreisen der Regierung das Dreiklassenwahlsystem allmählich mit immer scheeleren Augen angesehen wurde. Die gouvernementalen Blätter sprachen sich bereits ganz unverhohlen in diesem Sinne aus, und außerdem fehlte es, wie wir gesehen haben, Lassalle durchaus nicht an Verbindungen, durch die er genau über die Strömungen in den Hof- und Regierungskreisen unterrichtet war. Wenn die Regierung in dem Verfassungskonflikt nicht nachgeben wollte, so blieb ihr, kam nicht ein auswärtiger Krieg -- der ihr aber auch verhängnisvoll werden konnte -- schließlich kaum etwas anderes übrig, als Napoleon III. nachzuahmen: den Landtag aufzulösen und ein anderes, „demokratischeres” Wahlrecht zu oktroyieren. Zu diesem Schritt mußte sie sich um so mehr veranlaßt fühlen, je mehr eine starke, von der Fortschrittspartei unabhängige Bewegung bestand, die die Abschaffung des Dreiklassenwahlsystems auf ihre Fahne geschrieben hatte. Gerade im Hinblick auf einen möglichen Krieg mußte ihr dies als der beste Ausweg erscheinen, gegebenenfalls nicht das ganze Volk feindselig gegen sich im Rücken zu haben[21]. Von dem Gesichtspunkt des unmittelbaren praktischen Erfolgs hatte also Lassalle unzweifelhaft recht. Es war möglich, das allgemeine Wahlrecht auf die von ihm entwickelte Weise zu erringen. Allerdings um einen Preis: wenn die Regierung es gab, um der Fortschrittspartei nicht nachgeben zu müssen, so wurde damit die Lösung des Verfassungskonflikts mindestens noch weiter hinausgeschoben.
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„Seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines und direktes Stimmrecht heißt oder damit im Zusammenhang steht und dazu führen kann”, heißt es im „Offenen Antwortschreiben”. Einmal das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, würde dieses, das muß man bei Lassalle, wenn er es auch nicht ausdrücklich ausspricht, logischerweise als Voraussetzung annehmen, auch diese Frage lösen. War aber diese Erwartung Lassalles vom allgemeinen Wahlrecht, wie überhaupt die Erwartungen, die er an es knüpfte, in der Sache selbst gerechtfertigt? Erfahrungen in bezug auf das allgemeine und direkte Wahlrecht lagen zur Zeit Lassalles nur aus Frankreich vor. Und hier sprachen sie durchaus nicht besonders zu dessen Gunsten. Es hatte zwar während der Februarrepublik eine Reihe von Sozialisten in die Volksvertretung gebracht, aber die Stimme dieser Sozialisten war erdrückt worden durch die der Vertreter der verschiedenen Bourgeoisparteien, und das allgemeine Wahlrecht hatte den Staatsstreich Bonapartes so wenig verhindert, daß im Gegenteil Bonaparte ihn hatte unternehmen können als „Wiederhersteller des allgemeinen Wahlrechts”. Und dabei war die Februarrepublik, als sie ins Leben trat, vom Pariser Proletariat proklamiert worden als soziale Republik, ihr war vorhergegangen eine Epoche sozialistischer Propaganda von großartigster Ausdehnung, so daß nach dieser Seite hin die Voraussetzungen dafür gegeben waren, daß sie im Laufe der Zeit zu einer wirklichen sozialistischen Republik hätte werden können. Warum wurde sie es nicht? Warum konnte sie vielmehr durch das Kaiserreich gestürzt werden? Wenn Lassalle am Schluß des „Arbeiterprogramms” sagt, was am 2. Dezember 1851 gestürzt worden, das sei „nicht die Republik” gewesen, sondern die Bourgeoisrepublik, welche durch das Wahlgesetz vom Mai 1850 das allgemeine Wahlrecht aufgehoben und einen verkappten Zensus zur Ausschließung der Arbeiter eingeführt hatte; die Republik des allgemeinen Wahlrechts aber würde „an der Brust der französischen Arbeiter einen unübersteiglichen Wall gefunden haben”, so wiederholt er damit ein Schlagwort der kleinbürgerlichen Revolutionäre à la Ledru-Rollin, das die Frage nicht beantwortet, sondern nur verschiebt. Wo war dieser „unübersteigliche Wall”, als die auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählte Kammer dieses aufhob? Warum hatten die Pariser Arbeiter diesen „Staatsstreich der Bourgeoisie” nicht verhindert? Hätte Lassalle sich diese Frage vorgelegt, so würde er auf die Tatsache gestoßen sein, daß die Februarrepublik als soziale Republik sich nicht halten konnte, weil die Klasse, auf die sie sich als solche hätte stützen müssen, noch nicht entwickelt genug war -- d. h. nicht entwickelt genug im sozialen Sinne dieses Wortes.
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Das moderne industrielle Proletariat war da, es war stark genug gewesen, für einen Augenblick die bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen zu werfen, aber nicht stark genug, sie niederzuhalten. Wir begegnen hier wieder dem Grundfehler der Lassalleschen Betrachtungsweise. Selbst wo Lassalle auf die tieferen Ursachen der geschichtlichen Vorgänge einzugehen sucht, hält ihn seine mehr juristische Denkart davon ab, ihrer sozialen Seite wirklich auf den Grund zu gehen, und auch das Ökonomische packt er gerade da an, wo es sich bereits, wenn ich mich so ausdrücken darf, juristisch verdichtet hat. Nur so ist es zu erklären, daß er, um den Arbeitern zu zeigen, aus welchen Elementen sich die Bevölkerung des Staats zusammensetzt, sich an die Statistik der Einkommensverteilung, und zwar ausschließlich an sie hält. Der Streit, der sich damals an diese Stelle des „Offenen Antwortschreibens” knüpfte, ist ein verhältnismäßig untergeordneter. Ob Lassalle sich um einige Prozentsätze nach der einen oder anderen Richtung geirrt hat, darauf kommt im Grunde wenig an, die Tatsache, daß die große Masse der Bevölkerung in dürftigen Verhältnissen lebt, während nur eine kleine Minderheit im Überfluß schwelgt, konnten die Wackernagel und Konsorten, die sich Lassalle damals entgegenstellten, mit dem Aufwand ihrer ganzen Rabulistik nicht aus der Welt leugnen. Viel wichtiger ist es, daß Lassalle gar nicht berücksichtigt, aus wie verschiedenartigen Elementen sich die 96 oder 89 Prozent der Bevölkerung zusammensetzten, als deren „große Assoziation” er den Staat bezeichnete. Welch großen Bruchteil davon Kleinhandwerker und Kleinbauern, sowie vor allem die Landarbeiter bildeten, die noch großenteils völlig unter der geistigen Vormundschaft ihrer Arbeitsherren standen, läßt er ganz unerörtert. Über die Hälfte der Bevölkerung Preußens entfiel damals auf den Ackerbau, die größeren Städte spielten bei weitem nicht die Rolle, die sie heute spielen, vom Standpunkt der industriellen Entwicklung betrachtet, war der ganze Osten der Monarchie nur eine Wüste mit vereinzelten Oasen[22]. Was konnte unter solchen Umständen das allgemeine Wahlrecht an der Zusammensetzung der Kammer ändern? War von ihm ein besseres Resultat zu erwarten, als von dem allgemeinen Wahlrecht im Frankreich der Jahre 1848 und 1849? Sicherlich nicht. Es konnte eine gewisse Anzahl von Arbeitervertretern in die Volksvertretung bringen, und das war an sich gewiß sehr zu wünschen.
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Aber im übrigen mußte es, gerade je mehr es die Wirkung erfüllte, die Lassalle von ihm versprach -- nämlich einen Volksvertretungskörper zusammenbringen, der „das genaue, treue Ebenbild ist des Volkes, das ihn gewählt hat” („Arbeiterprogramm”) -- die Zusammensetzung der Kammer verschlechtern, anstatt sie zu verbessern. Denn so jämmerlich immer die damalige Volksvertretung war, sie war doch wenigstens bürgerlich-liberal. Lassalle vergaß, daß die dürftigen Klassen zwar unter Umständen sämtlich revolutionäre Truppen stellen, aber keineswegs samt und sonders revolutionäre Klassen sind, er vergaß, daß die 89 Prozent nur erst zum Teil aus modernen Proletariern bestanden. Wenn also das allgemeine Wahlrecht zu erlangen möglich war, so ist doch damit noch keineswegs gesagt, daß es das, wozu es selbst wieder als Mittel dienen sollte, auch in absehbarer Zeit herbeigeführt haben würde. Bei der politischen und sonstigen Bildungsstufe der großen Masse der Bevölkerung konnte das Wahlrecht auch zunächst das Gegenteil bewirken, statt Vertreter moderner Prinzipien, solche des Rückschritts in größerer Anzahl als bisher in die Kammer bringen. Nicht alle Fortschrittler waren aus Klasseninteresse Gegner oder laue Freunde des allgemeinen Wahlrechts, es waren unter ihnen ein großer Teil Ideologen, welche gerade durch die Entwicklung der Dinge in Frankreich in bezug auf seinen Wert skeptisch geworden waren. Auch Sozialisten dachten so. Es sei nur an Rodbertus erinnert, der in seinem Offenen Brief an das Leipziger Komitee ebenfalls auf Frankreich hinwies, als ein Beispiel dafür, daß das allgemeine Stimmrecht „nicht notwendig dem Arbeiterstande die Staatsgewalt in die Hände spielt”. Es sei gesagt worden, das allgemeine Wahlrecht solle nur Mittel zum Zweck sein, Mittel seien aber „zu verschiedenen Zwecken und mitunter zu den entgegengesetzten brauchbar”. „Sind Sie,” fragt er, „dessen gewiß, daß hier das Mittel mit zwingender Notwendigkeit zu dem von Ihnen aufgesteckten Ziele führen muß? Ich glaube das nicht.” Aus den Briefen Lassalles an Rodbertus geht auch hervor, daß, beinahe mehr noch als Rodbertus' gegensätzliches Urteil über den Wert der Produktivgenossenschaften, sein Gegensatz gegen das allgemeine Stimmrecht der Grund war, daß er trotz aller dringenden Bitten Lassalles dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein nicht beitrat[23]. Und wie man sonst auch über Rodbertus denken mag, seine Motive werden auf das Unzweifelhafteste durch den Schlußsatz seines Briefes charakterisiert, wo er den Arbeitern anrät, obwohl Lassalle recht habe, daß man solche Fragen nicht mehr debattiere, doch Freizügigkeit und freie Wahl der Beschäftigung als selbstverständlich in ihr Programm aufzunehmen, um „jeden Reaktionär, der Ihnen schaden könnte, höchst wirksam zurückzuscheuchen”.
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Wenn Rodbertus und andere die Gefahr des Bonapartismus übertrieben, so nahm Lassalle sie seinerseits entschieden zu leicht. Die Schwenkung, die er später tatsächlich in dieser Richtung machte, lag dem Ideengang nach von vornherein in ihm. Höchst charakteristisch ist dafür eine Stelle aus dem teilweise schon früher zitierten Brief Lassalles an Marx vom 20. Juni 1859 über die Frage des italienischen Krieges. Dort heißt es: „Im Anfang, als mit solcher Wut überall das nationale Geschrei eines Krieges gegen Frankreich ausbrach, rief die ‚Volkszeitung’ (Bernstein, für mich ein Urreaktionär, ist ihr Redakteur) in einem Leitartikel triumphierend aus: ‚Will man wissen, was dies Geschrei aller Völker gegen Frankreich bedeutet? Will man seine welthistorische Bedeutung kennen? Die Emanzipation Deutschlands von der politischen Entwicklung Frankreichs -- das bedeutet es.’ -- Habe ich erst nötig, den urreaktionären Inhalt dieses Triumphgeschreis Dir auseinanderzusetzen? Doch gewiß nicht! Ein populärer Krieg gegen Frankreich -- und unsere kleinbürgerlichen Demokraten, unsere Dezentralisten, die Feinde aller Gesellschaftsinitiative, haben einen unberechenbaren Kraftzuwachs auf lange, lange gewonnen. Noch bis weit in die deutsche Revolution hinein würde die Wirkung dieser Strömung sich bemerklich machen. Wir haben wahrhaftig nicht nötig, diesem gefährlichsten Feind, den wir haben, dem deutschen Spießbürgerindividualismus, durch einen blutigen Antagonismus gegen den romanisch-sozialen Geist in seiner klassischen Form, in Frankreich, noch neue Kräfte zuzuführen.” So Lassalle. Der verstorbene Redakteur der „Volkszeitung” verdiente in gewisser Hinsicht zweifelsohne den Titel, den Lassalle ihm hier beilegt, aber des zitierten Satzes wegen vielleicht am wenigsten. Die politische Entwicklung Frankreichs war in jenem Zeitpunkt der Bonapartismus, während die Partei der „Volkszeitung” auf England, als ihr politisches Vorbild, schwor. Das war sicher sehr einseitig, aber noch nicht reaktionär, oder doch reaktionär nur insoweit, als es eben einseitig war. Lassalles Auffassung, die in dem staatlichen Zentralismus Frankreichs ein Produkt des „romanisch-sozialen” Geistes sah, ihn mit dem Grundgedanken des Sozialismus identifizierte, dagegen seine reaktionäre Seite ganz unbeachtet ließ, ist jedoch nicht minder einseitig. So weit über die politische Seite des Lassalleschen Programms, nun zu seiner ökonomischen. Fußnoten: [20] Wohl ein Druckfehler. D. H. [21] Wir haben oben, bei Besprechung des „Italienischen Krieges” gesehen, mit welchem kühlen, gar nicht in die Schablone des „guten Patrioten” passenden Blick Lassalle die Rückwirkung auswärtiger Verwicklungen auf die innere Politik betrachtete. Sehr bezeichnend dafür ist auch eine Stelle in der Schrift „Was nun?”, die schon deshalb hierher gehört, weil Lassalles dort entwickelter Vorschlag tatsächlich nur zwei Lösungen zuließ: Entweder Staatsstreich oder Revolution.
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Anknüpfend daran, wie unmöglich und unhaltbar die auswärtige diplomatische Stellung der preußischen Regierung wäre, wenn sein Vorschlag befolgt würde, fährt Lassalle fort: „Daß Keiner von Ihnen, meine Herren, glaube, dies sei ein unpatriotisches Räsonnement. Einmal hat der Politiker, wie der Naturforscher, Alles zu betrachten, was ist, und also alle wirkenden Kräfte in Erwägung zu ziehen. Der Antagonismus der Staaten unter einander, der Gegensatz, die Eifersucht, der Konflikt in den diplomatischen Beziehungen ist einmal eine wirkende Kraft und, gleichviel ob gut oder schlimm, müßte sie hiernach schon unbedingt in Rechnung gezogen werden. Überdies aber, meine Herren, wie oft habe ich Gelegenheit gehabt, in der Stille meines Zimmers bei historischen Studien mir die große Wahrheit auf das Genaueste zu vergegenwärtigen, daß fast garnicht abzusehen wäre, auf welcher Stufe der Barbarei wir, und die Welt im Allgemeinen, noch stehen würden, wenn nicht seit je die Eifersucht und der Gegensatz der Regierungen unter einander ein wirksames Mittel gewesen wäre, die Regierung zu Fortschritten im Innern zu zwingen! Endlich aber, meine Herren, ist die Existenz der Deutschen nicht von so prekärer Natur, daß bei ihnen eine Niederlage ihrer Regierungen eine wirkliche Gefahr für die Existenz der Nation in sich schlösse. Wenn Sie, meine Herren, die Geschichte genau und mit innerem Verständniß betrachten, so werden Sie sehen, daß die Kulturarbeiten, die unser Volk vollbracht hat, so riesenhafte und gewaltige, so bahnbrechende und dem übrigen Europa vorleuchtende sind, daß an der Nothwendigkeit und Unverwüstlichkeit unserer nationalen Existenz garnicht gezweifelt werden kann. Geraten wir also in einen großen äußeren Krieg, so können in demselben wohl unsere einzelnen Regierungen, die sächsische, preußische, bayerische zusammenbrechen, aber wie ein Phönix würde sich aus der Asche derselben unzerstörbar erheben das, worauf es uns allein ankommen kann -- das deutsche Volk!” Es ist in diesen Sätzen sehr viel Richtiges enthalten, doch darf man zweierlei nicht vergessen. Erstens, daß, ein so wichtiger Faktor des Fortschritts der Völker die Rivalität der Regierenden sein kann und unzweifelhaft oft gewesen ist, sie doch auch recht oft als ein Faktor im entgegengesetzten Sinne gewirkt, sich als ein Hemmnis des Fortschritts erwiesen hat. Es sei nur an die beiden Gesichter des heutigen Militarismus erinnert. Zweitens, daß ein äußerer Krieg zwar ein großes Kulturvolk nicht aus der Reihe der Nationen auslöschen, es aber doch so wesentlich in seinen Lebensinteressen schädigen kann, daß er immer eine Sache bleibt, die man in Betracht ziehen, aber auf die man nicht spekulieren soll.
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In dem erwähnten Beispiel tut Lassalle nur das erstere, aber wie der Schlußsatz und seine Briefe zeigen, war er auch zu dem Letzteren sehr geneigt -- eine übrigens weit verbreitete, aber darum nicht minder zu bekämpfende Tendenz. [22] Auf 3428457 selbsttätige Personen in der Landwirtschaft kamen damals in Preußen erst 766180 selbsttätige Personen in der Fabrikindustrie, die Geschäftsleiter und Beamten eingeschlossen. [23] Ursprünglich hatte es in Rodbertus' „Offenem Brief” geheißen: „Und ich wiederhole, daß ich mir auch von den Produktivassoziationen nicht im Geringsten einen Beitrag zu dem verspreche, was man die Lösung der sozialen Frage nennt.” Auf Wunsch Lassalles wurden aber diese Worte beim Druck fortgelassen, da er der Sache nach eine Wiederholung des in dem Brief vorher Gesagten sei, in dieser scharfen Form aber notwendigerweise „die Arbeiter, wenn sie so schroffen Widerstreit zwischen ihren Führern sehen, entmutigen müsse”. (Lassalles Brief an Rodbertus vom 22. April 1863.) Der ökonomische Inhalt des Offenen Antwortschreiben. Das eherne Lohngesetz und die Privatgenossenschaften mit Staatskredit. Das Lohngesetz, auf welches sich Lassalle berief und dem er das Beiwort „ehern” gab, entspricht, wie ich an anderer Stelle[24] nachgewiesen zu haben glaube, einer bestimmten Produktionsmethode -- der Manufakturindustrie -- und einem auf ihr beruhenden Gesellschaftszustande, ist also in der Gesellschaft der modernen Großindustrie, der entwickelten Verkehrsmittel, des beschleunigten Kreislaufes von Krisis, Stockung und Prosperität, der rasch sich vollziehenden Steigerung der Produktivität der Arbeit usw. zum mindesten überlebt. Auch setzt es ein absolut freies Walten von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt voraus, das schon gestört ist, sobald die Arbeiterklasse dem Unternehmertum organisiert gegenübertritt, oder der Staat, bzw. die Gesetzgebung, in die Regelung des Arbeitsverhältnisses eingreifen. Wenn also die Liberalen Lassalle entgegenhielten, sein Lohngesetz stimme nicht, es sei veraltet, so hatte das teilweise seine Berechtigung. Aber nur teilweise. Denn die guten Leute verfielen ihrerseits in viel schlimmere Fehler als Lassalle. Lassalle legte den Ton auf den ehernen Charakter der den Lohn bestimmenden Gesetze, weil er den stärksten Schlag gegen die moderne Gesellschaft damit zu führen meinte, daß er nachwies, der Arbeiter erhalte unter keinen Umständen seinen vollen Arbeitsertrag, den vollen Anteil an dem von ihm erzeugten Produkt. Er gab der Frage einen rechtlichen Charakter, und agitatorisch hat sich das auch höchst wirksam erwiesen. Aber in der Sache selbst traf er damit keineswegs den Kern der Frage.
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Den vollen Ertrag seiner Arbeit hat der Arbeiter auch unter den früheren Produktionsformen nicht erhalten, und wenn ein „ehernes” Gesetz es verhindert, daß der Lohn dauernd unter ein bestimmtes Minimum sinkt, dieses Minimum selbst aber -- wie Lassalle ausdrücklich zugab -- im Laufe der Entwicklung sich zwar langsam hebt, aber doch hebt, so war der Beweis für die Notwendigkeit der von ihm geforderten Einmischung des Staates schwer zu erbringen. Das, worauf es wirklich ankommt, ist von Lassalle erst später, und nur beiläufig, hervorgehoben worden. Nicht die Ablohnung des Arbeiters mit einem Bruchteil des von ihm erzeugten neuen Wertes, sondern diese Ablohnung in Verbindung mit der Unsicherheit der proletarischen Existenz, die Abhängigkeit des Arbeiters von den in wechselnden Zeiträumen einander folgenden Kontraktionen des Weltmarktes, von beständigen Revolutionen der Industrie und der Absatzverhältnisse -- der schreiende Gegensatz zwischen dem immer mehr gesellschaftlich werdenden Charakter der Produktion und ihrer anarchischen Leitung, dabei die wachsende Unmöglichkeit für den einzelnen Arbeiter, aus der doppelten Abhängigkeit vom Unternehmertum und den Wechselfällen des industriellen Zyklus sich zu befreien, die beständige Bedrohung mit dem Hinausgeworfenwerden aus einer Sphäre der Industrie in eine andre, tieferstehende, oder in das Heer der Arbeitslosen -- das ist es, was die Lage der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft so unerträglich macht, sie von der bei jeder vorhergehenden Produktionsweise zum Schlechteren unterscheidet. Die Abhängigkeit des Arbeiters ist mit der scheinbaren Freiheit nur größer geworden. Sie ist es, die mit eherner Wucht auf der Arbeiterklasse lastet, und deren Druck zunimmt mit der wachsenden Entwicklung des Kapitalismus. Die Lohnhöhe dagegen wechselt heute, je nach den verschiedenen Industriezweigen, von buchstäblichen Verhungerungslöhnen bis zu Löhnen, die tatsächlich einen gewissen Wohlstand darstellen, und ebenso ist die Ausbeutungsrate in den verschiedenen Industrien eine sehr verschiedene, teils höher, teils aber auch geringer als in früheren Produktionsepochen. Beide hängen von sehr veränderlichen Faktoren ab, beide wechseln nicht nur von Industrie zu Industrie, sondern sind auch in jeder einzelnen Industrie den größten Veränderungen unterworfen, und beständig ist nur die Tendenz des Kapitals, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, zusätzliche Mehrarbeit auf die eine oder die andere Weise aus dem Arbeiter herauszupressen. Dadurch, daß Lassalle als die wesentliche Ursache der Leiden der Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft eine Tatsache hinstellte, die gar nicht das charakterisierende Merkmal der modernen Produktionsweise ist -- denn, wie gesagt, den vollen Arbeitsertrag hat der Arbeiter zu keiner Zeit erhalten -- war der Hauptfehler seines Abhilfemittels von vornherein angezeigt.
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Es ignoriert, oder, um Lassalle auch nicht Unrecht zu tun, es unterschätzt die Stärke und den Umfang der Gesetze der Warenproduktion und deren wirtschaftliche und soziale Rückwirkungen auf das gesamte moderne Wirtschaftsleben. Wir müssen hier wieder genau unterscheiden zwischen Lassalles Mittel und Lassalles Ziel. Sein Ziel war natürlich, die Warenproduktion aufzuheben, sein Mittel aber ließ sie unangetastet. Sein Ziel war die gesellschaftlich organisierte Produktion, sein Mittel die individuelle Assoziation, die sich von der Schulzeschen zunächst nur dadurch unterschied, daß sie mit Staatskredit, mit Staatsmitteln ausgestattet werden sollte. Alles weitere, der Verband der Assoziationen usw., bleibt bei ihm der freiwilligen Entschließung jener überlassen -- es wird von ihnen erwartet, aber ihnen nicht zur Bedingung gemacht. Der Staat sollte nur Arbeitern, die sich zu assoziieren wünschten, die erforderlichen Mittel dazu auf dem Wege der Kreditgewährung vorstrecken. Die Assoziationen einer bestimmten Industrie würden also, solange sie nicht diese ganze Industrie umfaßten, mit den bestehenden Unternehmungen ihres Produktionszweigs in Konkurrenz zu treten, sich den Bedingungen dieser Konkurrenz zu unterwerfen haben. Damit war als unvermeidliche Folge auch gegeben, daß sich im Schoße der Assoziationen Sonderinteressen herausentwickeln mußten, daß jede Assoziation danach streben mußte, ihren Gewinn so hoch als möglich zu steigern, sei es auch auf Kosten andrer Assoziationen oder andrer Arbeitskategorien. Ob mit Staatskredit oder nicht, die Assoziationen blieben Privatunternehmungen von mehr oder minder großen Gruppen von Arbeitern. Individuelle Eigenschaften, individuelle Vorteile, individuelle Glückschancen mußten daher bei ihnen eine hervorragende Rolle spielen, die Frage von Gewinn und Verlust für sie dieselbe Bedeutung erhalten, wie für andre Privatunternehmungen. Lassalle glaubte zwar erstens -- gestützt darauf, daß 1848 in Paris der Andrang zu den Produktivgenossenschaften sehr stark war --, daß sich sofort mindestens alle Arbeiter bestimmter Industrien an den einzelnen Orten zu je einer großen Assoziation zusammentun würden, und sprach sich zweitens im „Bastiat-Schulze” später sogar dahin aus, daß der Staat in jeder Stadt immer „nur einer Assoziation in jedem besonderen Gewerkszweig den Staatskredit zuteil werden” lassen würde, „allen Arbeitern dieses Gewerkes den Eintritt in dieselbe offen haltend”, aber selbst solche örtlich einheitlich organisierten Assoziationen blieben noch immer in nationaler Konkurrenz. Die nationale Konkurrenz sollte nun zwar durch große Assekuranz- und Kreditverbände der Assoziationen untereinander in ihren ökonomischen Folgen aufgehoben werden; es liegt aber auf der Hand, daß diese Assekuranz ein Unding war, wenn sie nicht einfach ein anderes Wort war für nationale Organisation und nationale Monopolisierung der Industrie.
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Sonst mußte die Überproduktion sehr bald die Assekuranzgesellschaft sprengen. Und die Überproduktion war unvermeidlich, wenn der Staat, wie es oben heißt, allen Arbeitern desselben Gewerkes den Eintritt in die Assoziationen „offen hielt”. Lassalle verwickelte sich da, von seinem sozialistischen Gewissen getrieben, in einen großen Widerspruch. „Den Eintritt offen halten” heißt die Assoziation zur Aufnahme jedes sich meldenden Arbeiters verpflichten. Nach dem „Offenen Antwortschreiben” sollte aber die Assoziation dem Staat gegenüber vollkommen unabhängig sein, ihm nur das Recht der Genehmigung der Statuten und der Kontrolle der Geschäftsführung zur Sicherung seiner Interessen zustehen. Mit obiger Verpflichtung war sie dagegen aus einem unabhängigen in ein öffentliches, d. h. unter den gegebenen Verhältnissen staatliches Institut umgewandelt -- ein innerer Gegensatz, an dem sie unbedingt hätte scheitern müssen. Ein anderer Widerspruch der Lassalleschen Produktivgenossenschaft ist folgender. Solange die Assoziationen nur einen Bruchteil der Angehörigen eines bestimmten Industriezweiges umfaßten, unterstanden sie den Zwangsgesetzen der Konkurrenz, und dies um so mehr, als Lassalle ja gerade die Betriebe fabrikmäßiger Großproduktion im Auge hatte, die zugleich die großen Weltmarktsindustrien bilden. Wo aber Konkurrenz besteht, besteht auch geschäftliches Risiko; die Konkurrenz zwingt den Unternehmer, sei er eine einzelne Person, eine Aktiengesellschaft oder eine Assoziation, sich der Möglichkeit auszusetzen, daß sein Produkt jeweilig als unterwertig -- d. h. als Erzeugnis von nicht gesellschaftlich notwendiger Arbeit -- aus dem Markt geworfen wird. Konkurrenz und Überproduktion, Konkurrenz und Stockung, Konkurrenz und Bankrotte sind in der heutigen Gesellschaft untrennbar. Eine Beherrschung der Produktion durch die Produzenten selbst ist nur möglich nach Maßgabe der Aufhebung der Konkurrenz unter ihnen, nur erreichbar durch das Monopol. Während aber die Konkurrenz in der heutigen Gesellschaft die wichtige Mission hat, die Konsumenten vor Übervorteilung zu schützen und die Produktionskosten beständig zu senken, hat das Monopol umgekehrt die Tendenz, die Konsumenten zugunsten der Monopolinhaber zu überteuern und den Fortschritt der Technik, wenn nicht aufzuheben, so doch zu verlangsamen. Das letztere um so mehr, wenn die beteiligten Arbeiter selbst die Inhaber des Monopols sind. Die Aufhebung des geschäftlichen Risikos für die Assoziationen würde also im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, wenn überhaupt zu verwirklichen, notwendigerweise auf Kosten der Konsumenten vor sich gehen, die jedesmal den betreffenden Produzenten gegenüber die große Mehrheit ausmachen. Zwischen Assoziations- und Gesamtinteresse wäre ein unlösbarer Antagonismus.
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In einem sozialistischen Gemeinwesen wäre das natürlich leicht zu verhindern, aber ein solches wird nicht den Umweg von der subventionierten Produktivgenossenschaft zur Vergesellschaftung der Produktion gehen, sondern die Produktion, auch wenn sie sich dabei der Form der genossenschaftlichen Betriebe bedient, von vornherein auf gesellschaftlicher Grundlage organisieren. In die kapitalistische Gesellschaft verpflanzt, wird gerade die Produktivgenossenschaft dagegen so oder so stets einen kapitalistischen Charakter annehmen. Die Lassalleschen Produktivgenossenschaften würden sich von den Schulze-Delitzschschen nur quantitativ, nicht qualitativ, nur der Größe, nicht dem Wesen nach unterschieden haben. Das letztere war auch die Meinung von Rodbertus, der ein viel zu durchgebildeter Ökonom war, als daß ihm diese schwache Seite der Lassalleschen Assoziationen hätte entgehen können. Wir haben bereits aus dem oben zitierten Brief Lassalles an ihn gesehen, wie schroff Rodbertus sich in seinem „Offenen Brief” über sie hatte äußern wollen, und die auf jenen folgenden Briefe Lassalles an Rodbertus lassen ziemlich deutlich durchblicken, welches der Haupteinwand von Rodbertus war. Noch deutlicher aber geht dies aus den Briefen von Rodbertus an Rudolph Meyer hervor, und es dürfte nicht uninteressant sein, einige der betreffenden Stellen hier folgen zu lassen. Unterm 6. September 1871 schreibt Rodbertus: „... Hieran läßt sich, in weiterem Verfolg, auch nachweisen, daß dasjenige Kollektiveigentum, das die Sozialdemokraten heute verfolgen, das von Agrargemeinden und Produktivgenossenschaften, ein viel schlechteres, zu weit größeren Ungerechtigkeiten führendes Grund- und Kapitaleigentum ist, als das heutige individuelle. Die Arbeiter folgen hier noch Lassalle. Ich hatte ihn aber brieflich überführt, zu welchen Absurditäten und Ungerechtigkeiten ein solches Eigentum ausgehen müsse und (was ihm besonders unangenehm war) daß er gar nicht der Schöpfer dieser Idee sei, sondern sie Proudhons Idée générale de la Révolution entlehnt habe.”[25] Brief vom 24. Mai 1872: „Noch einen dritten Grund allgemeiner Natur habe ich gegen diese Löhnungsart. (Es ist von der Beteiligung am Geschäftsgewinn die Rede.) Sie bleibt entweder eine Gratifikation, wie Settegast mit Recht sagt -- und mit ‚Biergeldern’ wird die soziale Frage nicht gelöst -- oder sie entwickelt sich auch zu einem Anrecht in Leitung des Betriebs und damit schließlich zu einem Kollektiveigentum am Einzelbetriebsfonds. Dies Kollektiveigentum liegt aber nicht auf dem sozialen Entwicklungswege.
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Der Beweis würde mich zu weit führen, aber so weit hatte ich Lassalle denn doch schon in unserer Korrespondenz getrieben, daß er mir in einem seiner letzten Briefe schrieb: ‚Aber, wer sagt Ihnen denn, daß ich will, daß der Produktivassoziation der Fonds zum Betriebe _gehören_ soll!’ (sic!) Es geht auch einfach nicht! Das Kollektiveigentum der Arbeiter an den einzelnen Betrieben wäre ein weit übleres Eigentum, als das individuale Grund- und Kapitaleigentum oder selbst das Eigentum einer Kapitalistenassoziation.” ... Eine Stelle wie die hier zitierte findet sich in keinem der zur Veröffentlichung gelangten Briefe Lassalles an Rodbertus. Es ist aber kaum anzunehmen, daß Rodbertus sich so bestimmt ausgedrückt haben würde, wenn er den Wortlaut nicht vor sich gehabt hätte. Möglich, daß er gerade diesen Brief später verlegt hat. Kein triftiger Grund spricht nämlich dagegen, daß Lassalle sich nicht in der Tat einmal so ausgedrückt haben sollte. In allen Lassalleschen Reden ist vielmehr von den Zinsen die Rede, welche die Assoziationen dem Staat für das vorgeschossene Kapital zu zahlen hätten. Es liegt also in dem Satz noch nicht einmal ein Zugeständnis an den Rodbertusschen Standpunkt. Ein solches, und zwar ein so starkes, daß es zugleich in eine -- unbeabsichtigte -- Verurteilung der Produktivassoziationen umschlägt, findet sich dagegen in dem Brief Lassalles an Rodbertus vom 26. Mai 1863. Dort heißt es: „Dagegen ist ja so klar wie die Sonne, daß, wenn dem Arbeiter Boden, Kapital und Arbeitsprodukt gehört[26], von einer Lösung der sozialen Frage nicht die Rede sein kann. Dasselbe Resultat wird sich also auch annähernd herausstellen, wenn ihm Boden und Kapital zur Benutzung geliefert wird und ihm das Arbeitsprodukt gehört. Bei der ländlichen Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben. Bei der industriellen Assoziation wird er in der Regel mehr erhalten als seinen Arbeitsertrag. Alles dieses weiß ich genau und würde es, wenn ich mein ökonomisches Werk schreibe, sehr explizit nachweisen.” Im nächsten Brief erklärt Lassalle, da Rodbertus entweder den Sinn der vorstehenden Sätze nicht genau verstanden hatte oder Lassalle in die Enge jagen wollte, sich noch deutlicher. Er schreibt (einen hier gleichgültigen Zwischensatz lasse ich fort): „Meine Äußerung: ‚bei der ländlichen Assoziation wird dann der Arbeiter entweder mehr oder weniger als sein Arbeitsprodukt haben’, ist jedenfalls in bezug auf das ‚mehr’ doch leicht zu verstehen. Ich verstehe gar nicht die Schwierigkeit, die in bezug auf diesen Satz stattfinden könnte.
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Die Assoziationen auf den besser beschaffenen oder besser gelegenen usw. Äckern würden doch zunächst gerade so Grundrente beziehen, wie jetzt die Einzelbesitzer derselben. Und folglich mehr als ihren wirklichen Arbeitsertrag, Arbeitsprodukt, haben. Allein schon daraus allein, daß einer in der Gesellschaft mehr hat als sein legitimes Arbeitsprodukt, folgt, daß ein andrer weniger haben muß, als bei der legitimen Verteilung des Arbeitsertrages, wie wir uns dieselbe übereinstimmend (vgl. den Schluß Ihres dritten sozialen Briefes) denken, auf die Vergütung seiner Arbeit kommen würde. Genauer: Was ist mein legitimes Arbeitsprodukt (im Sinne der endgültigen Lösung der sozialen Frage, also im Sinne der ‚Idee’, die ich hier immer als Norm und Vergleichungsmaßstab bei dem ‚mehr oder weniger’ unterstelle)? Ist es das Produkt, das ich ländlich oder industriell unter beliebigen Verhältnissen individuell hervorbringen kann, während ein anderer unter günstigeren Verhältnissen mit derselben Arbeit mehr, ein Dritter unter noch ungünstigeren mit derselben Arbeit weniger erzeugt? Doch nicht! Sondern mein Arbeitsprodukt wäre der Anteil an der gesamten gesellschaftlichen Produktivität, der bestimmt wird durch das Verhältnis, in welchem mein Arbeitsquantum zum Arbeitsquantum der gesamten Gesellschaft steht. Nach dem Schluß Ihres dritten sozialen Briefes können Sie das unmöglich bestreiten. Und folglich haben, solange die Arbeiter der einen Assoziation Grundrente beziehen, die Arbeiter der andern, die nicht in diesem Fall sind, weniger als ihnen zukommt, weniger als ihr legitimes Arbeitsprodukt.” Soweit Lassalle. Ein Mißverständnis ist hier gar nicht mehr möglich. Die „Idee”, welche Lassalle bei dem „mehr oder weniger” unterstellt, ist die kommunistische, die das gesamte Arbeitsprodukt der Gesellschaft und nicht den individuellen Arbeitsertrag des einzelnen oder der Gruppe ins Auge faßt, und Lassalle war sich durchaus dessen bewußt, daß, solange der letztere den Verteilungsmaßstab bildet, ein Bruchteil der Bevölkerung mehr, der andere aber notwendigerweise weniger erhalten werde als ihm auf Grund des von ihm verrichteten Anteils an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, bei gerechter Verteilung, zukommen sollte, d. h. daß die Assoziationen zunächst eine neue Ungleichheit schaffen würden. Gerade mit Rücksicht darauf habe er, so behauptet Lassalle immer wieder, bei Entwicklung seines Vorschlages das Wort „Lösung der sozialen Frage” sorgfältig vermieden -- „nicht aus praktischer Furchtsamkeit und Leisetreterei, sondern aus jenen theoretischen Gründen”. Im weiteren Verlauf des Briefes entwickelt Lassalle, daß die Ungleichheit bei den ländlichen Assoziationen durch eine differenzierende Grundsteuer leicht beseitigt werden könne, welche „die ganze Grundrente abolieren, d. h.
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in die Hände des Staats bringen, den Arbeitern nur den wirklich gleichmäßigen Arbeitsertrag lassen” soll -- die Grundrente im Sinne Ricardos genommen[27]. Die Grundsteuer würde die Bezahlung bilden für die Überlassung der Bodenfläche an die assoziierten Arbeiter und -- wie es bei Lassalle heißt -- „schon aus Gerechtigkeit und Neid” von den ländlichen Assoziationen „leidenschaftlich begünstigt werden”. Der Staat aber hätte an dieser Grundrente die Mittel, Schulunterricht, Wissenschaft, Kunst, öffentliche Ausgaben aller Art zu bestreiten. Bei den industriellen Assoziationen solle sich die Ausgleichung dagegen dadurch vollziehen, daß sobald die Assoziationen jeder einzelnen Branche sich zu je einer großen Assoziation zusammengezogen haben, der private Zwischenhandel aufhören und der Verkauf in vom Staat angelegten Verkaufshallen besorgt werden würde. „Würde hiermit nicht zugleich getötet werden, was man heut Überproduktion und Handelskrise nennt?” Der Gedanke der Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Grundrente[28] ist ein durchaus rationeller, d. h. er enthält keinen Widerspruch in sich. Es ist auch sogar meines Erachtens sehr wahrscheinlich, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwicklung irgendwie verwirklicht werden wird. Die Idee der Zusammenziehung der Assoziationen ist dagegen nur ein frommer Wunsch, der in Erfüllung gehen kann, aber nicht notwendigerweise in Erfüllung zu gehen braucht, solange die Teilnahme ins Belieben der einzelnen Assoziationen gestellt wird. Und selbst wenn sie in Erfüllung ginge, würde damit noch durchaus nicht schlechthin verhindert sein, daß die Mitglieder der einzelnen Assoziation nicht in ihrem Anteil an deren Ertrage eine größere oder unter Umständen geringere Quote des gesellschaftlichen Gesamtprodukts erhalten, als ihnen auf Grund der geleisteten Arbeitsmenge zukäme. Es stände immer wieder Assoziationsinteresse gegen Gesamtinteresse. Hören wir noch einmal Rodbertus. Im Brief an Rudolph Meyer vom 16. August 1872 nimmt er auf einen Artikel des „Neuen Sozialdemokrat” Bezug, wo ausgeführt war, daß Lassalle der „weitgehendsten Richtung des Sozialismus” angehört habe, und meint, das sei wohl richtig, es sei „aber auch ebenso richtig, daß Lassalle und der (Neue) ‚Sozialdemokrat’ ursprünglich eine Produktivassoziation angestrebt haben, wie Schulze-Delitzsch sie wollte, nämlich in welcher der Kapitalgewinn den Arbeitern selbst gehören sollte, nur daß Schulze-Delitzsch wollte, sie sollten sich das Kapital selbst dazu sparen, und Lassalle wollte, der Staat, auch der heutige, sollte es ihnen liefern (ob leihen oder schenken, ist wohl nicht ganz klar). Aber eine Produktivassoziation, die den Kapitalgewinn einsackt, setzt ja das Kapitaleigentum, das ‚Gehören’ voraus.
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Wie soll also jene ‚weitgehendste Richtung’ mit einer solchen Assoziation vermittelt werden können?” Rodbertus geht nun auf die Frage ein, ob die Produktivassoziation als „provisorische Institution” gedacht werden könne, und fährt nach einigen allgemeinen Bemerkungen fort: „Genug, die Produktivassoziation, die Lassalle und der ‚Sozialdemokrat’ in der Tat angestrebt, kann auch nicht einmal als Übergangszustand zu jenem ‚weitgehendsten’ Ziele dienen, denn, der menschlichen Natur gemäß, würde er nicht zu allgemeiner Brüderlichkeit, sondern zu dem schärfsten Korporationseigentum zurückführen, in welchem nur die Personen der Besitzenden gewechselt hätten, und das sich tausendmal verhaßter machen würde, als das heutige individuale Eigentum. Der Durchgang von diesem zu dem allgemeinen Staatseigentum kann eben niemals das Korporations- oder auch Kollektiveigentum sein (es kommt ziemlich über eins heraus); weit eher ist gerade das individuale Eigentum der Übergang vom Korporationseigentum zum Staatseigentum. Und hierin liegt die Konfusion der Sozialdemokraten (und lag die Lassalles), nämlich bei jenem weitgehendsten Ziel (das auch bei Lassalle noch kein praktisches Interesse erregen sollte) doch die Produktivassoziation mit Kapitalgewinn und also auch Kapitaleigentum zu verlangen. Niemals sind also die Pferde mehr hinter den Wagen gespannt worden, als von den Berliner Sozialdemokraten (und ihrem Führer Lassalle, insofern er ebenfalls jenes ‚weitgehendste’ Ziel anstrebte) und das weiß Marx sehr gut.” (Briefe usw. von Rodbertus-Jagetzow.) Ich habe Rodbertus so ausführlich sprechen lassen, weil er Lassalle vielleicht am objektivsten gegenüberstand und in seiner Auffassung vom Staat usw. sehr viel Berührungspunkte mit Lassalle hatte, auch wohl niemand so eingehend mit Lassalle über die Produktivgenossenschaften diskutiert hat, wie er. Ganz unbefangen ist sein Urteil freilich auch nicht, da er bekanntlich seine eigene Theorie von der „Lösung der sozialen Frage” hatte, nämlich den Normalwerksarbeitstag und den verhältnismäßigen Arbeitslohn. Aber den schwachen Punkt in der Lassalleschen Assoziation hat er in der Hauptsache richtig bezeichnet, wenn er sagt, daß diese die Pferde hinter den Wagen spannt. Lassalle wollte die Vergesellschaftung der Produktion und der Produktionsmittel, und weil er es für unzeitgemäß hielt, das dem „Mob” -- worunter er den ganzen Troß der Gedankenlosen aller Parteien verstand -- bereits zu sagen, den Gedanken selbst aber in die Massen schleudern wollte, stellte er das ihm ungefährlicher scheinende Postulat der Produktivgenossenschaft mit Staatskredit auf. Er beging damit denselben Fehler, den er in seinem Aufsatz über Franz von Sickingen als die tragische Schuld Sickingens hingestellt hatte, er „listete” mit der „Idee”, wie es in jenem Aufsatz heißt, und täuschte die Freunde mehr, als die Feinde.
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Aber er tat es, wie Sickingen, im guten Glauben. Wenn Lassalle wiederholt gegenüber Rodbertus erklärt hat, er sei bereit, auf die Assoziationen zu verzichten, sobald jener ihm ein ebenso leichtes und wirksames Mittel zum gleichen Zweck zeige, so darf man daraus nicht den Schluß ziehen, daß Lassalle nicht von der Güte seines Mittels durchaus überzeugt war. Solche Erklärungen pflegt jeder abzugeben, und kann sie um so eher abgeben, je mehr er seiner Sache sicher zu sein glaubt. Und wie sehr dies bei Lassalle der Fall, zeigt seine letzte Äußerung in bezug auf die Assoziationen Rodbertus gegenüber: „Kurz, ich begreife nicht, wie man nicht sehen könnte, daß die Assoziation, vom Staat ausgehend, der organische Entwicklungskeim ist, der zu allem weiteren führt.” -- Er ist also unbedingt von dem Vorwurf freizusprechen, mit dieser Forderung den Arbeitern etwas empfohlen zu haben, von dessen Richtigkeit er nicht durchdrungen war, ein Vorwurf, der viel schwerwiegender wäre, als der eines theoretischen Irrtums. Lassalle glaubte, daß in dem Mittel der Assoziationen mit Staatskredit der Zweck, dem diese dienen sollten, nämlich die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft, in seinen wesentlichen Grundzügen bereits enthalten, daß hier in der Tat -- worauf er so großes Gewicht legte -- „das Mittel von der eignen Natur des Zweckes ganz und gar durchdrungen” sei. Nun ist ja auch tatsächlich die Assoziation im kleinen ein Stück Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaftlichkeit, und die Forderung der Staatshilfe eine Anwendung des Gedankens, die Staatsmaschinerie als Mittel der ökonomischen Befreiung der Arbeiterklasse in Anspruch zu nehmen, sowie zugleich ein Mittel, den Zusammenhang mit dem großen Ganzen, der bei der Schulzeschen Assoziation verlorenging, möglichst zu bewahren. Bis soweit kann man Lassalle nicht nur keinen Vorwurf machen, sondern muß vielmehr die Einheitlichkeit des Gedankens bei ihm im höchsten Grade anerkennen. Wir haben gesehen, welche Auffassung er vom Staat hatte, wie dieser für ihn nicht der jeweilige politische Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zustände war, sondern die Verwirklichung eines ethischen Begriffs, der durch jeweilige historische Einflüsse zwar beeinträchtigt, dessen ewige „wahre Natur” aber nicht aufgehoben werden kann. Bei solcher Auffassung ist es aber nur folgerichtig, in der Forderung der Staatshilfe mehr als eine bloße praktische Maßregel zu erblicken und ihr, wie Lassalle dies getan, als einem fundamentalen Prinzip des Sozialismus, eine selbständige prinzipielle Bedeutung zuzuschreiben[29]. Und ebenso steht die Forderung der Produktivgenossenschaften in engster Ideenverbindung mit Lassalles Theorie des ehernen Lohngesetzes. Sie fußt auf denselben ökonomischen Voraussetzungen.
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Kurz, es ist hier alles, möchte ich sagen, aus einem Guß. Aber es genügt noch nicht, daß Lassalle an die Richtigkeit seines Mittels glaubte, um es zu rechtfertigen, daß er über sein Ziel sich so unbestimmt wie nur möglich äußerte. Er, der in dem schon zitierten Aufsatz über den „Franz von Sickingen” so trefflich dargelegt hatte, welche Gefahr darin liegt, „die wahren und letzten Zwecke der Bewegung andern (‚und beiläufig eben dadurch häufig sogar sich selbst’) geheim zu halten”, der in diesem Geheimhalten bei Sickingen dessen „sittliche Schuld” erblickt hatte, die seinen Untergang herbeiführen mußte, den Ausfluß eines Mangels an Zutrauen in die Macht der von ihm vertretenen Idee, ein „Abweichen von seinem Prinzip”, ein „halbes Gebrochensein” -- er gerade zuletzt hätte sich darauf verlegen dürfen, die Bewegung auf ein Mittel, statt auf den wirklichen Zweck zuzuspitzen. Die Entschuldigung, daß man diesen Zweck dem „Mob” noch nicht sagen durfte, oder daß die Massen für ihn noch nicht zu gewinnen waren, trifft nicht zu. Waren die Massen für das wirkliche Ziel der Bewegung noch nicht zu interessieren, so war diese überhaupt verfrüht und dann konnte auch das Mittel, selbst wenn erlangt, nicht zum Ziele führen. In den Händen einer Arbeiterschaft, die ihre weltgeschichtliche Mission noch nicht zu begreifen vermag, konnte das allgemeine Wahlrecht mehr schaden als nützen und mußten die Produktivgenossenschaften mit Staatskredit nur der bestehenden Staatsgewalt zugute kommen, ihr Prätorianer liefern. War aber die Arbeiterschaft entwickelt genug, das Ziel der Bewegung zu begreifen, dann mußte dieses auch offen ausgesprochen werden. Es brauchte damit noch nicht als unmittelbares, über Nacht zu verwirklichendes Ziel hingestellt zu werden, aber nicht nur der Führer, sondern auch jeder der Geführten mußte wissen, welchem Ziel das Mittel galt, und daß es nichts als Mittel zu diesem Ziele war. Die Masse wäre dadurch nicht mehr vor den Kopf gestoßen worden, als es durch den Kampf um das Mittel selbst geschah. Lassalle weist selbst darauf hin, wie fein der Instinkt der herrschenden Klassen ist, wenn es sich um ihre Existenz handelt. „Individuen,” sagt er in dieser Beziehung mit Recht, „sind zu täuschen, Klassen niemals.” Wem das im Vorstehenden Ausgeführte doktrinär erscheint, der sei auf die Geschichte der Bewegung unter und nach Lassalle verwiesen. Und damit will ich zum Schluß auf dieses Thema übergehen.
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Fußnoten: [24] „Neue Zeit”, Jahrgang 1890/91: „Zur Frage des ehernen Lohngesetzes.” Die so betitelte Abhandlung ist von mir später gesondert in das Buch „Zur Theorie des Lohngesetzes und Verwandtes” (erster Teil der Sammelschrift „Zur Theorie und Geschichte des Sozialismus”, Berlin, Ferd. Dümmler) übernommen worden. [25] Proudhon selbst hatte die Produktivassoziation Louis Blanc „entlehnt” -- richtiger, Louis Blancs Assoziationsplan in seiner Weise umgearbeitet. Lassalles Vorschlag nimmt eine Mittelstellung zwischen Louis Blancs und Proudhons Vorschlägen ein; mit dem ersteren hat er die Staatshilfe, mit dem letzteren die Selbständigkeit der Assoziation gemein. [26] In der von Prof. Ad. Wagner besorgten Ausgabe der Lassalleschen Briefe heißt es „nicht gehört”. Das „nicht” beruht aber, wie sich im folgenden zeigt, auf einem Druckfehler. Es fehlt auch in dem Abdruck des Briefes bei Rudolph Meyer (vgl. a. a. O. S. 463). [27] D. h. als der Überschuß des Bodenertrags über einen gewissen Mindestsatz, unter dem Boden überhaupt nicht bewirtschaftet wird, weil er nicht einmal vollwertige Bezahlung für die in ihn gesteckte Arbeit abwirft. [28] Hier nicht zu verwechseln mit den Vorschlägen von Henry George, Flürscheim usw., da Lassalle die allgemeine Verwirklichung der Assoziationen voraussetzt, ohne welche, wie wir früher gesehen haben, jede Steuerreform nach seiner Ansicht am ehernen Lohngesetz scheitern müßte. [29] Auch war es bei solcher Auffassung nur logisch, wenn Lassalle z. B. in seiner Leipziger Rede „Zur Arbeiterfrage” den sogenannten Manchestermännern u. a. schon daraus einen Vorwurf machte, daß sie, wenn sie könnten, den Staat „untergehen lassen würden in der Gesellschaft”. Tatsächlich liegt das Bezeichnende jedoch darin, daß die Manchestermänner den Staat in der kapitalistischen Gesellschaft untergehen lassen wollen. Gründung und Führung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Die Einzelheiten der Lassalleschen Agitation können hier nicht dargestellt werden, soll diese Schrift nicht den Umfang eines ganzen Werkes annehmen; ich muß mich vielmehr darauf beschränken, vorderhand nur die allgemeinen Züge der Bewegung hervorzuheben. Das „Offene Antwortschreiben” hatte zunächst nur zum Teil die Wirkung, die Lassalle sich von ihm versprach. Wohl durfte er an Gustav Levy in Düsseldorf und andere schreiben: „Das Ganze liest sich mit solcher Leichtigkeit, daß es dem Arbeiter sofort sein muß, als wüßte er es schon jahrelang!” Die Schrift war wirklich ein agitatorisches Meisterwerk, sachlich und doch nicht trocken, beredt, ohne ins Phrasenhafte zu verfallen, voller Wärme und zugleich mit scharfer Logik geschrieben.
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Aber -- die Arbeiter lasen sie vorerst überhaupt nicht; nur wo der Boden bereits vorbereitet war, schlug sie in den Reihen der Arbeiterschaft ein. Dies war der Fall, wie wir gesehen haben, in Leipzig, desgleichen in Frankfurt a. M., in einigen größeren Städten und Industrieorten am Rhein und in Hamburg. Teils hatten zurückgekehrte politische Flüchtlinge eine sozialistische Propaganda im kleinen entfaltet, teils lebten, wie namentlich am Rhein, die Traditionen der sozialistischen Propaganda aus der Zeit vor und während der 1848 er Revolution wieder auf. Aber das Gros der Arbeiter, die an der politischen Bewegung teilnahmen, blieb auf längere Zeit hinaus noch von dem ergangenen Appell unberührt und betrachtete Lassalle mit denselben Augen wie die meisten Führer der Fortschrittspartei -- als einen Handlanger der Reaktion. Was nämlich die Fortschrittspartei in Preußen und außerhalb Preußens anbetrifft, so hatte bei dieser allerdings das „Antwortschreiben” einen wahren Sturm erregt -- nämlich einen wahren Sturm der Entrüstung, der leidenschaftlichen Erbitterung. Sie waren sich so groß vorgekommen, so erhaben in ihrer Eigenschaft als Ritter der bedrohten Volksrechte, und nun wurde ihnen plötzlich von links her zugerufen, daß sie keinen Anspruch auf diesen Titel, daß sie sich des Vertrauens, das ihnen das Volk bisher entgegengebracht, unwürdig erwiesen hätten und daß daher jeder, der es mit der Freiheit aufrichtig meine, insbesondere jeder Arbeiter, ihnen den Rücken zu kehren habe. Eine solche Beschuldigung verträgt keine kämpfende Partei, am allerwenigsten, wenn sie sich in einer Situation befindet, wie damals die Fortschrittspartei. Die Feindseligkeiten zwischen ihr und der preußischen Regierung hatten allmählich einen Höhegrad erreicht, daß eine gewaltsame Lösung des Konfliktes fast unvermeidlich schien, jedenfalls mußte man sich auf das Äußerste gefaßt machen. Auf die Deduktionen der Regierungsorgane, daß die Fortschrittspartei gar nicht das wirkliche Volk hinter sich habe, hatte diese bisher mit Hohn und Spott antworten können, das Volk, das politisch denke, stehe einmütig hinter ihr, und in dieser Zuversicht hatte sie eine immer drohendere Sprache geführt. Denn wenn die Fortschrittler auch keine große Lust hatten, Revolution zu machen, an Drohungen mit ihr ließen sie es darum doch nicht fehlen[30]. Und gerade in einem solchen Augenblick sollte man sich von einem Manne, der als Demokrat, als Gegner der Regierung auftrat, vorwerfen lassen, man habe die Sache des Volkes preisgegeben, ruhig mitansehen, wie dieser Mensch die Arbeiter unter einem neuen Banner um sich zu scharen suchte? Das hieß ihnen Unmenschliches zumuten.
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Schon der Selbsterhaltungstrieb gebot den Fortschrittlern ihr Möglichstes zu versuchen, die Lassallesche Agitation nicht aufkommen zu lassen, und die nachträgliche Kritik hat es daher nur mit dem Wie dieser Gegenwehr zu tun, nicht mit der Tatsache selbst, die zu begreiflich ist, um zu irgendwelcher Betrachtung Anlaß zu bieten. Die Art der Gegenwehr nun kann kaum anders bezeichnet werden, als mit dem Wort: kläglich. Daß die Fortschrittler Lassalle als einen Handlanger der Reaktion hinstellten, ist eigentlich noch das geringste, was ihnen zum Vorwurf gemacht werden könnte. Denn es läßt sich nun einmal nicht bestreiten, daß Lassalles „Antwortschreiben” zunächst Wasser auf die Mühle der preußischen Regierung sein mußte. Statt sich aber darauf zu beschränken, Lassalle in denjenigen Punkten entgegenzutreten, in denen sie eine starke Position, oder, wie die Engländer es nennen, „einen starken Fall” ihm gegenüber hatten, bissen sie gerade auf diejenigen seiner Angriffe an, die sie bei ihrer schwachen Seite trafen, und entwickelten dabei eine geistige Ohnmacht, die in ihrer Hilflosigkeit hätte Mitleid erregen können, wenn sie nicht zugleich mit einer so riesigen Dosis von Selbstüberhebung gepaart gewesen wäre. Lassalles einseitiger Staatsidee setzten sie eine bis ins Abgeschmackte getriebene Verleugnung aller sozialpolitischen Aufgaben des Staats gegenüber, seinem, wie wir gesehen haben, auf zum Teil unrichtigen Voraussetzungen beruhenden ehernen Lohngesetz die platteste Verherrlichung der bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. In ihrer blinden Wut vergaßen sie so sehr alle Wirklichkeit, alles, was sie selbst früher in bezug auf die nachteiligen Wirkungen der kapitalistischen Produktion geschrieben hatten, daß sie durch die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen selbst die Übertreibungen Lassalles rechtfertigten. Aus kleinbürgerlichen Gegnern des Kapitalismus wurden die Schulze-Delitzsch und Genossen über Nacht zu dessen Lobrednern. Man vergleiche nur die im ersten Abschnitt dieser Schrift (S. 18 ff.) gegebenen Auszüge aus der 1858 erschienenen Schrift des ersteren mit den Ausführungen Schulzes in seinem „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” -- eine Zusammenstellung von sechs Vorträgen, die letzten davon bestimmt, Lassalle vor den Berliner Arbeitern kritisch zu vernichten. Während dort es als eine der schönsten Wirkungen der selbsthilflerischen Assoziationen bezeichnet wurde, daß sie den Unternehmergewinn herunterdrücken hülfen, heißt es hier, daß „die Wissenschaft ein solches Ding wie Unternehmergewinn” gar nicht kenne und also auch natürlich keinen Gegensatz zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn. Sie kenne nur „a) Unternehmerlohn und b) Kapitalgewinn” (vgl. Schulze-Delitzsch, Kapitel S. 153). Gegenüber solcher „Wissenschaft” brauchte man nicht einmal ein Lassalle zu sein, um mit ihr fertig zu werden.
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Aber trotz seiner geistigen Überlegenheit, trotz seiner packenden Rhetorik hatte Lassalle doch den Fortschrittlern gegenüber nicht den Erfolg, auf den er gerechnet hatte. Von einer Wirkung des „Offenen Antwortschreibens” gleich der der von Luther an die Wittenberger Schloßkirche genagelten Thesen -- wie sie Lassalle sich laut dem bereits erwähnten Schreiben an seinen Freund Levy versprach -- konnte zunächst auch nicht entfernt die Rede sein. Am 19. Mai 1863 hatte Lassalle in Frankfurt a. M., nachdem er zwei Tage vorher auf dem dort abgehaltenen „Arbeitertag des Maingaues” eine vierstündige Rede gehalten, in einer zum Abschluß derselben anberaumten Volksversammlung die Annahme einer Resolution durchgesetzt, wonach sich die Anwesenden verpflichteten, für das Zustandekommen eines allgemeinen deutschen Arbeitervereins im Sinne Lassalles zu wirken, und am 23. Mai 1863 ward alsdann in Leipzig, in Anwesenheit von Delegierten aus 11 Städten (Hamburg, Harburg, Köln, Düsseldorf, Mainz, Elberfeld, Barmen, Solingen, Leipzig, Dresden und Frankfurt a. M.), der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein” gegründet, auf Grund von Statuten, die Lassalle im Verein mit dem ihm befreundeten demokratischen Fortschrittsabgeordneten Ziegler ausgearbeitet hatte. Gemäß diesen Statuten war die Organisation eine streng zentralistische, was sich zum Teil durch die deutschen Vereinsgesetze, zum Teil durch den Umstand erklärt, daß ursprünglich auch an die Gründung eines allgemeinen Arbeiterversicherungsverbandes gedacht worden war. Der Plan war fallen gelassen worden, aber Lassalle behielt trotzdem die Bestimmungen der Statuten bei, die sich lediglich auf ihn bezogen hatten, so namentlich die persönlicher Spitze und die geradezu diktatorischen Vollmachten für die Person des Präsidenten, der obendrein auf fünf Jahre unabsetzbar sein sollte. Es machten sich zwar bereits auf dieser ersten konstituierenden Versammlung Anzeichen einer Opposition gegen solche Präsidialgewalt bemerkbar, aber sie konnte gegenüber Lassalles ausgesprochenem Wunsch auf unveränderte Annahme der Statuten nicht durchdringen. Mit allen gegen eine Stimme (York aus Harburg) wurde Lassalle zum Präsidenten erwählt, und nachdem man ihm noch die Befugnis zugestanden, so oft und auf so lange als er wollte, einen Vizepräsidenten zu ernennen, nahm er nach einigem Zaudern die Wahl an. Er war somit anerkannter Führer der neuen Bewegung; diese selbst aber blieb auf längere Zeit hinaus noch auf eine geringe Anhängerschaft beschränkt. Drei Monate nach der Gründung betrug die Mitgliederzahl des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins kaum 900. An sich wäre das ein gar nicht zu verachtender Anfang gewesen, aber Lassalle hatte auf ganz andere Zahlen gerechnet. Er wollte nicht der Leiter einer Propagandagesellschaft, sondern der Führer einer Massenbewegung sein.
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Die Massen aber blieben der neuen Organisation fern. Lassalle war eine bedeutende Arbeitskraft, er konnte zeitweise eine wahrhafte Riesenarbeit leisten; aber was ihm nicht gegeben war, das war das stetige, solide, ausdauernde Schaffen. Der Verein war noch nicht sechs Wochen alt, da trat der neue Präsident bereits eine mehrmonatige Erholungsreise an -- zunächst in die Schweiz, dann an die Nordsee. Freilich blieb Lassalle auch unterwegs nicht untätig. Er unterhielt eine rege Korrespondenz, suchte alle möglichen Größen für den Verein zu gewinnen, wobei er übrigens nicht sehr wählerisch vorging, aber gerade das, worauf es ankam: die Agitation unter den Massen, ließ er ruhen. Ferner sorgte er unbegreiflicherweise nicht einmal dafür, daß der Verein wenigstens ein ordentliches Wochenblatt zur Verfügung hatte, obwohl es ihm an den Mitteln dazu nicht fehlte. Er begnügte sich mit gelegentlichen Subventionen an Blätter, wie den in Hamburg von dem alten Freischärler Bruhn herausgegebene „Nordstern” und den in Leipzig von einem Eigenbrödler, Dr. Ed. Löwenthal, herausgegebene „Zeitgeist”, womit diese Blätter zeitweise über Wasser gehalten wurden, ohne jedoch deshalb aufzuhören beständig zwischen Leben und Sterben zu schweben. Wie die Masse der Arbeiter, so blieben auch die meisten der vorgeschrittenen Demokraten und Sozialisten aus den bürgerlichen Kreisen, an die sich Lassalle mit Einladungen zum Beitritt wandte, dem Verein fern. Ein großer Teil dieser Leute war, wie bereits erwähnt, stark verphilistert oder doch auf dem besten Wege zum Philisterium, andere wurden durch ein unbestimmtes persönliches Mißtrauen gegen Lassalle davon abgehalten, sich öffentlich für ihn zu erklären, wieder andere hielten den Zeitpunkt für sehr ungeeignet, die Fortschrittspartei von links her zu attackieren. Und selbst diejenigen, die dem Verein beitraten, ließen es meist bei der einfachen Mitgliedschaft bewenden und verhielten sich im übrigen durchaus passiv. Dafür agitierten zwar andere Mitglieder des Vereins, ganz besonders die aus der Arbeiterklasse hervorgegangenen, um so eifriger, und der Sekretär des Vereins, Jul. Vahlteich, entwickelte eine geradezu fieberhafte Tätigkeit Anhänger für den Verein zu werben, aber die Erfolge entsprachen durchaus nicht den Anstrengungen. Auf der einen Seite erwies sich die Gleichgültigkeit der unentwickelten Masse der Arbeiter, auf der andern die das Interesse des Augenblicks absorbierende nationale Bewegung in Verbindung mit dem Verfassungskampf in Preußen als ein fast unübersteigbares Hindernis, so daß an verschiedenen Orten die Mitglieder des Vereins bereits lebhaft die Frage diskutierten, ob man nicht durch Anziehungsmittel unpolitischer Natur, Gründung von Unterstützungskassen usw., das Werbegeschäft fördern solle.
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Lassalle selbst war einen Augenblick geneigt, auf die Diskussion dieser Frage einzugehen -- vgl. seinen Brief vom 29. August 1863 an den Vereinssekretär (zitiert bei B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation usw. S. 83) --, er kam aber wieder davon ab, weil er einsah, daß der Verein damit notwendigerweise seinen Charakter ändern mußte. Er würde aufgehört haben, eine jederzeit disponible politische Maschine abzugeben, und nur als eine solche hatte er in den Augen Lassalles Wert. Noch in den Bädern entwarf Lassalle die Grundgedanken einer Rede, mit der er bei seiner Rückkehr die Agitation wieder aufnehmen wollte, und zwar zunächst am Rhein, wo der Boden sich ihm am günstigsten erwiesen hatte. Es ist dies die Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag”. Diese Rede, die Lassalle in den Tagen vom 20. bis 29. September 1863 in Barmen, Solingen und Düsseldorf hielt, bezeichnet den Wendepunkt in seiner Agitation. Welche Einflüsse während der Sommermonate auf ihn eingewirkt hatten, wird wohl kaum festgestellt werden können, indes wird man nicht fehlgehen, wenn man auf die Gräfin Hatzfeldt und ihre Verbindungen schließt. Die Hatzfeldt hatte begreiflicherweise fast ein noch größeres Streben, Lassalle vom Erfolg emporgehoben zu sehen, als dieser selbst; für sie ging das Interesse am Sozialismus vollständig auf im Interesse an Lassalle, durch dessen Vermittlung sie überhaupt erst zum Sozialismus gekommen war. Sie wurde auch sicherlich nur durch ihre große Zuneigung zu Lassalle getrieben, wenn sie ihm zu Schritten riet, die wohl versprachen, seinem persönlichen Ehrgeiz Befriedigung zu verschaffen, die aber die Bewegung selbst im höchsten Grade kompromittieren konnten. Für sie war eben die Bewegung Lassalle und Lassalle die Bewegung, sie betrachtete die Dinge meist durch die Brille der vermeintlichen Interessen Lassalles. Solche uneigennützigen Freunde sind indessen in der Regel von sehr zweifelhaftem Wert. Sind sie aber obendrein noch durch Erziehung, Lebensstellung usw. in besonderen Klassenvorurteilen befangen und haben sie keinen eigenen selbständigen Wirkungskreis, so wirkt ihre Fürsorge zuweilen schlimmer als Gift. Sie bestärken den Gegenstand ihrer Liebe in allen seinen Fehlern und Schwächen, sie reizen beständig seine Empfindlichkeit, indem sie ihn auf jedes Unrecht aufmerksam machen, das ihm scheinbar geschehen; mehr als der Beleidigte selbst verzehren sie sich im Durst nach Rache für dieses Unrecht, sie hetzen und schüren und intrigieren -- alles in bester Absicht, aber zum größten Schaden dessen, für den es vermeintlich geschieht.
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Die Hatzfeldt war in ihrer Art eine gescheite Frau, die Lassalle, so sehr sie ihm an Wissen und Energie nachstand, doch in bezug auf Erfahrung überlegen war. Wo seine Leidenschaft nicht im Wege stand, gab er viel auf ihren Rat; er mußte doppelt auf ihn wirken, wo er seinen Leidenschaften Vorschub leistete. In einem am Schluß seiner Laufbahn geschriebenen Briefe an die Gräfin macht Lassalle dieser gegenüber die Bemerkung, sie sei es ja eigentlich gewesen, die ihn zur Annahme des Präsidiums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßt habe. Das ist sicherlich nicht wörtlich zu nehmen. Lassalle hätte wohl auch ohne die Gräfin das Präsidium angenommen. Aber in solchen Situationen läßt man sich besonders gern durch gute Freunde zu dem bestimmen, was man selbst möchte, weil es die Verantwortlichkeit zu mindern scheint. Die Gräfin wird also Lassalles Bedenken beschwichtigt haben, und es liegt der Schluß mehr als nahe, daß sie es mit Verweisung auf die Dinge getan haben wird, die sich in den oberen Regionen Preußens damals vorbereiteten. Es sei nur an die Erklärung Lassalles in seiner Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß erinnert, daß er schon vom ersten Tage, wo er seine Agitation begann, gewußt habe, daß Bismarck das allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde, und an die weitere Erklärung, daß, als er das „Offene Antwortschreiben” erließ, ihm „klar” war, daß „große auswärtige Konflikte bevorstehen, Konflikte, welche es unmöglich machen, das Volk zu ignorieren”. Er stellt es zwar dort so hin, als ob dies jeder hätte wissen müssen, der die Ereignisse mit sicherem Blick verfolge, aus seinen Briefen an Marx haben wir aber gesehen, wie sehr er sich bei seinen politischen Schritten durch die „Informationen” beeinflussen ließ, die ihm aus „diplomatischen Quellen” über die Vorgänge in Regierungskreisen zugingen. Die Hatzfeldt war durch das langsame Wachstum des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins sicherlich noch mehr enttäuscht worden, als Lassalle selbst. Durch ihren ganzen Bildungsgang auf die Mittel der Intrige und stillen Diplomatie abgerichtet, mußte sie auch jetzt darauf verfallen, hinten herum das zu erreichen, was auf dem Wege des offenen Kampfes sich als so schwer zu erreichen erwies. In diesem Streben fand sie an Lassalles Geneigtheit, Erfolge, die er sich einmal als Ziel gesetzt, um jeden Preis zu erzwingen, an seinem rücksichtslosen Temperament und seinem hochgradigen Selbstgefühl nur zu bereitwillige Unterstützung.
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Inwieweit damals schon die Fäden angeknüpft waren, die später Lassalle ins Palais des Herrn von Bismarck führten, läßt sich heute nicht mehr feststellen, aber sowohl die Worte, welche Lassalle, als er die Rede „Die Feste, die Presse usw.” für den Druck niederschrieb, an seinen Freund Levy richtete: „Was ich da schreibe, schreibe ich bloß für ein paar Leute in Berlin,” als auch vor allem der Inhalt der Rede selbst beweisen, daß an diesen Fäden mindestens eifrig gesponnen wurde. Die Rede ist gespickt mit Angriffen auf die Fortschrittspartei, die teilweise sehr übertrieben sind, während dagegen dem Minister Bismarck unumwunden geschmeichelt wird. Hatten bis dahin stets der Demokrat und der Sozialist in Lassalle die demagogische Ader in ihm gemeistert, so meistert hier der Demagoge die ersteren. Im Juni 1863 hatte die preußische Regierung, nachdem sie den Landtag nach Hause geschickt, die berüchtigten Preßordonnanzen erlassen, welche die Verwaltungsbehörden ermächtigten, nach vorheriger zweimaliger Verwarnung das fernere Erscheinen irgendeiner inländischen Zeitung oder Zeitschrift „wegen fortdauernder, die öffentliche Wohlfahrt gefährdender Haltung zeitweise oder dauernd” zu verbieten. Die liberale Presse, ausschließlich in den Händen von Privatunternehmern, hatte daraufhin meist es vorgezogen, während der Dauer der Preßordonnanzen überhaupt nichts mehr über die innere Politik zu schreiben. Das war gewiß nichts weniger als tapfer, aber es war auch nicht so schlimmer Verrat an der eigenen Sache als wie Lassalle es hinstellt. Lassalle übersah geflissentlich, daß Bismarcks Absicht beim Erlaß der Preßordonnanz eben gewesen war, die ihm verhaßten Blätter der Opposition geschäftlich zu ruinieren, um seine eigene oder eine ihm genehme Presse an ihre Stelle zu bringen. In der Begründung der Preßordonnanz hatte es ausdrücklich geheißen: „Die positive Gegenwirkung gegen die Einflüsse derselben (d. h. der liberalen Presse) vermittelst der konservativen Presse kann schon deshalb den wünschenswerten Erfolg nur teilweise haben, weil die meisten der oppositionellen Organe durch eine langjährige Gewöhnung des Publikums und durch die industrielle Seite der betreffenden Unternehmungen eine Verbreitung besitzen, welche nicht leicht zu bekämpfen ist.” Wenn also die liberalen Blätter es nicht darauf ankommen ließen, verboten zu werden, so erhielt die Regierung auch keine Möglichkeit, andere Blätter an deren Stelle einzuschmuggeln oder jenen die Annoncen abspenstig zu machen. Der eine Zweck der Maßregel wurde also gerade durch dies zeitweilige Schweigen über die innere Politik vereitelt. Nicht minder aber auch der zweite, direkt politische Zweck.
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Indes, die Erbitterung war nicht minder groß, wenn der Spießer zwar seine gewohnte Zeitung forterhielt, aber ihm zugleich Tag für Tag am Inhalt derselben vordemonstriert wurde, daß seinem Organ ein Knebel angelegt war, wenn er zwar sein Blatt, aber ohne den geliebten Leitartikel erhielt. Zudem war die Preßordonnanz eine Maßregel, die nicht aufrechtzuerhalten war, sobald der Landtag wieder zusammentrat. Es handelte sich um ein Provisorium, und die liberalen Blätter hatten gar keine Ursache, während desselben, Bismarck zuliebe -- wie Lassalle es ausdrückt -- „mit Ehren zu sterben”. Die Wut der Regierung war denn auch eine nicht geringe, und ihre Organe spiegelten diese Wut natürlich entsprechend wieder. Lassalle drückt das so aus, daß er sagt: „Selbst (!) die reaktionären Blätter wußten damals ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung über dieses Gebaren kaum hinreichenden Ausdruck zu geben.” Und er zitiert als Beweis die „Berliner Revue”, das Organ des reaktionärsten Muckertums. Natürlich benutzten die Reaktionäre die Finte, ihren Angriffen auf die liberale Presse ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, sich zu gebärden, als ob sie ihres kapitalistischen Charakters halber angriffen. Statt jedoch gegen diese Fälschung des sozialistischen Gedankens zu protestieren und jede Solidarität mit ihren Urhebern zurückzuweisen, leistete Lassalle dem Spiel der Bismärcker noch Vorschub, indem er ihre Blechmünzen den Arbeitern als echtes Gold ausgab. Gewiß ist die Tatsache, daß die Presse heute ein Geldgeschäft ist, ein großer Übelstand, ein mächtiger Faktor der Korruption des öffentlichen Lebens. Dem ist aber, solange überhaupt das kapitalistische Privateigentum besteht, schwerlich abzuhelfen, -- am allerwenigsten durch beschränkende Gesetze des selbst noch kapitalistisch geleiteten Staates. Soweit heute Abhilfe geschaffen werden kann, wird sie durch die Freiheit der Presse ermöglicht. Davon aber wollte die preußische Regierung nichts wissen, und Lassalle unterstützte ihren Widerstand noch, indem er zwar für volle Preßfreiheit eintrat, aber zugleich erklärte, daß diese ohnmächtig sein würde, das Wesen der Presse umzuwandeln, wenn nicht zugleich der Presse das Recht entzogen würde, Annoncen zu bringen. Mit letzterem würde die Presse nämlich aufhören, eine lukrative Geldspekulation zu sein, und würden wieder nur solche Männer Zeitungen schreiben, welche für das Wohl und das geistige Interesse des Volkes kämpfen. Braucht es noch eines besonderen Nachweises, wie absolut wirkungslos dieses Mittel wäre? Lassalle hätte nur seine Blicke über den Grenzbereich des preußischen Staates hinaus nach England und Frankreich zu richten brauchen, um sich von der Verkehrtheit seiner Idee zu überzeugen.
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In England bildete und bildet heute noch das Annoncenwesen eine sehr wesentliche Einnahmequelle der Presse, während in Frankreich den Blättern die Aufnahme von Anzeigen zwar nicht direkt verboten, aber durch eine hohe Steuer fast unmöglich gemacht, auf ein Minimum reduziert war. War deshalb die französische Presse besser als die englische? Weniger im Dienst des Kapitalismus, weniger korrumpiert als jene? Mit nichten. Die Abwesenheit der Annoncen hatte es im Gegenteil dem Bonapartismus sehr wesentlich erleichtert, die Presse für seine Zwecke zu korrumpieren, und sie hatte anderseits die politische Presse Frankreichs nicht verhindert, der hohen Finanz in viel höherem Grade dienstbar zu sein, als es die politische Presse Englands war. Immerhin berührte Lassalle in diesem Teil seiner Rede wenigstens eine Frage, die in der Tat ab ein wunder Punkt des modernen öffentlichen Lebens bezeichnet werden muß. War der Zeitpunkt auch schlecht gewählt, war das Heilmittel auch von problematischem Wert, an und für sich bleibt die Tatsache, daß die Presse, ob mit oder ohne Annoncen, immer mehr ein kapitalistisches Institut wird, ein Krebsschaden, auf den die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse gelenkt werden muß, soll sie sich vom Einfluß der Kapitalistenorgane befreien. Ganz und gar unzutreffend aber war, was Lassalle über die Feste sagt, welche die Fortschrittler 1863 Bismarck zum Trotz abhielten. Er wußte doch wohl, daß die Feste weiter nichts waren, als Agitationsversammlungen, als Demonstrationen gegen die Regierung, wie sie in Frankreich und England unter ähnlichen Verhältnissen auch veranstaltet worden waren. Wollte er sie kritisieren, so mußte er hervorheben, daß mit den Festen allein noch nichts getan war, daß, wenn es bei ihnen blieb, die Sache des Volks gegen die Regierung um keinen Schritt gefördert wurde. Statt dessen beschränkte er sich darauf, die Redensarten der Regierungspresse über die Feste zu wiederholen, den Hohn, unter dem diese ihren Ärger zu verbergen suchte, noch zu überbieten. Niemand, der die Geschichte der preußischen Verfassungskämpfe des Jahres 1863 genauer kennt, wird diese Stelle der Lassalleschen Rede lesen können, ohne sie zu mißbilligen. Der dritte Teil der Rede, die Kritik des im Sommer 1863 zu Frankfurt a. M.
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zusammengetretenen Deutschen Abgeordnetentages, wäre berechtigt gewesen, wenn Lassalle sich nicht in demselben Augenblick, wo er den Fortschrittlern einen Vorwurf daraus machte, daß sie mit den deutschen Fürsten liebäugelten, um Herrn von Bismarck bangezumachen -- wir haben gesehen, wie er ihnen im „Offenen Antwortschreiben” das „Dogma von der preußischen Spitze” vorgeworfen und Preußen als den reaktionärsten der deutschen Staaten hingestellt hatte -- wenn Lassalle nicht in demselben Atemzuge seinerseits ein gleiches Spiel getrieben hätte, wie die Fortschrittler, nur daß er nach der andern Seite hin liebäugelte. Seine ganze Rede enthält keine Silbe gegen Bismarck und die preußische Regierung, wohl aber eine ganze Reihe direkter und indirekter Schmeicheleien an deren Adresse. Er läßt sie „mit dem ruhigen Lächeln tatsächlicher Verachtung” über die Beschlüsse der Kammer hinweggehen, und er stellt Bismarck das Zeugnis aus, er sei „ein Mann”, während die Fortschrittler alte Weiber seien. Noch ein Passus der Rede zeugt von der veränderten Frontrichtung Lassalles. Der Führer des Nationalvereins, Herr von Bennigsen, hatte den Abgeordnetentag mit folgenden Worten geschlossen, und es ist ganz gut, wieder einmal daran zu erinnern: „Die Leidenschaft der Volkspartei und die Verstocktheit der Regierenden habe schon oft zu revolutionären Umwälzungen geführt. Aber das deutsche Volk sei nicht bloß einmütig, sondern auch so gemäßigt bei seinen Ansprüchen, daß die deutsche nationale Partei, die keine Revolution wolle und keine machen kann, keine Verantwortung dafür habe, wenn nach ihr eine Partei kommen sollte, welche, weil keine Reform mehr möglich, zu der Umwälzung greife.” Für jeden, der lesen kann, ist diese Erklärung eine zwar recht lendenlahme Drohung, aber doch eine Drohung mit der Revolution. „Wir wollen keine Revolution, o Gott behüte, wir waschen unsere Hände in Unschuld, aber wenn ihr nicht nachgebt, dann wird sie doch kommen, und dann habt ihr es euch selbst zuzuschreiben.” Eine, wenn man wirklich die ganze Nation hinter sich hat, sehr feige Art zu drohen, aber leider zugleich auch sehr gebräuchliche Art zu drohen -- so gebräuchlich, daß, wie gesagt, über den Sinn der Erklärung gar kein Mißverständnis möglich war. Was aber tut Lassalle? Er stellt sich, als ob er die Drohung nicht verstanden habe, und er stellt sich so, nicht etwa, um die Fortschrittler zu einer entschiedeneren Sprache herauszufordern, sondern um ihnen zu drohen für den Fall, daß es zu einer Revolution oder einem Staatsstreich kommen sollte.
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Er zitiert den obigen Ausspruch des Herrn von Bennigsen und läßt ihm das nachstehende Pronunziamento folgen: „Erheben wir also unsere Arme und verpflichten wir uns, wenn jemals dieser Umschwung, sei es auf diesem, sei es auf jenem Wege käme, es den Fortschrittlern und Nationalvereinlern gedenken zu wollen, daß sie bis zum letzten Augenblicke erklärt haben: sie wollen keine Revolution! Verpflichtet euch dazu, hebt eure Hände empor.” Und „die ganze Versammlung erhebt in großer Aufregung ihre Hände”, heißt es in dem, von Lassalle selbst redigierten Bericht über die Rede. Was sollte diese Drohung, dieses „Gedenken” bedeuten? Es war kaum eine andre Auslegung möglich, ab daß man die Fortschrittler, wenn nicht direkt angreifen, so doch im Stich lassen wollte, wenn es „auf diesem oder jenem Wege” zum gewaltsamen Zusammenstoß kommen sollte. Eine solche Drohung in diesem Moment konnte aber nur die eine Wirkung haben, die Fortschrittler, statt sie vorwärtszutreiben, erst recht kopfscheu zu machen. In einer der Versammlungen, in Solingen, kam es zu blutigen Konflikten. Eine Anzahl Fortschrittler, die versucht hatten, Lassalle zu unterbrechen, wurden von exaltierten Anhängern desselben mit Messerstichen bedacht. Auf Grund dieser Vorkommnisse löste der Bürgermeister eine halbe Stunde später die Versammlung auf, worauf Lassalle, gefolgt von einer, ein Hoch über das andere ausbringenden Menge zum Telegraphenbureau eilte und das bekannte Telegramm an Bismarck aufgab, das mit den Worten beginnt: „Fortschrittlicher Bürgermeister hat soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen und mehreren Polizisten mit gezogenem Säbel von mir einberufene Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst”, und mit der „Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung” schloß. Auch wenn man alles in Betracht zieht, was zu Lassalles Entschuldigung angeführt werden kann: seine Erbitterung über die ihm von seiten der Fortschrittler widerfahrenen Angriffe, seine Enttäuschung über die verhältnismäßig geringen Erfolge seiner Agitation, seinen tiefen Widerwillen gegen die feige Taktik der Fortschrittler, seine einseitige, aber doch aufrichtige Gegnerschaft gegen die liberale Wirtschaftslehre -- kurz, wenn man sich noch so sehr in seine damalige Lage hineindenkt, so geht doch aus diesem Telegramm, in Verbindung mit der vorstehend geschilderten Rede, eines unbestreitbar hervor -- daß Lassalle, als er nach Deutschland zurückkam, bereits seinen inneren Halt -- wenn ich mich so ausdrücken darf: seinen Standpunkt verloren hatte. Ein solches Telegramm hätte man keinem Konservativen verziehen, geschweige denn einem Mann, der sich mit Stolz einen Revolutionär genannt, und der seiner inneren Überzeugung nach sicherlich sich noch für einen solchen hielt.
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Wenn nicht andre Erwägungen, so hätte das einfachste Taktgefühl Lassalle verbieten müssen, sich zu einem Appell an die Staatsgewalt herbeizulassen, der mit einer politischen Denunziation begann. Und wenn man selbst dieses Telegramm noch mit der durch die Auflösung der Versammlung hervorgerufenen Erregung entschuldigen könnte, so folgten ihm bald andre, bei kältester Überlegung unternommene Schritte, die ebenfalls den politischen Grundsätzen, als deren Vertreter Lassalle auftrat, schnurstracks entgegenstanden. Hier nur ein Beispiel, das zudem in enger Verbindung mit den vorerwähnten Vorkommnissen steht. Einige Arbeiter, die in der Solinger Versammlung vom Messer Gebrauch gemacht haben sollten, waren im Frühjahr 1864 zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Und da war es Lassalle, der allen Ernstes und wiederholt den Vorschlag machte, die Verurteilten sollten, unterstützt durch eine allgemeine Arbeiteradresse, ein Gnadengesuch an den König von Preußen richten. Man denke, Lassalle, der noch einige Jahre zuvor geschrieben hatte (vgl. S. 88 dieser Schrift), er habe zu seinem Leidwesen erst in Berlin gesehen, „wie wenig entmonarchisiert” das Volk in Preußen sei, Lassalle, der in Frankfurt am Main ausgerufen hatte: „Ich habe keine Lust und keinen Beruf, zu andern zu sprechen, als zu Demokraten”, er, der als Führer der neuen Bewegung doch vor allem die Pflicht hatte, seinen Anhängern das Beispiel demokratischen Stolzes zu geben, ermuntert sie, vom König von Preußen Begnadigung zu erbetteln. Indes, die Arbeiter zeigten sich hier taktfester als ihr Führer. Am 20. April 1864 meldet der Solinger Bevollmächtigte Klings, daß gegen Lassalles Vorschlag allgemeine Abneigung herrsche. Sämtliche Hauptmitglieder des Vereins hätten sich dagegen ausgesprochen. „Die beiden von hier Verurteilten gehören zu der entschiedensten Arbeiterpartei und würden, selbst wenn es vier Jahre wären, nicht zu bewegen sein, ein Gnadengesuch einzureichen, weil es ihren Gesinnungen widerstreitet, Sr. Majestät verpflichtet zu sein.” Dieser Widerstand erweckte das demokratische Gewissen Lassalles, und er schrieb an Klings, die Weigerung der Leute erfülle ihn mit großem Stolz. Aber den Gedanken der Adresse an den König gab er noch immer nicht auf, sondern suchte nachzuweisen, daß diese auch ohne das Gnadengesuch der Verurteilten von großem Nutzen sein könne.
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Es kann, heißt es wörtlich, „vielleicht auch noch folgender Nutzen eintreten, daß, wenn die Adresse von mehreren tausend Arbeitern unterschrieben ist, man diesem Schritte oben eine -- für uns ganz unverbindliche -- Auslegung gibt, durch welche man sich um so mehr ermutigt fühlt, bei kommender Gelegenheit an die Oktroyierung des allgemeinen und direkten Wahlrechts zu gehen: ein Schritt, den man, wie Ihnen der beigefügte Leitartikel der ministeriellen Zeitung (die damals veröffentlichte Sternzeitung) zeigt, oben jetzt gerade wieder hin und her überlegt”. Indes auch diese Perspektive vermochte die Solinger nicht von der Richtigkeit des empfohlenen Schrittes zu überzeugen, und so blieb der Bewegung diese Bloßstellung erspart. Als Lassalle anfangs Oktober 1863 nach Berlin zurückkehrte, ging er zunächst mit allem Eifer daran, die Hauptstadt für seine Sache zu erobern. Er verfaßte einen Aufruf „An die Arbeiter Berlins”, ließ ihn in 16000 Exemplaren abziehen und einen Teil davon unentgeltlich unter den Arbeitern Berlins verbreiten. Obwohl der Aufruf sehr wirksam geschrieben ist und namentlich geschickt an die entstellten Berichte der Berliner fortschrittlichen Presse („Volkszeitung” und „Reform”) über die rheinischen Versammlungen anknüpft, war der Erfolg doch zunächst ein sehr bescheidener. Die ersten Versammlungen Lassalles in Berlin fanden in kleineren Sälen statt und gaben zu allerhand Gespött Anlaß, und als in der ersten größeren Versammlung Lassalle auf Requisition der Berliner Staatsanwaltschaft verhaftet wurde, klatschten fanatisierte Arbeiter sogar dazu Beifall. Die Mehrheit der Personen, die sich als Neugierige oder unter dem Eindruck der Vorträge Lassalles in die Listen hatten einzeichnen lassen, fielen bald wieder ab, so daß der Verein, der Anfang Dezember 1863 es bis auf über 200 Mitglieder in Berlin gebracht hatte, im Februar 1864 kaum noch drei Dutzend Mitglieder zählte, wovon obendrein ein großer Teil Nichtarbeiter waren. Neben der Agitation beschäftigten Lassalle auch sehr stark seine Prozesse und sonstigen Kämpfe mit den Behörden. Denn so angenehm dem Ministerium Bismarck auch seine Agitation war, soweit diese sich gegen die Fortschrittspartei kehrte, so wußte es doch sehr gut, daß es in Lassalle keinen Helfer hatte, der sich als willfähriges Werkzeug gebrauchen ließ. Es konnte ihm also nur angenehm sein, wenn die unteren Behörden fortfuhren, Lassalle mit Prozessen usw. zu überschütten. Dadurch kam es in die Lage, entweder zur rechten Zeit einen unbequemen Dränger loszuwerden oder vielleicht gar ihn doch „mürbe” zu bekommen.
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Wie dem jedoch sei, die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf ließ die Rede „Die Feste, die Presse usw.” konfiszieren und erhob gegen Lassalle Anklage auf Verletzung der §§ 100, 101 des Preußischen Strafgesetzbuches (Aufreizung und Verbreitung erdichteter Tatsachen behufs Herabsetzung von Anordnungen der Obrigkeit). Der Prozeß verursachte Lassalle unendlich viel Scherereien und endete, nachdem Lassalle in erster Instanz in contumaciam zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, mit seiner Verurteilung in zweiter Instanz zu sechs Monaten Gefängnis. Wegen der Flugschrift „An die Arbeiter Berlins” erhob die Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage wegen Hochverrats gegen Lassalle und ließ auch, wie bereits erwähnt, Lassalle in Untersuchungshaft nehmen, aus der er jedoch gegen Kaution freigelassen wurde. Beides, Anklage wie Verhaftsbefehl, mochten indes der persönlichen Rachsucht des Staatsanwalts von Schelling entflossen sein, den Lassalle ein Jahr vorher in seiner Verteidigung vor dem Stadtgericht so bös zerzaust hatte. In der Gerichtsverhandlung, die am 12. März 1864 vor dem Staatsgerichtshof in Berlin stattfand, beantragte der Staatsanwalt nicht weniger als drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Polizeiaufsicht gegen Lassalle; das Gericht erkannte jedoch, soweit die Anklage auf Hochverrat lautete, auf Freisprechung und überwies die Behandlung der untergeordneteren, von der Staatsanwaltschaft behaupteten Verstöße gegen das Strafgesetz der zuständigen Gerichtsabteilung. Die Verteidigungsrede in diesem Prozeß ist ein wichtiges Dokument für die Geschichte der Lassalleschen Agitation. Bevor wir jedoch auf sie eingehen, haben wir noch der großen sozialpolitischen Arbeit Lassalles zu erwähnen, die Ende Januar 1864 die Presse verließ und als sein propagandistisches Hauptwerk bezeichnet werden muß. Es ist dies die Streitschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit”. Es wurde gelegentlich bereits der Vorträge erwähnt, die Schulze-Delitzsch im Frühjahr 1863 im Berliner Arbeiterverein hielt und unter dem Titel „Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus” als Gegenschrift gegen die Lassallesche Agitation veröffentlichte. Diese, aus den plattesten Gemeinplätzen der liberalen Ökonomie zusammengesetzten Vorträge nun boten Lassalle eine willkommene Handhabe, den auf der Höhe seines Ruhms stehenden Schulze und mit ihm die Partei, die in ihm ihren ökonomischen Heros verehrte, jetzt auch theoretisch zu vernichten.
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Berücksichtigt man, daß Lassalle zu systematischen ökonomischen Arbeiten nicht gekommen war, sondern gerade in dem Moment, wo er sich an die Vorarbeiten zu seinem ökonomischen Werk machen wollte, durch die praktische Agitation davon abgelenkt wurde, und zieht man außerdem in Betracht, daß Lassalle, während er den „Bastiat-Schulze” schrieb, durch seine Prozesse und die Arbeiten für die Leitung des Vereins fortgesetzt in Anspruch genommen war, so kann man nicht umhin, in diesem Buch einen neuen Beweis für das außergewöhnliche Talent, die staunenswerte Vielseitigkeit und Elastizität des Lassalleschen Geistes zu erblicken. Freilich trägt der „Bastiat-Schulze” daneben auch aufs deutlichste die Spuren seines Entstehens. So sehr die Form der Polemik der Popularität der Schrift zugute kommt, sind die Umstände, unter denen diese Polemik erfolgte, die hochgradige Gereiztheit Lassalles, die um so größer war, als Lassalle wohl selbst fühlte, daß er immer mehr in eine falsche Position geriet -- die Enttäuschung einerseits, und das Bestreben, sich über diese Enttäuschung selbst hinwegzutäuschen, andererseits, dem Ton der Polemik sehr verhängnisvoll gewesen. Aber auch inhaltlich ist sie keineswegs immer auf der Höhe des Gegenstandes, sondern verliert sich oft in kleinliche Wortklauberei, die obendrein nicht einmal immer in der Sache zutrifft[31]. Dazu ist der sachliche und theoretische Teil, so brillant die Einzelheiten vielfach sind, nicht frei von Widersprüchen. Als Ganzes genommen hat der „Bastiat-Schulze” jedoch das große Verdienst, den historischen Sinn und das Verständnis für die tieferen Probleme der Ökonomie unter den deutschen Arbeitern in hohem Grade gefördert zu haben. Stellenweise erhebt sich die Darstellung auf die Höhe des Besten, was Lassalle je geschrieben hat, an diesen Stellen leuchtet sein Genius noch einmal in seinem hellsten Glanze auf. Fußnoten: [30] Ich erinnere mich, obwohl ich damals noch ein Schulknabe war, noch sehr gut jener Epoche; aus ihr datieren meine ersten politischen Eindrücke. In der Schulklasse, auf dem Turnplatz -- überall wurde in jenen Tagen politisiert, und natürlich gaben wir Knaben nur in unserer Art wieder, was wir im elterlichen Hause, in unserer Umgebung, zu vernehmen pflegten. Meine Mitschüler gehörten den bürgerlichen Klassen, meine Spielkameraden dem Proletariat an, aber die einen wie die andern waren gleich fest davon überzeugt, daß eine Revolution „kommen muß”, denn „mein Vater hat es auch gesagt”. Jede Äußerung der Wortführer der Fortschrittspartei, die als ein Hinweis auf die Revolution gedeutet werden könnte, wurde triumphierend von Mund zu Mund kolportiert, desgleichen Spottverse auf den König und seine Minister. [31] So ist z. B.
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gleich der erste Einwurf Lassalles gegen Schulze-Delitzsch, „Bedürfnis” und „Trieb nach Befriedigung” seien „nur zwei verschiedene Wortbezeichnungen für dieselbe Sache” falsch. Beides fällt in der Regel zusammen, ist aber keineswegs dasselbe. Einige Seiten darauf macht sich Lassalle darüber lustig, daß Schulze-Delitzsch den Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Arbeit darin erblicke, daß die erstere Arbeit für künftige Bedürfnisse sei, verfällt aber seinerseits in den noch größeren Fehler, diesen Unterschied einfach darin zu sehen, daß der Mensch mit Bewußtsein, das Tier ohne solches tätig sei. Und ähnlich an anderen Stellen. Lassalle und Bismarck. Was Lassalle nach dem „Bastiat-Schulze” gesprochen und geschrieben hat, trägt immer deutlicher die Züge der inneren Ermattung, der geistigen Abspannung. Die Energie ist nicht mehr die ursprüngliche, das natürliche Produkt des Glaubens an die eigene Kraft und die Stärke der verfochtenen Sache, sondern nur noch eine erzwungene. Man vergleiche das „Arbeiterprogramm” mit der Ronsdorfer Rede, die Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter” mit der Verteidigungsrede im Hochverratsprozeß, und man wird das hier Gesagte verstehen. Die innere Kraft ist gewichen und Kraftausdrücke treten an ihre Stelle, logisches Blendwerk ersetzt die zwingende logische Beweisführung, und statt zu überzeugen, verlegt sich Lassalle immer mehr auf das Überschreien. Was er vor kurzem noch den Fortschrittlern vorgeworfen, tut er jetzt selbst -- er berauscht sich in erdichteten Erfolgen. Im Hochverratsprozeß braucht Lassalle zu seiner Verteidigung gegen die Behauptung der Anklage, daß der Hintergedanke seiner Agitation die schließliche Anwendung der physischen Gewalt sei, mit großem Geschick das Bild des Schillerschen Wallenstein am Vorabend von dessen Übertritt zu den Schweden und zitiert die Verse des Monologs im ersten Akt von „Wallensteins Tod”: „Wär's möglich? -- könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt?” Es ist merkwürdig, wie sehr diese Verse auf Lassalles eigene Situation um jene Zeit passen, wie sehr seine Lage der Wallensteins, als dieser jene Worte sprach, ähnlich war. Auch er hatte, wie der Friedländer -- um sein eigenes Bild zu brauchen -- „Dinge getan, welche er à deux mains verwenden konnte”. Er hatte sich nicht damit begnügt, die Vorgänge in der inneren und äußeren Politik objektiv zu studieren, um den günstigen Moment zur Aktion für seine Pläne auszunützen, er war bereits dazu übergegangen, mit dem Vertreter der einen der Mächte, gegen die er kämpfte, zu verhandeln, er war mit Herrn von Bismarck in direkte Unterhandlung getreten.
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Sicherlich konnte auch er noch wie Wallenstein sagen: „Noch ist sie rein -- noch! das Verbrechen kam Nicht über diese Schwelle noch!” Noch war er keine Verpflichtungen eingegangen. Aber war er auch innerlich noch frei? Konnte nicht auch ihn die Logik der Tatsachen dazu treiben, die „Tat” zu vollbringen, weil er „nicht die Versuchung von sich wies”? Daß Lassalle im Winter 1863/64 wiederholte und eingehende Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen Herrn von Bismarck hatte, ist heute über jeden Zweifel sichergestellt. Die langjährige Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, hat es im Sommer 1878, als Bismarck sein Knebelungsgesetz gegen die deutsche Sozialdemokratie einbrachte, aus eigner Initiative Vertretern derselben unter Hinzufügung der näheren Umstände mitgeteilt, und als August Bebel in der schon erwähnten Sitzung vom 16. September 1878 die Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bismarck tags darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu haben, und suchte nur in Abrede zu stellen, daß es sich dabei um politische Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt auf die Mitteilungen der Gräfin Hatzfeldt, gesagt: „Es drehte sich bei diesen Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei, erstens um Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts, und zweitens um die Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften. Fürst Bismarck war für diesen Plan von Lassalle vollständig gewonnen, er weigerte sich nur, wie Lassalle verlangte, sofort mit der Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts vorzugehen, bevor nicht der schleswig-holsteinische Krieg glücklich zu Ende geführt worden sei. Infolge dieser Meinungsverschiedenheit entstanden tiefe Differenzen zwischen Lassalle und dem Fürsten Bismarck, und es war nicht etwa der letztere, welcher die Unterhandlungen abbrach, sondern es war, wie ich ausdrücklich konstatieren muß, Lassalle, der den Bruch herbeiführte und erklärte, auf weitere Unterhandlungen sich nicht einlassen zu können.” Darauf antwortete nun Bismarck: „Unsre Unterhaltungen drehten sich gewiß auch um das allgemeine Wahlrecht, unter keinen Umständen aber jemals um eine Oktroyierung desselben. Auf einen so ungeheuerlichen Gedanken, das allgemeine Wahlrecht durch Oktroyierung einzuführen, bin ich in meinem Leben nicht gekommen.” Er habe es „mit einem gewissen Widerstreben”, als „Frankfurter Tradition” akzeptiert. Was die Produktivgenossenschaften anbetreffe, so sei er „von deren Unzweckmäßigkeit noch heute nicht überzeugt”. Nur hätten die damals eingetretenen politischen Ereignisse die Fortführung der in dieser Hinsicht angebahnten Versuche nicht gestattet. Übrigens habe nicht er, sondern Lassalle diese Zusammenkünfte gewünscht, ihn brieflich darum gebeten, und er, Bismarck, habe sich aus reiner Liebhaberei dazu herbeigelassen, Lassalles Wünschen zu willfahren.
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„Was hätte mir Lassalle bieten und geben können? Er hatte nichts hinter sich. In allen politischen Verhandlungen ist das do ut des (ich gebe, damit du gibst) eine Sache, die im Hintergrunde steht, auch wenn man anstandshalber nicht davon spricht. Wenn man sich aber sagen muß, was kannst du armer Teufel geben? -- Er hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Es liegt auf der Hand, daß der Mann, der „offiziell noch nie gelogen” hat, hier mit der Wahrheit sehr unoffiziell umsprang. Um einer bloßen Unterhaltung willen wäre Lassalle nicht zum Minister gegangen, und würde dieser nicht den „revolutionären Juden” wiederholt -- er selbst gesteht, daß es viermal gewesen sein könne, während Sophie Hatzfeldt behauptet hatte, daß es wiederholt drei- bis viermal in einer Woche gewesen sei -- zu sich gebeten und mit ihm stundenlang disputiert haben. Weiter braucht man nur die Reden der Regierungsvertreter in der Kammer und die Artikel in der Regierungspresse aus jener Epoche nachzulesen, um sich zu überzeugen, wie stark sich das Ministerium Bismarck damals mit dem Gedanken trug, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, und dazu gab es unter den obwaltenden Umständen kaum einen anderen Weg, als den der Oktroyierung. Lassalle selbst zitiert in der Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof einige derartige Äußerungen und knüpft daran im weiteren Verlauf die bekannten Erklärungen, die nun erst, nachdem seine Zusammenkünfte mit Bismarck bekannt geworden, richtig gewürdigt werden können: „Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen! Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt! Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine und direkte Wahlrecht oktroyiert. Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene Notwendigkeit gegründet sind.
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Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen -- und Herr von Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert!” Lassalle sagt freilich hierzu, er habe das von Anfang an gewußt, „schon an dem ersten Tage, an welchem ich durch den Erlaß meines Antwortschreibens diese Agitation begann, und es konnte niemand entgehen, der mit klarem Blick die Situation auffaßte”. Aber wenn es auch zweifelsohne richtig ist, daß man schon im Winter 1862/63 in Regierungskreisen die Frage in Betracht zog, ob es möglich sei, durch eine Änderung des Wahlgesetzes die fortschrittliche Kammermehrheit zu sprengen, und zu diesem Behufe in sozialer Frage zu machen begann[32], so würde Lassalle doch schwerlich mit dieser Bestimmtheit von einer bevorstehenden Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts gesprochen haben und immer wieder darauf zurückgekommen sein, wenn er nicht aus seinen Unterhaltungen mit Bismarck die Überzeugung gewonnen hätte, daß, ob nun vor oder nach Beendigung des dänischen Feldzuges, diese Oktroyierung beschlossene Sache sei. Mehr glaubwürdig ist es dagegen, wenn Bismarck bestreitet, daß es zwischen ihm und Lassalle zu einem Bruch gekommen sei. Die Verhandlungen schliefen ein, als Lassalle sich nach vielem Drängen überzeugt hatte, daß Bismarck noch abwarten wollte, ehe er den immerhin gewagten Schritt unternahm -- und darum spricht Lassalle auch immer nur von einer möglicherweise binnen Jahresfrist erfolgenden Oktroyierung. Aber daß die Verbindung noch nicht endgültig abgebrochen war, geht schon daraus hervor, daß Lassalle fortfuhr, von allen seinen Veröffentlichungen usw. durch das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” ein Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert und mit der Aufschrift „persönlich” an Bismarck übersenden zu lassen. Ebenso kann man Bismarck auch glauben, daß seine Verhandlungen mit Lassalle wegen des „do ut des” zu keinen bestimmten Abmachungen führen konnten. Zwar stand die Sache nicht so, wie Bismarck sie nachträglich protzenhaft mit der Phrase abtut: „Was kannst du armer Teufel geben? Er hatte nichts, was er mir als Minister hätte geben können.” Bismarck hatte es zu jener Zeit gar nicht so üppig, daß er nicht jede Hilfe brauchen konnte, und etwas konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache war nur die, daß es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen Lassalles Drängen nachzugeben. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, daß Lassalle, der noch am 25. Juli 1863 an Vahlteich geschrieben hatte: „Sie können unsre Bevollmächtigten keine Unwahrheiten sagen lassen.
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Sie können sie also nicht auffordern, von 10000 Mitgliedern zu sprechen, während wir vielleicht nicht 1000 haben. Man kann schweigen über diesen Punkt, aber lügen schickt sich für uns nicht” -- nach seiner Rückkehr nach Berlin in geradezu krankhafter Weise seine Erfolge übertrieb. Er wollte um jeden Preis eine Macht scheinen, wenn es ihm nicht gelang, mit wirklichen Massen aufzumarschieren. Aber Bismarck war durch andre Berichterstatter wahrscheinlich hinreichend darüber informiert, wie es in Wirklichkeit mit der Bewegung stand. Und dann hatte es mit dem „Geben” auch sonst seine eigne Bewandtnis. Bismarck war sich schwerlich auch nur einen Augenblick im unklaren darüber, daß er an Lassalle nur so lange und nur insoweit einen politischen Verbündeten haben würde, solange dieses Bündnis im Interesse Lassalles und seiner politischen Zwecke lag -- mit andern Worten, daß Lassalle genau so mit ihm verfahren würde, wie er mit ihm, d. h. sich unbarmherzig gegen ihn wenden würde, sobald er das von ihm erreicht hatte, was er brauchte. Davon mußte ihn die erste Unterredung mit Lassalle überzeugt haben, daß dieser nicht, wie Rodbertus einmal sehr gut von Bucher sagt, „ein Fisch ohne Gräten” war, sondern ganz gehörige Gräten und Stacheln hatte. Mit der Aussicht auf ein Pöstchen -- von Geld gar nicht zu reden -- war da nichts zu machen. Einmal das Wahlrecht gegeben, konnte Lassalle leicht sehr unbequem werden, also warum sich übereilen? Die Agitation Lassalles kehrte ihre Spitze ohnehin immer schroffer und einseitiger gegen die liberale Partei, und das war vorderhand alles, was Bismarck brauchte. In seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter”, gehalten am 16. Januar 1863, hatte Lassalle erklärt: „Kann man bei uns selbst nur sagen, daß die Einführung des Dreiklassenwahlgesetzes den besitzenden Klassen, daß sie dem deutschen Bürgertum zur Last falle?... Die preußische Regierung ist es, nicht die besitzenden Klassen in Preußen, welche für alle Zeiten und vor allem Volk die Schuld und Verantwortlichkeit des oktroyierten Dreiklassenwahlgesetzes tragen wird.” Und: „Bourgeoisie und Arbeiter sind wir die Glieder eines Volkes und ganz einig gegen unsre Unterdrücker” -- d. h. also gegen die Regierung. Vor dem Staatsgerichtshof aber -- am 12. März 1864 -- ist ihm der Verfassungskonflikt in Preußen nur noch der Kampf zwischen dem Königtum und einer „Clique”. Dieser „Clique” könne das Königtum nicht weichen, „vollkommen wohl” aber könne es „das Volk auf die Bühne rufen und sich auf es stützen.
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Es brauche sich hierzu nur seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich Volkskönigtum gewesen.” „Ein Louis-Philippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der Bourgeoisie könnte dies freilich nicht; aber ein Königtum, das noch aus seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.” Das ist die Sprache des Cäsarismus, und im weiteren Verlaufe seiner Rede steigert Lassalle sie noch, indem er die bestehende Verfassung als eine vom Königtum der Bourgeoisie erwiesene Gunst hinstellt. Niemand lasse aber „gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband drehen, an welchem er erwürgt wird, und das ist niemand zu verdenken, und daher auch dem Königtum nicht”. Beständig auf das angebliche „Recht” hingedrängt, habe sich das Königtum „erinnert, daß es mehr in seiner Stellung läge, sich auf das wirkliche Recht zurückzuziehen und das Volk auf die Bühne zu führen, als einer Clique zu weichen und von einer Handvoll Personen sich aus seiner eignen Gunst ein Halsband winden zu lassen, an dem es erwürgt wird”. So würde er, Lassalle, sprechen an dem Tage, wo das Königtum die Verfassung gestürzt und das allgemeine Wahlrecht oktroyiert haben werde, wenn man ihn der intellektuellen Urheberschaft dieses Verfassungsumsturzes anklagte. Lassalle war bereits so weit, daß er nicht nur durch die Tatsache seiner Agitation -- was unter Umständen nicht zu vermeiden ist -- der Reaktion vorübergehend einen Dienst erwies, er verfiel auch immer mehr darin, die Sprache der Reaktion zu sprechen. Gewiß konnte er noch immer mit Wallenstein ausrufen: „Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht Mein Ernst, beschlossene Sache war es nie!” Er spielte mit der Reaktion, glaubte sie seinen Zwecken dienstbar machen, sie selbst aber im gegebenen Moment mit einem Ruck abschütteln zu können. In diesem Sinne nannte er auch einmal der Gräfin Hatzfeldt gegenüber Bismarck seinen „Bevollmächtigten”. Aber er vergaß, daß es eine Logik der Tatsachen gibt, die stärker ist als selbst der stärkste individuelle Wille, und daß, indem er überhaupt um den Erfolg spielte, statt auf die eigne Kraft der Bewegung zu vertrauen und ausschließlich ihr seine Energie zu widmen, er nach seiner eignen Theorie die Bewegung selbst zum Teil bereits aufgab.
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In der Tat, um noch einmal auf den schon zitierten Aufsatz Lassalles über die Grundidee seines „Franz von Sickingen” zurückzugreifen: mit der seit seiner Rückkehr aus den Bädern vollzogenen Schwenkung war Lassalle genau zu derselben Taktik gelangt, die er in jenem Aufsatz als die „sittliche Schuld” Franz von Sickingens hingestellt hatte. Es ist merkwürdig, wie genau Lassalle dort sein eignes Schicksal vorgezeichnet hat. Auch er war auf die „sich realistisch dünkende Verständigkeit” verfallen, revolutionäre Zwecke durch diplomatische Mittel erreichen zu wollen, er hatte eine Maske vorgenommen, seinen Gegner -- die preußische Regierung -- zu täuschen, aber er täuschte tatsächlich nicht diese, sondern die Massen des Volkes, ohne die er nichts war; die Bewegung selbst blieb auf einen kleinen Trupp persönlicher Anhänger beschränkt. Und wie Lassalle von Sickingen schreibt, daß „dieser große Diplomat und Realist, der alles sorgsam vorherberechnet und den Zufall ganz ausschließen will, gerade dadurch zuletzt gezwungen ist, dem zufälligsten Zufall alles anheim zu geben”, und, „während die Rechnung auf jene Täuschung durch den Anschein des Zufälligen und Unwesentlichen an der bewußten Natur des Bestehenden zugrunde gehen muß, die Entscheidung, statt wie er wollte, aus den Händen des vorbereiteten, vielmehr aus denen des ersten unvorbereiteten Zufalls entgegennehmen muß”[33] -- so sieht auch er, Lassalle, sich gezwungen, nunmehr bloß noch mit dem Zufall zu rechnen, alles von zufälligen Konstellationen in der inneren und äußeren Politik abhängig zu machen. Im Vertrauen auf seine realistische Gewandtheit spielte er, aber er bedachte nicht, daß beim Spiel derjenige die meisten Aussichten hat seinen Mitspieler lahmzulegen, der die meisten Trümpfe in der Hand -- beim politischen Spiel, der über die meisten tatsächlichen Machtfaktoren zu gebieten hat. Und da das in diesem Falle nicht er, sondern Bismarck war, konnte es nicht ausbleiben, daß er schließlich mehr Bismarcks, als dieser sein „Bevollmächtigter” wurde. Dies die Situation, in der Lassalle die Ronsdorfer Ansprache, „die Agitation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und das Versprechen des Königs von Preußen” hielt. Es ist seine letzte und zugleich seine schwächste Agitationsrede, ausschließlich auf den äußeren Effekt berechnet. Wie sehr sich Lassalle der Schwäche dieser Rede bewußt war, zeigt ihre von ihm selbst redigierte gedruckte Ausgabe mit den überall eingestreuten Vermerken über den Effekt der einzelnen Sätze -- Krücken, deren ein Vortrag, der an Hand und Fuß gesund ist, durchaus entbehren kann, und die den Eindruck einer inhaltsvollen Rede sogar beeinträchtigen würden.
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Aber die Ronsdorfer Rede weist keinen der Vorzüge der ersten Agitationsreden Lassalles auf, potenziert dagegen deren Fehler. Die Rede ist nicht bloß inhaltlich schwach, sie ist auch ihrer Tendenz nach tadelnswerter als alle Mißgriffe, die Lassalle bis dahin begangen. Schlesische Weber hatten, durch die Not getrieben und durch die Sozialdemagogie der Feudalen ermuntert, eine Deputation nach Berlin geschickt, um beim König von Preußen um Abhilfe gegen die Übelstände, unter denen sie litten, zu petitionieren. Sie waren auch schließlich, da es sich um die Arbeiter eines fortschrittlichen Fabrikanten handelte, auf Veranlassung Bismarcks vom König empfangen worden und hatten auf ihre Beschwerden die Antwort erhalten, der König habe seine Minister angewiesen, „eine gesetzliche Abhilfe, soweit sie möglich ist, schleunig und mit allem Ernst vorzubereiten”. Daß Lassalle diesen Schritt der schlesischen Weber und den Empfang der Deputation von Seiten des Königs als einen Erfolg seiner Agitation hinstellt, wird ihm, so übertrieben es tatsächlich war, niemand zum besonderen Vorwurf machen. Wie andere Übertreibungen in der Ansprache, erklärte sich auch diese aus der Situation Lassalles. Indes Lassalle blieb dabei nicht stehen. Er gab dem Empfang der Deputation durch den König und den Worten des letzteren eine Auslegung, die zunächst nur als eine Reklame für jenen und dessen Regierung wirken konnte. Er verliest den Arbeitern einen Bericht der offiziösen „Zeidlerschen Korrespondenz” über den Empfang der Deputation beim König und liest gerade die dem Königtum günstigste Stelle daraus, wie er in der gedruckten Rede ausdrücklich verzeichnet, „mit dem höchsten Nachdruck der Stimme und begleitet sie mit der eindringlichsten Handbewegung”[34]. In den Worten des Königs liege, erklärt er, „die Anerkennung des Hauptgrundsatzes, zu dessen Gunsten wir unsere Agitation begonnen” -- nämlich, daß eine Regelung der Arbeiterfrage durch die Gesetzgebung notwendig sei -- ferner, „das Versprechen des Königs, daß diese Regelung der Arbeiterfrage und Abhilfe der Arbeiternot durch die Gesetzgebung erfolgen soll”, und drittens, da „eine Fortschrittskammer, eine nach dem oktroyierten Dreiklassenwahlgesetz erwählte Kammer, dem Könige niemals die zu diesem Zwecke erforderlichen Gelder bewilligen und ebensowenig, selbst wenn die Sache ohne Geld zu machen wäre, auch nur ihre Zustimmung zu einem solchen Gesetz erteilen würde”, so sei in dem königlichen Versprechen, „innerlich durch die Kraft der Logik eingeschlossen” auch „das allgemeine und direkte Wahlrecht versprochen worden”. Bei diesen Worten läßt der Bericht „die Versammlung, welche diesem ganzen letzten Teil der Rede in einer unglaublichen Spannung ...
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zugehört” habe, in einen „nicht zu beschreibenden Jubel” ausbrechen, der immer wieder von neuem begonnen habe, sobald Lassalle weiter zu sprechen versuchte. War der Jubel wirklich so groß, so bewies er, daß die Arbeiter Lassalles Auslegung des königlichen Versprechens für bare Münze nahmen, das schlimmste Zeugnis, das dieser Rede ausgestellt werden konnte. Kein Zweifel, es sollten mit dieser Rede, soweit die Arbeiter in Betracht kamen, diese nur durch möglichst glänzende Ausmalung der bisher erzielten Erfolge zur höchsten, begeisterten Tätigkeit für den Verein hingerissen werden. Aber die Rede ist noch an eine andere Adresse als die der Arbeiter gerichtet. In seiner Erwiderung auf eine in der „Kreuzzeitung” erschienene Rezension des „Bastiat-Schulze”, die nach Lassalle „von zu beachtenswerter Seite” kam, als daß die in ihr an Lassalle gerichteten Fragen hätten unbeantwortet bleiben dürfen, verweist Lassalle den Herrn Rezensenten des Regierungsblattes ausdrücklich auf die Ronsdorfer Rede und läßt die Erwiderung und zwei Exemplare der Rede unter Kuvert „persönlich” an Bismarck senden. Beide, Rezension und Rede, sind berechnet, auf die Regierung Eindruck zu machen -- ad usum delphini geschrieben. Der „unbeschreibliche Jubel” sollte Köder für Bismarck und den König sein. Aber niemand kann zwei Herren dienen, und das Bestreben, die Rede so zu gestalten, daß sie den gewünschten Effekt nach oben mache, bewirkte, daß sie tatsächlich einen durch und durch cäsaristischen Charakter erhielt. Sie ist ein doppeltes Pronunziamento des Cäsarismus: Cäsarismus in den Reihen der Partei, und Cäsarismus in der Politik der Partei. „Ja, es gibt nichts Organisations- und Zeugungsunfähigeres, nichts Unintelligenteres,” heißt es in der Einsendung an die „Kreuzzeitung”, „als der unruhige, nörgelnde liberale Individualismus, diese große Krankheit unserer Zeit! Aber dieser unruhige, nörgelnde Individualismus ist keineswegs Massenkrankheit, sondern wurzelt notwendig und naturgemäß nur in den Viertels- und Achtels-Intelligenzen der Bourgeoisie. Der Grund ist klar: Der Geist der Massen ist, ihrer Massenlage angemessen, immer auf objektive, auf sachliche Zwecke gerichtet. Die Stimmen unruhiger, persönlichkeitssüchtiger Einzelner würden hier in diesem Stimmenakkord verklingen, ohne nur gehört zu werden. Der oligarchische Boden allein ist der homogene, mütterliche Boden für den negativen, ätzenden Individualismus unserer liberalen Bourgeoisie und ihre subjektive, eigenwillige Persönlichkeitssucht.” Ähnlich hatte es in der Ronsdorfer Rede geheißen: „Noch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe ich zu erwähnen.
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Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein epochemachend, und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte, da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis zur Nordsee, und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein ‚Nein’ gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die ihr mir anvertraut habt, eine durchaus auf eurer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit beruhende!... Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den Arbeitern Worte gehört, die sich in den Satz zusammenfassen: Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit dem Hammer! Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar betrachteten, deren Vereinigung sie für den Stein der Weisen hielten, Freiheit und Autorität, -- die höchsten Gegensätze, sie sind auf das innigste vereinigt in unserem Verein, welcher so nur das Vorbild im kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen darstellt. Nicht eine Spur ist in uns von jenem nörgelnden Geiste des Liberalismus, von jener Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissen-Wollens, von welchem der Körper unserer Bourgeoisie durchfressen ist ...” Es liegt diesen Sätzen formell ein richtiger Gedanke zugrunde, der nämlich, daß in der modernen Gesellschaft die Arbeiter unter normalen Verhältnissen viel mehr als irgendeine andere Gesellschaftsklasse auf die gemeinsame Aktion angewiesen sind, und daß in der Tat schon die Existenzbedingungen des modernen industriellen Proletariers den Geist der Gemeinschaftlichkeit in ihm entwickeln, während umgekehrt der Bourgeois nur unter anormalen Verhältnissen, nicht aber durch die bloße Art seiner gesellschaftlichen Existenz, zur gemeinschaftlichen Aktion sich veranlaßt sieht. Dieser richtige Gedanke empfängt aber durch die obige Verallgemeinerung eine total falsche Deutung. Die Massenaktion heißt noch lange nicht die persönliche Diktatur; wo die Masse ihren Willen aus der Hand gibt, ist sie vielmehr bereits auf dem Wege, aus einem revolutionären ein reaktionärer Faktor zu werden.
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Die persönliche Diktatur ist in den Kämpfen der modernen Gesellschaft jedesmal der Rettungsanker der in ihrer Existenz sich bedroht sehenden reaktionären Klassen gewesen, niemand ist mehr geneigt, den „negativen, ätzenden Individualismus” aufzugeben, als der moderne Bourgeois, sobald sein Geldsack, sein Klassenprivilegium, ernsthaft gefährdet erscheint. In solchen Momenten wird das Schlagwort von der „einen reaktionären Masse” zur Wahrheit und blüht, sobald die Strömung sich verallgemeinert, der Bonapartismus. Die zur Selbstregierung sich unfähig fühlenden Klassen tun das, was Lassalle oben den Arbeitern unterstellt: sie treten ihren Willen an eine einzelne Persönlichkeit ab und verdammen jeden Versuch, etwaigen Sonderinteressen dieser Persönlichkeit entgegenzutreten, als „unruhigen, nörgelnden Individualismus”. So beschuldigte die deutsche Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer wieder gerade die Partei, die tatsächlich am konsequentesten deren Klassenforderungen vertritt -- die deutschfreisinnige Partei -- des Verrats an ihren Interessen, weil sie durch ihre „Nörgelei” die staatserhaltende Tätigkeit der Regierung beeinträchtige, und so griff im Jahre 1851 die französische Bourgeoisie ihre eigenen parlamentarischen Vertreter jedesmal, wenn diese daran gingen, dem Louis Bonaparte die Mittel zum Staatsstreich zu verweigern, solange als Unruhestifter, Anarchisten usw. an, bis Napoleon stark genug war, sich zum Diktator der Bourgeoisie aufzuwerfen, statt sich mit der Rolle des bloßen Hüters der Ruhe und Ordnung für die Bourgeoisie zu begnügen. Eine aufsteigende, revolutionäre Klasse hat absolut keinen Anlaß, ihren Willen aus der Hand zu geben, auf das Recht der Kritik, auf das „Besserwissen-Wollen” ihren Führern gegenüber zu verzichten. Und wir haben bei der Solinger Affäre gesehen, daß, wie sehr auch Lassalle den Arbeitern gegenüber auf seine höhere Intelligenz pochte, er gerade aus den Reihen der Arbeiter heraus ein sehr deutliches und kräftiges „Nein” hatte hören müssen, und sicherlich nicht zum Schaden der Bewegung. Auch in Berlin hatte er bei einem bestimmten Anlaß ein ebensolches „Nein” gehört -- er sprach, wenn er sich rühmte, in dem von ihm geleiteten Verein „Autorität und Freiheit” in der oben geschilderten Weise verwirklicht zu haben, mehr einen Wunsch, als eine bereits verwirklichte Tatsache aus. Zur Ehre Lassalles muß gesagt werden, daß er von Anfang an die persönliche Spitze für unerläßlich gehalten hatte. Zu diesem bloßen Glauben kam nun jedoch das wirkliche Bedürfnis hinzu. Die Politik, die er jetzt eingeschlagen hatte, war nur durchzuführen, wenn die Mitglieder und Anhänger der Bewegung kritiklos dem Führer folgten und ohne Murren taten, was er von ihnen verlangte.
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Wie Lassalle selbst das Versprechen des Königs von Preußen gegenüber den schlesischen Webern in einer Weise behandelte, daß nur noch ein kleiner, ganz beiläufiger Vorbehalt den Demokraten -- man möchte sagen, vor seinem Gewissen -- salvierte, das übrige aber auf den reinen Cäsarismus hinauslief, so mußten auch sie bereit sein, auf Kommando das Loyalitätsmäntelchen umzuhängen. Wenn eines die Ronsdorfer Rede wenigstens menschlich zu entschuldigen vermag, so ist es die Tatsache, daß sie für Lassalle unter den gegebenen Verhältnissen eine Notwendigkeit war. Er brauchte die Diktatur, um die Arbeiter je nach Bedürfnis für seine jeweiligen Zwecke zur Verfügung zu haben, und er brauchte die Bestätigung der Diktatur, um nach oben hin als eine bündnisfähige Macht zu erscheinen. Die Rede war der notwendige Schritt auf der einmal betretenen Bahn -- ein Halt war da nicht mehr möglich. Fußnoten: [32] Es sei hier noch einmal an das Auftreten Eichlers erinnert. Ferner ist interessant folgende Stelle aus dem Schlußwort einer Ansprache des Herrn Herm. Wagener, Vertrauten des Herrn von Bismarck und tonangebenden Leiter der „Kreuz-Zeitung”, in einer Sitzung des konservativen preußischen Volksvereins vom 2. November 1862: „Meine Herren, täuschen wir uns nicht, lernen wir von unsern Gegnern, denn sie sagen mit Recht, wenn es Euch nicht gelingt, die soziale Frage zu lösen, so ist all Euer Laufen und Mühen umsonst. Ich schließe deshalb mit der Aufforderung, treiben wir das, was wir als die Aufgaben und Bedürfnisse der nächsten Zukunft erkennen, treiben wir das mit noch mehr Energie, treiben wir es nicht bloß für die Zeit der Wahlen.” [33] Der Aufsatz ist in unserer Gesamtausgabe der Lassalleschen Schriften dem für das große Publikum bestimmten Vorwort Lassalles zum Franz von Sickingen angefügt (vgl. Bd. I). [34] Die Stelle lautet: „Mit dem Trost einer möglichst baldigen gesetzlichen Regelung der Frage und dadurch Abhülfe ihrer Not entließen Seine Majestät die Deputation. Das königliche Versprechen wird erhebend und ermuthigend in allen Thälern des Riesengebirges widerhallen und vielen hundert duldenden redlichen Familien neue Hoffnung und neue Kraft zum muthigen Ausharren geben.” Lassalles letzte Schritte und Tod. Die ihr folgenden Schritte Lassalles, sowohl was die innere Vereinsleitung als auch was die geplante nächste äußere Aktion des Vereins anbetrifft, bewegten sich denn auch in der gleichen Richtung.
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Im Verein drang er auf die Ausstoßung Vahlteichs, der in bezug auf die Organisation in Gegensatz zu ihm getreten war, und er stellte dabei nicht nur die Kabinettsfrage: er oder ich, so daß den Vereinsmitgliedern kaum etwas anderes übrig blieb, als den Arbeiter Vahlteich dem Herrn Präsidenten aufzuopfern, er verfuhr auch sonst in dieser Angelegenheit höchst illoyal, indem er z. B. Anweisungen gab, sein gegen Vahlteich gerichtetes, sehr umfangreiches Anklageschreiben in solcher Weise zirkulieren zu lassen, daß Vahlteich selbst den Inhalt des Schreibens erst kennenlernen mußte, nachdem die übrigen Vorstandsmitglieder bereits gegen ihn beeinflußt waren. Wie man nun auch über Vahlteichs Vorschläge zur Abänderung der Organisation denken mochte, die Art, wie Lassalle schon den Gedanken an eine Reformierung des Vereins quasi als Verrat an der Sache hinstellte, war um so weniger gerechtfertigt, als er, Lassalle, selbst bereits halb entschlossen war, den Verein fallen zu lassen, wenn sein letzter Versuch, „einen Druck auf die Ereignisse auszuüben”, mißglücken sollte. Dieser Versuch oder „Coup”, wie Lassalle ihn selbst genannt, sollte in Hamburg in Szene gesetzt werden. Er betraf die Angelegenheit der soeben von Dänemark eroberten Herzogtümer Schleswig-Holstein. Als im Winter 1863 der Tod des Königs von Dänemark die schleswig-holsteinische Frage in den Vordergrund gedrängt hatte, hatte Lassalle, der in jenem Moment bereits mit Bismarck in Unterhandlung stand und deshalb ein großes Interesse daran hatte, je nach derjenigen Politik, für die die preußische Regierung sich entschloß, den Verein Stellung nehmen zu lassen, bei dessen Mitgliedern gegen den „Schleswig-Holstein-Dusel” Stimmung gemacht[35] und eine Resolution ausgearbeitet und überall annehmen lassen, in der erklärt wurde: „Die einheitliche Gestaltung Deutschlands würde die schleswig-holsteinische Frage ganz von selbst erledigen. Dieser großen Aufgabe gegenüber erscheint die Frage, ob, solange in Deutschland 33 Fürsten bestehen, einer derselben ein ausländischer Fürst ist, von verhältnismäßig sehr untergeordnetem Interesse.” Im übrigen enthält die Resolution nur mehr oder weniger allgemeine Wendungen; alle deutschen Regierungen seien verpflichtet, die Einverleibung der Herzogtümer in Deutschland „nötigenfalls mit Waffengewalt” durchzusetzen, aber das Volk wird aufgefordert, auf der Hut zu sein; es „lasse sich durch nichts von seinen gewaltigen zentralen Aufgaben abziehen”. Gegen die Fortschrittler und Nationalvereinler wird der Vorwurf erhoben, daß sie „Schleswig-Holstein als eine Gelegenheit benutzen zu wollen scheinen, um die Aufmerksamkeit von der inneren Lage abzulenken und der Lösung eines Konfliktes, dem sie nicht gewachsen sind, unter dem Schein des Patriotismus zu entfliehen”. Dies im Dezember 1863.
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Jetzt waren die Herzogtümer erobert, und es handelte sich um die Frage, was mit ihnen geschehen solle. Ein großer Teil der Fortschrittler trat für die legitimen Ansprüche des Herzogs von Augustenburg ein, während man in maßgebenden Kreisen Preußens auf die Annexion der Herzogtümer in Preußen hinarbeitete. So wenig Interesse nun die demokratischen Parteien hatten, zu den vorhandenen 33 souveränen Fürsten in Deutschland noch einen 34sten zu schaffen, so hatten sie andrerseits auch keine Ursache, der zur Zeit reaktionärsten Regierung in Deutschland einen Machtzuwachs zuzusprechen. Lassalle aber hatte bereits so sehr sein politisches Taktgefühl verloren, daß er allen Ernstes beabsichtigte, in Hamburg eine große Volksversammlung abzuhalten und von dieser eine Resolution beschließen zu lassen, des Inhalts, daß Bismarck verpflichtet sei, die Herzogtümer gegen den Willen Österreichs und der übrigen deutschen Staaten an Preußen zu annektieren. Es braucht nicht durch Worte bezeichnet zu werden, welche Rolle Lassalle damit auf sich nahm und zu welcher Rolle er die sozialistisch gesinnten Arbeiter Hamburgs gebrauchen wollte, die ihm so warme Dankbarkeit und Verehrung entgegenbrachten. Indes ist es nicht zur Ausführung des Vorhabens gekommen, es blieb den Hamburger Arbeitern der Konflikt zwischen ihrer demokratischen Überzeugung und der vermeintlichen Pflicht gegen ihren Führer glücklicherweise erspart. Lassalle war, nachdem er in Düsseldorf noch einen Prozeß ausgefochten, in die Schweiz gegangen. Er nahm zunächst Aufenthalt auf Rigi Kaltbad, und dort besuchte ihn gelegentlich eines Ausfluges Fräulein Helene von Dönniges, deren Bekanntschaft er im Winter 1861/62 in Berlin gemacht und der er, nach ihrer Darstellung, schon damals seine Hand angetragen hatte. Es entwickelte sich im Anschluß an den Besuch jene Liebesaffäre, deren Schlußresultat der frühzeitige Tod Lassalles war. Die Einzelheiten der Lassalle-Dönniges-Affäre sind heute so bekannt und die für Lassalle bezeichnenderen Schritte desselben in dieser Affäre so über alle Zweifel sichergestellt, daß auf eine Wiedererzählung des ganzen Verlaufs der Sache hier verzichtet werden kann. Lassalle zeigte sich bei diesem Anlasse auch durchaus nicht in einem neuen Lichte; er entwickelte vielmehr nur Eigenschaften, die wir bereits bei ihm kennen gelernt haben -- man kann sagen, daß die Dönniges-Affäre im kleinen und auf einem andern Gebiet lediglich ein Abbild der Lassalleschen Agitationsgeschichte darstellt. Lassalle glaubt in Helene von Dönniges das Weib seiner Wahl gefunden zu haben. Die einzige Schwierigkeit ist, das Jawort der Eltern zu erlangen. Aber Lassalle hegt nicht den mindesten Zweifel, daß es dem Einfluß seiner Persönlichkeit gelingen muß, diese Schwierigkeit zu überwinden.
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Selbstbewußt, und zugleich mit umsichtiger Berechnung aller in Betracht kommenden Momente, entwirft er seinen Operationsplan. Er wird kommen, die Zuneigung der Eltern erobern und ihnen die Einwilligung abringen, ehe sie noch recht wissen, was sie mit ihrer Genehmigung tun. Da stellt sich plötzlich ein kleines, unvorhergesehenes Hindernis in den Weg: durch eine Unvorsichtigkeit der jungen Dame erfahren die Eltern früher als sie sollen von der Verlobung und erklären, Lassalle unter keinen Umständen als Schwiegersohn annehmen zu wollen. Indes noch gibt Lassalle seinen Plan nicht auf, sein Triumph wird nur um so größer sein, je größer der Widerstand der Eltern. Von diesem Selbstbewußtsein getragen, begeht er einen Schritt, der die Situation so gestaltet, daß jede Hoffnung, auf dem geplanten Wege zum Ziele zu gelangen, ausgeschlossen ist, ja, der sogar das Mädchen selbst an ihm irre werden läßt. Indes, ist's nicht dieser Weg, so ist's ein anderer. Und ohne Rücksicht darauf, was er sich und seiner politischen Stellung schuldig ist, beginnt Lassalle einen Kampf, bei dem es für ihn nur einen Gesichtspunkt gibt: den Erfolg. Jedes Mittel ist recht, das Erfolg verspricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges beobachten und über jeden ihrer Schritte rapportieren müssen. Durch die Vermittlung Hans von Bülows wird Richard Wagner ersucht, den König von Bayern zu veranlassen, zugunsten Lassalles bei Herrn v. Dönniges zu intervenieren, während dem Bischof Ketteler von Mainz der Übertritt Lassalles zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen Einfluß zugunsten Lassalles geltend mache. Lassalle machte sich nicht die geringsten Gedanken darüber, wie wenig würdig es der geschichtlichen Mission war, die er übernommen hatte, bei einem Minister von Schrenk zu antichambrieren, damit dieser ihm zu seiner Geliebten verhelfe, noch kümmerte er sich darum, wie wenig er sich seines Vorbildes Hutten würdig erwies, wenn er bei einem eingefleischten Vertreter Roms um Hilfe zur Erlangung eines Weibes petitionierte. Hier, wo er hätte stolz sein dürfen, wo er stolz sein mußte, war er es nicht. Trotzdem blieb der Erfolg aus. Der Bischof von Mainz konnte gar nichts tun, weil Helene von Dönniges protestantisch war, und der Vermittlungsversuch, den ein vom bayerischen Minister des Auswärtigen an den Schauplatz des Konfliktes entsandter Vertrauensmann unternahm, führte nur dahin, Lassalle den Beweis zu liefern, daß er durch die Art seines Vorgehens sich und das Weib, für das er kämpfte, in eine total falsche Position gebracht hatte.
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Obwohl er gewußt hatte, daß Helene jeder Willensenergie entbehrte und darin gerade einen Vorzug für sein zukünftiges Zusammenleben mit ihr erblickt hatte -- „erhalten Sie mir Helene in den unterwürfigen Gesinnungen, in denen sie jetzt ist”, hatte er am 2. August an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben --, hatte er ihr jetzt eine Rolle zugemutet, welche die höchste Willensstärke erforderte, und war empört darüber, daß das junge Mädchen sich ihr zu entziehen suchte. Getragen von seinem Selbstgefühl und gewohnt, die Dinge ausschließlich unter dem Gesichtswinkel seiner Stimmungen und Interessen zu betrachten, hatte er ganz außer Erwägung gelassen, daß gerade die unterwürfigsten Menschenkinder am leichtesten ihre Empfindungen ändern, und sah den „bodenlosen Verrat” und das „unerhörteste Spiel” einer „verworfenen Dirne”, wo weiter nichts vorlag, als die Unbeständigkeit eines verwöhnten Weltkindes. Indes, er war nervös total heruntergekommen und besaß längst nicht mehr die Energie eines gesunden Willens. Das rasche Zugreifen zu Gewaltmitteln, das Bestreben, um jeder Kleinigkeit wegen Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, die Unfähigkeit, Widerspruch zu ertragen oder sich einen Wunsch zu versagen, sind nicht Beweise geistiger Kraft, sondern eines hochgradigen Schwächezustandes. Auch der schnelle Wechsel von Zornesausbrüchen und Tränen, der sich nach den übereinstimmenden Berichten der Augenzeugen bei Lassalle damals zeigte, deutet untrüglich auf ein stark zerrüttetes Nervensystem. In dieser Verfassung war es ihm unmöglich, die erlittene Niederlage ruhig zu ertragen, und er suchte sich durch ein Duell Genugtuung zu verschaffen für die ihm nach seiner Ansicht angetane Schmach. So töricht das Duell an sich ist, so begreiflich war es unter den obwaltenden Verhältnissen. In den Gesellschaftskreisen, in denen die Affäre spielte, ist das Duell das reinigende Bad für allen Schmutz und allen Schimpf, und wenn Lassalle nicht die moralische Kraft besaß, sich im Kampf um irgendeine Sache auf solche Mittel zu beschränken, welche sich für den Vertreter der Partei der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft schicken, so war es auch nur konsequent, daß er für den vermeintlich erlittenen Schimpf sich in der Weise seiner Umgebung Genugtuung zu verschaffen suchte. Wer sich dem Bojaren Janko von Rakowitza im Duell gegenüberstellte, das war nicht der Sozialist Lassalle, sondern der verjunkerte Kaufmannssohn Lassalle, und wenn mit dem letzteren auch der erstere, der Sozialist, im Duell erschossen wurde, so sühnte er damit die Schuld, daß er jenem die Macht über sich eingeräumt hatte. Fußnoten: [35] In einen Brief Lassalles an den Vize-Präsidenten Dr.
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Dammer, an den Lassalle in der ersten Aufregung zwei sich durchaus widersprechende Telegramme gesandt, hatte es wörtlich geheißen: „Die erste Depesche ... erließ ich sofort, weil mir der ganze Schleswig-Holstein-Dusel in vieler Hinsicht höchst unangenehm ist.” Der Widerspruch in den Telegrammen erklärt sich jetzt durch die widerspruchsvolle Situation, in die Lassalle geraten war. Er war, ohne es selbst zu wissen, nicht mehr frei. Schlußbetrachtung. So machte ein frühzeitiger Tod der politischen Laufbahn Lassalles, seinen Plänen und Hoffnungen ein jähes Ende. Vielleicht war es gut so, vielleicht hat er es selbst in seinen letzten Stunden nicht als ein Unglück empfunden. Das Ziel, das er im Sturm nehmen zu können geglaubt, war wieder in die Ferne gerückt, und für die ruhige Organisationsarbeit hielt er sich nicht geschaffen. So sah seine nächste Zukunft sehr problematisch aus, und dies mag zu der fast wahnsinnigen Hast, mit der er sich in die Dönniges-Affäre gestürzt hatte, viel beigetragen haben. Es ist eigentlich müßig, sich die Frage vorzulegen, was Lassalle wohl getan hätte, wenn er nicht der Kugel des Herrn von Rakowitza erlegen wäre. Indes ist diese Frage bisher meist in einer Weise erörtert worden, die ein kurzes Eingehen darauf rechtfertigt. Gewöhnlich wird nämlich gesagt, es würde Lassalle, wenn er weiter gelebt hätte, nach Lage der Dinge nichts übrig geblieben sein, als gleich seinem Freunde Bucher eine Stelle im preußischen Staatsdienst anzutreten. Wer aber so spricht, beurteilt Lassalle absolut falsch. Wohl hätte die von ihm schließlich eingeschlagene Politik, wenn konsequent weiter befolgt, ihn zuletzt ins Regierungslager führen müssen, aber auf diesen letzten Schritt hätte es Lassalle eben für sich nicht ankommen lassen. Er hätte nie den preußischen Beamtenrock angezogen. Er besaß genug, um nach seinen Bedürfnissen leben zu können, und seinem Ehrgeiz hätte eine Stelle, wie die preußische Regierung sie ihm bieten konnte, ebensowenig genügt, wie sie seiner im Innersten stets unveränderten Gesinnung entsprochen hätte. In dieser Hinsicht hätte eher er zu Bismarck, als dieser zu ihm sagen können: „Was kannst du, armer Teufel, geben?” Das Wahrscheinliche ist vielmehr, daß Lassalle sich, sobald die gegen ihn erkannten Strafen rechtskräftig geworden, dauernd im Ausland niedergelassen und dort einen Umschwung der Verhältnisse in Preußen, bzw. Deutschland abgewartet hätte. Denn daß der Hamburger „Coup”, selbst wenn die Versammlung zustande kam und die Resolution beschlossen wurde, an den tatsächlichen Verhältnissen zunächst nichts geändert haben würde, liegt auf der Hand.
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Wie gering diese Aussicht war, geht daraus hervor, daß das bloße Jawort Helenes von Dönniges genügt hatte, um Lassalles Ansicht über den voraussichtlichen Effekt des „Coup” erheblich zu erschüttern. Am 27. Juli hatte er über diesen an die Gräfin Hatzfeldt geschrieben: „... Ich muß noch vorher in Hamburg sein, wo ich einen großen, sehr großen, vielleicht tatsächlich wichtigen Coup schlagen will.” Tags darauf erhält er Helenes Zusage und schreibt nun an die Gräfin, daß er sich selbst „nicht zu viel” von dem Versuch in Hamburg verspreche. Die betreffende Stelle dieses Briefes ist zwar oft zitiert, da sie aber für Lassalles damalige Stimmung äußerst charakteristisch ist, mag sie auch hier zum Abdruck kommen. Sie lautet: „Wie Sie mich doch mißverstehen, wenn Sie schreiben: ‚Können Sie sich nicht auf einige Zeit in Wissenschaft, Freundschaft und schöner Natur genügen?’ Sie meinen, ich müsse Politik haben. Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind. Ich wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik loszuwerden, um mich in Wissenschaft, Freundschaft und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar würde ich so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen, wenn ernste Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel sähe, sie zu erobern -- ein solches Mittel, das sich für mich schickt; denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspiel aber bin ich zu alt und zu groß. Darum habe ich höchst ungern das Präsidium übernommen! Ich gab nur Ihnen nach. Darum drückt es mich jetzt gewaltig. Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es los werden?!) Denn die Ereignisse werden sich, fürcht' ich, langsam, langsam entwickeln, und meine glühende Seele hat an diesen Kinderkrankheiten und chronischen Prozessen keinen Spaß. Politik heißt aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen! Ich werde versuchen, in Hamburg einen Druck auf die Ereignisse auszuüben. Aber inwieweit das wirken wird, das kann ich nicht versprechen und verspreche mir selbst nicht zu viel davon! Ach könnte ich mich zurückziehen!” -- In demselben Brief schreibt Lassalle an anderer Stelle, er sei „lustig und voller Lebenskraft” und „nun, die alte Kraft ist noch da, das alte Glück auch noch”. Es waren also lediglich politische Erwägungen, die jene resignierten Sätze diktierten. Als er nach dem Aufenthalt mit Helene von Dönniges in Bern am 3.
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Lassalle schlug ohne Bedenken ein, und ich verschaffte ihm am 11. August 1864 vorliegende Aufenthaltsbewilligung.” Die Aufenthaltsbewilligung selbst lautet auf vorläufig sechs Monate. Briefe, die vom Sekretariat des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins an ihn gelangten, hat Lassalle während der vier Wochen seines Kampfes um Helene von Dönniges gar nicht mehr beantwortet. Erst als er am Vorabend des Duells sein Testament machte, gedachte er wieder des Vereins und setzte dem Sekretär desselben, Willms, auf fünf Jahre hinaus eine Rente von jährlich 500 Talern für Agitationszwecke aus und eine ebensolche von jährlich 150 Talern für seinen persönlichen Bedarf. Als seinen Nachfolger empfahl er dem Verein den Frankfurter Bevollmächtigten Bernhard Becker. Er solle an der Organisation festhalten, „sie wird den Arbeiterstand zum Siege führen”. Unter den Mitgliedern des Vereins erregte die Nachricht von Lassalles Tod nicht geringe Bestürzung. Es war ihnen lange unmöglich den Gedanken zu fassen, daß Lassalle wirklich nur in einer gewöhnlichen Liebesaffäre gefallen sei. Sie glaubten an einen vorbedachten Anschlag, der von den Gegnern angezettelt sei, um den gefährlichen Agitator aus dem Wege zu räumen, und feierten den Gefallenen als das Opfer einer nichtswürdigen politischen Intrige. Ein wahrer Lassalle-Kultus entwickelte sich zunächst, eine Art Lassalle-Religion, deren Propagierung vor allem die Gräfin Hatzfeldt, aus übrigens menschlich durchaus erklärlichen Gründen, sich angelegen sein ließ. Sehr trug zu diesem Kultus auch die Art bei, wie Lassalle den Arbeitern persönlich gegenübergetreten war. So liebenswürdig er im Umgang mit ihnen sein konnte, so hatte er doch sorgfältig darauf geachtet, in seiner äußeren Erscheinung sowohl wie in seinem Benehmen ihnen seine gesellschaftliche und geistige Überlegenheit stets vor Augen zu halten. Mit größtem Wohlbehagen hatte er ferner sich in Ronsdorf als eine Art Religionsstifter feiern lassen und selbst dafür gesorgt, daß ein die wirklichen Vorgänge noch übertreibender Bericht darüber im „Nordstern” erschien. In seinen Reden war seine Person immer mehr in den Vordergrund getreten -- so stark, daß, wenn er sich in Verbindung mit andern genannt hatte, er stets das Ich hatte vorangehen lassen. Einzelne mochte diese Art des Auftretens abstoßen, auf die Masse hatte es, namentlich bei der Jugend der Bewegung, einen großen Zauber ausgeübt, und je mehr sich ein Mythenkreis um Lassalles Persönlichkeit wob, um so stärkere Wirkung übte der Zauber nachträglich aus. Es wäre übrigens sehr falsch, die Tatsache zu verkennen, daß dieser Kultus der Persönlichkeit Lassalles sich für die Agitation lange Zeit im hohen Grade fördernd erwiesen hat.
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Es liegt nun einmal in den meisten Menschen der Zug, eine Sache, die sich in jedem gegebenen Moment um so mehr als etwas Abstraktes darstellt, je weittragender ihre Ziele sind, gern in einer Person verkörpert zu sehen. Diese Personifizierungssucht ist das Geheimnis der Erfolge der meisten Religionsstifter, ob Charlatane oder Illusionäre, und sie ist in England und Amerika ein anerkannter Faktor im politischen Parteikampfe. Sie ist so stark, daß zuweilen die bloße Tatsache, daß eine Persönlichkeit aus einer Körperschaft Gleicher oder selbst Besserer ausscheidet, genügt, sie über diese hinauszuheben und ihr eine Macht zu verschaffen, die jener hartnäckig verweigert wurde. Man erinnere sich nur des Boulanger-Fiebers in Frankreich, das durchaus nicht der Beispiele in der Geschichte anderer Länder ermangelt. Dutzende von Mitgliedern der französischen Kammer waren Boulanger an Wissen, Begabung und Charakter überlegen und konnten auf die ehrenvollsten Narben im Dienste der Republik verweisen, aber sie sanken doch zu Nullen ihm gegenüber herab, während er zur großen Eins emporgeschnellt wurde und sein Name Hunderttausende entflammte. Warum? Weil sich plötzlich in ihm eine Idee verkörperte, während die Deputiertenkammer, trotz der Summe von Wissen und Erfahrung, die sie repräsentierte, nichts war als eine anonyme Vielheit. Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große agitatorische Wirkung aus. Das „Arbeiterprogramm”, das „Offene Antwortschreiben”, das „Arbeiterlesebuch” usw. haben Hunderttausende für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, -- ein verständiger Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte.
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Wenn die deutsche Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten zu schätzen gewußt hat, wenn sie von der Notwendigkeit des Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, daß sie auch ohne das äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen aufrechtzuerhalten gewußt hat, so ist das zum großen Teil eine Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die Traditionen der Lassalleschen Agitation am stärksten waren, in bezug auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben. Indes, man kann die Vorteile einer Sache nicht haben, ohne auch ihre Nachteile in den Kauf nehmen zu müssen. Wir haben gesehen, welchen doppelt zwieschlächtigen Charakter die Lassallesche Agitation trug, zwieschlächtig in ihrer theoretischen Grundlage, zwieschlächtig in ihrer Praxis. Das blieb natürlich lange noch bestehen, nachdem Lassalle selbst aus dem Leben geschieden war. Ja, es verschlimmerte sich noch. Festhalten an Lassalles Taktik hieß Festhalten an der Schwenkung, die er während der letzten Monate seiner Agitation vollzogen, er selbst in dem Bewußtsein und mit dem Vorbehalt, jeden Augenblick umkehren, die Maske abwerfen zu können. Aber, um einen seiner eignen Aussprüche anzuwenden: Individuen können sich verstellen, Massen nie. Seine Politik fortführen hieß, wenn es buchstäblich genommen wurde, die Massen irreführen. Und die Massen wurden irregeführt. Es kam die Zeit der Schweitzerschen Diktatur. Ob J. B. von Schweitzer je ein Regierungsagent im buchstäblichen Sinne dieses Wortes war, scheint mir sehr zweifelhaft; kein Zweifel aber kann bestehen, daß seine Politik zeitweise der eines Regierungsagenten nahekam. Kam es doch unter seiner Leitung dahin, daß von Agitatoren des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins” Republikaner sein für gleichbedeutend mit Bourgeois sein erklärt wurde, weil die bisherigen Republiken Bourgeoisrepubliken gewesen. Schweitzer war unzweifelhaft der begabteste Nachfolger Lassalles. Aber wenn er ihn an Talent nahezu erreichte, so übertraf er ihn zugleich in einigen seiner bedenklichsten Fehler. Mit noch weniger Scheu als Lassalle hat er mit den preußischen Hof-Sozialdemagogen geliebäugelt. Daß er dies jedoch konnte, ohne je um einen, seine Politik unterstützenden Satz aus Lassalles Reden in Verlegenheit zu sein, ist ein Vorwurf, der Lassalle nicht erspart bleiben darf. Schlimmeres, als die um die verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung kämpfenden Parteien, unter denen sich Männer wie Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler usw. befanden, einfach als eine „Clique” zu bezeichnen, hat selbst Schweitzer nie getan.
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Auch andre Fehler Lassalles erbten sich in der Bewegung fort, und es hat langwierige und schwere Kämpfe gekostet, bis sie völlig überwunden wurden. Was die theoretischen Irrtümer Lassalles anbetrifft, die ich oben ausführlicher behandelt habe, so sei hier nur daran erinnert, wie heftige Kämpfe es gekostet hat, bis sich in der deutschen sozialistischen Arbeiterschaft eine richtige Wertschätzung der Gewerkschaftsbewegung Bahn gebrochen hat, wie lange die Gewerkschaften von einem großen Teil der Sozialisten mit dem Hinweis auf das „eherne Lohngesetz” bekämpft wurden. Die persönliche Färbung, die Lassalle der Bewegung gab, hatte zur Folge, daß diese nach seinem Tode in das Fahrwasser der Sektiererei geriet und noch lange Jahre in ihm trieb. Leute, die eine hervorragende Rolle gespielt und auffallende Eigenschaften entwickelt haben, pflegen alsbald eine große Anzahl Nachahmer zu erzeugen. So auch Lassalle. Die Viertels- und Achtels-Lassalle sproßten nach seinem Tode fröhlich aus dem Boden. Da sie aber in Ermangelung seines Talents sich darauf beschränken mußten, ihm nachzuahmen „wie er sich geräuspert und wie er gespuckt”, und dies, wie wir gesehen haben, nicht gerade das Beste an ihm war, so bildeten sie eine der unerquicklichsten Erscheinungen der Arbeiterbewegung. Heute ist das alles überwunden, und die Sozialdemokratie kann ohne Bitterkeit darüber hinweggehen. Aber es gab eine Zeit, wo die Bewegung darunter litt, und darum sei es hier erwähnt. Damit indes genug. Es möchte sonst der Eindruck dessen, was ich vorher von dem Erbe gesagt, das Lassalle der Arbeiterschaft bis auf heute hinterlassen, wiederum abgeschwächt werden, und das liegt durchaus nicht in meiner Absicht. Solange ich das Wirken Lassalles im einzelnen zu untersuchen hatte, mußte ich scharf sein; denn höher als der Ruhm des einzelnen steht das Interesse der großen Sache, für die der Kampf geht, und diese fordert vor allen Dingen Wahrheit. Die Sozialdemokratie hat keine Legenden und braucht keine Legenden, sie betrachtet ihre Vorkämpfer nicht als Heilige, sondern als Menschen, und kann es daher auch vertragen, wenn sie als Menschen kritisiert werden. Sie würdigt darum nicht weniger ihre Verdienste und hält das Andenken derer in Ehren, die das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse wesentlich gefördert haben. Und das hat Lassalle in hohem Maße getan. Vielleicht in höherem Maße, als er selbst am Vorabend seines Todes geahnt hat. Es ist anders gekommen, als wie er glaubte, aber die Bewegung ist heute dieselbe, für die er im Frühjahr 1863 das Banner aufpflanzte.
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Es sind dieselben Ziele, für die sie heute kämpft, wenn sie auch in andrer Weise und mit andern Forderungen kämpft. Nach etlichen Jahren wird sie vielleicht wieder in andrer Weise kämpfen, und es wird doch dieselbe Bewegung sein. Kein Mensch, und sei er der größte Denker, kann den Weg der Sozialdemokratie im einzelnen vorherbestimmen. Niemand weiß, wie viele Kämpfe noch vor ihr liegen und wie viele Kämpfer noch werden ins Grab sinken müssen, bis das Ziel der Bewegung erreicht ist; aber die Leichensteine ihrer Toten erzählen von den Fortschritten der Bewegung und erfüllen ihre Kämpfer mit Siegesgewißheit für die Zukunft. Lassalle hat die deutsche Sozialdemokratie nicht geschaffen, so wenig wie irgendein andrer sie geschaffen hat. Wir haben gesehen, wie es bereits unter den vorgeschrittenen Arbeitern Deutschlands gärte und brodelte, als Lassalle sich an die Spitze der Bewegung stellte. Aber wenn er auch nicht als Schöpfer der Partei bezeichnet werden darf, so gebührt Lassalle doch der Ruhm, daß er Großes für sie ausgerichtet hat, -- so Großes, wie es Einzelnen selten gegeben ist. Er hat, wo meist nur erst unbestimmtes Wollen vorhanden war, bewußtes Streben verbreitet, er hat der deutschen Arbeiterwelt die Erkenntnis von ihrer geschichtlichen Mission beigebracht, er hat sie gelehrt, sich zur selbständigen politischen Partei zu organisieren, und er hat auf diese Weise den Entwicklungsprozeß der Bewegung ganz erheblich beschleunigt. Sein eigentliches Unternehmen schlug fehl, aber der Kampf für es war kein vergeblicher. Lassalle hat nicht umsonst die Fahne für die Erkämpfung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts erhoben. Dank der Agitation des von ihm gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeitervereins für diese Forderung wurden die Fortschrittler genötigt, sich nun gleichfalls ihrer anzunehmen, und so verschwand sie nicht mehr von der Tagesordnung und mußte die Berliner Regierung in sie einwilligen, als nach dem deutschen Kriege von 1866 die Verfassung des Norddeutschen Bundes geschaffen wurde. Das allgemeine gleiche, direkte und geheime Wahlrecht wurde wenigstens für den Reichstag des Norddeutschen Bundes und später des Deutschen Reiches verfassungsmäßiges Volksrecht. Noch war freilich die Zeit der Siege durch die Waffe dieses Wahlrechts nicht da. Aber um siegen zu können, mußte die Arbeiterschaft erst kämpfen lernen.
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Die Siege sind dann nicht ausgeblieben, von Wahl zu Wahl haben sie sich gehäuft, und im Augenblick, wo diese Abhandlung in neuer Form ins Land geht, hat die deutsche Arbeiterschaft vermittelst des nun auf die Wahlen zu allen Gesetzgebungskörpern und den Selbstverwaltungsvertretungen ausgedehnten und in jeder Hinsicht demokratisierten Wahlrechts eine politische Machtstellung erlangt, die ihr die glänzendsten Aussichten auf Durchsetzung tiefgreifender Maßnahmen sozialer Befreiung eröffnet. Sie zum Kampf einexerziert, ihr für ihn und ihre weiteren Ziele, wie es im Liede heißt, Schwerter gegeben, zugleich aber auch in die Seelen deutscher Arbeiter Sinn und Verständnis für diesen _organischen_ Weg gepflanzt zu haben, der unter allen Gesichtspunkten dem wilden Massenkampf vorzuziehen ist, -- bleibt das große, das unvergängliche Verdienst Ferdinand Lassalles. +--------------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Folgende Inkonsistenzen im Text wurden beibehalten, da beide | | Schreibweisen üblich waren, oder die Begriffe aus Zitaten stammen: | | | | anderm -- anderem | | andern -- anderen | | Arbeiterverein -- Arbeiter-Verein | | eigne -- eigene | | garnicht -- gar nicht | | heut -- heute | | Testamentrecht -- Testamentsrecht | | Vermittelung -- Vermittlung | | Verständniß -- Verständnis | | | | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: | | | | Schmutztitel "FERDINAND LASSALLE" entfernt. | | Inhaltsverzeichnis vom Ende des Buchs an den Anfang verschoben. | | S. 16 "selbhilflerischen" in "selbsthilflerischen" geändert. | | S. 19 "Kulter" in "Kultur" geändert. | | S. 30 "Schaffot" in "Schafott" geändert. | | S. 34 "Lorbeern" in "Lorbeeren" geändert. | | S. 37 "Hatzfeldtprozeß" in "Hatzfeldt-Prozeß" geändert. | | S. 38 "Hatzfeldtprozesses" in "Hatzfeldt-Prozesses" geändert | | (Fußnote). | | S. 44 "Hinkeldey" in "Hinckeldey" geändert. | | S. 49 ‚ vor "Denn" eingefügt. | | S. 55 „ vor "Bei alledem" entfernt. | | S. 71 "mutatis mutantis" in "mutatis mutandis" geändert. | | S. 72 „ vor "zerfetzt" eingesetzt. | | S. 80 "Frei-Herrosé" in "Frey-Herosé" geändert (Fußnote). | | S. 84 "Eisbock" in "Eisblock" geändert. | | S. 99 "Ludwis" in "Ludwig" geändert. | | S. 128 „ vor "..." eingesetzt (Fußnote 14). | | S. 136 "Geschichtschreibung" in "Geschichtsschreibung" geändert. | | S. 138 "Leibnitz" in "Leibniz" geändert. | | S. 138 „ am Beginn von Leibniz Zitat eingefügt. | | S. 154 "Macchiavellis" in "Machiavellis" geändert. | | S. 182 "anvancierten" in "avancierten" geändert. | | S.
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206 ” hinter "Bourgeoisie" eingefügt. | | S. 209 "sonderns" in "sonders" geändert. | | S. 217 "mußte" und "mußten" vertauscht. | | S. 219 "Weltmarktsindustrie" in "Weltmarktsindustrien" geändert. | | S. 255 "Gensdarmen" in "Gendarmen" geändert. | | S. 278 "wiederhallen" in "widerhallen" geändert. | | S. 302 "I. B. von Schweitzer" in "J. B. von Schweitzer" geändert. | | S. 303 "Sektirerei" in "Sektiererei" geändert. | | Inhalt "Hatzfeld" in "Hatzfeldt" geändert. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. Section 1. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. See paragraph 1.C below. See paragraph 1.E below. 1.C. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change.
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bis 16. Tausend Gelegt in die Hände von Lou Erstes Buch Das Buch vom mönchischen Leben (1899) [Illustration] Da neigt sich die Stunde und rührt mich an mit klarem metallenem Schlag: mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -- und ich fasse den plastischen Tag. Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut, ein jedes Werden stand still. Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut kommt jedem das Ding, das er will. Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem und mal es auf Goldgrund und groß und halte es hoch, und ich weiß nicht wem löst es die Seele los ... Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang. Ich habe viele Brüder in Soutanen im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht. Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen, und träume oft von jungen Tizianen, durch die der Gott in Gluten geht. Doch wie ich mich auch in mich selber neige: mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken. Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe, mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige tief unten ruhn und nur im Winde winken. Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen, du Dämmernde, aus der der Morgen stieg. Wir holen aus den alten Farbenschalen die gleichen Striche und die gleichen Strahlen, mit denen dich der Heilige verschwieg. Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände; so daß schon tausend Mauern um dich stehn. Denn dich verhüllen unsre frommen Hände, sooft dich unsre Herzen offen sehn. Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden, in welchen meine Sinne sich vertiefen; in ihnen hab ich, wie in alten Briefen, mein täglich Leben schon gelebt gefunden und wie Legende weit und überwunden. Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe. Und manchmal bin ich wie der Baum, der, reif und rauschend, über einem Grabe den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe (um den sich seine warmen Wurzeln drängen) verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
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Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -- so ists, weil ich dich selten atmen höre und weiß: Du bist allein im Saal. Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da, um deinem Tasten einen Trank zu reichen: ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen. Ich bin ganz nah. Nur eine schmale Wand ist zwischen uns, durch Zufall; denn es könnte sein: ein Rufen deines oder meines Munds -- und sie bricht ein ganz ohne Lärm und Laut. Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut. Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen. Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt, mit welchem meine Tiefe dich erkennt, vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen. Und meine Sinne, welche schnell erlahmen, sind ohne Heimat und von dir getrennt. Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte und das nachbarliche Lachen, wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -- Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken bis an deinen Rand dich denken und dich besitzen (nur ein Lächeln lang), um dich an alles Leben zu verschenken wie einen Dank. Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht. Man fühlt den Wind von einem großen Blatt, das Gott und du und ich beschrieben hat und das sich hoch in fremden Händen dreht. Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite, auf der noch alles werden kann. Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite und sehn einander dunkel an. Ich lese es heraus aus deinem Wort, aus der Geschichte der Gebärden, mit welchen deine Hände um das Werden sich ründeten, begrenzend, warm und weise. Du sagtest leben laut und sterben leise und wiederholtest immer wieder: Sein. Doch vor dem ersten Tode kam der Mord. Da ging ein Riß durch deine reifen Kreise und ging ein Schrein und riß die Stimmen fort, die eben erst sich sammelten, um dich zu sagen, um dich zu tragen, alles Abgrunds Brücke -- Und was sie seither stammelten, sind Stücke deines alten Namens. Der blasse Abelknabe spricht: Ich bin nicht. Der Bruder hat mir was getan, was meine Augen nicht sahn. Er hat mir das Licht verhängt. Er hat mein Gesicht verdrängt mit seinem Gesicht. Er ist jetzt allein. Ich denke, er muß noch sein. Denn ihm tut niemand, wie er mir getan.
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Es gingen alle meine Bahn, kommen alle vor seinen Zorn, gehen alle an ihm verlorn. Ich glaube, mein großer Bruder wacht wie ein Gericht. An mich hat die Nacht gedacht; an ihn nicht. Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt, indem sie glänzt für irgendeinen Kreis, aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß. Aber die Dunkelheit hält alles an sich: Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie's errafft, Menschen und Mächte -- Und es kann sein: eine große Kraft rührt sich in meiner Nachbarschaft. Ich glaube an Nächte. Ich glaube an alles noch nie Gesagte. Ich will meine frömmsten Gefühle befrein. Was noch keiner zu wollen wagte, wird mir einmal unwillkürlich sein. Ist das vermessen, mein Gott, vergib. Aber ich will dir damit nur sagen: Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb, so ohne Zürnen und ohne Zagen; so haben dich ja die Kinder lieb. Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden in breiten Armen ins offene Meer, mit dieser wachsenden Wiederkehr will ich dich bekennen, will ich dich verkünden wie keiner vorher. Und ist das Hoffart, so laß mich hoffärtig sein für mein Gebet, das so ernst und allein vor deiner wolkigen Stirne steht. Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug, um jede Stunde zu weihn. Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug, um vor dir zu sein wie ein Ding, dunkel und klug. Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten die Wege zur Tat; und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten, wenn etwas naht, unter den Wissenden sein oder allein. Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt und will niemals blind sein oder zu alt, um dein schweres schwankendes Bild zu halten. Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. Und ich will meinen Sinn wahr vor dir. Ich will mich beschreiben wie ein Bild, das ich sah lange und nah, wie ein Wort, das ich begriff, wie meinen täglichen Krug, wie meiner Mutter Gesicht, wie ein Schiff, das mich trug durch den tödlichsten Sturm. Du siehst, ich will viel. Vielleicht will ich alles: das Dunkel jedes unendlichen Falles und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel. Es leben so viele und wollen nichts und sind durch ihres leichten Gerichts glatte Gefühle gefürstet.
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Aber du freust dich jedes Gesichts, das dient und dürstet. Du freust dich aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät. Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät, in deine werdenden Tiefen zu tauchen, wo sich das Leben ruhig verrät. Wir bauen an dir mit zitternden Händen, und wir türmen Atom auf Atom. Aber wer kann dich vollenden, du Dom. Was ist Rom? Es zerfällt. Was ist die Welt? Sie wird zerschlagen, eh deine Türme Kuppeln tragen, eh aus Meilen von Mosaik deine strahlende Stirne stieg. Aber manchmal im Traum kann ich deinen Raum überschaun tief vom Beginne bis zu des Daches goldenem Grate. Und ich seh: meine Sinne bilden und baun die letzten Zierate. Daraus, daß einer dich einmal gewollt hat, weiß ich, daß wir dich wollen dürfen. Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen: wenn ein Gebirge Gold hat und keiner mehr es ergraben mag, trägt es einmal der Fluß zutag, der in die Stille der Steine greift, der vollen. Auch wenn wir nicht wollen: Gott reift. Wer seines Lebens viele Widersinne versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt, der drängt die Lärmenden aus dem Palast, wird anders festlich, und du bist der Gast, den er an sanften Abenden empfängt. Du bist der zweite seiner Einsamkeit, die ruhige Mitte seinen Monologen; und jeder Kreis, um dich gezogen, spannt ihm den Zirkel aus der Zeit. Was irren meine Hände in den Pinseln? Wenn ich dich _male_, Gott, du merkst es kaum. Ich _fühle_ dich. An meiner Sinne Saum beginnst du zögernd, wie mit vielen Inseln, und deinen Augen, welche niemals blinzeln, bin ich der Raum. Du bist nicht mehr inmitten deines Glanzes, wo alle Linien des Engeltanzes die Fernen dir verbrauchen mit Musik, -- du wohnst in deinem allerletzten Haus. Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus, weil ich mich sinnend dir verschwieg. Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht mit allen meinen Sinnen an dir branden? Meine Gefühle, welche Flügel fanden, umkreisen weiß dein Angesicht. Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht vor dir in einem Kleid aus Stille steht? Reift nicht mein mailiches Gebet an deinem Blicke wie an einem Baum? Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum. Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille und werde mächtig aller Herrlichkeit und ründe mich wie eine Sternenstille über der wunderlichen Stadt der Zeit.
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Mein Leben ist nicht diese steile Stunde, darin du mich so eilen siehst. Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde, ich bin nur einer meiner vielen Munde und jener, welcher sich am frühsten schließt. Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen, die sich nur schlecht aneinander gewöhnen: denn der Ton Tod will sich erhöhn -- Aber im dunklen Intervall versöhnen sich beide zitternd. Und das Lied bleibt schön. Wenn ich gewachsen wäre irgendwo, wo leichtere Tage sind und schlanke Stunden, ich hätte dir ein großes Fest erfunden, und meine Hände hielten dich nicht so, wie sie dich manchmal halten, bang und hart. Dort hätte ich gewagt, dich zu vergeuden, du grenzenlose Gegenwart. Wie einen Ball hätt ich dich in alle wogenden Freuden hineingeschleudert, daß einer dich finge und deinem Fall mit hohen Händen entgegenspringe, du Ding der Dinge. Ich hätte dich wie eine Klinge blitzen lassen. Vom goldensten Ringe ließ ich dein Feuer umfassen, und er müßte mirs halten über die weißeste Hand. Gemalt hätte ich dich: nicht an die Wand, an den Himmel selber von Rand zu Rand, und hätt dich gebildet, wie ein Gigant dich bilden würde: als Berg, als Brand, als Samum, wachsend aus Wüstensand -- oder es kann auch sein: ich fand dich einmal ... Meine Freunde sind weit, ich höre kaum noch ihr Lachen schallen; und du: du bist aus dem Nest gefallen, bist ein junger Vogel mit gelben Krallen und großen Augen und tust mir leid. (Meine Hand ist dir viel zu breit.) Und ich heb mit dem Finger vom Quell einen Tropfen und lausche, ob du ihn lechzend langst, und ich fühle dein Herz und meines klopfen und beide aus Angst. Ich finde dich in allen diesen Dingen, denen ich gut und wie ein Bruder bin; als Samen sonnst du dich in den geringen, und in den großen gibst du groß dich hin. Das ist das wundersame Spiel der Kräfte, daß sie so dienend durch die Dinge gehn: in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte und in den Wipfeln wie ein Auferstehn. Stimme eines jungen Bruders. Ich verrinne, ich verrinne wie Sand, der durch Finger rinnt. Ich habe auf einmal so viele Sinne, die alle anders durstig sind. Ich fühle mich an hundert Stellen schwellen und schmerzen. Aber am meisten mitten im Herzen. Ich möchte sterben. Laß mich allein.
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Ich glaube, es wird mir gelingen, so bange zu sein, daß mir die Pulse zerspringen. Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen, der gestern noch ein Knabe war; von Frauen sind seine Hände noch zusammgefügt zu einem Falten, welches halb schon lügt. Denn seine Rechte will schon von der Linken, um sich zu wehren oder um zu winken und um am Arm allein zu sein. Noch gestern war die Stirne wie ein Stein im Bach, geründet von den Tagen, die nichts bedeuten als ein Wellenschlagen und nichts verlangen, als ein Bild zu tragen von Himmeln, die der Zufall drüberhängt; heut drängt auf ihr sich eine Weltgeschichte vor einem unerbittlichen Gerichte, und sie versinkt in seinem Urteilsspruch. Raum wird auf einem neuen Angesichte. Es war kein Licht vor diesem Lichte, und wie noch nie beginnt dein Buch. Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen; du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen, du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen, du dunkles Netz, darin sich flüchtend die Gefühle fangen. Du hast dich so unendlich groß begonnen an jenem Tage, da du uns begannst, -- und wir sind so gereift in deinen Sonnen, so breit geworden und so tief gepflanzt, daß du in Menschen, Engeln und Madonnen dich ruhend jetzt vollenden kannst. Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn und dulde stumm, was wir dir dunkel tun. Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister, und bauen dich, du hohes Mittelschiff. Und manchmal kommt ein ernster Hergereister, geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister und zeigt uns zitternd einen neuen Griff. Wir steigen in die wiegenden Gerüste, in unsern Händen hängt der Hammer schwer, bis eine Stunde uns die Stirnen küßte, die strahlend und als ob sie alles wüßte von dir kommt wie der Wind vom Meer. Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern, und durch die Berge geht es Stoß um Stoß. Erst wenn es dunkelt, lassen wir dich los: Und deine kommenden Konturen dämmern. Gott, du bist groß. Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin, wenn ich mich nur in deine Nähe stelle. Du bist so dunkel; meine kleine Helle an deinem Saum hat keinen Sinn. Dein Wille geht wie eine Welle, und jeder Tag ertrinkt darin.
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Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn und steht vor dir wie aller Engel größter: ein fremder, bleicher und noch unerlöster, und hält dir seine Flügel hin. Er will nicht mehr den uferlosen Flug, an dem die Monde blaß vorüberschwammen, und von den Welten weiß er längst genug. Mit seinen Flügeln will er wie mit Flammen vor deinem schattigen Gesichte stehn und will bei ihrem weißen Scheine sehn, ob deine grauen Brauen ihn verdammen. So viele Engel suchen dich im Lichte und stoßen mit den Stirnen nach den Sternen und wollen dich aus jedem Glanze lernen. Mir aber ist, sooft ich von dir dichte, daß sie mit abgewendetem Gesichte von deines Mantels Falten sich entfernen. Denn du warst selber nur ein Gast des Golds. Nur einer Zeit zuliebe, die dich flehte in ihre klaren marmornen Gebete, erschienst du wie der König der Komete, auf deiner Stirne Strahlenströme stolz. Du kehrtest heim, da jene Zeit zerschmolz. Ganz dunkel ist dein Mund, von dem ich wehte, und deine Hände sind von Ebenholz. Das waren Tage Michelangelos, von denen ich in fremden Büchern las. Das war der Mann, der über einem Maß, gigantengroß, die Unermeßlichkeit vergaß. Das war der Mann, der immer wiederkehrt, wenn eine Zeit noch einmal ihren Wert, da sie sich enden will, zusammenfaßt. Da hebt noch einer ihre ganze Last und wirft sie in den Abgrund seiner Brust. Die vor ihm hatten Leid und Lust; er aber fühlt nur noch des Lebens Masse und daß er alles wie ein Ding umfasse, -- nur Gott bleibt über seinem Willen weit: da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse für diese Unerreichbarkeit. Der Ast vom Baume Gott, der über Italien reicht, hat schon geblüht. Er hätte vielleicht sich schon gerne, mit Früchten gefüllt, verfrüht, doch er wurde mitten im Blühen müd, und er wird keine Früchte haben. Nur der Frühling Gottes war dort, nur sein Sohn, das Wort, vollendete sich. Es wendete sich alle Kraft zu dem strahlenden Knaben. Alle kamen mit Gaben zu ihm; alle sangen wie Cherubim seinen Preis. Und er duftete leis als Rose der Rosen. Er war ein Kreis um die Heimatlosen. Er ging in Mänteln und Metamorphosen durch alle steigenden Stimmen der Zeit. Da ward auch die zur Frucht Erweckte, die schüchterne und schönerschreckte, die heimgesuchte Magd geliebt. Die Blühende, die Unentdeckte, in der es hundert Wege gibt.
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Da ließen sie sie gehn und schweben und treiben mit dem jungen Jahr; ihr dienendes Marien-Leben ward königlich und wunderbar. Wie feiertägliches Geläute ging es durch alle Häuser groß; und die einst mädchenhaft Zerstreute war so versenkt in ihren Schoß und so erfüllt von jenem Einen und so für Tausende genug, daß alles schien, sie zu bescheinen, die wie ein Weinberg war und trug. Aber als hätte die Last der Fruchtgehänge und der Verfall der Säulen und Bogengänge und der Abgesang der Gesänge sie beschwert, hat die Jungfrau sich in anderen Stunden, wie von Größerem noch unentbunden, kommenden Wunden zugekehrt. Ihre Hände, die sich lautlos lösten, liegen leer. Wehe, sie gebar noch nicht den Größten. Und die Engel, die nicht trösten, stehen fremd und furchtbar um sie her. So hat man sie gemalt; vor allem einer, der seine Sehnsucht aus der Sonne trug. Ihm reifte sie aus allen Rätseln reiner, aber im Leiden immer allgemeiner: sein ganzes Leben war er wie ein Weiner, dem sich das Weinen in die Hände schlug. Er ist der schönste Schleier ihrer Schmerzen, der sich an ihre wehen Lippen schmiegt, sich über ihnen fast zum Lächeln biegt -- und von dem Licht aus sieben Engelskerzen wird sein Geheimnis nicht besiegt. Mit einem Ast, der jenem niemals glich, wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich verkündend werden und aus Reife rauschen; in einem Lande, wo die Menschen lauschen, wo jeder ähnlich einsam ist wie ich. Denn nur dem Einsamen wird offenbart, und vielen Einsamen der gleichen Art wird mehr gegeben als dem schmalen Einen. Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen, bis sie erkennen, nah am Weinen, daß durch ihr meilenweites Meinen, durch ihr Vernehmen und Verneinen verschieden nur in hundert Seinen ein Gott wie eine Welle geht. Das ist das endlichste Gebet, das dann die Sehenden sich sagen: die Wurzel Gott hat Frucht getragen, geht hin, die Glocken zu zerschlagen; wir kommen zu den stillern Tagen, in denen reif die Stunde steht. Die Wurzel Gott hat Frucht getragen. Seid ernst und seht. Ich kann nicht glauben, daß der kleine Tod, dem wir doch täglich übern Scheitel schauen, uns eine Sorge bleibt und eine Not. Ich kann nicht glauben, daß er ernsthaft droht; ich lebe noch, ich habe Zeit zu bauen: mein Blut ist länger als die Rosen rot. Mein Sinn ist tiefer als das witzige Spiel mit unsrer Furcht, darin er sich gefällt.
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Ich bin die Welt, aus der er irrend fiel. Wie er kreisende Mönche wandern so umher; man fürchtet sich vor ihrer Wiederkehr, man weiß nicht: ist es jedesmal derselbe, sind's zwei, sind's zehn, sind's tausend oder mehr? Man kennt nur diese fremde gelbe Hand, die sich ausstreckt so nackt und nah -- da da: als käm sie aus dem eigenen Gewand. Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) Bin dein Gewand und dein Gewerbe, mit mir verlierst du deinen Sinn. Nach mir hast du kein Haus, darin dich Worte, nah und warm, begrüßen. Es fällt von deinen müden Füßen die Samtsandale, die ich bin. Dein großer Mantel läßt dich los. Dein Blick, den ich mit meiner Wange warm, wie mit einem Pfühl, empfange, wird kommen, wird mich suchen, lange -- und legt beim Sonnenuntergange sich fremden Steinen in den Schoß. Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange. Du bist der raunende Verrußte, auf allen Öfen schläfst du breit. Das Wissen ist nur in der Zeit. Du bist der dunkle Unbewußte von Ewigkeit zu Ewigkeit. Du bist der Bittende und Bange, der aller Dinge Sinn beschwert. Du bist die Silbe im Gesange, die immer zitternder im Zwange der starken Stimmen wiederkehrt. Du hast dich anders nie gelehrt: Denn du bist nicht der Schönumscharte, um welchen sich der Reichtum reiht. Du bist der Schlichte, welcher sparte. Du bist der Bauer mit dem Barte von Ewigkeit zu Ewigkeit. An den jungen Bruder. Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam: daß sich dein Blut in Blindheit nicht vergeude. Du meinst nicht den Genuß, du meinst die Freude; du bist gebildet als ein Bräutigam, und deine Braut soll werden: deine Scham. Die große Lust hat auch nach dir Verlangen, und alle Arme sind auf einmal nackt. Auf frommen Bildern sind die bleichen Wangen von fremden Feuern überflackt; und deine Sinne sind wie viele Schlangen, die, von des Tones Rot umfangen, sich spannen in der Tamburine Takt. Und plötzlich bist du ganz allein gelassen mit deinen Händen, die dich hassen -- und wenn dein Wille nicht ein Wunder tut: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Aber da gehen wie durch dunkle Gassen von Gott Gerüchte durch dein dunkles Blut.
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An den jungen Bruder. Dann bete du, wie es dich dieser lehrt, der selber aus der Wirrnis wiederkehrt und so, daß er zu heiligen Gestalten, die alle ihres Wesens Würde halten, in einer Kirche und auf goldnen Smalten die Schönheit malte, und sie hielt ein Schwert. Er lehrt dich sagen: Du mein tiefer Sinn, vertraue mir, daß ich dich nicht enttäusche; in meinem Blute sind so viel Geräusche, ich aber weiß, daß ich aus Sehnsucht bin. Ein großer Ernst bricht über mich herein. In seinem Schatten ist das Leben kühl. Ich bin zum erstenmal mit dir allein, du, mein Gefühl. Du bist so mädchenhaft. Es war ein Weib in meiner Nachbarschaft und winkte mir aus welkenden Gewändern. Du aber sprichst mir von so fernen Ländern. Und meine Kraft schaut nach den Hügelrändern. Ich habe Hymnen, die ich schweige. Es gibt ein Aufgerichtetsein, darin ich meine Sinne neige: du siehst mich groß, und ich bin klein. Du kannst mich dunkel unterscheiden von jenen Dingen, welche knien; sie sind wie Herden, und sie weiden, ich bin der Hirt am Hang der Heiden, vor welchem sie zu Abend ziehn. Dann komm ich hinter ihnen her und höre dumpf die dunklen Brücken, und in dem Rauch von ihren Rücken verbirgt sich meine Wiederkehr. Gott, wie begreif ich deine Stunde, als du, daß sie im Raum sich runde, die Stimme vor dich hingestellt; dir war das Nichts wie eine Wunde, da kühltest du sie mit der Welt. Jetzt heilt es leise unter uns. Denn die Vergangenheiten tranken die vielen Fieber aus dem Kranken, wir fühlen schon in sanftem Schwanken den ruhigen Puls des Hintergrunds. Wir liegen lindernd auf dem Nichts, und wir verhüllen alle Risse; du aber wächst ins Ungewisse im Schatten deines Angesichts. Alle, die ihre Hände regen nicht in der Zeit, der armen Stadt, alle, die sie an Leises legen, an eine Stelle, fern den Wegen, die kaum noch einen Namen hat, -- sprechen dich aus, du Alltagssegen, und sagen sanft auf einem Blatt: Es gibt im Grunde nur Gebete, so sind die Hände uns geweiht, daß sie nichts schufen, was nicht flehte; ob einer malte oder mähte, schon aus dem Ringen der Geräte entfaltete sich Frömmigkeit. Die Zeit ist eine vielgestalte. Wir hören manchmal von der Zeit und tun das Ewige und Alte; wir wissen, daß uns Gott umwallte groß wie ein Bart und wie ein Kleid.
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Wir sind wie Adern im Basalte in Gottes harter Herrlichkeit. Der Name ist uns wie ein Licht hart an die Stirn gestellt. Da senkte sich mein Angesicht vor diesem zeitigen Gericht und sah (von dem es seither spricht) dich, großes dunkelndes Gewicht an mir und an der Welt. Du bogst mich langsam aus der Zeit, in die ich schwankend stieg; ich neigte mich nach leisem Streit: jetzt dauert deine Dunkelheit um deinen sanften Sieg. Jetzt hast du mich und weißt nicht wen, denn deine breiten Sinne sehn nur, daß ich dunkel ward. Du hältst mich seltsam zart und horchst, wie meine Hände gehn durch deinen alten Bart. Dein allererstes Wort war: Licht: da ward die Zeit. Dann schwiegst du lange. Dein zweites Wort ward Mensch und bange (wir dunkeln noch in seinem Klange), und wieder sinnt dein Angesicht. Ich aber will dein drittes nicht. Ich bete nachts oft: Sei der Stumme, der wachsend in Gebärden bleibt und den der Geist im Traume treibt, daß er des Schweigens schwere Summe in Stirnen und Gebirge schreibt. Sei du die Zuflucht vor dem Zorne, der das Unsagbare verstieß. Es wurde Nacht im Paradies: sei du der Hüter mit dem Horne, und man erzählt nur, daß er blies. Du kommst und gehst. Die Türen fallen viel sanfter zu, fast ohne Wehn. Du bist der Leiseste von allen, die durch die leisen Häuser gehn. Man kann sich so an dich gewöhnen, daß man nicht aus dem Buche schaut, wenn seine Bilder sich verschönen, von deinem Schatten überblaut; weil dich die Dinge immer tönen nur einmal leis und einmal laut. Oft wenn ich dich in Sinnen sehe, verteilt sich deine Allgestalt; du gehst wie lauter lichte Rehe, und ich bin dunkel und bin Wald. Du bist ein Rad, an dem ich stehe: von deinen vielen dunklen Achsen wird immer wieder eine schwer und dreht sich näher zu mir her, und meine willigen Werke wachsen von Wiederkehr zu Wiederkehr. Du bist der Tiefste, welcher ragte, der Taucher und der Türme Neid. Du bist der Sanfte, der sich sagte, und doch: wenn dich ein Feiger fragte, so schwelgtest du in Schweigsamkeit. Du bist der Wald der Widersprüche. Ich darf dich wiegen wie ein Kind, und doch vollziehn sich deine Flüche, die über Völkern furchtbar sind.
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Dir ward das erste Buch geschrieben, das erste Bild versuchte dich, du warst im Leiden und im Lieben, dein Ernst war wie aus Erz getrieben auf jeder Stirn, die mit den sieben erfüllten Tagen dich verglich. Du gingst in Tausenden verloren, und alle Opfer wurden kalt; bis du in hohen Kirchenchoren dich rührtest hinter goldnen Toren; und eine Bangnis, die geboren, umgürtete dich mit Gestalt. Ich weiß: Du bist der Rätselhafte, um den die Zeit in Zögern stand. O wie so schön ich dich erschaffte in einer Stunde, die mich straffte, in einer Hoffart meiner Hand. Ich zeichnete viel ziere Risse, behorchte alle Hindernisse, -- dann wurden mir die Pläne krank: es wirrten sich wie Dorngerank die Linien und die Ovale, bis tief in mir mit einem Male aus einem Griff ins Ungewisse die frommste aller Formen sprang. Ich kann mein Werk nicht überschaun und fühle doch: es steht vollendet. Aber, die Augen abgewendet, will ich es immer wieder baun. So ist mein Tagwerk, über dem mein Schatten liegt wie eine Schale. Und bin ich auch wie Laub und Lehm, sooft ich bete oder male, ist Sonntag, und ich bin im Tale ein jubelndes Jerusalem. Ich bin die stolze Stadt des Herrn und sage ihn mit hundert Zungen; in mir ist Davids Dank verklungen: ich lag in Harfendämmerungen und atmete den Abendstern. Nach Aufgang gehen meine Gassen. Und bin ich lang vom Volk verlassen, so ist's: damit ich größer bin. Ich höre jeden in mir schreiten und breite meine Einsamkeiten von Anbeginn zu Anbeginn. Ihr vielen unbestürmten Städte, habt ihr euch nie den Feind ersehnt? O daß er euch belagert hätte ein langes schwankendes Jahrzehnt. Bis ihr ihn trostlos und in Trauern, bis daß ihr hungernd ihn ertrugt; er liegt wie Landschaft vor den Mauern, denn also weiß er auszudauern um jene, die er heimgesucht. Schaut aus vom Rande eurer Dächer: da lagert er und wird nicht matt und wird nicht weniger und schwächer und schickt nicht Droher und Versprecher und Überreder in die Stadt. Er ist der große Mauerbrecher, der eine stumme Arbeit hat. Ich komme aus meinen Schwingen heim, mit denen ich mich verlor. Ich war Gesang, und Gott, der Reim, rauscht noch in meinem Ohr. Ich werde wieder still und schlicht, und meine Stimme steht; es senkte sich mein Angesicht zu besserem Gebet. Den andern war ich wie ein Wind, da ich sie rüttelnd rief.
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Weit war ich, wo die Engel sind, hoch, wo das Licht in nichts zerrinnt -- Gott aber dunkelt tief. Die Engel sind das letzte Wehn an seines Wipfels Saum; daß sie aus seinen Ästen gehn, ist ihnen wie ein Traum. Sie glauben dort dem Lichte mehr als Gottes schwarzer Kraft, es flüchtete sich Luzifer in ihre Nachbarschaft. Er ist der Fürst im Land des Lichts, und seine Stirne steht so steil am großen Glanz des Nichts, daß er, versengten Angesichts, nach Finsternissen fleht. Er ist der helle Gott der Zeit, zu dem sie laut erwacht, und weil er oft in Schmerzen schreit und oft in Schmerzen lacht, glaubt sie an seine Seligkeit und hangt an seiner Macht. Die Zeit ist wie ein welker Rand an einem Buchenblatt. Sie ist das glänzende Gewand, das Gott verworfen hat, als Er, der immer Tiefe war, ermüdete des Flugs und sich verbarg vor jedem Jahr, bis ihm sein wurzelhaftes Haar durch alle Dinge wuchs. Du wirst nur mit der Tat erfaßt, mit Händen nur erhellt; ein jeder Sinn ist nur ein Gast und sehnt sich aus der Welt. Ersonnen ist ein jeder Sinn, man fühlt den feinen Saum darin und daß ihn einer spann: Du aber kommst und gibst dich hin und fällst den Flüchtling an. Ich will nicht wissen, wo du bist, sprich mir aus überall. Dein williger Evangelist verzeichnet alles und vergißt zu schauen nach dem Schall. Ich geh doch immer auf dich zu mit meinem ganzen Gehn; denn wer bin ich und wer bist du, wenn wir uns nicht verstehn? Mein Leben hat das gleiche Kleid und Haar wie aller alten Zaren Sterbestunde. Die Macht entfremdete nur meinem Munde, doch meine Reiche, die ich schweigend runde, versammeln sich in meinem Hintergrunde und meine Sinne sind noch Gossudar. Für sie ist beten immer noch: erbauen, aus allen Maßen bauen, daß das Grauen fast wie die Größe wird und schön, -- und: jedes Hinknien und Vertrauen (daß es die andern nicht beschauen) mit vielen goldenen und blauen und bunten Kuppeln überhöhn. Denn was sind Kirchen und sind Klöster in ihrem Steigen und Erstehn als Harfen, tönende Vertröster, durch die die Hände Halberlöster vor Königen und Jungfraun gehn. Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe: Den Königen sei Grausamkeit. Sie ist der Engel vor der Liebe, und ohne diesen Bogen bliebe mir keine Brücke in die Zeit.
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Und Gott befiehlt mir, daß ich male: Die Zeit ist mir mein tiefstes Weh, so legte ich in ihre Schale: das wache Weib, die Wundenmale, den reichen Tod (daß er sie zahle), der Städte bange Bacchanale, den Wahnsinn und die Könige. Und Gott befiehlt mir, daß ich baue: Denn König bin ich von der Zeit. Dir aber bin ich nur der graue Mitwisser deiner Einsamkeit. Und bin das Auge mit der Braue ... Das über meine Schulter schaue von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es tauchten tausend Theologen in deines Namens alte Nacht. Jungfrauen sind zu dir erwacht, und Jünglinge in Silber zogen und schimmerten in dir, du Schlacht. In deinen langen Bogengängen begegneten die Dichter sich und waren Könige von Klängen und mild und tief und meisterlich. Du bist die sanfte Abendstunde, die alle Dichter ähnlich macht; du drängst dich dunkel in die Munde, und im Gefühl von einem Funde umgibt ein jeder dich mit Pracht. Dich heben hunderttausend Harfen wie Schwingen aus der Schweigsamkeit. Und deine alten Winde warfen zu allen Dingen und Bedarfen den Hauch von deiner Herrlichkeit. Die Dichter haben dich verstreut (es ging ein Sturm durch alles Stammeln), ich aber will dich wieder sammeln in dem Gefäß, das dich erfreut. Ich wanderte in vielem Winde; da triebst du tausendmal darin. Ich bringe alles, was ich finde: als Becher brauchte dich der Blinde, sehr tief verbarg dich das Gesinde, der Bettler aber hielt dich hin; und manchmal war bei einem Kinde ein großes Stück von deinem Sinn. Du siehst, daß ich ein Sucher bin. Einer, der hinter seinen Händen verborgen geht und wie ein Hirt; (mögst du den Blick, der ihn beirrt, den Blick der Fremden von ihm wenden.) Einer, der träumt, dich zu vollenden und: daß er sich vollenden wird. Selten ist die Sonne im Sobór. Die Wände wachsen aus Gestalten, und durch die Jungfraun und die Alten drängt sich, wie Flügel im Entfalten, das goldene, das Kaiser-Tor. An seinem Säulenrand verlor die Wand sich hinter den Ikonen; und, die im stillen Silber wohnen, die Steine steigen wie ein Chor und fallen wieder in die Kronen und schweigen schöner als zuvor. Und über sie, wie Nächte blau, von Angesichte blaß, schwebt, die dich freuete, die Frau: die Pförtnerin, der Morgentau, die dich umblüht wie eine Au und ohne Unterlaß. Die Kuppel ist voll deines Sohns und bindet rund den Bau.
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Willst du geruhen deines Throns, den ich in Schauern schau. Da trat ich als ein Pilger ein und fühlte voller Qual an meiner Stirne dich, du Stein. Mit Lichtern, sieben an der Zahl, umstellte ich dein dunkles Sein und sah in jedem Bilde dein bräunliches Muttermal. Da stand ich, wo die Bettler stehn, die schlecht und hager sind: aus ihrem Auf- und Niederwehn begriff ich dich, du Wind. Ich sah den Bauer, überjahrt, bärtig wie Joachim, und daraus, wie er dunkel ward, von lauter Ähnlichen umschart, empfand ich dich wie nie so zart so ohne Wort geoffenbart in allen und in ihm. Du läßt der Zeit den Lauf, und dir ist niemals Ruh darin: der Bauer findet deinen Sinn und hebt ihn auf und wirft ihn hin und hebt ihn wieder auf. Wie der Wächter in den Weingeländen seine Hütte hat und wacht, bin ich Hütte, Herr, in deinen Händen und bin Nacht, o Herr, von deiner Nacht. Weinberg, Weide, alter Apfelgarten, Acker, der kein Frühjahr überschlägt, Feigenbaum, der auch im marmorharten Grunde hundert Früchte trägt: Duft geht aus aus deinen runden Zweigen. Und du fragst nicht, ob ich wachsam sei; furchtlos, aufgelöst in Säften, steigen deine Tiefen still an mir vorbei. Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gib mir Gewand. Hinter den Dingen wachse als Brand, daß ihre Schatten ausgespannt immer mich ganz bedecken. Laß dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste. Gib mir die Hand. Ich war bei den ältesten Mönchen, den Malern und Mythenmeldern, die schrieben ruhig Geschichten und zeichneten Runen des Ruhms. Und ich seh dich in meinen Gesichten mit Winden, Wassern und Wäldern rauschend am Rande des Christentums, du Land, nicht zu lichten. Ich will dich erzählen, ich will dich beschaun und beschreiben, nicht mit Bol und mit Gold, nur mit Tinte aus Apfelbaumrinden; ich kann auch mit Perlen dich nicht an die Blätter binden, und das zitterndste Bild, das mir meine Sinne erfinden, du würdest es blind durch dein einfaches Sein übertreiben.
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So will ich die Dinge in dir nur bescheiden und schlichthin benamen, will die Könige nennen, die ältesten, woher sie kamen, und will ihre Taten und Schlachten berichten am Rand meiner Seiten. Denn du bist der Boden. Dir sind nur wie Sommer die Zeiten, und du denkst an die nahen nicht anders als an die entfernten und ob sie dich tiefer besamen und besser bebauen lernten: du fühlst dich nur leise berührt von den ähnlichen Ernten und hörst weder Säer noch Schnitter, die über dich schreiten. Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern. Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern --: Eh du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis in der Stunde der unerfaßlichen Angst, da du dein unvollendetes Bildnis von allen Dingen zurückverlangst. Gib mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben, bis sie dir alle würdig sind und weit. Ich will nur sieben Tage, sieben, auf die sich keiner noch geschrieben, sieben Seiten Einsamkeit. Wem du das Buch gibst, welches die umfaßt, der wird gebückt über den Blättern bleiben. Es sei denn, daß du ihn in Händen hast, um selbst zu schreiben. So bin ich nur als Kind erwacht, so sicher im Vertraun, nach jeder Angst und jeder Nacht dich wieder anzuschaun. Ich weiß, sooft mein Denken mißt, wie tief, wie lang, wie weit --: du aber bist und bist und bist, umzittert von der Zeit. Mir ist, als wär ich jetzt zugleich Kind, Knab und Mann und mehr. Ich fühle nur, der Ring ist reich durch seine Wiederkehr. Ich danke dir, du tiefe Kraft, die immer leiser mit mir schafft wie hinter vielen Wänden; jetzt ward mir erst der Werktag schlicht und wie ein heiliges Gesicht zu meinen dunklen Händen. Daß ich nicht war vor einer Weile, weißt du davon? Und du sagst nein. Da fühl ich, wenn ich nur nicht eile, so kann ich nie vergangen sein. Ich bin ja mehr als Traum im Traume. Nur was sich sehnt nach einem Saume, ist wie ein Tag und wie ein Ton; es drängt sich fremd durch deine Hände, daß es die viele Freiheit fände, und traurig lassen sie davon.
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So blieb das Dunkel dir allein, und, wachsend in die leere Lichte, erhob sich eine Weltgeschichte aus immer blinderem Gestein. Ist einer noch, der daran baut? Die Massen wollen wieder Massen, die Steine sind wie losgelassen, und keiner ist von dir behauen. Es lärmt das Licht im Wipfel deines Baumes und macht dir alle Dinge bunt und eitel, sie finden dich erst, wenn der Tag verglomm. Die Dämmerung, die Zärtlichkeit des Raumes, legt tausend Hände über tausend Scheitel, und unter ihnen wird das Fremde fromm. Du willst die Welt nicht anders an dich halten als so, mit dieser sanftesten Gebärde. Aus ihren Himmeln greifst du dir die Erde und fühlst sie unter deines Mantels Falten. Du hast so eine leise Art zu sein. Und jene, die dir laute Namen weihn, sind schon vergessen deiner Nachbarschaft. Von deinen Händen, die sich bergig heben, steigt, unsern Sinnen das Gesetz zu geben, mit dunkler Stirne deine stumme Kraft. Du Williger, und deine Gnade kam immer in alle ältesten Gebärden. Wenn einer die Hände zusammenflicht, so daß sie zahm und um ein kleines Dunkel sind --: auf einmal fühlt er dich in ihnen werden, und wie im Winde senkt sich sein Gesicht in Scham. Und da versucht er, auf dem Stein zu liegen und aufzustehn, wie er bei andern sieht, und seine Mühe ist, dich einzuwiegen aus Angst, daß er dein Wachsein schon verriet. Denn wer dich fühlt, kann sich mit dir nicht brüsten; er ist erschrocken, bang um dich und flieht vor allen Fremden, die dich merken müßten: du bist das Wunder in den Wüsten, das Ausgewanderten geschieht. Eine Stunde vom Rande des Tages, und das Land ist zu allem bereit. Was du sehnst, meine Seele, sag es: Sei Heide und, Heide, sei weit. Habe alte, alte Kurgane, wachsend und kaum erkannt, wenn es Mond wird über das plane, langvergangene Land. Gestalte dich, Stille. Gestalte die Dinge (es ist ihre Kindheit, sie werden dir willig sein). Sei Heide, sei Heide, sei Heide, dann kommt vielleicht auch der Alte, den ich kaum von der Nacht unterscheide, und bringt seine riesige Blindheit in mein horchendes Haus herein. Ich seh ihn sitzen und sinnen, nicht über mich hinaus; für ihn ist alles innen, Himmel und Heide und Haus. Nur die Lieder sind ihm verloren, die er nie mehr beginnt; aus vielen tausend Ohren trank sie die Zeit und der Wind; aus den Ohren der Toren.
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Und dennoch: mir geschieht, als ob ich ein jedes Lied tief in mir ihm ersparte. Er schweigt hinterm bebenden Barte, er möchte sich wiedergewinnen aus seinen Melodien. Da komm ich zu seinen Knien: und seine Lieder rinnen rauschend zurück in ihn. Zweites Buch Das Buch von der Pilgerschaft (1901) Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, -- du hast ihn wachsen sehn; -- die Bäume flüchten. Ihre Flucht schafft reitende Alleen. Da weißt du, der, vor dem sie fliehn, ist der, zu dem du gehst, und deine Sinne singen ihn, wenn du am Fenster stehst. Des Sommers Wochen standen still, es stieg der Bäume Blut; jetzt fühlst du, daß es fallen will in den, der alles tut. Du glaubtest schon erkannt die Kraft, als du die Frucht erfaßt, jetzt wird sie wieder rätselhaft, und du bist wieder Gast. Der Sommer war so wie dein Haus, drin weißt du alles stehn -- jetzt mußt du in dein Herz hinaus wie in die Ebene gehn. Die große Einsamkeit beginnt, die Tage werden taub, aus deinen Sinnen nimmt der Wind die Welt wie welkes Laub. Durch ihre leeren Zweige sieht der Himmel, den du hast; sei Erde jetzt und Abendlied und Land, darauf er paßt. Demütig sei jetzt wie ein Ding, zu Wirklichkeit gereift, -- daß Der, von dem die Kunde ging, dich fühlt, wenn er dich greift. Ich bete wieder, du Erlauchter, du hörst mich wieder durch den Wind, weil meine Tiefen nie gebrauchter rauschender Worte mächtig sind. Ich war zerstreut; an Widersacher in Stücken war verteilt mein Ich. O Gott, mich lachten alle Lacher, und alle Trinker tranken mich. In Höfen hab ich mich gesammelt aus Abfall und aus altem Glas, mit halbem Mund dich angestammelt, dich, Ewiger aus Ebenmaß. Wie hob ich meine halben Hände zu dir in namenlosem Flehn, daß ich die Augen wiederfände, mit denen ich dich angesehn. Ich war ein Haus nach einem Brand, darin nur Mörder manchmal schlafen, eh ihre hungerigen Strafen sie weiterjagen in das Land; ich war wie eine Stadt am Meer, wenn eine Seuche sie bedrängte, die sich wie eine Leiche schwer den Kindern an die Hände hängte. Ich war mir fremd wie irgendwer und wußte nur von ihm, daß er einst meine junge Mutter kränkte, als sie mich trug, und daß ihr Herz, das eingeengte, sehr schmerzhaft an mein Keimen schlug.
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Jetzt bin ich wieder aufgebaut aus allen Stücken meiner Schande und sehne mich nach einem Bande, nach einem einigen Verstande, der mich wie ein Ding überschaut, -- nach deines Herzens großen Händen -- (o kämen sie doch auf mich zu) ich zähle mich, mein Gott, und du, du hast das Recht, mich zu verschwenden. Ich bin derselbe noch, der kniete vor dir im mönchischen Gewand: der tiefe, dienende Levite, den du erfüllt, der dich erfand. Die Stimme einer stillen Zelle, an der die Welt vorüberweht, -- und du bist immer noch die Welle, die über alle Dinge geht. Es ist nichts andres. Nur ein Meer, aus dem die Länder manchmal steigen. Es ist nichts andres denn ein Schweigen von schönen Engeln und von Geigen, und der Verschwiegene ist der, zu dem sich alle Dinge neigen von seiner Stärke Strahlen schwer. Bist du denn alles, -- ich der Eine, der sich ergibt und sich empört? Bin ich denn nicht das Allgemeine, bin ich nicht Alles, wenn ich weine, und du der Eine, der es hört? Hörst du denn etwas neben mir? Sind da noch Stimmen außer meiner? Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer, und meine Wälder winken dir. Ist da ein Lied, ein krankes, kleines, das dich am Micherhören stört, -- auch ich bin eines, höre meines, das einsam ist und unerhört. Ich bin derselbe noch, der bange dich manchmal fragte, wer du seist. Nach jedem Sonnenuntergange bin ich verwundet und verwaist, ein blasser allem Abgelöster und ein Verschmähter jeder Schar, und alle Dinge stehn wie Klöster, in denen ich gefangen war. Dann brauch ich dich, du Eingeweihter, du sanfter Nachbar jeder Not, du meines Leidens leiser Zweiter, du Gott, dann brauch ich dich wie Brot. Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte für Menschen, die nicht schlafen, sind: da sind sie alle Ungerechte, der Greis, die Jungfrau und das Kind. Sie fahren auf wie totgesagt, von schwarzen Dingen nah umgeben, und ihre weißen Hände beben verwoben in ein wildes Leben, wie Hunde in ein Bild der Jagd. Vergangenes steht noch bevor, und in der Zukunft liegen Leichen, ein Mann im Mantel pocht am Tor, und mit dem Auge und dem Ohr ist noch kein erstes Morgenzeichen, kein Hahnruf ist noch zu erreichen. Die Nacht ist wie ein großes Haus.
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Und mit der Angst der wunden Hände reißen sie Türen in die Wände, -- dann kommen Gänge ohne Ende, und nirgends ist ein Tor hinaus. Und so, mein Gott, ist jede Nacht; immer sind welche aufgewacht, die gehn und gehn und dich nicht finden. Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden das Dunkel treten? Auf Treppen, die sich niederwinden, hörst du sie beten? Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen? Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen. Ich suche dich, weil sie vorübergehn an meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn. Wen soll ich rufen, wenn nicht den, der dunkel ist und nächtiger als Nacht, den Einzigen, der ohne Lampe wacht und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß, weil er mit Bäumen aus der Erde bricht und weil er leis als Duft in mein gesenktes Angesicht aus Erde steigt. Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt. Ich liebe dich wie einen lieben Sohn, der mich einmal verlassen hat als Kind, weil ihn das Schicksal rief auf einen Thron, vor dem die Länder alle Täler sind. Ich bin zurückgeblieben wie ein Greis, der seinen großen Sohn nicht mehr versteht und wenig von den neuen Dingen weiß, zu welchen seines Samens Wille geht. Ich bebe manchmal für dein tiefes Glück, das auf so vielen fremden Schiffen fährt, ich wünsche manchmal dich in mich zurück, in dieses Dunkel, das dich großgenährt. Ich bange manchmal, daß du nicht mehr bist, wenn ich mich sehr verliere an die Zeit. Dann les ich von dir: Der Evangelist schreibt überall von deiner Ewigkeit. Ich bin der Vater; doch der Sohn ist mehr, ist alles, was der Vater war, und der, der er nicht wurde, wird in jenem groß; er ist die Zukunft und die Wiederkehr, er ist der Schoß, er ist das Meer ... Dir ist mein Beten keine Blasphemie: als schlüge ich in alten Büchern nach, daß ich dir sehr verwandt bin -- tausendfach. Ich will dir Liebe geben. Die und die ...
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Liebt man denn einen Vater? Geht man nicht, wie du von mir gingst, Härte im Gesicht, von seinen hülflos leeren Händen fort? Legt man nicht leise sein verwelktes Wort in alte Bücher, die man selten liest? Fließt man nicht wie von einer Wasserscheide von seinem Herzen ab zu Lust und Leide? Ist uns der Vater denn nicht das, was war; vergangne Jahre, welche fremd gedacht, veraltete Gebärde, tote Tracht, verblühte Hände und verblichnes Haar? Und war er selbst für seine Zeit ein Held, er ist das Blatt, das, wenn wir wachsen, fällt. Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alp, und seine Stimme ist uns wie ein Stein, -- wir möchten seiner Rede hörig sein, aber wir hören seine Worte halb. Das große Drama zwischen ihm und uns lärmt viel zu laut, einander zu verstehn, wir sehen nur die Formen seines Munds, aus denen Silben fallen, die vergehn. So sind wir noch viel ferner ihm als fern, wenn auch die Liebe uns noch weit verwebt, erst wenn er sterben muß auf diesem Stern, sehn wir, daß er auf diesem Stern gelebt. Das ist der Vater uns. Und ich -- ich soll dich Vater nennen? Das hieße tausendmal mich von dir trennen. Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen, wie man sein einzigliebes Kind erkennt, auch dann, wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann. Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn, wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören, und ohne Füße kann ich zu dir gehn, und ohne Mund noch kann ich dich beschwören. Brich mir die Arme ab, ich fasse dich mit meinem Herzen wie mit einer Hand, halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen, und wirfst du in mein Hirn den Brand, so werd ich dich auf meinem Blute tragen. Und meine Seele ist ein Weib vor dir. Und ist wie der Naëmi Schnur, wie Ruth. Sie geht bei Tag um deiner Garben Hauf wie eine Magd, die tiefe Dienste tut. Aber am Abend steigt sie in die Flut und badet sich und kleidet sich sehr gut und kommt zu dir, wenn alles um dich ruht, und kommt und deckt zu deinen Füßen auf. Und fragst du sie um Mitternacht, sie sagt mit tiefer Einfalt: Ich bin Ruth, die Magd. Spann deine Flügel über deine Magd. Du bist der Erbe ...
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Und meine Seele schläft dann, bis es tagt, bei deinen Füßen, warm von deinem Blut. Und ist ein Weib vor dir. Und ist wie Ruth. Du bist der Erbe. Söhne sind die Erben, denn Väter sterben. Söhne stehn und blühn. Du bist der Erbe. Und du erbst das Grün vergangner Gärten und das stille Blau zerfallner Himmel. Tau aus tausend Tagen, die vielen Sommer, die die Sonnen sagen, und lauter Frühlinge mit Glanz und Klagen, wie viele Briefe einer jungen Frau. Du erbst die Herbste, die wie Prunkgewänder in der Erinnerung von Dichtern liegen, und alle Winter, wie verwaiste Länder, scheinen sich leise an dich anzuschmiegen. Du erbst Venedig und Kasan und Rom, Florenz wird dein sein, der Pisaner Dom, die Troïtzka Lawra und das Monastir, das unter Kiews Gärten ein Gewirr von Gängen bildet, dunkel und verschlungen, -- Moskau mit Glocken wie Erinnerungen, -- und Klang wird dein sein: Geigen, Hörner, Zungen, und jedes Lied, das tief genug erklungen, wird an dir glänzen wie ein Edelstein. Für dich nur schließen sich die Dichter ein und sammeln Bilder, rauschende und reiche, und gehn hinaus und reifen durch Vergleiche und sind ihr ganzes Leben so allein ... Und Maler malen ihre Bilder nur, damit du unvergänglich die Natur, die du vergänglich schufst, zurückempfängst: alles wird ewig. Sieh, das Weib ist längst in der Madonna Lisa reif wie Wein; es müßte nie ein Weib mehr sein, denn Neues bringt kein neues Weib hinzu. Die, welche bilden, sind wie du. Sie wollen Ewigkeit. Sie sagen: Stein, sei ewig. Und das heißt: sei dein! Und auch, die lieben, sammeln für dich ein: Sie sind die Dichter einer kurzen Stunde, sie küssen einem ausdruckslosen Munde ein Lächeln auf, als formten sie ihn schöner, und bringen Lust und sind die Angewöhner zu Schmerzen, welche erst erwachsen machen. Sie bringen Leiden mit in ihrem Lachen, Sehnsüchte, welche schlafen, und erwachen, um aufzuweinen in der fremden Brust. Sie häufen Rätselhaftes an und sterben, wie Tiere sterben, ohne zu begreifen, -- aber sie werden vielleicht Enkel haben, in denen ihre grünen Leben reifen; durch diese wirst du jene Liebe erben, die sie sich blind und wie im Schlafe gaben. So fließt der Dinge Überfluß dir zu. Und wie die obern Becken von Fontänen beständig überströmen, wie von Strähnen gelösten Haares, in die tiefste Schale, -- so fällt die Fülle dir in deine Tale, wenn Dinge und Gedanken übergehn.
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Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen, der in das Leben aus der Zelle sieht und der, den Menschen ferner als den Dingen, nicht wagt zu wägen, was geschieht. Doch willst du mich vor deinem Angesicht, aus dem sich dunkel deine Augen heben, dann halte es für meine Hoffart nicht, wenn ich dir sage: Keiner lebt sein Leben. Zufälle sind die Menschen, Stimmen, Stücke, Alltage, Ängste, viele kleine Glücke, verkleidet schon als Kinder, eingemummt, als Masken mündig, als Gesicht verstummt. Ich denke oft: Schatzhäuser müssen sein, wo alle diese vielen Leben liegen wie Panzer oder Sänften oder Wiegen, in welche nie ein Wirklicher gestiegen, und wie Gewänder, welche ganz allein nicht stehen können und sich sinkend schmiegen an starke Wände aus gewölbtem Stein. Und wenn ich abends immer weiterginge aus meinem Garten, drin ich müde bin, -- ich weiß: Dann führen alle Wege hin zum Arsenal der ungelebten Dinge. Dort ist kein Baum, als legte sich das Land, und wie um ein Gefängnis hängt die Wand ganz fensterlos in siebenfachem Ringe. Und ihre Tore mit den Eisenspangen, die denen wehren, welche hinverlangen, und ihre Gitter sind von Menschenhand. Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt wie aus dem Kerker, der ihn haßt und hält, -- es ist ein großes Wunder in der Welt: ich fühle: _alles Leben wird gelebt._ Wer lebt es denn? Sind das die Dinge, die wie eine ungespielte Melodie im Abend wie in einer Harfe stehn? Sind das die Winde, die von Wassern wehn, sind das die Zweige, die sich Zeichen geben, sind das die Blumen, die die Düfte weben, sind das die langen alternden Alleen? Sind das die warmen Tiere, welche gehn, sind das die Vögel, die sich fremd erheben? Wer lebt es denn? Lebst du es, Gott, -- das Leben? Du bist der Alte, dem die Haare von Ruß versengt sind und verbrannt, du bist der große Unscheinbare mit deinem Hammer in der Hand. Du bist der Schmied, das Lied der Jahre, der immer an dem Amboß stand. Du bist, der niemals Sonntag hat, der in die Arbeit Eingekehrte, der sterben könnte überm Schwerte, das noch nicht glänzend wird und glatt. Wenn bei uns Mühle steht und Säge und alle trunken sind und träge, dann hört man deine Hammerschläge an allen Glocken in der Stadt.
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Du bist der Mündige, der Meister, und keiner hat dich lernen sehn; ein Unbekannter, Hergereister, von dem bald flüsternder, bald dreister die Reden und Gerüchte gehn. Gerüchte gehn, die dich vermuten, und Zweifel gehn, die dich verwischen. Die Trägen und die Träumerischen mißtrauen ihren eignen Gluten und wollen, daß die Berge bluten, denn eher glauben sie dich nicht. Du aber senkst dein Angesicht. Du könntest den Bergen die Adern aufschneiden als Zeichen eines großen Gerichts; aber dir liegt nichts an den Heiden. Du willst nicht streiten mit allen Listen und nicht suchen die Liebe des Lichts; denn dir liegt nichts an den Christen. Dir liegt an den Fragenden nichts. Sanften Gesichts siehst du den Tragenden zu. Alle, welche dich suchen, versuchen dich. Und die, so dich finden, binden dich an Bild und Gebärde. Ich aber will dich begreifen, wie dich die Erde begreift; mit meinem Reifen reift dein Reich. Ich will von dir keine Eitelkeit, die dich beweist. Ich weiß, daß die Zeit anders heißt als du. Tu mir kein Wunder zulieb. Gib deinen Gesetzen recht, die von Geschlecht zu Geschlecht sichtbarer sind. Wenn etwas mir vom Fenster fällt (und wenn es auch das Kleinste wäre) wie stürzt sich das Gesetz der Schwere gewaltig wie ein Wind vom Meere auf jeden Ball und jede Beere und trägt sie in den Kern der Welt. Ein jedes Ding ist überwacht von einer flugbereiten Güte wie jeder Stein und jede Blüte und jedes kleine Kind bei Nacht. Nur wir, in unsrer Hoffart, drängen aus einigen Zusammenhängen in einer Freiheit leeren Raum, statt, klugen Kräften hingegeben, uns aufzuheben wie ein Baum. Statt in die weitesten Geleise sich still und willig einzureihn, verknüpft man sich auf manche Weise, -- und wer sich ausschließt jedem Kreise, ist jetzt so namenlos allein. Da muß er lernen von den Dingen, anfangen wieder wie ein Kind, weil sie, die Gott am Herzen hingen, nicht von ihm fortgegangen sind. Eins muß er wieder können: fallen, geduldig in der Schwere ruhn, der sich vermaß, den Vögeln allen im Fliegen es zuvorzutun. (Denn auch die Engel fliegen nicht mehr. Schweren Vögeln gleichen die Seraphim, welche um ihn sitzen und sinnen; Trümmern von Vögeln, Pinguinen gleichen sie, wie sie verkümmern ...) Du meinst die Demut. Angesichter gesenkt in stillem Dichverstehn. So gehen abends junge Dichter in den entlegenen Alleen.
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So stehn die Bauern um die Leiche, wenn sich ein Kind im Tod verlor, -- und was geschieht, ist doch das gleiche: es geht ein Übergroßes vor. Wer dich zum erstenmal gewahrt, den stört der Nachbar und die Uhr, der geht, gebeugt zu deiner Spur, und wie beladen und bejahrt. Erst später naht er der Natur und fühlt die Winde und die Fernen, hört dich, geflüstert von der Flur, sieht dich, gesungen von den Sternen, und kann dich nirgends mehr verlernen, und alles ist dein Mantel nur. Ihm bist du neu und nah und gut und wunderschön wie eine Reise, die er in stillen Schiffen leise auf einem großen Flusse tut. Das Land ist weit, in Winden, eben, sehr großen Himmeln preisgegeben und alten Wäldern untertan. Die kleinen Dörfer, die sich nahn, vergehen wieder wie Geläute und wie ein Gestern und ein Heute und so wie alles, was wir sahn. Aber an dieses Stromes Lauf stehn immer wieder Städte auf und kommen wie auf Flügelschlägen der feierlichen Fahrt entgegen. Und manchmal lenkt das Schiff zu Stellen, die einsam, sonder Dorf und Stadt, auf etwas warten an den Wellen, -- auf den, der keine Heimat hat ... Für solche stehn dort kleine Wagen (ein jeder mit drei Pferden vor), die atemlos nach Abend jagen auf einem Weg, der sich verlor. In diesem Dorfe steht das letzte Haus so einsam wie das letzte Haus der Welt. Die Straße, die das kleine Dorf nicht hält, geht langsam weiter in die Nacht hinaus. Das kleine Dorf ist nur ein Übergang zwischen zwei Weiten, ahnungsvoll und bang, ein Weg an Häusern hin statt eines Stegs. Und die das Dorf verlassen, wandern lang, und viele sterben vielleicht unterwegs. Manchmal steht einer auf beim Abendbrot und geht hinaus und geht und geht und geht, -- weil eine Kirche wo im Osten steht. Und seine Kinder segnen ihn wie tot. Und einer, welcher stirbt in seinem Haus, bleibt drinnen wohnen, bleibt in Tisch und Glas, so daß die Kinder in die Welt hinaus zu jener Kirche ziehn, die er vergaß. Nachtwächter ist der Wahnsinn, _weil_ er wacht. Bei jeder Stunde bleibt er lachend stehn, und einen Namen sucht er für die Nacht und nennt sie: sieben, achtundzwanzig, zehn ...
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Seit dreimal hundert Jahren liegen sie, und ihre Leiber können nicht zerfallen. Das Dunkel häuft sich wie ein Licht, das rußt, auf ihren langen lagernden Gestalten, die unter Tüchern heimlich sich erhalten, -- und ihrer Hände ungelöstes Falten liegt ihnen wie Gebirge auf der Brust. Du großer alter Herzog des Erhabnen: hast du vergessen, diesen Eingegrabnen den Tod zu schicken, der sie ganz verbraucht, weil sie sich tief in Erde eingetaucht? Sind die, die sich Verstorbenen vergleichen, am ähnlichsten der Unvergänglichkeit? Ist das das große Leben deiner Leichen, das überdauern soll den Tod der Zeit? Sind sie dir noch zu deinen Plänen gut? Erhältst du unvergängliche Gefäße, die du, der allen Maßen Ungemäße, einmal erfüllen willst mit deinem Blut? Du bist die Zukunft, großes Morgenrot über den Ebenen der Ewigkeit. Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit, der Tau, die Morgenmette und die Maid, der fremde Mann, die Mutter und der Tod. Du bist die sich verwandelnde Gestalt, die immer einsam aus dem Schicksal ragt, die unbejubelt bleibt und unbeklagt und unbeschrieben wie ein wilder Wald. Du bist der Dinge tiefer Inbegriff, der seines Wesens letztes Wort verschweigt und sich den andern immer anders zeigt: dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff. Du bist das Kloster zu den Wundenmalen. Mit zweiunddreißig alten Kathedralen und fünfzig Kirchen, welche aus Opalen und Stücken Bernstein aufgemauert sind. Auf jedem Ding im Klosterhofe liegt deines Klanges eine Strophe, und das gewaltige Tor beginnt. In langen Häusern wohnen Nonnen, Schwarzschwestern, siebenhundertzehn. Manchmal kommt eine an den Bronnen, und eine steht wie eingesponnen, und eine, wie in Abendsonnen, geht schlank in schweigsamen Alleen. Aber die meisten sieht man nie; sie bleiben in der Häuser Schweigen wie in der kranken Brust der Geigen die Melodie, die keiner kann ... Und um die Kirchen rings im Kreise, von schmachtendem Jasmin umstellt, sind Gräberstätten, welche leise wie Steine reden von der Welt. Von jener Welt, die nicht mehr ist, obwohl sie an das Kloster brandet, in eitel Tag und Tand gewandet und gleich bereit zu Lust und List. Sie ist vergangen: denn du bist. Sie fließt noch wie ein Spiel von Lichtern über das teilnahmslose Jahr; doch dir, dem Abend und den Dichtern sind, unter rinnenden Gesichtern, die dunkeln Dinge offenbar. Die Könige der Welt sind alt und werden keine Erben haben.
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Die Söhne sterben schon als Knaben, und ihre bleichen Töchter gaben die kranken Kronen der Gewalt. Der Pöbel bricht sie klein zu Geld, der zeitgemäße Herr der Welt dehnt sie im Feuer zu Maschinen, die seinem Wollen grollend dienen; aber das Glück ist nicht mit ihnen. Das Erz hat Heimweh. Und verlassen will es die Münzen und die Räder, die es ein kleines Leben lehren. Und aus Fabriken und aus Kassen wird es zurück in das Geäder der aufgetanen Berge kehren, die sich verschließen hinter ihm. Alles wird wieder groß sein und gewaltig. Die Lande einfach und die Wasser faltig, die Bäume riesig und sehr klein die Mauern; und in den Tälern, stark und vielgestaltig, ein Volk von Hirten und von Ackerbauern. Und keine Kirchen, welche Gott umklammern wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern wie ein gefangenes und wundes Tier, -- die Häuser gastlich allen Einlaßklopfern und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern in allem Handeln und in dir und mir. Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben, nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn und dienend sich am Irdischen zu üben, um seinen Händen nicht mehr neu zu sein. Auch du wirst groß sein. Größer noch, als einer, der jetzt schon leben muß, dich sagen kann. Viel ungewöhnlicher und ungemeiner und noch viel älter als ein alter Mann. Man wird dich fühlen: daß ein Duften ginge aus eines Gartens naher Gegenwart; und wie ein Kranker seine liebsten Dinge wird man dich lieben ahnungsvoll und zart. Es wird kein Beten geben, das die Leute zusammenschart. Du bist nicht im Verein; und wer dich fühlte und sich an dir freute, wird wie der Einzige auf Erden sein: ein Ausgestoßener und ein Vereinter, gesammelt und vergeudet doch zugleich; ein Lächelnder und doch ein Halbverweinter, klein wie ein Haus und mächtig wie ein Reich. Es wird nicht Ruhe in den Häusern, sei's, daß einer stirbt und sie ihn weitertragen, sei es, daß wer auf heimliches Geheiß den Pilgerstock nimmt und den Pilgerkragen, um in der Fremde nach dem Weg zu fragen, auf welchem er dich warten weiß. Die Straßen werden derer niemals leer, die zu dir wollen wie zu jener Rose, die alle tausend Jahre einmal blüht. Viel dunkles Volk und beinah Namenlose, und wenn sie dich erreichen, sind sie müd.
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Aber ich habe ihren Zug gesehn; und glaube seither, daß die Winde wehn aus ihren Mänteln, welche sich bewegen, und stille sind, wenn sie sich niederlegen --: so groß war in den Ebenen ihr Gehn. So möcht ich zu dir gehn: von fremden Schwellen Almosen sammelnd, die mich ungern nähren. Und wenn der Wege wirrend viele wären, so würd ich mich den Ältesten gesellen. Ich würde mich zu kleinen Greisen stellen, und wenn sie gingen, schaut ich wie im Traum, daß ihre Kniee aus der Bärte Wellen wie Inseln tauchen, ohne Strauch und Baum. Wir überholten Männer, welche blind mit ihren Knaben wie mit Augen schauen, und Trinkende am Fluß und müde Frauen und viele Frauen, welche schwanger sind. Und alle waren mir so seltsam nah, -- als ob die Männer einen Blutsverwandten, die Frauen einen Freund in mir erkannten, und auch die Hunde kamen, die ich sah. Du Gott, ich möchte viele Pilger sein, um so, ein langer Zug, zu dir zu gehn, und um ein großes Stück von dir zu sein: du Garten mit den lebenden Alleen. Wenn ich so gehe, wie ich bin, allein, -- wer merkt es denn? Wer _sieht_ mich zu dir gehn? Wen reißt es hin? Wen regt es auf, und wen bekehrt es dir? Als wäre nichts geschehn, -- lachen sie weiter. Und da bin ich froh, daß ich so gehe, wie ich bin; denn so kann keiner von den Lachenden mich sehn. Bei Tag bist du das Hörensagen, das flüsternd um die vielen fließt; die Stille nach dem Stundenschlagen, welche sich langsam wieder schließt. Je mehr der Tag mit immer schwächern Gebärden sich nach Abend neigt, je mehr bist du, mein Gott. Es steigt dein Reich wie Rauch aus allen Dächern. Ein Pilgermorgen. Von den harten Lagern, auf das ein jeder wie vergiftet fiel, erhebt sich bei dem ersten Glockenspiel ein Volk von hagern Morgensegen-Sagern, auf das die frühe Sonne niederbrennt: Bärtige Männer, welche sich verneigen, Kinder, die ernsthaft aus den Pelzen steigen, und in den Mänteln, schwer von ihrem Schweigen, die braunen Fraun von Tiflis und Taschkent. Christen mit den Gebärden des Islam sind um die Brunnen, halten ihre Hände wie flache Schalen hin, wie Gegenstände, in die die Flut wie eine Seele kam.
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Sie neigen das Gesicht hinein und trinken, reißen die Kleider auf mit ihrer Linken und halten sich das Wasser an die Brust, als wär's ein kühles weinendes Gesicht, das von den Schmerzen auf der Erde spricht. Und diese Schmerzen stehen ringsumher mit welken Augen; und du weißt nicht, wer sie sind und waren. Knechte oder Bauern, vielleicht Kaufleute, welche Wohlstand sahn, vielleicht auch laue Mönche, die nicht dauern, und Diebe, die auf die Versuchung lauern, offene Mädchen, die verkümmert kauern, und Irrende in einem Wald von Wahn --: alle wie Fürsten, die in tiefem Trauern die Überflüsse von sich abgetan. Wie Weise alle, welche viel erfahren, Erwählte, welche in der Wüste waren, wo Gott sie nährte durch ein fremdes Tier; Einsame, die durch Ebenen gegangen mit vielen Winden an den dunklen Wangen, von einer Sehnsucht fürchtig und befangen und doch so wundersam erhöht von ihr. Gelöste aus dem Alltag, eingeschaltet in große Orgeln und in Chorgesang, und Knieende, wie Steigende gestaltet; Fahnen mit Bildern, welche lang verborgen waren und zusammgefaltet: Jetzt hängen sie sich langsam wieder aus. Und manche stehn und schaun nach einem Haus, darin die Pilger, welche krank sind, wohnen; denn eben wand sich dort ein Mönch heraus, die Haare schlaff und die Soutane kraus, das schattige Gesicht voll kranker Blaus und ganz verdunkelt von Dämonen. Er neigte sich, als bräch er sich entzwei, und warf sich in zwei Stücken auf die Erde, die jetzt an seinem Munde wie ein Schrei zu hängen schien und so, als sei sie seiner Arme wachsende Gebärde. Und langsam ging sein Fall an ihm vorbei. Er flog empor, als ob er Flügel spürte, und sein erleichtertes Gefühl verführte ihn zu dem Glauben seiner Vogelwerdung. Er hing in seinen magern Armen schmal, wie eine schiefgeschobne Marionette, und glaubte, daß er große Schwingen hätte und daß die Welt schon lange wie ein Tal sich ferne unter seinen Füßen glätte. Ungläubig sah er sich mit einem Mal herabgelassen auf die fremde Stätte und auf den grünen Meergrund seiner Qual. Und war ein Fisch und wand sich schlank und schwamm durch tiefes Wasser, still und silbergrau, sah Quallen hangen am Korallenstamm und sah die Haare einer Meerjungfrau, durch die das Wasser rauschte wie ein Kamm. Und kam zu Land und war ein Bräutigam bei einer Toten, wie man ihn erwählt, damit kein Mädchen fremd und unvermählt des Paradieses Wiesenland beschritte.
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Er folgte ihr und ordnete die Tritte und tanzte rund, sie immer in der Mitte, und seine Arme tanzten rund um ihn. Dann horchte er, als wäre eine dritte Gestalt ganz sachte in das Spiel getreten, die diesem Tanzen nicht zu glauben schien. Und da erkannte er: jetzt mußt du beten, denn dieser ist es, welcher den Propheten wie eine große Krone sich verliehn. Wir halten ihn, um den wir täglich flehten, wir ernten ihn, den einstens Ausgesäten, und kehren heim mit ruhenden Geräten in langen Reihen wie in Melodien. Und er verneigte sich ergriffen, tief. Aber der Alte war, als ob er schliefe, und sah es nicht, obwohl sein Aug nicht schlief. Und er verneigte sich in solche Tiefe, daß ihm ein Zittern durch die Glieder lief. Aber der Alte ward es nicht gewahr. Da faßte sich der kranke Mönch am Haar und schlug sich wie ein Kleid an einen Baum. Aber der Alte stand und sah es kaum. Da nahm der kranke Mönch sich in die Hände, wie man ein Richtschwert in die Hände nimmt, und hieb und hieb, verwundete die Wände und stieß sich endlich in den Grund ergrimmt. Aber der Alte blickte unbestimmt. Da riß der Mönch sein Kleid sich ab wie Rinde, und knieend hielt er es dem Alten hin. Und sieh: er kam. Kam wie zu einem Kinde und sagte sanft: Weißt du auch, _wer_ ich bin? Das wußte er. Und legte sich gelinde dem Greis wie eine Geige unters Kinn. Jetzt reifen schon die roten Berberitzen, alternde Astern atmen schwach im Beet. Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht, wird immer warten und sich nie besitzen. Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann, gewiß, daß eine Fülle von Gesichten in ihm nur wartet, bis die Nacht begann, um sich in seinem Dunkel aufzurichten: -- der ist vergangen wie ein alter Mann. Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu, und alles lügt ihn an, was ihm geschieht; auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du, welcher ihn täglich in die Tiefe zieht. Du mußt nicht bangen, Gott. Sie sagen: _mein_ zu allen Dingen, die geduldig sind. Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift und sagt: _mein_ Baum. Sie merken kaum, wie alles glüht, was ihre Hand ergreift, -- so daß sie's auch an seinem letzten Saum nicht halten könnten, ohne zu verbrennen.
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Sie sagen mein, wie manchmal einer gern den Fürsten Freund nennt im Gespräch mit Bauern, wenn dieser Fürst sehr groß ist und -- sehr fern. Sie sagen mein von ihren fremden Mauern und kennen gar nicht ihres Hauses Herrn. Sie sagen mein und nennen das Besitz, wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn, so wie ein abgeschmackter Scharlatan vielleicht die Sonne sein nennt und den Blitz. So sagen sie: mein Leben, meine Frau, mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau, daß alles: Leben, Frau und Hund und Kind fremde Gebilde sind, daran sie blind mit ihren ausgestreckten Händen stoßen. Gewißheit freilich ist das nur den Großen, die sich nach Augen sehnen. Denn die andern _wollen's_ nicht hören, daß ihr armes Wandern mit keinem Dinge rings zusammenhängt, daß sie, von ihrer Habe fortgedrängt, nicht anerkannt von ihrem Eigentume, das Weib so wenig _haben_ wie die Blume, die eines fremden Lebens ist für alle. Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht. Auch der dich liebt und der dein Angesicht erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht in deinem Atem schwankt, -- besitzt dich nicht. Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt, so daß du kommen mußt in sein Gebet: Du bist der Gast, der wieder weitergeht. Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein, von keines Eigentümers Hand gestört, so wie der noch nicht ausgereifte Wein, der immer süßer wird, sich selbst gehört. In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz. Denn alle Überflüsse die ich sah, sind Armut und armseliger Ersatz für deine Schönheit, die noch nie geschah. Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit und, weil ihn lange keiner ging, verweht. O, du bist einsam. Du bist Einsamkeit, du Herz, das zu entfernten Talen geht. Und meine Hände, welche blutig sind vom Graben, heb ich offen in den Wind, so daß sie sich verzweigen wie ein Baum. Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum, als hättest du dich einmal dort zerschellt in einer ungeduldigen Gebärde und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt, aus fernen Sternen wieder auf die Erde sanft, wie ein Frühlingsregen fällt. Drittes Buch Das Buch von der Armut und vom Tode (1903) Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe in harten Adern, wie ein Erz allein; und bin so tief, daß ich kein Ende sehe und keine Ferne: alles wurde Nähe, und alle Nähe wurde Stein.
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Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, -- so macht mich dieses große Dunkel klein; bist du es aber: mach dich schwer, brich ein: daß deine ganze Hand an mir geschehe und ich an dir mit meinem ganzen Schrein. Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen, -- Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen, ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen, und Träger jener Tale der Zyklamen, aus denen aller Duft der Erde geht; du, aller Berge Mund und Minaret (von dem noch nie der Abendruf erschallte): Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte wie ein noch ungefundenes Metall? Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte, und deine Härte fühl ich überall. Oder ist das die Angst, in der ich bin? die tiefe Angst der übergroßen Städte, in die du mich gestellt hast bis ans Kinn? O daß dir einer recht geredet hätte von ihres Wesens Wahn und Abersinn. Du stündest auf, du Sturm aus Anbeginn, und triebest sie wie Hülsen vor dir hin ... Und willst du jetzt von mir: so rede recht, -- so bin ich nicht mehr Herr in meinem Munde, der nichts als zugehn will wie eine Wunde; und meine Hände halten sich wie Hunde an meinen Seiten, jedem Ruf zu schlecht. Du zwingst mich, Herr, zu einer fremden Stunde. Mach mich zum Wächter deiner Weiten, mach mich zum Horchenden am Stein, gib mir die Augen auszubreiten auf deiner Meere Einsamsein; laß mich der Flüsse Gang begleiten aus dem Geschrei zu beiden Seiten weit in den Klang der Nacht hinein. Schick mich in deine leeren Länder, durch die die weiten Winde gehn, wo große Klöster wie Gewänder um ungelebte Leben stehn. Dort will ich mich zu Pilgern halten, von ihren Stimmen und Gestalten durch keinen Trug mehr abgetrennt, und hinter einem blinden Alten des Weges gehn, den keiner kennt. Denn Herr, die großen Städte sind Verlorene und Aufgelöste; wie Flucht vor Flammen ist die größte, -- und ist kein Trost, daß er sie tröste, und ihre kleine Zeit verrinnt. Da leben Menschen, leben schlecht und schwer, in tiefen Zimmern, bange von Gebärde, geängsteter denn eine Erstlingsherde; und draußen wacht und atmet deine Erde, sie aber sind und wissen es nicht mehr.
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Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen, die immer in demselben Schatten sind, und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, -- und müssen Kind sein und sind traurig Kind. Da blühen Jungfraun auf zum Unbekannten und sehnen sich nach ihrer Kindheit Ruh; das aber ist nicht da, wofür sie brannten, und zitternd schließen sie sich wieder zu. Und haben in verhüllten Hinterzimmern die Tage der enttäuschten Mutterschaft, der langen Nächte willenloses Wimmern und kalte Jahre ohne Kampf und Kraft. Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten, und langsam sehnen sie sich dazu hin; und sterben lange, sterben wie in Ketten und gehen aus wie eine Bettlerin. Da leben Menschen, weißerblühte, blasse, und sterben staunend an der schweren Welt. Und keiner sieht die klaffende Grimasse, zu der das Lächeln einer zarten Rasse in namenlosen Nächten sich entstellt. Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh, sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen, und ihre Kleider werden welk an ihnen, und ihre schönen Hände altern früh. Die Menge drängt und denkt nicht sie zu schonen, obwohl sie etwas zögernd sind und schwach, -- nur scheue Hunde, welche nirgends wohnen, gehn ihnen leise eine Weile nach. Sie sind gegeben unter hundert Quäler, und, angeschrien von jeder Stunde Schlag, kreisen sie einsam um die Hospitäler und warten angstvoll auf den Einlaßtag. Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Grüße sie in der Kindheit wundersam gestreift, -- der kleine Tod, wie man ihn dort begreift; ihr eigener hängt grün und ohne Süße wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift. O Herr, gib jedem seinen eignen Tod, das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht. Um ihretwillen heben Mädchen an und kommen wie ein Baum aus einer Laute, und Knaben sehnen sich um sie zum Mann; und Frauen sind den Wachsenden Vertraute für Ängste, die sonst niemand nehmen kann. Um ihretwillen bleibt das Angeschaute wie Ewiges, auch wenn es lang verrann, -- und jeder, welcher bildete und baute, ward Welt um diese Frucht und fror und taute und windete ihr zu und schien sie an.
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In sie ist eingegangen alle Wärme, der Herzen und der Hirne weißes Glühn --: Doch deine Engel ziehn wie Vogelschwärme, und sie erfanden alle Früchte grün. HERR: wir sind ärmer denn die armen Tiere, die ihres Todes enden, wenn auch blind, weil wir noch alle ungestorben sind. Den gib uns, der die Wissenschaft gewinnt, das Leben aufzubinden in Spaliere, um welche zeitiger der Mai beginnt. Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer, daß es nicht _unser_ Tod ist; einer, der uns endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen; drum geht ein Sturm, uns alle abzustreifen. Wir stehn in deinem Garten Jahr und Jahr und sind die Bäume, süßen Tod zu tragen; aber wir altern in den Erntetagen, und so wie Frauen, welche du geschlagen, sind wir verschlossen, schlecht und unfruchtbar. Oder ist meine Hoffart ungerecht: sind Bäume besser? Sind wir nur Geschlecht und Schoß von Frauen, welche viel gewähren? -- Wir haben mit der Ewigkeit gehurt, und wenn das Kreißbett da ist, so gebären wir unsres Todes tote Fehlgeburt; den krummen, kummervollen Embryo, der sich (als ob ihn Schreckliches erschreckte) die Augenkeime mit den Händen deckte und dem schon auf der ausgebauten Stirne die Angst von allem steht, was er nicht litt, -- und alle schließen so wie eine Dirne in Kindbettkrämpfen und am Kaiserschnitt. Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß, bau seinem Leben einen schönen Schoß, und seine Scham errichte wie ein Tor in einem blonden Wald von jungen Haaren, und ziehe durch das Glied des Unsagbaren den Reisigen den weißen Heeresscharen, den tausend Samen, die sich sammeln, vor. Und eine Nacht gib, daß der Mensch empfinge, was keines Menschen Tiefen noch betrat; gib eine Nacht: da blühen alle Dinge, und mach sie duftender als die Syringe und wiegender denn deines Windes Schwinge und jubelnder als Josaphat. Und gib ihm eines langen Tragens Zeit und mach ihn weit in wachsenden Gewändern, und schenk ihm eines Sternes Einsamkeit, daß keines Auges Staunen ihn beschreit, wenn seine Züge schmelzend sich verändern. Erneue ihn mit einer reinen Speise, mit Tau, mit ungetötetem Gericht, mit jenem Leben, das wie Andacht leise und warm wie Atem aus den Feldern bricht. Mach, daß er seine Kindheit wieder weiß; das Unbewußte und das Wunderbare und seiner ahnungsvollen Anfangsjahre unendlich dunkelreichen Sagenkreis.
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