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202
Offener Brief an Wolfgang Ischinger - Münchner Sicherheitskonferenz: Deeskalation der Ukraine-Krise!
Lieber Wolfgang, ab dem 18. Februar 2022 werden die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) und Du als ihr Vorsitzender im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in vielen Teilen der Welt stehen. Ich bin seit 1994 – damals als junger Bundestagsabgeordneter – immer dabei gewesen und habe oft erlebt, wie es Deinen Vorgängern, vor allem aber Dir, gelungen ist, am Rande der Veranstaltung durch vertrauliche Gespräche konkrete Fortschritte in internationalen Krisen zu erzielen. Mit Hinblick auf die Ukraine-Krise war das auch diesmal Dein Ziel. Es ist deshalb traurig und ein schwerer Fehler, dass Russland keine Regierungsvertreter schickt. Dennoch wünsche ich Dir als einem unserer ganz großen Diplomaten von Herzen, mit der MSC einen Beitrag zur Abwendung eines real drohenden Krieges mit desaströsen Folgen für uns alle zu leisten. Deine Einlassungen zur Ukraine-Krise, etwa bei der CSU-Landesgruppe, habe ich aufmerksam verfolgt. Ich teile Deine Überzeugung, dass Deutschland gut daran tut, keine Sonderwege zu gehen, sondern eine geschlossene Haltung in EU und Nato anstrebt. Unsere Partnerschaft mit den USA bleibt unverzichtbar – auch wenn Angela Merkel im Mai 2017 zu Recht anmerkte, dass die Zeiten, in denen wir uns auf die USA verlassen konnten, „ein Stück weit“ vorbei seien. Wolfgang, wir haben uns im Juni 1980 in Washington kennengelernt. Du warst damals Persönlicher Referent unseres Botschafters Peter Hermes, ich Student der Internationalen Politik, der an seiner Dissertation über US-Außenpolitik schrieb. Wir sind beide Kinder des Westens! Aber wir haben es auch immer für wichtig erachtet, Dialog und Interessenausgleich mit Russland anzustreben. Gerade, weil Moskau uns das momentan sehr schwer macht, müssen wir es weiter versuchen. Erlaube, dass ich Dir einige Überlegungen mit auf den Weg gebe: Michael Stürmer, ein großer alter Mann der internationalen Politikwissenschaft, hat darauf hingewiesen, dass das gegenwärtige Kräftemessen leicht „jene Dynamik auslösen könne, die schon 1914 zur Katastrophe führte“. (Die Welt, 1.1.2022). In der Tat: Vor dem Hintergrund des bedrohlichen und inakzeptablen russischen Truppenaufmarschs liefern sich westliche Politiker, Experten und Medien derzeit einen Überbietungswettbewerb mit  immer härteren Drohungen und Sanktionsforderungen. Wer dabei nicht in der ersten Reihe stehen mag, sondern die Beweggründe der „anderen Seite“ verstehen möchte, wer neben entschiedener Reaktion auch auf Dialog und Diplomatie setzt, wird leicht diffamiert. Die Emotionen schaukeln sich hoch, nur wenige (darunter zum Glück Olaf Scholz und Emmanuel Macron) bleiben gelassen und halten Kurs in der Tradition der guten alten Harmel-Doktrin der Nato: Eindämmung und Entspannung. Viele in Deutschland scheinen dagegen die Lehren der Weltkriege und das Leid der Bombennächte zu verdrängen. Die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki sind unserem kollektiven Bewusstsein entronnen. Die historische Lehre wird vergessen, dass in einer Atmosphäre der Drohungen, Ultimaten, der Aufrüstung und Militäraufmärsche oft nur ein Funke ausreicht, um einen Flächenbrand auszulösen. Die verbreitete Gewissheit, der Krieg würde auf die Ukraine begrenzt bleiben, könnte sich als trügerisch erweisen. Niemand – auf beiden Seiten – will das Gesicht verlieren, niemand will schwächeln. Schlafwandeln wir so in den nächsten Krieg? Dieser würde allerdings – im Gegensatz zu 1914 und 1945 – auch mit nuklearen Waffen ausgetragen. Wenn die Wahrscheinlichkeit dafür zum Glück derzeit gering erscheint, so bleibt das „Restrisiko“ eines nuklearen Krieges unerträglich hoch. Deshalb ist rhetorische Abrüstung und Deeskalation das Gebot der Stunde. Und deshalb, Wolfgang – hier sind wir wirklich unterschiedlicher Meinung –, ist es richtig, dass die Bundesregierung Waffenlieferungen für die Ukraine ablehnt. Sie führen zur Aufheizung des Konflikts und könnten genau das provozieren, was sie verhindern wollen: Wenn Putin wirklich mit dem Gedanken eines Einmarsches spielt, warum sollte er dann warten, bis neue Waffensysteme installiert sind? Und haben die Waffenlieferungen in dieser Situation nicht auch eine zutiefst unmoralische Seite? Niemand im Westen, nicht einmal der größte „Falke“ in den USA, will mit eigenen Truppen die Ukraine verteidigen – aber man schickt Waffen, die den Krieg nicht verhindern, wohl aber das Leid der Menschen vergrößern. Schließlich: Niemand im Westen will eigene Soldaten in die Ukraine schicken, aber einige spielen mit dem Gedanken der Nato-Mitgliedschaft und damit der automatischen Beistandsgarantie für Kiew. Wenig überzeugend! Die Bundesregierung weist zu Recht auch auf die Geschichte hin: Der Überfall Nazi-Deutschlands führte zu 27 (!) Millionen Toten in der Sowjetunion. 1987 war ich als Pressesprecher von Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf dem Piskarskowje-Friedhof im damaligen Leningrad. Eine halbe Million Soldaten, Frauen, Kinder, Greise liegen dort begraben, Opfer der deutschen Blockade, die die Menschen aushungern und vernichten sollte. Zu den Klängen der Leningrader Sinfonie von Schostakowitsch schritten wir mit den Außenministern Genscher und Schewardnadse durch die Reihen der Gräber. Nie wieder! Du weißt, Wolfgang, dass ich im Bundestag einer der ersten und entschiedensten Befürworter der Nato-Öffnung war. Bis heute bin ich der Meinung, dass das richtig war, um den jungen Demokratien in Mitteleuropa Stabilität und Sicherheit zu geben. Aber der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe, sein Generalinspekteur Klaus Naumann, auch wir Abgeordnete auf unserer Ebene, kommunizierten in Moskau jeden Schritt und unterstrichen, dass sich die Nato-Öffnung nicht gegen Russland richte. Auch Moskau müsse doch das Interesse haben, ein unruhiges „Zwischeneuropa“ zu verhindern. In diesem Geist entstanden 1997 auch die Nato-Russland-Akte und der Nato-Russland-Rat. Mit der beim Nato-Gipfel 2008 erklärten Absicht, auch die Ukraine und Georgien in das Bündnis aufzunehmen, endete jedoch die Bereitschaft der Russen, die Ausdehnung der Nato an ihren Grenzen hinzunehmen. Wladimir Putin machte klar, dass sein Land sich direkt bedroht fühle, und zeigte kurz darauf mit seiner Militärintervention in Georgien, wie ernst er das meinte. Angela Merkel und Nikolas Sarkozy bremsten das Projekt, es verschwand in den Schubladen. Heute ist Russland politisch und militärisch stärker als vor 14 Jahren. Man mag die Idee von Einflusszonen der Großmächte für legitim erachten oder nicht: Sie war und ist Realität. Das Recht dazu haben übrigens gerade die USA seit der Monroe-Doktrin von 1823 immer für sich beansprucht und oft auch mit militärischen Mitteln dafür gesorgt, dass der eigene „backyard“ unter Kontrolle blieb. In der gleichen Logik sieht der Kreml eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft als Angriff auf russische Kerninteressen. Kann man den Russen das vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung verdenken? 1708 Karl XII., 1812 Napoleon I., 1914 Kaiser Wilhelm II., 1941 Adolf Hitler – die Angriffe aus dem Westen sind tief im Gedächtnis der russischen Nation verankert. In seinem faszinierenden Buch „Die Macht der Geographie“ erklärt Tim Marshall, dass „jeder russische Führer“ gleich welcher Ideologie sich dem gleichen Problem gegenübersieht: der flachen nordeuropäischen Tiefebene, die sich breit ins Herz Russlands erstreckt und kaum zu verteidigen ist. US-Streitkräfte noch dichter vor der Haustür? Nicht nur Putin, jeder Nachfolger – selbst im (unwahrscheinlichen) Fall, dass das ein liberaler Demokrat wäre – würde sich wehren. Es ist wahr: Die Charta von Paris aus dem Jahr 1990 garantiert den Staaten Europas die freie Bündniswahl. Aber das bedeutet keine Aufnahmegarantie. Im Gegenteil hat die Nato in der 1995 verabschiedeten Beitrittsstudie und im sogenannten Membership Action Plan (MAP) von 1999 klare Erwartungen an neue Mitglieder formuliert: Nicht zuletzt sollten ethnische und territoriale Streitigkeiten eines Aspiranten vor einer Aufnahme gelöst sein. Wenn die Ukraine Mitglied würde, dann mit oder ohne die Krim? Allein deshalb hat kein Verantwortlicher im Westen ernsthaft vor, die Ukraine auf absehbare Zeit in das Bündnis aufzunehmen. Man muss das nur endlich der Ukraine ehrlich erklären und nicht Illusionen wabern lassen! Für die Ukrainer ist diese durch die Geographie und die Macht des östlichen Nachbarn gegebene Situation derzeit schwer erträglich – aber sie ist allemal besser als ein Krieg. Eine Österreich- oder Finnland-Lösung, wie sie im Kalten Krieg beiden Ländern trotz militärischer Neutralität eine enge Anbindung an die westlichen Institutionen ermöglichte – ist heute der einzige Weg, den Frieden zu erhalten. In den nächsten Jahren muss die Spirale von Misstrauen und Hass zwischen der Ukraine und Russland abgebaut werden. Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nach dem Vorbild von 1975 sollte ins Leben gerufen werden. Wie damals sollten die europäischen Staaten einschließlich Russlands und der Ukraine mit den USA und Kanada zusammenkommen und eine „Hausordnung“ ähnlich der Schlussakte von Helsinki erarbeiten. Keine Verschiebung von Grenzen, Anerkennung von Minderheiten (z.B. durch eine Südtirol-Lösung für die Ostukraine), grundlegende Menschenrechte, Förderung des Tourismus, des Kultur- und Jugendaustauschs, Vertrauensbildung durch Transparenz bei Militärmanövern, Abrüstung und Transparenz im Cyberspace – und vielleicht ein weiterer „Korb“ mit gemeinsamen Klima-Projekten: Erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Wasserstoff, Aufforstung, sichere Behandlung nuklearer Abfälle, Sanierung der Transit-Gaspipeline durch ein EU-Russland-Ukraine-Konsortium usw. Wenn wir an gemeinsamen Zukunftsprojekten im Interesse aller Seiten arbeiten, kann neues Vertrauen entstehen. Viel Erfolg und Glück, lieber Wolfgang! Dein Friedbert
Friedbert Pflüger
Die Münchner Sicherheitskonferenz, die am 18. Februar beginnt, wird in diesem Jahr von Russland boykottiert. Die internationale Tagung sei nicht mehr objektiv, sondern nur mehr ein transatlantisches Forum, heißt es aus Moskau. Friedbert Pflüger appelliert an den Vorsitzenden der Konferenz, Wolfgang Ischinger, sich dennoch für eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts einzusetzen - und Waffenlieferungen an die Ukraine abzulehnen.
[ "Münchner Sicherheitskonferenz", "wolfgang Ischinger", "Nato", "Russland", "Ukraine" ]
außenpolitik
2022-02-14T12:23:07+0100
2022-02-14T12:23:07+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/offener-brief-wolfgang-ischinger-munchner-sicherheitskonferenz-ukraine-russland-nato
Jörg Baberowski im Gespräch mit Michael Sommer und - Cicero Wissenschaft Podcast: "Putin wird nicht verschwinden"
Seit dem 24. Februar 2022 herrscht in der Ukraine Krieg. Während Journalisten und Politikwissenschaftler in der Regel nur über das aktuelle Geschehen reflektieren, blicken Historiker tiefer zurück in die Geschichte. Welche Ereignisse haben zu Russlands Einmarsch in der Ukraine geführt? Was geschieht, wenn einstige Imperien zerfallen? Woher kommt Putins Gewaltpotential? Über derlei Fragen haben der Althistoriker Michael Sommer und der Evolutionsbiologe Axel Meyer mit dem Berliner Historiker, Gewaltforscher und Russlandkenner Jörg Baberowski geredet. Im Hintergrund von Putins Handeln sieht Baberowski eine große Angst: „Ich glaube, dass es sich hier um Torschlusspanik handelt, um die Wahrnehmung, dass jetzt gehandelt werden müsse, weil sonst die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands auf Dauer verschwinden wird", so der Autor zahlreicher Standardwerke zur Geschichte des Stalinismus sowie zu weiteren Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Baberowski sieht in Wladimir Putin einen unkontrollierten und von Hass zerfressenen Menschen, der erkannt hat, dass er sich an einem Scheideweg der Geschichte befindet: Während die Ukraine auf dem Weg zu einer Nation ist, in er sich die Menschen nicht mehr über die Ethnie, sondern über die Staatsbürgerschaft in einem modernen Nationalstaat definieren, hängt Putin weiterhin imperialistischen Vorstellungen nach. Laut Baberowski habe dies u.a. auch dazu geführt, dass der russische Präsident die Lage vollkommen falsch eingeschätzt hat: Weder habe Putin einkalkuliert, dass der Krieg länger dauern könnte, noch hat er sich den Schulterschluss zwischen Deutschland und den osteuropäischen Nachbarn vorstellen können. In dem fast 40-minütigen Gespräch, das den Auftakt zum Cicero Wissenschaft-Podcast „Menschen, Tiere, Sensationen" bildet, belassen es die drei Diskutanten indes nicht bei der Oberfläche der aktuellen Ereignisse, sie sortieren diese in größere Zusammenhänge ein: „Wir sehen das Entstehen einer Nation im Zeitraffer", so der Osteuropa-Experte Baberowski über die aktuellen Ereignisse in der Ukraine. Zugleich aber auch beobachtet er, wie Russland im Inneren immer autoritärer wird. Dennoch ist Putin für den Historiker nicht nur der große Unzeitgemäße. Russland ist Atommacht und Ordnungsmacht in Zentralasien wie im Kaukasus. Mit dieser Situation wird Europa auch nach dem Krieg umgehen müssen. Besser also, man versucht, die komplexen Ereignisse bis in die Tiefe zu ergründen, um wirklich verstehen zu können, was geschieht. Das Gespräch wurde am 17. März 2022 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
Cicero-Redaktion
Jörg Baberowski ist Gewaltforscher und profilierter Osteuropaexperte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat zahlreiche Bücher zu Russland und seiner Geschichte geschrieben. Dennoch hat auch Baberowski der Ausbruch des Krieges in der Ukraine überrascht. Im Cicero Wissenschaft Podcast analysiert er zusammen mit dem Althistoriker Michael Sommer und dem Evolutionsbiologen Axel Meyer die Ursachen der aktuellen Gewalt.
[ "Interview", "Podcast", "Geschichte", "Ukraine-Krieg", "Russland", "Ukraine", "Wissenschaft" ]
2022-03-31T18:50:03+0200
2022-03-31T18:50:03+0200
https://www.cicero.de/kultur/podcast-wissenschaft-joerg-Baberowski-sommer-meyer-putin
Wichtige Wahlmänner – Ein Patt für Romney
Am 6. November wählen die Amerikaner ihren Präsidenten. Nein, das tun sie nicht! Spätestens seit dem ersten TV-Duell, das den Herausforderer Mitt Romney in den Umfragen wohl wieder aufholen lässt, ist es an der Zeit, die Sache ganz genau zu betrachten. Am 6. November wählen die Amerikaner nämlich nicht ihren Präsidenten, sondern die Wahlmänner des Bundesstaates, in dem sie wohnen. Die wiederum treffen sich 41 Tage nach dem Wahltag (am Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember) in den Hauptstädten der Bundesstaaten, in diesem Jahr also am 17. Dezember, und geben ihre Stimme ab (electoral college). Derzeit gibt es 538 Wahlmänner und –frauen. Barack Obama hat 269 von ihnen ziemlich fest auf seiner Seite. Doch wenn Romney nun in allen sieben verbliebenen „swing states“ das Rennen macht, also dort, wo es besonders knapp ist, hat er ebenfalls 269 Wahlmänner auf seiner Seite. Das wäre ein Patt. Was passiert bei einem Patt? In diesem Fall würde laut Verfassung das Repräsentantenhaus den Präsidenten wählen. Und da die Republikaner dort voraussichtlich eine deutliche Mehrheit haben, würde Romney Präsident, selbst wenn Obama in absoluten Zahlen (popular vote) mehr Stimmen bekommen hätte. [gallery:Game Changer – die Patzer des US-Wahlkampfs] Die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, ist freilich gering. Im September lag sie laut Nate Silver vom „New-York-Times“-Blog „FiveThirtyEight“ bei 0,3 Prozent. Doch dann verdoppelte sie sich auf 0,6 Prozent und dürfte nun, nach der TV-Debatte, erneut gestiegen sein. Präzedenzlos wäre der Fall ohnehin nicht. Im turbulenten Wahljahr 1800 gab es ein Wahlmänner-Patt zwischen Thomas Jefferson und Aaron Burr, die Abgeordneten stimmten schließlich für Jefferson. 24 Jahre später konnte keiner von vier Kandidaten die notwendige Mehrheit von damals 131 Stimmen hinter sich bringen. Am Ende stimmte wieder das Repräsentantenhaus ab und machte den ursprünglich Zweitplatzierten, John Quincy Adams (Sohn von John Adams), zum Präsidenten. Amerikas Präsident wird weder direkt vom Volk noch von einer Mehrheit im Parlament gewählt. Im Wahlmännersystem, das auch auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia vor 225 Jahren nicht unumstritten war, drückt sich sowohl eine gewisse Furcht vor den „irrationalen Leidenschaften“ des Volkes aus als auch der Wunsch nach einem Ausgleich zwischen bevölkerungsstarken und -schwachen Bundesstaaten. Alexander Hamilton, einer der Väter der US-Verfassung, charakterisierte die Wahlmänner als eine kleine Zahl von Personen, die „aller Voraussicht nach über das Wissen und die Urteilskraft“ verfügen, um in letzter Instanz eine solche Entscheidung treffen zu können. Die Wahlmänner sind frei in ihrer Entscheidung, würden aber als „treulos“ geächtet, sollten sie einmal nicht für den eigenen Kandidaten stimmen. Ihre Zahl ist verfassungsmäßig zwar festgelegt, aber trotzdem variabel: Jeder Staat darf so viele Wahlmänner aufstellen, wie er Senatoren und Repräsentantenhausabgeordnete hat. Weil die zweite Zahl von der Einwohnerzahl der Bundesstaaten abhängt, wird sie alle zehn Jahre nach einem Zensus vom Kongress aktualisiert. Die Stimmzettel, die die Wahlmänner am 17. Dezember abgeben, werden versiegelt, nach Washington D.C. geschickt und am ersten Sitzungstag des neuen Kongresses Anfang Januar ausgezählt. Erst dann steht fest, wer Präsident wird. Es sei denn, es gibt ein Patt (siehe oben).
Nicht das Volk wählt den Präsidenten der USA, sondern die Wahlmänner. Was wäre, wenn es genau ein Patt gäbe, wenn beide also gleichauf liegen würden? Ein kleines Gedankenspiel
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außenpolitik
2012-10-05T09:50:39+0200
2012-10-05T09:50:39+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/ein-patt-fuer-romney/52093
Nach dem Brexit-Referendum - Warum die EU jetzt britischer werden muss
Ein Besuch auf der Insel, zufälligerweise two days after. Ritchie Blackmore hatte zum Konzert nach Birmingham geladen. Ein doppeltes Erlebnis: musikalisch und politisch. Ein Land, geschockt von sich selbst. In Erklärungsnot: Ein Mann aus Liverpool hält sich am nächsten Morgen beim Frühstück noch kurz beim großen Abend und Blackmores arthritisch-missglücktem Gitarrensolo im Opener „Highway Star“ auf, um sich dann ungefragt bei den Besuchern vom Kontinent zu entschuldigen. Es sei so schrecklich, nicht zu fassen, seine Frau sei Dänin, das könne doch alles nicht wahr sein. Was Briten und Kontinentaleuropäer dann schon wieder verbindet: Sie wissen beide nicht, was sie tun. Erst wussten die Briten nicht, was sie tun. Und dann wussten die übrigen Europäer nicht, was sie tun. Stammelnde junge Menschen auf den Straßen Londons, die sich vergeblich ärgern, vor lauter Gleichgültigkeit und fahrlässigem Vertrauen in die kollektive Vernunft nicht wählen gegangen zu sein. Ein Boris Johnson, der sich in sein Landhaus zurückzieht, um erst einmal zu verarbeiten, dass das hier nicht einfach nur ein folgenloses rhetorisches Spiel mit seinem alten Widersacher David Cameron war wie seinerzeit auf der gemeinsamen Debattierbühne „Bullingdon Club“, wo die beiden schon in den späten Achtzigern ihre Zungen schärften. Das nun war verdammt ernst, und beide haben Großbritanniens Zukunft dabei aufs Spiel gesetzt. Das immerhin steht dem alten Gambler Johnson unter seinem flachsblonden Wuschelhaar ins Gesicht geschrieben. Ähnlich postpubertär wie auf der Insel aber geht es auch in Europa zu. Kommissionschef Jean-Claude Juncker schwadroniert etwas von einer Scheidung, die jetzt schon schmutzig werden müsse. Man sollte sich ohnehin fragen, ob sich die Europäische Union einen Mann wie Juncker (der auch mal eben Ungarns Premier Viktor Orbán mit dem Führergruß willkommen heißt) als Galionsfigur noch leisten will. Formulieren wir es so: Wer einen wie Juncker zum Kommissionspräsidenten hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Nachbarn wegziehen. Auch Parlamentspräsident Martin Schulz von der SPD legt eine verantwortungslose Mentalität von Siegerjustiz an den Tag, drückt aufs Tempo und verfasst zusammen mit seinem Parteichef Sigmar Gabriel ein törichtes Papier, das nach dem britischen Nein zu Europa eine Vertiefung fordert. Hier haben einige den Schuss offenbar überhaupt nicht gehört. Haben nicht verstanden, dass Häme, Strafe und billige Genugtuung nicht weiterführen und Vertiefung nicht die Lehre für Europa aus dem Brexit sein kann. Dabei ist ganz klar: Wer hier jetzt das Feingefühl eines gereizten Flusspferds an den Tag legt, zertrampelt Europa noch weiter. Die weitsichtigste Reaktion kam von Angela Merkel, der deutschen Kanzlerin, die nach der unseligen Affekthandlung in der Flüchtlingsfrage vor einem knappen Jahr zur Besonnenheit zurückgefunden hat. Sie gab die Gütige und wies all jene zurecht, die Großbritannien am liebsten schon diese Woche vor die Tür setzen würden, um ein abschreckendes Beispiel für alle anderen zu statuieren, die ebenso versucht sein könnten, dem britischen Vorbild zu folgen. Damit macht Merkel selbst wieder gut, was sie angerichtet hat. Denn der Brexit ist auch ihr Brexit. Die zeitweilig bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen im Millionenmaßstab hat die Debatte um den Brexit in Großbritannien maßgeblich beeinflusst. Und das Ergebnis mit herbeigeführt. Merkel hat also die Hecke mit angezündet, aber sie hilft immerhin beim Löschen. Ihre Führung ist gefordert, wieder mal. Denn ausgerechnet der Mann, auf den es neben ihr nun besonders ankommt, spürt den heißen Atem der Brexitfreunde im eigenen Land im Nacken: François Hollande, noch nie ein Held gewesen, sieht sich von Marine Le Pens Front National unter Druck und dringt deshalb auch auf den raschen Brexit und die schnelle politische Bestrafung der Briten. Das Gegenteil dessen zu tun, was Juncker, Schulz, Gabriel und Hollande wollen, ist geboten: Die Europäische Union muss nach dem Abgang der Briten britischer werden. Sie muss den Gürtel nicht noch enger um sich schnallen, sondern lockern. Sonst drückt es weitere Länder aus ihr heraus. Die Lockerung muss letztlich der Erkenntnis gehorchen: Der Nationalstaat, das zeigt die zeitgleich zum Brexit laufende Fußball-Europameisterschaft, ist nach wie vor ein kraftvolles und nach der Wahrnehmung der Bevölkerung zeitgemäßes Gebilde. Die Vereinigten Staaten von Europa, wie sie Winston Churchill in Zürich 1946 (ohne die Briten notabene) gefordert hat, wird es nie geben. Das muss auch einsehen, wer darauf hoffte. Stattdessen ist eine Rückbesinnung auf ein pragmatisches Zweckbündnis anstelle eines pathetischen Projekts erforderlich. Angela Merkel hat immer wieder auf die wichtige Rolle der Briten in dieser Hinsicht hingewiesen. Jetzt, wo es die Briten bald nicht mehr gibt im europäischen Verbund, sollten die verbliebenen 27 sich auf folgende Lehren verständigen. Erstens: Bis auf weiteres keine neuen Länder in die EU aufnehmen, die vor allem Bürde und nicht Hilfe sind. Es war ein Fehler, die Europäische Union über Jahrzehnte vor allem als Sprungbrett in die Nato, als Cash Cow und als Lehranstalt für junge Demokratien begriffen zu haben und dabei nicht zu sehen, wie das die innere Kohäsion des Bündnisses schwächt. Zweitens: Die Europäische Union nicht weiter vertiefen, sondern verflachen. Zurückführen auf den Kern: eine kulturelle Wertegemeinschaft, einen gemeinsamen Binnenmarkt, einen gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum, in dem Reisefreiheit herrscht, aber nicht unbedingt damit einhergehende Residenzfreiheit. Auch der Euro und die Eurorettungspolitik dürfen nicht dazu instrumentalisiert werden, die EU quasi durch die Hintertür zu einer Bankenunion oder einer Sozialunion zu vertiefen. Drittens, und das ist das, was Merkel erkennbar im Blick hat: Eine möglichst enge Anbindung eines künftigen Großbritannien an die Europäische Union, eine Schweizer Lösung. Nur die Anerkennung der ungebrochenen Kraft des Nationalstaates, die Lockerung des Gürtels um den eigenen Bauch und die fast gleichwertige Anbindung von Ländern wie Schweiz, Großbritannien oder Norwegen kann die Europäische Union davor bewahren, dass der Brexit nur der Anfang war. Beim Rückflug von Birmingham blieb genug Zeit, am Flughafen ausgiebig englische Zeitungen zu lesen. Erkenntnis: Selbst das hartgesottenste Anti-EU-Boulevardblatt dünstet jetzt Angstschweiß aus. In Berlin angekommen dann nervig langes Schlangestehen bei der Passkontrolle. Vielleicht ist es mit Europa wie mit dem Frieden: Man weiß oft eine Sache erst richtig zu schätzen, wenn sie nicht mehr da ist. Besser ist es, sich das vorher bewusst zu machen.
Christoph Schwennicke
Nach dem Brexit-Referendum reagieren Briten wie Kontinentaleuropäer gleichermaßen kopflos. Doch wer jetzt einen schnellen Austritt Großbritanniens und eine gleichzeitige Vertiefung der Europäischen Union fordert, hat den Schuss nicht gehört
[ "Brexit", "Großbritannien", "EU", "Angela Merkel", "David Cameron" ]
außenpolitik
2016-06-28T11:47:32+0200
2016-06-28T11:47:32+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/nach-dem-brexit-referendum-warum-die-eu-jetzt-britischer-werden-muss
Irak, Nahost, Ukraine - Unsere Träume liegen in Fetzen
Was für grausame Wochen. Tag für Tag, Stunde für Stunde sagen die Sprecher in den Nachrichten die Liste der Schrecken auf. Nahost und Ukraine, Irak und Syrien, Libyen, Afghanistan, Boko Haram, Ebola. Totenlisten. Zerstörungslisten. Ganz abgesehen von den Dramen, an die wir uns längst gewöhnt haben: Hunger und Elend in Afrika. Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten. Die Welt, so scheint es, ist aus den Fugen geraten, und nirgendwo ist ein Licht zu entdecken, das Hoffnung gäbe. Die Bilder wollen einen nicht loslassen, Ruinenstädte, Verwüstungen, weinende Menschen, Leichen. Natürlich, viele dieser Konflikte sind alt, manche schon jahrzehntealt. Dennoch, was sich in diesem Sommer zusammenballt, hat es in dieser Dichte schon lange nicht mehr gegeben. Und die schrecklichen Szenen spielen sich nicht in fernen Regionen ab. Sie kommen näher, ein Krieg, so fürchten viele, könnte vor der Haustür stehen. Von Berlin nach Kiew ist es nicht weiter, als, sagen wir einmal, von Berlin nach Freiburg. Selbstverständlich war die Welt auch zu anderen Zeiten alles andere als friedlich, sie war immer eine Welt der Katastrophen. Allein die Geschichte der vergangenen hundert Jahre erscheint wie eine Kette von Massenmorden, Völkermorden und Unmenschlichkeiten. Der Erste Weltkrieg mit 17 Millionen Toten, der Zweite mit etwa 70 Millionen, dazu sechs Millionen ermordete Juden. Und es hörte danach nicht auf: Vietnam, Kambodscha, Ruanda. Und die langen Jahrzehnte des Kalten Krieges, in denen sich zwei Militärblöcke mit dem atomaren Potenzial, das Leben auf der Welt um ein Vielfaches zu vernichten, gegenüberstanden, waren Zeiten einer ungeheueren Bedrohung. Es gab ein Lebensgefühl, das – trotz aller wirtschaftlichen Prosperität – immer wieder Angst hieß. Trotzdem, es ist nicht allzu lange her, dass es einige Gründe zu der Zuversicht gab, die Geschicke des Planeten Erde könnten sich ins Günstigere wenden. Mauerfall, Zusammenbruch des Kommunismus, Ende der waffenstarrenden Dauerkonfrontation, Ende der Apartheid in Südafrika. Es waren die 90er Jahre. „Give peace a chance“ – die Erfüllung einer Sehnsucht schien möglich, eine Utopie konkret zu werden, und der US-Präsident spielte Saxofon, statt Marschbefehle zu erteilen. Ein Zukunftsoptimismus hatte Einzug gehalten auf dem Erdkreis, trotz aller Auseinandersetzungen, die es natürlich auch damals gab, etwa auf dem Balkan. Dass die Gemeinschaft der Völker eine wirkliche Gemeinschaft sein könnte, das war damals ein Traum, der mehr war als ein Hirngespinst. Dass aus Feinden Freunde werden können, die Europäische Union hatte es längst vorgemacht. Und dass es diese Form der Partnerschaft eines Tages auch mit der Großmacht Russland geben könnte, schien nicht mehr die Musik einer fernen Zukunft zu sein. Der Traum zerbrach am 11. September 2001. Die Anschläge auf die Twin Towers in New York und auf das Pentagon in Washington schlugen wie Blitze ein in die Zukunftsfreudigkeit und machten deutlich, wie zerbrechlich und gefährdet sie gewesen war. Nichts war jetzt mehr wie zuvor, statt vom Kalten Krieg war nun vom Krieg der Kulturen die Rede. Und die Antworten waren darum auch sofort kriegerisch: Afghanistan, Irak. Dennoch war die Hoffnung nicht kleinzukriegen. Sie blühte wieder auf, als sich die Menschen in der arabischen Welt erhoben, den lebensgefährlichen Versuch unternahmen, aus ihrer Unmündigkeit herauszutreten und die Diktatoren verjagten. Als das Wort vom Frühling in aller Munde war und Optimisten daran zu glauben wagten, dass sich in diesem Zusammenhang auch die Bedrohung durch den Islamismus lösen lassen würde. Es ist nicht so gekommen. Nicht in der arabischen Welt, nicht in Russland, nicht in Afghanistan, nicht im Irak und auch nicht im Israel-Palästina-Konflikt. Der Fortschrittsoptimismus ist einer Gegenwartsdepression gewichen, die Träume liegen in Fetzen. Und nirgendwo ist eine Macht in Sicht, die daran etwas ändern könnte. Nicht in Europa, nicht in Amerika, nicht bei den Vereinten Nationen. Es bleiben die wahren Sätze, dass die Hoffnung zuletzt stirbt und dass das Rettende wächst, wo Gefahr ist. Aber es fällt schwer, in diesem Sommer ans Mutmachen zu glauben. Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten.
Wolfgang Prosinger
Mit dem Mauerfall vor 25 Jahren blühte einst Hoffnung auf. Eine bessere, friedlichere Welt schien möglich, eine Utopie konkret zu werden. Nun herrscht erneut die Angst. Wir leben in finsteren Zeiten. Ein Kommentar in Kooperation mit dem Tagesspiegel
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außenpolitik
2014-08-15T14:21:11+0200
2014-08-15T14:21:11+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/irak-nahost-ukraine-unsere-traeume-liegen-fetzen/58077
AfD-Wahlkampf im Osten – „Wer ‘Lügenpresse!‘ geschrien hätte, wäre im Stasi-Knast gelandet“
Uwe Schwabe ist einer von vielen DDR-Bürgerrechtlern, die einst unter dem Dach der evangelischen Nikolai-Kirche in Leipzig für Umweltschutz und Menschenrechte demonstriert hatten. Gemeinsam mit 100 anderen ehemaligen Engagierten hat er als Erstunterzeichner die Erklärung „Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf“ unterschrieben. Für sein Engagement wurde er zum 25. Jahrestag des Mauerfalls mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. Heute arbeitet der gelernte Instandhaltungsmechaniker im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Herr Schwabe, Thüringens AfD-Chef Björn Höcke hat die BRD in einer Wahlkampfrede mit der DDR verglichen. Er sagt Sätze wie: „Es fühle sich schon wieder an wie 1989.“ Oder: „Dafür haben wir nicht die friedliche Revolution gemacht.“ Sie waren einer der Organisatoren der Montagsdemos in Leipzig. Teilen Sie seine Einschätzung? Nein, die BRD hat nichts, aber auch gar nichts mit der DDR gemein. Wer sie mit dieser DDR vergleicht, und zu dem Ergebnis kommt, es sei genauso schlimm wie damals, verharmlost die kommunistische Diktatur, die aus meiner Sicht vor allem geprägt war von Verfolgung, Bespitzelung durch die Stasi und durch Morde an der innerdeutschen Grenze. Höcke ist – wie die meisten anderen Mitglieder der AfD-Spitze auch – im Westen aufgewachsen. Er hat all das nie persönlich erlebt. Wie kommt er dazu, auf diese Weise die Erinnerung an diesen Unrechtsstaat zu beschwören? Weil man Menschen am besten dort  emotional erreichen kann, wo sie sich zurückgesetzt fühlen. AfD-Politiker wie Björn Höcke oder Andreas Kalbitz missbrauchen den Begriff der friedlichen Revolution, um ihre Wähler hinters Licht zu führen. Wer sonst nicht viel zu bieten hat, außer Spaltung, Hass und Hetze, muss wohl auf starke Symbole zurückgreifen. Ich denke, das ist ein riesengroßer Fehler. Warum? Weil man die Menschen damit in dem Glauben bestärkt: Der Staat muss meine Probleme lösen. Früher hat das die PDS gemacht, heute hat die AfD dieses Feld besetzt, weil die Linke in vielen Parlamenten als Oppositionspartei vertreten ist und nicht mehr als Protestpartei wahrgenommen wird. Sie meinen, Bürger fallen auf Parteien rein, die einfache Lösungen versprechen? Genau. Im Fall der AfD  hinterfragen die Wähler nicht mal, woher Politiker wie Björn Höcke oder Andreas Kalbitz kommen. Die glauben, was man ihnen erzählt. Die AfD macht im Osten mit dem Slogan Wahlkampf: „Vollende die Wende“. Was würde es bedeuten, wenn sie an die Regierung käme und diesen Slogan umsetzen müsste? Ach, der Slogen ist doch nur heiße Luft. Die AfD will damit die Protestwähler dort abholen wo sie schon Anfang der 1990 Jahre gestanden haben. Wir brauchen aber keine „Vollendung der Wende“. Was wir brauchen, ist die Selbstbefreiung aus einer Bevormundung und die Selbstermächtigung zum Handeln. Sie sind in den achtziger Jahren für Grundrechte wie Meinungsfreiheit auf die Straße gegangen. Wie finden Sie es, dass Anhänger der AfD oder vom Leipziger Pegida-Ableger Legida diese Freiheit heute nutzen, um „ein Ende des Kriegsschuldkultes“ zu fordern oder um gegen Muslime zu hetzen? Furchtbar. Aber wir müssen das jetzt aushalten. Es ist eine in Deutschland zugelassene Partei. Wir kommen nicht drumherum, uns mit diesen Leuten ernsthaft und hart auseinanderzusetzen. Sonst sind sie für die Demokratie verloren. Aber Meinungsfreiheit bedeutet doch, sagen zu dürfen, was man denkt – egal, ob anderen das passt oder nicht. Das schon. Das Problem ist aber, dass diese Leute auf einer Stufe stehenbleiben. Man erreicht aber nichts durch Schimpfen, Meckern und die Erwartungshaltung: Der Staat muss das für mich regeln. Die Leute müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Demokratie lebt vom Mitgestalten. Das ist natürlich viel schwieriger, als auf die Straße zu gehen, um seinen Frust loszuwerden und Ausländer dafür verantwortlich zu machen Sachsens stellvertretender Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) sagt, viele Menschen im Osten stellten sich die Demokratie wie einen Pizzabringdienst vor. Und wenn sie nicht das bekommen, was sie „bestellt haben, wählten sie aus Protest eben die AfD. Woher rührt die Erwartung, der Staat müsse ihre Probleme lösen? Ich denke, es hängt mit den Verletzungen zusammen, die es in der DDR-Zeit gegeben hat. Was macht es mit Menschen, die 40, 30 oder 20  Jahre in einer Diktatur gelebt haben? Diese Frage wird heute zu wenig berücksichtigt. Und, was macht es mit den Menschen? Angst vor Fremden. Diese Kultur des Streites, der offenen Auseinandersetzung, das ist etwas, was die meisten Menschen im Osten nicht gelernt haben. Der Mauerfall ist jetzt 30 Jahre her. Braucht das nicht auch Zeit? Natürlich, nach 1990 waren viele mit sich selbst beschäftigt. Für viele war das eine wahnsinnige Zäsur – die Arbeitsstelle zu verlieren und sich jahrelang mit ABM-Stellen über Wasser zu halten. Das sind alles Verletzungen, die jetzt erst aufbrechen. Und das nutzt die AfD aus. Warum gerade jetzt? Es ist auch eine Reaktion auf die Flüchtlinge. Es steht außer Frage, dass Ängste bei Menschen entstehen, wenn sie um ihren sozioökonomischen Status fürchten. Menschen, die selbst schon eher am Rande des Existenzminimums leben, verunsichert dies. Aber meistens haben Gefühle nichts mit der wahren Realität zu tun. Die Menschen erleben jetzt eine Kanzlerin, die bald genauso lange im Amt ist wie der ehemalige Staatschef Erich Honecker. Sie erleben eine Regierung, die mit sich selbst beschäftigt ist und dringende Probleme wie die Zuwanderung oder die Rentenpolitik verschleppt. Frustriert Sie das gar nicht?  Doch, und ich kann den Frust der Menschen im Osten ja zum Teil verstehen. Aber wenn man etwas ändern will, muss man selber in eine Partei eintreten oder selber eine Initiative gründen. Die Leute müssen erkennen, dass sie mitverantwortlich sind für das, was in diesem Land passiert. Leider haben die etablierten Parteien keine Antworten auf diese Probleme. Alle Versuche von Versprechungen kurz vor der Wahl betrachten die Bürger als Ausdruck von reiner Hilflosigkeit. Sind die sozialen Netzwerke bei der Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins förderlich? Nein, im Gegenteil. Sie sind ein großes Problem. Wir sind auf die Neuen Medien überhaupt nicht vorbereitet. Sie bestätigen die Menschen in ihrer eingeschränkten Wahrnehmung, indem sie sie im Sekundentakt mit Push-Meldungen versorgen, die sie in ihrer Meinung bestätigen. Die Menschen stecken in so einer Filterblase mit Gleichgesinnten. Ein Dialog oder eine Auseinandersetzung findet da nicht mehr statt. Und die Medien verstärken diesen Effekt noch. Inwiefern? Viele stellen diese Menschen alle in eine rechte Ecke und behaupten, das seien alles Nazis. Damit erreichen sie aber das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen. Die Leute fühlen sich in ihrer Wut bestätigt und rücken als Masse noch näher zusammen. Aber woher rührt der Vorwurf der AfD, es gäbe keine Meinungsfreiheit?   Ich glaube, er rührt daher, dass man in den sozialen Netzwerk seine Meinung nicht artikulieren kann, ohne dass sie sofort kommentiert oder bewertet wird – und das, ohne dass einem das Gegenüber in die Augen schaut, ohne dass es sich vorher mit der eigenen Person auseiandergesetzt hat. Das ist eine Auseinandersetzung, die viel kaputt macht. Brandenburgs AfD-Chef Kalbitz behauptet, wer heute anders denke, werde genauso unterdrückt, wie es einst die Stasi tat. Sie wurden selber jahrelang von der Stasi überwacht. Ist das vergleichbar? Das ist überhaupt nicht vergleichbar. Wenn man zu DDR-Zeiten auf die Straße gegangen und „Lügenpresse!“ geschrien hätte, wäre man im Stasi-Knast oder in Bautzen gelandet. Heute kann das jeder ungestraft tun. Ich habe schon Plakate gesehen, die die Kanzlerin an einem Galgen gezeigt haben. Was hat Ihren Widerstandsgeist in der DDR geweckt? Zum Beispiel, dass ich nicht darüber entscheiden konnte, welche Bücher ich lesen durfte, wo ich meinen Urlaub verbringe, oder ob ich studieren darf oder nicht. Es war dieser Eingriff in meine persönlichen Rechte – und das „Leben in der Lüge“, wie Vaclav Havel es nennt. Was meint er damit?   Man hat zu Hause etwas Anderes erzählt als in der Schule oder auf der Arbeit, weil man immer Angst haben musste, dass man bespitzelt wird. Das hat mich total genervt. Deshalb hab ich mir Gleichgesinnte gesucht. Ich habe sie unter dem Dach der Evangelischen Kirche gefunden. Ich bin zwar kein Christ, aber ich habe dort gelernt, wie Demokratie funktioniert. Dort hat man sich mit der Meinung Anderer auseinandergesetzt. Das war eine wunderbare Schule. Sie haben einen hohen Preis bezahlt für Ihr politisches Engagement. Die Staatssicherheit hat Sie rund um die Uhr überwacht. Hat sie das nicht eingeschüchtert? Sagen wir so: Ich war ständig auf der Hut. Es gab zwei Methoden der Einschüchterung. Auf der einen Seite hat die Stasi meine Post überwacht und das Gerücht gestreut, ich sei inoffizieller Mitarbeiter der Stasi – ein IM. Auf der anderen Seite war die Wut auf das System so groß, dass ich keine Angst mehr hatte. Ist das spurlos an Ihnen vorbeigegangen? Ich habe Glück gehabt, dass ich in einer Zeit politisch aktiv war, wo man für das Verteilen von Flugblättern nicht mehr in sibirischen Lagern vernichtet wurde. Aber spurlos geht so etwas an keinem vorbei. Nach der Friedlichen Revolution stand irgendwann mal ein Beamter vom Arbeitsamt vor meiner Tür, der seinen Ausweis zückte. Ich dachte, Scheiße, jetzt steht die Stasi wieder vor der Tür. Ein Flash-Back? Genau, und solche Momente gibt es immer noch. Das Leben in der Lüge hat viele traumatisiert, auch mich. Andere sind von der Bildfläche verschwunden. Sie leiden still. Mich hat es eher motiviert, mich politisch zu engagieren und gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Mit der AfD sympathisieren auch ehemalige DDR-Bürgerrechtler wie Vera Lengsfeld, die auch das Narrativ verbreitet, die BRD sei die „DDR 2.0“. Ist das schizophren? Ja, aber im Fall von Vera Lengsfeld hängt es auch mit ihrer persönlichen Geschichte zusammen. Sie ist jahrelang von ihrem eigenen Mann für die Stasi bespitzelt worden. Das ist eine ganz tragische Geschichte. Außer ihr und Angelika Barbe fallen mir auch gar nicht so viele Bürgerrechtler ein, die heute in der AfD mitmischen. Aber das sind zwei von tausend Bürgerrechtlern, die es in der DDR gegeben hat. Die Wege die Bürgerrechtler nach 1989 sind sehr unterschiedlich. Ich kenne auch viele, die heute sehr weit links stehen. Ist an der Radikalisierung nicht auch die Bundesregierung Schuld, die es nicht geschafft hat, den Bürgern im Osten das Gefühl zu vermitteln, sie seien gleichberechtigt? Doch, es gab viele Versäumnisse seit 1989. Man muss aber auch sehen, bei der ersten Volkskammerwahl 1990 wurden die Partei gewählt, die die schnelle Wiedervereinigung versprochen haben – allen voran die CDU. Die Leute wollten damals eine schnelle Wirtschaft- und Währungsunion. Ich war damals im Neuen Forum aktiv. Wir haben davor gewarnt. Aber wenn wir gesagt haben, „Ein Betrieb aus der Bundesrepublik  wird versuchen, die Konkurrenz im Osten plattzumachen“, wurden wir ausgepfiffen. Was wäre die Alternative gewesen? Schwere Frage. Die Bundesregierung hatte wenig Zeit, um zu regieren. Da sind Fehler gemacht worden, die bis heute nachwirken. Das Renteniveau im Osten ist noch immer niedriger als im Westen. Das ist eine Frage, die die Politik unbedingt regeln muss. Wenn Sie als Bürgerrechtler Bilanz ziehen: Hat sich der Kampf trotzdem gelohnt? Keine Frage. Den Rechtsstaat. Gewaltenteilung. Freie Medien. Demonstrationsfreiheit. Die Möglichkeit, eigene Zeitungen herauszugeben. Das alles haben wir erreicht. Dass das Leben trotzdem kein Paradies ist, wissen wir.
Antje Hildebrandt
Die AfD nutzt vor den Landtagswahlen im Osten viele Vokabeln der DDR-Bürgerrechtler von 1989. Einer von ihnen ist Uwe Schwabe, er wurde von der Stasi überwacht. Was er über DDR-Vergleiche denkt und über den Slogan „Vollende die Wende!“
[ "AfD", "DDR", "Bürgerbewegung", "Björn Höcke" ]
innenpolitik
2019-08-20T07:09:50+0200
2019-08-20T07:09:50+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/afd-wahlkampf-osten-brd-ddr-vergleich-diktatur
Friedrichs Schengen-Vorstoß – Dampfplauderer der Kanzlerin
Es ist müßig, sich über den deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich lange den Kopf zu zerbrechen. Inzwischen weiß man, warum er sich so erschrocken zur Wehr setzte, als ihm seine Partei, die CSU, mangels geeigneter Alternative dieses Amt geradezu aufdrängte. Man muss ihn eindeutig in die – stattliche – Liste der Überforderten aufnehmen, mit denen sich das schwarz-gelbe Berliner Kabinett schmückt und seine täglichen Blößen gibt. Die kritischen Rückfragen muss man nicht an Friedrich, sondern an die Kanzlerin selber richten. Mit geht es hier gar nicht in erster Linie noch einmal um die deutsch-französische Initiative, das Reisefreiheitsabkommen von Schengen zu reformieren und Grenzkontrollen auf Zeit wiedereinzuführen. Diese Idee des Bundesinnenministers ist auf so viel entschiedene Ablehnung gestoßen, dass man ihr – selbst wenn wider Erwarten doch Nicolas Sarkozy beim zweiten Wahlgang im Präsidentschaftsrennen gewinnt – nicht wirklich Chancen einräumen kann, in die Tat umgesetzt zu werden. Viel interessanter ist doch die Frage, warum die Kanzlerin zulässt, dass aus ihrer Regierung ein Verein der Dampfplauderer wird, in dem jeder sagen kann, was ihm so durch den Kopf schießt. Mehr noch: Der Bundesinnenminister durfte es nicht nur aussprechen, in einem gemeinsamen Brief an die EU-Kommission haben er und sein französischer Kollege Claude Guéant eine Initiative angekündigt, derzufolge nationale Regierungen künftig wieder darüber befinden können, ob die Grenzen bis zu 30 Tagen lang kontrolliert werden dürfen. Ein Brief: Das heißt doch wohl, dass Angela Merkel davon gewusst haben muss, denn ein solcher Vorstoß in Brüssel ist schon ein förmlicher politischer Akt. Hätte der Minister es über ihren Kopf hinweg gewagt, wäre mehr als ein Ordnungsruf fällig, er hätte ja damit ihre Richtlinienkompetenz bestritten. Ob auch der Außenminister beizeiten Wind davon bekam, muss man bezweifeln. Guido Westerwelle hätte sonst kaum in dieser Deutlichkeit geantwortet - eine Infragestellung der Reisefreiheit komme für die Bundesregierung „ebenso wenig in Betracht wie eine Renationalisierung.“ Die Vermutung liegt nahe, dass die Kanzlerin Friedrich zumindest nicht hineinreden wollte, solange in Frankreich noch offen ist, wer am Ende die Palme davonträgt: der konservative Amtsinhaber oder sein Herausforderer von den Sozialisten, Francois Hollande. Denn eindeutig hat der Berliner Innenminister Schützenhilfe im Wahlkampf der Nachbarn leisten wollen, er selbst hatte ja noch im vergangenen Jahr eine Entscheidung der dänischen Regierung kritisiert, das Schengen-Abkommen auszusetzen. Das heißt: Die  Berliner Regierung drückt beide Augen zu, weil inzwischen Wahlen als „europäische Innenpolitik“ betrachtet werden; und da erscheint es dann als legitim, jenseits der Grenze freundschaftlich mitzureden. Die Paradoxie der Sache freilich – und das müsste Angela Merkel eigentlich klar sein – besteht darin, dass gerade mit dieser Idee die Rückkehr in ein altes, national abgeschirmtes, in seine Egoismen zersplittertes Europa suggeriert wird. Nichts symbolisierte das neue Europa mehr als jenes Abkommen von Schengen, das dazu führte, dass die Schlagbäume an den Grenzen innerhalb dieses sogenannten „Schengen-Raumes“ fielen und man bald nicht einmal mehr registrierte, wo die Grenzen überhaupt einst verliefen. Angela Merkel, die Retterin Europas Die Kanzlerin hat zwar zu Anfang der Griechenland-Krise vor zweieinhalb Jahren den Eindruck mit ihrem langen Schweigen befördert, ihr sei es letztlich gleichgültig, ob dieses Europa auch in Notlagen solidarisch zusammenhält, ob Athen in der Europäischen Union bleibt oder ob „deutsche Interessen“ nicht absolute Priorität genießen; als überzeugte Europäerin sah man sie seinerzeit keineswegs. Inzwischen aber hat sie das Publikum mit apodiktischen Sätzen aus dem Blauen heraus wie jenem überrascht, „stirbt der Euro, stirbt Europa“; sie hat sich also gemeinsam mit Sarkozy nicht nur als Befürworterin, sondern geradezu als Retterin Europas in Szene gesetzt. Ein Europa nach deutschem Muster, zugegeben, aber immerhin. Wenn das ernst gemeint war, drängt sich die Frage auf, warum sie ihren Innenminister in einer solchen Schlüsselfrage einfach plappern lässt. Wenn der briefliche Vorstoß in Brüssel aber nach den Wahlen in vierzehn Tagen endgültig einkassiert wird, welches Licht wirft es dann auf die Politik, die aus purem Opportunismus und vermeintlicher Rücksicht auf die Wahlinteressen der politischen Freunde in Paris plötzlich nicht „mehr Europa“, sondern „weniger Europa“ zum Programm gemacht hat? In Europa, das ist zu spüren, regen sich viele nationale Reflexe. Allein schon die 17,9 Prozent für die nationalistische Rechte, also für Marine Le Pen in Frankreich, sind ein Indikator für unterschwellige Strömungen. In Holland hat der Rechtspopulist Geert Wilders Neuwahlen erzwungen mit dem Argument, die sozial Benachteiligten, die Rentner mit ihren kleinen Einkommen, würden vom europäischen „Spardiktat“ stranguliert. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich rechte und möglicherweise auch linke Nationalismen in Europa weiter aufschaukeln, also das instinktive Gefühl, sich einbunkern zu müssen gegen die Flut der Fremden, gegen die offenen Arbeitsmärkte, gegen diese globale und transnationale Moderne. In der Bundesrepublik mögen wir uns davor gefeit fühlen. Mal sehen, wie es wird, wenn einer wie Thilo Sarrazin, der bereits einmal mit durchschlagendem Publikumserfolg an deutschnationale Urängste und Instinkte wider den Islam appellierte, sich demnächst an die Spitze der Anti-Euro-Bewegung setzt. Die Kanzlerin sollte ihre Minister besser in Schach halten Was ich sagen will, ist: Europa ist in einer derart labilen Verfassung, dass es Politiker braucht, die sich nicht taktisch verhalten und auf die Wahlurnen schielen, sondern zur Orientierung beitragen. Das kleine Beispiel, die Brief-Initiative des Innenministers, müsste man nicht sonderlich ernst nehmen, verriete sich daran nicht, dass die Politik genau das verweigert. Sie verkündet vollmundig ein Ziel, ein verflochteneres Europa, schweigt aber schon über die Preise für die Rettungsschirme – und laviert, mogelt sich durch, schielt populistisch auf Ressentiments. Sarkozy hat aus Not zu solchen Mitteln gegriffen. Und die Deutschen? Spielen vielleicht auch hier die Wahlen, wenn auch nur in Düsseldorf und in Kiel, eine Rolle? Mag sein, wenn denn überhaupt ein Plan dahinter steckt, was man bei Angela Merkels Truppe nie so genau weiß. Mehr spricht dafür, dass in Berlin die Mäuse eben einfach auf dem Tisch tanzen, weil niemand sie daran hindert. Für die Innenpolitik – von der abenteuerlichen „Herdprämie“ namens Betreuungsgeld über die Energiewende bis zur Vorratsdatenspeicherung – überall bietet sich ein ähnliches Bild: Statt produktiver Kontroversen, die argumentativ ausgetragen werden, dümpelt die Politik unlustig vor sich hin, lähmt sich und verzettelt sich in Manövern, um jeweils Wähleranteile für sich auf dem Markt zu gewinnen. Was sich Friedrich herausnimmt und herausnehmen darf, ist ja kein Zeichen eines lebendigen, intelligenten Diskurses oder neuerwachter Diskussionsleidenschaft. Im Gegenteil, er plaudert vor sich hin, weil es den Konservativen in Paris genehm ist, weil es der eigenen Klientele zu Hause vielleicht auch ganz gut passt, wenn man populistisch andeutet, gegen die vielen Migranten und den bösen Islam helfen nur Schlagbäume – und weil es irgendwie egal ist, was ein Innenminister heute so und morgen vielleicht ganz anders sagt. Es kostet nichts. Ohne Reputation hat man nicht viel zu verlieren. So spinnt sich die Selbstentwertung von Politik fort. Wenn sie sich ernst nähme, müsste diese Regierung – und ihre Chefin – ja alarmiert sein. Wenn man das sagt, wünscht man sich damit gleich eine „eiserne“ Kanzlerin, die „durchregiert“? Um Himmels willen, nein! Sie muss nicht einmal den Eindruck erwecken, den Helmut Schmidt gern suggerierte, dieser ganze Parteiendisput sei ihm doch eher lästig, schließlich wisse er schon selber, wohin die Reise zu gehen hat. Auffallend ist aber doch, dass man sogar von dem abwartenden, zögernden, ins Publikum lauschenden Helmut Kohl während seiner sechzehn Regierungsjahre den Eindruck hatte, in den entscheidenden Fragen steuere er im Hintergrund relativ zielstrebig, trotz aller „Machtversessenheit“ (Richard von Weizsäcker ) habe er seine Koordinaten, und schon gar nicht tanzten ihm seine Ministerinnen und Minister auf der Nase herum. Bei Angela Merkel erlauben sich das erstaunlicherweise inzwischen sogar die schwächsten.
Die Initiative Hans-Peter Friedrichs, in Europa die Grenzkontrollen wieder einzuführen, zeugt von Angela Merkels Opportunismus. Europa braucht Politiker, die sich nicht taktisch verhalten, sondern zur Orientierung beitragen
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innenpolitik
2012-04-24T11:37:35+0200
2012-04-24T11:37:35+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/dampfplauderer-der-kanzlerin/49063
Das Grandhotel – Tummelplatz der Halbwelt
Vor ein paar Sommern haben wir unseren Urlaub auf einer kroatischen Insel verbracht und legten kurz vor dem Ziel noch eine Übernachtung ein, weil die Fähre erst am nächsten Morgen ging. Es war im Städtchen Opatija, einem in den zwanziger oder dreißiger Jahren halbwegs mondänen Badeort mit schmaler Strandpromenade, Jugendstilvillen, von denen der Putz bröckelte, bescheidenen Grünanlagen sowie ein paar übrig gebliebenen Grandhotels, die ihre besten Zeiten allesamt vor dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben mussten. In einem davon, dem „Palace Bellevue“, war noch ein Zimmer frei – es sollte hundert Euro die Nacht kosten, aber der livrierte alte Mann an der Rezeption ließ sich mit hochgezogenen Augenbrauen auf sechzig Euro herunterhandeln. Sechzig Euro für eine Übernachtung in einem Palasthotel, das in seinem Namen auch noch eine schöne Aussicht verspricht – wo gibt es das schon? Eigentlich nur in ehemals sozialistischen Ländern, die Grandhotels während des Kalten Kriegs als ungeliebten Relikten einer leichtlebigen Bourgeoisie zwar keine Existenzberechtigung einräumten, sie aber in Ermangelung anderer Herbergen einfach mal weiter wurschteln ließen. [gallery:Die Lieblingshotels der Cicero-Redaktion] Genau solch ein Laden war das „Palace Bellevue“ in Opatija. Von außen ein immer noch ziemlich prächtiger Zuckerbäckerbau mit großzügigen Balkonen und einer weitläufigen Terrasse zur Meerseite hin, von innen dagegen eine Art Kuriositätenkabinett, in dem der opulente Charme eines späten Kakanien mit realsozialistischen Designermöbeln aus den frühen Sechzigern eine gestalterisch äußerst eigenwillige Liaison eingegangen waren: Im turnhallengroßen Speisesaal hingen schwere Lüster über den mit fadenscheinigen weißen Tischtüchern bedeckten Resopaltischen, wobei die ohnehin schon beeindruckende Weite des Raumes durch drei gigantische, stuckverzierte und an einigen Stellen bereits erblindete Spiegel verdoppelt wurde. Der Weg führte uns durch eine riesige Hotelhalle mit hauseigenem Wasserfall und verstaubten Vitrinen voller alten Porzellans, vorbei an baumgroßen Marmorsäulen, durch schier endlose Hotelflure und über abgewetzte rote Teppiche – um schließlich in einem Zimmer zu enden, das jeglichem Komfort, jeglicher Anforderung moderner Hotelausstattung wie Minibar, Flachbildschirmen oder undurchschaubaren Temperaturreglern Hohn spottete: ein Bad, ein Bett, ein Schreibtisch. Dieses Hotel war eine Diva, die sich ihren Gästen nicht mit gespielter Servilität unterwarf, sondern ihnen mit herablassender Souveränität gegenübertrat: Es war sich seiner altersbedingten Schönheitsfehler durchaus bewusst, hatte sich dabei aber eine Größe bewahrt, wie sie praktisch kein modernes Fünf-Sterne-Haus mehr ausstrahlt. Ein Grandhotel der alten Schule eben, das von seiner Gattung her schon immer eher ein Tummelplatz der Halbwelt gewesen war als eine Spielwiese der Hautevolee. Die wirklich feinen Leute wohnten ja ohnehin in ihren eigenen Schlössern, während „das erste Hotel am Platze“ immer nur versuchte, mit manchmal billigen Tricks den Glanz und Pomp aristokratischen Lebens nachzuahmen. Das Grandhotel war gewissermaßen die Illusion höfischen Lebens, es war eine einzige Theateraufführung, und das Personal trat darin als Ensemble auf, das ernste Rollen mit spielerischer Gelassenheit zu absolvieren hatte. Nichts anderes galt übrigens für die Gäste: Sie kamen ins Grandhotel des großen Auftritts wegen, nicht um sich zu verstecken. Deswegen reichte es auch völlig aus, wenn die Zimmer eher spartanisch eingerichtet waren und alle Opulenz stattdessen den Gemeinschaftsräumen zugute kam. Seite 2: Was ist vom altehrwürdigen Granhotel geblieben? Was ist davon übrig geblieben? Nicht viel, und wenn etliche altehrwürdige Grandhotels wie das Zürcher „Baur au Lac“ oder das „Brenner’s Park Hotel“ in Baden-Baden sich zu umfangreichen Modernisierungsmaßnahmen gezwungen sahen, steht zu befürchten, dass die unvergleichliche Hotelkultur der Belle Epoque irgendwann vollständig verdrängt sein wird vom seelenlosen Komfort- und Wellness-Maximierungsstreben einer moderner Luxusbeherbergungsindustrie. Im New Yorker „Mandarin Oriental“ etwa rühmt man sich eines Computersystems, das den jeweiligen Musikgeschmack seiner Gäste ebenso erfasst wie die bevorzugte Raumtemperatur oder den Getränkekonsum aus der Minibar, um beim nächsten Besuch alles entsprechend einrichten zu können. Vorausgesetzt, die Besucher sind wirklich samt und sonders stimmungsschwankungsfreie Gewohnheitstiere, mag das ja ganz praktisch sein – aber die Vorstellung, im Hotel ein elektronisches Präferenzen-Screening zu durchlaufen, ist mehr als gruselig. Früher gab es den Concierge, der die kleinen Vorlieben und Schrullen, vielleicht sogar die charakterlichen Abgründe seiner Stammgäste genau kannte und sich darauf einzustellen wusste. Wer solche Fachkräfte durch einen Siliconchip ersetzen zu können glaubt, sollte sein Glück besser mal als Hoteldirektor im Magdeburger Novotel versuchen. Und dass man mittlerweile auch bei alteingesessenen Traditionshäusern am Telefon mit im Singsang vorgetragenen Sätzen wie „Einen wunderschönen guten Tag, hier ist das Palast Hotel, mein Name ist Frank Müller, was kann ich für Sie tun?“ begrüßt wird, gehört neben dem Frühstücksbuffet zu den deutlichsten Anzeichen einer im Niedergang begriffenen Grandhotel-Kultur. Aber wahrscheinlich hat das alles seinen Sinn, und der Kunde will es nicht anders. So dürften sich denn auch nur hoffnungslose Nostalgiker mit Wehmut an Persönlichkeiten wie Jean-Claude Irondelle erinnern, der vor einiger Zeit nach 35 Jahren als Direktor des „Hotel du Cap“ in Antibes in den Ruhestand ging, und der den Wunsch eines Filmbosses nach einem Fernseher im Zimmer mit dem Satz beschied: „Schauen Sie doch aus dem Fenster, draußen im Garten läuft sowieso der beste Film, den Sie sehen können.“ Was bleibt als Ratschlag? Nicht viel mehr als die Weisheit, dass das teuerste Hotel am Platze selten das beste ist – zumindest dann nicht, wenn man sich den Luxus erlaubt, gelegentlich auf Komfort zu verzichten und sich stattdessen lieber ins Abenteuer stürzt.
Es war die Illusion höfischen Lebens, ein Tummelplatz der Halbwelt: Das Grandhotel. Droht es nun vom seelenlosen Komfort- und Wellness-Maximierungsbestreben der modernen Luxusindustrie verdrängt zu werden? Vom Niedergang der unvergleichlichen Hotelkultur der Belle Epoque
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kultur
2012-05-31T15:06:51+0200
2012-05-31T15:06:51+0200
https://www.cicero.de//kultur/tummelplatz-der-halbwelt/49273
Karl-Heinz Paqué im Gespräch mit Alexander Marguier - Cicero Podcast Politik: „Der Kapitalismus ist der falsche Prügelknabe“
Der 24. Februar 2022 wird als Wendepunkt in die Geschichte eingehen, denn an diesem Tag begann der russische Überfall auf die Ukraine. Mit diesem Ereignis verbindet sich in Deutschland insbesondere auch der von Bundeskanzler Olaf Scholz geprägte Begriff „Zeitenwende“. Tatsächlich lässt sich aber der seit inzwischen mehr als anderthalb Jahren dauernde Ukrainekrieg nicht auf einen ganz bestimmten Zeitpunkt zurückdatieren, denn der Konflikt hatte schon lange vorher geschwelt. Und auch die „Zeitenwende“ hatte bereits vor dem 24. Februar 2022 ihre Konturen angenommen, übrigens keineswegs nur in geopolitischer Hinsicht. Vielmehr ist der sogenannte Westen mit tiefgreifenden wirtschaftlichen Umbrüchen konfrontiert, deren Auswirkungen wir nun langsam zu spüren bekommen. Aber was heißt das alles für Deutschland? Darüber spricht Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier im Podcast Politik mit Karl-Heinz Paqué, dem Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Der Ökonom und frühere Finanzminister beleuchtet auch die offenbar unbändige Lust der Deutschen am Moralisieren, geht vor diesem Hintergrund auf die Arbeit der Ampel-Regierung in Berlin. Und fordert vehement ein großes Reformpaket nach dem Vorbild der „Agenda 2010“ ein. Von den Koalitionären insbesondere aus SPD und Grünen verlangt Paqué denn auch mehr Bereitschaft zu Lösungen für die deutsche Strukturkrise: „Es ist ein bisschen Bewegung da, man wird ein wenig pragmatischer – aber das reicht noch nicht.“ Das Gespräch wurde am 19. September 2023 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
Alexander Marguier
Steht Deutschland vor dem Abstieg? Tatsächlich ist unser Wohlstand in Gefahr, wenn wir nicht gegensteuern. Was passieren muss, erklärt Karl-Heinz Paqué, Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, im Podcast mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier.
[ "Podcast", "FDP", "Ampelkoalition", "Grüne" ]
2023-09-20T12:29:01+0200
2023-09-20T12:29:01+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/karl-heinz-paque-cicero-podcast-politik-der-kapitalismus-ist-der-falsche-prugelknabe
Herbert Fritsch – Ein Clown fürs Leben
Lachen im Theater? Kann schon mal passieren, aber normalerweise gilt es als suspekt und der Hochkultur unwürdig. Allerdings nicht für Herbert Fritsch, der sich in seinen Inszenierungen kein bisschen davor fürchtet, dort als Unterhaltungskünstler und Boulevardtheatermacher zu gelten. Er findet nämlich, dass es kein besseres Mittel als Lachen gibt, um die Zuschauer aufzuwecken, anzusprechen, mitzureißen. Und Fritsch muss es wissen, war er doch jahrelang einer der wüstesten deutschen Schauspieler, der seit den neunziger Jahren an der Berliner Volksbühne als exhibitionistische Rampensau vom Dienst so berühmt wie berüchtigt wurde. Natürlich sei dieser wilde Erfolg toll gewesen, sagt er heute, und rührt ganz gesittet in seinem koffeinfreien Cappuccino in einem unauffälligen Berliner Café, aber eigentlich beruhte er auf einem Missverständnis. Denn was er da als Extremschauspieler zeigte, hatte bald mehr mit Druck als mit Lust zu tun, mehr mit Fremdbestimmung als mit Spielfreude, und das ertrug er kaum: „Die wollten von mir immer den Wahnsinn haben und riefen: ‚Los, Herbert, dreh durch!‘“ Längst hält Fritsch nichts mehr von solchen sinnfreien Exzessen: „Meine Inszenierungen haben zwar auch eine gewisse Obszönität, doch die ist hochgeschlossen.“ [gallery:Die besten Kulturplakate 2012] Eine tiefe Krise, in die er 2007 nach dem unschönen Abschied von der Volksbühne geriet, bewältigte er, indem er selbst zu inszenieren begann. Es waren kleine Provinzhäuser zwischen Halle und Luzern, die ihn erstmals nach Jahren wieder stolz auf das machten, was er so trieb: „Seit ich Regie führe, habe ich das Gefühl, dass ich endlich im Theater angekommen bin. Ich fühle mich da jetzt unglaublich wohl und bin bei der Arbeit sehr glücklich. Das war ich als Schauspieler nie wirklich!“ Gleich zwei seiner Inszenierungen – Ibsens „Nora“ aus Oberhausen und Hauptmanns „Der Biberpelz“ aus Schwerin – wurden 2011 zum Theatertreffen eingeladen, ein Jahr später dann „Die (s)panische Fliege“, ein Schwankklassiker von Franz Arnold und Ernst Bach, den er als gefeierter Heimkehrer an der Volksbühne mit grandioser wie disziplinierter Komik in Szene gesetzt hatte. Herbert Fritsch galt mit seinen 60 Jahren plötzlich als der erfolgreichste Nachwuchsregisseur aller Zeiten. Nichts auf seinem langen Weg dahin war freilich geradlinig. 1951 in Augsburg geboren, hatte es ihn als Jugendlichen mit katholischer Prägung gehörig aus der Bahn geworfen. Er nahm Drogen, lebte auf der Straße, brach in Apotheken ein, um an seinen Stoff zu kommen. Ein kluger Jugendrichter verschonte ihn vor allzu langer Haft und formulierte die Bewährungsauflage, unverzüglich eine Ausbildung anzufangen. Fritsch bewarb sich an der Otto- Falckenberg-Schule in München, wurde aufgenommen und nach dem Abschluss an große Häuser engagiert. Deshalb ist es nicht pathetisch, wenn er erklärt: „Das Theater hat mir das Leben gerettet.“ Seite 2: Von Beruf: Spieler Auch andere Künste haben es ihm inzwischen angetan, er zeichnet, fotografiert, hat das intermediale Kunstprojekt „hamlet x“ – Shakespeares Drama in 111 Videoskulpturen – realisiert, erfand eine patentierte Kamera zur dreidimensionalen analogen Verzerrung. Er ist ein hinreißend kreativer Grenzüberschreiter, der auf die Frage nach seinem Beruf ohne Zögern mit „Ein Spieler!“ antwortet. Die Komödien und Tragödien und zunehmend auch Opern, die ihm angeboten werden, will er nicht interpretieren, sondern theatralisch überhöht und physisch entfesselt auskosten. Er möchte die Zuschauer nicht belehren. Sie sollen nicht beifällig mit den Köpfen nicken, weil er über die Krise oder die Globalisierung auch nicht mehr weiß als sie: „Ich bin ein Komödiant, ein Clown, ich kann nur mit Lust auf die Welt reagieren. Wenn es mir gelingt, die Leute zum Lachen oder Weinen zu bringen und vielleicht sogar in einen Rausch zu versetzen, bin ich glücklich.“ [gallery:Die zehn wichtigsten Regisseure] Darum interessiert ihn an Nikolai Gogols Gesellschaftssatire „Der Revisor“ das stücktragende Thema Korruption überhaupt nicht, denn alles Nötige dazu könne man täglich in der Zeitung lesen. Das 1836 uraufgeführte Werk hat schließlich in all der Zeit nichts an den Missständen in Russland oder sonstwo geändert. Da wäre es absurd zu erwarten, ihm würde das gelingen, wenn es in seiner Regie am Münchner Residenztheater vor Weihnachten Premiere haben wird. Lieber denkt Herbert Fritsch an Ernst Bloch, der einmal gesagt hat, dass der kürzeste Weg der Umweg ist, und überlegt sich für die Inszenierung in seinem Bühnenbild mit Lichteffekten und Musik eine Laborsituation. Darin lässt er die Darsteller dann wie Chemikalien aufeinander reagieren: „Mal sehen, was passiert!“ Und wenn sie stürzen und fallen und ausrutschen und stolpern und gegen die Wände rennen und durch und durch zum Lachen sind, wird er sie – „so ist ja das Leben schlechthin“ – euphorisch ermuntern, statt sie zu bremsen wie die von ihm mittlerweile gehassten Konzeptregisseure seiner früheren Jahre: „Die Schauspieler sollen sich präsentieren und den Leuten zeigen, dass man Lust empfinden kann an dem, was man tut – nicht bloß im Porno, sondern auch einfach so.“
Mit seinen 60 Jahren galt Herbert Fritsch plötzlich als der erfolgreichste Nachwuchsregisseur aller Zeiten. Der Weg dorthin war alles andere als gradlinig. Am heutigen Samstag feiert seine Inszenierung vom „Revisor“ im Münchner Residenztheater Premiere
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kultur
2012-12-22T10:57:11+0100
2012-12-22T10:57:11+0100
https://www.cicero.de//kultur/ein-clown-fuers-leben/52933
Volker Kauder über sein Verhältnis zum Islam - „Fortschritt klappt nur mit muslimischen Frauen“
Sein Name wird immer dann erwähnt, wenn es um die Verfolgung von Christen im Ausland geht. Das Thema ist das Thema von Volker Kauder. Der frühere Fraktionschef der CDU recherchiert gerade für ein Buch darüber: „Das christliche Menschenbild als Kompass in einer säkulären Gesellschaft.“ Er nutzt die Gelegenheit dann, um gebetsmühlenartig zu fordern, dass mehr für den Schutz von Christen getan werden müsse. In einem Interview, das er jetzt Melanie Amann vom Spiegel nach den Terroranschlägen von Sri Lanka gegeben hat, hat sich der Christdemokrat auch über sein Verhältnis zum Islam geäußert – und dabei ein Bild offenbart, das innenpolitischen Sprengstoff birgt, wenn auch nur im sprichwörtlichen Sinn. „Jede Religionsgemeinschaft hat es da sehr schwer, wo Muslime die Mehrheit haben oder der Islam Staatsreligion ist“, sagt Kauder etwa in Anspielung auf Saudi-Arabien, wo auf die Konversion vom Islam zum Christentum die Todesstrafe steht. Fortschritte ließen sich nur erzielen, wenn man die Unterdrückung von Christen immer wieder thematisiere. Das sei jedoch schwierig, wenn nicht gar aussichtslos. Sobald die Deutschen die Probleme verfolgter Christen im UN-Menschenrechtsrat ansprächen, „erklären uns die Muslime, wir Deutschen seien islamophob.“ Ist der Islam wenigstens hierzulande reformierbar? Mit der Antwort auf diese Frage stellt sich Merkels abgewählter Sprecher („im ersten Augenblick war ich enttäuscht“) quer zu seiner Fraktion. Die Versuche einer Europäisierung des Islams dürften nicht aus der Politik kommen, sondern von der Religionsgemeinschaft selber. Der Staat könne solche solche Reformen nur unterstützen. „Wir müssen an Hochschulen Lehrstühle für Islam fördern und verstärkt Imame hier ausbilden. Und wir müssen mehr mit muslimischen Frauen ins Gespräch kommen. Meine ganze Lebenserfahrung ist, dass Fortschritt nur mit den Frauen klappt.“
Antje Hildebrandt
In Sri Lanka dürfen sich Muslima vorerst nicht mehr verhüllen. Das Verbot hat die Inselregierung von sich aus nach den Terroranschlägen von IS-Kämpfern verhängt. Proteste gegen die Verfolgung von Christen seien sonst aussichtslos, sagt Volker Kauder (CDU). Er hat einen ganz eigenen Blick auf den Islam
[ "Volker Kauder", "CDU", "Sri Lanka", "Christentum", "Islam" ]
außenpolitik
2019-04-29T14:26:47+0200
2019-04-29T14:26:47+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/volker-kauder-cdu-sri-lanka-christentum-islam
Generation Y - Geistig vergreist sind vor allem die Jungen
Die in dieser Woche vom SINUS-Institut veröffentlichte Studie „Wie ticken Jugendliche 2016“ findet deutliche Worte: Die 14- bis 17-Jährigen wollen sein wie Jedermann, sie vermeiden es anzuecken oder aufzufallen. Große Subkulturen, die zur Erwachsenenwelt in einem signifikanten Sinnkontrast stehen, gibt es nicht mehr, Abgrenzung und gezielte Provokation gehören der Vergangenheit an. Das ehemalige Schimpfwort „Mainstream“ wird mittlerweile neutral verwendet, um die eigene Position und Persönlichkeit zu beschreiben. So wenig überraschend die Ergebnisse der Studie sind, so schockierend sind sie dennoch. Denn dass die heutigen Jugendlichen so klingen wie Erwachsene, ist schon sehr außergewöhnlich. Wenn man die Aussagen über Wertvorstellungen und Lebensziele liest, vergisst man schnell, dass es sich um Teenies handelt. WERBUNG inRead invented by Teads Die Jugendlichen sind also nicht nur gechillt und tun abgeklärt und erwachsen, sie denken und meinen es auch so! Und nur, wer seine eigene Jugend erfolgreich verdrängt hat, kann dies gut finden. Dabei sollte man sich nicht von Äußerlichkeiten leiten lassen: Ja, es gibt heute mehr Tattoos als jemals zuvor, die Mädels sehen mit 12 schon aus wie 18, und es ist nicht davon auszugehen, dass sie keinen Ärger mit ihren Eltern haben. Jugendlichen scheint es heute vor allen Dingen wichtig zu sein, sich voneinander möglichst wenig zu unterscheiden, sie wollen sein wie alle anderen. Und wenn fast alle Tattoos haben, dann kommt man ohne eben nicht wirklich an. Dann haben Tattoos aber auch ihre Bedeutung verloren, zumindest ihre ursprüngliche. Die Forscher des SINUS-Instituts nennen dieses Phänomen „Neo-Konventionalismus“. Die Jugend in Deutschland ist also zu einem großen Teil „anständig“ und „brav“ – und auch irgendwie langweilig. Dazu passt auch, dass den Ergebnissen des aktuellen Drogenreports der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge der Anteil der rauchenden 12- bis 17-Jährigen auf einem historischen Tiefststand von 7,8% angelangt ist – zur Jahrtausendwende lag er noch bei knapp 28 Prozent – und auch der Alkoholkonsum deutlich zurückgeht. Die heutigen Jugendlichen halten sich an Regeln und Empfehlungen, sie lehnen sich nicht auf, sie rebellieren nicht, sie sind auch nicht unzufrieden mit dem, was ist, sondern sie wollen es möglichst bewahren. Das mag alles sehr vernünftig und für manch einen auch positiv und zielstrebig klingen. Die Jugendlichen handeln mit Augenmaß, sie sind sich ihrer Verantwortung und ihrer Ziele bewusst, und gerade in Zeiten wie diesen erscheint es ihnen wichtig zu sein, zusammenzuhalten. Zudem geben sie sich mehrheitlich tolerant und weltoffen. Dagegen kann man doch nun wirklich nichts haben! Und dennoch beschleicht mich bei alledem ein seltsames Gefühl: Aufbegehren in Jugendzeiten trainiert wichtige Muskeln, die man später immer wieder einsetzen kann. Das Eintreten für eigene Überzeugungen ist ein Akt sowohl des individuellen als auch des gesellschaftlichen Erwachsen- und Mündigwerdens ist. Wenn dieser Prozess nicht stattfindet, wird intergeneratives Lernen zur bloßen Weitergabe von bereits bestätigtem Wissen und bereits gemachten Erfahrungen, ohne dass eine tatsächliche Modernisierung stattfindet. Jugendliche rutschen so in die Rolle von Empfängern und nicht von Gestaltern. Wer sich nie gewehrt hat und immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, wird es auch schwer haben, sich destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen erfolgreich entgegenzustellen. Werden sich die „Braven“ gegen „die Bösen“ behaupten können, oder werden sie umfallen? Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Kinder ziemlich genau so ticken wie die Erwachsenen, die in früheren Generationen „Spießer“ genannt worden wären? Und dies wohlgemerkt in einer Welt, die nun wirklich nicht problemfrei ist und der neue Impulse in vielen Bereichen sicherlich gut täten. Was passiert, wenn diese verjüngenden Denkanstöße ausbleiben? Meine Antwort lautet: Die Gesellschaft vergreist, aber nicht am oberen Ende der Alterspyramide, sondern vom unteren Ende ausgehend. Modernisierungskonflikte sind wie eine Frischzellenkur für die Gesellschaft, denn sie justieren das Machtgefüge zwischen Alt und Jung immer wieder neu. Diese Erneuerung wird zweifellos durch die demografischen Verschiebungen erschwert, denn Jugendliche werden sich schon rein mengenmäßig immer schwerer durchsetzen. Dementsprechend wird immer davon geredet, dass wir ein Problem haben, weil es so viele alte Menschen gibt. Betrachtet man aber die Ergebnisse der aktuellen SINUS-Jugendstudie, so scheint das größere Problem darin zu liegen, dass wir so viele greise Jugendliche haben. Während Jugendliche sich wie Erwachsene geben und sich einrichten in dem, was ist, ist in den letzten Monaten ein weiterer Trend deutlich zu spüren: Die Erwachsenen über 40 trauern inbrünstig den jüngst verstorbenen Stars ihrer Jugend und somit ihren eigenen Träumen und Zukunftsvisionen nach. Allein in den letzten sechs Monaten starben David Bowie, Prince, Maurice White (Earth Wind & Fire), Glenn Frey (Eagles), Black, aber auch Prominente wie Harper Lee, der Weltfußballer des letzten Jahrhunderts, Johann Cruyff, Geistesgrößen wie Umberto Eco, Politiker von Weltrang wie Helmut Schmidt oder Hans-Dietrich Genscher,– oder deutsche alternative Sympathieträger wie Peter Lustig. Viele Erwachsene jenseits der 40 haben den Eindruck, dass ihnen gerade in den letzten Wochen und Monaten einiges Wichtiges, was sie ihr ganzes bisheriges Leben begleitet hatte, für immer verloren gegangen ist. Sie vermissen David Bowie und schwelgen in Erinnerungen, aber im Radio wird dessen letztes Album nicht gespielt, das ist nämlich nicht Mainstream. Der Ü-40-Nostalgie tut das aber keinen Abbruch, denn die Menschen spüren, dass es solche Künstler wie Bowie oder Prince in Zukunft nicht mehr geben wird. Dieses Gefühl passt gut zur gesellschaftlichen Stimmung, in der die Zukunft der Welt, die wir ja ohnehin nur geborgt haben sollen, skeptisch beurteilt wird. Die – durchaus verklärende – Sehnsucht nach vergangenen Zeiten wird immer dann zu einem vorherrschenden Moment, wenn die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht eben stark ausgeprägt ist. Die Einen schwelgen im Vergangenen und moderieren die Zukunft ab, an die die Anderen ohnehin nie geglaubt haben – wie soll hier eine modernisierende Dynamik entstehen? Aber sagt nicht jede Generation, dass ihre eigene Jugendzeit einzigartig war und nichts mehr so sein werde, wie es einmal war? Mit Sicherheit ist dies der Fall. Und jede Generation hat damit auch auf ihre Weise Recht. Weil die Welt sich verändert, gerade auch durch den Konflikt zwischen alter und junger Generation. Ein solcher Veränderungsschub täte heute Not. Doch der aktuelle Zeitgeist ist pomadig und altklug, da ihm dieser rebellische Konflikt unbekannt ist. Er kann nicht einmal mehr die Reste des 68er-Jahre-Aufbruchsgefühls nachvollziehen, das für das Austesten von Grenzen, den Protest gegen Konventionen und das Ausleben von Freiheit stand. Stattdessen predigt er Konformität und Geschlossenheit, Anpassung und Verantwortung, Risikoscheu und Sicherheitsstreben. Was fehlt, ist der positiv-rebellische und zugleich auch individualistisch-kreative und befreiende Impuls. Und das zeigt sich an Deutschlands stromlinienförmiger Jugend mehr als deutlich. Matthias Heitmann ist freier Publizist und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.
Matthias Heitmann
Während Jugendliche sich wie Erwachsene geben, trauern die Erwachsenen den verstorbenen Stars ihrer Jugend nach. Generationenkonflikt? Fehlanzeige. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
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kultur
2016-05-02T09:57:05+0200
2016-05-02T09:57:05+0200
https://www.cicero.de//kultur/generation-y-geistig-vergreist-sind-vor-allem-die-jungen/60848
Die große Suada – Von Lebens- und Schreibenskrisen
Es ist Sommer, es ist heiß. In ihrer Berliner Dachwohnung sitzt Natalia am Schreibtisch: Sie soll Anton Tschechows «Drei Schwestern» neu übersetzen, für das Ulmer Theater, das von ihrem Schulfreund, dem «Webermichel» geleitet wird. Doch zur sprachlichen Neuschöpfung alten Kulturguts wird es nicht kommen. Vielmehr verfällt die Übersetzerin in eine Suada, die nicht nur ihr eigenes Dasein, ihr Her- und Weiterkommen erfasst, sondern überdies eine Generationen-Geschichte aus dem schwäbischen Raum, nebst Reflexionen über Gott und die Welt – weder die RAF noch die Sozialdemokratische Partei bleiben unbedacht. In zumeist nur wenige Seiten umfassende Denk-Abschnitte ist die Tirade unterteilt, in ihren dichtesten und sardonischsten Momenten erinnert sie an Elfriede Jelineks literarische Atemlosigkeiten. Auch bei Gabriele Riedle fügen persönliche Schicksale sich im unaufhaltsamen Gedankenstrom zu einem großen gesellschaftlichen Ganzen; dessen Schrecken sitzen gleichsam mit den reg- und sprachlosen Eltern der Erzählerin auf dem Sofa. Es ist ein grandioses Unterfangen, Welt und Politik, Literatur und Geschichte in knappen Erzählpassagen zu fassen, und Gabriele Riedle ist es grandios gelungen. Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. Roman Andere Bibliothek, Berlin 2012 239 Seiten, 32 Euro
„Überflüssige Menschen“ heißt der neue Roman von Gabriele Riedle und bietet wunderbare Erzählpassagen über Gott und die Welt in grandioser literarischer Atemlosigkeit. Eine Geschichte über Schreibblockaden und die große Suada
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kultur
2012-08-12T09:03:56+0200
2012-08-12T09:03:56+0200
https://www.cicero.de//kultur/gebriele-riedle-ueberfluessige-menschen-von-lebens-und-schreibeskrisen/51478
Wenn der Papst abtritt - Wie geht es jetzt weiter?
Benedikt XVI. ist ein Papst der Überraschungen. Schon seine Wahl kam für viele innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche überraschend. Und auch mit der plötzlichen Ankündigung seines Rücktritts zum 28. Februar hatte wohl kaum jemand gerechnet. Dass es um seine Gesundheit nicht zum Besten steht, konnten viele beobachten. In den Bistümern der Welt bereitete man sich darauf vor, dass der Papst bald ernsthaft erkranken könnte. Darf ein Papst überhaupt zurücktreten? Der Papst wird auf Lebenszeit gewählt, er darf aber auch zurücktreten. Im Kirchenrecht heißt es dazu: „Falls der Papst auf sein Amt verzichten sollte, ist zur Gültigkeit verlangt, dass der Verzicht frei geschieht und hinreichend kundgemacht, nicht jedoch dass er von irgendwem angenommen wird.“ Wer vertritt den Papst bis zur Neuwahl eines Nachfolgers? Ab dem 28. Februar übernimmt der Camerlengo (Kämmerer) – nicht zu verwechseln mit dem Kammerdiener – im Vatikan die Geschäfte des Papstes. Der Camerlengo hat ein wichtiges apostolisches Amt inne und regelt vor allem die Modalitäten nach dem Tod oder dem Rücktritt eines Papstes. Der Camerlengo wird von den Mitgliedern des Kardinalskollegiums ausgewählt und vom Papst ernannt. Seit April 2007 hat der einflussreiche italienische Kardinal und Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone das Amt inne. Während der Sedisvakanz, der Zeit des „leeren Stuhles“, ist es seine Aufgabe, die Güter des Apostolischen Stuhls zu schützen und zu verwalten. Bei schwerwiegenden Entscheidung muss er das Votum des Kardinalskollegiums einholen, des ranghöchsten Gremiums der Weltkirche. Wer bestimmt den Nachfolger? Die Kardinäle, die höchsten Würdenträger in der katholischen Kirche, wählen den neuen Papst (siehe Grafik). Aus Deutschland wählen die Kardinäle Rainer Maria Woelki (Berlin), Joachim Meisner (Köln), Reinhard Marx (München) und Karl Lehmann (Mainz) den neuen Papst mit. Vatikansprecher Federico Lombardi verkündete bereits wenige Stunden nach der Rücktrittsankündigung: „Wir haben noch vor Ostern einen neuen Papst.“ Nächste Seite: Wie wird der neue Papst gewählt? Wie wird der neue Papst gewählt? Zwischen dem 15. und 20. Tag nach dem Tod oder dem Rücktritt eines Papstes beruft der Dekan des Kardinalskollegiums das Konklave ein, die Versammlung der wahlberechtigten Kardinäle. Der Begriff bezeichnet sowohl die Versammlung selbst als auch den abgeschlossenen Raum, in dem sich die Kardinäle zur Wahl versammeln. Seit 1878 finden die Papstwahlen in der Sixtinischen Kapelle statt. Dort wird die Tür geschlossen, damit keine Informationen nach außen dringen und niemand von außen den Verlauf der Wahl beeinflussen kann. Der Papst wird mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Am ersten Tag des Konklave findet nur ein Wahlgang statt, ab dem zweiten Tag vormittags und nachmittags je zwei Wahlgänge. Im 20. Jahrhundert hat die Wahl nie länger als 15 Wahlgänge gedauert. Kann man sich nicht einigen, werden die Wahlzettel verbrannt, so dass schwarzer Rauch aus der Kapelle aufsteigt. Ist der neue Mann bestimmt, wird er nach seiner Bereitschaft gefragt. Nimmt er die Wahl an, wird beim Verbrennen der Wahlzettel viel trockenes Stroh untergemischt, so dass der aufsteigende Rauch weiß wird. Wie sind die „Machtverhältnisse“ in der katholischen Weltkirche? Papst Benedikt XVI. galt von Anfang an als Übergangspapst. Die katholische Kirche befindet sich in einem großen Transformationsprozess, denn die meisten katholischen Gläubigen leben heute in Afrika, Lateinamerika und Asien, die Kirchenleitung ist aber nach wie vor europäisch dominiert. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich dies mit dem neuen Papst ändert. Allerdings kommt auch die Mehrheit der wahlberechtigten Kardinäle nach wie vor aus Europa und den USA. Da Papst Benedikt XVI. Risiken gemieden hat, ernannte auch er vorwiegend europäische Kirchenmänner zu Kardinälen. Er hatte offensichtlich auch keine Vision, wo es mit der Weltkirche hingehen soll. Wer hat Chancen auf Benedikts Nachfolge? Die Zeit könnte reif sein für den ersten Pontifex, der nicht aus Europa stammt. Besonders ein Kandidat aus Lateinamerika dürfte beste Chancen haben: Dort leben heute 42 Prozent der weltweit 1,2 Milliarden Katholiken, es ist die stärkste katholische Gemeinschaft weltweit. Nur 25 Prozent der Katholiken dagegen sind in Europa zu Hause, der Heimat der Kirche. Sollte Lateinamerika an der Reihe sein, könnte die Wahl entweder auf Odilo Scherer fallen, den Erzbischof der riesigen Diözese Sao Paolo, oder auf Leonardo Sandri, den Leiter der vatikanischen Abteilung für die Kirchen im Osten, der italienisch-argentinischer Herkunft ist. Als Favorit für den afrikanischen Kontinent gilt Peter Turkson aus Ghana. Er leitet die vatikanische Abteilung für Frieden und Gerechtigkeit. Im Wahlgremium haben aber noch immer die Europäer die große Mehrheit. Sollte also doch ein Europäer Papst Benedikt beerben, tippen die meisten auf Angelo Scola aus Mailand. Auch der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, ein früherer Student und Vertrauter Benedikts,gilt als starker Kandidat auf dem alten Kontinent.
Claudia Keller
Der Rücktritt Benedikt XVI. kam überraschend – doch über Nachfolger wird schon spekuliert.
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kultur
2013-02-12T07:16:26+0100
2013-02-12T07:16:26+0100
https://www.cicero.de//kultur/wie-geht-es-jetzt-weiter/53487
Nichi Vendola – Links, katholisch, schwul
Auf den ersten Blick ist die Geschichte von Nichi – sprich „Niki“ – Vendola nicht besonders spannend: Der Präsident einer italienischen Region hat höhere Ziele und will Ministerpräsident werden. Zwei Jahre vor den Parlamentswahlen rührt er gewaltig die Werbetrommel, hält in Talksendungen Selbstgespräche und zieht mit einem Buch durchs Land, das keinen geringeren Anspruch hat, als Italien grundlegend zu verändern. Der Titel: „Es gibt ein besseres Italien.“ So weit, so vertraut: Seit 150 Jahren halten alle Politiker in Italien ewige Monologe und sich selbst für die Einzigen, die Italien grundlegend – aber diesmal richtig! – verändern können. Und dennoch ist die Geschichte ­Nichi Vendolas anders. Eigentlich dürfte dieser Mann nach den bisherigen Gesetzen der italienischen Politik gar keine Erfolgsaussichten haben. Erstens ist Nichi Vendola schwul, und seine Heimat nicht das ­Multikulti-Berlin, sondern das bodenständige Apulien. Zweitens ist er gar nicht derjenige, den man in Italien als „den“ Oppositionsführer von Mitte-Links bezeichnen würde. Der studierte Philosoph ist „nur“ Chef der kleinen Partei Sinistra, Ecologia e Libertà (SEL, Linke, Ökologie und Freiheit). Und doch treibt er die große ehrwürdige Oppositionspartei, die „Demokratische Partei“, vor sich her. Es ist, als würde sich Gregor Gysi permanent als Kanzlerkandidat der SPD ins Spiel bringen – und das mit Aussicht auf Erfolg. [gallery:Italiens Drache – Wer ist Silvio Berlusconi] Es war vor sechs Jahren, als Nichi Vendola begann, die Nervensäge im linken Lager zu spielen. Damals standen die Regionalwahlen in Apulien an, die „Demokratische Partei“ hatte einen Kandidaten für das gesamte Mitte-Links-Lager auserkoren, der in freien Vorwahlen vom Volk in Apulien abgenickt und dann ins Rennen geschickt werden sollte. Wer sich nicht an die Absprache hielt, war Vendola. Auch er trat im Januar 2005 bei diesen Vorwahlen an – und gewann. Um kurz darauf auch die Regionalwahlen (gegen heftigen Widerstand auch innerhalb der Linken) für sich zu entscheiden. Fünf Jahre später wiederholte er seinen Triumph. Was der 53-Jährige anfasst, wird im Moment zu Gold. In Mailand wie in Cagliari stachen im Mai 2011 „seine“ Kandidaten die der „Demokratischen Partei“ bei den Kommunalwahlen aus und wurden Bürgermeister. Von den Erfolgen beflügelt, will Vendola nun Vorwahlen für den Mitte-Links-Kandidaten bei den nächsten Parlamentswahlen durchsetzen. Er weiß: Die Parteigremien verachten ihn, das linke Wahlvolk aber vergöttert ihn. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die linken Stammwähler Vendola in ihr Wählerherz geschlossen haben Wenn die linken Stammwähler in Italien irgendetwas ähnlich hassen wie Silvio Berlusconi, dann ist es die zahnlose Opposition mit ihrer blassen, verkopften Führungsriege. Nichi Vendola dagegen verkörpert den Bauch. Jedenfalls gelingt ihm das Wunder, als „neu“ wahrgenommen zu werden, obwohl er seit Jahr und Tag in der Politik ist und inhaltlich eher wie aus dem vergangenen Jahrhundert klingt: Er sucht die Nähe der unbeugsamsten Gewerkschaften, hält die Rente mit 65 für unmenschlich und bezeichnet sich als „communista“ („Kommunist“) – und mit seinem Spitznamen „Nicki“ kokettiert er mit Nikita Chruschtschow. So ist es wohl eher sein Leben, das ihn für viele als modern erscheinen lässt: Er ist schwul, katholisch, geht sonntags zu Mama essen und ist der regsamste italienische Politiker auf Facebook. Wenn er dort etwa schreibt: „Verfasse gerade meine Rede“, dann zeigen 1465 Daumen nach oben. Wenn er spricht, beginnt er meist mit „Ich will ein Italien, das …“, danach folgen endlose Adjektivketten, denen jeder zustimmen kann (modern, weltoffen, ökologisch …). Bei anderen Politikern nennt man das Phrasen, bei Vendola Poesie. Bei Kundgebungen bebt er, schreit manchmal. Aber reicht das?, fragt sich manch einer. Wann wird ständig zur Schau gestellte „Authentizität“ zur Masche? Unbestritten hat sich der Poet in Apulien Verdienste erworben. In Bari und Lecce schuf Vendola Standorte für Film- und Musikunternehmen und dadurch Arbeitsplätze für junge Kreative, die sonst in den Norden Italiens abgewandert wären. Außerdem ist Apulien heute die Region mit der meisten erneuerbaren Energie, und Vendolas Programm zur Integration von Ausländern gilt als ebenso vorbildlich wie sein Konzept gegen die organisierte Kriminalität. Doch Vendolas Bild hat inzwischen erste Kratzer. So soll „Nichis“ Region Apulien in einem Geheimgeschäft eine Million Euro zum Bau einer Privatklinik in Taranto beigesteuert haben. Und Marco Travaglio, Journalist und Lieblingsfeind von Silvio Berlusconi, lästert über Nichi Vendola: „Von ihm würde ich mir nicht mal mein Haus verwalten lassen, geschweige denn mein Land.“ Von solchen Anfeindungen lässt sich Vendola nicht beirren. „Jetzt sind wir dran!“, lautete sein kämpferisches Motto Anfang Oktober bei einer Großdemonstration seiner Partei in Rom. Ob er wirklich „dran“ sein wird, gar als Ministerpräsident in Rom, hängt davon ab, ob ihm eine Mehrheit der Italiener zutraut, mehr zu sein als nur irgendwie anders als die anderen.
Der italienische Politiker Nichi Vendola ist nicht nur in seinem Politikstil umstritten. Auch sein Privatleben ist für manche ein Aufreger: Er ist Linker, Schwuler und Katholik.
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außenpolitik
2011-11-12T14:27:21+0100
2011-11-12T14:27:21+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/links-katholisch-schwul/46456
Reformkatholiken - „Eine neue Sicht auch auf die Sexualität“
Einen freiwilligen Rücktritt eines Papstes hat es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben. Insofern ist die mutige Entscheidung Papst Benedikts als historisch zu bezeichnen. Sein Rücktritt bedeutet eine Entzauberung des Amtsträgers. Johannes Paul II. hatte einen Rücktritt als „Stellvertreter Christi auf Erden“ ausgeschlossen, denn Jesus sei auch nicht vom Kreuz herabgestiegen. Benedikt dagegen zeigt sich als verletzlicher Mensch. Sein Rücktritt bedeutet damit auch eine Entzauberung des Amtes. Ja, ein Papst kann zurücktreten. Das ist ein Abschied vom Feudalsystem, bei dem ein Amt auf Lebenszeit vergeben wird. Ein nächster Schritt könnte sein, die Amtszeit eines Papstes von vornherein zu begrenzen; die Bischöfe müssen ja mit 75 Jahren ihren Rücktritt anbieten. Die große Frage ist, wer die Nachfolge Benedikts im Petrusamt antreten wird. Manche meinen, die Zeit sei reif für einen Nicht-Europäer. Nur 42 der wahlberechtigten 118 Kardinäle sind Europäer, die meisten Katholikinnen und Katholiken leben auf den südlichen Kontinenten. Aber es kommt nicht darauf an, aus welchem Erdteil ein Papst stammt, sondern dass er das schwierige Amt auszuüben in der Lage ist. Dazu ist es wohl notwendig, dass die Last auf mehrere Schultern gelegt wird, dass der Papst also teamfähig ist und Verantwortung delegiert, so wie es das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) vorgesehen hat. Er muss auch die Verantwortung der einzelnen Bischöfe und Bischofskonferenzen anerkennen; denn die Bischöfe sind nicht Abteilungsleiter des Papstes, sondern eigenverantwortliche Nachfolger der Apostel. Eine monarchische, absolutistische Kirchenleitung ist nicht zeitgemäß und nicht konzilsgemäß. Die Hierarchie, die heilige Herrschaft, kann sich nicht auf das Neue Testament berufen; denn dort heißt es: „Einer ist euer Meister, ihr alle seid Brüder und Schwestern.“ Es braucht einen Papst, der mutig und waghalsig wie Petrus das Boot verlässt und über das Wasser geht, dem Herrn entgegen. Den Kardinälen steht also eine schwierige Wahl bevor. „Wer allen vorsteht, soll von allen gewählt werden“, mahnt Papst Leo der Große (5. Jahrhundert) an. Diesen Grundsatz sollten sich die Kardinäle zu Herzen nehmen. Es spricht nichts dagegen, dass sie die Zeit bis zum Konklave nutzen und sich mit den Bischöfen, den Priestern, den Diözesanräten und allen Gläubigen besprechen, welche Anforderungen diese an einen neuen Papst stellen. Dessen Auftrag heißt: „Stärke deine Brüder und Schwestern“, nicht: Beherrsche sie. Es genügt heute nicht mehr, dass der Papst Macht hat, er muss verantwortlich damit umgehen und sie im Dienste der Einheit einsetzen, ein Dienst, der zusammenführt und nicht ausschließt. Es genügt heute nicht mehr, Autorität zu haben, der Papst muss Autorität sein, will er anerkannt und gehört werden. Das Kirchenvolk, also die Getauften und Gefirmten, die im Glauben feststehen, hat Erwartungen an den neuen Papst. Als Leiter der Weltkirche muss der Bischof von Rom dafür Sorge tragen, dass die Einheit der Kirche gewahrt wird. Einheit bedeutet aber nicht Einheitlichkeit. Die unterschiedlichen Ausprägungen von Kirche in den verschiedenen Kulturen müssen anerkannt werden. Nur so kann die Kirche vor Ort den Getauften und Gefirmten Heimat sein. Dazu bedarf es der Anerkennung verschiedener Theologien. Der Papst kann nicht einfach vorgeben, was gedacht werden darf. Die von Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation vorgenommene Verurteilung der südamerikanischen Befreiungstheologie missachtet die Vielfalt der Kulturen und der unterschiedlichen Wege zu Gott. Seite 2: „Der Papst muss auch Gesprächspartner für alle anderen Religionen sein“ Eine wesentliche Aufgabe des Papstes ist auch die Ökumene. Ein Dialog auf Augenhöhe ist aber nur möglich, wenn anderen Christinnen und Christen der Name „Kirche“, also Gemeinde Jesu Christi, nicht abgesprochen wird, wie das Ratzinger als Kardinal im Jahr 2000 getan hat. Die Kirchen müssen in „versöhnter Verschiedenheit“ das Leben teilen. Wenn sie nicht gemeinsam sprechen, werden sie in der Gesellschaft immer mehr an Wirkkraft verlieren. Der Papst muss auch Gesprächspartner für alle anderen Religionen sein. Das gemeinsame Gebet aller Religionen in Assisi hat Benedikt abgeschafft. Doch es muss Ansporn aller Religionen sein, sich für den Frieden unter den Menschen einzusetzen. Der Papst als Garant der Einheit der Kirche darf nicht vorgeblich papst- und kirchentreue Anhänger bevorzugen und den Traditionalisten allen Einfluss in der Kirche gewähren. Er muss ein Ohr für die Reformgruppen haben. Sie sind es, die prophetisch die viel zu große Entfernung der Institution römische Kirche von der befreienden Botschaft des Evangeliums vom Reich Gottes aufzeigen. Dafür ist eine Kurienreform dringend notwendig. Auch sollte der neue Papst die „lex fundamentalis ecclesiae – das Grundgesetz für die Kirche“ wieder aufgreifen, was Paul VI. begonnen, Johannes Paul II. aber in der Schublade hat verschwinden lassen. Der neue Papst muss dafür Sorge tragen, dass die Kirche in der Moderne ankommt. Das betrifft gerade auch die Ämterfrage. Wenn die Eucharistiefeier Mittelpunkt der Kirche ist, so muss auch sichergestellt werden, dass sie stattfinden kann. Deshalb müssen die Zugangsbedingungen zum priesterlichen Dienst den Erfordernissen angepasst werden. Das betrifft den Pflichtzölibat ebenso wie die Zulassung der Frauen zu allen kirchlichen Ämtern. Der Volk-Gottes-Gedanke muss die prägende Kraft in der Kirche sein; nur so kann die Spaltung in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft von Klerikern und Laien überwunden werden. Die Menschenrechte dürfen nicht nur von der Welt eingefordert, sondern müssen in der Kirche gelebt werden. Dazu zählt zum Beispiel eine neue Sichtweise der Sexualität, die auch die Homosexuellen einschließt, dazu gehört auch, den nach Scheidung Wiederverheirateten die Kommunion nicht zu verweigern. Das Kirchenrecht muss dahingehend geändert werden, dass es der Praxis Jesu und modernem Rechtsempfinden entspricht. Wie soll das alles möglich sein? Entscheidend wird sein, dass der neue Papst das Rad nicht noch weiter zurückdreht, sondern die wegweisenden Ansätze des Zweiten Vatikanischen Konzils weiterentwickelt. Dessen Grundsatz heißt: Kirche geschieht im Dialog. ____________________________________________________________ Jetzt den Newsletter von Cicero Online abonnieren! ____________________________________________________________
Magnus Lux
Die Kirche sollte endlich in der Moderne ankommen, fordert das kritische Katholikennetzwerk „Wir sind Kirche“. Wie der Rücktritt des Papstes für eine grundlegende Reform genutzt werden könnte, erklärt Magnus Lux, Bundessprecher der Kirchenvolksbewegung
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kultur
2013-02-13T09:37:52+0100
2013-02-13T09:37:52+0100
https://www.cicero.de//kultur/eine-neue-sicht-auch-auf-die-sexualitaet/53499
Postkolonialismus an Universitäten - Decolonising Philosophy: Ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit
So was kommt von so was: An der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS, London), das zum Hochschulverbund der University of London gehört, wurde vor einigen Tagen ein „Decolonising Philosophy Toolkit“ (DPT) veröffentlicht. Es ist eine Anleitung zu dem Projekt, philosophisches Forschen und Lehren und insbesondere auch philosophische Curricula zu „dekolonisieren“, also von den behaupteten Vorurteilen und kolonialistisch-rassistischen Strukturen westlich-weißer Philosophie zu befreien. In dieser Anleitung wird exemplarisch einem „Traditional-cum-Colonial“-Modul zur Erkenntnistheorie ein dekolonisiertes Modul gegenübergestellt. Während der klassische Semesterplan ganz herkömmlich etwa Platon, Russell, Hume, Descartes und neuere analytische Personen und Positionen enthält (z.B. Internalismus vs. Externalismus), sind im dekolonisierten Semesterplan diese, wie es heißt, „westlichen“, „weißen“, „bourgeoisen“, „heteronormativen“ und „eurozentrischen“ Personen und Positionen fast komplett getilgt; stattdessen geht es fast ausschließlich um Philosophie afrikanischer, asiatischer oder auch indigener Herkunft und spezifisch etwa um „Decolonising the Mind“, „Constructing the Epistemologies of the Global South“, um „Conceptualising Epistemic Oppression“, um „On Being White“ oder auch um „Children of the Palms: Growing Plants and Growing People in a Papuan Plantationocene“. Fast könnte man bei der Lektüre meinen, es wäre eine Satire. Zwar heißt es in dem Toolkit, es gehe um ein dialogisches Model, in dem keine Kultur eine privilegierte Position habe; aber die reale Ausführung beweist die tatsächliche Absicht. Sie wollen nicht die Macht teilen, wie sie sagen, sie wollen sie haben. Umso grotesker ist, dass der Toolkit die Annahme, Postkolonialisten wollen doch nur Platon & Co. aus den Curricula verbannen, als Zerrbild darstellen; denn der vorgeschlagene dekolonisierte Semesterplan straft sie Lügen. Selbst wenn man nun einräumen würde, dass Philosophien dieser Herkunft und dieses Typs die Bezeichnung als „Philosophie“ wirklich verdienen und methodischen Ansprüchen wirklich genügen, kann die Vorgehensweise offenkundig nicht darin bestehen, die westliche Philosophie (von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart) einfach komplett zu tilgen. Und selbst wenn das Narrativ zuträfe, dass eben dieses Unrecht einer solchen Tilgung den nicht-westlichen Philosophien widerfahren sei, folgt daraus natürlich kein Recht für postkolonialistische Akteure, nun ihrerseits Unrecht zu begehen. Wer zu den Versklavten gehört, hat ja auch kein Recht, die Sklavenhalter zu versklaven. Es lässt sich gewiss darüber reden, ob man in westlichen Philosophie-Departments und, heruntergebrochen, auch in Schulen nicht-westliche Philosophien stärker repräsentieren sollte. Aber erstens ist es keineswegs so, dass zumindest die größeren Departments gar keine Kurse zu nicht-westlichen Philosophien anbieten würden. Zweitens und vor allem aber muss es den Philosophen selbst überlassen bleiben, ob und in welchem Umfang sie nicht-westliche Philosophien berücksichtigen wollen. Ein analytischer Philosoph, der zur Erkenntnistheorie arbeitet, wird sich von Konfuzius nicht beeindruckt zeigen (ebenso wenig übrigens, wie er in der Regel etwas mit Nietzsche oder Derrida wird anfangen können). Und es wäre ein massiver Eingriff in seine Wissenschaftsfreiheit, wollte man ihm vorschreiben, solche Figuren zu berücksichtigen. Nun wird man einwenden, dass es ja nur um Empfehlungen gehe, nicht um Vorschriften. Really? Der Toolkit lässt keine Zweifel daran, dass er den kolonialistischen Mindset für strukturell so tief verwurzelt und andauernd hält, dass es mit individuellen, wohlmeinenden Maßnahmen nicht getan ist; er fordert tiefgreifende strukturelle und institutionelle Änderungen. Und die Erfahrung mit diversity, equity, and inclusion (DEI) zeigt, dass es nicht bei Empfehlungen bleibt. So gibt es mittlerweile viele amerikanische Universitäten, die von Bewerbern um eine Stelle ein DEI-Statement verlangen, in dem man etwa darlegt, dass und wie man (angeblich) unterrepräsentierte Gruppen von Studierenden besonders fördern will. An der UC Berkeley etwa erhalten Bewerber Punktabzug, wenn sie der Auffassung sind, man müsse Studierende unabhängig von ihrer Herkunft gleichbehandeln; kein Wunder, dass solche DEI-Statements mittlerweile von vielen als Lackmustest begriffen werden, der die Wissenschaftsfreiheit gefährde, zumal bereits angestellte Kollegen abgestraft werden, die sich DEI-kritisch äußern oder verhalten. In Deutschland ist es mittlerweile nicht mehr möglich, einen DFG-Antrag zu stellen, ohne sich zu Geschlecht und Diversität zu positionieren; immer mehr philosophische Zeitschriften machen das Gendern obligatorisch. Auf diesen Zug springt nun auch die Deutsche Gesellschaft für Philosophie auf, deren Vorstands-AG Philosophie und Diversität im März dieses Jahres einen Leitfaden über „Antidiskriminierung und inklusive Praxen in der Philosophie“ veröffentlichte. Auch dieser Leitfaden moniert, dass zum Kanon der Philosophie „fast ausschließlich europäische, nordamerikanische, weiße, christliche und männliche Denker“ gehören. Auch ihnen geht es um die „Umsetzung von Diversität“; der Mangel daran liege an individueller, kultureller, institutioneller und damit struktureller Diskriminierung. Viele der monierten Punkte sind gewiss richtig und vernünftig; natürlich muss man etwa sexualisierte Nötigung kritisieren und bekämpfen. Aber erstens werden Dinge kritisiert oder umgekehrt vorgeschlagen, bei denen man doch getrost anderer Meinung sein kann. Diskriminierung äußere sich, so der Leitfaden, „durch Ausschlüsse auf Ebene der Studienfachbewerbung (z.B. Numerus Clausus, Staatsbürger:innenregelungen, Sprachkenntnisse)“, durch „misgendern“ oder durch die „fehlende Repräsentation nicht-binärer Geschlechtlichkeit oder geschlechtsneutraler Ansprache in Anträgen, Formularen, Schriftverkehr“ oder auch durch „Nicht- oder erschwerte Anerkennung ausländischer Schul- und Studienabschlüsse“. Das sind, um das Mindeste zu sagen, stark theorieabhängige Postulate aus einem stark theorieabhängigen Begriff von Diskriminierung. Zweitens will der Leitfaden ‒ und da wird es gefährlich ‒ „Leitlinien für Good Practices zusammenstellen“. Solche Leitlinien bleiben keine Empfehlungen, sie werden zumindest faktisch zu Spielregeln, die alle diejenigen ausschließen, die es anders sehen oder handhaben wollen. Neben der schon erwähnten Diversifizierung des philosophischen Kanons werden Leitlinien für Lehre, philosophisches Arbeiten (auch in Qualifikationsschriften), für die Gestaltung von Tagungen, für Institute, für die Verwaltung und den Zugang zum Studium genannt, kurzum für das komplette akademische Leben erstellt, die einen Regulierungswahn an den Tag legen, der einem angst und bange macht. Allein der Abschnitt dazu, wie man Tagungen gestalten sollte, umfasst dutzende Punkte. Hier ein paar Beispiele, was alles empfohlen und das heißt eben langfristig: gefordert wird: Etwa die „Formulierung des Diversitätsverständnisses und der Diversitätsstrategie in Ausschreibung, Ankündigung, Programm und auf der Webseite der Tagung“; die „aktive Ansprache bestehender Initiativen mit Diversitätsbezug und Einladung zur Bewerbung“; man soll auf das „Servieren von Schweinefleisch“ verzichten; man soll für eine „historische Verortung des Tagungsortes (z.B. Geschichte des Nationalsozialismus, Kolonialismus)“ sorgen (die blutige Geschichte des Kommunismus kommt der AG nicht in den Sinn); man soll die „aktive Teilnahme“ der Tagungsteilnehmer fördern, etwa durch „aktive Kennenlernphasen (kurze Kennenlernmethoden/Icebreaker, durchmischte Sitzordnung beim Essen), Formatwechsel: Mischung aus längeren und kürzeren Vorträgen, dialogisch angelegten Inputs, Referaten und Koreferaten“; eine „Öffnung der Philosophie“ wird gefordert durch die „Einladung ,Fachfremder‘ mit inhaltlichem Bezug, zivilgesellschaftlicher Akteur:innen/politischer Aktivist:innen mit inhaltlichem Bezug“; selbst „Murmelrunden“ und „Wiederholtes Daraufhinweisen, dass auch Verständnisfragen willkommen“ sind, werden gefordert; für die Institute verlangt man eine „Quotenregelung in Bezug auf gewählte Gremienmitglieder“ sowie eine „Verankerung von Diversität als Querschnittsthema“. Usw., usf. Man muss der Diversitäts-AG nicht unterstellen, sie plane bewusst die Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit. Aber man muss auch Rassisten keine Absicht unterstellen, um ihnen Rassismus vorzuwerfen. Respice finem – niemand soll sagen, er habe es nicht wissen können. Michael Esfeld, Professor an der Universität Lausanne und Mitglied der LeopoldinaDieter Schönecker, Professor für Praktische Philosophie an der Universität SiegenCarola Freiin von Villiez, Professorin für Philosophie an der Universität Bergen, Norwegen
Michael Esfeld, Dieter Schönecker
Eine angesehene Londoner Hochschule will die Philosophie „dekolonisieren“. Die Deutsche Gesellschaft für Philosophie springt auf den Zug auf und möchte den Kanon von weißen, männlichen Denkern säubern. Was sich als bloße Empfehlung tarnt, dürfte bald zur Waffe gegen Andersdenkende werden.
[ "Philosophie", "Postkolonialismus", "Woke", "Cancel Culture", "Wissenschaftsfreiheit" ]
kultur
2024-07-15T11:39:23+0200
2024-07-15T11:39:23+0200
https://www.cicero.de//kultur/postkolonialismus-an-universitaten-decolonising-philosophy-ein-angriff-auf-die-wissenschaftsfreiheit
Von Boettichers „Liebes“-Affäre – Ein schlechtes Geschäft für alle
Die Lust am Skandal, diagnostizierte Martin Walser schon vor Jahren, ist ein Signum unserer Zeit. Und Christian von Boetticher, der das Pech hatte, sein Verhältnis mit einer damals 16-jährigen ausgerechnet in der Sommerpause öffentlich machen zu müssen, hat die Medienlandschaft mit seiner „Lolita-Affäre“ (Spiegel) tatsächlich in hämische Ekstase versetzt. Dabei geschah alles, wie beide Beteiligten später zu Protokoll gaben, einvernehmlich und ohne Treuebruch, juristisch unbedenklich war die Beziehung ohnehin. Musste er darob zurücktreten und sich seitdem als mediale Sau durchs Dorf treiben lassen? Empören wir uns ein halbes Jahrhundert, nachdem Adenauer zu den Gerüchten der damals noch strafrechtlich heiklen Homosexualität seines Außenministers Heinrich von Brentano nur gelangweilt die Achseln zuckte, allen Ernstes über diese „ungewöhnliche Liebe“ (von Boetticher)? Und das in der komplett durchsexualisierten und -gegenderten Bundesrepublik? Und müssen wir wirklich immer noch so tun, als seien unsere Politiker Herrscher per Gottesgnadentum, denen mit ererbter, also unverdienter Macht eine besondere moralische Vorbildfunktion zukäme, als lebten wir in einer Monarchie? Auch wenn es von Boetticher selbst war, der in seiner Rücktrittsrede auf „verständliche, moralische Vorbehalte“ zu sprechen kam: Das erratische, moralische Empfinden der Deutschen ist schon länger keine sonderlich Vertrauenserweckende Messlatte mehr, zumal in Zeiten, in denen die öffentliche Empörungsbereitschaft proportional zur Erosion der Wertorientierung gestiegen ist. „Das Prinzip der Diffamierung“, befand Peter Sloterdijk einmal, „wird in Deutschland immer mehr zum Politikersatz.“ Je geringer die Kompetenz der Parteien für Problemlösungen wird, umso stärker gedeiht ihre Neigung, Konflikte, Unregelmäßigkeiten und Missstände zum Skandal hochzustilisieren. Es ist Mode und Methode geworden, statt plausibler Lösungen Sündenböcke zu suchen, die man an den Pranger stellen kann.“ Dass Boetticher – wie fast alle zurückgetreten Politiker – seinen Hut nur nehmen musste, weil die Partei ihn fallen lies: geschenkt. Trotzdem ist von Boettichers politische Karriere vorläufig aus dreierlei Gründen zu Recht beendet. Erstens: Politiker sollen ihren Job vernünftig machen und sich an geltende Gesetze halten. Leuchtende Vorbilder brauchen sie so wenig zu sein, wie sich der Staat zum Hüter der jeweils geltenden Moral aufzuschwingen hat. Wäre es anders, das Berliner Regierungsviertel könnte dicht machen. Allerdings unterstehen Politiker – wie alle anderen Träger öffentlicher Ämter –einer besonderen Beobachtung, die ihrem Verhalten ein gewisses Maß an Allgemeinverträglichkeit abverlangt. Bald 40-jährige Männer, die 16-jährige Mädchen über Facebook kennen lernen und beim ersten Treffen in einem Hotelzimmer beschlafen, fallen nicht in diese Kategorie. Selbst wenn man annähme, im speziellen Fall von Boetticher habe das Mädchen eine weit über ihr Alter hinausreichende Reife besessen: Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass 16-Jährige vollkommen andere Erwartungshaltungen, Urteilskräfte, Verletzlichkeiten und Erfahrungsstände haben, als mittelalte Herren. Bei dieser Art von Tauschgeschäft wird meist der Schwächere über den Tisch gezogen, darum verbietet es sich. Zweitens: Die Qualität eines Politikers bemisst sich immer auch an der Fähigkeit, seine Aufgaben im Geiste der eigenen Partei wahrzunehmen. Und von Boetticher ist eben kein Mitglied der Grünen, deren Bundestagsfraktion 1985 forderte, die Strafrechtsparagrafen 175 und 182 zu streichen, da diese „einvernehmliche sexuelle Kontakte“ mit Minderjährigen unter Strafe stellten und beklagten, in dieser Norm drückten sich „bürgerliche Moralvorstellungen aus“. Er selbst steht mit seiner Partei für genau dieses Bürgertum samt christlichem Familienbild und hat diese Werte zu vertreten. Dass Unionskollegen wie Seehofer, Wulff oder von Beust weithin unbeschadet das Gegenteil getan haben, hat zur Unglaubwürdigkeit der Union und der Identitätskrise des Konservativismus beigetragen und macht den Fall von Boetticher nicht besser. Drittens und vor allem: Wer kurzfristige Passionen nicht zugunsten langfristiger Ziele in den Griff bekommt, eignet sich nicht zum Landesvater. Von Boettichers Beziehung war kein wohl abgewogener Überzeugungsakt. Dafür spricht der bislang undementierte Bericht des Mädchens vom Sex beim ersten Treffen. Und hätte von Boetticher sich die Sache gründlich genug durch den Kopf gehen lassen, er wäre die Beziehung vermutlich nie eingegangen. Dafür spricht die Tatsache, dass er sie nach mehreren Monaten zugunsten seiner politischen Karriere dann doch wieder beendete. Das Mädchen, siehe Erstens, hat ein schlechtes Geschäft gemacht. Die CDU auch. Gut, dass der Handel nun ein Ende hat.
Der Rücktritt des Schleswig-Holsteinischen Kronprinzen ist mehr als fällig. Nicht der hysterischen Empörung der Deutschen, sondern des Mädchens und der CDU zuliebe.
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innenpolitik
2011-08-18T09:23:58+0200
2011-08-18T09:23:58+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/cdu-von-boetticher-sex-affare-schlechtes-geschaft-fur-alle/42662
Ukraine-Konflikt - Zwischen Krieg und Frieden
Es sagt sich leicht, dass alle Diplomatie umsonst gewesen sei im Ukraine-Konflikt. In zwei Jahren gab es mühsame Gespräche, 13 Außenministertreffen und vier Gipfel der höchsten Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine. Doch was im Februar 2015 als „Frieden von Minsk“ gefeiert wurde, ist immer noch keiner. Immerhin aber hat diese oft quälend festgefahrene Runde eines auch verhindert, einen Krieg mit hunderttausenden Toten. Gewalt wütet weiter im Donbass-Gebiet. In dem Konflikt zwischen ukrainischen Separatisten, die als pro-russisch gelten, und Ukrainern, die weiterhin Kiew als ihre Hauptstadt sehen, sind 10.000 Menschen umgekommen. An manchen Tagen werden die Vereinbarungen von Minsk tausendfach missachtet, in den schlimmsten Wochen wurden 15.000 Verstöße gezählt – von gewalttätigen Übergriffen bis zu Granat-Einschlägen. Wohl letztmals hat sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier nun in dem Kollegen-Kreis getroffen, der diesen Konflikt friedlich regeln soll. „Normandie-Format“ heißt die Viererrunde, weil das erste Krisentreffen der Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine in Nordfrankreich stattfand. Im Juni 2014 war das, dort wurde eine „Kontaktgruppe“ verabredet, die sich seitdem unzählige Mal auch auf unterer Ebene traf, um Wege zu finden, einen Krieg zu verhindern. Sie hat die Außenminister- und Gipfelrunden vorbereitet. Diese Treffen wiederum fanden fast alle in Berlin statt, wenige auch in Paris, das hochrangigste und hoffnungsvollste aber in Minsk im Februar 2015. Und ausgerechnet dort musste nun Steinmeier verkünden, dass vom Vereinbarten in den vergangenen 20 Monaten so gut wie nichts umgesetzt wurde. Im Grunde ist nun in Minsk offenbar geworden, dass der „Vertrag von Minsk“ nicht wirklich taugt für das, wozu Verträge da sind: zum vertragen. Zu schwammig waren die Formulierungen damals und vor allem: für jede Seite in ihrem Sinne interpretierbar. Darüber kann man heute leicht herfallen. Damals aber waren die Kompromisse notwendig, um überhaupt irgendeine Abmachung zu erzielen. 17 Stunden am Stück haben sie damals verhandelt, Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Präsidenten Francois Hollande, Wladimir Putin und Petro Poroschenko. Ihnen jeweils zur Seite standen die Außenminister. Merkel und Steinmeier soll dieser Marathon von Minsk zu politisch Vertrauten gemacht haben, jedenfalls vertrauter, als sie sich bis dahin waren. Damals, so berichteten Steinmeiers Leute später anerkennend, habe Merkel mit ihren Russisch-Kenntnissen darauf geachtet, dass in der russischen Version des Minsker Abkommens noch einzelne Worte ausgetauscht wurden, weil sie manche Synonyme für zu unpräzise hielt. Dennoch ist es im Ganzen aber nicht gelungen, eine klare Linie zu formulieren. Denn genau diese weite Auslegbarkeit wollte Putin und, für seine Seite, wohl auch Poroschenko. So blieb ungeregelt, in welcher Reihenfolge die Bedingen erfüllt werden sollen: erst Abzug der Waffen von der „Konfliktlinie“, wie die Front beschönigend heißt, und dann Verfassungsänderungen für mehr Autonomie der Ostukraine? So will es Kiew. Oder umgekehrt: Erst Autonomie und freie Wahlen, dann die Waffen raus? So will es Moskau. Daran hakt im Grund alles. Poroschenko kann keine Verfassungsänderung liefern, weil es im Kiewer Parlament dafür keine Mehrheit gibt. Putin will aber die Unterstützung der Separatisten bis dahin fortsetzen, sprich: die Lage instabil halten. Die Zeit spielt für ihn, seine Macht scheint weit stabiler als die Poroschenkos. Beim Außenministertreffen in Minsk nun gaben sich Russland und die Ukraine völlig stur. Zwar begrüßten Russlands Außenminister Sergei Lawrow und sein ukrainischer Kollege Klimkin einander mit Vornamen, der Umgang war korrekt, doch niemand gab auch nur einen Millimeter nach. Grund dafür könnte auch ein Macht sein, die bei bisher keiner Verhandlung mit am Tisch saß: die USA. Sowohl in Moskau als auch in Kiew hoffen sie durch Trump auf eine Zeitenwende zu ihren Gunsten. Moskau glaubt anscheinend, der künftige amerikanische Präsident interessiere sich nicht sonderlich für die EU-Interessen der Ukraine, was am Ende auch das Schutzinteresse der Europäer schwinden lassen würde. In Kiew aber setzen manche darauf, dass es doch die bald regierenden Republikaner waren, die ihnen Waffen und mehr Rückhalt versprochen hatten. Eines immerhin aber wurde deutlich auf dem Außenministertreffen an diesem Dienstag in Minsk: Weder Russland noch die Ukraine schlugen offiziell das Abkommen in den Wind, beide legten Wert darauf, sich daran orientieren zu wollen. Zwar ist kein Frieden geschafft. Es tobt aber auch kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, wie er Anfang 2015 hätte ausbrechen können. Es herrscht ein Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden. Containment-Politik hieß das im Kalten Krieg – Eindämmung. Das ist nicht viel. Aber das ist auch nicht nichts.
Wulf Schmiese
Kolumne: Leicht gesagt. Beim Treffen der Außenminister in Minsk musste Frank-Walter Steinmeier anerkennen, dass vom Vereinbarten im Ukraine-Konflikt so gut wie nichts umgesetzt wurde. Ganz umsonst waren zwei Jahre Diplomatie dennoch nicht
[ "Ukraine", "Russland", "Konflikt", "Minsker Abkommen", "Steinmeier" ]
außenpolitik
2016-11-30T11:37:14+0100
2016-11-30T11:37:14+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/ukraine-konflikt-zwischen-krieg-und-frieden
Guggenheim Lab – Bastelecke mit Kita-Charme
Das Lab – eine 30 Meter lange Karbon- Stahl- Konstruktion – widmet sich dem Thema „Urbanes Leben“ und will als Ideenschmiede sowie als „multidisziplinäre Begegnungsstätte“ verstanden werden. Es stehen erfahrene Ingenieure und Computerspezialisten an der „Engineering Genius Bar“ für Sie parat, um Ihnen bei der Entwicklung Ihrer Ideen zu helfen. Soweit die Theorie. Vor Ort wird dann Speichel unter selbstgebauten Mikroskopen untersucht oder alte Weinkorken zu Stempeln umfunktioniert. An anderer Stelle wird durch Workshops, wie „Wir nähen einen wasserfesten Fahrradsattelbezug“ der Abwesenheit des Sommers Rechnung getragen. Workshops also, die wohl eher auf eine Vorschulzielgruppe ausgerichtet zu sein scheinen, als auf ein kritisches, Kunst-interessiertes und diskussionsfreudiges Publikum. Das von BMW finanzierte 180 qm große Labor ist Teil eines Langzeitprojekts der Guggenheim Stiftung. Die Architektur-Abteilung des New Yorker Guggenheimmuseums entwarf den mobilen Quader, um herauszufinden, in wie weit sich Kunst in Richtung soziale Wirklichkeit außerhalb der Museumsfronten erweitern kann. Die auf Stelzen stehende Konstruktion soll während der nächsten sechs Jahre durch insgesamt neun Weltstädte ziehen, um mit einer globalen Gesellschaft über Soziologie, Städteplanung, IT-Technik und Kunst im Dialog zu stehen. [gallery:Guggenheim Lab] Das Projekt startete mit Erfolg in Manhattans Lower East Side, nun ist Berlin die zweite Station, bevor es weiter nach Mumbai geht. Dem ersten Zyklus der drei Städte ist das Thema „Confronting Comfort“ gewidmet. Hierbei sollen „Ideen für die Großstadt“ gesammelt werden, für die „Erforschung des individuellen und kollektiven Komforts und der dringenden Notwendigkeit ökologischer und sozialer Verantwortung.“ Soll heißen: Auf experimentellem Wege zukunftsweisende Lösungsansätze für das Leben in der Stadt zu entwickeln.  Wer will, möge sich an diesem Vorhaben beteiligen, erklärt Guggenheimkuratorin Maria Nicanor. Leider sprechen die meisten Organisatoren und Mitarbeiter kein Deutsch und die Handvoll anwesender Besucher – vorwiegend im Senioren- und Krippenalter – nur recht wenig Englisch, weswegen sich die Verständigung und daher auch die veranschlagte Bastelaktivität zwischen den introvertierten Ingenieuren und dem Publikum in Grenzen hält. Immerhin wurde die dreißig-minütige Rede von Lab-Leiter für Gesundheit José Gómez-Márquez für die älteren Herrschaften per Kopfhörer übersetzt. Der „Talk“ lief unter der Überschrift „Mappyness“ und es galt zu klären, wie man mit einer Smartphone-Applikation seinen Stresspegel an verschiedenen Standpunkten in der Stadt messen kann. Seite 2: Wieso dieser „reisende Handwerkskasten" das umstrittenste Kulturprojekt des Jahres war... Das ist also das umstrittenste Kulturprojekt des Jahres, das Guggenheim Lab im Prenzlauer Berg? Um diesen „reisenden Handwerkskasten", wie das Lab auf der Webseite selbstironisch beschrieben wird, wurde seit März das große Geschrei in der Hauptstadt veranstaltet? Ursprünglich sollte das Karbon- Gestell des Tokioter Architekturbüros Bow-Wow an der Spree in Kreuzberg aufgebaut werden, was die örtlichen Kiezguerillias jedoch zu verhindern wussten. In einem Aufruf hieß es: „BMW hofft nur auf einen fetten Image-Zugewinn, und der Grundstückseigentümer natürlich auf eine schöne Wertsteigerung seines Grundstückes, auf dem in nicht so ferner Zukunft Luxuswohnungen entstehen sollen.“ Weil sich auf dem ruhigeren Prenzlauer Berg bereits eine Kaffee-Latte-Kultur eingenistet und die Gentrifizierung bereits stattgefunden hat, wurde das Lab nun etwas schwer auffindbar im Efeu-berankten Innenhof der ehemaligen Pfefferberg-Brauerei entfaltet. Da zwischen drei Baustellen schwer auffindbar, war der Stresspegel auf „Mappyness“ bereits bei Ankunft relativ hoch. Ob das Lab in Berlin denselben Erfolg feiern wird, wie man ihn mit 56.000 Besuchern in New York erlebte, ist bisher unklar. Laut Guggenheim-Direktor Richard Armstrong war Berlin „als eine Stadt, die weltweit für ihre Kreativität und ihren kritischen Geist geschätzt wird, eine selbstverständliche Wahl bei diesem Pionierprojekt“. Die ersten diskussionsfreudigen Berliner zeigen sich daher eher enttäuscht und verwirrt, als sie dem Programm begegneten: „Für Debatten reicht unser Schul-Englisch nicht“, so Besucherin Ursula Fenge. Nach all den Demonstrationen ging man von einem intellektuellen und kreativen Thinktank aus und traf stattdessen auf eine hippe Bastelecke im Minimal-Design. Durch die hitzige Standortdiskussion im Vorfeld, hat der mobile Spielkasten nicht nur kostenlose PR erhalten, sondern definitiv an Seriosität verloren. Nach den heftigen Debatten über das Anliegen, den Sponsor BMW und den Standort waren die Erwartungen an das Lab wohlmöglich einfach zu hoch. Nähen, kleben, basteln – von Komfortgestaltung ist hier viel zu spüren, von ökologischer Verantwortung und Konfrontation eher weniger. Selbst die kleine Protestgruppe, die sich zur Eröffnung noch am Prenzlauer Berg zusammengefunden hatte, hat inzwischen ihr Interesse verloren; denn von den großen Fragen, welche Berlin zum Thema „Urbanes Leben“ beschäftigen, wie Gentrifizierung und Mieterhöhung, bürgerschaftlichen Einspruch und wirtschaftlicher Macht, ist auf dem Pfefferberg vorerst nicht die Rede. Na immerhin bietet das Lab bunte Beschäftigungsprogramme für den regen Familienbetrieb im Prenzlauer Berg. Das ist doch schon mal was!
Sie wissen nicht, was Sie mit Ihrem alten Mobiltelefon machen sollen? Oder wie man einen maßgefertigten Fenstergarten baut? Dann ab ins BMW Guggenheim Lab im Prenzlauer Berg in Berlin
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innenpolitik
2012-06-25T15:06:54+0200
2012-06-25T15:06:54+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/bastelecke-mit-kita-charme/49826
Volker Schlöndorff – „Mehr Europa wagen“
Überall hören wir es bis zum Überdruss: Wird uns der Euro zum Fluch? Rettet der Eurobond die lendenlahme Verfassung unseres Kontinents? Gibt es eine Verschwörung gegen den Euro, die eine Implosion Europas gleich mit in Kauf nimmt? Nein, das alles kann und darf nicht sein. Es gibt einen Ausweg, ein lohnendes Ziel, eine neue Leitidee, aus der Krise geboren: Mehr Europa wagen! Während ich dies notiere, fahre ich auf einer nagelneuen Autobahn von Berlin nach Poznan. Sattelschlepper sind unterwegs, endlose Wagenketten, von alten und neuen Besitzern aberwitzig beschriftet, mit Kennzeichen, die ich nicht kenne. Die Raststätten gleichen Karawansereien oder besser: Wagenburgen im Wilden Westen. Pioneering times. Ein Kontinent im Aufbruch. Eine geschäftige Achse verbindet Westen, Mitte, Osten bis weit nach Russland und Zentralasien hinein. Hier brummt das neue Europa schon. Mitterand musste lange einreden auf Kohl, um ihn von den Vorteilen des Euro zu überzeugen. Sein Ziel war es, Deutschland so einzubinden, dass es wiedervereint nicht übermächtig würde. Das Gegenteil hat er erreicht. Entstanden ist ein gewaltiger Binnenmarkt, den Deutschland gegen harte Münze mit seinen Produkten überschwemmt. Was uns nicht hindert, uns als Draufzahler zu empfinden. Tatsächlich kommt aber jeder Euro hundertfach zurück. Warum erklärt das kein Politiker seinen Wählern? Nun wird er bald müssen. Denn die Industrien der anderen bleiben auf der Strecke wie die Automobile der Franzosen, Spanier, Schweden – Scale economy. Der Starke wird immer stärker. The winner takes it all. Nur: Wenn die andern pleite sind, wer soll dann unsere Produkte kaufen? Was haben wir davon, wenn wir alle anderen in die Inflation und Weimarer Republiken treiben? Es wächst eben neben Bewunderung auch Argwohn und Neid. Will Deutschland die Südländer abstrafen, wie es einst von den Siegern des Ersten Weltkriegs abgestraft wurde? Der Euro, der alle befrieden sollte, bewirkt neue Feindschaften. Mitterrands Plan ist nicht aufgegangen. Wir brauchen einen anderen, heißt es. Politiker haben ihn schnell bei der Hand; diesmal ist es Sarkozy, der auf Merkel einredet. Sie wollen es unter sich regeln. Wenn sie bloß nicht wieder zu kurz greifen. Denn der alte Europlan war gar nicht schlecht, er war nur größer als wir ahnten. Er kam so pragmatisch daher, dass die neue Utopie, mit der die runde Münze schwanger ging, nicht gleich auffiel. Jedenfalls der Politik und der Wirtschaft nicht. Ein Philosoph, Jürgen Habermas, dagegen erkannte die großartige Idee, die uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigen und hoffentlich beflügeln wird: Dieser Euro geht schwanger mit einem Kind namens Verfassung. Eine Utopie, die sich als Fiskalunion einschleicht, auch als Elitebond verkleidet, aber so unausweichlich auf eine politische Union hinausläuft wie einst die Zollunion. In Amerika mussten vor 200 Jahren die Antiföderalisten unter den 13 Gründungsstaaten ihre geliebte Unabhängigkeit aufgeben und sich in die Union eingliedern – aus dem einfachen Grund, dass sie mit dem gleichen Dollar zahlten. Darum droht heute Louisiana nicht das Schicksal Griechenlands. Darum darf Kalifornien sich mehr verschulden als Spanien. Sie müssen nicht mehr Zinsen zahlen als jeder andere Staat in der Union, keine Ratingagentur kann sie herabstufen, denn für alle gibt es nur eine Dollaranleihe. Ganz so einfach können wir uns nicht vereinigen, denn unsere Staaten sind Nationalstaaten – und wollen es bleiben im Sinne von de Gaulles Europe des Patries. Wir brauchen unsere eigene Leitidee. Offen, kontrovers und öffentlich müssen wir sie suchen, sie definieren und umsetzen. (Vielleicht kommen wir auf einen alten Hut: liberté, égalité, fraternité. Der Hut müsste noch passen. Die Köpfe wachsen ja nicht so schnell in 200 und ein paar Jahren. Und eingelöst ist dieser alte Hut noch lange nicht.) Es kann der fantastische Anfang einer neuen Zeit werden. Ein Werk, an dem Generationen bauen werden, mit einem klaren, begeisternden Ziel vor Augen. Endlich eine Perspektive, kein Old Europe mehr. Übrigens, die LKW-Fahrer auf der Strecke und die Studenten an den polnischen Unis, die sind schon da angekommen, wo die Politiker noch nicht so recht hinwollen. Diesen Text finden Sie auch in der neuen Ausgabe des Cicero - jetzt am Kiosk zu kaufen oder hier zu bestellen
14 bekannte Juroren küren im neuen Cicero in sieben unterschiedlichen Kategorien ihre Auf- und Absteiger des Jahres. Der Oscar-Gewinner und Filmregisseur Volker Schlöndorff nominiert die Leitidee „Mehr Europa wagen“
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innenpolitik
2012-01-02T13:33:43+0100
2012-01-02T13:33:43+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/aufsteiger-politische-these-schloendorff-mehr-europa-wagen-euro-verfassung/47726
Klaus Wowereit – Im Himmel über Berlin
Das Imagevideo zur Eröffnung war gedreht und lief bereits über die sozialen Netzwerke. Der Flughafen Berlin-Brandenburg International mit dem Beinamen Willy Brandt hätte eigentlich am 3. Juni feierlich eröffnet werden sollen. Für Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit sollte dies ein großes Fest werden. Die Party fiel bekanntermaßen aus. Die Bauaufsicht des Landkreises Dahme-Spreewald, die für den Großflughafen zuständig ist, sagte die Party kurzfristig ab, wegen mangelnden Brandschutzes versagte es die Betriebserlaubnis.  Längst ist jedoch offenkundig geworden, dass es mit Anbringen zusätzlicher Feuerlöscher nicht getan ist. Neun Monate wird es noch dauern, bis der neue Berliner Flughafen eröffnet wird. Zahlreiche gravierende Mängel müssen bis zum März 2013 beseitigt werden. Klaus Wowereit, der bis zuletzt getönt hatte, der Eröffnungstermin werde eingehalten, steht nun blamiert da. Der Flughafen ist nicht das einzige Problem, das dem Berliner Regierungschef dieser Tage zu schaffen macht. In seiner Landespartei rumort es kräftig. In der Berliner SPD droht eine Palastrevolution. Auf einem Parteitag könnte an diesem Wochenende der Landesvorsitzende und Wowereit-Intimus Michael Müller gestürzt werden. Selbst über die Entmachtung des Regierenden Bürgermeisters wird in der Hauptstadt bereits spekuliert. Müller ist seit vielen Jahren der verlängerte Arm des Regierenden Bürgermeisters in der SPD. Doch nun begehrt mit Jan Stöß, ein aufstrebender Berliner Verwaltungsrichter, mit einer Truppe junger Mitstreiter auf und greift nach der Macht in dem Landesverband. Die jungen Genossen drängt es zu Höherem.  Krampfhaft sind sie bemüht, inhaltliche Differenzen zum Parteiestablisment um Wowereit und Müller zu konstruieren. Das Stöß-Lager argumentiert, die SPD müsse sich zur Arbeit der Großen Koalition im Senat deutlich abgrenzen. Deshalb könne nur jemand Vorsitzender der Partei sein, der nicht gleichzeitig als Senator in die Regierungsarbeit eingebunden ist. Michael Müller ist seit 2011 Senator für Stadtentwicklung und Umwelt. Klaus Wowereit kann nichts mehr viel für seinen alten Mitstreiter tun, er wirkt politisch angeschlagen, seine politische Autorität scheint beschädigt. Hinzu kommt, auch seine bundespolitischen Ambitionen scheinen gescheitert. Als möglicher Kanzlerkandidat der SPD jedenfalls gilt er nicht mehr, spätestens seit er nach der letzten Abgeordnetenwahl im Herbst vergangenen Jahres die rot-grünen Sondierungsgespräche platzen ließ. Wowereit scheute sich vor der Einstimmenmehrheit von Rot-Grün, scheute den harten Kampf um die umstrittene Verlängerung der Stadtautobahn A 100. Wowereit entschied sich stattdessen für das bequeme Durchregieren mit der CDU. Doch zahlte er dafür einen hohen Preis. Rot-Grün im Land Berlin hätte für die ganze SPD mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 eine Signalwirkung gehabt. Als Chef einer Großen Koalition ist Wowereit nur noch ein Landesfürst unter vielen. Der bundespolitische Bedeutungsverlust Klaus Wowereits ist also hausgemacht. Es ist nicht mehr zu übersehen, ihm fehlt schlichtweg das Format für eine Kanzlerkandidatur. Dabei fing alles so vielversprechend an. Im Dezember 2001 schmiedete Wowereit gegen große Widerstände in der SPD und gegen den Willen des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder in der einst geteilten Stadt eine Koalition aus SPD und der damaligen PDS. Ein Kulturbruch. Rot-Rot entpuppte sich als stabile Regierung, das Linksbündnis konsolidierte den Landeshaushalt mit Sparanstrengungen, wie sie die vorherige Große Koalition unter CDU-Führung nie hinbekommen hatte. 2006 gelang wenn auch knapp die Wiederwahl. Die Koalition mit den Linken war das Alleinstellungsmerkmal Klaus Wowereits. Mit Rot-Rot konnte er bundesweit die Schlagzeilen bestimmen und sich als Kanzlerkandidat und Befürworter einer rot-rot-grünen Koalitionsoption im Bund ins Gespräch bringen. Inzwischen redet davon niemand mehr und auch Wowereits bundespolitische Wortmeldungen sind zunehmend rar gesät. Auf der folgenden Seite: Beginnt die Bürgermeisterdämmerung? Sind damit auch Wowereits Tage in Berlin gezählt, muss er nach der Palastrevolte gegen Landeschef Müller auch um sein Amt im Roten Rathaus bangen? Wohl kaum. Die Verschiebung der Flughafeneröffnung wird spätestens nach Eröffnung zu einer bloßen Randnotiz der Geschichte avancieren. Großprojekte sind seit jeher anfällig für Bauverzögerungen. Zwar gibt es Kritik an Klaus Wowereit als Vorsitzender des Aufsichtsrats der Flughafengesellschaft. Auch Schadensersatzklagen der Airlines und anderer Flughafenfirmen und die damit verbunden drohenden Millionenbeträge, die auf das Land Berlin zukommen, sind ein Ärgernis. Dennoch wird die Verzögerung um den Flughafen die Macht des Regierenden Bürgermeisters kaum gefährden. Für die drohenden Schadensersatzforderungen wird der klamme Berliner Landeshaushalt nur anteilig aufkommen müssen. Der Bund und das Land Brandenburg stehen gleichfalls in der Ersatzpflicht. Nachtragshaushalte sind Fußnoten in der One-Man-Show von Klaus Wowereit. Dieser hat es über die Jahre geschafft mit der Stadt zu verwachsen, mit flotten Sprüchen wie „Berlin ist arm, aber sexy“ ist er zu einer Ikone ihrer selbst geworden. So schwebt er über den Niederungen des Parteienzwists. Im provinziellen Berliner Rahmen ist er damit ebenso erfolgreich wie Angela Merkel seit Beginn ihrer Kanzlerschaft oder aber auch Politiker wie Gregor Gysi, zuletzt zu beobachten auf dem Göttinger Parteitag der Linken. Wowereit schwebt im Himmel über Berlin. [gallery:Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten – das Casting in Bildern] Zwar zeigt die Popularitätskurve in jüngster Zeit nach unten, in der Beliebtheit wurde er von zwei blassen Senatoren überholt. Doch dies kann Wowereit mit aller Gelassenheit als konjunkturelle Delle verbuchen. Auch die mögliche Wahl von Jan Stöß wird Wowereit überleben. Ihm scheint es ziemlich schnuppe zu sein, wer unter ihm SPD-Landesvorsitzender ist. Regierender Bürgermeister und Berlin-Ikone wird Klaus Wowereit noch lange bleiben. Ob er 2016 noch einmal in den Wahlkampf zieht oder vorher seine politische Karriere beendet, kann er ganz allein entscheiden. Fotos: picture alliance
Klaus Wowereit ist seit elf Jahren Regierender Bürgermeister von Berlin. Das Flughafen-Desaster wird er überstehen, innerparteiliche Grabenkämpfe auch. Wenn er klug agiert, kann er den Zeitpunkt seines Abganges selbst bestimmen. Nur Kanzlerkandidat der SPD wird er wohl nicht mehr.
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innenpolitik
2012-06-08T10:03:50+0200
2012-06-08T10:03:50+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/im-himmel-ueber-berlin/49635
Zentrum für politische Schönheit - Am Übergang zum Extremismus
Für eine Kampagne mit dem Titel „Soko Chemnitz“ will das Künstlerkollektiv Zentrum für politische Schönheit (ZPS) drei Millionen Bilder von 7.000 „Verdächtigen“ ausgewertet haben. „Das Ziel: den Rechtsextremismus 2018 systematisch erfassen, identifizieren und unschädlich machen“, heißt es auf der dazugehörigen Website. Die so erfassten Personen sollen ihrem Arbeitgeber gemeldet werden. Diese „Pathologisierung der politischen Neigung“ verursacht Kolja Reichert, Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „übles Aufstoßen“. Die Website arbeite mit den Rahmen, die man aus Gesichtserkennungssoftware kennt, sie erinnere an Facebook, Überwachungstechnik und die Fahndungsfotos der Hamburger Polizei von den Ausschreitungen während des G-8-Gipfels. Reichert erinnert das alles an das erprobte Prinzip des Prangers, mit dem zuletzt die AfD mit ihren Lehrermeldeportalen Ernst machte. Mit Satire hat diese Aktion, findet Reichert, nichts mehr zu tun. „Das Zentrum klingt jetzt wie eine Gruppe am Übergang zum Extremismus, in dem das Vokabular der Kritik, in diesem Fall der Satire, in ein totalitäres Vokabular der Selbstbehauptung kippt.“
Cicero-Redaktion
Die Aktivisten des „Zentrums für politische Schönheit“ stellen auf einer Website angebliche Angehörige der rechtsextremen Szene vor. Ist das noch Satire? fragt Kolja Reichert von der „FAZ“
[ "zentrum für politische schönheit", "soko", "Chemnitz", "pranger", "rechts" ]
kultur
2018-12-04T15:29:05+0100
2018-12-04T15:29:05+0100
https://www.cicero.de//kultur/zentrum-fur-politische-schonheit-soko-chemnitz-pranger-rechts
Analoges Leben - Im Netz gedeiht keine Bildung
Der Salon floriert. Zum Beispiel in Berlin. Sei es privat, in herrschaftlichen Wohnungen aus wilhelminischer Zeit, sei es in Buchhandlungen, sei es im Foyer von Theatern. Die Bürger eilen in Scharen herbei, um zu diskutieren: mit Philosophen, Literaten, Künstlern, Zeitzeugen, Akademikern, Politikern. Wer etwas zu sagen hat, findet in der deutschen Hauptstadt Podium und Publikum. Schon einmal war es so, im späten Kaiserreich. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Salon zum Ort bürgerlicher Emanzipation – Ort von Esprit und Causerie. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den Blütejahren der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, bot der Salon – bis die Nazis kamen – den Freiraum zur Debatte über die Zeitläufte. Und tagsüber, wenn der Salon ruhte, lief der Diskurs in Wein- und Kaffeehäusern und in den Zeitungsredaktionen. [gallery:20 Gründe, warum wir Tageszeitungen brauchen] Alles Geschichte? Das 21. Jahrhundert brach an mit dem Internet. Was wir erfahren, was wir sagen, was wir denken: In Facebook und Google und Twitter und Wikipedia findet es seinen Niederschlag. Ja, das Internet ist das Niederschlagsgebiet allen neuen Wissens. Die sekündlich anschwellende Menge des elektronisch vermittelten Menschheitsgedächtnisses ist nur noch in Tera­bytes zu bemessen – die Größenordnung, die den jetzt gerade aktuellen Wissensstand benennen kann. Und der ist ohnehin jetzt schon überholt. Und jetzt gerade erneut. Das Einspeisen, Einordnen und Einmotten im Netz vollzieht sich im Tempo des Lidschlags. Dennoch sind Berlins Salons gesucht und begehrt, wie wohl auch in anderen Kulturmetropolen. Es herrscht ganz offensichtlich der Drang des Bürgers nach Begegnung und Besprechung mit anderen Bürgern – in intellektueller, in geistvoller Absicht. Man will reden miteinander; denken miteinander; und man will dabei zusammensitzen; auch zu einem Glas Wein will man greifen können beim Diskutieren und Zuhören; man will sich in die Augen schauen; man will die Körpersprache des Gegenübers erleben und genießen. Aber auch die Virtualität ist Realität. Unablässig schwatzen wir doch schwärmend davon, dass die Netzwirklichkeit eine neue Wirklichkeit schaffe, die sich schließlich als unser aller wirkliche Wirklichkeit erweisen werde! In Deutschland haben Netz-Nerds diese Wandlung bereits gewagt: Aus dem virtuellen Raum heraus gründeten sie die Piratenpartei, eine Partei, die den Anspruch, die herkömmliche Politik zu entern, bereits im Namen führt. Und im Logo: Die „Piraten“ setzten flott ihre Segel unter der Totenkopf-Flagge, die ja dem Feind seit je nichts weniger androht als den Untergang. Daraus ist nichts geworden. Zwar feierte die Laptop-Partei ein paar provinzielle Wahltriumphe, doch sie verflüssigte sich inzwischen wieder fast völlig im Netz. Ihr Versprechen allerdings war gewaltig: Sie wollte Transparenz schaffen, hundertprozentiges Sichtbarmachen aller Regungen in der Demokratie. Ein Totalitarismus von gleißender, von blendender Helligkeit – bis in den hintersten politischen Winkel hinein. [gallery:... dem Müßiggang zu frönen] Die Partei schaffte nicht einmal den Überblick über sich selbst. Sie zerstritt sich in Shitstorms, Twitter-Intrigen und Facebook-Verunglimpfungen. Der entgeisterten Öffentlichkeit bot sich ein Bild zumeist junger Menschen, die nicht zusammenfanden, weil sie kaum je physisch teilgenommen hatten an der realen Politik, so wie sie immer schon war. Auch die Abschaffung von Herrschaftswissen durch Transparenz misslang. Denn was ist Transparenz? Ist es der Klick auf ein Dialogfeld des Bildschirms? Der Blick in die Google-Welt? Transparent machen heißt sichtbar machen. Sichtbar aber bedeutet begreifbar, zum Greifen, also intellektuell-sinnlich erfahrbar. Das aber zwingt zum Zusammenfügen und Ergänzen von Wissenspartikeln, wie sie das Netz liefert; es zwingt zum Einbetten von partiellem Wissen in den großen menschlichen Erfahrungsschatz; und es zwingt zur Konfrontation von allem Wissen mit ethischen und moralischen Grundwerten. Das wäre dann Bildung zu nennen. Doch wo und wie bildet sich Bildung? Das Netz liefert dazu nur den kruden Werkstoff. Die Denkhandwerker aber schreiben Bücher, halten Vorträge, diskutieren in Salons. Vor allem gestalten redaktionelle Gemeinschaften Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Auf Papier wird vorgedacht, nachgedacht und weitergedacht, wird debattiert und ausprobiert, wird erwogen und abgewogen, oft umständlich, bisweilen auch vollendet elegant. Das aber zwingt zum Zusammenfügen und Ergänzen von Wissenspartikeln, wie sie das Netz liefert; es zwingt zum Einbetten von partiellem Wissen in den großen menschlichen Erfahrungsschatz; und es zwingt zur Konfrontation von allem Wissen mit ethischen und moralischen Grundwerten. Das wäre dann Bildung zu nennen. Doch wo und wie bildet sich Bildung? Das Netz liefert dazu nur den kruden Werkstoff. Die Denkhandwerker aber schreiben Bücher, halten Vorträge, diskutieren in Salons. Vor allem gestalten redaktionelle Gemeinschaften Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Auf Papier wird vorgedacht, nachgedacht und weitergedacht, wird debattiert und ausprobiert, wird erwogen und abgewogen, oft umständlich, bisweilen auch vollendet elegant. Die Zeitung und die Zeitschrift sind der gedruckte Salon unserer demokratischen Gesellschaft. Journalisten sind in diesem Salon Gastgeber und Gedankengeber, manchmal brillante Causeure, gerne auch geistvolle Gaukler. Sie erzählen die sinnfälligen und hintersinnigen und immer wieder lehrreichen Märchen des Alltags. Mit ihrem altmodischen Medium garantieren sie das Denkgeflecht, das unsere freie Gesellschaft zusammenhält. Und sie tun ihr Werk von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, geradezu bedächtig, auf wohltuende Weise entschleunigt, mithin also viel zu langsam für die permanent hysterisch erregte Netzwelt. Zeitungsjournalisten entlarven das Funkengestiebe im Netz, von bildschirmsüchtigen Kids und Nerds fürs Sternenzelt gehalten, als unendlich viel Meteoritenschrott. Das Schicksal der Menschen spielt unter Menschen und hinieden, wo wir uns begegnen in Salons, in Cafés, in Lounges, in Redaktionen, in Zeitungen und Zeitschriften, in Büchern – im persönlichen Gespräch. Das ist Lebenselixier und Luxus der Demokratie: Zeit zu haben und Räume dazu.
Frank A. Meyer
Im Netz wird Wissen geliefert, sekündlich, im Lidschlagtempo. Aber das Leben spielt woanders. Ein Pamphlet für die reale Welt. 
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kultur
2013-06-27T16:36:52+0200
2013-06-27T16:36:52+0200
https://www.cicero.de//kultur/analoges-leben-im-netz-gedeiht-keine-bildung/54880
Corona-Konjunkturpaket - Auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit
Wie gerecht ist das Konjunkturpaket? Nutzt es mehr den Unternehmen als den Hartz-IV-Empfängern? Werden Steuergelder von hart arbeitenden Arbeitnehmern verwendet, um Solo-Selbstständige über Wasser zu halten, die sich schon vor Corona kaum über Wasser halten konnten? Und wie gerecht ist es, dass der Käufer einer 100.000 Euro-Luxuslimousine demnächst 3.000 Euro an Umsatzsteuer sparen kann, während systemrelevante Pflegekräfte sich mit einem bescheidenen Bonus begnügen müssen? Kein Zweifel: Dank der Corona-Pandemie hat das Thema soziale Gerechtigkeit Konjunktur. Es wird sogar noch an Bedeutung gewinnen, sobald die politische Auseinandersetzung darüber beginnt, ob die staatlichen Hilfsmaßnahmen nicht doch mit neuen oder höheren Steuern bezahlt werden sollen – und wer diese Belastung tragen soll. Das Wahljahr 2021 könnte ein Jahr harter Verteilungskämpfe und Gerechtigkeit zu einem zentralen Thema des Bundestagswahlkampfs werden. Nun gibt es in der Gerechtigkeits-Debatte keine politische Kraft von Relevanz, die sich dagegen ausspräche, dass der Staat für Gerechtigkeit zu sorgen habe. Dabei spielt das politische und mediale Klima eine Rolle. Wer mehr Gerechtigkeit fordert – mehr Gerechtigkeit in Form höherer Sozialleistungen –, der genießt in der öffentlichen Meinung den Status des moralisch Überlegenen. Wer dagegen die Eigenverantwortung betont, gilt schnell als unsozialer Neoliberaler oder kaltherziger Kapitalist. Genau genommen ist der Begriff soziale Gerechtigkeit sehr unbestimmt und vage. Jeder meint etwas anderes. Die meisten verstehen unter Gerechtigkeit eine möglichst gleichmäßige Verteilung von Einkommen und Vermögen. Aber Gerechtigkeit kann ja wohl nicht bedeuten, dass alle gleich viel verdienen und besitzen. Dann hätten wir Ergebnisgerechtigkeit, was niemand ernsthaft anstrebt. Wenn am Ende alle dasselbe haben, sehen viele keinen Sinn darin, sich besonders anzustrengen. Nach Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer möglichst gleichmäßigen Verteilung streben deshalb nur Sozialisten – und das nur in der Theorie. Als kurz vor dem Ende der DDR die ziemlich wertlose DDR-Währung zum 1. Juli 1990 in harte D-Mark umgetauscht wurde, stellte sich heraus, dass 60 Prozent des Geldvermögens der DDR-Bürger auf 10 Prozent der Konten lagen. Die herrschende Klasse hatte offensichtlich Gleichheit gepredigt und Umverteilung von unten nach oben praktiziert. Ein wichtiger Aspekt der Gerechtigkeit ist die Leistungsgerechtigkeit. Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Was zu der Frage führt, wie man Leistung misst. Der Marktmechanismus führt tendenziell dazu, dass Leistungen, die besonders nachgefragt werden, auch überdurchschnittlich vergütet werden. Was aber, wenn es keinen richtigen Markt im Sinne eines freien Spiels der Kräfte gibt wie im Gesundheitswesen oder im Bereich der öffentlichen Sicherheit? Wenn Pflegekräfte, Polizisten oder Feuerwehrleute nicht so gut bezahlt werden, wie es ihrer Leistung für die Gesellschaft entspricht, hat das nichts mit Marktversagen zu tun. Das ist vielmehr Ergebnis politischer Entscheidungen. Beim Thema Gerechtigkeit ist die Generationengerechtigkeit nicht zu vergessen. Es entspricht nicht dem Postulat der Gerechtigkeit, wenn die Generation der Eltern für den Gegenwartskonsum Schuldenberge anhäuft, für deren Zins und Tilgung noch Kinder und Enkel aufzukommen haben. Falls das innerhalb der Familie geschieht, können die Kinder ein nur aus Schulden bestehendes Erbe ausschlagen. Auf staatlicher Ebene bleibt dieser Notausgang verschlossen: Die Schulden von heute sind die Belastungen von morgen und übermorgen. Das ist dann zu verantworten, wenn der Staat Investitionen in die Infrastruktur mit Krediten finanziert, weil auch nachfolgende Generationen davon noch profitieren. Das gilt aber auf keinen Fall bei auf Pump finanzierten Sozialleistungen. Die für die Zukunft eines Landes wohl wichtigste Form der Gerechtigkeit ist die Chancengerechtigkeit bei Bildung und Ausbildung. Intelligenz und Begabung von Kindern sind nicht abhängig vom Geldbeutel der Eltern, ihre Aufstiegschancen sind es aber schon. Da hat sich die Situation in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verschlechtert, was aber nicht allein am Bildungssystem liegt, sondern vielfach auch an den Elternhäusern. Man braucht als Vater oder Mutter kein Abitur, um beispielsweise darauf zu achten, dass die Kinder ihre Schulaufgaben machen und sich anstrengen. Wenn Eltern aber die ganze Verantwortung an die Schulen und Lehrer delegieren, stoßen staatliche Fördermaßnahmen an ihre Grenzen. Eine Kita-Pflicht von drei Jahren an und Ganztagsschulen wären deshalb für mehr Bildungsgerechtigkeit wichtige Voraussetzungen. Soziale Gerechtigkeit spielt in der praktischen Politik der Bundesrepublik eine zentrale Rolle. Mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts wird für Soziales ausgegeben. Vom Bruttoinlandsprodukt gehen eine Billion Euro in den Sozialbereich, rund 30 Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Das politische Klima ist so, dass kaum noch jemand für eine Rückführung dieser Sozialleistungsquote zu plädieren wagt. Dessen ungeachtet wäre sicherlich an vielen Stellen eine effizientere und zielgenauere Verwendung dieser Sozial-Milliarden möglich. Wie gerecht es in einem Land zugeht, lässt sich nicht nach objektiven Maßstäben messen, schon deshalb, weil es verschiedene, sich teilweise widersprechende Vorstellungen von Gerechtigkeit gibt. Mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit gibt es aber Indizien, dass Deutschland sozialer ist als viele andere europäische Länder. Jedenfalls zog es in den vergangenen Jahren viel mehr Flüchtlinge zu uns als etwa nach Frankreich, Großbritannien, Polen oder Ungarn, weil der deutsche Sozialstaat in mancher Hinsicht großzügiger ist als viele andere Länder. Auch kommt jemand, der – aus welchen Gründen auch immer – persönlich in eine prekäre Situation gerät, hierzulande wohl besser zurecht als in den meisten anderen Ländern. Was immer Gerechtigkeits-Prediger und in ihrem Gefolge die Umverteilungspropagandisten auch sagen mögen: Wo immer Menschen leben, gab und gibt es Ungerechtigkeit. Zu keiner Zeit, in keinem Land, in keinem Gesellschaftssystem herrschte jemals Gerechtigkeit in dem Sinne, dass es überall fair zugeht, dass jedes Kind von Geburt an die gleichen Chancen hat, dass es keine Unterschiede bei Einkommen und Vermögen gibt, dass überdurchschnittliches Können überdurchschnittlich bezahlt wird und – last not least – dass Talente, Glück und Pech gerecht verteilt sind. Übrigens: Schon im Paradies war das mit der Gerechtigkeit so eine Sache. Eva aß zuerst von der verbotenen Frucht und verführte Adam, es ihr gleich zu tun. Aber beide bekamen dieselbe Strafe und mussten das Paradies verlassen, die Verführerin wie der Verführte. Ob das etwa gerecht war?
Hugo Müller-Vogg
Dank der Corona-Pandemie hat das Thema soziale Gerechtigkeit Konjunktur. Aber was ist eigentlich gerecht – und meint nicht jeder mit diesem Schlagwort etwas anderes? Hugo Müller-Vogg über einen schwierigen Begriff.
[ "Corona", "Coronakrise", "Konjunktur", "Konjunkturpaket", "Bundesregierung", "Politik", "Schulden", "Staatsschulden", "Zukunft", "Soziale Gerechtigkeit", "Gerechtigkeit", "Bundestagswahl" ]
innenpolitik
2020-06-23T12:44:44+0200
2020-06-23T12:44:44+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/corona-konjunkturpaket-gerechtigkeit-bundespolitik-zukunft-krise-staatschulden-wumms
René Pfister im Gespräch mit Ben Krischke - Cicero Gesellschaft Podcast: „Von zu engen Tabus profitieren nur die politischen Extreme“
Populisten von links und rechts dominieren den öffentlichen Diskurs, Menschen verlieren wegen legitimer Meinungsäußerungen ihre Jobs, und Rassisten sind sowieso immer nur die anderen. Was ist los in den Vereinigten Staaten, im „Land of the Free?“ Seit geraumer Zeit macht sich in den USA eine illiberale Linke auf, Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben zu erfinden und Sanktionen gegen alle zu fordern, die ausscheren. Diese Bewegung zielt dabei längst nicht mehr nur konservative Knochen, sondern auch auf die eigenen Leute, wenn sie sich in den Augen der Aktivisten durch gewisse Formulierungen oder andere Perspektiven auf die Welt ins Abseits schießen. Der große Shitstorm entzündet sich dabei oft nur an einzelnen Begriffen oder gar vorgetragenen Fakten, die der illiberalen Linken nicht ins Weltbild passen. Zwei ihrer Grundüberzeugungen lauten: Weiße seien zwangsläufig Rassisten und Schwarze grundsätzlich Opfer einer weißen und rassistischen Mehrheitsgesellschaft. Der Spiegel-Redakteur René Pfister lebt seit gut drei Jahren in den Vereinigten Staaten, wo er das Washingtoner Büro des Nachrichtenmagazins leitet. Im August 2022 ist sein Buch „Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“ erschienen und mittlerweile in der dritten Auflage. Pfister scheint also einen Nerv getroffen zu haben. Höchste Zeit, dachte sich die Cicero-Redaktion daher, den Autor in den Cicero Gesellschaft Podcast mit Ben Krischke einzuladen. Der Einladung ist Pfister gerne gefolgt. „Ich bin der Letzte, der sagen würde, es muss nicht auch Tabus geben. Aber diese Tabus müssen eben sehr, sehr eng sein. Und wenn die Tabus zu weit gefasst werden, glaube ich, dass dann eben nicht die Demokratie profitiert, sondern die Extreme von links und rechts“, sagt Pfister, der überzeugt ist, dass die illiberale Linke in den USA maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Donald Trump ins Weiße Haus einziehen konnte. Denn wer das Gefühl habe, so Pfister, nicht mehr öffentlich seine Meinung sagen zu dürfen, der suche sich eben andere Formen des Protests: etwa in der Wahlkabine. Weiter spricht Pfister über die Ursprünge gesellschaftstheoretischer Ansätze wie der „Critical Race Theory“, die sich mittlerweile sogar unter illiberalen Linken in Deutschland einer gewissen Beliebtheit erfreut, erzählt von besonders einschlägigen Beispielen für Cancel Culture in den USA und erklärt, welchen Einfluss der Kulturkampf selbst auf die große New York Times hat. Pfister sagt: „Ich würde mir wünschen, dass im politischen Diskurs versucht wird, den anderen zu verstehen, und Menschen, die eine andere Meinung haben, nicht nur das Schlechteste zu unterstellen.“ Das Gespräch wurde am 27. März 2023 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
Ben Krischke
In seinem Buch „Ein falsches Wort“ setzt sich der „Spiegel“-Redakteur René Pfister mit der illiberalen Linken in den Vereinigten Staaten auseinander. Ben Krischke hat mit ihm über sein Buch, den Kulturkampf in den USA und dessen weitreichende Folgen gesprochen.
[ "USA", "Woke", "Donald Trump", "Literatur", "Podcast" ]
2023-04-14T09:06:22+0200
2023-04-14T09:06:22+0200
https://www.cicero.de//kultur/rene-pfister-krischke-cicero-interview-podcast
Cyberwar – Das Ende der militärischen Abschreckung
Der Kalte Krieg war analog. Seine Militärstrategien wie Abschreckung und das Drohen mit schweren Vergeltungsschlägen waren auf die damalige Technik ausgerichtet. Doch im Cyberwar des Digitalzeitalters funktionieren sie nicht mehr. Die Militärstrategen sehen sich daher mit neuen Herausforderungen konfrontiert, auf die sie noch keine Antwort haben. Larry Clinton, Präsident des US-Industrieverbands Internet Security Alliance, vergleicht den fundamentalen Zeitenwechsel mit dem Moment, als das Kanonenpulver die Kriegführung revolutioniert hat. Die Probleme, für die Militärs und staatliche IT-Experten Lösungen finden müssen, sind vielfältig. Erstens sind Angriffe und dementsprechend die Verteidigungsmittel im Cyberkrieg technisch völlig anderer Natur als das in konventionellen Kriegen der Fall war. Daher werden die Karten in puncto militärischer Stärke neu gemischt, was bisher unterlegenen Ländern Offensivmöglichkeiten bietet, die sie auf dem realen Schlachtfeld nicht haben. Zweitens müssen die Strategien darauf neu ausgerichtet werden. Wie schützt man sich erfolgreich gegen IT-Attacken, die mit relativ wenig Aufwand und Kosten plötzlich und praktisch von jedem Punkt der digital vernetzten Welt aus ausgeführt werden können? Und drittens: Wie stellt man fest, wer eigentlich die Angreifer oder gar deren Hintermänner sind? Bei Computer-Angriffen auf kritische Infrastrukturen wie Energie, Finanzen und Verkehr lässt sich nämlich viel schwerer feststellen, wer dahinter steckt, als das in konventionellen Kriegen mit Armeen der Fall war – auch wenn es selbst da fingierte Angriffe gab, man denke nur an den vorgetäuschten Überfall auf den Sender Gleiwitz zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Fachleute halten die Zurechenbarkeit für eines der größten Probleme im Cyberwar. Denn wenn der Angreifer seine Identität mit technischen Finten verschleiern kann, sind die Verteidiger des Mittels eines Gegenschlags beraubt. Gegen wen sollte er sich richten? Das Legen falscher Fährten ist mit relativ wenig Aufwand möglich. Für eine Attacke kann man Server in Drittländern mieten. Springt sie von einem Land zum anderen, bevor sie schließlich auf das anvisierte Ziel trifft, ist es schwer nachzuweisen, aus welchem Staat sie ursprünglich stammt. „Man kann nach ländertypischen Programmiermethoden suchen, aber sie können nachgemacht werden, indem man sie aus Internet-Foren kopiert. Es kostet 30 bis 40 Millionen Euro, einen IT-Angriff aus dem Iran zu simulieren und damit möglicherweise einen Krieg zu provozieren“, sagt Sandro Gaycken, Sicherheitsforscher an der FU Berlin. Das Verschleiern gehört zum Standardrepertoire von Nachrichtendiensten und macht 80 bis 90 Prozent der Arbeit bei einer Cyberattacke aus, schätzt er. Lesen Sie weiter, warum ein kleines Programm ganze Staatsnetze lahmlegen kann Tatsächlich gibt es keinen bekannten Fall, bei dem die Hintermänner identifiziert werden konnten. So wurde die gezielte Überlastung der Infrastruktur-Server in Estland 2007 zwar von Computern in Russland herbeigeführt, ob daran aber „nur“ Hacker saßen oder hinter ihnen staatliche Kräfte wie russische Geheimdienste standen, ließ sich nicht feststellen. Im Kaukasuskrieg um die abtrünnige georgische Provinz Südossetien im Jahre 2008 wurden georgische Regierungswebseiten lahm gelegt und gehackt. Auch hier blieb eine Zusammenarbeit zwischen nationalistischen Hackern, russischen Militärs und sogar der organisierten Kriminalität im Diffusen. Und hinter der 2010 entdeckten Stuxnet-Attacke auf die iranischen Atomanlagen vermuten zwar viele die Täter in den USA und Israel, geklärt konnte das aber nicht werden. Schöne Zeiten also für aggressive Staaten: Die IT-Offensiven kosten weit weniger als das Aufrüsten mit konventionellen Waffen und Armeen. Somit könnten selbst Entwicklungsländer militärisch weit überlegene Gegner angreifen. Zudem kann man seine digitalen Spuren verwischen und so das Risiko von Gegenschlägen verringern. Das Pentagon hat zwar vor Monaten schwere IT-Sabotageakte gegen amerikanische Computersysteme als Kriegsgrund eingestuft, was prinzipiell die Vergeltung mit militärischer Gewalt ermöglicht, aber die Problematik dieser Strategie ist der US-Regierung bewusst, insbesondere wenn der Aggressor nicht hieb- und stichfest ermittelt werden kann. Nachdem die herkömmlichen Abschreckungsmittel wenig effektiv sind, müssen sich die Staaten daher darauf konzentrieren, ihre kritischen Infrastrukturen besser zu schützen. Gerade im Fall der USA rächt sich, dass sie beim Aufbau dieser IT-Netzwerke die Bedeutung der Sicherheit zu lange unterschätzt hat. Lebenswichtige Systeme wie zum Beispiel die Energienetze sind zudem zu offen für jedermann durch das Internet erreichbar. Die dadurch entstandenen Sicherheitslecks sind nur schwer zu stopfen. „Die USA könnte sich besser schützen, aber das käme sehr teuer, zum Beispiel durch den Kauf zusätzlicher Rechner“, sagt Gaycken. Geld, das ihr heute bei einer Staatsverschuldung von über zehn Billionen Euro fehlt. Neben den inhärenten Verwundbarkeiten der Systeme erhöhen die immer ausgefeilteren Angriffe die Cyberrisiken. Technisch sind sie weit anspruchsvoller als die bisher gängigen Distributed Denial of Server (DDoS)-Attacken, die zum Beispiel in Estland und Georgien Webseiten lahm gelegt haben. Die komplexeste Variante, die bekannt wurde, war Stuxnet. Das Schadprogramm war in der Lage, Steuerungssysteme von Industrieanlagen zu sabotieren. Viren, Würmer, Trojaner, andere Schadsoftware und die Kombination dieser Programme machen vielfältige Manipulationen, Spionage- und Sabotageakte möglich. Oft reicht schon das Einschmuggeln eines USB-Sticks, um zum Beispiel Systeme zu penetrieren, die vom Internet abgeschirmt sind und daher vor Webangriffen sicher sind. Larry Clinton fordert zum Schutz ein ganzes Maßnahmenbündel. Sicherheit müsse generell als wichtiges Ziel in politische, wirtschaftliche und technische Konzepte integriert werden. Als Beispiel nennt er finanzielle Anreize: „Software-Entwickler sollten dafür bezahlt werden, dass sie ihre Produkte sicherer machen.“ Beim nötigen Umdenkprozess setzt er nicht auf staatliche Regulierung, sondern auf interaktive Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Industrien. Der Staat solle im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften (PPPs) im Verbund mit der Wirtschaft die kritischen Infrastrukturen robuster machen. Kooperation statt Vergeltung – die Verteidigungsstrategien sind wahrlich im Wandel.
Die Fiktion aus dem Jahr 1982 ist Realität. Industrieanlagen, Kriegsgerät und staatliche Informationsdienste – alles hängt am Netz und ist potentiell angreifbar. Israel schickt bereits Viren in den Krieg gegen das iranische Atomprogramm. Werden bald auch Hacker Zugriff auf die elektronische Kampfführung haben?
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außenpolitik
2011-12-16T09:29:48+0100
2011-12-16T09:29:48+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/das-ende-der-militaerischen-abschreckung/47680
US-Wahlsystem – Weniger Überwachung gleich weniger Wähler
Noch 38 Tage – und am 6. November wählen die USA ihren Präsidenten: Cicero-Online-Korrespondent Malte Lehming berichtet zu diesem Anlass in einem Countdown über besondere Ereignisse und Kuriositäten während des Wahlkampfs. Ein Blick zurück: Am 6. Januar 1938 erlassen die Nationalsozialisten die Reichsmeldeordnung. Damit wird erstmals das Meldewesen innerhalb des Deutschen Reiches festgelegt. Ab diesem Datum unterliegt jede Person, die sich auf dessen Gebiet aufhält, der Meldepflicht. Zuwiderhandlung wird bestraft. Zusammen mit dem Gesetz über Pass, Ausländerpolizei, Meldewesen und Ausweiswesen (11. Mai 1937) und ergänzt durch den Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 10. April 1938, wonach die Meldebehörden ihre Informationen anderen Behörden zur Verfügung stellen müssen, entsteht ein System, das sich perfekt für zwei Ziele eignet: erstens für die Verfolgung bestimmter Gruppen, zweitens für die Mobilmachung und Wehrerfassung. Ohne das strikte deutsche Meldewesen hätten Juden, Sinti und Roma eine größere Chance gehabt, nicht aufgespürt und ermordet zu werden. Amerika ist da anders. Weder gibt es eine Meldepflicht noch ein Einwohnermeldeamt. Man kann den Führerschein als Ausweis benutzen, aber den bekommen auch Ausländer. Ein Reisepass wird bei der Post beantragt. Soll der Staat wissen dürfen, wo man wohnt? Viele Amerikaner verneinen das, auch mit Blick auf die illegalen Einwanderer, von denen die meisten über die mexikanische Grenze kommen. Weil es keine Meldepflicht gibt, müssen sich Wahlberechtigte registrieren lassen. Das aufwändige Verfahren schreckt manche jedoch ab. Nur etwa Dreiviertel der Amerikaner machen davon Gebrauch. Auch das erklärt die relativ geringe Wahlbeteiligung, die nur selten die 60-Prozent-Marke übersteigt. Wer sich bis zum 9. Oktober nicht registrieren lässt, darf in den meisten Bundesstaaten am 6. November nicht wählen. Bis dahin könnte das Rennen ohnehin schon gelaufen sein. Denn der Trend geht zur Briefwahl. Vor vier Jahren gaben bereits 33 Prozent der Wähler vorzeitig ihre Stimme ab, diesmal rechnen Beobachter mit bis zu 40 Prozent – in einigen womöglich wahlentscheidenden „swing states“ wie Florida und North Carolina gar mit 80 Prozent. Mit anderen Worten: An jedem Tag verbessern sich schon jetzt die Siegchancen des Kandidaten, der in Umfragen vorne liegt, in diesem Fall also von Barack Obama. Mitt Romney sitzt die Zeit im Nacken. In Amerikas Wahlsystem triumphiert die Tradition über demokratisch gesinnten Pragmatismus. Gewählt wird am ersten Dienstag nach dem 2. November. Das hat Handels-, Ernte- und christliche Gründe. Der Sonntag schied aus Respekt vor religiösen Empfindungen aus. Das System der Wahlmänner resultiert aus einem Misstrauen gegenüber den „irrationalen Leidenschaften des Volkes“. Zuständig für die Organisation der Wahlen wiederum sind die einzelnen Bundesstaaten, nicht die Bundesregierung als solche. In einigen Staaten wird per Touchscreen an digitalen Rechnern gewählt, in anderen noch mit Bleistift und Zettel. Seit dem Debakel von Florida im Jahre 2000 werden die Wahlen von einer Rechtsanwaltsarmada beider Parteien beobachtet. Mit Meldepflicht, einer stärkeren Zentralregierung und schwächer ausgeprägtem Traditionsbewusstsein würden in Amerika wahrscheinlich mehr Menschen zu Wahlen gehen. Und diese wären wohl transparenter und repräsentativer als bisher. Doch Amerika sträubt sich dagegen. Reformen, die nach Florida durch den „Help America Vote Act“ eingeführt wurden, blieben von Anspruch und Ausmaß her bescheiden. Der deutsche demokratische Hyperperfektionismus gilt in Amerika allenfalls als Ideal, nicht aber als zwingend notwendig. Man schaut auf eine sehr lange demokratische Tradition zurück, die durch nichts wirklich erschüttert werden konnte. Und nur gelassene Demokraten ertragen Anarchie und Imperfektion.
Amerika hat nie einen Hitler gehabt. Darum sind die Wahlen dort komplizierter, anarchischer und chaotischer als in Deutschland. Schadet das der Demokratie? Vielleicht weniger, als manche denken
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außenpolitik
2012-09-29T08:54:04+0200
2012-09-29T08:54:04+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/usa-wahlsystem-weniger-ueberwachung-gleich-weniger-waehler/52033
Gedanken zum Jahresanfang - Von Kugelblitzen und Lichtmaschinen
Sie sind unscheinbar, leuchten kurz auf und verschwinden gleich wieder. In wenigen Sekunden lassen sie uns die Entwicklung ganzer Jahre wissen. Es sind kleine Bilder, die uns wie Kugelblitze unverhofft besuchen. Jedoch sind sie, bevor wir sie entschlüsseln können, schnell wieder verschwunden. Jahre später erinnern wir dieses kurze Zucken, das uns das Kommende bereits wie in einer übereinander getürmt kryptischen Erzählung gezeigt hat - nur konnten wir es weder entschlüsseln noch rational erfassen. Während Physiker dem lange Zeit nicht einfangbaren Kugelblitz immer schärfer auf der Spur sind, wird das Phänomen der blitzartigen Klarsicht immer noch unterschätzt. Der Verstand hinkt der pfeilscharfen Intuition hinterher wie eine Zielscheibe, die nicht weitreichend genug in der Zukunft aufgebaut wurde, um den rasenden Teilchenstrom auffangen zu können. Teilchen zu fangen ist nicht nur die Hauptbeschäftigung des CERN, sondern auch ein täglicher Vorgang in unserem Kopf. Es gibt fast nichts Wichtigeres, als zu versuchen, diese exakten kleinen Pfeilspitzen verstandesmäßig zu erfassen und zu entschlüsseln. Durch eine immer stärkere Ablenkung, die zunehmende Licht- und Luftverschmutzung, Lärm und Geschwindigkeit, verpassen wir leider zunehmend unsere eigenen Pfeile. Kurz gesagt, verfehlen wir uns permanent selbst. Viele dieser zeitgemäßen Verfehlungen werden erst wahrnehmbar, wenn es bereits zu spät ist. Dabei würde jedes Kind (Kinder haben ja dieses Teilchenfangtalent noch in unberührter spielerisch traumwandelnder Art inne), in so mancher Angelegenheit sagen, dass es doch klar war, vorhersehbar, vollkommen logisch. Die kindlichen Anteile nicht zu verlieren, den spielerischen Geist wachzuhalten und nicht zu schnell in alte Gewohnheitsmechanismen zu verfallen, ist die Chance, die uns am Anfang des Jahres offen steht. Mit viel Geknall und Trara wird das Jahr begonnen. Meist landet man schon eine Woche später in einer Art Morast aus  zerfetzten Knallkörpern und Matsch. Der Januarnebel und der ununterbrochen laufende Kaffeemaschinentakt geben dem Jahresanfang dann den Rest. Für Intuition, geistige Elastizität oder gar innere Kugelblitzbeobachtungen bleibt wenig Zeit. Das überlässt man lieber internationalen Spezialisten. Der alltägliche Bereich bleibt auf der Ebene eines Flachbildschirms stecken. Kein Wunder, dass sich die Werbung für Hörgeräte bereits auf junge Menschen spezialisiert hat. Wir stumpfen ab. „Ich fühle Luft von anderem Planeten“, schrieb der Dichter Stefan George in seinem Gedicht „Entrückung“. Georges Gedicht endet mit den Versen „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer/ Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“. Arnold Schönberg übernahm den Text für sein zweites Streichquartett, das ein Werk der musikgeschichtlichen Schwelle werden sollte.  Ganz so dramatisch und prophetisch muss die Jahreswende dann auch nicht beginnen. Dennoch ist jede Jahreswende eine Schwelle, die wir vorsichtig überschreiten. Keiner weiß, was das Jahr prägen wird. Wir tapsen im Nebel ungeahnter Phänomene und geben uns dabei siegesbewusst stabil. Für das Erkennen von Kugelblitzen braucht es nicht unbedingt die Luft anderer Planeten. Der Plasmaphysiker Gerd Fußmann von der Berliner Humboldt Universität füllte bereits 2008 ein Gefäß mit Wasser und setzte zwei Elektroden mit einer Spannung von 5 kV an. Für den Bruchteil einer Sekunde entstand ein Gebilde, das sich als Kugelblitz deuten ließ. Es braucht kein großes Geknalle, kein Riesenfeuerwerk und auch keine Lichtmaschine, um einfache Signale einzufangen. Eine spannungsgeladene Wasserpfütze genügt. Wie das Jahr wird, hängt an vielen Wasserpfützenblitzen.
Sabine Bergk
Kolumne: Morgens um halb sechs. Am Jahresanfang sind die Antennen besonders gespannt. Dennoch sind Entwicklungen oft schwer vorhersehbar. Kleine Signale, die richtungsweisend sein könnten, werden oftmals überhört
[ "Intuition", "Jahreswechsel", "Spiritualität", "Kugelblitz" ]
kultur
2018-01-12T15:49:37+0100
2018-01-12T15:49:37+0100
https://www.cicero.de//kultur/jahresangang-jahreswechsel-kugelblitz-intuition-neubeginn
Wiederöffnung von Bühnen - Warten auf Erlösung
Die ohnehin nervösen Künstlernerven liegen blank. Seit nun über einem Jahr tun Bühnenkünstler und wir anderen nicht mehr, was zum Leben selbstverständlich dazu zu gehören schien: zusammenkommen in einem Saal, zeigend und verführend dort, staunend und jubelnd hier. Wie gern würde man sich für die Rückkehr dieser Selbstverständlichkeit sogar wieder über den Sitznachbarn ärgern, der immer zu glauben scheint, die Armlehne gehöre ausschließlich zu seinem Sessel. Aber die „Öffnungsperspektive“ von Anfang März, ohnehin an komplizierte Bedingungen geknüpft, hat noch nicht den erleichterten Schwung des Wiederbeginns in die deutschen Bühnenhäuser getragen. Die wieder steigenden Infektionszahlen erhöhen die Unsicherheit. Nur zaghaft und vereinzelt, und flankiert von Arrangements für tagesaktuelle Schnelltests, werden in den nächsten Wochen Türen geöffnet werden. Und das, obwohl man längst weiß, wie vergleichsweise gering das Infektionsrisiko bei kulturellen Veranstaltungen mit Hygienekonzepten ist. Cicero beginnt in dieser fragilen Lage heute eine kleine Reihe mit persönlichen Bemerkungen von Bühnenkünstlern und Intendanten zur Lage ihrer Kunst in diesen Tagen. Wie sie dieses vergangene Jahr erlebt haben. Was mit ihrer Kunst geschehen ist. Was ihnen und uns fehlt, wenn das gemeinsame Erlebnis im Raum fehlt. Dass die Vorhänge jetzt wieder aufgehen müssen. Es beginnt heute Sasha Waltz, die große Choreographin, Tänzerin und Regisseurin, die mit ihrer Anfang der 90er Jahre in Berlin gegründeten Compagnie jetzt seit fast drei Jahrzehnten den internationalen Tanz mit prägt. „Aber wo sind sie? Wo blühn die Bekannten, die Kronen des Festes? […] Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater?“ Das schreibt Hölderlin in Stuttgart um 1800. In der nächsten Zeile spricht er vom Erscheinen Christus‘, dann auch von Dionysos, dem Gott des Weines. Diese Verbindung von Messias und Dionysos scheint mir interessant, denn bei beiden Figuren aus Religion und Mythologie geht es darum, über die Entgrenzung Erlösung zu erfahren. Seit fast einem Jahr nun beherrscht die Corona-Pandemie unser Leben. Vor einem Jahr begann der erste Lockdown, auch für die Kultur: Die Theater schlossen am 13. März 2020. An das Warten auf den Messias knüpft sich oft der Gedanke der Endzeit, aber auch die Erlösung. Damit verbindet sich meist nicht einfach der Anfang des Neuen, sondern Umsturz und Aufbruch. So erleben viele momentan die radikale Neuerfindung ihres Lebensalltags – allerdings nicht die Menschen, die in sorgenden Berufen arbeiten und in Berufen, die unsere täglichen Bedürfnisse bedienen: Sie erleben eine ganz andere Grenzerfahrung, arbeiten über ihre Kräfte und oft am Rande des Burnouts. Als Künstler stehen wir regelmäßig in unbestimmten neuen Perspektiven, müssen uns zu Problemen verhalten, die wir uns selbst stellen oder die Teil des prozesshaften Arbeitens sind, müssen sie lösen, integrieren, transformieren, annehmen. Die erste Periode der Pandemie habe ich daher als Aufatmen empfunden und als eine merkwürdig befreiende Zeit wahrgenommen, in krassem Gegensatz dazu, wie wir uns eigentlich als Gesellschaft fühlten, mit all den Einschränkungen und Verboten. Ich habe diese Notwendigkeit als Spielanleitung aufgefasst, neu mit unserem Leben umzugehen. Ich habe die Zeit genutzt für spontane Projekte, habe sie genutzt, die eigene Arbeit zu hinterfragen, neue choreographische Wege zu gehen unter Berücksichtigung der geltenden Abstandsregeln, Projekte zu erdenken, die es mir erlaubten, vor (wenig) Publikum zu tanzen: Aufführungen unter freiem Himmel, Hybride zwischen Innen und Außen; aber auch Filme auf ARTE Concert und YouTube. Diese neue, kurzfristigere, suchende Form des Arbeitens hatte auch unerwartet positive Effekte: Es ergaben sich spontane, unerwartete Begegnungen mit Künstlern, die sonst viel zu verplant waren für gemeinsame Projekte. Und durch Livestreams erreichten wir plötzlich nicht mehr ‚nur‘ 500 Menschen, die sich entschieden haben für ein Ticket zu unserem Stück, sondern über 1000 in der ganzen Welt verstreut zwischen Mexico City und Maputo. Im zweiten Lockdown und ein Jahr später geht die Situation aber zunehmend an die Substanz. Viele Menschen arbeiten ohne Pause, ohne Abgrenzung, ein Zoom-Meeting jagt das nächste. Es gibt keine Trennung mehr von Arbeits- und Privatraum. Es gibt keine langfristige Perspektive. Wir hoffen, dass uns die Impfkampagne Stück für Stück unsere Freiheit zurückgeben wird. Aber wir wissen es nicht. Und wo bleiben Freundschaft, neue Begegnungen, Feste feiern, das Leben spüren? Wir kommen als Kollektiv nicht mehr zusammen, es fehlen kathartische Momente der Gemeinschaft, wie sie im Theater möglich sind. Viele Freunde, die als Künstler oder im Einzelhandel erfolgreich waren, sind heute existenziell bedroht, obwohl es in Deutschland noch großzügige Unterstützung gibt. Auch wir als Compagnie spüren natürlich die Folgen der Pandemie: 2020 wurden Gastspielreisen und Vorstellungen bis auf wenige abgesagt und wir wissen nicht, ob wir jemals wieder wie früher reisen können. Wir halten uns über Wasser mit Kurzarbeit und Livestreams. Wir arbeiten mit einem strengen Hygienekonzept weiter. Wir fangen neu an, mit reduzierten Mitteln. Wir finden kreative Lösungen, uns auch über Grenzen hinweg virtuell zu begegnen und gemeinsam zu arbeiten. Für meine neue Performance „In C“ auf der musikalischen Grundlage von Terry Rileys bahnbrechender Komposition von 1964 habe ich eine Tänzerin via Zoom aus ihrem Studio in Italien zu mir ins Studio in Berlin geholt, um gemeinsam zu proben. Wir haben „In C“ mitten in der aktuellen Situation Anfang März via Livestream zur online-Premiere gebracht. Es ist ein farbenfrohes Stück voller positiver Energie, Lebensfreude und Leichtigkeit – etwas, das wir gerade besonders brauchen. Das Stück lässt den Tänzern und Musikern in seiner Struktur viel Freiräume, über denen das Ganze aber nicht aus dem Blick verloren werden darf. Es geht darum auszuloten, wie viel Freiräume ich mir als Individuum nehmen kann, ohne die Gruppe zu gefährden. Damit ist es indirekt auch ein Stück über unsere aktuelle Situation. Nur: Wann können wir unsere Arbeit wieder LIVE mit der Öffentlichkeit teilen? Das ist auch ein Dilemma für uns Künstler: Ja, wir wollen wieder vor Publikum spielen, mit Menschen in einem Theater-Raum ein kultisches Fest feiern. Aber natürlich wollen wir damit niemanden gefährden. Dürfen wir Künstler uns so wichtig nehmen, dass wir eine Öffnung von Kunst- und Kultureinrichtungen fordern? Studien belegen inzwischen, dass das Infektionsgeschehen im Theater oder Konzertsaal, falls es eine gute Belüftungsanlage gibt, bei 0,5 liegt – weniger Ansteckungsgefahr als im Supermarkt oder im öffentlichen Nahverkehr. Letztlich fehlt Kunst- und Kultur für die Forderung einer Öffnungsperspektive auch eine Lobby, es wird in der öffentlichen Debatte um Wege aus dem Lockdown eigentlich nicht mehr über uns gesprochen. Kunst und Kultur werden der Freizeit zugeordnet, gelten als nicht systemrelevant. Dabei sind sie ein tragendes Element, ein wichtiges Bindeglied in unserer Gesellschaft. Im Theater, Konzert oder Tanz ist die Erfahrung von Gemeinschaft möglich. Theater sind öffentliche Räume, die für das Kollektiv von großer Bedeutung sind. Ebenso wie Gottesdienste. Waren die ersten kultischen Tänze nicht auch Gottesdienste? Das gemeinschaftliche Erleben erhöhte sich um eine transzendente Erfahrung, dort nahm das Theater den Anfang. Wo sind diese Erfahrungen jetzt? Der erhebende Moment des gemeinsamen Atmens in einem Theater, das damit verbundene kollektive und bewusste Erleben des Augenblicks, hat sich verkehrt in die Wahrnehmung einer Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit. Wir sind zurückgeworfen ins Private, das bedeutet für viele auch in totale Einsamkeit. Ich unterstütze den Lockdown und möchte durch meine Kunst kein Menschenleben gefährden. Aber vielleicht gibt es eine Lösung zwischen kompletter Schließung und totaler Öffnung. Wir brauchen etwas Mut trotz Vorsicht, ein bisschen mehr Flexibilität, leichte Bewegung, eine Perspektive. Wir müssen den Blick vorsichtig und verantwortlich in die Zukunft richten. Sonst halten wir gemeinsam den Atem an, erstarren nicht nur als Künstler, sondern als Gesellschaft, und verharren vereinzelt im Warten auf die Erlösung. „In C“ ist auf der Homepage von Sasha Waltz & Guests noch bis zum 5. April abrufbar.
Sasha Waltz
Seit einem Jahr findet auf deutschen Theaterbühnen so gut wie kein Programm statt. Jetzt gibt es erste Chancen auf Wiedereröffnung. Warum das höchste Zeit ist, darüber schreiben in einer kleinen „Cicero“-Serie namhafte Bühnenkünstler und Intendanten. Den Auftakt macht Sasha Waltz
[ "Tanztheater", "Sasha Waltz", "Lockdown" ]
kultur
2021-03-19T12:43:10+0100
2021-03-19T12:43:10+0100
https://www.cicero.de/kultur/theateroeffnungen-sashawaltz-lockdown-corona
Doktorandenvertreter - „Schavan ist als Ministerin nicht mehr tragbar”
Herr Dr. Weiss, die Universität Düsseldorf hat Bundesministerin Schavan den Doktortitel aberkannt. Einige Wissenschaftler sind jedoch der Meinung, die Zitierfehler würden eine Aberkennung nicht rechtfertigen. Wie bewerten Sie den Fall? Ich kann diese Aussagen nicht nachvollziehen. Aus heutiger Sicht sind die gefundenen Stellen hochproblematisch. Punkt! Darüber muss man gar nicht diskutieren. An vielen Stellen wurden Fremdquellen einfach nur umgeschrieben und nicht einmal erwähnt. Das ist ein klassisches Zeichen. Aus heutiger Sicht handelt es sich um ein Plagiat. Galten denn vor dreißig Jahren andere Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens? Ich war vor 30 Jahren fünf und kein Erziehungswissenschaftler. Daher kann ich das selbst nicht beurteilen und mich nur auf Aussagen anderer Wissenschaftler beziehen. Es gibt Kollegen, die sagen, dass die Richtlinien für das wissenschaftliche Arbeiten seit 200 Jahren klar sind. Andere sagen, dass vor dreißig Jahren noch andere Maßstäbe galten. Ich finde es sehr gut, dass jetzt der Leitfaden mit damaligen Zitierregeln aufgetaucht ist, bei dem Schavans Doktorvater Mitherausgeber war. Das hat klar gemacht, dass es ihr bekannt gewesen sein müsste, wie ordnungsgemäße Zitation aussieht. Bei dieser Faktenlage war die Aberkennung des Doktortitels also unumgänglich? Bei dem eingeleiteten Verfahren ist sie auf jeden Fall folgerichtig. Das Gutachten, die Zitierregeln und das Fehlen einer klaren Erklärung von Frau Schavan lassen keine andere Entscheidung zu. Frau Schavan hatte sich im Fall Guttenberg noch sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Als jemand, der selbst promoviert hätte, schäme sie sich. Nun wurde ihr selbst der Doktor aberkannt. Was unterscheidet die beiden Fälle? Bei Guttenberg war es sehr einfach. Wenn ich meine Einleitung und andere Teile meiner Arbeit eins zu eins aus einer großen Tageszeitung abschreibe, ist das, als wenn ich mit einem Fernseher unter dem Arm an der Kasse vorbei spaziere und draußen steht die Polizei. Auf frischer Tat ertappt. Wenn es nur Indizien gibt, ist es natürlich schwerer, ein Vergehen nachzuweisen. Das ist vor Gericht aber trotzdem gang und gäbe. Da Schavan sich zu den Vorwürfen kaum geäußert hat, sind ihre Beweggründe völlig unbekannt. [gallery:Ohne Dr. lebt sich's besser] Hätte Frau Schavan den Schaden mit einer besseren Kommunikationspolitik begrenzen können? Die Kommunikationspolitik ist für eine Wissenschaftsministerin katastrophal. Als die Vorwürfe das erste Mal bekannt wurden, kamen diese von einer anonymen Person. Daraufhin forderte sie, dass sich der Betreffende erst einmal outen solle, da sie sich mit anonymen Vorwürfen nicht beschäftigt. Das zeugt in meinen Augen von einem tiefen Unverständnis des Wissenschaftssystems, das mich geradezu schockiert hat. Wenn es sich bei der anonymen Person um einen Wissenschaftler handelt und der gibt sich zu erkennen, ist die wissenschaftliche Karriere danach doch vorbei. Derjenige befindet sich in einer deutlich schlechteren Position als sie und riskiert seine Existenz. Frau Schavan scheint eine Vorstellung vom Wissenschaftssystem zu haben, die mit der Realität nichts zu tun hat. nächste Seite: „Dreiste Plagiate sind recht selten” Wie wirkt sich die Aberkennung der Doktorwürde auf Schavans Glaubwürdigkeit in der Wissenschaft aus? Ist sie als Ministerin überhaupt noch zumutbar? Allein aufgrund der Kommunikationsstrategie ist sie für mich als Wissenschaftsministerin nicht mehr tragbar. Außerdem geht es hier um Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens wie Zitation und geistiges Eigentum. Wenn ich dazu als zuständige Ministerin nichts sage und mich nicht einmal rechtfertige, kann ich nicht im Amt bleiben. Selbst ohne Entzug des Doktortitels gibt es da schon genug Gründe. Spätestens seit der Aberkennung des Doktortitels sollte sie jedoch auch politisch nicht mehr vermittelbar sein. [gallery:Kleine Bildergeschichte der Minister-Rücktritte aus 63 Jahren Bundesrepublik] Es gab in den vergangenen Jahren einige prominente Plagiatsfälle. Wie groß ist das Ausmaß an Plagiaten abseits der öffentlich bekannten Fälle? Die statistische Datenlage im Bereich der Promotionen ist eine Katastrophe. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Personen in Deutschland promovieren. Daher gibt es auch für Plagiate höchstens grobe Schätzungen. Ich glaube, dass man in vielen Doktorarbeiten ein kleines Haar in der Suppe finden kann, was aber nichts mit Plagiaten zu tun haben muss. Dreiste Plagiate sind meiner Meinung nach recht selten, da diese meist schon vorher auffliegen. Das System der Promotionsprüfung lässt in der momentanen Form aber immer noch genug Lücken. Sollte man das System der Promotionsprüfung dann nicht überdenken? Das Thema Qualitätssicherung in der Promotion war früher nicht existent. Nun gibt es dazu zahlreiche Konferenzen und eine große Diskussion. Dann haben die prominenten Fälle der letzten Jahre in der Wissenschaft ja doch etwas Positives bewirkt. Natürlich. Allein, dass die Diskussion in Gange ist, ist schon positiv. Das wird jedoch von der Öffentlichkeit kaum bemerkt. Intern ist das aber ein großes Thema. Rechnen Sie denn mit weiteren prominenten Plagiatsfällen? Nach dem Rücktritt von Guttenberg hätte ich gesagt, dass sich das Problem in engen Grenzen halten wird. Bei der Masse an Fällen, vor allem im politischen Bereich, die wir in den vergangenen Jahren gesehen haben, gehe ich aber davon aus, dass da noch mehr kommen wird. Die prominentesten Beispiele sind damit wahrscheinlich abgehandelt, da wird aber sicherlich weiter gegraben werden. Herr Dr. Weiss, vielen Dank für das Gespräch. Dr. Norman Weiss ist Bundesvorsitzender von THESIS, einem interdisziplinären Netzwerk für Promovierende und Promovierte. Seit Februar 2010 ist er Dekanatsgeschäftsführer des Fachbereiches Mathematik, Naturwissenschaften, Wirtschaft und Informatik der Universität Hildesheim. Das Gespräch führte Julian Graeber. Fotos: picture alliance, Petra Coddington (Porträt) ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
Julian Graeber
Annette Schavan ohne Doktortitel: Im Gespräch mit Cicero Online erkärt der Vorsitzende des Promovierendennetzwerkes „Thesis“ Dr. Norman Weiss, warum die Bundesbildungsministerin nun zurücktreten sollte und was sich in der Wissenschaft ändern muss
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innenpolitik
2013-02-06T15:47:47+0100
2013-02-06T15:47:47+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/schavan-ist-als-ministerin-nicht-mehr-tragbar/53430
Chantal, Kevin, Hannah – Wie aus Namen Menschen werden
Jetzt wird es langsam eng. Mir fehlt die Zeit für klare Gedanken, eine Kolumne soll her. In meinem Kopf aber schwirren nur Namen herum. Lotte, Liese oder Leah? Hannah oder Hedwig? Ida, Isa, Isi? Das Thema Namensgebung ist brisant, entscheidet sich hier doch so vieles. Der errechnete Entbindungstermin ist verstrichen und mit jedem Tag, den er näher rückte, wurde ich unsicherer mit der bereits getroffenen Entscheidung für den Namen unserer zweiten Tochter. Ist er zu aristokratisch, wie meine Tante gerade anmerkte? Was sage ich dem Onkel, der bereits im Vorfeld verlautbaren ließ, dass er diesen Namen niemals würde aussprechen können und der sich bereits einen Alternativ-Namen für das Kind ausgesucht hat? Ganz zu schweigen von den vielsagenden und dabei wortlosen Blicken jener, die im Vorfeld eingeweiht wurden? Meine Altersgruppe ist auch ohne Kinder schon gebeutelt durch die Maßlosigkeit der Entscheidungsmöglichkeiten. Wir werden als Generation Maybe gescholten, die Vielleicht-Sager. Das liegt unter anderem daran, dass alle gängigen Ideologien hoffnungslos verbraucht sind, den Problemen der Welt – Klima, Finanzmärkten, kriegerischen Konflikten – haben selbst die mächtigen Staatenlenker und ihre weisen Experten keine Lösungsansätze entgegenzusetzen. Wir seien „mit Freiheit beschenkt und von Freiheit getrieben“, schreibt Felix Kartte in der taz, dabei zeichne uns dieses Zweifeln, dieses Nicht-Entscheiden-Wollen auch gerade aus. Ist es da ein Wunder, dass sich diese Generation schwer tut in Sachen Namensgebung ihrer Kinder? Gerade haben wir uns nach jahrelanger Suche eingerichtet in unserem Leben, haben uns – fürs Erste zumindest – entschieden für ein Land, eine Stadt, einen Bezirk, einen Partner, einen Job, da stellt uns der Nachwuchs vor den erneuten Entscheidungszwang. Uns, die wir doch so gerne das Leben im Provisorium vollführen, es täglich predigen, auch weil der Arbeitsmarkt keine anderen Chancen zulässt. Wir sollen uns plötzlich entscheiden. Für ein ganzes Leben. Und noch nicht einmal für uns selbst! Kein Wunder, dass Folke Mitzlaff, ein junger Informatiker aus Kassel, nichts Besseres zu tun hatte, als eine Online-Plattform wie Nameling.net zu gründen, als er Gefahr lief, sich auf der Suche nach einem Namen für seine Tochter zu verrennen. Die neue Plattform soll werdenden Eltern helfen, mit wissenschaftlichen Mitteln den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext eines Namens zu erfassen und so weitere passende Vorschläge zu ermitteln, die den Suchenden helfen können. Nach dem Prinzip, „Wem Erwin gefällt, der mag auch Fritz und Oskar“, schlägt Nameling immer weitere Namen vor. Die Frage der Namensgebung erlegt den werdenden Eltern einen immensen Druck auf, der durch die neusten Studien zum Thema Kevinismus und Chantalismus noch erhöht wird. Denn nicht nur Lehrer und Personaler lassen sich von ihrem Schubladendenken leiten und vergeben schlechte Noten, beziehungsweise Absagen aufgrund des falschen Namens, wie schon seit Jahren gewarnt wird. Forscher der Humboldt-Universität in Berlin haben nun auch noch die Statistiken der Dating-Portale auseinander genommen und ermittelt: Das Profil eines Alexanders wird doppelt so häufig aufgerufen wie das von Kevin, auch wenn daneben nur noch das Alter und der Wohnort angegeben wurden. Ähnlich war es für Mandy und Chantal, im Vergleich zu Hannah und Charlotte. Welchen Rücklauf Rambo Ramon Rainer bei einem Dating-Portal zu erwarten hätte, kann man sich aufgrund der Daten nun selber denken. Nicht nur Schullaufbahn und Karriere verpfuschen wir unseren Kindern also mit der falschen Entscheidung. Nein, auch noch das Liebesleben unserer gebeutelten Nachfahren haben wir auf dem Gewissen, wenn wir heute die falsche Entscheidung treffen. Aber woher weiß ich, dass eine Henriette nicht eines Tages einen Amoklauf begeht? Oder dass wir eine dumpfbackige Ministerin mit Namen Thea bekommen, wenn unsere Tochter ihren ersten Job antreten will? Eine Entscheidung muss her, bevor das Kind überhaupt da ist. Bevor ich weiß, welche Fächer ihr in der Schule gefallen, welches Hobby sie sich erwählt, welche Freunde. Ob sie lieber auf Bäume klettert oder Puppenbetten im Moos baut? Am besten wäre es vielleicht, den Schubladendenkern ein Schnippchen zu schlagen. Das würde für einen besonders seltenen Namen sprechen. Einen, der alle Personalabteilungsleiter, Lehrer und Dating-Börsen-Besucher in die Irre führt. Zofia? Kirara? Oder Litonya? Auf, auf jetzt. Es bleiben vielleicht noch ein paar Stunden, um einen Namen zu finden, der ihr das Leben rettet.
Unsere hochschwangere Kolumnistin Marie Amrhein zerbricht sich den Kopf kurz vor der Geburt ihrer Tochter. Ein Name muss her. Eine undankbar schöne Aufgabe, die doch ein ganzes Leben mitentscheiden kann
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kultur
2012-04-13T11:16:52+0200
2012-04-13T11:16:52+0200
https://www.cicero.de//kultur/wie-aus-namen-menschen-werden/48953
Budapester Demografie-Konferenz - Der Westen soll wieder mehr Kinder bekommen
Bereits zum dritten Mal trafen sich in Ungarns Hauptstadt Budapest Soziologen, Demografen und Politiker zu einem zweitägigen „Demografiegipfel“. Hintergrund ist, dass Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán die demografische Frage zum überragenden strategischen Schwerpunkt seiner Politik erklärt hat. Denn nur wenn man in Ungarn und allgemein in der westlichen Welt wieder mehr Kinder bekomme, so meint er, könne man in der Wirtschaft besser auf Migration verzichten und den ungarischen oder europäischen Charakter der Gesellschaft wahren. Und so gibt die ungarische Regierung derzeit einen höheren Anteil des Bruttosozialproduktes für die Familienpolitik aus als jedes andere Land in der EU – etwa 4,5 Prozent. Baukindergeld, Zuschüsse zum Autokauf, Steuerermäßigungen, billige Startkredite für Jungvermählte, die dann gar nicht zurückgezahlt werden müssen, wenn Kinder geboren werden. Mit Konferenzen wie dem „Demografiegipfel“ will Orbán aber auch international eine Debatte anstoßen und Ungarn zum intellektuellen Treffpunkt konservativer Denker und Entscheider machen. Es sollen Pflöcke eingeschlagen werden in der Debatte um die Werte des Westens: Die Stärkung der klassischen Familie und der Kampf für neuen Kindersegen werden als Gegenstrategie aufgebaut. Es geht gegen die Klimaschutzbewegung, gegen eine migrationsfreundliche Linke und gegen das liberale Wertesystem als solches. Als Ehrengast kam Tony Abbott, der als Australiens Ministerpräsident (2013-2015) illegale Migration stoppte, wenngleich mit harten und durchaus umstrittenen Methoden. Tony Abbott formulierte sodann auf besonders scharfe Art und Weise einen konservativen Angriff gegen die Klimaschutzbewegung: „Nicht der Ausstoß von Kohlendioxid führt uns ins Verderben, sondern die Unfähigkeit, Kinder zu produzieren“, sagte Abbott. Er erwähnte Englands Prinz Harry, der mitgeteilt habe, seine Gemahlin Meghan Markle und er wollten nur zwei Kinder, weil das besser für das Klima sei. „Bei aller Liebe für für die königliche Familie“, sagte er darauf, so eine Haltung sorge dafür, „dass unsere Länder kleiner und schwächer werden“. Andere Länder wie China würden derweil größer und stärker. 1960, sagte Abbott, seien 7 der 20 bevölkerungsreichsten Länder westlich gewesen. Heute seien es nur noch drei. Diese „Schrumpfung des Westens“ ändere die Ordnung der Welt – zum Nachteil des Westens, dessen gesellschaftliches Gleichgewicht sich zusätzlich dadurch verschiebe, dass „wo immer im Westen überhaupt noch Bevölkerungswachstum stattfindet, ist es durch Einwanderung“. Und dann legte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nach: Wer die Menschheit wie Prinz Harry als Problem für die Natur darstelle, habe den Verstand verloren: „Die Menschheit ist Teil der Natur.“ Seiner Logik zufolge verlören den Kontakt zur Natur am ehesten jene Menschen, die keine Kinder zeugten, und nicht jene, die umweltverschmutzende Geländewagen führen. Auch Philip Blond, ein einflussreicher britischer Konservativer und Berater des damaligen Ministerpräsidenten David Cameron, machte  „liberale Werte“ für die Geburtenkrise des Westens verantwortlich und empfahl eine „moderne Retraditionalisierung“ der Gesellschaft: „Das Unliberalste, was man tun kann, ist, ein Kind in die Welt zu setzen. Denn das ist etwas, was man nicht aus Egoismus tut.“ Das liberale Wertesystem setze hingegen eine egoistische Selbstoptimierung des Individuums über alles. Eine konservative Werte-Revolution sei daher nötig, um aus der Krise zu kommen, meint Blond. Kinder gebären für den Westen – oder für das Vaterland: Solche Aussagen sorgten für Kritik, besonders als Ungarns Parlamentspräsident László Kövér Europas Kultur der Kinderlosigkeit als Kultur „des Todes“ bezeichnete, und dementsprechend Frauen und Paare, die bewusst keine Kinder wollen, zur „Seite des Todes“ rechnete. Auf Twitter und Facebook gab es dafür sofort einen Shitstorm. Kövér hat sich das freilich nicht selbst ausgedacht, es ist eine in kirchlichen Kreisen Ungarns seit langem übliche Formulierung für eine angeblich liberale Spaßgesellschaft, die Selbstverwirklichung über Kindersegen stelle. Eine andere Formulierung Kövérs, Kinder zu wagen sei nicht nur Privatsache, sondern eine Frage, von der auch das Gemeinwohl abhänge – das hatte schon Anklänge an Äußerungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, demzufolge Kinder gebären eine patriotische und religiöse Pflicht sei. Die eigentlich als Fachkonferenz angedachte Veranstaltung sollte Antworten suchen auf die durchaus drängende Frage: Kann Europa seine Geburtenkrise bewältigen und wie? Orban formulierte auch dazu eine klare inhaltliche und politisch geprägte Position: Es gehe, aber nur wenn die Steuer- und Sozialpolitik so radikal umgestellt würde, dass Familien materiell besser dastünden als Kinderlose, und wenn die Gesellschaft zu traditionellen Werten zurückkehre. Davon sei man aber seiner Meinung nach noch weit entfernt. Eher niedergeschlagen wirkte Serbiens Präsident Aleksandr Vucic, als er referierte, wie alle Maßnahmen in Serbien bisher eher erfolglos bleiben: Es gebe zwar neuerdings etwas mehr Eheschließungen, aber das Durchschnittsalter der Frauen liege bei über 31 Jahren. Bei den Geburten ändere sich kaum etwas. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis konnte dagegen von einer steigenden Geburtenrate in seinem Land „seit 2010“ berichten, sie liege nun bei 1,7 Kindern pro Frau. Erreicht habe man das unter anderem mit hohen Geldzuschüssen für Eltern, sagte er. Ein echter Höhepunkt der Konferenz war der Auftritt der nigerianischen Medizinerin und Aktivistin Obianuju Ekeocha mit einem Vortrag über „Ideologischen Neokolonialismus und Geburtenkontrolle“. Mit Statistiken belegte sie, dass der überragende Anteil aller Hilfsgelder westlicher Länder für Afrika anders als früher mittlerweile für Geburtenkontrolle statt für Gesundheit oder Bildung bestimmt ist. Sie vertrat den Standpunkt, Afrika sei nicht über-, sondern untervölkert. Denn es habe halb so viel Einwohner pro Quadratkilometer wie Europa. „Gutes Regieren“ brauche Afrika, um seine Bevölkerung zu ernähren, nicht weniger Kinder. Dazu gehöre auch ein Ende der Kinderehen – das sei viel wichtiger als Verhütungsmittel.
Boris Kálnoky
Wieder mal lud Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zum „Demografie-Gipfel“ nach Budapest. Es ging um die Frage, ob und wie Europa seine Geburtenkrise bewältigen kann. Die durchweg konservativen Lösungen lauteten: Förderung einheimischer Familien statt Migration
[ "Demografie", "Demografischer Wandel", "Ungarn", "Viktor Orban", "Migration", "Familie" ]
außenpolitik
2019-09-06T15:58:06+0200
2019-09-06T15:58:06+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/budapester-demografie-konferenz-viktor-orban-kinder-familie
Tony Blair - Der letzte britische Europäer
Woran denkt Tony Blair als Erstes, wenn er gefragt wird, was zwanzig Jahre nach seinem Regierungsantritt von seiner Arbeit geblieben ist? „Ich sehe natürlich älter aus“, sagt der ehemalige britische Premierminister, der in diesen Tagen seinen 64. Geburtstag feiert. Dann aber wird er gleich ernst: „Ich habe immer geglaubt, dass Großbritannien eine große Rolle in Europa spielen soll, deshalb ist der Brexit für mich eine sehr traurige Sache.“ Tony Blair hat ein paar Journalisten zum Frühstück geladen. Serviert wird kein „Full English Breakfast“ mit Rührei und gebackenen Bohnen, es gibt Croissants. Blair ist überzeugter Pro-Europäer, eine Rarität unter den Briten. In seiner Zeit als britischer Regierungschef von 1997 bis 2007 forcierte er die Osterweiterung der EU, unterzeichnete 1998 das Karfreitags-Abkommen in Nordirland und folgte US-Präsident George W. Bush 2003 in den Irak-Krieg. In der Innenpolitik setzte er auf Reformen und räumte in der Labour-Partei mit alten linken Dogmen auf. Der charismatische Blair riss damals nicht nur die Briten mit, sein „dritter Weg“ wurde auch auf dem europäischen Kontinent gefeiert. Die Trennung zwischen kommunistischem Osten und kapitalistischen Westen wurde in seiner Regierungszeit endgültig Geschichte. Heute muss er zusehen, wie seine Nachfolgerin Theresa May die Briten aus Europa herausführt. May will nicht bloß die EU verlassen, sie will auch die Mitgliedschaft im Europäischen Binnenmarkt und der Europäischen Zollunion aufgeben. „Den Binnenmarkt zu verlassen, ist per definitionem ein harter Brexit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ein Freihandelsabkommen aushandeln können, das uns die gleichen Vorteile wie die Mitgliedschaft bringt“, sagt Blair. Dass May all dies in Kauf nimmt, um die Einwanderung aus der EU zu beschränken, hält Blair für bedauerlich: „Wir können die EU-Einwanderer natürlich stoppen, doch das wird unsere Wirtschaft schädigen. Die Europäer, die wegen eines Jobangebots kommen, die brauchen wir. Die europäischen Studenten in unseren Universitäten? Die wollen wir auch. Und die Beerenpflücker, nehmen die den Briten die Arbeit weg? Nein, denn die Briten bewerben sich gar nicht für diese Jobs.“ Seine Kritiker geben ihm einen Teil der Schuld für die Austrittswut der Briten. Blair hatte als Regierungschef – anders als seine deutschen und österreichischen Kollegen – darauf verzichtet, für die neuen osteuropäischen Mitglieder im Jahre 2004 eine Übergangsfrist bei der Personenfreizügigkeit zu verhängen. Eine Million Polen kamen damals auf die britischen Inseln. Viele Briten haben sich davon bis heute nicht erholt. „Die meisten Europäer kamen viel später“, verteidigt sich Blair. Was ihn besonders schmerzt, ist, dass die beiden wichtigsten Errungenschaften der EU heute in Großbritannien so negativ gesehen werden: der gemeinsame Markt und die Osterweiterung. „In dieser Phase des wiedererwachenden russischen Nationalismus – wie stünden die osteuropäischen Staaten ohne die EU-Mitgliedschaft da?“ Auch das eigene Land sieht er durch den Brexit bedroht. Blair selbst hat Ende der neunziger Jahre dazu beigetragen, dass die IRA ihre Waffen niederlegt hat. Dieser fragile Frieden in Nordirland stehe jetzt auf dem Spiel, sagt er. „Bis jetzt waren Irland und Großbritannien immer entweder beide nicht in der EU oder beide in der EU. Wir hatten noch nie ein Land drinnen und ein Land draußen. Die neue Grenze stellt ein echtes Problem dar. Ich nehme aber an, dass Theresa May alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um eine Lösung zu finden.“ Ähnlich besorgt sieht er die Lage in Schottland: „Ich will das Vereinigte Königreich nicht zerbrechen sehen. Der Brexit erhöht natürlich den Druck. Heute kann man Schotte, Brite und EU-Bürger sein. Morgen werden nur noch zwei von drei Identitäten möglich sein.“ Gerade in dieser Phase, wo die Briten mit der EU ihre Zukunft aushandeln, bräuchte das Land eine starke Opposition, die der Regierung in den Arm fällt, sollte sie den härtesten Brexit forcieren. Das wünscht sich auch Mr. Blair. Doch wenn die Sprache auf Labour-Chef Jeremy Corbyn kommt, dann ist sein Vorgänger merklich zugeknöpft. Über Corbyn will er eigentlich überhaupt nicht sprechen. Der Retro-Linke mit sektiererischem Führungsstil steht für genau das Gegenteil von dem, was Blair für eine Mitte-Links-Partei einfordert. „1997 galt es, 2017 gilt es noch mehr: Die Welt verändert sich immer schneller, und die Linke muss mithalten. Sie muss sich ständig modernisieren. Nur wenn sie den Leuten die Zukunft erklären kann und Lösungen für die Herausforderungen der Globalisierung anbietet, dann können die progressiven Kräfte gewinnen. Mit konservativer Politik ist da nichts zu holen.“ Der frische Ton von Emmanuel Macron jenseits des Kanals gefällt ihm daher gut. Steht der Franzose Macron in Blairs Tradition eines businessfreundlichen, sozialliberalen Linkszentristen? „Macron steht für sich selbst. Macrons Wahl wäre gut für die EU. Er wäre ein Signal der Stabilität und gleichzeitig für Reformen.“ Macron aber hat auch angekündigt, hart mit den Briten verhandeln zu wollen. Blair glaubt, dass die Verhandlungen mit den bisherigen EU-Partnern sowieso hart werden. „Wir müssen uns einfach an die Fakten halten.“ Die Alternative zu Macron hält er für viel schlimmer: „Marine Le Pen will Frankreich aus dem Euro holen. Können Sie sich vorstellen, was in der Weltwirtschaft los wäre, wenn sie gewinnt?“ Es fällt Tony Blair merklich leichter, über die französische Innenpolitik zu reden als über die britische. „Wenn wir die Wahl haben zwischen einer harten Brexit-Partei und einer harten Linkspartei, werden viele Millionen Wähler heimatlos“, sagt er mit einem Seufzer. Eine neue Partei will er dennoch nicht gründen. Zumindest nicht jetzt im Wahlkampf. Da Theresa May weiß, wie schlimm es um die in sich zerstrittene und gelähmte Labour-Partei bestellt ist, hat sie zu Neuwahlen am 8. Juni aufgerufen. Den Linken droht eine fürchterliche Wahlniederlage, man spricht von einem möglichen Verlust von bis zu 50 der bisher 229 Parlamentssitze. Was Blair über Corbyn sagt, hört sich nur bedingt wie eine Wahlempfehlung an. „Ich wähle natürlich Labour. Ich finde auch die Position nicht schlecht, dass die Partei sagt: Die Regierung soll verhandeln und wenn wir das Ergebnis nicht gut finden, dann stimmen wir dagegen.“ Glaubt Tony Blair denn, dass die Briten den Brexit noch absagen könnten? „Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn am Ende der Verhandlungen mit der EU ein Deal steht, bei dem Britannien schlechter dasteht als jetzt, dann werden die Leute zögern, den Brexit durchzuziehen. Doch die meisten würden Ihnen sagen, dass ich nicht recht habe.“
Tessa Szyszkowitz
Die EU-Staatschefs haben die Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen gebilligt. Der ehemalige Premier Tony Blair hat energisch gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU gekämpft. Beim Frühstück erklärt er, wie es nun mit seinem Land weitergehen soll
[ "Tony Blair", "Brexit", "Brexit Verhandlungen", "EU", "Großbritannien", "Theresa May", "Jeremy Corbyn" ]
außenpolitik
2017-04-29T17:27:27+0200
2017-04-29T17:27:27+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/tony-blair-der-letzte-britische-europaeer
Revolution KFZ – Jedem das eigene Kennzeichen
Wieder hat eine friedliche Revolution Deutschland verändert. Wieder sind Tausende aufgestanden gegen ein Unrechtsregime. Statt „Wir sind das Volk“ hieß die Parole: „Freiheit für die Nummernschilder“! Am 1. November trat eine Novelle der Fahrzeugzulassungsverordnung in Kraft, die mehrere Nummernschilder in einem Landkreis zulässt. Endlich hat das tragische Schicksal von Buchstabenkombinationen ein Ende, die nur noch in entlegenen Landstrichen an Traktoren vor sich hin rosteten oder, wenn sie Glück hatten, von Oldtimer-Liebhabern auf Hochglanz poliert wurden. Mit den Gebietsreformen der 70er Jahre im Westen, mit der Wiedervereinigung im Osten waren AZE und DI, ERK und NT, QFT und SLÜ zu Entrechteten und Geknechteten geworden, zu „auslaufenden“ Kennzeichen, die noch galten, wenn sie an einem zugelassenen Auto hingen, die aber nicht mehr vergeben wurden. Wattenscheider durften nicht mehr stolz das WAT im Schilde führen, sondern mussten ein BO tragen: Bochum, ich komm aus Dir. Schwäbisch-Gmünder rückten mit dem Aalener AA weiter vor im Alphabet als mit ihrem GD. Am schlimmsten traf es die, die namenlos in einem Landkreis verschwanden, die Nördlinger (NÖ) im Donau-Ries-Kreis (DON) oder die Eisenhüttenstädter (EH) im Landkreis Oder-Spree (LOS). Ein einsamer Streiter setzte der Unterdrückung ein Ende: Ralf Bochert, der Che Guevara der Zulassungsstellen. Beim Erforschen des Strukturwandels in Völklingen stellte der Professor für Destinationsmanagement an der Hochschule Heilbronn fest, dass die Bewohner der alten Bergbaustadt großen Wert auf ihr eigenes Kennzeichen VK legten, obwohl der Rest des Regionalverbandes Saarbrücken ein SB auf den Autos trägt. Von Völklingen lernen, heißt siegen lernen, dachte sich Bochert und gründete die „Initiative Kennzeichenliberalisierung“. Kritiker finden, das Vorgehen des Professors entspreche nicht ganz den ehrwürdigen Regeln der althergebrachten Wissenschaft vom Destinationsmanagement. Seine Studie in Dutzenden Kommunen sei eine Kampagne, mosern sie, das sei schon daran zu erkennen, dass sie ein Ziel formuliere: mehrere Kennzeichen in einem Landkreis. Dass seine Erhebungen repräsentativ wären, behauptet Bochert gar nicht, es handele sich vielmehr um Stimmungsbilder. Seinen insgesamt rund 40.000 Befragten und der jeweiligen Lokalpresse führte der Professor gern eigens geprägte Exemplare des Kennzeichens vor, das sie sich wiederwünschen konnten. Und siehe da: Fast drei Viertel der Befragten sprachen sich für die Rückkehr der alten Regionalkürzel aus. Nächste Seite: Wer wünscht sich ein eigenes Kennzeichen? Manipulation? Ach was: Bochert traf einen Nerv. Zwei Drittel der deutschen Fahrzeuge haben ein Wunschkennzeichen – Menschen bezahlen, um ihre Initialen auf dem Nummernschild zu haben, ihr Hochzeitsdatum oder Neonazi-Zahlencodes. Also sind ihnen auch die ersten ein bis drei Buchstaben des Kennzeichens wichtig. Landkreise aber sind nüchterne Verwaltungseinheiten, mit denen sich kaum jemand identifiziert. Eher sind die historisch gewachsenen alten Kreisstädte und andere wichtige Oberzentren Bezugspunkte. Überschaubare Strukturen bieten Halt in unsicheren Zeiten, erinnern an eine vermeintlich bessere Vergangenheit. Jüngere Menschen, sagt Bochert, wünschten sich noch weit öfter das kommunale Kennzeichen als ältere. Das passt auch zur diagnostizierten Sehnsucht nach einer rosigeren Zeit bei jenen, die sie nicht erlebt haben. Das Magazin Landlust ist ja auch nicht wegen der vielen Menschen so erfolgreich, die in der Provinz aufgewachsen sind, sondern wegen derer, sie sich ein romantisches Bild davon malen. Die alten Kennzeichen könnten im Manufactum-Katalog stehen: Es gibt sie noch, die guten Schilder. Bochert rannte mit seiner Marketingstrategie offene Türen ein. Für Lokalzeitungen war sein Projekt ein gefundenes Fressen. Kommunalpolitiker waren froh, mal etwas für ihre Bürger tun zu dürfen, das nichts kostet, wenn schon das Schwimmbad schließt und die Hundesteuer steigt. Der Oberbürgermeister von Bingen, heißt es, habe sich schon sein neues Kennzeichen reservieren lassen: BIN-OB 1. Nur die Landkreise sind skeptisch. Sie fürchten um den mühsam aufgebauten Bezug ihrer Bürger zum Kreis und wittern erhöhten Verwaltungsaufwand. Tourismusforscher Bochert ist überzeugt, dass es Kommunen nutzt, wenn sie ein eigenes Kennzeichen haben. In Umfragen hätten seine Studenten Künzelsau für größer gehalten als Öhringen, obwohl es in Wirklichkeit umgekehrt ist – der Hohenlohekreis in Württemberg, in dem die beiden Metropolen liegen, hat das Kürzel KÜN. Diese gefühlte Größe, sagt Bochert, bedeute „Gravitation“: kein Touristenmagnet, aber das entscheidende Quäntchen bei Entscheidungen übers Einkaufen, die Freizeit oder auch den Wohnort. Die Kommunen kostet diese Werbung nichts. Der Autofahrer zahlt, was er ohnehin zahlen würde. Die Hersteller von Kennzeichen profitieren von jenen, die nicht erst am nächsten Auto ein anderes Schild wollen, sondern eigens zum Ummelden fahren. Bochert und die Uni Heilbronn sind ein gutes Stück bekannter geworden. Und alle sind glücklich. Welche andere Revolution könnte dieses Ende von sich behaupten?
Ralf Bochert hat in Deutschland eine friedliche Revolution angeführt. Er ist der Che Guevara der Zulassungsstellen. Vom Hochzeitsdatum bis zum Nazi-Zahlencode kann sich ein jeder nun sein Nummernschild basteln
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innenpolitik
2012-11-06T15:38:07+0100
2012-11-06T15:38:07+0100
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Hannelore Kraft - Merkels stärkste Gegenspielerin
Vorbilder? Hannelore Kraft schüttelt den Kopf. Mit großen Leitfiguren könne und wolle sie nicht dienen. Beobachte sie bei Politikern beispielhaftes Verhalten, dann übernehme sie das gerne. An erster Stelle nennt sie Johannes Rau. Seinen respekt- und verständnisvollen Umgang mit den Bürgern habe sie sehr geschätzt. Das Gleiche gelte für Kurt Beck. Von Peer Steinbrück habe sie gelernt, wie unterschiedliche Meinungen zu gewinnbringenden Diskussionen genutzt werden können. Steinbrück? Das demonstrative Lob überrascht. War er es nicht gewesen, der 2005 Hannelore Kraft als Landesvorsitzende verhindert hat? Irrtum, kontert die Ministerpräsidentin. Ganz in ihrem Sinne habe die SPD Nordrhein-Westfalen damals eine Arbeitsteilung vorgenommen: Landesvorsitz Jochen Dieckmann, Fraktionsvorsitz Hannelore Kraft. Die Botschaft ist klar: Versuche, einen Keil zwischen sie und den SPD-Kanzlerkandidaten zu treiben, sind zwecklos. Wir sitzen im Amtszimmer der Ministerpräsidentin. Düsseldorfer Stadttor, 10. Stock. Unter uns der Rhein und die eigenwillige Architektur des Hafenviertels. Bei unserem letzten längeren Zusammentreffen hatten wir noch höher gesessen. Das war im Sommer der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Wir flogen im Hubschrauber über die A 40. Die Autobahn war für das Projekt „Still-Leben“ von Dortmund bis Duisburg gesperrt, der Luftraum ebenfalls. Plötzlich schoss ein Leichtmetallflugzeug unter uns her. Sehr knapp. Sie hatte es nicht mitbekommen. Voller Freude betrachtete sie den Andrang der Millionen unter sich auf der Autobahn. [[nid:54455]] Auf den Beinahe-Zusammenstoß komme ich nicht zurück. Auch nicht auf Steinbrück. Das brächte nichts. Ihre Haltung ist klar. Sie wird den SPD-Kanzlerkandidaten mit vollem Einsatz unterstützen, aus Loyalität und auch aus Selbstschutz. Sie weiß: Falls Steinbrück aussteigen sollte, würden sich die Augen auf sie richten. Ihre Umfragewerte versetzen ihre Parteifreunde ins Träumen. Auch lang gediente Experten von Infratest Dimap geraten ins Staunen. Empathie, Emotionalität, Durchsetzungsvermögen, Führungsstärke, Kompetenz – für Wahlforscher bringt Hannelore Kraft die wichtigsten Kriterien mit, um auch für eine breite Bevölkerung über die Parteigrenzen hinweg wählbar zu sein. Und sie kann in den Augen der Wähler Koalition, meint man bei Infratest Dimap. Die Partnerschaft mit der ebenfalls selbstbewussten Sylvia Löhrmann von den Grünen scheint krisenfest zu sein. Unter der Führung der beiden Frauen wirkt die rot-grüne Zusammenarbeit in Düsseldorf harmonischer und effizienter als unter den Ministerpräsidenten Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück. Für viele SPD-Mitglieder sind das Gründe genug, jetzt schon mit Hannelore Kraft in die Wahlschlacht gegen Angela Merkel zu ziehen, zumal die Hauptthemen der Partei – Bildung und soziale Gerechtigkeit – besser auf sie als auf Peer Steinbrück passen. Aber sie sagt kategorisch Nein. Sie habe sich nicht zur Ministerpräsidentin wählen lassen, um gleich danach das nächste Amt anzustreben. Was sie angekündigt habe, wolle sie auch erledigen. „Hannelore Kraft wird nicht wie Gerhard Schröder an den Gittern des Bundeskanzleramts rütteln“, meint Sabine Scholt, stellvertretende WDR-Chefredakteurin und langjährige Beobachterin der Landespolitik. Sie glaubt nicht, dass die Mülheimerin nach Berlin gehen will; auch nicht 2017, wenn die übernächste Bundestagswahl ansteht. Sie brauche die Insignien einer Kanzlerkandidatur nicht. Bundespolitischen Einfluss habe sie jetzt schon reichlich – als Chefin des größten Bundeslands und neuerdings auch noch als Koordinatorin der SPD-Länder im Bundesrat. In dieser Doppeleigenschaft sei Kraft, sagt Sabine Scholt, gegenwärtig die stärkste Gegenspielerin der Kanzlerin. Nächste Seite: Mutti gegen Mutti Oliver Welke wollte es näher wissen. In seiner „Heute-Show“ im ZDF hat er Hannelore Kraft gefragt, ob 2017 ein Wahlkampf Mutti gegen Mutti zu erwarten sei. Peng! Die Replik kommt wie aus der Pistole geschossen. „Nein, dann ist die andere längst weg.“ In einem kurzen Satz hat sie einfach so die mächtigste Frau der Welt versenkt. [video:Hannelore Kraft in der „heute show“] Als wir uns in ihrem Amtszimmer gegenübersitzen, kommt mir die Antwort bei Welke in den Sinn. Wie ist nun das Verhältnis zu der anderen? Die Ministerpräsidentin sieht sich außerstande, der Bundeskanzlerin herausragende Noten zu geben. Sie sei zögerlich, gehe zu wenig voran und lasse einen klaren Kurs vermissen; vor allem in der Innenpolitik, aber auch in Europa. Dass Hannelore Kraft so entschieden gegen Angela Merkel antritt, sieht nach Arbeitsteilung in der SPD-Führung aus. Nachdem Gabriel, Steinbrück und Steinmeier sich vergeblich an der Bundeskanzlerin abgearbeitet haben, knöpft sich nun Kraft die Spitzenfrau der Union vor. Ihr Gesicht drückt wenig Freude aus, wenn sie mit Merkel verglichen wird. Die Kanzlerin verkörpere eine andere Art von Politik, sagt sie brüsk. Mit Merkels Politikstil könne sie nichts anfangen.Dabei gibt es in den Karrieren unbestreitbare Parallelen. Beide mussten sich in Männerwelten durchsetzen. Beide stürmten im Rekordtempo nach oben. Hannelore Kraft ging erst 1994 in die Politik. Sie trat in ihrer Heimatstadt Mülheim in die SPD ein. Kaum Mitglied, sah sie sich mit einem parteiinternen Papier konfrontiert, in dem gefragt wurde, was sich in der SPD ändern müsste, um nach verlorener Kommunalwahl wieder in die Erfolgsspur zu kommen. Von zehn Themenfeldern kreuzte sie acht an. Daraufhin saß sie, wie sie erzählt, in acht Arbeitsgruppen. Es sei hart gewesen, aber ein besseres Training hätte ihr nicht passieren können. So habe sie die Partei im Schnelldurchgang von Grund auf kennenlernen können. Sie wusste so gut Bescheid, dass sie bereits ein Jahr später in den Vorstand des Unterbezirks gewählt wurde. Mit gleicher Geschwindigkeit stieg sie im Landtag auf. Als Parlamentsneuling wurde sie Ministerin, erst für Bundes- und Europaangelegenheiten, dann für Wissenschaft und Forschung. Das kennzeichne Kraft, meint Theo Schumacher, langjähriger Korrespondent der NRZ in Düsseldorf. „Sie ist da, wo sie gebraucht wird. Immer zur richtigen Zeit für den richtigen Platz.“ In die Politik ist sie gegangen, weil sie sich nicht mit inakzeptablen Verhältnissen abfinden wollte. Das hat sie mit Karl Marx gemeinsam. Der wollte die Welt verändern, ihr ging es erst einmal um Kitaplätze, auch um einen für ihren Sohn. Als Partei sei für sie nur die SPD infrage gekommen. Das habe mit ihrer Herkunft als Tochter eines Straßenbahnfahrers und einer Schaffnerin, aber auch mit eigenen Beobachtungen zu tun. Die SPD kümmere sich um die Nöte der Menschen, sie biete ihnen die Möglichkeit, sich über Bildung weiterzuentwickeln. Dieser Aufgabe fühle sie sich verpflichtet. „Kein Kind zurücklassen!“, habe sie deshalb zu ihrem Credo gemacht. Stolz sei sie auf ihre Partei und auf das, was sie in den 150 Jahren ihrer Existenz für die Entwicklung der Demokratie und die Lebensbedingungen der Menschen in Deutschland geleistet habe. Auf Otto Wels weist Hannelore Kraft mit Hochachtung hin. Sein Verhalten, seine Charakterfestigkeit seien Vorbild auf ewig. Der Sozialdemokrat hatte 1933 in der letzten freien Reichstagssitzung den tobenden Nazis den Satz entgegengeschleudert: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“ Hannelore Kraft hat keine Probleme mit der weiten Welt, spricht Englisch und Französisch, pflegt aber ihre Bodenständigkeit. Sommerurlaub macht sie mit ihrer Familie im Sauerland, der alte Freundeskreis ist ihr wichtig. Ihre direkte Art kommt an, auch außerhalb Nordrhein-Westfalens. Von Niedersachsen bis Bayern laden Parteifreunde sie als Rednerin ein. Sie verbreitet keine rhetorische Brillanz, aber Glaubwürdigkeit. Die Leute hören ihr zu. Sie wirkt, wie immer wieder zu hören ist, authentisch. Woher hat sie diese Gabe? „Ruhrgebiet!“, sagt sie nur. „Da sind die Menschen so.“ Und wie sind sie? Herbert Grönemeyer besingt sie so: schnörkellos und wetterfest, von klarer offener Natur, urverlässlich, sonnig, stur. Nächste Seite: Das Etikett „Schuldenkönigin“ haftet Kraft an Was macht man, um sich nicht von guten Meinungen über Kraft einlullen zu lassen? Man wendet sich an Kollegen, die sie aus der Nähe kennen und auf kritische Distanz achten. Aber auch bei ihnen kommt sie überwiegend gut weg. Sie habe an Souveränität gewonnen, wird ihr attestiert. Nachdem die Amtszeit der Minderheitsregierung noch von grünen Initiativen geprägt worden sei, setze jetzt Hannelore Kraft als Chefin die Themen. Seit dem Erfolg bei der Landtagswahl 2012 ist ihre Position stark. Für Reiner Burger von der FAZ sind die 39,1 Prozent, die Hannelore Kraft mit der SPD erzielte, unter den heutigen Bedingungen durchaus mit den großen Wahlerfolgen unter Johannes Rau zu vergleichen. Es sei ihr gelungen, die nach 40 Regierungsjahren und der Wahlniederlage 2005 ausgelaugte SPD inhaltlich und personell wieder in Schwung zu bringen. Was macht sie über die SPD hinaus populär? Kraft habe ein Gespür für Beschwernisse entwickelt, die die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar belasten, stellt Tobias Blasius fest. Der WAZ-Korrespondent spricht von „Straßenthemen“, wie Ärger über fehlende Kitaplätze, Streit um Kosten von Klassenfahrten und privaten Abwässerkanälen. Hier auf schnelle Lösungen zu drängen, entspreche ihrer Maxime, nahe bei den Menschen zu sein. Das bedeute nicht, dass sie den Problemen aus dem Wege gehe. [gallery:Die 21 Gesetze im System Merkel] Aus der Opposition ist verständlicherweise kaum Lob zu hören. Kraft kündige viel an, setze aber wenig oder nichts um. Statt gegen die Verschuldung anzugehen, kneife sie vor schmerzhaften, aber notwendigen Maßnahmen. Das Etikett „Schuldenkönigin“ hat man der Ministerpräsidentin angehängt. Das Wahlvolk hat sich davon nicht beeindrucken lassen. Seit dem Erfolg von 2012 regiert Rot-Grün mit ordentlicher Mehrheit, aber nicht ganz unbedrängt. Das höchste Gericht von NRW hat gerade zum dritten Mal einen Haushalt der Regierung Kraft für verfassungswidrig erklärt. Die Zeiten der harten Prüfungen stehen der Regierung noch bevor, meinen die Journalisten Scholt, Blasius, Burger und Schumacher. Wie will sie das Schuldenmonster unter Kontrolle bringen und die Schuldenbremse einhalten? Durch Sparen, Mehreinnahmen, Investitionen in Bildung und generell eine vorbeugende Politik, sagt die Ministerpräsidentin. Sie hat ermitteln lassen, dass in NRW jährlich 23,6 Milliarden Euro für soziale Folgekosten ausgegeben werden, weil Kinder und Familien nicht gezielt und frühzeitig genug unterstützt werden. So blieben rund 20 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss und Ausbildung. Ihre Präventivstrategie solle Jugendlichen aus schwierigen Milieus den Aufstieg in bessere Verhältnisse ermöglichen. Dies entlaste auch die öffentlichen Haushalte von hohen „Reparaturkosten“ und sei sinvoller als der stereotyp geforderte Stellenabbau. Investieren, um zu sparen, Krafts vorbeugende Politik klingt wie die Nato-Strategie „Aufrüsten, um abzurüsten“. Dieser Doktrin wird nachgesagt, das Ende des Sowjetimperiums und des Ost-West-Konflikts herbeigeführt zu haben. Aber hilft eine solche Politik gegen Verschuldung? Gesichert ist dieser Wechsel auf die Zukunft nicht. Kraft hat viel Arbeit vor sich. Da ist ein früher Wechsel nach Berlin nicht drin. 2017 wird neu entschieden. Wichtige Wahlen stehen an: im Land, im Bund und für das Amt des Bundespräsidenten / der Bundespräsidentin. Nirgends hat sie die Tür zugeschlagen. Hannelore Kraft wäre in ihrer heutigen Verfassung eine Spitzenkandidatin mit guten Siegchancen in allen drei Disziplinen.
Fritz Pleitgen
Hannelore Kraft überzeugt mit ihrer direkten, authentischen Art und ist für Angela Merkel das stärkste Gegenüber aus der SPD – auch ohne Kanzlerkandidatur
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innenpolitik
2013-04-29T16:02:11+0200
2013-04-29T16:02:11+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/hannelore-kraft-merkels-staerkste-gegenspielerin/54324
Hambacher Forst und Co. - Energiewende? Ja, aber nicht bei uns!
Noch ist der Hambacher Forst nicht gerodet. Zwar hat die Polizei das Gebiet inzwischen weitgehend von den dort in Baumhäusern campierenden Protestaktivisten geräumt, doch am kommenden Samstag soll mit einer bundesweiten Großdemonstration, zu der bis zu 30.000 Teilnehmer erwartet werden, noch mal deutlich Flagge gezeigt werden, unter dem Motto: „Hambi bleibt“. Damit dürften die bevorstehenden Rodungen wohl kaum verhindert werden. Es handelt sich eher um eine Art Nachhutgefecht, allerdings mit hohem Symbolgehalt. Vor dem Beginn der Rodungen vor 40 Jahren umfasste der Hambacher Wald noch eine Fläche von 4.100 Hektar. Seitdem fressen sich schweres Rodungsgerät und Kohlebagger unerbittlich durch die ökologisch wertvollen Baumbestände, stets gestützt durch entsprechende Entscheidungen der Landesregierung und nachgeordneter Behörden, die auch von Gerichten bestätigt wurden. Eingerahmt von den Mondlandschaften des Braunkohletagebaus ist das zusammenhängende Waldgebiet auf 200 Hektar geschrumpft, wovon jetzt weitere 100 Hektar dem Tagebau weichen sollen. Abgesehen von den ökologischen Folgen macht die Rodung auch ökonomisch und strukturpolitisch nur wenig Sinn. Die Kohleverstromung ist in Deutschland ein Auslaufmodell, gestritten wird in der von der Bundesregierung eingesetzten Kohlekommission nur noch über den Zeitplan für den endgültigen Ausstieg und die Bewältigung des Strukturwandels in den Kohleregionen. Die Bergbaulobby, zu der neben den betroffenen Unternehmen auch die Gewerkschaft IG BCE und große Teile der SPD gehören, will den Zeitpunkt für den endgültigen Exit aus dieser erwiesenermaßen klimaschädlichen Technologie so weit wie möglich hinausschieben. Umweltverbände und mit ihnen verbundene Politiker streben das Gegenteil an. Sicher scheint, dass das jetzt umstrittene Areal für die Kohleversorgung der bestehenden Kraftwerke zum jetzigen Zeitpunkt unnötig ist. Offensichtlich geht es der Bergbaulobby um eine Machtdemonstration und um die Schaffung irreversibler Fakten. Politische Rückendeckung erhält sie in Nordrhein-Westfalen nicht nur von der regierenden CDU/FDP-Koalition, sondern auch von der oppositionellen SPD. Vor allem die Grünen wollen sich dagegen im Landtag als Kohlegegner und Waldretter profilieren. Sonderlich glaubwürdig wirkt das allerdings nicht, denn der endgültige, einvernehmliche Beschluss zur Rodung wurde von der Landesregierung bereits 2016 gefällt, und da saßen die Grünen noch mit der SPD am Kabinettstisch. Ohnehin agieren nicht nur diese Partei, sondern auch große Teile der Anti-Braunkohle- und Umweltbewegung in Fragen der angestrebten Energiewende widersprüchlich. Denn der gesellschaftlich im Prinzip mehrheitsfähige Ausstieg aus Atomkraft und Kohle muss  durch den schnellen, massiven Ausbau der regenerativen Stromerzeugung kompensiert werden. Zumal der Strombedarf durch den ebenfalls angestrebten Umstieg auf Elektroantriebe im öffentlichen und privaten Personenverkehr weiter steigen wird. Der notwendige Ausbau entsprechender Stromerzeugungskapazitäten ist natürlich auch mit massiven Eingriffen in gewachsene Landschaften und Ökosysteme verbunden. Es geht um große Anlagen wie Offshore- und Onshore-Windparks und um neue moderne Starkstromtrassen und Speichermedien, die die bei Ökostrom unvermeidlichen Schwankungen bei der erzeugen Energie ausgleichen sollen. Doch es gibt kaum einen Windpark und keine Trasse, die nicht bereits im frühen Planungsstadium auf den entschiedenen Widerstand sowohl örtlicher Bürgerinitiativen als auch von Umweltverbänden und von örtlichen Parteigliederungen stoßen. Das gilt auch für Pumpspeicherwerke (PSW), in denen überschüssiger Strom genutzt wird, um Wasser an einen erhöhten Standort zu pumpen, um es bei Bedarf wieder abwärts laufen zu lassen und dabei mittels Turbinen Strom zu erzeugen. Mehrere Großprojekte, wie etwa das PSW in Atdorf  im Südschwarzwald wurden aufgrund massiver Proteste und entsprechender Verzögerungen bei der Planung bereits gestrichen. Derzeit gehen vor allem in Sachsen und Bayern ganze Landkreise – nicht selten unterstützt von Allparteienkoalitionen – auf die Barrikaden, um Trassen zu verhindern, die den Windstrom von der Küste in Industrieregionen und Ballungsgebiete transportieren sollen. Ähnliche Bewegungen gibt es bundesweit auch gegen neue Windparks. In Wismar kämpft die Initiative „Freier Horizont – Aktionsbündnis gegen unkontrollierten Windkraftausbau“ gegen neue Offshore Anlagen. Im  Brandenbuerger Oder-Spree-Kreis gibt es Demonstrationen gegen „Natur- und Gesundheits-Zerstörungsmaschinen“. Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es nicht nur Braunkohle-Gegner, sondern auch zahlreiche Initiativen, die den Stopp des Ausbaus der Windenergie fordern, da sie die Lebensqualität ebenso mindern würde, wie den Wert der Häuser vor Ort. Auch großflächige Photovoltaikanlagen treiben vielerorts Bürger auf die Barrikaden, befürchtet wird vor allem die Verschandelung der Landschaft. Man wolle verhindern „dass aus diesem Gebiet, das wunderbar idyllisch und wild gewachsen ist, auf dem man abends Rehe sehen kann, jetzt ein Solarpark werden soll“, brachte eine Anwohnerin in Zerbst (Sachsen-Anhalt) in der Volksstimme die Motivation des Widerstands auf den Punkt. Alle diese Protestbewegungen scheinen ein gemeinsames Motto zu haben: Energiewende, ja bitte. Aber nicht bei uns. Auf die Frage nach Alternativen zu dem jeweils kritisierten Vorhaben erntet man in der Regel ein Schulterzucken oder bekommt eher abstruse Vorschläge präsentiert. Andere Standorte seien viel besser geeignet, man könne schließlich auch mehr Ökostrom aus Norwegen importieren, und die Stromversorgung könne doch dezentral organisiert werden. Letzteres mag für kleinere und mittlere Gemeinden durchaus ein gangbarer Weg sein, aber im Dunkeln bleibt, wie man Ballungszentren wie das Ruhrgebiet oder industrielle Kerngebiete in Bayern und Baden-Württemberg nicht nur ohne Atom- und Kohlekraftwerke versorgen könnte, sondern auch ohne große Windkraftanlagen und entsprechende Trassen. Eine durchgreifende Energiewende hin zur regenerativen Strom- und Wärmeerzeugung ist zweifellos notwendig, vor allem aus ökologischen und klimapolitischen Gründen. Für ihre Umsetzung braucht es aber ein entschlossenes staatliches Handeln sowie politischen Mut. Zweifellos muss den kurzfristigen ökonomischen Interessen der Braunkohlelobby entschieden entgegengetreten werden, auch im Hambacher Forst. Aber gerade den engagierten Braunkohlegegnern stünde es gut zu Gesicht, ihrer äußerst heterogenen Unterstützerschar ein paar unangenehme Wahrheiten klar und deutlich zu vermitteln. Der Ausbau regenerativer Energieerzeugung ist kein Ponyhof und keine „Zurück zur Natur“-Idylle. Er kann sich für viele Anrainer entsprechender Anlagen sogar ziemlich hässlich darstellen. Denn der Strom kommt zwar auch ohne Kohle und Atomkraft aus der Steckdose. Aber da muss er auch irgendwie hinkommen.
Rainer Balcerowiak
Am Wochenende ist eine weitere Großdemonstration gegen die Rodung im Hambacher Forst geplant. Massive Proteste begleiten nahezu jedes Projekt der Stromerzeugung. Die Wut ist verständlich, aber die Energiewende ist ohne die Anerkennung bitterer Wahrheiten nicht möglich
[ "Hambacher Forst", "Energiewende", "Proteste", "Braunkohle", "Windkraft" ]
wirtschaft
2018-10-04T11:06:37+0200
2018-10-04T11:06:37+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/hambacher-forst-energiewende-proteste-braunkohle-windkraft
USA - Ist Obama seinen Aufgaben gewachsen?
Ein Präsident muss in der Lage sein, sich um mehr als ein Problem gleichzeitig zu kümmern. So beschrieb Barack Obama die Anforderung an das Amt im September 2008, als er sich zum ersten Mal um den Job im Weißen Haus bewarb. In den Tagen zuvor war die Investmentbank Lehman Brothers zusammengebrochen. Russland war nach Georgien einmarschiert, und es war unklar, ob der Waffenstillstand halten und Moskau seine Truppen abziehen würde. In dieser Lage schlug der republikanische Kandidat John McCain, der in den Umfragen zurückzufallen begann, eine Pause im Wahlkampf vor, um eine gemeinsame Strategie gegen die sich vertiefende Finanzkrise zu beraten. Obama lehnte ab: Wer Präsident werden wolle, müsse in der Lage sein, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen: Wahlkampf, Krisenmanagement, Außenpolitik. In dieser Aprilwoche 2013 muss Obama mehr denn je beweisen, dass er das kann. Er wird auf vielen Gebieten zugleich gefordert: Bombenanschlag in Boston, Rizin-Giftbriefe in Washington, die Explosion einer Düngemittelfabrik in Texas samt der Frage, ob das ein Unfall war. Im Senat ist sein monatelanger Anlauf zu einer Verschärfung des Waffenrechts gescheitert, und er muss mit der Niederlage so umgehen, dass er dabei nicht den Misserfolg anderer aussichtsreicher Vorhaben riskiert, wie die Reformen des Einwanderungsrechts, des Steuersystems und der Sozialversicherungen. Im Ausland stellen ihn die Konflikte in Nordkorea, Syrien und dem Nahen Osten auf die Probe. Wie schafft er das alles gleichzeitig? Eine geplante Terrorserie oder zufälliges Zusammentreffen? Obama ist jetzt ganz besonders darauf angewiesen, dass seine Mitarbeiter sowie die diversen Ministerien und Behörden ihm zuverlässig zuarbeiten. Es ergeben sich ganz unterschiedliche Prioritäten für seine Terminplanung, je nachdem wie man die Ereignisse, die Amerika im Abstand weniger Tage überrollen, einordnet. Sind die Bomben in Boston, die Giftbriefe und die Explosion in Texas Einzelfälle, die nur zufällig im selben Zeitraum geschehen, oder gibt es Hinweise auf Zusammenhänge, im Extremfall auf eine koordinierte Anschlagsserie? Spricht er vielleicht auf der falschen Trauerfeier, wenn es in Texas weit mehr Tote gab als in Boston? Und: Geht von Nordkoreas Bomben- und Raketenprogramm womöglich größere Gefahr für die USA aus, nämlich ein Atomwaffenangriff, als von der latenten Bedrohung durch lokale Anschläge in Amerika? Bisher behandelt das Weiße Haus die Themen als getrennte Herausforderungen. Obama wird von seinen Spezialisten aber regelmäßig über die jeweiligen Entwicklungen informiert. Der Anschlag in Boston Am Donnerstag redete Obama bei der konfessionsübergreifenden Trauerfeier in der Kathedrale von Boston. Die Ermittler melden einerseits Fortschritte bei der Suche nach den Tätern: Aus Videoaufnahmen haben sie die Gesichter von zwei Menschen herausgefiltert, die im Verdacht stehen, die Bomben abgelegt zu haben. Das beantwortet aber nicht die Kernfrage: Stecken ausländische Terroristen oder heimische Radikale hinter dem Anschlag? In seiner Ansprache muss Obama darauf nicht eingehen. In solchen Momenten ist der Präsident als Seelenheiler gefordert, der der betroffenen Stadt aber auch der ganzen Nation Trost spendet und Mut zuspricht. Viel zu oft hat er das in den jüngsten Jahren tun müssen: nach den Schüssen auf die Abgeordnete Giffords und ihre Wähler in Tucson, dem Kinomassaker in Aurora, dem Amoklauf in der Schule in Newtown. Die Frage nach politischen Reaktionen spart er dabei aus. Der Kern seiner Botschaft lautet: Amerika steht zusammen, die Schuldigen werden gefunden und bestraft. Er und seine Frau Michelle seien doch auch Bostoner, sagt er. Beide haben hier studiert, an der Harvard University. Die Giftbriefe Die Gesundheit oder gar das Leben des Präsidenten war nicht in Gefahr. Die Briefe mit dem potenziell tödlichen Rizin wurden abgefangen, ehe sie das Weiße Haus und das Kongressgebäude erreichten. Die Ermittler sind sich inzwischen sicher, dass diese Briefe jedenfalls nicht Teil einer größeren Verschwörung waren. Als Verdächtiger wird ein Mann aus Mississippi verhört, der dafür bekannt ist, Protestschreiben an Politiker zu verschicken. Die Explosion in Texas Und der Brand der Düngemittelfabrik in Texas, die einen Teil der 2800-Seelen-Gemeinde West nördlich von Waco zerstörte? Auch darin sehen die Sicherheitsbehörden bisher einen Einzelfall. Doch die Experten werden Obama gesagt haben, dass man die Möglichkeit einer mit Boston koordinierten rechtsradikalen Anschlagsserie zumindest prüfen muss. Der Zeitpunkt liegt nahe an einem symbolischen Datum für die Gegend. Vor 20 Jahren, am 19. April 1993, endete die Belagerung des Anwesens der Davidianer-Sekte in Waco durch staatliche Sicherheitskräfte mit einem tödlichen Feuer, in dem 86 Sektenmitglieder ums Leben kamen. Rechtsradikale Regierungsgegner warfen dem Staat vor, verantwortlich zu sein. Er habe die Religionsfreiheit der Davidianer nicht respektiert. Aus Protest gegen diesen angeblichen staatlichen Übergriff sprengte Timothy McVeigh am zweiten Jahrestag, dem 19. April 1995, ein Gebäude der Bundesregierung in Oklahoma City in die Luft. Für seinen Sprengsatz benutzte er Düngemittel. Und nun fliegt direkt vor dem 20. Jahrestag des Brandes von Waco eine Düngemittelfabrik in der Umgebung Wacos in die Luft. Obama erwähnt den potenziellen Kontext nicht einmal. In seiner Stellungnahme spricht er von einer „Tragödie“, die den kleinen Ort West heimgesucht habe. Er bete für die Opfer und ihre Familien. Es wirkt wie eine direkte Antwort auf die Bitte des Bürgermeisters Tommy Muska: Seine Gemeinde brauche nun die Gebete der Landsleute. Die Niederlage im Senat beim Waffenrecht Mit frischem Optimismus war Obama vor drei Monaten in die zweite Amtszeit gestartet. Der am Ende doch sehr deutliche Wahlsieg hat ihn gestärkt. Er wollte das politische Kapital nutzen, um die Republikaner, die die Mehrheit im Abgeordnetenhaus verteidigt haben, zu Reformen zu zwingen. Im Budgetstreit hat er sich teilweise durchgesetzt. Bei der aktuellen Kraftprobe um das Waffenrecht musste er am Mittwoch eine Niederlage einstecken. Er darf sich den Ärger aber nicht anmerken lassen. Umso wichtiger ist es nun, die Schlappe möglichst rasch durch Erfolge vergessen zu machen, zum Beispiel Fortschritte bei der Reform des Einwanderungsrechts. Oder in der Außenpolitik. Ein Präsident, das zeigen diese Tage, muss nicht nur mehrere große Probleme gleichzeitig bearbeiten können. Er muss auch in der Lage sein, mehrere Tiefschläge zugleich einzustecken – und dennoch dem Land und sich selbst Mut zuzusprechen, dass schon ganz bald wieder andere, bessere Zeiten kommen.
Christoph von Marschall
Boston, Texas, Waffenrecht, Schulden – die Liste der Probleme ist lang. Barack Obama ist derzeit vielfach gefordert. Schafft er das?
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außenpolitik
2013-04-19T07:26:43+0200
2013-04-19T07:26:43+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/ist-obama-seinen-aufgaben-gewachsen/54235
Wahlkampf-Endspurt der SPD - Kurz vorm Kolbenfresser
Früher kannte man das vom Mofa. Und bei der Fichte gibt es ein ganz ähnliches Phänomen. Das Mofa, fester Bestandteil (m)einer glücklichen Achtziger-Jahre-Jugend, drehte nochmal besonders hoch und fuhr noch mal besonders schnell – kurz vor dem Kolbenfresser. Und „Angsttriebe“ nennt man bei den Koniferen jenes geile Austreiben, das kurz vor dem Absterben des Baumes eintritt. Nahender Kolbenfresser, Angsttriebe: Wähle ein jeder die Metapher, die seiner Vorstellungswelt entspricht. Jedenfalls legt die SPD in den letzten Tagen vor der Bundestagswahl ein Verhaltensmuster eben dieser finalen Kategorie an den Tag. So etwa Sigmar Gabriel, Ex-Parteichef, der Martin Schulz die Kandidatur und den Parteivorsitz überlassen hat. Er dreht nochmal voll auf und wirft der Kanzlerin vor, über ihre Fürsorge für die vielen Flüchtlinge diejenigen zu benachteiligen, die im Merkel-Sprech „schon länger hier leben“. Und Martin Schulz prangert hohe Mieten an und bedauert das Versagen der sogenannten Mietpreisbremse. Das Problem ist nur: Das eine, Merkels Flüchtlingspolitik, haben die Sozialdemokraten in der akut-brenzligen Phase 2015/2016 mitgemacht. Das andere, die Mietpreisbremse, in Person des zuständigen Justizministers Heiko Maas sogar aktiv betrieben und verantwortet. Nun könnte man in einem strategisch gut geplanten Wahlkampf auch gegen diese beiden Einwände eine wasserfeste Argumentation aufbauen. Aber nicht hundert Stunden bevor die Wahllokale schließen damit um die Ecke kommen. Das sieht nach Panik aus und riecht auch so. Zu den weniger gewagten Aussagen zum Ausgang dieser Bundestagswahl gehört die Prognose, dass die SPD die dritte schlimme Niederlage in Folge einfahren wird. Nach 23 Prozent mit Frank-Walter Steinmeier 2009 und 25,7 Prozent mit Peer Steinbrück 2013 sind die bisherigen Tiefpunkte markiert, was nicht heißt, dass diese nicht noch unterboten werden können. Ein Kandidat, bei dem viele Wähler alsbald an der Kanzlertauglichkeit zweifelten, und ein wirrer Themenmix führen aller Wahrscheinlichkeit nach zu diesem Ergebnis. Bleiben wird von Martin Schulz ein kurzer Höhenflug, der eine Ahnung davon gegeben hat, was drin gewesen wäre. Mit einem überzeugenderen Kandidaten und einem eigenständigen Programm in früher Abgrenzung von der Amtsinhaberin. Um wenigstens die „2“ vorne im Ergebnis zu halten, greifen Schulz und Gabriel verzweifelt zu den letzten Mitteln. Wovon die SPD hingegen im gesamten Wahlkampf nie Gebrauch gemacht hat: Den Unmut an der Kanzlerin als Wasser auf die eigenen Mühlen zu lenken. Es sei die These gewagt, dass Parteien, die eine Koalition (und damit die Hilfe zum Erhalt von Merkels Kanzlerschaft) mit der Union abgelehnt (Linke und AfD) oder streng konditioniert haben (FDP) mit einem relativ starken Ergebnis abschneiden werden. Wohingegen jene, die das nicht tun (Grüne, SPD), mutmaßlich gerupft aus dieser Wahl herausgehen werden. Die SPD könnte schon deshalb auch ein „Nein“ zu einer dritten Koalition unter Merkel aussprechen, weil sie am Ende an einem Mitgliederentscheid nicht vorbeikommt und die Stimmung an der Parteibasis nicht danach aussieht, dieser dritten Großen Koalition unter Merkel das Jawort zu geben. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass die konkrete Aussicht auf einen Anteil an der Macht am Ende immer einen großen Magnetismus auslöst: Fast 76 Prozent gültiger Stimmen bei einer Beteiligung von 78 Prozent der Mitglieder gaben ihrer Partei vor vier Jahren das Placet. Und vorher war auch viel vom Widerwillen dagegen zu lesen gewesen. Doch nach weiteren vier Jahren (und einem weiteren Absinken) ist ein Argument, das vielen neu zu denken geben wird, vielleicht noch stärker: Kann es nicht vielleicht sein, dass ein Wiederaufbau aus der Opposition heraus größere Aussicht auf ein Erstarken bietet als ein Dasein als kleinerer Koalitionspartner? Wer mit Sozialdemokraten dieser Tage spricht, merkt, dass diese Frage schon jetzt die innerparteiliche Debatte bestimmt. Ein geschwächter Martin Schulz wird sich viel schwerer tun als ein Parteichef Sigmar Gabriel, der die Wahlniederlage wenigstens nicht persönlich als Kandidat zu verantworten hätte. Lesen Sie weitere Texte zur Bundestagswahl im Cicero-Dossier.
Christoph Schwennicke
Die SPD wird bei dieser Bundestagswahl wohl die dritte schlimme Niederlage in Folge einfahren. Zuvor aber dreht die Parteispitze nochmal richtig auf und greift verzweifelt zu den letzten Mitteln. Innerparteilich aber bestimmt längst eine andere Frage die Debatte
[ "SPD", "Martin Schulz", "Bundestagswahl", "Sigmar Gabriel", "Merkel", "CDU", "große Koalition" ]
innenpolitik
2017-09-20T10:30:11+0200
2017-09-20T10:30:11+0200
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Personalisierung im Wahlkampf - Köpfe vor Inhalt?
Sie wirkt heute noch mächtiger und unantastbarer als vor vier Jahren: Angela Merkel steht allseits im Mittelpunkt, agiert seelenruhig, ist auf ein Podest betoniert, von dem sie so leicht keiner stürzen kann. Omnipräsent ist sie, die Mutti, wie sie mit ehrfurchtsvoller Zutraulichkeit genannt wird, solide und integer. Ihre stoische Gelassenheit versinnbildlicht einen Politikstil, der bezeichnend geworden ist für die CDU,  so als würde die Partei in erster Linie von ihrer Kanzlerin leben und nicht von konkreten Inhalten. Soweit das Bild, das durch die Medien kursiert. Peer Steinbrück, als Negativpart dieses antagonistischen Couples, bekommt man in der Regel mit missmutigem Gesichtsausdruck serviert, mit bedenklich hängenden Mundwinkeln und angriffslustig gestikulierend. Wenn er nicht gerade mit blinder Treffsicherheit den falschen Ton anschlägt, oder sich in einem dilettantischen Versuch ergeht, seine Kontrahentin zu entthronen, dann weint er. Auch das ein Bild, das sich in den Köpfen manifestiert hat und auf das sich die Medien landauf, landab mit unverhohlenem Entzücken gestürzt haben. Aber geht es wirklich nur noch um einzelne Figuren und darum, wie sie sich öffentlich präsentieren? [[nid:55315]] In der Wahlforschung ist man sich bei diesem Thema uneins. Ursula Münch, die Leiterin der Akademie für Politische Bidung in Tutzing, gehört zu denjenigen, die sich dem Postulat der zunehmenden Personalisierung entgegenstellen. „Es hat sich, ehrlich gesagt, nichts geändert“, sagt sie. Das Thema tauche in regelmäßigen Abständen immer dann auf, wenn wieder einmal die Frage drängt, warum sich der Wähler für die Partei X entscheidet. Dass in den letzten Jahren einzelne Kandidaten für die Wahlentscheidung ausschlaggebend geworden sind, sei jedoch eine „verzerrte Wahrnehmung“, eine medial generierte Illusion. Weder seien die Parteien zu einem Vehikel der Kandidaten verkommen, noch stünden für den Wähler die unpolitischen Merkmale der Kandidaten im Vordergrund, betont Münch. Ähnlicher Meinung ist auch Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Wahlkämpfe, die auf eine zentrale Person zugeschnitten sind, habe es schon immer gegeben, sagt er. Man erinnere sich nur an Willy Brandt in den 60er und 70er Jahren oder an Konrad Adenauer, den die CDU in den 50ern in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen rückte. Ebenso Gerhard Schröder als Paradebeispiel für  hochpersonalisierte, privat wirkende TV-Auftritte. Der Grund für diese Selbstdarstellung ist einfach: „Kandidaten verleihen dem Programm ihrer Partei Gesicht und Stimme“, erklärt Brettschneider. Das heißt aber weder, dass der Kandidat wichtiger ist als seine Partei, noch, dass unpolitische Merkmale der Kandidaten ausschlaggebend sind für die Wahl. Auch wenn man beim gemeinsamen Grillabend herrlich über Merkels Hosenanzüge debattieren oder sich über Steinbrücks Gefühlsausbruch im Fernsehen auslassen kann – spätestens in der Wahlkabine käme es nicht mehr primär auf den Sympathiefaktor an, sondern auf Integrität und Themenkompetenz. Den Einfluss der Medien darf man dennoch nicht unterschätzen. Sie beeinflussen signifikant, welche Themen einer Partei gerade prominent sind. „Jene Themen, über die unmittelbar vor der Wahl häufig berichtet wird, werden dann auch von vielen Wählerinnen und Wählern als wichtig und relevant eingestuft“, sagt Brettschneider. Wenn also kurz vor der Bundestagswahl über Umweltthemen oder den Veggie-Day berichtet wird, nützt das den Grünen, wenn soziale Gerechtigkeit zur Debatte steht, freut sich die SPD und Wirtschaftsthemen helfen der CDU auf die Sprünge. Thomas Poguntke von der Universität Düsseldorf schätzt die Situation etwas differenzierter ein. Zwar habe es mediale Inszenierung von Personen in der Geschichte der Bundesrepublik immer gegeben, dennoch sei die Lage heute anders. „In der Politik gab es schon immer starke Persönlichkeiten, heute ist die Parteipolitik aber noch mehr auf sie angewiesen“. Nicht die Medien oder die Wähler fordern starke Persönlichkeiten, in erster Linie glauben die Parteien selbst an ihre Zugpferde. Weil die traditionelle Parteibindung erodiert, ist es für die Parteien sicherer, nicht nur Inhalte zu präsentieren, sondern vor allem Charismatiker. Gleichzeitig, so Poguntke, dürfe man die Fähigkeiten der meisten Wähler, sich mit komplexen Themen detailliert auseinanderzusetzen, nicht überschätzen. Dominante politische Figuren dienen daher der Komplexitätsreduktion, das klappt bei der CDU momentan vorbildlich. Ideal ist eine Konstellation aber erst dann, wenn der Kandidat das Programm seiner Partei glaubwürdig verkörpert, da sind sich Poguntke und Brettschneider wieder einig. Merkel steht synonym für die Ziele der CDU, die SPD dagegen ist mit dem hausinternen Zugpferd  nicht immer auf einer Wellenlänge. „Bei Steinbrück musste die SPD schnell handeln“, erklärt Poguntke das Dilemma, „als alter Schröderiander passt er nicht zum relativ linken Parteiprogramm“. Die Grünen konnten mit Joschka Fischer solch einen Coup landen, bei  dem das „Paket passt“, die Piraten wiederum sind ein Gegenbeispiel dafür, dass man sich mit schlechter Personalpolitik ganz schnell ins Abseits manövriert.  Dennoch: „Es lässt sich nicht wissenschaftlich zweifelsfrei nachweisen, ob die Wähler ihre Entscheidung heute stärker aufgrund von Personen treffen und ob  sich der Stellenwert von Themen verändert hat“, sagt Poguntke. Kein Wunder, ist doch der moderne Wähler ohnehin vor allem eines: unberechenbar. Die hohe Volatilität ist ein weiteres Kuriosum, das sich in den letzten Jahren breit gemacht hat und gerne mit Personalisierungs- oder Entpolitisierungskonzepten in Zusammenhang gebracht wird. Hier würde theoretisch Poguntkes Rechnung aufgehen: je nachdem, welche Zugpferd gerade attraktiver erscheint, entscheidet der Wähler von Fall zu Fall und von Wahl zu Wahl. Ursula Münch hält das für zu kurz gegriffen. Dass der treue Stammwähler mittlerweile zur Ausnahmeerscheinung geworden ist, begründet sie damit, dass sich eben in allen gesellschaftlichen Bereichen das Bewusstsein einer „Multi-Options-Gesellschaft“ etabliert hat. Wir schöpfen aus einem immensen Kontingent an Möglichkeiten, können uns jeden Tag neu orientieren, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Analog dazu das Wahlverhalten: ein Thema, das mir heute als wichtig erscheint, kann morgen schon wieder völlig irrelevant sein. Die Uneinigkeit in der Forschung spiegelt indes das wider, was sich momentan vor unseren Augen abspielt: jede Partei probiert eine eigene Strategie, manche aus Überzeugung, manche aus dem situativen Zwang heraus. Merkel als Person hat bei den Bürgern ein gutes Standing, kann aber, sollte sich die SPD in den kommenden Wochen thematisch doch noch einordnen, durchaus an der eigenen Unentschlossenheit scheitern.
Julia Berghofer
Merkels Bayreuth-Outfit und Steinbrücks tränenreicher Auftritt beim Parteikonvent scheinen präsenter zu sein als konkrete Inhalte und programmatische Aussagen. Stehen für die Wähler tatsächlich unpolitische Merkmale im Vordergrund, oder spiegeln uns die Medien das nur vor?
[]
innenpolitik
2013-08-13T11:06:27+0200
2013-08-13T11:06:27+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/personalisierung-im-wahlkampf-koepfe-vor-inhalt/55365
Laschet im Kinderinterview - Von Nazis und Purzelbäumen
Ich bin keiner, der bei jeder Forderung nach mehr Lastenfahrrädern in Großstädten die Infantilisierung der Gesellschaft und den Untergang des Abendlandes beklagt. Ich bin sogar ein Fan der Kindernachrichten Logo, in denen Kindern auf entsprechendem Niveau die Welt erklärt wird. Logo-Reporter haben mit allen Spitzenkandidaten der Parteien Interviews geführt, die man sich ruhig mal anschauen kann – unter anderem fiel da AfD-Chef Tino Chrupalla, einem erklärten Verehrer deutscher Dichter und Denker, auf Anhieb kein deutsches Lieblingsgedicht ein, eine Szene mit Unterhaltungswert. Jugendliche stellen da Fragen, die ihrem Horizont und ihren Interessen entsprechen – und ihren Zuschauern. Eltern erfreuen sich gerne daran, wenn ihre Kinder sie imitieren: wenn sie ihre Klamotten anziehen, Telefonkonferenzen nachspielen und – wie beobachtet – über ihren Chef schimpfen. Was aber Klaas Heufer-Umlauf gestern in seiner Sendung auf Pro Sieben lieferte, ist eine zynische Instrumentalisierung von Kindern: Kinder spielen Erwachsene – für Erwachsene. Der Name der Veranstaltung macht ja schon klar: Eine Late-Night-Show um 22.35 Uhr schauen keine Kinder. Da sitzen nun also unter einem mit Lampions behangenen Baldachin zwei Kinder, hinter ihnen ein großer Teddybär und ein Globus. Unterlegt ist das Ganze mit undefinierbarer Pling-Plong-Musik. Der eine, Romeo, ist um die zehn Jahre alt, das wird im Laufe des Interviews klar, Pauline müsste ähnlich alt sein. Niemand hätte etwas dagegen, wenn diese Kinder nun Fragen stellen würden, die Kinder in diesem Alter aus dem Alltag mitbringen: Herr Laschet, was tun Sie gegen die Umweltzerstörung? Warum müssen in Deutschland Menschen auf der Straße leben? Oder auch: Was ist eigentlich eine Partei, was ist die CDU? Stattdessen – man kann es nicht anders sagen – sind diese beiden Kinder von Erwachsenen abgerichtet. Schon im Intro sieht man sie bei der Lektüre des Spiegel. Klar, was sonst? Erinnern Sie sich auch daran, wie Ihre zehnjährigen Kinder Ihnen immer den Spiegel aus der Hand gerissen haben, wenn Sie sich gerade gemütlich zur Lektüre in den Ohrensessel setzen wollten? „Gib her Papi, ich will zuerst!“ Die ersten Fragen sind in Ordnung: Warum willst du Bundeskanzler werden? Ich hab Fotos gesehen, auf denen rauchst du Zigarillos. Willst du damit aufhören? Dann biegt das Gespräch aber in Felder ab, die weit vom Horizont dieser Kinder entfernt sind. „Haben Sie Polizei geschickt, um Menschen aus Baumhäusern zu vertreiben?“, fragt Romeo. Es geht um die umstrittene Räumung des Hambacher Forsts, die Armin Laschet politisch zu verantworten hatte – und die gerade von einem Gericht für rechtswidrig erklärt wurde. Es ist ein komplexes Thema, das heruntergebrochen auf den Vorwurf „Du hast Menschen aus Baumhäusern vertrieben“ tatsächlich ein Beleg für die Infantilisierung der Gesellschaft ist. Dass die Kinder daraufhin das Gerichtsurteil zitieren, ist wiederum ein Beleg dafür, dass sie von den Machern der Show ordentlich dressiert wurden. Was hat das alles mit ihrer Lebenswelt zu tun? Laschet wird zunehmend unentspannter, weil die Absurdität der Situation kaum zu überbieten ist: der winzige Kinderstuhl, auf dem er sitzt, die Kinder, die Fragen stellen, die nicht die ihren sind. Und Laschet spürt wohl auch, dass er in eine Honig-Falle gelaufen ist: Gegenüber diesen süßen Kinderlein kann er nicht zurückschießen, wie er es mit erwachsenen Journalisten tun könnte – obwohl Romeo und Pauline diese Fragen von Erwachsenen eingeflüstert wurden. Aber es kommt noch schlimmer. Romeo und Pauline biegen nach einem Schlenker über die Flutkatastrophe („Als du die Flut besucht hast, musstest du lachen. Warum? Findest du das gutes Benehmen?“) auf das Thema ab, das wirklich alle Zehnjährigen in diesem Land brennend interessiert: „Ist Maaßen ein Nazi?“, fragt Romeo mit Engelsstimme. Was weiß dieser Romeo, was weiß Pauline, über Nazis und erst recht Hans-Georg Maaßen – außer dem, was ihnen ihre Eltern und die Macher der Sendung einflüstern? Es ist zum Fremdschämen. Natürlich antwortet Laschet mit Nein. Aber da hat er die Rechnung ohne Romeo gemacht. Er kennt natürlich auch den Unterschied zwischen einem Nazi und einem Rechten. Nun denn: „Ist Hans-Georg Maaßen ein Rechter?“ Laschet ist jetzt sichtlich genervt, antwortet: „Kennst du den?“ Antwort: „Ja“. „Warum ist das ein Rechter?“ Romeo: „Das frag ich Sie!“ Völlig zu Recht erklärt Laschet das Problem einer Volkspartei mit 400.000 Mitgliedern, dass er selbst zum Teil andere Meinungen habe, aber dass eben die CDU-Mitglieder im Thüringer Wahlkreis Maaßen zum Kandidaten gemacht hätten. Romeo und Pauline kommen aber brav ihrem Auftrag nach und nerven Laschet mit Nachfragen wie „Was findest du gut an ihm?“ Laschet, das spürt man, hat jetzt verstanden: Hier kann er nur verlieren, drängelt: „So, habt ihr noch Fragen?“ Eigentlich hätte er fragen müssen – in erster Linie in Richtung der Macher: Sagt mal, seid ihr euch eigentlich für nichts zu schade? Da fragt Paulinchen wieder mit Engelsstimmchen: „Nach wie vielen Purzelbäumen wird Ihnen schwindlig?“ Es geht dann noch um die großen Kinderthemen Maskendeals und die Schwulenehe, dann ist Laschets Marter beendet. Beim Zuschauer bleibt ein flaues Gefühl im Magen. Wer Zehnjährige so für seine Late-Night-Show instrumentalisiert, sollte sich schämen.
Moritz Gathmann
In einer Late-Night-Show stellen Kinder Armin Laschet und Olaf Scholz Fragen, die ihnen Erwachsene eingeflüstert haben. Die Macher sollten sich schämen für diese Instrumentalisierung.
[ "Armin Laschet", "Wählen und wählen lassen" ]
innenpolitik
2021-09-15T16:45:39+0200
2021-09-15T16:45:39+0200
https://www.cicero.de/comment/281962
Antisemitismus - „Es fällt vielen Leuten schwer, das Wort Jude auszusprechen“
Dalia Grinfeld ist 23 Jahre alt. Sie ist Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD) und studiert Politikwissenschaften und Jüdische Studien in Heidelberg. Frau Grinfeld, Sie sind in einen jüdischen Kindergarten, eine jüdische Grundschule und ein jüdisches Gymnasium gegangen. Vor diesen Einrichtungen halten Polizisten Wache. Wie fühlte sich das an? Ich kannte es nicht anders. Das zeigt, wie drastisch die Situation ist. Für mich war es normal, den Polizisten einen guten Morgen zu wünschen, dass überall Kameras und Metalldetektoren sind. Vor Schulaufführenden gab es immer lange Schlangen, weil man durch die Sicherheitskontrollen musste. Mir ist erst bewusst geworden, dass ich in einer anderen Realität lebe, als mich mal ein nicht-jüdischer Kumpel in der achten Klasse zur Schule begleitet hat. Der wollte einfach mal sehen wie meine Schule so ist und hat dann gefragt: „Wow, ist eure Schule neben einem Gefängnis?“ In dem Sinne leben wir doch – ein bisschen zumindest – in einer Parallelwelt. In Deutschland ist es immer noch nicht normal, jüdisch zu sein. Wir haben immer noch ein besonderes Sicherheitsbedürfnis, was schade ist. Aber als Kind und Jugendliche hat mich das nicht bedrückt. Die Schule bietet eine Art Schutzraum. Aber wie haben Menschen außerhalb reagiert, wenn die Sprache auf Ihren Glauben fiel? Ich bin damit immer sehr offen umgegangen. Natürlich war mein Freundeskreis auch stark jüdisch geprägt, weil ich eben auf einer jüdischen Schule war. In meinem engeren Umfeld waren die Reaktionen positiv, und es gab ein großes Interesse mit vielen Nachfragen. Im Bekanntenkreis oder im Arbeitsumfeld gab es aber schon so diesen neugierigen Blick. In der neunten Klasse hatte ich ein Praktikum im Bundestag gemacht. Da habe ich meinen Davidstern getragen und die Blicke zum ersten Mal besonders gefühlt. Das war gar nicht negativ gemeint. Es fällt vielen Leuten in Deutschland immer noch schwer das Wort „Jude“ auszusprechen. Dann wird rumgedruckst: „Bist du eigentlich, ja ähm, also sag mal, ähm…“ Natürlich steht da eine Geschichte hinter, darum ist ein schwerwiegendes Wort in Deutschland. Aber ich merke schon, dass auch junge Leute sich nicht trauen, das Wort auszusprechen. Manchmal werden dann keine Fragen gestellt und es findet keine Annäherung statt. Da ist oft noch eine Distanz. Hört sich an, als ob viele die Verbrechen von Adolf Hitler im Hinterkopf haben und gleichzeitig neugierig sind, was diese Religion ausmacht? Wahrscheinlich so etwas in die Richtung. Viele haben sich auch nicht tiefgründig mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt. Man merkt, dass das dann in solchen Momenten wieder hochkommt und lieber nicht allzu genau nachfragt wird. Aber natürlich kenne ich auch andere Beispiele und habe Freunde, die sehr viel nachgefragt haben. Es gibt beides, nur schwingt oft in diesem Denken „das Andere“ mit. Das ist nicht wie bei Christen, man feiert nicht Weihnachten sondern „das Andere“. Sie tragen Ihren Davidstern offen. Was lösen Angriffe auf Juden, wie vergangenen Monat in Berlin, bei Ihnen aus?  Ich weigere mich grundsätzlich, meine jüdische Identität zu verstecken. Sollte jemals die Zeit kommen, in der ich hier nicht sicher leben kann, ist Deutschland leider nicht mehr mein Zuhause. Klar geht Sicherheit trotzdem immer vor. Wenn ich abends alleine unterwegs bin und seltsame Blicke kommen wie in Berlin-Neukölln, drehe ich den Davidstern um. Das ist traurig, und mir geht es damit schlecht, weil ich einen Teil meines Selbst verstecken muss. Im Großen und Ganzen lebe ich mein jüdisches Leben aber relativ offen aus. Zu Pessach habe ich Matze, das typische, ungesäuerte Brot, mit in die Uni gebracht. Es ist wichtig, sich nicht zu verstecken, damit wieder Normalität einziehen kann. Sie sind Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Wenn es um die AfD geht, verwenden sie in ihren Posts oft den Hashtag #Afnee. Kommt der von ihnen? Ja, der kommt von uns. Wieso? Wir positionieren uns als junge Juden ganz klar gegen die AfD. Sie sind für uns genauso gefährlich wie für andere Randgruppen. Wir wollen aufzeigen, was die AfD macht und sagt. Zum Beispiel das Zitat von Stephan Brandner, eine typisch syrische Familie bestehe aus „Vater, Mutter und zwei Ziegen“. Natürlich sind das gewählte Abgeordnete, aber wir sind gegen manche ihrer Aussagen. Wir wollen uns von ihnen nicht instrumentalisieren lassen. Als es einen Angriff auf ein jüdisches Denkmal gab, verkündete die AfD hinterher, dass sie mit der jüdischen Gemeinde stehe. Daraus haben wir den Tweet gemacht: „Stellt euch bitte woanders hin.“ Nur weil die AfD in dem Fall für Juden war, heißt das nicht, dass sie nicht gleichzeitig versuchen, andere Minderheiten zu marginalisieren. Nun kann Antisemitismus nicht nur von rechts kommen, sondern auch von links. Was halten Sie von der Linken? Natürlich beobachten wir nicht ausschließlich nur die AfD. Auch bei allen anderen Parteien haben wir im Blick, was da gesagt wird. Wir äußern uns auch bei denen, wenn es nötig wird. Bei der AfD sehen wir allerdings eine Ausnahmestellung. In ihrer Mitte leugnen Menschen den Holocaust und fordern eine 180-Grad-Wendung der Gedenkkultur. Das wird von der gesamten Partei und Fraktion toleriert. Natürlich haben wir diese Probleme auch von links, besonders wenn es um Israel geht. Da äußern wir uns ebenfalls immer, wenn laut der „International Holocaust Rembrandt Alliance“ (IHRA) die Israelkritik aufhört und israelbezogener Antisemitismus beginnt. Wir trennen da nicht nach Parteilinien, es geht uns allein um Prinzipien. Auch für diese Fälle gibt es jetzt einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Ist das gut oder schlecht? Das ist super! Wir haben das zusammen mit dem Zentralrat der Juden und vielen anderen jüdischen Organisationen zusammen gefordert. Das ist eine wichtige Instanz, die überparteilich arbeiten kann. Bisher gab es hie und da mal kleinere Projekte und Aktionswochen. Jetzt können die endlich zentral koordiniert werden. Man darf sich nicht wundern, wenn das Problem des Antisemitismus bestehen bleibt, wenn es niemanden gibt, der das im Großen angeht. Noch ist das Büro nicht vollständig ausgestattet. Momentan sind sie sogar nur zu zweit. Daran fehlt es gerade noch. Was sollte die Gesellschaft in ihrem Umgang mit Juden ändern? Mir ist wichtig, dass wir positive jüdische Akzente setzen können und unsere Identität nicht verstecken müssen. Juden werden immer nur angesprochen zu den Themen Antisemitismus, Holocaust und Israel. Es gibt aber so viel mehr, was jüdisches Leben, Religion und Traditionen ausmacht. Ich wünsche mir, dass in den Medien, der Zivilgesellschaft und der Politik jüdisches Leben nicht nur in Brennpunkten relevant wird. Sondern dass wir die Normalität des jüdischen Lebens zeigen können. Wir sind Teil der Gesellschaft, studieren an den Universitäten und sind in Parteien aktiv. Natürlich haben wir auch unsere Besonderheiten und Wünsche. Jüdisch sein soll nicht mehr merkwürdig sein, das ist mein Traumbild. „Wie es im wirklichen Leben aussieht, davon habt Ihr doch keine Ahnung“ – diesen Vorwurf hören Politiker immer wieder, aber auch Journalisten. Gerade wenn sie – wie wir in der Cicero-Redaktion – in der Hauptstadt Berlin leben und arbeiten, wirkt das auf viele offenbar so, als seien wir auf einem fernen Planeten unterwegs. Und sie kritisieren, dass wir zwar gern über Menschen sprechen und schreiben, aber kaum mit ihnen reden. Der Vorwurf trifft uns hart, und wir nehmen ihn sehr ernst. Deswegen starten wir auf Cicero Online eine Serie, in der wir genau das tun: Mit Menschen sprechen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber mitten im Leben, und dort täglich mit den Folgen dessen zurechtkommen müssen, was in der fernen Politik entschieden wird. Den Auftakt haben wir mit einem Gespräch mit einem Mann gemacht, der illegal in Deutschland lebt. Es folgte eine Unterhaltung mit einer Rentnerin.
Chiara Thies
Noch immer werden Juden in Deutschland mit Vorurteilen konfrontiert und teilweise sogar angegriffen. Wie es sich anfühlt als Jüdin in Deutschland aufzuwachsen, erzählt Dalia Grinfeld, die Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands
[ "Antisemitismus", "Judentum", "Holocaust", "Religion", "Jüdisches Leben" ]
kultur
2018-06-21T15:42:09+0200
2018-06-21T15:42:09+0200
https://www.cicero.de/kultur/judentum-antisemitismus-jude-deutschland-afd-religion-holocaust
Fracking - Europa sucht Alternativen zu russischem Gas
Iris Gleicke musste es Anfang April im Bundestag noch einmal wiederholen. Die Position der Bundesregierung habe sich nicht verändert. Der Gashandel werde nicht gestoppt, sagte die Staatssekretärin im Wirtschafts- und Energieministerium. Doch die Reaktionen auf ihre Ansage zeigen: Das politische Klima, in welchem das Geschäft abgewickelt wird, hat sich seit Anfang 2013 grundlegend geändert. Die Rede ist von dem Deal der BASF-Tochter Wintershall mit dem russischen Energiegiganten Gazprom. Vor dem Hintergrund der Krim-Krise bekommt der Plan, ein Fünftel der deutschen Gasinfrastruktur in die Hände einer vom Kreml kontrollierten Firma zu geben, viel Gegenwind. Zumal BASF kein Geld erhält, sondern im Tausch Förderrechte für russisches Gas in Sibirien. Mit anderen Worten: Die deutsche Abhängigkeit von einem unzweifelhaft aggressiven und machthungrigen Russland wächst weiter. Bundesregierung und EU-Kommission genehmigten den Deal mit dem Argument, dass es um keine signifikante Änderung der heutigen Marktsituation gehe. Die Frage, die sich mittlerweile aufdrängt und die im Bundestag auch gestellt wurde, lautet: Welche Alternative zu russischem Erdgas haben Deutschland und Europa? Oder anders gefragt: Wäre eine Versorgung Europas mit Schiefergas von Russlands traditionellem Erzrivalen USA eine Alternative? Für vier mitteleuropäische Staaten ist die Antwort klar. Der „Visegrad“ genannte Bund von Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei hat bereits einen Brief an den Vorsitzenden des amerikanischen Kongresses, dem Republikaner John Boehner, geschickt. Die Länder bemühen sich um eine schnelle Genehmigung der Exportlizenzen für amerikanische Schiefergasfirmen. Die USA reagierten erfreut, beide Kammern im Kongress unterstützen den Plan. Auf dem EU-US-Gipfel Ende März in Brüssel wurde diese Frage auch mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama besprochen. Darüber hinaus werden in den Medien neben den politischen auch die ökonomischen Aspekte erörtert. „Amerika soll sein Schiefergas nicht nur für sich selbst behalten,“ schrieb die Financial Times schon im November. Das Blatt argumentierte, der Export würde zwar wie eine neue Konkurrenz die Preise in den USA anheben. Aber generell würde die amerikanische Wirtschaft vom Export-Umsatz massiv profitieren. Doch die Begeisterung wird von technischen Probleme bei der Gewinnung von Schiefergas getrübt. Die neu entdeckten Gasvorkommen könnten schnell erschöpft sein. Zwar erlebte der amerikanische Schiefergasmarkt bis Anfang 2012 einen Anstieg, in den letzten beiden Jahren stagnierte er – trotz Tausender neuer Bohrungen und hoher Investitionen - ins Fracking. „Einige unserer Erkundungswetten sind nicht aufgegangen“, räumte Mitte März der Shell-Vorsitzende Ben van Beurden gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters ein. Der Energiekonzern hat seine Investitionen in amerikanisches Schiefergas bereits um ein Drittel reduziert und verkauft jetzt viele Förderungslizenzen. Was nicht bedeutet, dass die amerikanische Schiefergas-Revolution nicht andauert. Anders als Shell sehen einige Firmen weiterhin ausreichend starke finanzielle Anreize. Auch im Export. Allerdings steht dieser noch vor großen Herausforderungen – besonders beim Transport. Das Schiefergas muss in speziellen Anlagen, sogenannten LNG-Terminals, verflüssigt, mit Schiffen transportiert und am Bestimmungsort wieder vergast werden. Die LNG-Terminals sind teuer und müssen in Amerika erst gebaut werden. Seit 2011 haben sechs Projekte alle nötigen Genehmigungen erhalten. Die erste Zehn-Milliarden-Dollar-Investition in Pennsylvania wird frühestens Ende 2015 umgesetzt sein. Darüber hinaus werden allein der Verflüssigungsprozess und der Transport den Schiefergaspreis verdoppeln. Trotzdem wäre das für Europa immer noch ein Drittel billiger als russisches Gas. Auf amerikanisches Schiefergas muss Europa noch etwas warten. Aber es könnte eine schnellere Alternative geben: Europa könnte das Gas aus Russland mit Lieferungen aus Norwegen und den Niederlanden ersetzen. Möglich wäre das binnen eines Jahres bei fast einem Drittel der etwa 130 Milliarden Kubikmeter russischen Gases, das 2013 in Europa verbraucht wurde, sagt der Analyst Georg Zachmann vom Brüssel Think Tank Bruegel in seiner Studie. „Es wäre teuer und anspruchsvoll, aber die Möglichkeit existiert bereits.“ Dafür müssten sowohl Norwegen als auch die Niederlande ihre Fördermenge erhöhen. Privathaushalte und Firmen könnten mit finanziellen Anreizen dazu bewegt werden, ihren Energieverbrauch zu senken. Zudem müssten Länder wie etwa Großbritannien ihre Stromproduktion durch Gaskraftwerke teilweise ersetzen. „Das alles wäre schwierig politisch durchzusetzen“, sagt Zachmann, „aber Europa sollte auf jeden Fall so viele Alternativen wie möglich entwickeln, um russisches Gas zu ersetzen“. Solche Alternativen müssten nicht umgesetzt werden, aber sie würden für eine bessere Verhandlungsposition sorgen. „Sie wären eine Art Versicherung“, so der Wirtschaftsexperte. Auch Flüssiggas spielt dabei eine wichtige Rolle. Schon heute könnten der Bruegel-Studie zufolge bis zu 60 Milliarden Kubikmeter – das heißt fast die Hälfte der russischen Lieferungen an Europa – durch Lieferungen aus Katar und anderen Ländern ersetzt werden. Europa müsste allerdings bereit sein, entsprechend hohe Preise für kurzfristige Lieferungen zu bezahlen. „Langfristig wird auf dem Flüssiggas-Markt das Schiefergas eine immer wichtigere Rolle spielen,” sagt Zachmann. Dabei geht es nicht nur um amerikanische Lieferungen nach Europa. Eine wirtschaftlichere und in Amerika bereits diskutierte Lösung wären es, amerikanisches Schiefergas nach Asien zu liefern, wo der Gaspreis höher ist. Asien wiederum würde dann weniger Gas aus dem Mittleren Osten kaufen. Staaten wie Katar könnten ihre Lieferungen nach Europa ausweiten. Die Amerikaner sind dabei nicht die Einzigen, die den Weltmarkt mit Schiefergas verändern werden. China zum Beispiel hat seine Schiefergasförderung im Laufe des letztes Jahres verfünffacht. Zwar entspricht diese Menge nur einem Tausendstel der amerikanischen Produktion, aber chinesische Politiker sprechen bereits über ein geplantes exponentielles Wachstum. Auf chinesischem Boden befinden sich die bedeutendsten Ressourcen der Welt, doppelt so viele wie in den USA. Auch Europa könnte dazu einen Beitrag leisten. Der polnische Gasgigant PGNiG hat in der vergangenen Woche einen Vertrag mit dem amerikanischen Energiekonzern Chevron unterschrieben. Dieser soll so schnell wie möglich mit der Förderung von Schiefergas im Osten Polens beginnen. Der britische Premier David Cameron hat die Krim-Krise einen „Weckruf“ für Europa genannt. „Energiesicherheit sollte in Europa dringend Priorität bekommen,” antwortete er britischen Medien auf die Frage, ob Fracking in Großbritannien eine Möglichkeit wäre. Auch der starke deutsche Widerstand gegen das Fracking könnte bröckeln. „Wenn Carl Benz und seine Frau so kritisch ans Werk gegangen wären wie die Deutschen beim Fracking, hätten sie ihr Auto nie auf die Straße bekommen“, sagte EU-Energiekommissar Günther Oettinger der April-Ausgabe des Cicero. Anders als in den USA wird das Schiefergas allerdings nicht Europas Energiemarkt revolutionieren. Stärker als in den dünn besiedelten, gut mit Pipelineinfrastruktur erschlossenen und seismisch gründlich untersuchten USA birgt die Förderung in Europa auch aus geologischer Sicht einige beträchtliche Probleme. Schon im vergangenen Jahr hat die Europäische Kommission bestätigt, dass für jedes einzelne Bohrloch eine Analyse der Umweltrisiken durchgeführt werden muss. Die befürchteten Risiken haben in einigen europäischen Ländern bereits zu einem Fördermoratorium geführt. Viel effektiver wäre nach der Meinung vieler Politiker und Analysten eine neue Rhetorik Europas gegen Russland. „Die EU sollte sich auf dem Gasmarkt als Einheit präsentieren“, sagt Zachman vom Bruegel-Institut. Wobei es beim Gas nicht nur um die Frage der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Russland geht. Es handelt sich für europäische Unternehmen zugleich um ein großes Machtspiel um Märkte, Lieferwege und um die Energiepreise. Wenn es Europa wirklich ernst meint und mit den USA oder anderen Akteuren eine Konkurrenz zum Russlandgeschäft entwickeln würde, könnten sich die Preise auf dem Gasmarkt deutlich entspannen. Für Unternehmen wie den Chemie-Giganten BASF, der wegen der niedrigen Gaspreise gerade einen Teil seiner energieintensivsten Produktion aus Asien in die USA verlagert, wäre das eine ziemlich interessante Entwicklung.
Tomas Sacher
Die Krise in der Ukraine belebt den Gashandel und verteuert die Preise in Europa. Experten fordern nun, sich unabhängiger vom Russlandgeschäft zu machen. Das umstrittene Fracking wäre eine Lösung
[]
wirtschaft
2014-04-10T12:18:30+0200
2014-04-10T12:18:30+0200
https://www.cicero.de/wirtschaft/fracking-europa-sucht-alternativen-zu-russischem-gas/57382
Abschied von Papst Benedikt XVI. - Das Leben des Joseph Ratzinger
Joseph Ratzinger alias Papst Benedikt XVI. wurde am Donnerstag im Beisein von Papst Franziskus I., hochrangiger Kirchenvertreter, Politiker und weiterer Gäste in Rom beigesetzt. In diesem Text wirft Barbara Just einen letzten komprimierten Blick zurück. In der Bildergalerie oben (einfach durchklicken) hat Ben Krischke Bilder des Lebens und Wirkens von Joseph Ratzinger sowie Eindrücke vom Abschied gesammelt. Als sich der emeritierte Papst Benedikt XVI. am 22. Juni 2020 morgens bei seinem schwerkranken Bruder Georg Ratzinger in Regensburg verabschiedete, wussten beide, dass sie sich hier auf Erden wohl nicht mehr wiedersehen würden. Aber noch etwas sei ihnen damals bewusst gewesen: dass „der gütige Gott, der uns auf dieser Welt dieses Zusammensein geschenkt hat, auch in der anderen Welt regiert und uns dort ein neues Miteinander schenken wird“. Diese Worte schrieb Benedikt in einem Dankesbrief an den Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der ihm den Aufenthalt in der Heimat noch einmal ermöglicht hatte. Mit dem Verlesen dieser Zeilen im Requiem für den Papstbruder und langjährigen Leiter der Regensburger Domspatzen hatte Benedikt damals seinen Sekretär beauftragt, Erzbischof Georg Gänswein. Dieser kämpfte dabei immer wieder mit Tränen. Gänswein bezeugte damit auch, wie innig die Beziehung der Geschwister zueinander war, und letztlich auch zu ihm, der beiden nahestand: dem „Bücher-Ratz“ und dem „Orgel-Ratz“, wie sie von Freunden genannt wurden. Beide waren sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus tiefster Überzeugung Priester geworden; 1951 wurden sie in Freising gemeinsam von Kardinal Michael von Faulhaber geweiht. Während der drei Jahre ältere Georg noch seiner zweiten Leidenschaft folgte und ein Musikstudium draufsattelte, machte Joseph als Wissenschaftler Karriere; 1977 folgte die Ernennung zum Erzbischof von München und Freising und der baldige Kardinalstitel. 1981 berief ihn Papst Johannes Paul II. an die Spitze der Glaubensbehörde in Rom, am 19. April 2005 wurde aus Joseph Ratzinger Benedikt XVI. – „Wir sind Papst“, titelte die Bild-Zeitung. Anhaltenden Stolz weckte er aber vor allem im weiß-blauen Freistaat – war doch erstmals überhaupt ein heimatverbundener Altbayer auf den Stuhl Petri gelangt; ein Ehrenmitglied der Tegernseer Gebirgsschützen, dekoriert mit dem Karl-Valentin-Orden der Münchner Faschingsgesellschaft Narrhalla. Schon in einer seiner ersten Audienzen machte das neue Kirchenoberhaupt deutlich: „Mein Herz schlägt bayrisch“, auch wenn er nun der ganzen Welt gehöre. Mehr zum Thema: Das Konklave machte einen Strich durch seine Pläne. Eigentlich hatte er schon den Ruhestand anvisiert. In seinem „Häusle“ in Pentling, das er sich als Regensburger Professor hatte bauen lassen, wollte er auf seine alten Tage weitere Bücher schreiben. Und er wäre in der Nähe seines Bruders gewesen. Ebenfalls nicht weit hätte er es zum Grab der Eltern gehabt, wo auch seine ältere Schwester Maria begraben liegt, die ihm über Jahrzehnte den Haushalt führte. 2006 kehrte Benedikt während seiner Bayernreise noch einmal an diesen Ort zurück. Bei schönstem Wetter wurde er vom 9. bis 14. September bei großen Freiluftgottesdiensten in München, Altötting und in Regensburg gefeiert. In Marktl am Inn, wo sein Geburtshaus am Marktplatz zu einem Begegnungsort mit seinem Leben und Wirken geworden ist, bereiteten die Menschen „ihrem“ Papst einen denkwürdigen Empfang. Die meisten Orte, in denen der Gendarmensohn mit seiner Familie einst gelebt hatte, machten ihn zum Ehrenbürger – außer München. Landauf, landab wurden Büsten und Benedikt-Säulen aufgestellt. Doch ab 2010, als in Deutschland immer mehr Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche bekannt wurden, verdunkelte sich zunehmend der Himmel über dem bayerischen Pontifikat. Das von seiner alten Erzdiözese München und Freising 2010 in Auftrag gegebene Gutachten über Missbrauchsfälle warf Fragen über das Handeln in seiner Amtszeit auf. Der ehemalige Generalvikar Gerhard Gruber warf sich schützend vor seinen Ex-Chef. 2021, bei der Veröffentlichung des neuen Gutachtens der Münchner Erzdiözese, wurden die Vorwürfe gegenüber dem seit 2013 emeritierten Papst allerdings heftiger. Benedikt wehrte sich mit Unterstützung eines Freundeskreises nach Kräften. Ein persönliches Wort zu seiner Verantwortung, wie es sich vor allem Betroffene gewünscht hatten, unterblieb. Im Frühjahr 2023 hätte vor dem Landgericht Traunstein eine Feststellungsklage gegen das frühere Kirchenoberhaupt verhandelt werden sollen. Es wäre darum gegangen, ob er aufgrund seines Handelns oder Unterlassens während seiner Zeit als Münchner Erzbischof in Zusammenhang mit einem unter Missbrauchsverdacht stehenden Priester schadenersatzpflichtig gewesen wäre. Für den Verstorbenen zumindest hat sich das Verfahren erledigt. Für Benedikt ist nun der himmlische Richter zuständig. In Kooperation mit
Cicero-Gastautor
Ein letztes Mal zuhause in Bayern war der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Juni 2020 - um von seinem im Sterben liegenden Bruder Georg Ratzinger in Regensburg Abschied nehmen zu können. Nun ist er ihm nachgefolgt.
[ "Papst Benedikt", "Katholische Kirche", "Rom" ]
kultur
2023-01-05T13:06:14+0100
2023-01-05T13:06:14+0100
https://www.cicero.de/kultur/abschied-von-papst-benedikt-xvi-das-leben-des-joseph-ratzinger-
Erfolg der AfD - Warum die Medien eine Mitschuld tragen
Angela Merkel trägt die Verantwortung für das zweitschlechteste Resultat ihrer Partei in allen Bundestagswahlen seit 1949. Und was fällt ihr dazu ein? „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten.“ Dieser Verzicht auf jede Selbstkritik, das Eingeständnis, zur Selbstkritik gar nicht fähig zu sein – es ist der Offenbarungseid der „mächtigsten Frau Europas“, wie ihr gerne gehuldigt wird. Wäre da der Rücktritt der Bundeskanzlerin nicht die logische, die moralische Konsequenz? Auch die SPD bekam von den Wählern das schlechteste Resultat seit 1949 verpasst. Auch die Sozialdemokraten scheuen sich vor einer schonungslosen Analyse. Die einstige Volkspartei, auf 20 Prozent Wähleranteil geschrumpft, verzichtet zwar auf eine Fortsetzung der Großen Koalition, jedenfalls vorerst, macht aber mit dem bisherigen Führungspersonal weiter. Was die politisch Verantwortlichen vorexerzieren: Die Medien machen es nach. Auch ihnen fällt zum Wahlergebnis nichts Selbstkritisches ein. Sind die Journalisten am Aufstieg der rechtspopulistischen AfD zur drittstärksten Kraft im Deutschen Bundestag denn völlig unschuldig? Tatsache ist: Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel verlieh der AfD Flügel. 1,5 Millionen Migranten, die in jenen Monaten der Grenzöffnung 2015 unkontrolliert ins Land strömten, sind in den Augen zahlloser Bürger bis heute ein kaum bewältigtes Problem – kulturell wie finanziell. Das war abzusehen. Warnende Stimmen gab es früh. Sie blieben ungehört. An diesem Punkt beginnt die Verantwortung der Medien für das Debakel – von ARD und ZDF über Deutschlandfunk und Süddeutsche Zeitung bis Zeit und Bild. Sie haben die Warner jener Herbstwochen vor zwei Jahren nicht nur überhört, sie haben sie diffamiert: als Rechte, als Fremdenhasser, als Rassisten, als Zuträger der Populisten. Finanzminister Wolfgang Schäuble wagte es damals, für den Flüchtlingsstrom das Bild der „Lawine“ zu verwenden. Er wurde niedergemacht. Jeder Mucks gegen die verordnete „Willkommenskultur“ galt als verwerflich. Angela Merkel machte ein Selfie mit einem Flüchtling. Das Bild ging um die Welt – und wurde von Afghanistan bis Marokko als Einladung verstanden: Auf geht‘s, nach Deutschland! Die Medien feierten die Kanzlerin als Schutzpatronin aller Migranten. Mediale Begeisterung begleitete den Treck der Einwanderer. Allesamt wurden sie in den unantastbaren Status von Schutzsuchenden erhoben. Wer durfte da noch aufbegehren, ohne sich der moralischen Verwerflichkeit zeihen zu lassen? Es waren doch lauter Facharbeiter und Ärzte, welche die deutsche Grenze überschritten! Wer durfte dies anzweifeln, ohne als ökonomisch ahnungslos dazustehen? Die deutschen Medien sangen das Hosianna der kulturellen und wirtschaftlichen Bereicherung durch die Völkerwanderung. Heftigste Prügel in Zeitungen und Sendungen bezogen Kritiker des Islam. Der totalitäre Dogmatismus der Religion dieser Migranten war tabu. Wer gegen das Tabu verstieß, der war so schlimm wie ein Antisemit. Judenfeindschaft wurde mit Islamkritik in eins gesetzt. Wie die Propagandawelle inszeniert wurde, demonstrierte die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung: Auf fünf Seiten zeigte sie in einer einzigen Ausgabe Bilder von geflüchteten oder fliehenden Frauen und Kindern – Stimmungsmache in Reinform. Über Tage und Wochen und Monate feierten Zeitungen, Fernsehen und Radio Deutschlands moralische Großtat. In Wahrheit wanderten vor allem Wirtschaftsmigranten ein, schlecht ausgebildet, wenn nicht Analphabeten – Notleidende durchaus, nicht aber politisch Verfolgte, denen allein das Asyl zusteht. Der deutsche Sozialstaat wurde zum Sehnsuchtsland für Menschen aus armen Ländern, die sich die Reise – und die Schlepper – leisten konnten. Mit ihnen kamen zahllose junge Männer ins Land, denen die Frau nichts gilt: ein schwelendes Problem, um das die Medien bis heute herumdrucksen. Wer in den Redaktionssitzungen gegen den moralischen Maulkorb aufbegehrte, weil er Journalist sein wollte und nicht Propagandist, sah sich mit Misstrauen beäugt und marginalisiert. Diese Tatsachenverweigerung durch die Medien bildete den Nährboden für die AfD, der sich Bürger aller Schichten zuwandten, von Arm bis Reich, weil sie bei niemandem sonst Gehör fanden. Der Begriff „Lügenpresse“ war plötzlich in aller Munde. Haben die Medien die Menschen belogen? Lügen bedeutet: die Unwahrheit sagen wider besseres Wissen. Aber so war es nicht. Die Journalisten glaubten nämlich, was sie schrieben, sagten und sendeten. Sie haben die Bürger nicht mit Absicht getäuscht – sie haben sich selbst etwas vorgelogen. Ist das als mildernder Umstand zu werten? Nein. Denn die journalistische Verantwortung für das Wahlresultat wiegt schwer – sehr schwer. Man stelle sich vor, die Medien hätten von Anbeginn der Einwanderungswelle offen, kritisch, analysierend unter die Lupe genommen, was da vor sich ging – die Politik der Bundesregierung wäre eine andere gewesen. Am Anfang einer Meinungsbildung der Bürgerschaft und ihrer politischen Repräsentanten steht immer die Information – Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse. Die deutschen Medien haben von Anfang an versagt. Dieser Text erschien auch im Schweizer Sonntagsblick.
Frank A. Meyer
Nicht nur bei Angela Merkel wartet man nach der Bundestagswahl vergeblich auf Selbstkritik. Auch die Medien sehen dazu offenbar keinen Anlass. Dass sie die Flüchtlingspolitik nicht vorsätzlich in falschem Licht darstellten, macht es nicht besser
[ "AfD", "Bundestagswahl", "Medien", "Flüchtlingspolitik" ]
innenpolitik
2017-10-02T12:09:02+0200
2017-10-02T12:09:02+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/erfolg-der-afd-warum-die-medien-eine-mitschuld-tragen
Ahmad Mansour im Gespräch mit Clemens Traub - Cicero Podcast Politik: Aschaffenburg: „Ich verspüre eine unglaubliche Wut auf die Politik“
Im Cicero Podcast Politik mit Clemens Traub zeigt sich der Psychologe Ahmad Mansour fassungslos über das Gewaltverbrechen in Aschaffenburg: „Das, was sie durchmachen mussten, kann ich mir kaum vorstellen. Und im zweiten Schritt bin ich wütend auf diese Politik, die einfach seit Jahren das Thema Migration ignoriert, die jeder Beschäftigung mit dem Thema als rassistisch, als rechtsradikal bescheinigt. Und ich bin nicht bereit, als Bürger dieses Landes diese Zustände zu akzeptieren. Ich bin nicht bereit.“ Es müsse dringend zu einer Zeitenwende in der Migrationspolitik kommen, so der deutsch-israelische Buchautor. Andernfalls drohen Deutschland unheilvolle Zustände, wie es sie seit einigen Jahren bereits in unseren Nachbarländern gibt. „Es wird in Großstädten zu einer immer größeren Segregation kommen, wie wir das bereits in anderen Ländern wie Frankreich oder der Niederlande haben. In Frankreich gibt es Banlieues, die weitestgehend rechtsfreie Räume sind und von den meisten Franzosen gemieden werden. Die Folge wird ein massives Gewaltpotenzial in den abgehängten Milieus sein. Die Gutverdiener werden ihre Kinder auf Privatschulen schicken und alles daransetzen, sich von der restlichen Bevölkerung abzuschirmen. All das haben wir in Deutschland bereits in Ansätzen, aber wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden wir eine bürgerkriegsähnliche Situation haben“, sagt Mansour. Das Gespräch wurde am 23. Januar 2025 aufgezeichnet. Sie können dieses Gespräch auch als Video-Podcast auf unserem Cicero YouTube Kanal anschauen. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
Clemens Traub
Der Islamismus-Experte Ahmad Mansour spricht über das fürchterliche Gewaltverbrechen in Aschaffenburg, das Versagen der Migrationspolitik und die politische Korrektheit im linksgrünen Milieu.
[ "Podcast", "Migrationspolitik", "Israel", "Antisemitismus" ]
2025-01-29T13:02:12+0100
2025-01-29T13:02:12+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/ahmad-mansour-podcast-aschaffenburg-migrationspolitik-islamismus
Irak-Veteran im Trauma - Der Fahrschüler
Eric Campbell kann nicht aufhören, die Bomben zu suchen. Sobald er in Kingsburg, Kalifornien, im Auto sitzt, tasten seine Augen die Umgebung ab. Sein Blick irrt los: Er heftet sich an Stoßstangen, prallt auf die Fahrbahn, untersucht klaffende Schlaglöcher, sticht in blutverschmierte Tierkadaver, stochert in wehende Mülltüten, er schrammt über frisch gestrichene Leitplanken. Campbell ist vor fünf Jahren beim United States Marine Corps ausgeschieden, den berüchtigten Kriegern der US‑Streitkräfte. Dem Irak hat er die Freiheit geschenkt, so steht das jedenfalls in seiner E-Mail-Signatur. Jetzt, zu Hause zurück, ringt er um seine eigene Freiheit. Sergeant Eric Campbell, 32 Jahre alt. Seine Wirbelsäule war zweimal gebrochen, seine Schulter ist kaputt, seine Knie auch. Aber er hat noch zwei Beine, von denen eines das Gaspedal seines Chevrolet Silverado tritt, und zwei Hände, die das Lenkrad des Pick‑up‑Trucks umfassen. Er kann nur nicht mehr damit fahren, nicht länger als eine halbe Stunde. Wenn er in ein Auto steigt, geht Eric Campbell die Gefahren durch. Bombenangriff, Scharfschützen, vielleicht auch: Flugzeugabsturz. Er überlegt sich die Schritte, die nötig sein könnten. Danach. Er ist auf jede Gefahr vorbereitet. Auch wenn es hier keine gibt. Die größte Gefahr auf dem Highway 99 von Kingsburg, Kalifornien, wo er in seinem Trailer lebt, nach Fresno, Kalifornien, zur Veteranenklinik, ist Eric Campbell selbst. Seine Angst. Sein Blick. „In Amerika hängt deine Freiheit an deinem Auto“, sagt er. Es ist einer seiner ruhigen Cowboy-Sätze, er klingt, als müsste er ein nervöses Pferd besänftigen. Nicht einfach hinfahren zu können, wohin er möchte, bedeutet für ihn, gefangen zu sein: „Als würden sie dich mit Stahlbügeln an der Wand festnageln.“ Da steht er jetzt. Als die Soldaten aus den früheren Kriegen der USA zurückkamen, aus Vietnam, aus Korea, sind manche im Auto ausgerastet auf der Straße. Road Rage nannten das die Psychologen damals. Die Veteranen fuhren riskanter, schneller, ohne Gurt. Sie waren reizbarer, sie tickten aus. Die Soldaten, die aus den neuen Kriegen, aus dem Irak und aus Afghanistan, zurückkommen, haben ein anderes Problem. Sie fliehen vor der Gefahr. Steve Woodward will helfen. Er schaute Fernsehen, als er zu begreifen begann, dass da etwas Neues auf ihn zukam, auf die USA. Es war 2005, ein Bericht von einem Veteranen, der irgendwo in Montana auf dem Land lebte und erzählte, dass Gegenstände am Straßenrand ihn zurück in den Irakkrieg versetzten. Woodward ist Psychologe an der größten Veteranenklinik der Westküste in Palo Alto, in Kalifornien. Ein grauhaariger sportlicher Typ. Er forscht zu Kriegstraumata und sucht nach Behandlungsmethoden. Steve Woodward beantragte Forschungsgelder, 2009 startete er eine Studie, die erkunden soll, wie diese Soldaten sich im Straßenverkehr verhalten. Damit sie dann das Fahren neu lernen können, die Männer, die ihr Leben lang hinterm Steuer saßen. Das erste Auto, das Eric Campbell in seinem Leben fuhr, war ein Mercury Topaz. Er kostete 2000 Dollar, die er mit seinen Jobs bei Kentucky Fried Chicken und ­McDonalds bezahlte. Der Topaz ist ein kleiner, gewöhnlicher Wagen. Campbell sagt, dass er damals kein verwegener Fahrer war. Am Wochenende cruisten er und sein Bruder manchmal raus in die Maisfelder von Indiana. Einfach irgendwohin. Das ist die Freiheit, sagt Eric Campbell. „Du springst ins Auto und fährst los.“ Er fuhr mit dem Mercury Topaz zur Schule. Campbell war damals 17, zwei Jahre vor dem High-School-Abschluss, aber er hatte sich schon bei den Marines verpflichtet. Auf den blaugrünen Lack seines Topaz hatte er Marines-Sticker geklebt, neben die anderen: „Böse bis auf die Knochen“, „Jung und unbesiegbar“. Der Vertrag war unterschrieben. Sie erwarteten ihn. nächste Seite: Zahl der Unfälle bei Veteranen höher Im Frühjahr 2012 hat die Versicherungsgesellschaft USAA einen Report veröffentlicht, der zeigt, dass Veteranen deutlich mehr Unfälle verursachen als andere Verkehrsteilnehmer. Bei Soldaten, die drei Mal oder häufiger im Auslandseinsatz waren, stieg die Zahl der Unfälle zwischen 2007 und 2010 um 36 Prozent. Der wichtigste Grund: Gegenstände am Fahrbahnrand. Hastige Blicke. Zum ersten Mal zog Eric Campbell 2003 in den Irak, mit 22. Aus den Lautsprechern in den Quartieren hallte Metal, „Let the Bodies hit the Floor“. In Bagdad stürzte die Saddam-Statue, Campbell war dabei. An seinem Hals hängt heute eine Metallmarke von Saddams Leibgardisten, den er erschossen hat. Der Mann trat aus einem Busch, er habe eine Panzerfaust auf ihn gerichtet. Campbell spürte die Hitze des Geschosses über seinem Kopf. Dann erschoss er den Mann. Eric Campbell hat früher gern im Garten gearbeitet, aber er kann sich jetzt nicht mehr in der Nähe von Büschen aufhalten. 2005 wird er zum zweiten Mal in den Irak geschickt. „Da fing der ganze Spaß dann an“, sagt er. Es klingt cool. Es soll cool klingen. Ein schwerer junger Mann mit Hemd überm T‑Shirt, Cap, Kinnbart und Freundschaftsbändern am Arm sitzt da in einem Raum der Veteranenklinik von Palo Alto. Ein Mann, der seine Sätze vorsichtig zusammensetzt wie einen vorher zerlegten Motor. Stück für Stück. Schraube für Schraube. Seine Freundin hat ihn hergefahren. Der Himmel ist blau. Ein warmer windiger Herbsttag in Kalifornien. Über der Klinik schwebt ein Zeppelin. Ihr Camp lag vor Falludscha. Das Problem hieß IED. Improvised explosive devices. Improvisierte Bomben. Das Problem begann, wenn sie aus dem Lager rausfuhren. Es war wie mit Katzen, die Mäuse jagen, sagt Eric Campbell. Anfangs versteckten sie die Bomben am Straßenrand, unter den Gehwegstellen, die frisch renoviert waren. Daran konnte man sie erkennen. Als die Soldaten das gelernt hatten und in der Mitte der Straße fuhren, verscharrten ihre Gegner die IEDs in den Schlaglöchern und zündeten sie aus der Ferne. Als die Störsignale der Amerikaner die Zünder außer Gefecht setzten, führten Kabel zu den Bomben, Männer standen hinter Häusern und wenn sie einen Panzer kommen hörten, drückten sie ab. Sie standen am Straßenrand, ihre Hände in einem Buch, im Koran etwa, und ließen die Bomben explodieren. Bis die Amerikaner merkten, dass in einem Buch verborgene Hände eine Gefahr sein konnten. Die Gefahr veränderte sich ständig. Auf alles musste man achten. Die Marines fuhren mit 30, 40 Metern Abstand zueinander. Ein US-Fahrzeug hinter dem anderen. Eric Campbells Auto war ein Humvee. Ein gepanzerter Jeep. Sein Job war es, die Autos am Laufen zu halten. Er war Mechaniker. Einmal fuhren sie zu einem Panzer, der explodiert war. Sie schnitten den Fahrer raus. Fünf Stunden lang, nach dreien war er tot. Sieben IEDs hat er überlebt. Er war nie in der Killing Zone, wo es ihn zerrissen hätte. Sie gingen vor seinem Humvee oder dahinter los. Danach fühlt man sich manchmal unbesiegbar, sagt Campbell. Er hatte genaue Anweisungen, was du zu tun hast, wenn eine Bombe hochgeht. Fahr weiter. Fahr immer weiter. Fahr zurück, fahr ins Camp. Eric Campbell steckt seine Sätze zusammen, sein Blick ist gerade und ruhig dabei. Er bewegt sich nur langsam von einem Gesprächspartner zum nächsten. Manchmal rastet er einen Moment zu lange. Wie ein Wagen an einer Ampel, die schon grün ist. „Die meisten Amerikaner könnten ohne ihr Auto nicht überleben“, sagt Campbell. Als dem Psychologen Steve Woodward die Gelder genehmigt worden waren, stellte er ein Team zusammen und beauftragte eine deutsche Doktorandin mit der Studie. Sie verwendeten einen weißen Pontiac Bonneville, der ein wenig an Eric Campbells erstes Auto erinnerte. Klein und nicht besonders auffällig. nächste Seite: Wie in der Fahrschule Wenn Eric Campbell das Lenkrad dieses Pontiacs hielt und über die Straßen von Palo Alto fuhr, lag um seine Brust ein Messgurt, der seine Herzschläge registrierte. Drei iPod-Touch maßen die Bewegungen der Pedale, die Geschwindigkeit, das Bremsen. Alle Signale, die Campbell aussendete, liefen in einem Gerät zusammen, das die Fujitsu Laboratories entwickelt haben. Man kann so sehen, an welchen Stellen auf der Fahrt sein Herzschlag stieg, wann er das Gaspedal zu heftig trat, wann er zu scharf bremste. Neben ihm saß der Fahrcoach, der ebenfalls ein Gaspedal vor seinen Füßen hatte und eine Bremse. Wie in der Fahrschule. Auf einem iPod‑Touch kann der Lehrer Ereignisse markieren: Baustelle. Von einem anderen Fahrer geschnitten. Müll am Straßenrand. Lärm. Das ist der Anfang, sagt der Psychologe Steve Woodward, der Karten anfertigen lässt, auf denen die Wege rot markiert sind, auf denen Eric Campbells Herz schneller schlug als sonst. Es ist der allererste Schritt: herausfinden, womit die Veteranen nicht umgehen können. Es hat auch mit der Frage zu tun, ob Angst messbar ist. Woodward hat mit Campbell geübt, wie man anhält, wie man atmet, wie man ruhiger weiterfährt danach. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Der Coach hat ihm gesagt, was sein Blick macht, wie er tastet, sucht, stochert. Da erst fing Campbell an zu merken, wie das alles zusammenhängt. Es sind Fahrstunden, aber er lernt dabei nicht, wie das Auto funktioniert. Er lernt, wie er selbst tickt. Danach hat er Fragebögen ausgefüllt: Das Auto vorm Einsteigen auf Sprengstoff überprüft? Die Route spontan geändert, um nicht vorhersehbar zu fahren? Beim Fahren plötzlich geduckt? Er mag nicht, wenn ein Auto direkt vor ihm ist und eines neben ihm. Er kann Nähe nicht ertragen. Neulich ist wieder dieser weiße Truck hinter ihm hergefahren, eine ganze Weile. Er ist rübergezogen auf die andere Spur. Der Truck auch. Er ist langsamer gefahren. Der Truck auch. Campbell raste zu einer Kreuzung, hielt am Stoppschild, er wartete, bis der Laster, der von links heranrumpelte, kurz vor ihm angekommen war, dann schoss er daran vorbei, rüber über die Straße, raus in den Wald, sodass ihm keiner folgen konnte. Eric Campbell ist zwei Mal verheiratet gewesen und zwei Mal geschieden worden, nach dem ersten und nach dem zweiten Irak-Einsatz. Posttraumatisches Stresssyndrom, sagt er, wenn man ihn fragt, warum. Mit seiner zweiten Frau war er einmal im Kino. „Flags of our Fathers“, Clint Eastwoods Film über die Schlacht von Iwojima, 1945. Er konnte ihn nicht zu Ende sehen. Das alles war dem Irak zu ähnlich. Sie fuhren nach Hause und er übersah das Schlagloch, der Aufprall warf ihn zurück. Eric Campbell raste los. Seine Frau muss ihn angeschrien haben, aber er reagierte nicht. Er murmelte, back to base, back to base, zurück zur Basis, ins Camp. Sie hat ihm das nachher erzählt. Es ist, als glühte die Erinnerung in seinem Kopf, manchmal lodert sie hoch, manchmal ist da auch nur Rauch, und er kann sich an andere Dinge nicht erinnern. Wo liegt der Autoschlüssel? Eric Campbell hat gern an Autos geschraubt, aber er kriegt den Motor nicht mehr zusammen, nicht mehr richtig. Er vergisst Dinge. TBI, sagen die Ärzte. Traumatic Brain Injuries. Traumatische Hirnschäden. Sieben IEDs. Sieben Bomben. Jedes Mal ist sein Kopf gegen irgendetwas geknallt. Er hatte nach seiner ehrenhaften Entlassung einen Job als Netzwerk-Techniker, er hat an großen Übertragungsanlagen eines Kabelfernsehkonzerns gearbeitet. Bis er ein Mal einfach umfiel. Sein Arbeitgeber schickte ihn einige Monate in den unbezahlten Krankenstand und warf ihn dann mit einer kurzen E‑Mail raus. Pseudo-Anfall, sagten die Ärzte. Eric Campbell bekommt eine Invalidenrente, er gilt als 70 Prozent behindert. Er könne damit seine Rechnungen zahlen, sagt er, nicht davon leben. Wenn er am Steuer noch ein einziges Mal einen Anfall hat, müssen sie das der Führerscheinbehörde melden, haben die Leute vom Veteranenministerium gesagt. Das Department of Motor Vehicles California könnte dann seine Fahrerlaubnis einziehen. Das ist seine größte Sorge. Irgendetwas liegt fast immer am Rande der Highways. Blutige Hasen, Reifenteile, Papiertüten. Nächste Seite: Ein Auto verschafft Freiheit Eric Campbell besitzt einen Chevrolet Silverado, ein Pick-up-Truck. Es ist ein Auto, das in den USA so oft gekauft wird wie kaum ein anderes. Nummer zwei in der Fahrzeugstatistik. Den Silverado fährt man da, wo Amerika weit ist und staubig. Da, wo es keine Parklücken gibt. Der Silverado heißt wie ein Westernfilm aus den Achtzigern. Er ist schwer und breit und hat eine Ladefläche. Auf den Werbeplakaten steht er wie ein Superheld in der Landschaft, dunkel, geheimnisvoll. Mit dem Silverado kann Eric Campbell seinen Trailer bewegen, sein Zuhause. Er weiß nicht so genau, wie viele Unfälle es waren. Zehn, vielleicht fünfzehn. Alle nach dem Irak. „Fender bender“, sagt Campbell. Kotflügeldellen. „Alles selbst repariert.“ Er versucht, die Unfälle harmlos zu lächeln, aber das Lächeln wird zu matt. Der Vietnamkrieg, sagt Steve Woodward, der Trauma-Psychologe, war ein Dschungelkrieg. Wenn man aus dem Dschungel raus war, erinnerte einen wenig daran. Der Irakkrieg und auch der Krieg in Afghanistan finden in Städten statt. Auf Straßen. Straßen gibt es überall. „Wir können heute mit dem Auto in drei oder vier Tagen das ganze Land durchqueren“, sagt Eric Campbell. „Die ersten Siedler haben in ihren Planwagen früher mehrere Monate für einen einzigen Staat gebraucht.“ Das Auto verschafft Freiheit. Er ringt um sie. Er versucht sich zu beruhigen. Er hält an zwischendurch. Er atmet, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Aber bisher schafft er nicht mehr als eine halbe Stunde. Wenn überhaupt. Wer steht da oben auf der Überführung? Meistens muss seine Freundin fahren. Er hat sie bei einem Veteranentreffen kennengelernt, sie war bei der Navy. Sie hat ihm durch einige Flashbacks geholfen, sagt er, wenn der Irak zurückkommt, wenn es heiß ist wie dort. Sie wohnen in dem Wohnwagen, mit ihren drei Kindern, manchmal auch mit seinen zweien dazu, mit Hunderten DVDs. Kurz hat er einmal als Türsteher gearbeitet, aber sie haben ihn dann nicht mehr gebucht. „Meine Arzttermine sind mein Job“, sagt er. Sechs Wochen hat es gedauert, bis er mit 16 seinen Führerschein hatte. Er weiß nicht, wann er so weit ist, dass er ihn behalten kann. Er muss wieder ein Treffen mit dem Fahrcoach vereinbaren. Er muss sich das vom Arzt verschreiben lassen. Die Studie hat nur drei Sitzungen umfasst. Die Forschung steht am Anfang. Die Veteranen haben ihr eigenes Gesundheitssystem. 100 Millionen Dollar, hat ihr Ministerium angekündigt, sollen in die Erforschung posttraumatischer Belastungsstörungen und traumatischer Hirnschäden fließen. Auch die Fahrerforschung wird mehr Geld brauchen. Wenn Steve Woodward Eric Campbell zuhört, sagt er manchmal „Aha“, wie ein Tourist auf einem fernen, exotischen Eiland. Aha, so ist das also. Woodward freut sich, dass sie dieses neue Gerät haben, in dem alle Datenströme der Fahrer zusammenlaufen. In dem Projekt steckt die Hoffnung, dass Technik den ursprünglichen Zustand wiederherstellen kann. Vielleicht ist sie ähnlich trügerisch wie jene, dass der Fortschritt irgendwann einen Krieg mit vielen Drohnen, aber ohne Tote ermöglicht. Wenn Eric Campbell seinen Bruder trifft, der auch bei den Marines war, fahren sie heute nicht mehr raus in die Felder. Sie sitzen und reden. „Was er erlebt hat, was ich erlebt habe. Düstere Gespräche“, sagt Campbell. Eric Campbell läuft über den Parkplatz der Klinik in Palo Alto, seine Freundin neben ihm, ein leichter Wind. Er, in festen Stiefeln, mit seiner roten Cap, mit der Marke des toten Leibgardisten um den Hals. Sie in ihrer navyblauen Veteranenuniform, mit der Veteranenmütze. Die Sonne scheint. Es gibt gute und schlechte Tage, sagt Campbell. Eigentlich ist heute ein guter Tag. Er hat bisher gar nicht so viel vergessen. Er stellt sich vor den Van seiner Freundin, ein Chevrolet Suburban. Er steht da und schaut ernst. Es sieht aus, als würde er stolz seinen Wagen präsentieren. Und gleichzeitig wirkt dieser staubige, schwarze Chevrolet Suburban wie eine Bedrohung. Er wirft einen Schatten auf den Asphalt. Sie steigen ein. Der Motor röhrt. Seine Freundin fährt los. Sein Blick wird wieder die Umgebung abtasten. Er kann nicht aufhören, die Bomben zu suchen. Auch als Beifahrer nicht. ____________________________________________________________
Johannes Gernert
Was richtet der Krieg im Kopf an? Sergeant Eric Campbell war mit dem United States Marine Corps im Irak. Jetzt leidet er unter einem posttraumatischem Stresssyndrom und muss etwas neu erlernen, das in Amerika nicht weniger als die Freiheit bedeutet: das Autofahren
[]
außenpolitik
2013-02-05T15:32:18+0100
2013-02-05T15:32:18+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/der-fahrschueler/53376
FDP-Abgeordneter Schulz – Jimmy gibt nicht auf
In Rottenburg an der Laaber redet sich Jimmy Schulz nah an die Katastrophe heran. Erst kurz nach seiner Ankunft beim Bezirkstag der niederbayerischen FDP hat er realisiert, dass hier von ihm kein schnelles Grußwort erwartet wird, sondern ein 30-Minuten-Auftritt. Er soll über sein Spezialgebiet referieren, das Internet, im Grunde erwarten sie von ihm, dass er die Zukunft an die Laaber bringt. Ein Witztermin ist das hier wirklich nicht, einige dieser Delegierten könnten in wenigen Wochen entscheiden über die Zukunft von Jimmy Schulz, 44 Jahre, Bundestagsabgeordneter aus Hohenbrunn bei München. Er tippt die Themen an, tastet das Publikum mit den Augen ab, er wirft ihnen Begriffe hin. Netzpolitik? Digitale Aufklärung? Vorratsdatenspeicherung? An den Tischen im Saal murmeln die Niederbayern, sie bereiten gerade einen Dringlichkeitsantrag vor: die Rettung des Schnupftabaks vor den Eurokraten. Jimmy Schulz, ein Meter siebzig, macht sich größer hinterm Rednerpult. Schweiß steht ihm auf der Stirn, er fasst sich ans Kinn, zupft sich am Ohr. Verhaspelt sich in Hackerattacken, verirrt sich in Virenzoos, braut ein schreckliches Mischmasch aus Videotheken und IP‑TV. Der Bezirksvorsitzende saugt an seinem Weißbier, seine kleine Tochter schnattert mit ihrem Plüschstorch, im Hintergrund plärrt ein Senior über Rösler. Dann, Schulz ist endlich wieder auf seinem Platz im Publikum, geschieht das Wunder. Ein junger Mann geht zum Rednerpult, Christian Neulinger, Kreisvorstand Passauer Land, Gemeinde Pocking. Er hört sich ungefähr so an wie ein mit Tranquilizern vollgepumpter Gerhard Polt. Aber gerade dieses langsame Niederbayerisch verleiht ihm Gewicht, und der ganze Saal hört schlagartig hin, als er anhebt: „Spricht da Jimmy, kant i imma Ja sang.“ Der Schnupftabak, das Weißbier, der Storch, alles verschwindet. „Wir müssen’s richtig machen.“ Zustimmung. Brummeln. „Mit die richtige Leit. Wia brauchan mea Leit wia den!“ Später braust Jimmy Schulz Richtung München. Er wirkt aufgekratzt hinterm Steuer. Beseelt. Der gute Moment eben hat ihn tief eintauchen lassen in diese Welt, die ihn glücklich macht: sein Bundestagsmandat, der Kampf um die Freiheit im Netz, auch seine eigene Bedeutung. Die Politik kann ein Traum sein. „Ich lebe meinen Traum“, sagt er. „Und ich würde das auch machen, wenn ich kein Geld bekäme.“ Aus dem Traum reißen ihn die Zahlen. Fünf Prozent Emnid, vier Prozent Forsa, vier Prozent Infratest. Selbst wenn die FDP 2013 ins Parlament kommt, heißt das nicht, dass Jimmy Schulz drinbleibt. Es gibt zurzeit viele in seiner Situation. Die FDP hat 93 Abgeordnete im Bundestag, 14,6 Prozent holte sie 2009. Newcomer wie Schulz spülte der Boom einfach nach Berlin. Jetzt, da die FDP abstürzt, kann man an einem wie ihm sehen, wie ein einzelner Politiker herumgeschleudert wird von den großen Bewegungen im Wettbewerb der Parteien. Aber Jimmy Schulz will nicht machtlos sein. Und das kann man ebenfalls von ihm lernen: Was einen Menschen dazu bringt, in dieser aussichtslosen Lage zu kämpfen. Die Fraktion der FDP lässt sich in drei Gruppen einteilen. Da ist das hintere Drittel. Diese Abgeordneten werden es auf den Landeslisten der FDP nicht auf einen jener vorderen Plätze schaffen, die ins Parlament führen würden. Sie sind raus. Denn die Listen sind im gemischten deutschen Wahlrecht für die Liberalen entscheidend. Direktmandate in den Wahlkreisen holen sie eh nie. Die Listen wählen die Delegierten in den Landesverbänden. Auf die vorderen Plätze kommen die Mächtigen, Minister, Staatssekretäre, Landesvorsitzende, Generalsekretäre, Bezirkschefs. Das ist das zweite Drittel der Fraktion: Wenn es die FDP schafft, schaffen sie es auch. Dann gibt es noch das Drittel dazwischen, es sind Abgeordnete, die sich eine winzige Chance ausrechnen. Ihre Partei müsste sensationelle 7 oder 8 Prozent erreichen, und sie müssten sich irgendwie einen vorderen Platz auf der Landesliste erkämpfen, gleich hinter den Mächtigen, dann wären sie vielleicht doch drin. Seite 2: Der Traum eines Bundestagsabgeordneten Um diese Chance kämpft Jimmy Schulz. Deshalb fährt er am Wochenende quer durch Bayern auf Parteiversammlungen, drückt die Halsschmerzen mit Pastillen weg, schüttelt Hände, legt im Foyer gelbe Feuerzeuge mit seinem Namen aus, erklärt den Parteifreunden die Piraten, das Urheberrecht oder die neue Beteiligungssoftware der Liberalen. Er telefoniert rum, verhandelt mit Kreisvorständen, isst mit ihnen Hirschgulasch, statt den Samstagabend bei seiner Familie zu sein. Er wirkt nie unglücklich dabei. Selbst in Berlin, wenn er seine Zeit in Termine zerhackt, hat dieser Mann einen gelösten, zufriedenen Zug um die Augen. Er lebt ja seinen Traum, er will auf keinen Fall aufwachen. Man muss sich seine Geschichte anschauen, um zu verstehen warum. Jimmy Schulz wächst in Ottobrunn im Münchner Speckgürtel auf. Der Vater arbeitet an der Bundeswehruniversität, die Mutter ist Ärztin. In der siebten Klasse wird am Gymnasium Informatik angeboten. Die Aufgaben faszinieren ihn, er kann aber nur auf Papier daran arbeiten, Anfang der Achtziger hat niemand einen Rechner zu Hause. Deshalb nimmt er an den Nachmittagen die S-Bahn nach München, im Kaufhaus am Marienplatz fährt er in die Elektronikabteilung hoch und stellt sich in die Schlange. Dann hat er immer zehn Minuten am Vorführcomputer, einem Commodore 64. Er wünscht sich ein eigenes Gerät, aber 1000 Mark, das wollen seine Eltern nicht ausgeben. Mit 16 bekommt er einen C16 von Aldi, auf dem er versucht, Matheaufgaben zu lösen. Für den Englischunterricht programmiert er einen Vokabeltrainer. Er sagt, dass er eigentlich faul gewesen ist, die Siebte musste er wiederholen, die Elfte auch. Aber Neugier treibt ihn. Technik kann ein grenzenloses Spiel sein, er verliert sich darin. Er hat die Entstehung der Netzwelt von Grund auf erfahren, er hat das Neue ausgekostet, durchdacht, sogar mitentwickelt. Eigentlich ideal für so eine FDP, die sich behaupten muss in dieser Zeit mit den neuen Themen, neuen Mechanismen und neuen Mitbewerbern. Er hat ein Gefühl für Momente, 2010 hat er die erste Bundestagsrede mit Notizen vom iPad gehalten. Als er noch Schüler ist, kauft sich seine Mutter einen PC für ihre Arztpraxis. Wenn der Rechner hochfährt, blinkt nur ein Pfeil, die passende Software wäre sehr teuer. Jimmy hilft. Datenverwaltung, Textverarbeitung, Druckertreiber, er macht das gern. Seine Mutter ist so froh, dass er sich einen Computer aussuchen darf. Er freut sich heute noch, wenn er darüber spricht, wie er ein günstiges Gerät kaufen wollte. Und die Mutter sagte: „Welchen hättest du wirklich gern?“ Es wird ein Amiga 2000. Mit Farbmonitor! Mit Maus! Im Frühjahr 1989, die Familie macht Urlaub in Kitzbühel, geht eine Lawine ab. Die Mutter stirbt. Jimmy Schulz sagt, dass ihn das verändert habe. Er musste sich um seine kleine Schwester kümmern. Er musste das Abitur schaffen. Im Sommer 1989 unternahm er noch etwas: Er trat den Republikanern bei, den Rechtspopulisten. Er sagt, das sei die einzige Partei gewesen, die die deutsche Einheit damals gewollt hätte, und seine Mutter war einst aus der DDR geflüchtet. Die Ausländerhetze habe er erst langsam registriert, ein Jahr später trat er aus. Er bestand das Abi. Danach ging er zu den Gebirgsjägern, fuhr Snowboardrennen mit, begann ein Politikstudium, jobbte bei einer Computerzeitschrift. Das Jonglieren mit vielen Dingen liegt ihm, aber wenn Jimmy Schulz erzählt, hat man den Eindruck, dass nach dem Tod der Mutter zu seiner wuseligen Begeisterungsfähigkeit der Wille gekommen ist, die Dinge durchzuziehen. Als wollte er sich die Kontrolle über das Leben wieder erkämpfen. Vielleicht ist das ja so: Dass Kämpfer in der Politik ein existenzielles Erlebnis durchgemacht haben. Seite 3: Seine Internetfirma machte ihn noch als Student zum Millionär Noch während des Studiums hat er mit Freunden eine Firma gegründet. CyberSolutions, cys.de, sie haben alles angeboten, was mit dem entstehenden Netzwerk zusammenhing, das heute Internet heißt. Einige Kunden hatten ihre Mailadresse bei CyberSolutions, um modern auszuschauen, und die Mail faxten Jimmy und seine Leute ihnen dann zu. Sie entwickelten ein Analysetool namens Big Brother, das den Datenfluss beobachtete, sodass man Leistungen abrechnen konnte. Da ging es richtig los: Große Kunden meldeten sich, er arbeitete 100 Stunden die Woche, das Geschäft boomte. Investoren kauften sich die Firma und gliederten sie in ein größeres Unternehmen namens Telesens ein. Jimmy Schulz blieb Geschäftsführer und bekam Anteile. Die Firma wuchs, sie zogen in neue Räume. Börsengang 2000, Party in Köln, gleichzeitig Studienabschluss, Party in München, die Aktie zwischen 33 und 38 Euro, Party auf der Cebit, Millionär, die Aktie über 60 Euro. Dann ging es abwärts, die Investoren sparten, sie drängten ihn aus der Firma. Seine Anteile durfte er erst verkaufen, als er mehrere Millionen Euro verloren hatte. Die Telesens ging pleite. Nach dem Ausstieg aus der Firma hat er erst einmal durchgeatmet. Er hatte noch genug Geld, auch wenn er seine Firma verloren hatte. Er kümmerte sich um seinen Sohn und nahm Beratungsaufträge an. Und er interessierte sich für die FDP, die damals in Bayern ein außerparlamentarischer Winzling war. Er setzte auf sie, besuchte Parteistammtische, es ging oft um Otto Schilys Überwachungsgesetze. 2002 zog er in den Gemeinderat von Hohenbrunn ein, kam in den Bezirksvorstand. Dann wuchs und wuchs die FDP wie vorher die Internetblase. Und Jimmy Schulz wurde Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Ein Traum, fast ein Rausch. In Berlin rast er durch die Verbindungsgänge zwischen den Parlamentsgebäuden wie eine kräftige kleine Lok. Unter der Wilhelmstraße durch, unter der Dorotheenstraße, iPhone am Gürtel, Cola light in der Hand, Laptoptasche über der Schulter. Zurück ins Büro, er lässt sich in den Drehstuhl fallen, sein Blick flirrt durch den Raum, zum iPhone, zum Computer, zum Laptop, zum Telefon. Die Mitarbeiterin schaut rein, ob sie was von Feinkost Lindner holen soll, du musst was essen, Jimmy. Nur 150 Gramm von den Flusskrebsen, wir machen Trennkost, nein 200 Gramm. Helmut Markwort ruft noch an, und nachher muss er zur Vodafone Night, rauskriegen, wie er verhindert, dass in die internationalen Internetverträge in Dubai Quatsch reinkommt. Ein bisschen wichtigtuerisch wirkt er schon, aber die Blogger nehmen ihn ernst und die arrivierten Politiker holen sich Rat. Aber was zählt das in Bayern? Am 17. November stellt dort die FDP ihre Liste zusammen. Wenn sie es überhaupt in den Bundestag schafft, bedeutet jeder Prozentpunkt ungefähr ein Berlinticket. Zum Beispiel wären 6 Prozent sechs sichere Plätze in Bayern. Die Landesvorsitzende Leutheusser-Schnarrenberger, der niederbayerische Staatssekretär, der Bezirkschef Oberbayern, die bayerisch-schwäbische Generalsekretärin, dann wären mal die Franken dran, die Jungliberalen hätten auch einen Kandidaten und den Meierhofer aus der Oberpfalz, den gibt’s ja a no. Und den Jimmy.
Sein Traum war es, Abgeordneter des Bundestages zu werden. Der Boom der FDP spülte den Newcomer und Netzpolitiker schließlich nach Berlin. Dort will er nun auch bleiben. Am Samstag stellt die FDP in Bayern ihre Liste zusammen. Für Jimmy Schulz wird es eng, doch er lässt nichts unversucht
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innenpolitik
2012-11-15T17:14:08+0100
2012-11-15T17:14:08+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/fdp-abgeordneter-schulz-jimmy-gibt-nicht-auf/52574
Alternative für Deutschland - Die Anti-Euro-Partei macht mobil
Portugal, Irland, Griechenland, Spanien und jetzt auch noch Zypern. Dem Bündnis „Alternative für Deutschland“ reicht es. Die Anti-Euro-Bewegung will, dass mit der Rettung von Banken und Staaten endlich Schluss ist. Sie fordert, dass insolvente Staaten aus der Währungsunion austreten, in Deutschland wieder die D-Mark eingeführt wird und dass ein generelles Austrittsrecht aus dem Euro in den europäischen Verträgen festgeschrieben wird. Mit der „Alternative für Deutschland“ formiert sich ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl eine Partei, die gegen Angela Merkels Euro-Rettungspolitik rebelliert. Als Rebell sieht sich der Kopf der Partei, der 50-jährige Volkswirtschaftsprofessor Bernd Lucke aus Hamburg, aber nicht. „Eine Rebellion ist ja etwas Gewaltsames.“ Er nennt es „Aufbegehren gegen die Euro-Rettungspolitik“. Die Alternative", wie sich die Partei in Kurzform bezeichnet, besteht neben Lucke zur Mehrheit aus Euroskeptikern mittleren Alters, aus Intellektuellen des konservativ-liberalen Lagers. Dazu zählen der Publizist Konrad Adam, der ehemalige Tübinger Wirtschaftsprofessor Joachim Starbatty und der ehemalige Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel. Die Protestpartei wirbt mit griffigen Parolen wie „Schluss mit diesem Euro“ und „Über Glühbirnen und Gurkenkrümmungen kann der Bundestag allein entscheiden“. Sie setzt sich für einen Europakurs nach britischer Denkart ein: so viel Europäische Union wie nötig, aber so wenig wie möglich. Doch wie soll ein Austritt aus dem Euro funktionieren? „Das kann nicht plötzlich und über Nacht geschehen, sondern nur gleitend“, meint Lucke. Dazu müssten gleichzeitig zum Euro nationale Währungen eingeführt werden. Dass die Lösungen der „Alternative für Deutschland“ auf Interesse stoßen, zeigte eine Informationsveranstaltung, zu der die Euro-Kritiker vergangene Woche eingeladen hatten. Rund 1200 Menschen kamen in die Stadthalle im hessischen Oberursel. „Seitdem werden wir täglich förmlich überrannt mit Unterstützungs-E-Mails“, sagt Lucke und sieht darin ein Zeichen dafür, dass die Partei eine Stimmung in der Gesellschaft aufgreife. Am 14. April soll der konstituierende Parteitag in Berlin stattfinden. Danach sollen Landesverbände aufgebaut und Landeslisten erstellt werden, damit die Partei an der Bundestagswahl teilnehmen kann. Dazu muss sie – sobald die Landeslisten komplett sind – bis zum 15. Juli in jedem Bundesland Unterschriften von entweder 0,1 Prozent der Wahlberechtigten oder mindestens 2000 Personen je Bundesland sammeln. Lucke sieht darin keine unüberwindliche Hürde. Und er glaubt, dass seine Partei den Einzug in den Bundestag schaffen kann.
Carolin Henkenberens
Das neu gegründete Bündnis „Alternative für Deutschland“ begehrt gegen Finanzhilfen für kriselnde EU-Staaten auf und plädiert für ein Austrittsrecht aus dem Euro. Welche Chancen hat die Initiative?
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innenpolitik
2013-03-18T08:52:21+0100
2013-03-18T08:52:21+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/die-anti-euro-partei-macht-mobil/53891
NSA-Affäre - Das Handygate und die Folgen
Eines zumindest scheint nun klar zu sein: Der Bundestag wird wohl einen Untersuchungsausschuss zur NSA-Abhöraffäre einsetzen. Doch das meiste in der Abhöraffäre um Angela Merkels Handy liegt weiterhin im Nebel. Das hängt vielleicht mit dem Wesen dieses Vorgangs zusammen, bei dem Geheimdienste, Diplomaten und sensible nationale Interessen diesseits und jenseits des Atlantiks eine zentrale Rolle spielen. Auf manche Fragen wird es vermutlich nie Antworten geben. Die Forderung kommt ursprünglich von der Spitze der Linken, die Grünen haben sie aufgegriffen. In der SPD, vor allem aber in der Union ist die Begeisterung für ein solches Gremium eigentlich gering. Trotzdem haben beide großen Fraktionen inzwischen versprochen, den Wunsch der Opposition ebenso zu unterstützen wie deren Forderung nach einer Sondersitzung des Bundestages. Das hat wenig mit Überzeugung zu tun, dafür umso mehr mit schlechtem Gewissen: Seit die künftigen Koalitionäre sich einander einen zusätzlichen Posten im Bundestagspräsidium zugeschanzt haben, wollen sie sich nicht gleich wieder dem Vorwurf aussetzen, die Rechte der Mini-Opposition zu missachten. Was der Ausschuss untersuchen soll, ist aber weiter unklar. Niemand glaubt im Ernst, dass sich irgend ein US-Regierungsvertreter herbeizitieren lässt. Der Ex-NSA-Experte Edward Snowden hat es aus Sorge um seine eigene Sicherheit schon in anderen Fällen abgelehnt, als Zeuge zur Verfügung zu stehen. Deshalb ist nicht ganz klar, wie weit der frühere „Guardian“-Reporter Glenn Greenwald für Snowden spricht, wenn er in einem „Tagesschau“-Interview Schutz für den Whistleblower in Deutschland fordert. So bleiben als Auftrag vorerst nur deutsche Neben-Geschichten: Fragen nach der eigenen Spionageabwehr etwa oder der Tätig- respektive Untätigkeit der Regierung. Aber auch darüber lässt sich immer dann, wenn es interessant wird, absehbar nur im Geheimen diskutieren. Nach der ersten öffentlichen Empörung wirken alle etwas ratlos. Regierungssprecher Steffen Seibert verweist auf die Expertengruppe aus ranghohen Mitarbeitern des Kanzleramts und den Präsidenten von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz, die diese Woche in Washington weitere Aufklärung suchen soll. Auch sonst prüfe die Regierung „mit voller Kraft“ alle Vorwürfe. Das klingt markiger als es ist. Letztlich wissen nur die Amerikaner selbst, was ihr Geheimdienst abgehört hat; deutsche Experten können allenfalls Indizien sammeln. Immerhin reagiert die sonst so zugeknöpfte US-Seite allmählich auf die Empörung, die über den Atlantik schwappt. Einen deutschen Zeitungsbericht, dass Präsident Barack Obama seit 2010 von der Überwachung Merkels gewusst habe, weist die NSA als falsch zurück. Zugleich räumen anonyme Regierungsvertreter gegenüber dem „Wall Street Journal“ ein, dass diese Überwachung stattgefunden habe – Obama habe davon aber erst in diesem Sommer erfahren, als er eine Überprüfung der ausufernden Tätigkeit seines Geheimdiensts angeordnet habe, und die Aktion von da an gestoppt. Das einzige Druckmittel, über das auch im Kanzleramt nachgedacht wird, könnte das Swift-Abkommen zwischen den USA und der EU bieten. Es gestattet den US-Behörden unter dem Rubrum „Terrorabwehr“ den Zugriff auf Bankdaten bei allen Geschäften, die EU-Bürger mit Drittstaaten tätigen. „Bei Swift kann man noch am ehesten die Drohkulissen aufbauen“, sagt ein Regierungsvertreter. Allerdings, gibt er zu bedenken: Von Terrorwarnungen aus den USA hätten auch die Europäer schon öfter profitiert. Sie macht zumindest jene Verhandlungsgruppe, die den Namen „Innen und Justiz“ trägt interessanter. Denn die NSA-Affäre berührt viele inhaltliche Fragen: Sicherheitsarchitektur, Datenschutz, Terrorabwehr. Allerdings dürften die Gegensätze zwischen Union und SPD in diesen Fragen gar nicht so groß sein. Beide Seiten wollen dem Datenschutz vor allem auf europäischer Ebene mehr Gewicht verleihen. Ein „No spy“-Abkommen wollen auch beide, wenngleich vor allem die Sozialdemokraten darauf drängen, dass es nicht nur ein Abkommen auf Ebene der Geheimdienste wird, sondern ein Regierungsabkommen mit Sanktionsregeln. Etwas knirschen könnte es auch beim Thema Spionageabwehr. Dort steht der Verfassungsschutz in der Kritik. Auch eine Reform der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste streben die Sozialdemokraten an. Dass es gerade im Zuge der rechten NSU-Terrorserie weitere Reformen bei den Sicherheitsbehörden geben muss, wissen beide Seiten. Unüberbrückbare Gegensätze gibt es dabei nicht. Spannender dürfte die Frage sein, wie die beiden Vorsitzenden – Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann – miteinander klar kommen. Oppermann ging auch Friedrich im Sommer scharf an, allerdings nie so, dass es zu ganz schweren Zerwürfnissen gekommen wäre. Dennoch werden auch Oppermann Ambitionen nachgesagt, selbst Innenminister werden zu wollen. Am Ende werden einige der großen Fragen wohl auf der Ebene der Parteichefs landen. So weit man das sagen kann – nein. Das Innenministerium wies am Montag einen Bericht zurück, dass dort an einem neuen, schärferen Erlass für den Umgang mit Handys und dergleichen gearbeitet werde. Tatsächlich wäre der auch gar nicht nötig. Der geltende Erlass ist eindeutig: Wer Zugang zu vertraulichen Informationen hat, darf keine ungesicherten Gerätschaften nutzen. Eigentlich. Nur – wer will einer Kanzlerin oder einem Minister vorschreiben, womit sie zu telefonieren haben? „Staatspolitisch wichtige Gespräche“, versichert Seibert erneut, führe Angela Merkel nur über abgesicherte Festnetz-Leitungen. Bei allen anderen Anrufen steht die Kanzlerin vor einem technischen Dilemma: Auch die neuesten Verschlüsselungen funktionieren nur dann, wenn Sender und Empfänger die gleiche Technik benutzen. Merkels reger SMS-Verkehr mit Parteifreunden bleibt also weiter abhörbar. Technische Gegenmittel sind vorerst nicht in Sicht; Bastlerlösungen wie ein Störsender im Regierungsviertel hätten die peinliche Nebenfolge, dass dann in Berlin-Mitte gar keiner mehr mobil telefonieren könnte. So bleibt nur der politisch-diplomatische Weg – und ansonsten, wie es einer aus der Regierungsspitze ausdrückt, „nicht in Paranoia zu verfallen“. Wenn die NSA wirklich wissen wolle, wie die CDU-Chefin Merkel vorwitzige Vorständler zurückpfeife – „na dann wissen sie das halt!“ Auch am Montag wollte sich die US-Botschaft nicht zu dem Vorwurf äußern, vom Gelände ihrer Vertretung am Pariser Platz aus werde spioniert. Botschaftssprecher Peter Claussen versuchte es mit allgemein besänftigenden Worten. Die Amerikaner nähmen die Sorgen der Partner ernst und wüssten, dass viele Menschen verärgert seien, sagte er dem Tagesspiegel. Die jüngsten Ereignisse nannte er „wichtige Herausforderungen“ für das Verhältnis zu einigen engsten Partnern. Gleichzeitig war Claussen bemüht den Eindruck zu erwecken, das Vorgehen der NSA und anderer Dienste sei völlig normal: Die USA hätten „klargestellt, dass sie nachrichtendienstliche Erkenntnisse gesammelt haben wie alle anderen Staaten dies tun, einschließlich Deutschland“. Wie die Bundesrepublik hätten im Übrigen auch die USA Antispionage-Gesetze. Die in Rede stehenden Daten würden zum Schutz der eigenen Bevölkerung wie der Alliierten gesammelt, und diese Erkenntnisse trügen viel zur Sicherheit Europas bei. Er wies auch noch einmal darauf hin, dass die Dienste aufgefordert worden seien, „so viel wie möglich“ von ihren Erkenntnissen freizugeben.
Robert Birnbaum
Es wird wohl einen Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre geben – doch ob man mit dem wirklich weiterkommt, ist nicht gewiss. Wie verhält sich die deutsche Politik?
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innenpolitik
2013-10-29T08:28:23+0100
2013-10-29T08:28:23+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/nsa-affaere-das-handygate-und-die-folgen/56243
Rot-Grün in NRW – Hannelore Kraft und die Sorgenkinder
Die Erleichterung war Hannelore Kraft anzusehen.  Als die rot-grüne Landesregierung am 18. Mai ihren Haushalt durch den Düsseldorfer Landtag gebracht hatte, konnte die Ministerpräsidentin endlich aufatmen. Die rot-grüne Minderheitsregierung hatte mit Hilfe der Enthaltung durch Enthaltung der Abgeordneten der Linkspartei  ihre bislang größte Herausforderung gemeistert.  Wäre der Haushalt gescheitert, hätte dies nur zu Neuwahlen führen können. Und an einem vorzeitigen Urnengang haben, abgesehen von den Grünen, derzeit keine im Landtag vertretene Partei Interesse. Denn alle würden dabei verlieren. Aktuellen Umfragen zufolge würden Linke und FDP nicht wieder in den Landtag einziehen. Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge, verlöre die Union zwei Punkte und käme nur noch auf 32 Prozent, hätte aber keinen Koalitionspartner mehr. Denn die FDP würde den Einzug in den Landtag genauso verpassen wie die Linke. Auch die SPD müsste mit leichten Verlusten rechnen, lediglich die Grünen könnten deutlich zulegen, sie könnten ihren Anteil von zwölf auf 21 Prozent steigern. Und so sitzt die Sozialdemokratin Hannelore Kraft auch ein Jahr nach ihrer Wahl zur Ministerpräsidentin von NRW am 14. Juli 2010 ohne eigene Mehrheit erstaunlich fest im Sattel. SPD und Grüne verfügen gemeinsam über nur 90 der 181 Mandate im Düsseldorfer Landtag. Doch als zuverlässiger Partner haben sich in den meisten Fällen die elf Abgeordneten der Linkspartei erwiesen. Die Linkem stehen zur Minderheitsregierung, sie wollen deren Haushalte auch in Zukunft mittragen, solange SPD und Grüne nicht gegen die sogenannten „roten Haltelinien“ verstoßen: Personal darf nicht abgebaut werden, Privatisierungen haben zu unterbleiben, soziale Wohltaten sollen ausgebaut und nicht gekürzt werden. SPD und Grüne haben mit diesen Vorgaben kein Problem. Auch Hannelore Kraft hat längst deutlich gemacht, dass sie nicht viel von solider Haushaltsführung hält. Ihr Konzept nennt sie stattdessen „vorsorgende Haushaltsführung“: Durch Investitionen in Bildung und soziale Vorsorge sollen langfristig die Verbindlichkeiten sinken, weil besser qualifizierte Menschen seltener von Transferleistungen des Staates abhängig werden. Das Konzept klingt schlüssig, wenn dieses jedoch statt über Einsparungen durch Schulden finanziert wird, dann rückt ein ausgeglichener Haushalt, den NRW wie alle Bundesländer bis 2020 allein schon wegen der Schuldenbremse erreichen muss, in unerreichbare Ferne. Kraft kann auf das Parlament zählen – niemand hat ein Interesse sie zu stürzen, und das ist weit mehr, als nahezu alle Beobachter vor einem Jahr erwartet hätten. Selbst die Forderungen der Opposition nach Neuwahlen sind weitgehend verstummt. Entsprechend gering ist die Bereitschaft von Union und FDP, die Landesregierung zu stellen. Zwar klagen beide Parteien gegen den rot-grünen Landeshaushalt, der gegen die Verfassung verstößt, weil die Schulden deutlich über den Investitionen liegen, aber CDU-Landeschef Norbert Röttgen betont zugleich, dass Neuwahlen – auch wenn das Landesverfassungsgericht erneut den Haushalt für unrechtmäßig erklären würde – nicht nötig wären. [gallery:Ein Jahr rot-grüne Regierung in Nordrhein-Westfalen] So lebt Hannelore Kraft auch von der Schwäche ihrer Gegenspieler.  Der CDU-Landesvorsitzende Norbert Röttgen erweckt nicht den Eindruck, als ziehe es ihn aus dem Bundesumweltministerium in Berlin an den Rhein. Auch CDU-Fraktionschef Karl-Josef Laumann gelingt es nicht, die Union gegen die Landeregierung zu profilieren. Stattdessen räumt dieser, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU-Position um CDU-Position: Die Union in NRW ist dabei, sich von der Hauptschule zu verabschieden und mit der Gemeinschaftsschule ihren Frieden zu machen und sie trägt gemeinsam mit SPD und Grünen den für das Land teuren Beschluss zur Restrukturierung der WestLB mit. Die FDP hingegen kommt in der Landespolitik nicht mehr vor. Der Landesvorsitzende Daniel Bahr konzentriert sich auf seine neue Rolle als Bundesgesundheitsminister, und der Fraktionsvorsitzende Gerhard Papke versucht indes, sich vorsichtig rechts der bisherigen FDP-Linie zu positionieren. Mehr Probleme als die Opposition bereiten Hannelore Kraft deshalb die eigenen Leute. Unübersehbar ist in Nordrhein-Westfahlen, dass die SPD sich nicht nur programmatisch schwer tut, sondern sie auch personell ausgelaugt ist. Gleich mehrere SPD-Minister machen zurzeit vor allem negative Schlagzeilen und bereiten der Ministerpräsidentin große Sorgen. Nur drei Minister und Ministerinnen in ihrem Kabinett arbeiten hingegen weitgehend erfolgreich und skandalfrei und die stammen alle vom Koalitionspartner Grüne. Da ist zunächst die Bildungsministerin und Vizeministerpräsidentin Sylvia Löhrmann. Zwar stößt sie bei dem Versuch, das nordrhein-westfälische Schulmodell umzubauen, wie erwartet auf enorme Widerstände. Aber immerhin hat sie es geschafft, alle Parteien in die Gespräche einzubinden und die Gemeinschaftsschule durchzusetzen. Gesundheitsministerin Barbara Steffens arbeitet in ihrem Ressort unauffällig, sucht den Konsens bei Verschärfungen des Nichtraucherschutzgesetzes und kümmert sich ansonsten um grüne Themen wie Transgender, was in NRW kaum interessiert und niemanden stört. Auch der grüne Umweltminister Johannes Remmel genießt einen guten Ruf. Er hat ein, wenn auch scheinbar entschärftes, Klimaschutzgesetz durchgebracht. NRW wird in den kommenden Jahrzehnten die Erneuerbaren Energien massiv ausbauen. Kohlekraftwerksbetreiber werden es schwerer haben als je zuvor. Die Grünenwaren verwundert, wie wenig sie in den Verhandlungen über das Gesetz gegenüber den Sozialdemokraten nachgeben mussten – und darüber, wie sehr sich die SPD-Energiepolitiker über diese kleinen Erfolge freuten. Gleichzeit ist Remmel mittlerweile zu einem wichtigen Gesprächspartner der Industrieunternehmen in NRW avanciert. Mit RWE-Chef Jürgen Großmann haben vertrauliche Gespräche über die Zukunft der Energiewirtschaft begonnen und Ende Juni, war Remmel der Stargast einer Podiumsdiskussion des Initiativkreises Ruhr, dem Zusammenschluss der großen Konzerne im Revier, über die Auswirkungen der Energiewende auf die deutsche Industrie. Moderiert wurde die Veranstaltung von WAZ-Chef Bodo Hombach. Den drei Vorstandsvorsitzenden von RWE (Jürgen Großmann), Evonik (Klaus Engel) und ThyssenKrupp (Dr. Heinrich Hiesinger) blieb kaum etwas anderes übrig, als sich darüber zu freuen, dass Remmel sich zum Industriestandort NRW bekannte. Auch wenn Großmann und Engel deutlich machten, dass sie im Umbau der deutschen Energieversorgung mehr Risiken als Chancen sehen. Unter Applaus warnte Engel davor, dass die „Öko-Schickeria“ sich mit ihren Vorstellungen durchsetzt. Auch wenn Remmel in diesem Moment nicht gerade entspannt in die Runde schaute. Die Tatsache allerdings, dass der Grüne ein gefragter Gesprächspartner ist, macht gleichzeitig deutlich, wen die Wirtschaft in NRW ernst nimmt und wen nicht: Harry Voigtsberger zum Beispiel. Der auch in Nordrhein-Westfalen weitgehend unbekannte Sozialdemokrat ist der Wirtschaftsminister seines Landes. Er ist der Nachfolger so prominenter Namen wie Christa Thoben (CDU) oder Wolfgang Clement (SPD), und kaum jemand bezweifelt, dass deren Schuhe für ihn mehr als eine Nummer zu groß sind. Voigtsberger agiert weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und hat nicht das Gewicht, sich im Kabinett für die Belange der Wirtschaft einzusetzen. Das scheint auch Kraft zu merken, die nun ihrerseits die Nähe zu Konzernen sucht. Nur macht sie damit ihren Wirtschaftsminister noch überflüssiger. Voigtsberger ist nicht der einzige Ausfall: Innenminister Ralf Jäger ist in eine Spendenaffäre verstrickt, Finanzminister Norbert Walter-Borjans schaffte es nicht, Kraft und seine Kabinettskollegen von einer seriösen Haushaltspolitik zu überzeugen. Wissenschaftsministerin Svenja Schulze wiederum gilt als angeschlagen, seitdem sie zu Beginn der Fukushima-Krise erklärte, in NRW seien der Verbleib von mehreren Tausend Kugeln mit nuklearen Brennstoffen aus dem Forschungsreaktor Jülich ungeklärt. Die Falschmeldung versetzte viele die Menschen in Panik und führte zu Rücktrittsforderungen der Opposition. Die Personalprobleme der SPD beschäftigen längst die Strategen der Partei und Ministerpräsidentin Kraft wird nichts anders übrig bleiben, als die Personalreserven der SPD in NRW zu mobilisieren. Namen wie der des Gelsenkirchener Oberbürgermeisters Frank Baranowski oder des Wirtschaftspolitischen Sprechers der Landtagfraktion Thomas Eiskirch werden gehandelt. Kraft muss sich mit neuem Personal profilieren und sie kann sich nicht damit abfinden, dass bislang die Grünen in der Landesregierung den Ton angeben. Sonst könnte es passieren, dass zwar Rot-Grün erfolgreich die nächste Landtagswahl bestreitet, aber am Ende eine grün-rote Landesregierung dabei herauskommt – mit Silvia Löhrmann als Ministerpräsidentin.
Vor einem Jahr wurde Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens gewählt. Die ersten Hürden hat sie mit Unterstützung der Linkspartei gemeistert.  Doch jetzt stehen Kraft und ihre rot-grüne Minderheitsregierung vor neuen großen Herausforderungen.
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innenpolitik
2011-07-13T17:35:07+0200
2011-07-13T17:35:07+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/hannelore-kraft-und-die-sorgenkinder/42364
Seenotrettung im Mittelmeer - Im Boot wartet nicht das Paradies
Jeder Seemann, jedes Schiff, jeder Freizeitkapitän ist verpflichtet, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Das gebieten das internationale Seerecht, die Ehre der Matrosen und pure Mitmenschlichkeit. Dass private, selbsterklärte Helfer im Mittelmeer Migranten und Flüchtlinge aus Seenot retten, weil sie das Gefühl haben, dass nicht genug dafür getan wird, ist also zunächst jeder Ehre wert. Anerkennung gebührt ihnen dennoch nicht: Es kann gut sein, dass sie durch ihren selbstlosen Einsatz mehr Menschenleben gefährden, als sie selbst mit ihren begrenzten Möglichkeiten retten können. Die Regierungen in Rom und in Berlin befürchten das jedenfalls. Denn wenn Verzweifelte nur deshalb an der Küste Libyens in die seeuntauglichen Schlauchboote der Schlepper und der modernen Sklavenhändler steigen, weil am Horizont schon die erhoffte Rettung wartet, dann ist das verantwortungslos. Einiges spricht dafür, dass es derzeit genauso ist. Denn die Schleuser und ihre Millionen Dollar verdienenden Hintermänner haben ihr Geschäftsmodell clever umgestellt. Sie bringen die Migranten nicht mehr selbst mit gestohlenen Wracks nach Italien, Malta oder Griechenland, sondern überlassen das kostengünstig und risikovermeidend den staatlichen und privaten Rettern aus der EU. Jene nehmen ihnen dann den großen Rest des Transportweges ab. Eigentlich logisch, dass die Schlepper deshalb nur noch Billigst-One-way-Boote in China ordern und die Migranten und Flüchtlinge, teilweise sogar mit vorgehaltener Waffe, in die löchrigen Gefährte ohne ausreichendes Benzin und mit defekten Motoren zwingen, nachdem sie ihnen ihr Geld abgeknöpft haben. Besser und einfacher können sie ihren Profit nicht vermehren – mit einkalkulierter Beihilfe der willigen Helfer. Die Regierungen Italiens, der übrigen Mittelmeeranrainerstaaten und auch die Bundesregierung verlangen deshalb zurecht, dass die privaten Organisationen sich mit ihnen auf Regeln verständigen. Schließlich sollen sie die Migranten ja später übernehmen – auf ihren Schiffen oder an Land. Um sie dann entweder zurück zu schicken oder teilweise über Jahre zu versorgen, bis über ihre Asylverfahren entschieden ist. Die staatlichen Retter sehen sich selbst in einem Dilemma. Entweder sie kreuzen mit ihren Schiffen vor den libyschen Hoheitsgewässern, oder sie ziehen sich vor die europäischen Küsten zurück. Tuen sie letzteres, können sie dann oft nicht schnell genug da sein, um die Menschen aus den leckgeschlagenen Schlauchbooten oder von überfüllten privaten Rettungsschiffen zu holen. Eines von ihnen geriet deshalb kürzlich selbst in Seenot. Wenn die privaten Helfer also weiter auf die von ihnen einkalkulierte Hilfe der Staaten setzen wollen, dann müssen sie sich auf den von ihren Vertretern ja schon weitgehend ausgehandelten Verhaltenskodex einlassen – und sich nicht weiter als alleinstehende Helden feiern lassen. Besser wäre es, die Helfer würden sich mit dafür einsetzen, dass sich die Migranten gar nicht erst auf die gefährliche Reise übers Meer nach Europa machen. Der Vorschlag des niedersächsischen SPD-Innenministers Boris Pistorius, in Libyen Sammellager für diese Menschen unter EU-Kontrolle zu errichten, wie es andere schon länger fordern, sollte deshalb ernsthaft diskutiert werden. Ebenso wie ein Einsatz der EU-Kriegsschiffe auch innerhalb der libyschen Hoheitsgewässer, nach einem entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Noch besser wäre es, die EU-Staaten und die Hilfsorganisationen würden endlich daran mitwirken, dass die Menschen erst gar nicht ihre Heimatländer verlassen beziehungsweise verlassen müssen. Durch massiven, auch wirtschaftlichen Druck auf die jeweiligen Regierungen, Oppositionelle nicht länger zu verfolgen und umzubringen und die Menschenrechte zu beachten. Durch wirksame Entwicklungs- und humanitäre Hilfe wie im Fall von Somalia und der angrenzenden Länder, wo zur Zeit wieder schreckliche Dürre und Hungersnot herrschen. Und durch noch massiveren, notfalls gewaltsamen Einsatz gegen die Schlepperorganisationen, Milizen und Regierungen, die das Geschäft auf die eine oder andere Weise dulden oder fördern. Im Fall Somalia hat die EU mit ihrem Anti-Pirateneinsatz im Kleinen vorgemacht, dass so etwas gehen kann: durch Neutralisieren der Piratenboote, Verurteilen der Täter bei gleichzeitiger Hilfe für die arbeitslosen Fischer, denen EU-Fangdampfer zuvor den Lebensunterhalt geraubt hatten. Damit sie nicht mehr aus Not zu Piraten-Helfern werden. Für die wirklich Verfolgten sollte die EU endlich in ihren jeweiligen Botschaften humanitäre Visa ausstellen. Damit sie, nach einer Vorprüfung und Bearbeitung ihrer Asylanträge, legal und gefahrlos in die EU einreisen können. So wie es das europäische Asylrecht, die UN- und die Europäische Flüchtlingskonvention verlangen. Das alles wird, selbst wenn es bald umgesetzt werden würde, nicht alle Menschenleben retten. Niemand kann Verzweifelte davon abhalten, sich selbst und andere in Gefahr zu bringen. Aber man sollte es zumindest versuchen. Denn jeder Seemann weiß auch: Besser als jemanden aus Seenot zu retten, ist dafür zu sorgen, dass er erst gar nicht in Seenot gerät. Wer das Sterben im Mittelmeer beenden oder zumindest verringern will, muss Migranten beibringen, dass auf sie im Boot nicht das Paradies wartet. Im besten Fall jahrelanges Warten auf die Aufnahme in der EU oder ein Leben in Illegalität. Ist es das, was die Helfer wollen?
Ludwig Greven
Italienische Behörden haben ein Schiff der deutschen Hilfsorganisation „Jugend rettet“ beschlagnahmt. Diese hatte sich geweigert, einen Verhaltenskodex für die Rettung von Flüchtlingen zu unterzeichnen. Der ist aber dringend nötig
[ "Mittelmeer-Route", "Flüchtlinge", "Mittelmeer", "Italien" ]
außenpolitik
2017-08-02T17:42:41+0200
2017-08-02T17:42:41+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/seenotrettung-im-mittelmeer-im-boot-wartet-nicht-das-paradies
Political Correctness – Kein Tanz mehr mit Papa
Noch 15 Tage – und am 6. November wählen die USA ihren Präsidenten: Cicero-Online-Korrespondent Malte Lehming berichtet zu diesem Anlass in einem Countdown über besondere Ereignisse und Kuriositäten während des Wahlkampfs. Vor einigen Wochen wurde in der Stadt Cranston im US-Bundesstaat Rhode Island, etwa 200 Kilometer nordöstlich von New York an der Atlantikküste gelegen, eine Tradition beendet. Künftig seien Vater-Tochter-Tanzabende und Mutter-Sohn-Baseball-Nachmittage verboten, teilte die oberste Schulleitung mit. Öffentliche Schulen dürften unter keinen Umständen Kinder von Veranstaltungen ausschließen, hieß es. Das gelte erst recht, wenn diese Veranstaltungen auf geschlechtsspezifischen Stereotypen basieren würden. Der Entscheidung vorausgegangen war die Klage einer allein erziehenden Mutter, deren vaterlose Tochter an den Vater-Tochter-Tanzabenden nicht hatte teilnehmen können. Der amerikanische Bürgerrechtsverband „American Civil Liberties Union“ (ACLU) schloss sich der Klage an. Dessen Direktor, Steven Brown, sagte: „Geschlechtsspezifische Veranstaltungen sollten an öffentlichen Schulen grundsätzlich verboten werden. Nicht jedes Mädchen will heute wie Cinderella aufwachsen, auch in Cranston nicht. Stattdessen könnte manch eines Karriere auf dem Baseballfeld machen.“ Kurz nachdem der Beschluss der Schulbehörde bekannt wurde, brandete ein Sturm der Entrüstung auf. Zuerst distanzierte sich der Bürgermeister von Cranston, Allan Fung. Er sei bitter enttäuscht über diesen „Angriff auf eine bewährte Tradition“ und flehe die Schulbehörde an, ihre Entscheidung zu revidieren. Dann schaltete sich Sean Gately ein, der sich für die Republikaner um einen Senatssitz in Rhode Island bewirbt. Er wertete die Entscheidung als Beleg für eine „Amok laufende politische Korrektheit“. Sein Gegenkandidat, der Demokrat Frank Lombardi, ist selber Mitglied der obersten Schulleitung. Pikanterie am Rande: Das auf Bundesebene geltende Antidiskriminierungsgesetz lässt Ausnahmen wie Vater-Tochter-Tanzabende und Mutter-Sohn-Baseball-Nachmittage durchaus zu. Doch in Rhode Island wurden die Bestimmungen verschärft. Die Schulbehörde von Cranston darf geschlechtsspezifische Diskriminierung nicht dulden. Längst hat die Aufregung über den Beschluss ganz Amerika erreicht. Alle großen Fernsehsender und überregionalen Zeitungen berichten über den Fall. Petitionen an Präsident Barack Obama werden verfasst. Vater-Tochter-Tanzabende sind eine uramerikanische Tradition. Variationen davon gibt es zuhauf. Die meisten dieser Abende finden in Schulen statt, oft um den Valentinstag herum. Töchter und Väter werfen sich in Schale, der Vater mimt den Gentleman, die Tochter soll sich als Frau fühlen. 50er-Jahre-Ideal pur. Keinesfalls dürfen solche Abende indes mit den „purity balls“ evangelikaler Christen verwechselt werden, auf denen die Töchter im Pubertätsalter ein bis zu ihrer Hochzeit geltendes Keuschheitsgelöbnis ablegen. Amerika ist die Wiege der politischen Korrektheit. Hier finden sich sowohl besonders stark ausgeprägte Beispiele für Rücksichtnahmen auf Geschlecht, Rasse und Religion, als auch die konservative, ins Negative gedrehte Umwidmung des Begriffs „political correctness“ zur Verteidigung traditioneller Werte. Was die eine Seite perfektioniert, wird von der anderen Seite verhöhnt. Das spiegelt sich in der Tendenz wider, Schicksalsfragen vor ein Gericht zu bringen. Kinder klagen, weil sie zu wenig Weihnachtsgeschenke bekommen, hässliche Menschen wollen ihr Aussehen als Behinderung anerkennen lassen, in der TV-Serie „Ally McBeal“ gab es sogar einmal ein krebskrankes Kind, das den lieben Gott verklagen wollte. In Cranston legt sich der Sturm inzwischen etwas. Die Schulbehörde hat an das Parlament appelliert, die strengen Antidiskriminierungsgesetze ein wenig zu lockern. Vorher noch sollen die Vater-Tochter-Tanzabende vom Charakter her geändert und umbenannt werden. Künftig sollen die Töchter entscheiden dürfen, wen sie mitnehmen. Das hieße dann „ladies choice dance“. Oder so ähnlich.
Die USA sind das Mutterland der politischen Korrektheit. Deshalb müssen sie nun Schluss machen mit einer uramerikanischen Tradition: Den Vater-Tochter-Tanzabenden. Weil damit der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird
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außenpolitik
2012-10-22T10:03:55+0200
2012-10-22T10:03:55+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/kein-tanz-mehr-mit-papa/52280
Bundestagsvize Singhammer: - „Ich beabsichtige meine Russland-Reise nachzuholen“
Kurz vor dem geplanten Abflug nach Moskau zur politischen Begegnung habe ich meine Reise verschoben – nicht abgesagt. Der Grund: Dem Bundestagskollegen Karl-Georg Wellmann war ohne Angabe von Gründen wenige Stunden zuvor die Einreise verweigert worden. Zustimmung kam vom Bundestagspräsidenten und von anderen Kollegen. Kritik kam von Staatsminister Gernot Erler, dem Russland-Beauftragten der Bundesregierung. Was ist richtig – reisen, sich austauschen oder das Gespräch nicht suchen? „Alles hat seine Stunde“ formulierte schon der Prophet Kohelet im Alten Testament. Man muss Situationsentscheidungen nicht biblisch überhöhen. In Zeiten kriegerischer Konflikte in der Ukraine und bedrohlicher Spannungen zwischen Russland und der Ukraine stimmt eine Mehrheit in Deutschland sicher der Auffassung zu: Völkerrechtswidriges Unrecht darf nicht akzeptiert werden, aber zugleich muss man jede kriegerische Auseinandersetzung in Europa vermeiden und deeskalieren. Die Begegnung suchen, Meinungen austauschen, das Gespräch zu suchen – all das ist sinnvoll. Vor allem, wenn erkennbar eine Lücke zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit klafft. Wenn bei unseren östlichen Nachbarn große Sorge um eine nationale Souveränität herrscht. Wenn die litauische Regierung an ihre Bürger Informationsschriften verteilt mit dem Inhalt: „Wie verhalte ich mich richtig nach der Invasion?“ Und gleichzeitig führende politische Verantwortliche in Russland von einer Invasionsgefahr für ihr Land durch die Nato sprechen, was uns unwirklich und bizarr erscheint. Deshalb ist es immer besser, miteinander zu reden. Ein Besuchs- oder Kontaktverbot auf politischer Ebene kann niemand seriös wünschen. Allerdings gehören zur Begegnung auch immer zwei. Wenn Einreiseverbote von russischer Seite für Kollegen des Bundestages verfügt werden, dann sind Gespräche mit den betroffenen Kollegen und Parteien in Russland nicht möglich. Fazit: Es besteht umfangreicher Gesprächsbedarf zwischen Russland und Deutschland, - dass das Minsker Abkommen Punkt für Punkt umgesetzt werden muss, weil sonst eine Spirale der Eskalation droht, - dass Staaten ein Anrecht auf territoriale Integrität haben und - dass Europa und Russland gemeinsames Interesse bei der Bekämpfung von Terrorismus und Antizivilisation haben. Deshalb beabsichtige ich meine Reise nachzuholen, wenn eine positive Gesprächsatmosphäre gegeben ist. Die persönliche Begegnung im Land ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch einen intensiven elektronischen Meinungsaustausch über Tausende Kilometer Distanz.
Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer hatte seinen Moskau-Besuch verschoben, weil ein Fraktionskollege an der Einreise nach Russland gehindert worden war. In einem Cicero-Gastbeitrag nennt der CSU-Politiker nun die Bedingungen, unter denen er seine Reise nachholen würde
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innenpolitik
2015-06-02T12:03:04+0200
2015-06-02T12:03:04+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/johannes-singhammer-russland-einreisesperren-das-minsker-abkommen-punkt-fuer-punkt-umsetzen
Türkische Wahlen in Deutschland - Erdogan zieht nicht
Deutschlands größtes Wahllokal steht in Berlin, genauer, im Olympiastadion. Keine Angst, die nächste Bundestagswahl ist noch weit entfernt, es muss nicht über Wohl und Wehe von SPD und Union oder über die Wiederbelebung der FDP entschieden werden. Nein, das politische Berlin hat sich längst in den Sommerschlaf verabschiedet. Stattdessen schreibt die Türkei derzeit in der deutschen Hauptstadt Geschichte. 140 000 türkische Wahlberechtigte aus den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wurden aufgerufen, in dieser Wahlkabine der Superlative den neuen türkischen Staatspräsidenten zu wählen. Erstmals können Türken bei einer Wahl auch im Ausland ihre Stimme abgeben. Die türkische Präsidentschaftswahl ist also eine wahrlich historische Wahl. Eine Wahl, der eine grandiose Kulisse wie das Olympiastadion gebührt. 75 000 Menschen finden auf den Rängen Platz. Welch eine Bühne zur Inszenierung. Und nichts liegt dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der bei dieser Wahl Staatspräsident werden will, näher, als der ganz große Auftritt. Nur kurz sei an das gigantische Hologram erinnert, mit dem Erdogan Anfang des Jahres in Izmir seine Anhänger verzückte. Eine überlebensgroße Projektion seiner selbst - nie war die Hybris dieses Mannes so deutlich sichtbar wie in diesem Moment. Und mit der Ausdehnung der Wahl auf das Ausland, tritt dieser Hang zum Pomp nun auch in Deutschland hervor. Vier Tage lang wird die riesige Berliner Sportstätte zum Schauplatz der türkischen Demokratie. Oder auch nicht. Denn in Wahrheit gerät der Urnengang im Ausland für die türkische Regierung zur peinlichen Enttäuschung, zum Desaster. Der Großandrang, der einen Gigantismus wie im Berliner Olympiastadion rechtfertigen würde, bleibt aus. Bei bestem Fußballwetter und passend türkisch beflaggt, präsentierte sich die Arena am Donnerstag zum Wahlauftakt. Insgesamt 51 Wahlurnen sollen sich in den Logen des Stadions befinden, erklärt ein Angestellter der angeheuerten Sicherheitsfirma. Genaueres lässt sich nicht in Erfahrung bringen, Journalisten bleibt der Zutritt zu dem Wahllokal verwehrt. Umso klarer scheint bereits das Ergebnis: Erdogan, selbstherrlicher Führer seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), wird seinem Parteifreund Abdullah Gül ins höchste Amt des Staates nachfolgen. Jüngsten Umfragen zufolge scheint es möglich,  dass ihm dies bereits im ersten Wahlgang gelingen könnte. Seine beiden Konkurrenten liegen deutlich zurück. Erdogan, dem die Verfassung eine erneute Kandidatur als Ministerpräsident verbietet, hat bereits im Vorfeld der Wahlen vollmundig verkündet, das eher symbolische Amt zur politischen Machtentfaltung nutzen zu wollen. Ein Manöver, dass die Welt von Wladimir Putin kennt. Erdogan will der starke Mann der Türkei bleiben – und für ein solches Ego scheint das Olympiastadion gerade noch groß genug. Vergleicht man allerdings die Mobilisierung, die Erdogan bei seinem letzten Deutschland-Besuch unter seinen Befürwortern, und unter seinen Gegnern, ausgelöst hat, nimmt sich der Andrang im Olympiastadion äußerst bescheiden aus. Die Zahl der abgegebenen Wahlzettel dürften am ersten Wahltag die Anzahl der Urnen nur knapp übertroffen haben: Die hier versammelten Wähler hätten ihre Stimmen auch bequem in einem Schulhaus in Charlottenburg oder in einer Kreuzberger Turnhalle abgeben können. Nur 7547 Menschen haben sich für die Wahl in Berlin registriert, wie die Bild-Zeitung meldet. Und wer sich nicht vorher angemeldet hat, darf bei der Wahl, die noch bis Sonntag dauert, auch nicht abstimmen. Der Stimmung im eher überschaubaren Wahlvölkchen tut dies freilich keinen Abbruch. Bestens gelaunt geben sie ihre Stimmen ab. So auch ein junges Ehepaar aus Berlin, er im weißen T-Shirt, sie mit Kopftuch und geschlossenen Oberteil. Beide nehmen zum ersten Mal an einer türkischen Wahl teil. Bedächtig erklären sie ihre politischen Überzeugungen. Beide hätten sie für die AKP gestimmt, erklärt der Mann. Es sei gut, dass die Wahl nun auch hier möglich sei. „Leider aber gibt es in der Türkei keine richtige Opposition, keine wirkliche politische Konkurrenz wie in Deutschland“, fügt er an. So sei der Wahlkampf in eine Schmutzkampagne unter den Kandidaten ausgeartet. Auch ein Doppelbürger Mitte vierzig im weiten weißen Hemd sagt, er nehme das erste Mal an einer türkischen Wahl teil. Er hat ebenfalls für den AKP-Chef gestimmt. „Erdogan hat gesagt: integriert euch, lernt die deutsche Sprache aber assimiliert euch nicht“, sagt er.  Diese Haltung habe ihm gefallen. Denn in Deutschland herrsche bei der Integration eine Doppelmoral. Offen verlange niemand, dass die Einwanderer ihre kulturellen Wurzeln verleugnen sollen. „ Doch den Druck, sich ganz zu assimilieren, spürt man dennoch immer wieder“, fügt er an. Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine da und es ist diese selbstbewusste Haltung Erdogans, die viele Türken in Deutschland an ihrem Staatschef schätzen. Selbstverständlich wählen nicht alle in Berlin die AKP. Eine zierliche Frau, die von ihrer jungen Tochter um mehr als einen Kopf überragt wird, hofft noch immer, dass „irgendjemand, außer Erdogan“ das Rennen machen wird. Die geringen Chancen der anderen Kandidaten quittiert sie mit einem fröhlichen Lächeln. Doch die türkische Botschaft beschwichtigt: „Viele Menschen sind derzeit in der Türkei im Urlaub und werden dort zur Wahl gehen“, teilt die Pressestelle mit. Die Meldungen über die geringe Wahlbeteiligung will diese nicht bestätigen. Genaue Angaben über die Registrierung lägen erst am Sonntag vor. Dabei ist die Anmeldefrist zur Wahl bereits am 11. Juli - also vor drei Wochen - abgelaufen ist. In der Botschaft dürfte man also ganz genau wissen, wie niedrig die Wahlbeteiligung tatsächlich ausfällt. Bis das Wahlergebnis feststeht, müssen sich die deutsch-türkischen Wähler allerdings noch etwas gedulden, in der Türkei findet die Wahl erst in der kommenden Woche statt. Für Deutschland wiederum bedeutet eine schlechte Wahlbeteiligung vielleicht etwas Gutes. Denn möglicherweise, so könnte ein erstes Fazit lauten, sind die meisten türkischen Mitbürger einfach zu gut integriert für Präsident Erdogan.
Simon Marti
Erstmals dürfen türkische Staatsbürger im Ausland den Staatspräsidenten mitwählen. Das Berliner Olympiastadion sollte zur Bühne werden für Erdogans Machtanspruch. Bloß: Das Interesse der Türken in Deutschland an der Wahl ist gering
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außenpolitik
2014-08-01T14:08:40+0200
2014-08-01T14:08:40+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/tuerkische-wahlen-deutschland-erdogan-zieht-nicht/58015
Die beleidigte Kaffeemaschine? - Maschinen sind die besseren Menschen
Oft ist es doch so: Man würde gern gehen, aber man kann nicht, weil das unhöflich wäre. Die anderen würden auch gern gehen, aber sie können ebenfalls nicht, weil es genauso unhöflich wäre. Ein Gespräch mit der Freundin am Telefon zu beenden, und sei es nach Stunden, ist heikler, als gar nicht anzurufen. Wie wahnsinnig anstrengend das ist, darf sie natürlich nie erfahren. Manchmal bin ich froh, wenn der Anrufbeantworter rangeht, weil ich mit dem viel entspannter sprechen kann. Obwohl ich mir vorstelle, dass sie auch da genau registriert, wie viel Zeit ich mir genommen habe. Vielleicht steht sie sogar daneben und belauscht uns. Menschen sind so anstrengend! Wie angenehm sind dagegen Maschinen. Wenn ich einen Kaffee am Automaten kaufe, muss ich nichtmal Danke sagen, obwohl der Automat das tut, sogar in verschiedenen Sprachen. Es gibt Automaten, die den Geldschein ganz unwirsch einziehen, sie rupfen ihn einem regelrecht aus der Hand. Das könnte unfreundlich wirken, aber man weiß ja, dass er nicht anders kann. Er ist eben wie ein Kind, das ein Geschenk entgegennimmt und wortlos damit verschwindet. Aber das macht nichts, man war ja auch mal ein Kind, das ist doch eigentlich rührend, so unverbildet. Der Automat ist auch nicht beleidigt, wenn man sich nach einem Kaffee nie wieder blicken lässt. Oder wenn man den Automaten lange nicht benutzt hat, dann muss man ihn nicht erst begütigen und tagelanges Schweigen ertragen, bis er einem wieder einen Kaffee gibt. Dafür vermissen einen Maschinen allerdings auch nicht, es ist ihnen egal, ob man jemals wiederkommt. Aber was hilft es, in unserer kalten Welt haben wir mehr mit Maschinen als mit Menschen zu tun, für viele von uns ist das der einzige regelmäßige Kontakt zur Außenwelt. Menschliche Wärme könnten vielleicht Maschinen ersetzen, die uns auch Vorwürfe machen, die beleidigt sind, und die einfach weggehen, wenn sie uns satt haben. Das ist zwar nur die Kehrseite jeder Liebesbeziehung, aber immerhin. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine ist ja eigentlich rassistisch. Viele Menschen sind längst bereit, die Maschinen als fühlende Wesen zu betrachten, wir können gar nicht anders. Ich habe einmal einen Mann gesehen, der sich immer wieder nach seinem parkenden Auto umdrehte, es machte ihn unglücklich, sich zu weit davon zu entfernen. Oder als mir neulich im ICE eine Glas-Schiebetür gegen den Kopf knallte. Mein erster Impuls war zurückzuschlagen, es war wirklich ein Jammer, daß die Schiebetür nicht schmerzempfindlich war. Es wäre schön, wenn man sein Auto anfeuern könnte, damit es schneller fährt. Oder wenn mein Radio im Winter so heiser wäre wie ich. Wenn man seinem Fernseher ein Gutenachtlied singen müsste, damit er ausgeht. Wenn mein Drucker auch mal was Selbstgemachtes drucken würde. So viele Jahre haben wir zusammen in einem Raum verbracht, und im Grunde weiß ich gar nichts von ihm.
Jochen Schmidt
Menschen sind anstrengend, Maschinen dagegen nehmen nichts übel. Wunderbar! Aber haben sie vielleicht auch Gefühle?
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kultur
2013-03-21T12:56:49+0100
2013-03-21T12:56:49+0100
https://www.cicero.de//kultur/mensch-maschine-schmidt-beleidigte-kaffeemaschine/53896
Huawei-Streit - Der Kampf um die technologische Vorherrschaft
Beim Treffen zwischen dem US-Präsidenten Donald Trump und Chinas Präsident Xi Jinping Anfang Dezember auf dem G20 Gipfel schien ein Kompromiss zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt möglich. Eine weitere Eskalation des seit Monaten andauernden Handelskriegs wirkte abwendbar. Jedoch reagierte die chinesische Regierung mit unverhohlenem Ärger, als amerikanische Staatsanwälte die Auslieferung der fast zeitgleich in Kanada festgenommenen Tochter des Unternehmensgründers und leitenden Managerin von Huawei, dem chinesischen Telekommunikationsgiganten, verlangten. Meng Wanzhou ist Huaweis Finanzchefin, und die USA werfen ihr Verstöße gegen die Iran-Sanktionen. Offenbar als Vergeltung verhaftete China schnell zwei Kanadier. Nun soll sogar ein dritter Kanadier von der Polizei festgehalten werden. Der sino-amerikanische Handelskrieg ist ein besonderer. Denn es geht nicht nur um Marktanteile, sondern vor allem um die Führerschaft über den technologischen Fortschritt. China hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch aufgeholt und mittlerweile in einigen Bereichen der Hochtechnologie den Westen überholt. Insbesondere zum Beispiel bei der Künstlichen Intelligenz (KI) oder auch bei der nächsten, fünften Generation superschneller mobiler Kommunikation ist China bereits führend. Angesichts der zunehmenden Konkurrenz aus China werden jetzt vor allem Sicherheitsargumente ins Feld geführt, um die eigenen Industrien zu schützen. Die Notwendigkeit, kritische Infrastruktur zu sichern oder die Kontrolle des chinesischen Staates über Unternehmen, dienen auch als Rechtfertigung, Wettbewerber aus China vom Markt auszuschließen. Der Handelskrieg geht also weiter und wird mit neuen Mitteln ausgetragen. Vordergründig geht es zwar um das Brechen der US-Sanktionen gegen den Iran. Aber insbesondere am Beispiel Huawei wird derzeit diskutiert, inwieweit der chinesische Staat Einfluss nimmt auf Konzerne in China und damit auch die globale technologische Weiterentwicklung zu seinen Gunsten und in seinem Sinne manipuliert. Ob sich aber ausgerechnet Huawei als Beispiel für die starke Einflussnahme des chinesischen Staates eignet, ist fraglich. Denn bekannt ist dieses Unternehmen eher für seine weitsichtige, sozial ausgeglichene und auf Unabhängigkeit bedachte Unternehmensstrategie. Der chinesische Telekommunikationsgigant Huawei ist ein überaus erfolgreiches privates Unternehmen, das 1987 von dem heute 74-jährigen Ren Zhengfei gegründet wurde. Die Anfänge waren bescheiden. Ren Zhengfei handelte zunächst mit Telefonanlagen aus Hongkong. Mit Arbeit, Einsatz und Weitsicht formte er daraus eine Erfolgsgeschichte, wie sie in den letzten Jahrzehnten nur in China geschrieben wurde. Vierzig Jahre später beschäftigt Huawei rund 180.000 Mitarbeiter, darunter mehr als 40.000 Nicht-Chinesen, die zusammen mehr als 92 Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaften. 75 Prozent der Beschäftigten außerhalb Chinas sind lokale Mitarbeiter. Die Mitarbeiter betreuen weltweit mehr als drei Milliarden Kunden. Es ist das einzige chinesische Unternehmen, das in Ländern außerhalb Chinas (67 Prozent) mehr Umsätze erzielt als in China selbst. Einzig auf dem amerikanischen Markt spielt Huawei keine Rolle. Einige US-amerikanische Politiker sehen das Unternehmen als Sicherheitsbedrohung, obwohl Huawei sich an US-Recht als leitender Norm im internationalen Geschäft orientiert. Der Erfolg von Huawei liegt vor allem in der bemerkenswerten Strategie des Unternehmen begründet. Nach der Gründung von Huawei beschloss Ren Zhengfei, dass das Unternehmen den Arbeitnehmern gehören sollte. Zu dieser Zeit kämpfte China immer noch mit den Nachwirkungen der Kulturrevolution. Ein privates Unternehmen wurde von vielen misstrauisch beäugt. In dieser Situation war der Gründer von Huawei überzeugt, dass der Arbeitnehmer-Besitz des Unternehmens am wenigsten auf Kritik stoßen würde. Noch heute hält Ren Zhengfei nur rund 1,4 Prozent des gesamten Grundkapitals des Unternehmens. Circa 80.000 Mitarbeiter halten den Rest. Da Huawei keine börsennotierte Gesellschaft ist und sich im Besitz seiner Mitarbeiter befindet, erhalten die Mitarbeiter außerdem einen großen Anteil der Unternehmensgewinne. Im Falle von Huawei ist der Gesamtertrag, der in den letzten zwanzig Jahren erzielt wurde, erheblich geringer als die Gewinnbeteiligungen, Gehälter und Boni, die an die Mitarbeiter ausgezahlt wurden. Huawei glaubt, dass der Besitz von Unternehmensanteilen die Mitarbeiter motivieren kann. Wenn Arbeitnehmer unternehmerisch agieren und so mehr Projekte initiieren, kann, so die Überzeugung von Ren Zhangfei, das Unternehmen expandieren und mehr verdienen. Die zweite Prämisse der Unternehmensstrategie beruht auf der Idee der Kundenorientierung. Je mehr die Mitarbeiter von Huawei arbeiten, desto mehr können Sie verdienen. Überstunden werden jedoch nur dann belohnt, wenn die Arbeit direkt auf die Bedürfnisse der Kunden eingeht. Überstundenprojekte, die keine direkten positiven Folgen für die Kunden zeigen, werden nicht belohnt. Die Unternehmensstrategie von Huawei zeichnet sich somit durch Kundenorientierung, Mitarbeiterbeteiligung, langfristiges Denken und schrittweise Entscheidungsfindung aus. Das Unternehmen ist dafür bekannt, schnelle Entscheidungen zu vermeiden, in langen Zeiträumen zu denken, massiv in Forschung und in Innovation zu investieren und sich immer wieder zum Nachdenken zu zwingen. Dies hängt auch mit der Eigentümerstruktur zusammen: Die gesamte Entscheidungsbefugnis ist in der Kontrolle des Unternehmens  – kein externer Investor hat Einfluß über die Entscheidungen von Huawei. Huawei hat somit aufgrund seiner besonderen Eigentumsstruktur im Grunde viel mehr Freiheit als viele andere Unternehmen. Das Unternehmen kann dem Druck von Regierungen oder von Investoren leichter widerstehen als zum Beispiel börsennotierte oder öffentliche Unternehmen. Dass die chinesischen Regierung allerdings insbesondere angesichts des Handelskriegs versucht, mehr Kontrolle über die Wirtschaft zu erlangen, ist offenkundig. Eben erst hielt Xi Jinping zum 40. Jahrestages der Reform- und Öffnungspolitik eine anderthalbstündige Rede. Er betonte darin Chinas große Erfolge, beschwor die Fortsetzung des bisherigen Kurses und die Führungsrolle der Partei. Im Handelskrieg signalisierte er keinerlei Zugeständnisse. Er sagte zwar: „China wird sich niemals entwickeln, indem es die Interessen anderer Länder opfert“, aber fügte er schnell hinzu, China werde auch„ seine eigenen legitimen Rechte und Interessen nicht aufgeben “. Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Ausführungen von Xi die wachsenden Befürchtungen chinesischer Privatunternehmen beschwichtigen können. Denn Wirtschaftsführer und Ökonomen in China beschweren sich offen über die Einmischung von Behörden, über hohe Steuerbelastungen, Investitionsbeschränkungen und großzügige Kredite an Staatsunternehmen, die sich der Protektion von Parteiführern erfreuen. Die Politik des zunehmenden Drucks der Partei auf die Wirtschaft und immer mehr Bereiche der Gesellschaft lassen eine tiefe Verunsicherung auf höchster Ebene vermuten. Zugleich ist das Gebaren der USA, insbesondere der Streit um die Auslieferung von Huaweis Finanzchefin Meng Wanzhou, ein willkommener Anlass für Chinas Führung, diesen Druck zu rechtfertigen. Angriffe von außen könnten staatliche Zugriffe somit erst recht erleichtern.
Klaus Mühlhahn
Der Streit um die Festnahme von Huaweis Finanzchefin Meng Wanzhou zeigt: Der us-chinesische Handelskrieg eskaliert weiter. Der Druck der USA könnte nun die staatliche Kontrolle chinesischer Unternehmen noch verschärfen
[ "Huawei", "Meng Wanzhou", "China", "USA", "Handelskrieg" ]
wirtschaft
2018-12-19T11:25:42+0100
2018-12-19T11:25:42+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/huawei-meng-wanzhou-handelskrieg-usa-china-kanada-technologie-sicherheit
Hamed Abdel-Samad - Faschismus und Islamismus – ein ungleiches Paar?
Der Faschismus ist eine Art »politische Religion«. Seine Anhänger glauben, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Ganz oben in der Hierarchie steht der charismatische unfehlbare Führer, der mit einem heiligen Auftrag ausgestattet ist, um die Nation zu einen und die Feinde zu besiegen. Die faschistische Ideologie vergiftet ihre Anhänger mit Ressentiments und Hass, teilt die Welt in Freund und Feind ein und droht Gegnern mit Vergeltung. Sie richtet sich gegen die Moderne, die Aufklärung, den Marxismus und die Juden und glorifiziert Militarismus und Opferbereitschaft bis in den Tod. All diese Eigenschaften treffen auch auf den modernen Islamismus zu, der zeitgleich mit dem Faschismus in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden ist. Sowohl der Faschismus als auch der Islamismus sind aus einem Gefühl der Niederlage und Erniedrigung hevorgegangen. Beide Strömungen eint das Ziel, ein Imperium zu errichten – die Weltherrschaft als quasi verbrieftes Recht –, dem die totale Vernichtung seiner Feinde vorausgeht. Die eine Bewegung glaubt an die Überlegenheit der arischen Rasse, die andere ist überzeugt von der moralischen Überlegenheit der Muslime gegenüber dem ungläubigen Rest der Menschheit. Als Benito Mussolini in Italien seine faschistische Bewegung gründete, träumte er davon, an die glorreichen Tage des Römischen Reiches anzuknüpfen. Diese nostalgische Sehnsucht teilte auch Hassan Al-Banna, als er die Muslimbruderschaft wenige Jahre nach Mussolinis Aufstieg gründete. Er beschwor ebenfalls die große Vergangenheit. Der tunesisch-französische Schriftsteller Abdel-Wahhab Meddeb sieht ein zentrales Problem der islamischen Welt darin, dass die Muslime sich nicht damit abfinden können, nicht mehr – wie noch im Mittelalter – die führende Macht in der Welt zu sein. Die Diskrepanz zwischen einer stolzen Vergangenheit und der bitteren Realität der Gegenwart sieht er als eine der Hauptquellen für Ressentiments gegen den Westen. Eine Dauerkränkung der islamischen Welt sozusagen, entstanden aus dem subjektiven Gefühl, von der Welt und der Geschichte ungerecht behandelt worden zu sein. Diese Kränkung, gepaart mit einer Überhöhung der Vergangenheit, ist ein wichtiger Motor des islamischen Faschismus. Der italienische Literat, Semiotiker und Philosoph Umberto Eco listet in seinem Werk »Vier moralische Schriften« vierzehn Merkmale des Ur-Faschismus auf. Eines dieser Merkmale ist der »Kult der Überlieferung«: Es kann keinen Fortschritt des Wissens geben, da die Wahrheit bereits offenbart wurde. Nicht um eigenständiges Denken und Lernen geht es also, schon gar nicht um eine kritische Analyse, sondern um das strikte Befolgen der offenbarten Botschaft. Dieser »Kult der Überlieferung« ist ein zentraler Aspekt des islamischen Denkens: Es gilt die Unantastbarkeit des Koran, in dem alles Wissen enthalten ist. Der politische Islam fühlt sich mit einem Auftrag Gottes versehen, der, losgelöst von Zeit, Raum und Realität, erfüllt werden muss. Salafisten und Dschihadisten verteufeln eine zeitgemäße Interpretation der Texte, denn die Gebote Gottes dürfe der Mensch nicht umdeuten. Für sie spielt es keine Rolle, dass ein Muslim, der die heiligen Texte seiner Religion wortwörtlich nimmt, es oft schwer hat, sich in der modernen Welt zurechtzufinden, die ambivalent ist und sich ständig ändert. Die Moderne ist für sie per se Ausdruck dessen, wie weit der Mensch kommen kann, wenn er sich vom wahren Glauben entfernt hat. Für Eco ist die Ablehnung von Moderne und Aufklärung ein weiteres Merkmal des Ur-Faschismus, das verbunden ist mit einem Hang zum Irrationalismus. Ablehnung von Kritik, Angst vor dem Fremden, Sexismus und Machismus sind weitere Kernpunkte. Der Faschismus lebe, so Eco, von der Obsession, »die anderen« hätten sich gegen einen verschworen. Zu diesem Verfolgungswahn gesellt sich ein permanentes Gefühl der Demütigung, des Zu-kurz-gekommen-Seins und ein daraus erwachsender Rachedurst. Hier wird der Kampf zum Selbstzweck. Denn es ist kein Kampf ums Überleben, sondern ein Leben für den Kampf. Eine Vorstellung, die sich eins zu eins im islamischen Dschihad-Prinzip findet. Der Dschihad wird im Islam nicht nur als Mittel der Selbstverteidigung, sondern als Dienst an Gott verstanden, der bis ans Ende aller Tage geleistet werden muss. Und am Ende dieser Tage wird die Weltherrschaft stehen, alle Feinde, alle Ungläubigen werden bekehrt oder ausgelöscht sein. Eine weitere Parallele kann man mit folgender These zu sammenfassen: Faschismus und Islamismus sind Krankheiten »verspäteter Nationen« oder solcher, die auf eine glorreiche Geschichte zurückblicken, sich nun aber in einem Prozess des Zerfalls befinden. Der Faschismus konnte sich zunächst in Italien durchsetzen, bevor er sich in anderen europäischen Staaten verbreitete. Warum gerade in Italien? Das Land befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem unvollendeten Einigungsprozess, die politischen Parteien zerfleischten sich gegenseitig, man fühlte sich durch die Pariser Vorortverträge über den Tisch gezogen, die Wirtschaft lag am Boden, und die Furcht vor einer bolschewistischen Revolution ging um. Zudem war das Land zutiefst katholisch. Das Fundament der mächtigen Kirche fußte unter anderem auf Prinzipien wie Ehre, Hierarchie, Einheit, charismatischer Führung und absoluter Wahrheit. Elemente, die auch Eingang in den Faschismus fanden. In Ländern, die auf eine lange Tradition als geeinte Nation unter dem Dach eines Staates zurückblicken können, wie etwa England und Frankreich, entstanden im Zuge des erstarkenden Nationalismus Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts zwar ebenfalls nationalistische und faschistische Bewegungen. Auf politischer Ebene allerdings erlangten sie kaum Bedeutung. Der Historiker Ernst Nolte sieht die französische militant-katholische Bewegung »L’Action française«, die im Jahr 1898 gegründet wurde, als Vorbild für die faschistischen Bewegungen, die später in Italien und Deutschland entstanden. Die Bewegung wollte im Sinne der katholischen Kirche die Moderne stoppen und zu einer christlich-konservativen Gesellschaftsordnung zurückkehren. Es gelang ihr jedoch nie, eine Massenbewegung zu werden. Und mit der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht verlor sie endgültig ihre Bedeutung. In Großbritannien gründete Oswald Mosley drei Jahre nach der schweren Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 die »British union of fascists«. Nach eigenen Angaben hatte sie 50 000 Mitglieder, Mosley bereiste Italien, um den Faschismus zu studieren, und ließ später nach dem Vorbild der SS eine schwarze Parteiuniform entwerfen. Nach dem Röhm-Putsch und vor allem dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlor seine Bewegung ebenfalls massiv an Rückhalt. Nur in den verspäteten Nationen Italien und Deutschland zündete der Faschismus, seine Anhänger übernahmen das Ruder und verführten die Massen. Man könnte den italienischen Faschismus als Vollendung jenes italienischen Einigungsprozesses sehen, den Mazzini und Garibaldi im 19. Jahrhundert begonnen hatten. Das italienische Wort fascio leitet sich vom lateinischen fasces her, was »Bund« oder »Bündel« bedeutet. Gemeint ist ein Rutenbündel, mit dem zunächst königliche Leibwachen, später Amtsdiener und Staatsbeamte den römischen Imperatoren voranschritten. Dieses Machtsymbol war sowohl ein Zeichen der Einheit als auch ein potenzielles Züchtigungsinstrument zur Bestrafung von Abtrünnigen und Verbrechern. Als Benito Mussolini 1919 seine »Fasci di Combattimento« gründete, beschwor er die Erinnerung an die Weltmachtstellung des Römischen Reiches, das er nun wiederherstellen wolle. Der deutsche Faschismus entstand ebenfalls in einer Phase der Zerrüttung. Der »Schandvertrag« von Versailles, die Schwäche von Wirtschaft und gemäßigten Parteien – um nur einige Punkte zu nennen – bildeten einen guten Nährboden. Der Nationalsozialismus schien das Versprechen zu sein, der geplatzte imperialistische wilhelminische Traum von einem »Platz an der Sonne« für Deutschland ließe sich wiederbeleben. Die Schmach der Niederlage im Ersten Weltkrieg könne getilgt, die Nation wiedergeboren werden, um dann auf die zurückzuschlagen, die einen in jüngster Vergangenheit gedemütigt hatten. Eine krude Mischung aus Ohnmacht und Allmachtsphantasien, die das perfekte Klima für den Aufstieg der Nationalsozialisten schuf. Diese Mischung aus Ohnmacht und Allmachtsglaube findet sich auch im Islamismus. Da der Islam erst sechshundert Jahre nach dem Christentum in die Welt kam, kann man ihn als verspätete Religion bezeichnen, die heute das eigene Mittelalter erlebt. Nach islamischer Zeitrechnung befinden wir uns derzeit im Jahr 1435. Die meisten muslimischen Länder können wie Deutschland und Italien auch als verspätete Nationen bezeichnet werden, die sich seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der späteren Entkolonialisierung nicht wirklich zwischen dem modernen Nationalstaat, der Verhaftung in alten Stammesstrukturen und dem Gottesstaat entscheiden konnten. Die widersprüchliche Mischung aus diesen drei Herrschaftssystemen lässt die meisten islamischen Staaten seit Jahrzehnten in Stillstand verharren. In Staaten mit einer (Militär-)Diktatur oder solchen, in denen man vorsichtig eine Annäherung an die Moderne wagt, formieren sich Islamisten als politische Alternative. Das 20. Jahrhundert erlebte eine heftige Konterrevolution gegen die Moderne und das Gedankengut der Aufklärung: Sowohl Ernest Gellner als auch Ernst Nolte sehen den Islamismus nach dem Faschismus und dem Bolschewismus als die dritte Widerstandsbewegung gegen die Moderne. Alle drei Bewegungen haben sich zwar der technischen Errungenschaften der Moderne bedient, doch wehrten sie sich vehement gegen zentrale Eckpfeiler der Aufklärung: Vernunft, persönliche Freiheit und Freiheit des Denkens, Individualität, Menschenrechte, die Autonomie des menschlichen Körpers sowie die Meinungs- und Pressefreiheit wurden von allen drei Bewegungen als Gefahr gesehen. Der Übergang von der ländlichen zur urbanen Gesellschaft schien einherzugehen mit dem Zerfall der Gemeinschaft, die ein wichtiges Element totalitärer Systeme ist. Herkunft und/oder eine gemeinsame Ideologie sollten neue Gemeinschaften formen. Ausgangspunkt für diese Bestrebungen ist oft der ländliche Raum, der beinahe mythisch überhöht wird. Ein antiurbaner Diskurs ist bezeichnend für alle drei Bewegungen. Für den Bolschewiken war die Stadt der Ort, an dem das Proletariat ausgebeutet wurde. Für die Nazis war das Berlin der Goldenen Zwanziger Sinnbild für den Niedergang traditioneller Werte. Und für die Islamisten ist die Stadt ein Ort der Sünde und des Sittenverfalls. Da, wo Faschisten, Kommunisten oder Islamisten die Macht übernahmen, verwandelten sich die Gesellschaften in Freiluftgefängnisse, deren »Insassen« – die Bürger – ständig überwacht wurden. Vielfalt wurde und wird als Gefahr betrachtet, ein gesellschaftlicher Konsens durch Gewalt und Einschüchterung künstlich erzwungen. Es gilt die eine, die einzig wahre Ideologie, Andersdenkende werden als Verräter und Nestbeschmutzer abgestempelt, im schlimmsten Fall liquidiert. Um Kritik von innen vorzubeugen, schüren totalitäre Systeme Angst, indem sie ein Bedrohungsszenario entwerfen. Das Land oder die Gesellschaft befinde sich in einem Kampf mit einem realen oder imaginären Feind. Die Nazis waren in dieser Hinsicht recht kreativ: Juden und Kommunisten bedrohten die Deutschen von innen, später kamen die Alliierten als Bedrohung von außen dazu. Die Sowjetunion wechselte im Laufe ihrer Geschichte den äußeren Feind: Erst waren es die Nazis, dann der demokratische Westen. Die Dissidenten im kommunistischen Reich waren die inneren Feinde, die angeblich den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohten und mit dem Westen kollaborierten. Für die Islamisten gab und gibt es die immer gleichen drei Feinde: den Westen als fernen Feind, Israel als nahen. Den inneren Feind findet man unter Häretikern, Reformern und säkularen Denkern und Politikern, die allesamt als verlängerter Arm des Westens gelten. Da, wo der islamische Faschismus die Macht übernommen hat, wie im Iran, im Sudan, in Nigeria, Somalia und Gaza, sind brutale Diktaturen entstanden, die ihre Macht bis heute nicht wieder abgegeben haben. Da, wo der Islamismus vom »Regierungssessel« verdrängt wurde, verwandelten sich die Islamisten in Terroristen und überzogen ihre Länder mit Gewalt und Verwüstung wie in Algerien, Afghanistan, Mali und Libyen. Ein Schicksal, das nun auch Ägypten und Syrien droht. Dennoch gilt der politische Islam einer breiten Bevölkerungsschicht in muslimischen Gesellschaften als Hoffnungsträger. Das liegt unter anderem daran, dass weder die Massen noch die politischen Eliten in diesen Ländern zugeben wollen, dass sie gescheitert sind und nicht imstande waren, eine eigene Alternative zur westlichen Demokratie zu entwerfen. Vor allem in der arabischen Welt verhinderte gekränkter Stolz eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte und eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Westen. Stattdessen richteten sich viele islamische Staaten häuslich in ihrer Opferrolle ein und trieben eine kollektive Erziehung zum Hass gegen den Westen voran. Von diesem Hass zehren sowohl säkulare Diktaturen als auch deren islamistische Widersacher. Eine frustrierte, orientierungslose und vor allem wütende Generation ist ein Ergebnis dieser Erziehung. Die einen finden ein Ventil für ihren Ärger im Aufstand gegen die herrschende Elite. Die anderen finden Zuflucht und Trost bei den Islamisten. Die anfangs friedliche Massenbewegung des »arabischen Frühlings« wurde so zu einer Konfrontation zwischen letztlich unversöhnlichen Blöcken, die ich den »inneren Kampf der Kulturen« nenne. Es ist nicht der vielfach beschworene Kampf zwischen dem Westen und der islamischen Welt, sondern ein innerarabischer, ein innerislamischer. Man kann sich die islamische Welt als eine multiple Diktatur vorstellen, als eine »Diktatur-Zwiebel«, die aus mehreren Schichten besteht: Es gibt die Klan-Diktatur, repräsentiert von den Familien Mubarak, Gaddafi, Hussein, Bin Ali oder Assad. Als nächste Schicht kommt die Militärdiktatur. Es folgt die religiöse Diktatur, die die Bildung und Erziehung bestimmt. Die letzte Schicht ist die soziale Diktatur, die mit ihren archaischen Rollenvorstellungen das Leben innerhalb der Familie prägt. Jede Zwiebelschicht ist eine hohe Mauer, die die islamische Welt von der übrigen Welt isoliert, eine Mauer, die angeblich die eigene Identität schützen soll. Die jungen Menschen, die auf der Straße demonstrieren, schälen eine Schicht der Zwiebel ab – und stoßen sofort auf die nächste. Am Ende wird vielleicht nur der Kern der Zwiebel übrig bleiben: die Religion. Es ist fraglich, ob der Mut der jungen Menschen ausreichen wird, an der Allmachtsstellung der Religion zu rütteln. Wenn ihnen das tatsächlich gelungen ist, werden sie erkennen, dass diese Zwiebel nur aus Angst besteht und dass es hinter all diesen Schichten nichts gibt, das es zu bewahren gilt. Erst dann kann man wirklich von einer Revolution sprechen. Bis dahin werden sich die totalitären Grundzüge des Islam weiter ausprägen und sich auch in Kreisen verbreiten, in denen Religion bislang nicht die Hauptrolle gespielt hat. [[{"fid":"61607","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":293,"width":179,"style":"width: 130px; height: 213px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Hamed Abdel-Samad: Der islamische Faschismus, Hardcover, Droemer HC.
Hamed Abdel-Samad
Der Autor Hamed Abdel-Samad attestierte dem Islam in einem Vortrag „faschistoide Züge“. Seither muss er um sein Leben fürchten. In seinem neuen Buch „Der islamische Faschismus“ vertieft er seine Kritik am Islamismus. Ein Auszug
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innenpolitik
2014-04-01T10:27:07+0200
2014-04-01T10:27:07+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/hamed-abdel-samad-ich-sollte-getoetet-werden/57283
Volkswagen in der Abgas-Affäre - Gierig wie die Deutsche Bank
Als „Katastrophenveranstaltung“ hatte der mächtige VW-Betriebsratsboss Bernd Osterloh das US-Geschäft des Autoherstellers bereits im vergangenen Jahr bezeichnet. Damals bezog er sich dabei nur auf eine verfehlte Modellpolitik und Absatzprobleme von Volkswagen in den USA, dem zweitgrößten Automarkt der Welt. Nachdem, was am Wochenende bekannt geworden ist, werden aber auch dem nicht auf den Mund gefallenen Osterloh die Worte fehlen. Am Freitagabend hat die amerikanische Umweltbehörde EPA mitgeteilt, dass Volkswagen jahrelang die Ermittlung der Abgaswerte seiner Dieselmodelle bei Tests manipuliert habe. Mittlerweile hat ein Konzernsprecher bestätigt: „Der Sachverhalt trifft zu.“ VW bediente sich bei den Manipulationen einer Software, die an Parametern wie Steuerradwinkel und Geschwindigkeit erkennt, ob sich das Auto im normalen Straßengebrauch oder in einem Emissionstest befindet. Im Testmodus reduzierte die Software den Emissionsausstoß, um die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen. Im normalen Gebrauch spuckten die Dieselmotoren dagegen teilweise das 40-Fache der im Test gemessenen Werte aus, weil die Emissionsreduktion abgeschaltet wurde, nur damit die Autos besser beschleunigen konnten. Nun droht dem größten Autohersteller der Welt in den USA ein wirkliches Desaster. 482.000 Fahrzeuge der Typen Golf, Passat, Jetta und Beetle sowie der Audi A3 sind von den Manipulationsvorwürfen betroffen, gebaut zwischen 2009 und 2014. Bei Verstößen gegen den „Clean Air Act“ beträgt das Höchststrafmaß 37.500 US-Dollar pro Auto (33.000 Euro). Wenn die EPA an Volkswagen ein Exempel statuieren will, droht den Wolfsburgern daher insgesamt eine Strafe von 18 Milliarden US-Dollar. Dazu kommen die Kosten für Rückrufaktionen der betroffenen Fahrzeuge, Schadensersatzforderungen der Kunden und der schwer zu beziffernde Imageschaden. Auch wenn VW-Chef Martin Winterkorn volle Kooperation mit den Behörden verspricht, sich bei den Kunden entschuldigt und die Aufklärung des Manipulationsskandals jetzt zur Chefsache erklärt, erinnert das Verhalten des Konzerns in mancher Hinsicht an den Umgang der Deutschen Bank mit dem Libor-Skandal. Deutschlands größtes Geldhaus musste am Ende eine Rekordstrafe von 2,5 Milliarden Dollar bezahlen, weil Mitarbeiter der Bank in die Manipulation des internationalen Bankenzinssatzes Libor verwickelt gewesen waren. Auch die Bank hatte zunächst volle Kooperation mit den Behörden und rückhaltlose Aufklärung versprochen. Geliefert hat sie nicht. Die Strafe fiel auch deswegen so hoch aus, weil die Bank nach Angaben der Behörden immer wieder taktiert und die Ermittlungen massiv verzögert habe. Volkswagen sollte dies eine Warnung sein. Ob sie schon in Wolfsburg angekommen ist, erscheint fraglich. Denn der Autohersteller weiß schon seit Mai 2014 von den Manipulationsvorwürfen, redete sich aber damals mit „verschiedenen technischen Problemen und unerwarteten Gebrauchsbedingungen“ heraus. Erst als die US-Behörden im Dezember 2014 drohten, den VW-Modellen für 2016 keine Genehmigungen zu erteilen, räumte Volkswagen die Nutzung der Manipulationssoftware ein. Angesichts der Tatsache, dass sowohl Modelle der Marken Audi und Volkswagen betroffen sind und somit verschiedene Abteilungen des Gesamtkonzerns in die Manipulationen verwickelt sein müssen, scheidet wohl auch ein Fehlverhalten einzelner, übereifriger Mitarbeiter in den USA aus: Sie wollten mit allen, notfalls auch illegalen Mitteln die ehrgeizigen Verkaufsziele aus der Zentrale in Deutschland erfüllen. Da die Manipulationen vorsätzlich vorgenommen wurden, ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass gegen Topmanager des Konzerns strafrechtlich vorgegangen wird. Die US-Ermittlungsbehörden werden sehr genau wissen wollen, wer zu welchem Zeitpunkt Kenntnis davon hatte. Auch dies eine Parallele zum Libor-Skandal bei der Deutschen Bank. Für Martin Winterkorn sind die Vorfälle in jedem Fall das größtmögliche denkbare Desaster. Das Geschäft in den USA läuft schon seit Jahren miserabel. Den Turnaround dort hatte Winterkorn ebenfalls zur Chefsache erklärt. Schon vor Bekanntwerden des Skandals musste VW einräumen, dass die Zahlen der Marke Volkswagen in den USA auch 2015 schlecht aussehen. Für den Zeitraum Januar bis August musste man auf dem insgesamt boomenden US-Automarkt ein Absatzminus von 2,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen. Dabei waren die jetzt beanstandeten Dieselfahrzeuge einer der wenigen Lichtblicke. Der Skandal ist aber auch ein weiterer Beleg dafür, dass Volkswagen sich unter Winterkorn zu einem schlecht geführten Unternehmen entwickelt hat. Der 68-Jährige steht zwar für zahlreiche Erfolge der Vergangenheit. Doch sein extrem autoritärer Stil und sein Hang zur Zentralisierung lähmen den Konzern. Seit dem gewonnenen Machtkampf mit Ferdinand Piëch ist Winterkorn auch noch stärker von Osterloh und der IG Metall abhängig, weil sie ihm bei der Beseitigung des Patriarchen Piëch halfen. Den Aufsichtsrat wird ab November der bisherige Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch anführen. Dass er seinen bisherigen Chef Winterkorn wirksam kontrollieren wird, glaubt in Wolfsburg niemand. Ein autoritär geführter Konzern ohne wirksame Kontrolle durch den Aufsichtsrat und mächtigen Gewerkschaftern, die nur das Wohl der deutschen Belegschaft im Blick haben, das ist der beste Nährboden für kriminelles Verhalten nach außen. Die Krise der Deutschen Bank begann ebenfalls, als Josef Ackermann seinen Finanzvorstand Clemens Börsig zum Aufsichtsratschef machte.
Til Knipper
Volkswagen hat eingeräumt, die Abgaswerte bei seinen Dieselfahrzeugen in den USA jahrelang manipuliert zu haben. Es droht eine Milliardenstrafe und der Verlust der Glaubwürdigkeit. Der Skandal erinnert an die Betrügereien der Deutschen Bank. Ein Kommentar
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wirtschaft
2015-09-21T14:39:31+0200
2015-09-21T14:39:31+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/vw-volkswagen-manipulationsskandal-abgas-affaere-winterkorn-gierig-wie-deutsche-bank/59872
Führungsfrage der CDU - Im Corona-High
Allem Elend dieser Corona-Krise zum Trotz dürfen sich die Groko-Parteien immerhin über eines freuen: Die Wähler scheinen das aktuelle Krisenmanagement der Regierung mit wachsender Zustimmung für SPD und Union zu honorieren. Insbesondere die CDU/CSU befindet sich laut jüngster Umfragen mit Werten zwischen 33 Prozent (Kantar-Emnid vom 4. April) und 38 Prozent (Insa vom 6. April) in einem Hoch, das noch vor drei Wochen als unerreichbar erschienen wäre. Kaum jemand redet noch über die Spaltung der CDU; die Zeiten des zermürbenden Kleinkriegs zwischen konservativen und liberalen Parteigrüppchen sind offenbar passé. Auch von innerparteilicher Merkel-Kritik ist weit und breit nichts mehr zu hören. Die Krise überdecke eben jeden Konflikt, heißt es im Konrad-Adenauer-Haus. Manche Unionler sprechen sogar von einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl. Natürlich ist dem christdemokratischen Führungspersonal völlig klar, dass die aktuell traumhaften Umfragewerte kein Abbild der Gegenwart sind, sondern auf einem Vertrauensvorschuss beruhen. Nach dem Motto: Wer, wenn nicht die staatstragende und regierungserfahrene CDU sollte schon in der Lage sein, Deutschland durch diese Krise zu führen? Dass die Wähler selbiges den Grünen eher nicht zutrauen, mag an deren Rolle in der Opposition liegen. Allerdings sind weder der Philosophenkönig Robert Habeck noch seine Co-Vorsitzende Annalena Baerbock seit der Corona-Pandemie durch ernstzunehmende Beiträge oder sonstige Leistungen aufgefallen. Auch das Krisenmanagement des einzigen grünen Ministerpräsidenten, Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, hat bisher nicht gerade für allzu positives Aufsehen gesorgt. Der Höhenflug von Bündnis90/Die Grünen hat jedenfalls ein abruptes Ende gefunden, die Partei sieht sich zurückgeworfen auf ihr altes Image als monothematische Schönwetterveranstaltung. Was noch lange nicht bedeutet, dass bei der CDU plötzlich alles wieder in Ordnung ist. Da wäre ja zum Beispiel die weiterhin ungelöste Führungsfrage. Zwar heißt es in der CDU-Zentrale mantrahaft, man habe gerade überhaupt keine Zeit, um sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Aber natürlich nimmt jeder sehr genau wahr, wie die beiden Kandidaten für den Parteivorsitz sich derzeit verhalten: Friedrich Merz, von seiner Corona-Erkrankung gut genesen, ist ohne politisches Mandat zu einer undankbaren Rolle an der Außenlinie verdammt – während Armin Laschet als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident sich als einer der Hauptakteure im Krisenmodus profilieren kann. Dass Laschet mit seinem (zumindest im Vergleich zu Bayern) eher permissiven Ansatz zur Eindämmung der Pandemie auch noch klar eigene Akzente setzt, könnte sich nach der Krise zusätzlich für ihn auszahlen. Aber sicher ist eben nichts – außer, dass Norbert Röttgen als dritter Kandidat für den Parteichefposten faktisch keine Rolle mehr spielt. Wer Friedrich Merz in diesen Tagen persönlich erlebt hat, spricht von einem Mann, der sich große Sorgen über die Zukunft der Europäischen Union und des Industriestandorts Deutschland macht. In der vergangenen Woche hat Merz seine Sicht auf die Krise in einem langen Beitrag für Die Zeit dargelegt, gleichwohl hält er sich mit öffentlichen Statements bewusst zurück. Denn ihm ist klar, dass ihm das jetzt als Besserwisserei inmitten einer der tiefsten Krisen der deutschen Nachkriegsgeschichte ausgelegt würde. Allenfalls lobt er das Krisenmanagement der Bundesregierung und hält Kontakt zu vielen Leuten innerhalb der CDU. Es ist eine wahrhaft vertrackte Situation für jemanden wie Merz, der als überzeugter Marktwirtschaftler mit gutem Grund schon jetzt einen nach der Krise drohenden Etatismus befürchtet – sich aber gleichzeitig nicht artikulieren kann, ohne das Risiko des Vorwurfs einzugehen, aus der Pandemie politisches Kapital schlagen zu wollen. Selbst treue Unterstützer aus der baden-württembergischen CDU – einer Friedrich-Merz-Hochburg – sehen deshalb die Chancen für ihren Favoriten schwinden. Und dann stellt sich ja auch noch die Frage, wann die CDU überhaupt dazu kommt, sich einen neuen Vorsitzenden zu küren. Der ursprüngliche Termin für den Wahlparteitag (25. April) wurde längst abgesagt, und dass es noch vor der Sommerpause zu einer Nachholveranstaltung kommt, ist so gut wie ausgeschlossen. Weil aber der nächste reguläre CDU-Parteitag ohnehin Anfang Dezember in Stuttgart stattfinden soll, steigt mit jedem Tag die Wahrscheinlichkeit, dass dort dann auch der neue Vorsitzende gewählt wird. Denn zwei Parteitage innerhalb weniger Monate oder gar Wochen wären schon aus Kostengründen kaum zu rechtfertigen. Aller Voraussicht nach wird sich Deutschland zu diesem Zeitpunkt allerdings in einer tiefen Rezession befinden. Es könnte insofern eine Chance für Friedrich Merz sein, mit seiner Wirtschaftskompetenz zu punkten. Aber derartige Voraussagen lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach nicht treffen, zu viel ist derzeit in Bewegung. Als äußerst unwahrscheinlich wird innerhalb der CDU-Führung immerhin die Möglichkeit gesehen, dass Jens Spahn doch noch als Einzelkandidat antritt. Viele bescheinigen dem Bundesgesundheitsminister hervorragende Arbeit bei der Krisenbewältigung – was ihn dazu anspornen könnte, sich nicht mehr mit der Rolle von Armin Laschets „running mate“ in der Vorsitzendenfrage zu begnügen. Doch im Berliner Adenauer-Haus schwört man Stein und Bein, dass Spahn weiterhin zu Laschet steht. Ein plötzlicher Sinneswandel würde ihm ohnehin als Krisen-Opportunismus ausgelegt werden. Insofern sind wie bei Friedrich Merz auch Jens Spahns innerparteiliche Handlungsmöglichkeiten sehr begrenzt. Annegret Kramp-Karrenbauer dürfte derweil schwer bereuen, im Februar ihren Rückzug vom Parteivorsitz angekündigt zu haben. Denn in der Krise hätte sie sich jetzt bewähren können (und es wahrscheinlich auch getan). Aber für einen Rückzug vom Rückzug ist es zu spät – da sitzt AKK in derselben Falle wie Spahn und Merz. Wäre die Lage nicht so unberechenbar, müsste man nach heutigem Stand der Dinge sagen: Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen wird mit aller Wahrscheinlichkeit nächster CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat der Unionsparteien. Aber dafür ist es bis Dezember ein viel zu langer Weg. Und so bleibt es vorerst bei der Hoffnung, „dass wir nach der Krise nicht wieder in unsere alten Rituale verfallen“, wie es ein hoher CDU-Politiker ausdrückt. Mit anderen Worten: Die CDU muss den Vertrauensvorschuss, der ihr jetzt von den Wählern entgegengebracht wird, auch entsprechend honorieren. Und zwar nicht nur bei der Bewältigung der Corona-Krise, sondern auch bei der Überwindung ihrer inneren Zerrissenheit. Wenn es der CDU „nach Corona“ – und damit inmitten einer tiefen Rezession – nicht gelingen sollte, ihre Spaltung zu überwinden, wäre das jedenfalls ein enormes Konjunkturprogramm. Und zwar für die AfD.
Alexander Marguier
Die Unionsparteien gewinnen in der aktuellen Krise enorm an Zustimmung. Doch die Führungsfrage der CDU bleibt weiter offen. Der Wahlparteitag findet wohl erst im Dezember statt. Armin Laschet dürfte dort klar im Vorteil sein – aber aussichtslos ist die Lage für Friedrich Merz noch längst nicht.
[ "CDU", "Friedrich Merz", "Armin Laschet", "Jens Spahn", "Coronakrise" ]
innenpolitik
2020-04-08T16:28:33+0200
2020-04-08T16:28:33+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/fuehrungsfrage-cdu-parteivorsitz-corona-krisenmanagement-armin-laschet-friedrich-merz/plus
Mittelstand - Glückskekse aus Bayern
Für den Verkauf seiner Glückskekse tut Ralph Schäfer fast alles – wenn es sein muss, auch in ihnen baden. Für das Fotoshooting in seinem Badezimmer hat der 56 Jahre alte Unternehmer die Hüllen fast komplett fallen lassen und legt sich nur mit schwarzer Unterhose bekleidet in die Wanne. Mehr als 300 Kekse, die er vorher einzeln von einigen seiner Mitarbeiterinnen hat auspacken lassen, ergießen sich über ihn. Kein Problem für Schäfer, Brille und Lächeln sitzen trotzdem, da ist er ganz Profi. Nachdem der Fotograf seine Aufnahmen gemacht hat, steigt Schäfer aus der Wanne, schüttelt kurz die Krümel ab und beteuert auf dem Weg zur Dusche sicherheitshalber noch einmal: „Diese Glückskekse gehen nicht mehr in den Verkauf.“ Schäfers Unternehmen trägt den Namen Bavarian Lucky Keks und hat seinen Sitz in Bad Abbach in Niederbayern in der Nähe von Regensburg. In einer Halle im Gewerbegebiet steht die größte automatische Backanlage zur Herstellung von Glückskeksen in Europa. Schuld an deren Anschaffung ist Topmodell Naomi Campbell. Sie warb in den neunziger Jahren für BHs von Triumph mit dem Slogan „Be happy“. Der deutsche Wäschehersteller ließ begleitend zur Kampagne 1,3 Millionen Glückskekse verteilen, ein Riesenauftrag für Schäfer, der damals noch nicht selbst produzierte, sondern mit seiner Firma nur für Verpackung und Vertrieb sorgte. Der Auftrag überzeugte ihn endgültig vom Werbe- und Marketingpotenzial der Glückskekse. „Aber ich wollte sie auch selbst herstellen, weil alles, was es auf dem Markt gab, nach Pappe schmeckte“, sagt Schäfer. Die sieben Meter lange und drei Meter breite Anlage importierte er aus den Vereinigten Staaten. 50 000 Kekse kann er damit täglich herstellen. Schäfer, der sich selbst einen Qualitätsfanatiker nennt, tüftelte mit einem befreundeten Konditor an der richtigen Teigmischung. Wenn Schäfer über den Geschmack seiner eigenen Glückskekse spricht, fühlt man sich eher wie bei einer Weinprobe: „Im Abgang müssen sie auf der Zunge vanillig-zitronig sein.“ Außerdem seien sie „brown“ und „crispy“, fügt Schäfer hinzu und erwähnt beim Gang durchs Unternehmen mehrfach, dass es ein Privileg sei, „die Kunden mit seinen Glückskeksen glücklich zu machen“. Das Wort „Glück“ hört der Besuch an diesem Tag ohnehin sehr oft. Schäfer ist eben doch mehr Marketingmann als Konditor.
Til Knipper
Erst baute Ralph Schäfer Wohnungen für Saddam Hussein, dann inspirierte ihn Naomi Campbell zur Gründung einer Glückskeksfabrik, die mittlerweile einen Jahresumsatz von einer Million Euro macht 
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wirtschaft
2013-04-03T17:14:16+0200
2013-04-03T17:14:16+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/mittelstand-glueckskekse-aus-bayern/54025
Walther Stützle – „Verspielt das europäische Erbe nicht“
Deutschland hat wie kein anderes Land von der europäischen Integration profitiert. Doch das europäische Projekt befindet sich in akuter Existenznot. Ein politischer Neubeginn ist notwendig. Die Idee von einem Kern-Europa, geründet auf den unbedingten Willen zum Frieden,  bietet dazu die Chance. Sicherheit für Deutschland gibt es nur als europäisches Projekt, nicht als nationales. Deutsche Sicherheitspolitik, genauer: die Sicherheitspolitik der alten Bundesrepublik, ist ein Stück europäische Erfolgsgeschichte. Das klingt unbescheiden, ist aber wahr. Die Deutschen haben davon so sehr profitiert wie alle ihre Nachbarn. Nicht ein einziges Land auf diesem Globus ist seit 1949 durch deutsche Sicherheitspolitik zu Schaden gekommen. In keiner anderen Epoche der europäischen Geschichte verbindet sich mit dem deutschen Namen eine vergleichbar gute Nachricht. Dieser historisch bedeutsame Erfolg hat Gründe. Und sie müssen heute benannt werden um zu verstehen, woran es gegenwärtig  mangelt. Sie heißen: ‚Führung‘ und ‚Konzept‘. In allen Gesellschaften ist „Sicherheit" ein Grundnahrungsmittel – ist das Zauberwort jeglicher Politik. Schon Konrad Adenauer wusste das Thema „Sicherheit“ richtig einzusortieren  -  abzumessen an den politischen Realitäten, an den außen- und sicherheitspolitischen Interessen der gerade neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland und an ihren noch sehr beschränkten Fähigkeiten. Einbau in ein sich einigendes Europa und feste Verankerung im freien Westen – das war sein Konzept – eine von Altersgelassenheit geprägte Führungskraft sein Markenzeichen. Ganz freiwillig ist Deutschland diesen Weg damals nicht  gegangen. Das stimmt. Den westlichen Teil Deutschlands im Machtkampf zwischen Ost und West an die östliche Seite zu verlieren lag außerhalb der Vorstellungswelt der amerikanisch dominierten westlichen Gemeinschaft. Mit Blick auf heute aber ist ein anderer Punkt entscheidend: Durch Führung und Klarheit hat der Alte aus Rhöndorf die große Mehrheit der Bevölkerung in freien Wahlen von seinem Weg überzeugt. Das wiederum ebnete den Weg für die Gegenleistung der alten Feinde und nunmehr neuen Verbündeten: Aus Sicherheit vor Deutschland wurde auch für Frankreich Sicherheit für und mit Deutschland. Nach der gewährten staatlichen Fortexistenz Deutschlands, dem ersten Nachkriegswunder, war dies das Zweite: gemeinsame Sicherheit, freilich zunächst nur der Westeuropäer und garantiert von den USA. Das dritte Nachkriegswunder Aus kontrollierter Einbindung entwickelte sich gleichberechtigte Partnerschaft, die, 1989-90,  nach dem Fall der Mauer, auf  dem Weg zur deutschen Einheit Wundersames  bewirkt hat: die Siegermacht Sowjetunion, die bis zum 3.Oktober 1990 „für Deutschland als Ganzes und für Berlin“ mitverantwortlich war, erkannte in der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der Nato und in der Europäischen Gemeinschaft, wie die Union damals noch hieß, auch für die Sowjetunion mehr Sicherheits-Vorteile als Nachteile und akzeptierte sie - eine  Entscheidung, zu der keine Macht der Welt Moskau hätte zwingen können, ohne die Deutschland aber heute nicht vereint wäre. Dies lässt sich mit Fug und Recht als das dritte Nachkriegswunder bezeichnen. Alle regierungserfahrenen Parteien im Deutschen Bundestag haben bei Übernahme der Regierungsverantwortung schnell erkannt, dass sie im Interesse bundesdeutscher Sicherheit an diesem Kontinuitätsfaden weiter weben müssen, dass sie ihn nicht abreißen lassen dürfen – vielmehr alle Kraft darein setzen müssen, ihn dicker und zerreißproben-sicherer zu machen. Das ist fast allen ganz ordentlich gelungen, wenn auch gelegentlich mit großen Schmerzen. Nun aber sind Zweifel aufgekommen, auch bei Nachbarn. Erstmals seit Jahrzehnten wird die Bundesrepublik öffentlich neuer Sonderwege verdächtigt, z. B. vom Luxemburgischen Außenminister gar einer demütigenden Politik bezichtigt. Heute sind daraus für die Gestaltung des Umbruchs, für die Gestaltung der Zukunft zwei Schlussfolgerungen zu ziehen: Erstens: Für den souveränen Nationalstaat Deutschland gibt es keine nur national verbürgte Sicherheit. Jeder Versuch, deutsche Sicherheitspolitik aus dem erreichten Grad von Internationalität und Integration herauszulösen, müsste bei unseren Nachbarn und Partnern Misstrauen und Unsicherheit hervorrufen; er müsste unweigerlich als Aufbruch zu neuen deutschen Machtträumen wahrgenommen werden. Die Reaktion wäre leicht vorhersagbar: Erneut Suche nach Schutz vor Deutschland, Preisgabe der Errungenschaft Sicherheit mit und für Deutschland; das aber hieße Zerfall der Atlantischen Allianz und Bruch der Europäischen Union. Der Feierstunde nationaler deutscher Arroganz  folgte bald und unweigerlich die Trauerrede auf Deutschlands Isolierung und die damit verbundenen politischen und ökonomischen Kosten. Zweitens: Geographische Lage, ökonomisches Gewicht sowie die Sicherheitsinteressen Deutschlands gebieten, die Chance zur Neugestaltung mit Mut und Augenmaß zu nutzen. Geboten ist behutsame Fortentwicklung, gegründet auf klare Vorstellungen vom Ziel, das mehr sein muss als nur der Wille zur Machterhaltung. Geboten ist auch, dieses Ziel der Öffentlichkeit in verständlicher Sprache zu vermitteln. Konrad Adenauer und Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten und konnten das. Kernaufgabe jeglicher deutscher Sicherheitspolitik ist es, den Bürger des Landes die Werteordnung unserer Verfassung möglichst frei von Gefahr leben und erleben zu lassen. Das heißt, es geht nicht nur um die Sicherheit eines Staates an seinen Grenzen oder denen einer Staatengemeinschaft, sondern auch um die Sicherheit in einer Werteordnung. Deutsche Sicherheitspolitik jenseits nationaler Grenzen Wie aber muss deutsche Sicherheitspolitik beschaffen sein in einer globalisierten Welt mit ununterbrochener Echtzeitkommunikation; in der es staatlich gelenkte Angriffe auf Datenbanken konkurrierender Nationen gibt und in der unterschiedliche Formen von Terrorismus so ungleiche Gesellschaften wie die USA und Norwegen tödlich verwundbar gemacht hat; wie muss deutsche Sicherheitspolitik aussehen in einer Welt, in der die Schwäche von Staaten – siehe Somalia, Sudan oder Kosovo – ein größeres Problem darstellt als eine nordkoreanische Millionen-Armee; in der Piraten wichtige Seegebiete kontrollieren und in der die kommunistische Großmacht China zum größten Gläubiger der demokratisch verfassten Weltmacht USA geworden ist und diese weltöffentlich auffordert, ihre Militärausgaben zu reduzieren, während Peking selbst im Begriff ist, seinen Machtanspruch auch militärisch zu unterfüttern – nicht nur im Pazifik, sondern auch im Golf von Aden und mit einer ausgefeilten Stützpunkt-Politik im Indischen Ozean sowie mit einer generalstabsmäßig geplanten Politik zur weltweiten Sicherung von Rohstoffquellen; wie muss Sicherheitspolitik aussehen angesichts der grundstürzenden Veränderungen in Nordafrika und im Nahen Osten sowie der anhaltenden Unfähigkeit Israels und der Palästinenser zum vertraglich geregelten friedlichen Nebeneinander – einer Situation, in der der Wunsch nach immer mehr Waffen größer ist als die Bereitschaft zur Verständigung. Wie, schließlich, muss deutsche Sicherheitspolitik aussehen in einer Zeit, da das erfolgreichste Bündnis der modernen Geschichte, die Atlantische Allianz, im Begriff ist, den Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen und den in Libyen nur mit moralisch untragbaren Kosten zu beenden; und in einer Zeit, da das erfolgreichste Friedensprojekt der gesamten, blutgetränkten europäischen Geschichte, nämlich die Europäische Union, sich in akuter Existenznot befindet. Diese Fragen-Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – aber sie macht deutlich: Keine der genannten Herausforderungen und Umbrüche ist mit den Mitteln des Nationalstaates zu bewältigen. Vielmehr liegt es im überragenden deutschen Interesse, dass die Berliner Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sich vorrangig drei großen Aufgaben widmet: dem Ausbau der EU zur international handlungsfähigen Politischen Union; dem Umbau der Atlantischen Allianz zur Amerikanisch-Europäisch-Russischen Sicherheits-Gemeinschaft, sowie dem Einbau eines adäquaten deutschen Streitkräfte-Beitrages in den internationalen Instrumentenkasten zur Krisenbewältigung. Krisen unserer Zeit Drei sehr unterschiedliche Krisen haben in unserer Zeit auf eindringliche Weise die Unfähigkeit Europas zum gemeinsamen Handeln offenbart: 1. die aktuelle Schuldenkrise in einigen EU-Mitgliedstaaten, 2. Die französisch-britisch initiierte, vom Mandat der UNO so nicht gedeckte militärische Intervention in Libyen und 3., acht Jahre zurück, der Irak-Krieg 2003. In allen drei Fällen spielten und spielen die EU-Kernmächte Deutschland und Frankreich eine herausragende Versager-Rolle: im Irak Krieg 2003 gelang es ihnen nicht, eine gemeinsame europäische Position zu schmieden; beim aktuellen Libyen Konflikt standen Paris und Berlin sogar gegeneinander, weltöffentlich im Sicherheitsrat der UNO, und in der aktuellen Schulden-Krise zögern und zaudern sie gemeinsam. Nur eines haben sie nicht zustande gebracht: einen wesentlichen Fortschritt in puncto politischer Integration. Die Schuldenkrise ist eine politische Krise – eine Krise der Europa-Politik. Sie ist weder eine Euro-Krise noch eine Wirtschaftskrise. Verheerend allerdings ist der Versuch, ein politisches Problem mit Geld zuzupflastern, mit Steuerzahler-Geld  –  die Patienten wird das nicht heilen, aber die Spender mit enormen Bürgschaftsrisiken belasten. Mangelnde politische Weitsicht, Führungsschwäche und unstetes Handeln sollen mit immer neuen währungs- und finanzpolitischen Konstrukten zugedeckt werden. Der Misserfolg ist programmiert. Europa entsteht weder durch Eurobonds noch durch mehr oder minder kluge Urteile von deutschen Verfassungsrichtern. Eine noch von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägte Politiker-Generation wusste, dass ein politisch geeintes und handlungsfähiges Europa nur zu haben ist, wenn zwei konstitutive Elemente, ja Symbole der nationalen Souveränität zu Gunsten Europas aufgegeben werden: die Währung sowie die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, also letztlich die Entscheidung über Krieg und Frieden. Die Währungshoheit wurde von der Kohl-Generation zu Recht aufgegeben – aber die notwendigen Arbeiten am politischen Dach blieben liegen. Bis heute. Kein Wunder also, dass es ständig hineinregnet. Aus der letzten Weltwirtschaftskrise ist Deutschland stärker hervorgegangen als alle seine Partner – dank kluger Tarifpartner und dank kluger Politik. Innerhalb der EU war Deutschland noch nie so mächtig wie gegenwärtig. Nie zuvor war die Situation so günstig, wirtschaftliche Macht zugunsten politischer Integration einzusetzen. Aber Deutschlands Angst vor weiterer politischer Integration nutzen seine Partner zu fortgesetzter finanzieller Erpressung der Bundesrepublik. Berlins Position ist das Gegenteil von strategisch angelegter Sicherheitspolitik für den Bürger. Es ist das Spiel mit dem Feuer. Der Vertrag von Lissabon, der gültige EU-Vertrag, bietet keinen Ausweg. Mangelnde EU-Kompetenzen in der Wirtschafts- und Finanz-Politik und der von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommene, im Lissaboner Vertrag aber ausdrücklich verankerte Rückfall in die nationale Verantwortung für Fragen der nationalen Sicherheit bezeugen, dass die EU unverändert versucht, sich den Herausforderungen der Globalisierung zu entziehen. Der Glaube, mit 17 Euro-Regierungen und nationalen Parlamenten den global operierenden Finanzmärkten gewachsen zu sein, ist so sehr ein teurer Irrglaube wie die Annahme, ohne eine wirklich wetterfeste Gemeinsame, eben nicht 27fache Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Einfluss in der Welt nehmen zu können. Nationalstaat überwinden Die permanente Erweiterung der EU mag gut gewesen sein, um den Frieden innerhalb der Union zu sichern. Und das ist nicht wenig auf dem blutgetränkten Terrain Europas. Aber sie hat die EU gleichzeitig von dem  anderen großen Ziel immer weiter entfernt: nämlich zu einem auch international handlungsfähigen Akteur aufzuwachsen. Es ist ein tödlicher Irrtum anzunehmen, Europa könne im Zeitalter der Globalisierung mit einem Rückfall in die Nationalisierung bestehen. Es ist ein tödlicher Irrtum anzunehmen, Europa könne zusammenwuchern statt zusammenzuwachsen. Wachstum verlangt die Pflege der Wurzeln – und die heißen: den Nationalstaat überwinden, wo er nicht mehr lebensfähig ist und die Politische Union dort begründen, wo dem Bürger Schutz vor Krieg und wirtschaftlichem Stillstand anders nicht geliefert werden können. Entstanden ist eine durch Finanz-Märkte leicht verwundbare und von Mächten nicht ernst genommene Freihandelszone. Es war ja kein Zufall, dass beim Kopenhagener Klima-Gipfel Indien, Brasilien, China und Südafrika mit Präsident Obama zu Tisch saßen, die EU aber von Obama  nicht geladen war. „Ein geeintes Europa“, sagte Konrad Adenauer 1952, „wäre auch dann ein zwingendes Erfordernis, wenn es überhaupt keine sowjetische Gefahr gäbe. Die europäischen Nationalstaaten haben nur noch eine Vergangenheit, aber keine Zukunft.“ Sich heute, 20 Jahre nach der Implosion des sowjetischen Imperiums, immer noch der politischen Integration Europas zu verweigern, verkennt, dass die Nation ihre Kraft und Identität nur bewahren und zugunsten der Bürger entfalten kann, wenn sie den Nationalstaat überwindet. Anderenfalls werden wir weiter den Entwicklungen „hinterherlaufen“, wie Finanzminister Wolfgang Schäuble es mit Blick auf die Schuldenkrise formuliert hat. Zweierlei ist jetzt vonnöten: Erstens die Bereitschaft, alle Fragen, die Europa gemeinsam berühren, schrittweise, gut geplant und terminiert sowie öffentlich in verständlicher Sprache erklärt an eine parlamentarisch kontrollierte Europäische Regierung abzugeben, und zweitens mit jenen Staaten zu beginnen, die jetzt dazu bereit und fähig sind. Mit dem deutsch-französischen Beschluss vom 16. August, auf eine Wirtschaftsregierung der Euro-Staaten hinzuwirken, ist ein Teil-Ziel richtig bestimmt. Allerdings machen das gewählte Verfahren und die fehlende ausdrückliche Bereitschaft, damit einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Politischen Union zu tun, zu den Vereinigten Staaten von Europa, es unmöglich, die verkündete heilende Wirkung zu erlangen. Ein politischer Neubeginn ist notwendig. Die Idee von einem Kern-Europa bietet dazu die Chance. Kerneuropa als Neubeginn Kern-Europa ist das Tor zur Politischen Union – vorausgesetzt, vier Grundbedingungen werden erfüllt. Die erste und wichtigste: Frankreich und Deutschland müssen den Kern des Kernes bilden. Sie sind das Herzstück des europäischen Friedensprojektes -  sie verantworten zu allererst, ob Europa Fortschritt erfährt oder Verfall erleidet. Nur ein deutsch-französischen Duo bietet auch Schutz vor Sorgen über deutsche Sonderwege. Die zweite Grundbedingung lautet: Paris und Berlin dürften nichts unversucht lassen, möglichst die Benelux-Länder und Italien von Anbeginn mit ins Boot holen – also den Gründungskern der einstmaligen EG, und auch Polen als Gründungsmitglied zu gewinnen; drittens: Die Integrations-Agenda muss die wichtigsten Themen enthalten: Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, sowie Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Viertens: Paris und Berlin müssten die Realisierung unverzüglich auf den Weg bringen und zugleich die Tür offen lassen für Späterkommer. Kern-Europa macht Schluss mit einem Europa à la carte und es schließt niemanden aus, sondern ist offen für die, die alle Spielregeln akzeptieren. Auf dem Weg dorthin ist das Grundgesetz kein Hindernis, sondern geradezu Wegweiser. "Wir werden gerne und freudig an dem großen Ziel dieser Union [Europäische Union] mitarbeiten", sagte Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung, „zumal wir mit unserem Grundgesetzartikel  24, der die Übertragung von Hoheitsrechten ausdrücklich vorsieht, die fortschrittlichste Verfassung haben“. Der Alte wußte, was Angela Merkel vergessen hat: Auf dem Weg zur politischen Integration ist das Grundgesetz Wegweiser, nicht Hindernis. Auf dem Felde der Außen-Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedarf die Europäische Union neuer Leuchtturm-Projekte. Eine Europa-Armee gehört dringlich dazu. Erstens weil sie der bereits praktizierten Logik entspricht, dass der europäische Nationalstaat seit langem nicht mehr in der Lage ist, sich aus eigener Kraft zu verteidigen. Und zweitens, weil es der einzige Weg ist, die unverantwortliche Verschwendung zu beenden, mit der heute in der EU von den 27 EU-Mitgliedstaaten nahezu zwei Millionen Soldaten unterhalten werden für runde 200 Milliarden Euro jährlich. Im Ergebnis sind aber weniger als 20 Prozent davon für die heutigen Aufgaben einsatzfähig. Kein Unternehmen würde sich ein solches Effizienz-Desaster leisten – wir sollten es auch dem europäischen Steuerzahler nicht länger zumuten. Historisch ist es ohne Beispiel, dass eine Staatengemeinschaft mit über 500 Millionen Bürgern und mit der wirtschaftlichen Kraft der EU die Verantwortung für ihre äußere Sicherheit an eine andere Macht, hier die USA, delegiert. Der Impuls zur Umkehr muss von der politischen Führung kommen – zuvörderst aus Berlin und Paris. Wege zum Ziel und Modelle zur schrittweisen Verwirklichung gibt es genug. Entscheidend ist, den politischen, ökonomischen, finanziellen und auch sicherheitspolitischen Gewinn öffentlich zu erklären, der diesem Projekt innewohnte. Wenn Verteidigungsminister dazu nicht in der Lage sind, sollten sich vielleicht die Finanzminister des Themas bemächtigen – der deutsche Finanzminister gehört schließlich zu den Vordenkern des Projekts „Kern-Europa“. Nicht selten kommt der Einwand, Kern-Europa würde die EU spalten. Doch der Einwand geht fehl. Denn: Wo nichts ist, kann auch nichts gespalten werden. Überdies spielt Europa in seinem gegenwärtigen Zustand für die Entscheidungsfindung in den USA nur noch eine untergeordnete Rolle. Kern-Europa böte endlich die Chance, in Washington außen- und sicherheitspolitische Interessen der EU wirksam zu Gehör zu bringen; vom schutzbefohlenen Verbündeten zum einflussreichen Partner zu werden, die Allianz von einem Schlepptauverband zu einer Sicherheits-Gemeinschaft fortzuentwickeln; der Verzicht auf Einfluss ist teuer; zuletzt hat Washington das seine Verbündeten 2010 bei dem Beschluss über ein neues strategisches Konzept für die Nato spüren lassen;  Kern-Europa ist die Alternative; die Vorteile einer solchen Anstrengung liegen auf der Hand, auch mit Blick auf die sich abzeichnenden Veränderungen im asiatischen und pazifischen Machtraum, ausgelöst und vorangetrieben durch die Machtansprüche Pekings. In seinem gegenwärtigen fragmentierten Zustand darf Europa nicht darauf hoffen, in Peking weltpolitisch sehr ernst genommen zu werden. Vierundzwanzig Jahre nach Adenauers erster Regierungserklärung, am 26. September 1973, führte Bundeskanzler Willy Brandt in New York die Bundesrepublik in die Vereinten Nationen. Er begann seine  Rede mit den Worten “Ich spreche zu Ihnen als Deutscher und als Europäer“ und fuhr fort: “Unser Teil Europas ist noch nicht mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft“, sagte er, „ aber es will noch in diesem Jahrzehnt zur Europäischen Union zusammenwachsen.“ Das ist nun nahezu vierzig Jahre her. Europa hat Deutschland wieder groß werden lassen – nun ist es vor allem an Deutschland, diese Union endlich wahr und stark zu machen. Entscheidende politische Kräfte in Deutschland wenden sich gegen den Weg zu den ' Vereinigten Staaten von Europa'.  Wäre damit eine Kopie der USA gemeint, hätten sie Recht. Doch davon kann keine Rede sein. Die USA wurden auf dem unbändigen Willen zur Freiheit gegründet.  Das freie Europa muss sich auf den unbedingten Willen zum Frieden gründen. Das zu bewerkstelligen ist die wichtigste Aufgabe für deutsche Politik. Sicherheit für Deutschland gibt es nur als europäisches Projekt, nicht als nationales. Walther Stützle war bis 2002 Staatssekretär des Verteidigungsministeriums. Heute ist er freier Publizist in Berlin und Senior Distinguished Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Deutschland hat wie kein anderes Land von der europäischen Integration profitiert. Doch das europäische Projekt befindet sich in akuter Existenznot. Ein politischer Neubeginn ist notwendig. Die Idee von einem Kern-Europa, gegründet auf dem unbedingten Willen zum Frieden, bietet dazu die Chance.
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außenpolitik
2011-09-29T13:16:25+0200
2011-09-29T13:16:25+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/verspielt-das-europaeische-erbe-nicht/43230
Finanzpläne - Mehr Redlichkeit in der Großen Koalition!
Als sich die Union und die SPD das letzte Mal zu einer Koalition zusammentaten und ihre Wünsch-dir-was-Kataloge fusionierten, da wurden aus zwei Prozentpunkten mehr Mehrwertsteuer (Union) und null Prozentpunkten mehr Mehrwertsteuer (SPD) am Ende drei Prozentpunkte. Politische Bescherungen haben ihren Preis. Allein deshalb ist höchste Vorsicht geboten, wenn die beiden Volksparteien sich in den kommenden Wochen wieder auf eine gemeinsame Linie für die nächsten vier Jahre verständigen. Bisher sieht es so aus, als würde aus beiden Wunschwelten die beste aller realen Welten herauskommen. Ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro wird eingeführt – aktuellen Umfragen zufolge ein Wunsch einer überwältigenden Mehrheit im Land, und schön für all jene, die derzeit noch für 6,50 die Stunde in einem Taxi sitzen, für das ihnen der Chef in der Frühschicht den Zündschlüssel gegeben hat. [[nid:54337]] Und Steuererhöhungen für Besserverdienende sollen nicht kommen – schön für all jene, die schon fürchteten, dass ihre Jahreseinkommen von 100.000 Euro oder mehr bald nicht mehr hinreichen könnten für den wöchentlichen Edel-Sushi-Abend mit Gattin und rundum versorgtem iPhone-Töchterlein sowie das Tenniscamp auf Fuerteventura in den Herbstferien. Taxifahrer und Besserverdiener im Glück vereint, wunderbare Groko, was will man mehr? Mehr Redlichkeit zum Beispiel. Und mehr Realitätssinn. Angela Merkel und Sigmar Gabriel sind dabei, es sich in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer der Großen Koalition behaglich einzurichten. Aber für diese politische Wohligkeit wird es eine Rechnung geben, die bezahlt werden muss. Von uns allen. Vorweg: Ich halte die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns für überfällig. Es gibt eine Untergrenze, die allein schon die eine Stunde Lebenszeit vergelten muss, die der Beschäftigte für seine Arbeit drangibt, wie gering qualifiziert diese auch immer sein mag. Aber: Alle müssen wissen, dass die 8,50 Euro ihren Preis haben werden – für alle. Beim Friseur, im Restaurant, im Taxi. Diese Dienstleistungen werden teurer werden, auch das gehört zur Wahrheit. Zum Haareschneiden, Mittagessen und Taxifahren reist niemand nach China oder nach Bangladesch. Und noch mehr Realitätssinn sollte man walten lassen eingedenk der Ansage, dass von einer schwarz-roten Bundesregierung keine Steuern erhöht würden. Vorweg: Auch als Angehöriger der Zielgruppe eines höheren Spitzensteuersatzes kann man zu der Auffassung gelangen, diese Maßnahme wäre strukturell richtig – auch wenn sie individuell schmerzt. [[nid:53825]] Aber unabhängig davon, ob man diese Einstellung teilt oder nicht: Keiner sollte glauben, dass die Große Koalition nicht dennoch zulangen werden wird im Verlauf der nächsten vier Jahre. In Deutschland gibt es bekanntlich neben den Steuern auch Abgaben. Und wenn die Steuern nicht erhöht werden, dann langt die Regierung eben bei den Abgaben zu. Wobei es für die meisten Arbeitnehmer auf dasselbe hinausläuft. Steuern wie Abgaben werden direkt vom Lohn oder Gehalt abgezogen. Durch das Überlaufventil namens „versicherungsfremde Leistungen“ sind die beiden Geldbecken des Staates ohnehin miteinander verbunden. Tatsache wird also sein: Wenn die Regierung die Steuern nicht anheben will, aber zum Beispiel die Pflege in Deutschland auf finanziell solidere Füße stellen möchte, dann muss sie sich das Geld von seinen Bürgern woanders holen. Also wird der Beitrag zur Pflegeversicherung angehoben. Erhöht werden nicht die Steuern, sondern die Lohnnebenkosten. Aber die werden ebenso in Euro und Cent abgerechnet. Und es gehört nicht viel Fantasie dazu, um von der Erhöhung der Renten auf die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zu schließen. Deshalb gilt: Solange die beiden Koalitionäre nur ihre beiden Wohltaten zusammenschmeißen und die Zumutungen weglassen, gibt es keinen Grund, Vorschusslorbeeren zu verteilen. Bislang reden CDU, CSU und SPD nur über den kleinsten gemeinsamen Wohlfühlnenner. Interessant und spannend wird es dann, wenn sich Schwarz und Rot darauf verständigen müssen, wo Geld für Leistungen eingespart werden kann, um es an anderer Stelle zur Verfügung zu haben. Und da ist der größte Posten bekanntlich der Etat des Arbeits- und Sozialministers. Nicht jeder Euro, der im Namen des Sozialstaates ausgegeben wird, erfüllt seinen Zweck. Aber die Kürzung von Sozialleistungen will die SPD nicht akzeptieren. Sollte die SPD, sollte persönlich Parteichef Sigmar Gabriel dieses Amt in der nächsten Bundesregierung übernehmen – und danach sieht es aus –, beginnt genau dann der große Tanz auf den Eiern.
Christoph Schwennicke
Ein Mindestlohn, aber keine Steuererhöhungen: Darauf werden die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD wohl hinauslaufen. Doch die Frage, wie das finanziert werden soll, bleibt offen
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innenpolitik
2013-10-22T08:25:51+0200
2013-10-22T08:25:51+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/grosse-koalition-bislang-nur-kleine-broetchen/56177
Fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling - Leben im Dauerbeben
Der Millionen-Jubel auf dem Tahrir-Platz vor fünf Jahren zog am Ende den ganzen Globus in seinen Bann. Das Volk am Nil hatte den modernen Pharao besiegt, mit geradezu übermenschlicher Anstrengung das Joch der Diktatur abgeschüttelt. Tunesien war das erste schwere Beben, Ägypten dann der politische Vulkanausbruch im Zentrum der arabischen Welt. Endlich, so schien es, waren die arabischen Völker aufgewacht, jagten ihre Despoten davon und pusteten ihre muffigen Staatsgebilde durch. Arabischer Frühling – so hieß bald die euphorische Chiffre für die neuen Hoffnungsprojekte im Nahen und Mittleren Osten, für den scheinbar endlich bewältigten Quantensprung der islamisch-arabischen Kernregion hin zu Modernität, Pluralität und Demokratie. Fünf Jahre später herrscht eiskalter Winter. Alle Blütenträume sind verwelkt, die altbekannte, erstickende Ohnmacht zurückgekehrt. Die Menschen auf den Straßen wirken stumm und verängstigt. Mit ihren politischen Sehnsüchten haben sie sich wieder zurückgezogen in die virtuelle Welt von Twitter und Facebook. Der ägyptische Cyberheld von damals, der Google-Manager Wael Ghonim, dessen Facebook-Seite den Aufstand gegen Hosni Mubarak auslöste, kämpft heute vor Gericht gegen seine Ausbürgerung wegen Staatsfeindlichkeit. „Ich war bei der Januar-Revolution dabei“, heißt das trotzige Twitter-Bekenntnis, mit dem sich dieser Tage Zehntausende junger Ägypter gegen Resignation und Verzweiflung stemmen. „Trotz der Monster - ich habe das Utopia auf dem Tahrir-Platz miterlebt, ich werde das niemals vergessen“, schrieb einer. „Seid stolz darauf, an dem ägyptischen Traum beteiligt gewesen zu sein“, tweetete ein anderer. Denn viel ist nicht mehr übrig von der Hoffnung auf ein freieres, sozialeres und gerechteres Ägypten. Der alte Mubarak-Apparat aus Militär, Polizei und Justiz hat seine im Frühjahr 2011 verlorene Macht wieder fest in der Hand. Nach dem vom Militär erzwungenen Sturz von Mohammed Mursi im Juli 2013 ist mit Abdel Fattah al-Sissi auch der Präsident wieder – wie gewohnt – ein Ex-General. Die Polizei, deren drakonischer Missbrauch vor fünf Jahren den Volkszorn zum Überkochen brachte, wütet schlimmer als zuvor. Mehr als 40.000 Menschen sind als politische Gefangene hinter Gittern, über 150 Menschen spurlos verschwunden. Und während das Regime hartnäckig leugnet, in seinen Verliesen würde gefoltert und vergewaltigt, dringen fast täglich neue Horrorgeschichten nach draußen. Die Machthaber fürchten nichts mehr als neue Demonstrationen auf den Straßen. 5.000 Wohnungen wurden in den letzten Tagen in Kairo durchsucht. Dutzende Aktivisten, Journalisten, Ärzte und Rechtsanwälte verhaftet, darunter vier führende Mitglieder der Demokratiebewegung 6. April, die maßgeblich zum Sturz Mubaraks beitrug und heute verboten ist. In einer selbst für ägyptische Verhältnisse einzigartigen Kommandoaktion schloss die Staatssicherheit sogar die bekannte Townhouse Galerie im Herzen der Hauptstadt, Treffpunkt junger Künstler, sowie das benachbarte Rawabet Theater und den Merit-Verlag, dessen Besitzer Mohammed Hashem Ägypten schon einmal vor zwei Jahren verlassen wollte, weil er die Nase voll hatte von dem „politischen Terrorismus“ in seiner Heimat. Die meisten einheimischen NGOs, aber auch deutsche politische Stiftungen dürfen am Nil nicht mehr arbeiten. Vor wenigen Tagen brach auch die liberale Naumann-Stiftung ihre Zelte ab. „Wenn heute jedes politische Seminar, jede Konferenz, die wir mit ägyptischen Partnern ausrichten, als mögliche Bedrohung der inneren Sicherheit Ägyptens missverstanden wird, so entzieht das unserer Arbeit die Grundlage“, begründete Vorstandschef Wolfgang Gerhardt diesen spektakulären Schritt. Regimenahe TV-Talkmaster wie der berüchtigte Ahmed Moussa dagegen drohen allen Aktivisten und aufmüpfigen Mitbürgern, sollten sie am 25. Januar auf die Straße gehen, würden sie entweder im Gefängnis oder im Grab landen. „Warum höre ich Rufe nach einer weiteren Revolution?“ polterte Ex-Feldmarschall Abdel Fattah al-Sissi. „Warum wollt ihr Ägypten ruinieren? Ich bin durch euren Willen an die Macht gekommen und nicht gegen euren Willen“, rief er aus. Und so stehen fast alle arabischen Völker mittlerweile nur noch vor der unglücklichen Alternative, sich wie in Ägypten entweder mit einem hyperautoritären Polizeistaat abzufinden oder wie in Libyen, Syrien und Jemen den Zerfall der eigenen maroden Nation mit ansehen zu müssen. „Der Arabische Frühling war ein historischer Moment vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer“, urteilte Michael Ayari von der International Crisis Group. „Noch haben wird keine klare Deutung. Im Augenblick aber scheint alles bergab zu geben - ein Prozess, der Jahrzehnte dauern wird.“ In dem kleinen Mittelmeeranrainer stand die Wiege des Arabischen Frühlings. Einzig Tunesien gelang es, in seiner post-revolutionären Bahn zu bleiben und sämtliche demokratische Institutionen erfolgreich zu etablieren – Verfassung, Parlament, Präsident und Regierung. Gründe dafür sind die starke Zivilgesellschaft und die mächtigen Gewerkschaften, die seit dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali das Land zusammenhielten, die politischen Kontrahenten des säkularen und islamistischen Lagers zu Kompromissen zwangen und dafür 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. Trotzdem ist Tunesiens Lage ebenfalls sehr fragil. Über 15 Prozent Arbeitslosigkeit, eine stagnierende Wirtschaft, steigende Preise sowie die Terrorgefahr sind brennende Probleme. Bei Massakern vor dem Bardo-Museum in Tunis und an einem Badestrand in Sousse wurden 60 Touristen ermordet, was die heimische Urlaubsbranche auf Jahre dezimierte. Über 3000 Tunesier kämpfen an der Seite des „Islamischen Kalifates“. Mehr als 12.000 junge Verführte wurden nach Angaben des Innenministeriums bisher an der Ausreise nach Syrien und Irak gehindert. „Ihr werdet kein ruhiges Leben mehr haben, wenn in Tunesien nicht die Scharia eingeführt wird“, drohten die Fanatiker per Videobotschaft ihren Landsleuten daheim. Libyen ist zerfallen und hat aufgehört, als Nationalstaat zu funktionieren. In Muammar Gaddafis Geburtsstadt Sirte errichtet der „Islamische Staat“ derzeit vis-à-vis von Europa sein nächstes Kalifat. Nach Einschätzung der UN entwickelt sich die ölreiche Mittelmeernation zur regionalen Terrordrehscheibe, die auch seine direkten Nachbarn Tunesien, Ägypten und Algerien bedroht. Zahlreiche Ölterminals stehen in Flammen. In den Vierteln der einstigen Heldenstadt Benghazi sieht es inzwischen genauso aus wie in Homs oder Aleppo. Zwei Regierungen und zwei Streitkräfte kämpfen erbittert um die Vormacht. Im Westen des Landes herrscht das Bündnis „Fajr Libya“ aus moderaten Islamisten und Milizen kleinerer Städte. Im Osten dominiert die „Libysche Nationalarmee“ unter General Khalifa Haftar. Die international anerkannte politische Führung Libyens, die in Al Baida und Tobruk nahe der Grenze zu Ägypten residiert, steht unter seinem Schutz. Die Möglichkeiten von außen, den Ruin Libyens zu stoppen, sind gering, solange kein politischer Brückenschlag zwischen den beiden verfeindeten Machtblöcken gelingt. Dem UN-Sondergesandten Martin Kobler gelang es jetzt, den Kontrahenten eine gemeinsame Kabinettsliste abzuringen. Beide Parlamente jedoch verweigern sich bisher und geben kein grünes Licht für diesen nationalen Kompromiss. Dass die Jemenitin Tawakkol Karman 2011 als erste arabische Frau und Vorkämpferin des Arabischen Frühlings den Friedensnobelpreis erhielt, ist heute fast vergessen. Ihr Wohnhaus wurde inzwischen durch die Kämpfe in der Hauptstadt Sanaa verwüstet. Ihrer Heimat an der Südspitze der Arabischen Halbinsel droht ein ähnliches Schicksal wie Syrien. Seit fast einem Jahr herrscht im Jemen Bürgerkrieg, durch den immer mehr Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen und Brücken in Schutt und Asche gelegt werden. Auf der einen Seite kämpfen schiitische Houthi-Rebellen zusammen mit Truppen, die dem 2012 durch den Volksaufstand abgesetzten, langjährigen Präsidenten Ali Abdullah Saleh loyal sind. Auf der anderen Seite steht ein Bündnis aus saudischer Luftwaffe und Soldaten des nach Riyadh geflohenen Präsidenten Abed Rabbo Mansour Hadi, dem sich Islah-Muslimbrüder, Separatisten des früheren Südjemen und lokale Stammeskrieger angeschlossen haben. Die Leidtragenden sind in erster Linie die 24 Millionen Einwohner. Mehr als 6000 Jemeniten wurden bisher durch die Luftangriffe getötet, über 15.000 verletzt. Die Hälfte der Bevölkerung leidet Hunger, drei Millionen Menschen sind auf der Flucht. Dafür hat sich in dem angerichteten Chaos erstmals der „Islamische Staat“ im Jemen fest etabliert. Und Terrorkonkurrent Al Qaida ist stärker als je zuvor.
Martin Gehlen
Zu Beginn des Arabischen Frühlings vor fünf Jahren wuchs die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel im Nahen und Mittleren Osten. Doch heute wütet die ägyptische Polizei schlimmer als zuvor, Tunesien kämpft mit Arbeitslosigkeit, Libyen wird zur regionalen Terrordrehscheibe und im Jemen herrscht Bürgerkrieg. Ein Überblick 
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außenpolitik
2016-01-22T11:44:27+0100
2016-01-22T11:44:27+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/fuenf-jahre-nach-dem-arabischen-fruehling-leben-im-dauerbeben/60400
Führungskrise der CDU – „Mit der Wahl des neuen Vorsitzenden fangen die Probleme erst an“
Hermann Binkert ist Geschäftsführer des Markt- und Sozialforschungsinstitutes INSA-Consulere. Er war Mitglied der CDU und von 2008 bis 2009 Staatssekretär in der Thüringer Staatskanzlei. Herr Binkert, das Rennen um die Nachfolge von CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer ist eröffnet. Es kandidieren Friedrich Merz, Norbert Röttgen, das Team Laschet/Spahn. Die CDU hat zuletzt bei der Wahl in Hamburg nur noch 11,2 Prozent der Stimmen bekommen. Ist die Bewerbung um den Parteivorsitz ein Himmelfahrtskommando?  Nein, alle drei Bewerber um den Vorsitz stehen für einen bestimmten Ansatz. Und alle drei haben vor, die CDU wieder nach vorn zu bringen. Wer hat denn die besten Chancen? Wir können mit unseren Umfragen nur die Chancen bei den Wählern messen, insbesondere bei den aktuellen und potenziellen Wählern der Union. Und da kommt Friedrich Merz am besten an. Was sehen die Wähler in ihm? Wir haben nach Kompetenz, Sympathie und nach der Chance gefragt, bei Wahlen möglichst viele Stimmen für die Union zu gewinnen. In allen drei Kategorien liegt Merz bei den Unionswählern vorn. Danach kommt Laschet. Er gilt als sympathisch – auch noch über die Klientel der Unionswähler hinaus. Wenn man die Gesamtzahl der Wähler als Maßstab nimmt, dann liegt Laschet bei der Sympathie-Frage noch vor Merz. Merz zieht bei den aktuellen und potenziellen Unionswählern am stärksten. Aber in der Bundespartei ist Armin Laschet als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und als stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU stärker verankert. Wie zuverlässig sind da Ihre Umfrage-Ergebnisse? Über die Kräfteverhältnisse beim Bundesparteitag kann ich überhaupt nichts sagen. Da müssen Sie einen Insider fragen. Demoskopisch steht fest, dass Merz im Süden und im Osten der Republik besonders gut ankommt. AKK hat nach nur einem Jahr auf dem Höhepunkt der Thüringen-Krise das Handtuch geworfen. Hat Sie das überrascht? Nein, dass es für Frau Kramp-Karrenbauer schwierig wird, haben ja schon die Zahlen des Politiker-Rankings 2019 gezeigt. Innerhalb von nur einem Jahr hat sie massiv an Zustimmung verloren. Und sie hat es richtig analysiert, als sie gesagt hat, sie sei an dem Dualismus zwischen Parteivorsitz und Kanzleramt gescheitert ist. Angela Merkel hatte zu Recht Bedenken, die beiden Ämter zu trennen. Ist AKK auch gescheitert, weil sie eine Frau ist? Das glaube ich nicht. Frau Merkel ist ja auch nicht gescheitert, und sie ist auch eine Frau. Aber CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus hat in einem Interview in der SZ gesagt, die Bundespartei habe es Kramp-Karrenhauer auch nicht gerade leicht gemacht.  Das stimmt, aber mit dem rauhen Wind musste Frau Merkel auch die ganze Zeit leben. Es ist jedenfalls nicht so, dass man sagen könnte, dass eine Frau in der CDU nicht Parteivorsitzende sein kann. Ds ist widerlegt! Mit der Personalentscheidung ist auch eine Richtungsentscheidung verbunden. Wofür stehen die Kandidaten?  Friedrich Merz steht nach seiner eigenen Einschätzung für Aufbruch und Erneuerung – und Armin Laschet für Kontinuität. Er selbst sieht das wohl anders. Merz verkörpert offenbar die Sehnsucht nach der guten alten Bundesrepublik, nach autoritären Figuren wie Helmut Kohl.  Muss man da nicht eher von einem „Bruch“ mit der Ära Merkel als von einem „Aufbruch“ sprechen? Unbestritten ist Merz nicht der Favorit der Kanzlerin. Er wird von seinen Fans wohl gerade deshalb unterstützt, weil er kein Freund von Angela Merkel ist. Ich glaube aber, dass er für viele Menschen eine Projektionsfläche ist. Er spricht liberal-konservative Wähler an. Frau Merkel hat eher Zuspruch von Wählern der Grünen. Wenn es nach Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gegangen wäre, hätte die CDU in ihrer Führungskrise erst rausfinden sollen, wofür sie heute eigentlich steht – und dann den Nachfolger bestimmt. War es klug, einen Sonderparteitag im April anzuberaumen, um die Nachfolge der Parteichefin zu klären?  Ja, aus demoskopischer Sicht kann man nur sagen: Lange Zeiten der Ungewissheit und des Streites schaden einer Partei, die sich streitet. Die inhaltlichen Punkte müssen immer zur Person passen. Die CDU arbeitet ja aktuell an einem neuen Grundsatzprogramm. Auf dem Sonderparteitag im April läuft es jetzt auf eine Kampfkandidatur der Nachfolger hinaus. Wollte AKK nach den Erfahrungen mit dem Castings auf den zurückliegenden Regionalkonferenzen nicht genau das vermeiden?  Ja, wenn man den Verlautbarungen folgt, dann war eigentlich eine Teamlösung angedacht. Aber offenbar konnten sich drei beziehungweise vier Bewerber nicht auf eine Lösung einigen. Und dann muss es eben der Parteitag entscheiden. Der zentrale Punkt wird sein, ob es dem Nachfolger gelingt, die Unterlegenen anständig einzubinden. Offenbar hat Frau Kramp-Karrenbauer unterschätzt, dass hier vier Egos aufeinanderprallen. Hat sie das Auswahlverfahren nicht mehr im Griff?  Im Griff kann ja nicht heißen, sie kann durchsetzen, was sie wollte. Das klappt in einer demokratischen Partei nicht. Zu Recht. Sie hat versucht, einen Konsens zu finden. Wenn das nicht gelingt, muss man es eben auf demokratischem Wege lösen. Das als mangelnde Führung anzusehen, hieße, die Demokratie in Frage zu stellen. Was sagt es über den Zustand CDU aus, dass erst Norbert Röttgen seine Kandidatur öffentlich verkünden musste, bevor seine Mitbewerber ihren Hut offiziell in den Ring geworfen haben? Ich weiß nicht, ob die anderen das sonst auch in dem Tempo gemacht hätten. Ich finde, dass es gut ist, wenn demokratische Prozesse transparent gemacht werden – und wenn Klarheit darüber hergestellt wird, in welche Richtung es geht. Wähler erwarten von den Parteien auch Orientierung. Insofern war es klug, dass Herr Laschet versucht hat, sein eigenes Spektrum mit Herrn Spahn zu verbreitern. Eine Partei, die Volkspartei bleiben will, muss sich breit aufstellen. Norbert Röttgen hat diese „Hinterzimmer-Deals” gerügt. Wollte AKK den Nachfolger nicht deswegen hinter verschlossenen Türen aussuchen, damit die Führungskrise der CDU nicht noch stärker in den Fokus der Öffentlichkeit rückt? Eine einvernehmliche Lösung mit den Bewerbern wäre sicherlich gut gewesen. Aber wenn es diesen Konsens nicht gibt, ist es besser, die Konflikte offen auszutragen. Wieso greift die Kanzlerin in dieser Führungskrise eigentlich nicht ein?  In der Bevölkerung gibt es den klaren Wunsch, dass die Kanzlerin nicht über 2021 hinaus Regierungschefin bleibt. Die Kanzlerin genießt aber immer noch eine hohe Sympathie – weit über die Wählerschaft der Union hinaus. Für viele steht sie inzwischen über den Parteien und wird nicht mehr explizit als CDU-Frau wahrgenommen. Sie hat diese parteipolitische Ebene verlassen ... ... um nicht ihren eigenen Mythos zu demontieren? Darüber maße ich mir kein Urteil an. Ist es nicht fahrlässig, jetzt die Hände in den Schoß zu legen und der eigenen Partei zuzuschauen, wie sie sich selbst demontiert? Der Dualismus zwischen Kanzleramt und Parteivorsitz hat der CDU geschadet. Frau Merkel hat das von Anfang an befürchtet. Nachweislich hatte sie Recht. Heißt das, sie hat die Führungskrise vorsätzlich provoziert? Nach dem schlechten Wahlergebnis der CDU bei der Hessen-Wahl 2018 musste sie reagieren. Sie hat ihre Kanzlerschaft auch damit gerettet, dass die den Parteivorsitz als Ballast abwarf. Hätte sie nicht mit einer Kabinettsumbildung Druck aus dem Kessel nehmen können? Ja, man macht häufig die Erfahrung, dass neue Besen besser kehren. Wenn etwas Neues kommt, kann das einen Aufbruch bringen. Eine Sicherheit dafür gibt es aber natürlich nicht. Aber wenn man es nicht macht, hat man die Chance verspielt. AKK will den Parteivorsitz mit der Kanzlerkandidatur verbinden, um zu verhindern, dass ihrem Nachfolger dasselbe passiert wie ihr. Eine kluge Entscheidung?  Ja, alle Kandidaten für die Nachfolge haben erklärt, dass sie auch im Interesse am Kanzleramt haben. Die Konstellation ist also eine andere als vor dem Bundesparteitag 2018, wo es hieß, es gehe nur um den Parteivorsitz. Aber damit schließt sie CSU-Chef Markus Söder aus, dem ebenfalls Ambitionen auf das Kanzleramt nachgesagt werden. Ist das schon eine Entscheidung gegen einen Kanzlerkandidaten Söder?  Nein, es ist vereinbart, dass derjenige, der Parteivorsitzender wird, das mit Söder aushandelt. Alle drei wollen ja Kanzlerkandidat werden. Söder hat das für sich bislang ausgeschlossen. Bis zur Bundestagswahl sind es noch anderthalb Jahre. Kann es sein, dass er auf Zeit spielt, um sich nicht jetzt schon als Kandidat zu verbrauchen? Das stimmt. Wie schnellebig die Politik ist, haben ja die vergangenen Wochen gezeigt. Und Söder steht derzeit ganz oben im Politikerrankings. Er hat einen großen Sprung nach vorn gemacht. Aus dieser Zustimmung kann er schöpfen. Aber das muss er mit dem künftigen CDU-Parteivorsitzenden ausmachen. Ist die Führungskrise mit der Wahl eines neuen Vorsitzenden gelöst?  Nein, weil dann immer noch nicht geklärt ist, wie die Zusammenarbeit des neuen Parteivorsitzenden mit der Kanzlerin läuft. Es ist auch nicht klar, wie es verlaufen würde, wenn Friedrich Merz gewählt werden sollte. Würden die Probleme dann nicht erst richtig anfangen? Ja, es heißt, die beiden seien verfeindet. Man weiß nicht, wie sie dann handeln. Darin besteht eben die grundsätzliche Gefahr bei einem Wettstreit, wie er sich auf dem Sonderparteitag im April abzeichnet. Nämlich, dass sich ein Teil der Partei anschließend als Verlierer fühlt und nicht mit dem Gewinner mitgeht. Egal wer gewinnt. Hat die CDU nach dem ganzen Theater überhaupt noch eine Chance, nach der nächsten Bundestagswahl an die Regierung zu kommen? Seit langer Zeit gibt es im aktuellen INSA-Meinungstrend eine rechnerische Mehrheit für ein Bündnis von Grün-Rot-Rot. Es gibt also eine Mehrheit jenseits der Union. Das ist neu. Jahrelang hieß es, ohne die CDU/CSU kann nicht regiert werden. Heißt das, die Führungskrise der CDU interessiert dann keinen mehr, weil sie sowieso in der Opposition ist?  Ja, wenn es eine rechnerische Mehrheit für Grün-Rot-Rot gibt, kann ich mir schwer vorstellen, dass die Grünen eine Koalition mit der CDU eingehen, statt selbst den Kanzler zu stellen. Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.
Antje Hildebrandt
Das Rennen um die Nachfolge der CDU-Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer ist eröffnet. Jetzt läuft es doch wieder auf eine Kampf-Kandidatur ihrer Nachfolger hinaus. Es ist kein gutes Vorzeichen. Denn das eigentliche Problem steht der Partei noch bevor.
[ "CDU", "Armin Laschet", "Friedrich Merz", "Jens Spahn", "Norbert Röttgen", "Angela Merkel", "Kanzlerkandidatur", "Kramp-Karrenbauer" ]
innenpolitik
2020-02-26T16:20:46+0100
2020-02-26T16:20:46+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/fuehrungskrise-cdu-akk-parteivorsitz-kanzlerkandidatur-merz-laschet-roettgen-spahn
Meyers Blick auf... - ...die Große Koalition
Er prognostiziere ein „Weiter so“ der Großen Koalition, sagt Frank A. Meyer im Gespräch mit Cicero-Redakteur Alexander Kissler. Das liege nicht nur daran, dass die SPD sich dafür aussprechen wird. Es liege vor allem an Angela Merkel. Sie sei der „Gordische Knoten“, den es zu zerschlagen gelte, wenn es in Deutschland vorangehen soll. Aber das wage in der Union kaum jemand auszusprechen. Es brauche nicht nur einen Aufbruch, sondern vielmehr einen Ausbruch. In Deutschland, so Meyer, herrsche eine besondere Form des Untertanengeistes. Alles Sein sei vernetzt mit dem Sein der Bundeskanzlerin. Man könne das auch an der Presse erkennen, die nach Christian Lindners (FDP) „Nein“ bei den Jamaika-Sondierungen über diesen hergefallen sei. Der habe sich aber eben dieser Alternativlos-Logik entzogen. Er sei eben ein Liberaler. Meyer sagt, er lese viel davon, Angela Merkel müsse ihre Nachfolge regeln. Aber genau darin drücke sich erneut dieser Unterwerfungsgeist aus. Nicht die „Königin“ muss ihre Nachfolger wählen, sondern die Partei.
Alexander Kissler
Der Schweizer Journalist, Medienberater und Cicero-Kolumnist Frank A. Meyer spricht mit Cicero-Redakteur Alexander Kissler darüber, warum die Große Koalition seiner Meinung nach in die nächste Runde gehen wird
[ "Groko", "große Koalition", "SPD" ]
innenpolitik
2018-01-19T12:45:35+0100
2018-01-19T12:45:35+0100
https://www.cicero.de//meyers-blick-grosse-koalition-angela-merkel-weiter-so
Jürgen Trittin und Karin Göring-Eckardt – Das neue grüne Traumduo
Es sprach nicht viel für Göring-Eckart. Das Standing von ostdeutschen Bürgerbewegten ist in der Partei, die auch dort ihre Wurzeln hat, traditionell schwierig. In der eigenen Partei hatte sie schon manche Niederlage gegen die Etablierteren einstecken müssen. Und auch die Fürsprecher der ostdeutschen Reala, allen voran der in der Partei umstrittene Hyper-Realo Boris Palmer, galten im Vorfeld der Urwahl nicht gerade als hilfreich, die beiden Konkurrenten Renate Künast und Claudia Roth auf die Plätze zu verweisen. Der Sieg von Göring-Eckardt ist in der Tat eine Überraschung. 47 Prozent der Mitglieder stimmten für die 46-jährige Thüringerin. Doch noch überraschender kam das Aus für Claudia Roth. Nur rund 26 Prozent der abstimmenden Basismitglieder votierten für die scheinbare Inkarnation grüner Seelenzustände. Roth führte, wohl ein wenig Petra Kelly gleich, die Grünen durch die stürmischen 2000er Jahre, indem die Parteichefin auf ihre authentische Weise immer wieder integrativ wirkte. Mag sein, dass Roth aufgrund dessen weiter eine wichtige Rolle in der Partei spielt. Doch die Parteibasis stand ihrem Ziel, sich im Wahlkampf 2013 an vorderster Front zu präsentieren, und ihrem Traum von einem Ministeramt in einer rot-grünen Bundesregierung im Wege. [gallery:Claudia Roth unterliegt Katrin Göring-Eckardt – Haifisch gegen Blauwal] Auch Renate Künast hatte sich mehr ausgerechnet als 39 Prozent der Basisstimmen. Zwar hatte sie die Landtagswahl in Berlin im Herbst vergangenen Jahres versemmelt. Aber die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion gilt als Brückenbauerin ins bürgerliche Lager, sie stößt dort auf weniger Vorbehalte als Trittin. Zudem kann Künast Merkel die Stirn bieten und dabei trotzdem pragmatisch wirken. Das wird im bürgerlichen Lager goutiert. Doch die Basis entschied sich nicht für eine der Favoritinnen, sondern für die Außenseiterin und sendet so ein Signal an bürgerliche Wähler. Überhaupt, das bürgerliche Lager. Es ist natürlich eine Ressource der Grünen. Auch wenn in der Partei beharrlich anderslautende Analysen vorgetragen werden: Die Grünen sind in den vergangenen Jahren, in einer Position der Eigenständigkeit, vor allem aus diesem Lager gestärkt worden. Sie haben vor allem hier neue, vom neoliberalen Weg abgekommene, wieder stärker wertorientierte Wählerinnen und Wähler gewonnen. Und – hier muss man Boris Palmer Recht geben – gerade Katrin-Göring Eckart kann diese Wählergruppen ansprechen. Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Göring-Eckardt von Trittin unterscheidet Aber das ist letztlich das Kluge an dieser Entscheidung der Vielen: Die Neue an der Seite des unangefochtenen Trittin wirkt in alle Lager. Sie gilt nicht nur als Frau des Realo-Flügels, also auch als Gegenentwurf zur Linie etwa von Claudia Roth und Steffi Lemke. Sie achtet zugleich auf die sozialpolitische Fundierung der Partei, sah schon vor Jahren die Grünen als soziales Gewissen in neuen Mehrheitsverhältnissen. Die Botschaft: wenn schon Schwarz-Grün, dann um den Preis eines neuen sozialen Ausgleichs – und nicht allein als Machtoption. Damit sendet die grüne Basis aber auch ein deutliches Signal an die eigene Partei. Ihr ist eine sozialpolitische Ausrichtung der Partei wichtig, aber eine Vasallentreue zur SPD und deren Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück lehnt sie ab. Trittins Festlegung auf Rot-Grün ist von der Basis durch die Wahl Göring-Eckarts infrage gestellt worden. Das Votum der Basis sollte nicht unterschätzt werden. Die hohe Beteiligung an der Urwahl zeigt, wie groß der Bedarf nach einer basisdemokratischen Fundierung grüner Politik ist. Schließlich haben die Grünen mit dieser Urwahl die Basisdemokratie in der deutschen Parteienlandschaft eingeführt. Gerade das Vorhandensein von personellen Alternativen – allem Spott politischer Gegner und Beobachter zum Trotz – hat die Urwahl zu einer echten Wahl gemacht. Die Grünen haben mit dieser Urwahl Maßstäbe gesetzt, an denen die anderen Parteien nicht mehr vorbeikommen werden. Während der Vorsitzende der vermeintlich neuen Partei der Basisdemokratie, der Piraten, von gerade einmal fünf Prozent der Mitglieder legitimiert ist, stehen hinter Trittin und Göring-Eckardt zwei Drittel der grünen Anhängerschaft. Während bei den Bundesparteitagen der Piraten der Ort der Ausrichtung auch Einfluss auf das Wahlergebnis hatte, schuf der Wanderzirkus bei den Grünen ganz andere Möglichkeiten der Beteiligung. Und anders als bei den Piraten, wo der Parteivorsitzende mit seinem Vize erwartungsgemäß das Amt tauschte, ist die Wahl Göring-Eckardts eine echte Überraschung. Trotzdem wird sich nun die grüne Machtarithmetik nicht grundlegend ändern. Fraktionschef Trittin bleibt im grünen Führungsschwarm das Alphatier. Er wird im Wahlkampf der Mann mit den zentralen Themen sein, die in Zeiten der Krise einer Beantwortung harren. Trittin hat eine starke Hausmacht in Partei und Fraktion, Trittin versammelte mit 72 Prozent die meisten Stimmen auf sich. Aber wie Steinbrück ist Trittin eben auch ein Alphatier, ein ungeduldiger Lautsprecher, einer, der seine Gegenüber die eigene rhetorische Überlegenheit spüren lässt. Das ist indes, von der Wahlforschung bestätigt, nicht gerade das, womit man wahlentscheidende, hier vor allem weibliche, Stimmen gewinnt. Ein Problem, das sich Trittin und Steinbrück teilen dürften. Göring-Eckardt erinnert da eher an die Kanzlerin. Schließlich kann sich Merkel mit einem moderierenden Politikstil beharrlich an der Spitze des Kanzleramtes halten, trotz aller Klagen über ihren nicht erkennbarer Kurs. Göring-Eckardts ausgleichender Stil, auch ihre offene Rückbindung auf Werte, können ein Gegenmodell zu der Christdemokratin darstellen. Wenn die Spitzenkandidatin es schafft, sich im Wahlkampf neben Trittin Gehör zu verschaffen. Wenn die Parteiführung das überraschende Votum der Basis ernst nimmt und bereit ist, die Außenseiterin bedingungslos zu akzeptieren und zu unterstützen, dann könnten Trittin und Göring-Eckardt im Wahlkampf des kommenden Jahres zum neuen grünen Traumduo avancieren.
Überraschung bei der grünen Urwahl: Zwar wurde der Favorit Jürgen Trittin mit großer Mehrheit als Spitzenkandidat bestätigt, aber ihm stellte die Basis mit Katrin Göring-Eckardt eine Frau zur Seite, die im Vorfeld nur als Außenseiterin gehandelt wurde. So sendet die Partei ein Signal an bürgerliche Wähler und macht Schwarz-Grün wieder denkbar
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innenpolitik
2012-11-10T14:01:22+0100
2012-11-10T14:01:22+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/juergen-trittin-katrin-goering-eckardt-das-neue-gruene-traumduo/52525
Lieblingsmärchen der Politik – Norbert Röttgen – Rumpelstilzchen
Norbert Röttgen (CDU) – Rumpelstilzchen „Unsere Kinder sind aus dem Vorlese-Alter heraus, aber ich mag von Grimms Märchen einige, zum Beispiel das Rumpelstilzchen. Als Kind fand ich es lustig, wie das kleine Männchen mit seinem bekannten Vers "Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß" um das Feuer hüpft – und sich später selbst entzwei reißt, als die Königin doch seinen Namen nennt. Mir gefällt an den Märchen vor allem die phantastische Welt, die die Gebrüder Grimm erschaffen haben.“ Weitere Lieblingsmärchen der Spitzenpolitik in unserer Bildergalerie: [gallery:Macht trifft Moral – Die Lieblingsmärchen der Spitzenpolitik]
Gibt es Märchen, die eine besondere Moral haben und Kindern heute auf keinen Fall vorenthalten werden sollten? Welche Heldenfiguren dürfen als Vorbilder dienen? Cicero Online hat Spitzenpolitiker gefragt, welches Grimm'sche Märchen sie am liebsten ihren Kindern vorlesen – und erstaunliche Antworten erhalten
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kultur
2012-12-18T14:52:45+0100
2012-12-18T14:52:45+0100
https://www.cicero.de//kultur/norbert-roettgen-rumpelstilzchen/52944
SPD-Troika – Mehr Streit, bitte!
Kaum tragen drei Sozialdemokraten aus der Beletage ihrer Partei einmal einen Konflikt untereinander aus, werden sie von den Medien verbellt – schaut euch das an, das Spitzentrio aus Gabriel, Steinmeier und Steinbrück präsentiert sich zerstritten! Wie sollen sie denn dann Landtagswahlen gewinnen, am 13. Mai beispielsweise in Düsseldorf, die nächsten „Schicksalswahlen“, wie es wieder einmal heißt? Ein Trost könnte es allenfalls sein, so wird spekuliert, dass auch die Koalition untereinander im Clinch liege, und die Christdemokraten sogar im eigenen Haus. Mindestlohn, unterlassene Hilfe für 11000 Schlecker-Bedienstete, Finanzstransaktionssteuer, Betreuungsgeld für Kinder – nichts passt richtig zusammen, alles steht zur Disposition. Irgendetwas stimmt nicht mit der Politik, oder? [gallery:Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten – das Casting in Bildern] Falsch, umgekehrt wird ein Stiefel daraus! Ich muss gestehen, geradezu erleichtert zu sein: endlich Kontroversen! Inzwischen hat es doch etwas Befreiendes, wenn über politische Fragen von Belang wenigstens alternativ verhandelt wird. Dass die sozialdemokratische Opposition beispielsweise der Regierung nicht einmal versuchsweise das Heft aus der Hand gewunden und Europa zu ihrem großen Thema gemacht hat, ist nun wahrlich nicht zu übersehen. Aber warum sollte man dann reflexartig die Litanei herauf- und herunterbeten, sie vermöge sich nicht auf einen Kurs gegenüber Angela Merkel zu verständigen, weil der eine – Gabriel – einen höheren Preis für die Zustimmung der Fraktion im Parlament verlangen möchte als die anderen, Steinmeier und Steinbrück? Nein, die Schwäche der SPD ist nicht, dass sie zuviel streitet, die Schwäche besteht darin, dass sie sich mit erheblich zu wenig Leidenschaft erstreitet, welches Europa sie haben will und wie Wachstum in den notleidenden Ländern im Süden generiert werden soll; oder was jenseits der vielbeschworenen „Fiskalunion“ - als könne man mit dem spröden Wort einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken – eigentlich die Attraktivität dieser integrierten Union ausmachen soll. Mehr noch: Nicht nur die SPD hat verlernt, Konflikte auszutragen, alle haben es verlernt. Alle hängen ermattet in den Seilen. Als diskutierende Partei hat man die Christdemokraten schon lange nicht mehr erlebt, Angela Merkel hat ihrer Partei mit der Politik des kleinsten Formats und des „Kehrt-um-Marsch!“ jeden Hauch von Diskurs ausgetrieben oder vergällt. Die CSU ist allenfalls ein Abglanz ihrer selbst, von der einstigen Power, mit der sie Debatten erzwang, sind gelegentliche Irrlichtereien geblieben, deren politischen Sinn man als Außenstehender schwer nachvollziehen kann. Von Überlebensangst getrieben, tragen die Freidemokraten augenblicklich Konflikte in die Reihen der Koalition, um wider den Stachel zu löcken und die Kanzlerin zu ärgern wie im Falle Joachim Gaucks; oder mit dem kategorischen, aber sehr billigen Nein gegen den Versuch, für ein paar Monate den Beschäftigten des Schlecker-Unternehmens – ohnehin am untersten Ende der Lohn-Skala - den Übergang zu erleichtern. Von einer intelligenten Variante zur Mehrheitspolitik, zum Beispiel in Sachen liberale Bürgerrechte und neue Kommunikationstechnologien, hört man hingegen nichts. Die Links-Partei hat den Anschluss an die akuten Probleme – unkontrollierte Finanzmärkte, Klimapolitik und Energiewende, Zukunft des Wachstums, Europa – schlicht versäumt, vermutlich, weil sie zu sehr in Abwehrschlachten gegen den eigenen Reformflügel und in Orthodoxien verstrickt ist. Bleiben die Grünen, die einst  die interessanteste Diskurspartei bildeten. Mal ehrlich, von dem persönlichen Engagement einiger Abgeordneter – oder ihrem neuen Stuttgarter Leuchtturm Kretschmann – einmal abgesehen, in welche Richtung hätten sie, wo, bitte, die Kontroverse um Europa, Klima, Wachstum vorangetrieben? Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Parteien zu Europa schweigen Nein, leider will es nicht als Zufall erscheinen, dass die neue Partei, deren Umfragehoch ungebrochen ist, die Piraten, zugleich wie die Summe unter der Negativliste erscheint. Sie sammelt den Protest, aber was hat sie denn zu sagen? Inzwischen kann man die Entschuldigung schon nicht mehr gut hören, sie müsse sich zu diesem und jenem erst noch „eine Meinung bilden“ - die Inhaltsleere hat Parteigestalt angenommen. Ob sich das jemals ändert? Mag sein, aber so, wie sie sind, machen sie den Parteien insgesamt natürlich nicht gerade Mut mit interessanten, meinethalben verqueren, in jedem Fall nach vorne gedachten Kontroversen. Die Piraten schlafen wie die anderen, nur hört sich's ein wenig modernistischer an. Was hat der Politik bloß den Mut geraubt, sich ihre Positionen zu erstreiten? Ich fürchte tatsächlich, dass es nicht zuletzt mit den Medien selbst zusammenhängt, die sich das Glattgespülte, Zurechtgehobelte, leicht Verkaufbare wünschen und – seien wir ehrlich – selbst nicht mit allzu viel Politik behelligt werden möchten. Am Markt scheint Politik nicht gut zu gehen, also rät man als Journalist den Akteuren kaum verhohlen, sich auch bitte nicht so auffällig zu verhalten. Als Zeichen von „Streit“ und „Schwäche“ sind Konflikte meistens betrachtet worden, aber langsam könnte man meinen, das habe inzwischen zu einer erstickenden Selbstfesselung geführt. Schon Gerhard Schröder hat, weil er das Echo fürchtete, mit seiner „Basta!“-Politik rabiat dafür gesorgt, dass die Diskussionen abrupt beendet werden, bevor sie richtig begonnen haben. Angela Merkel komplimentierte jahrelang die Kombattanten in eine Art schallschluckenden Raum. Dort ist die Politik derart relativiert worden, dass man am Ende gar nicht mehr wissen wollte, ob sie nun zum Irak-Krieg „Ja“ oder „Nein“ gesagt hat oder warum sie vom rot/grünen Atomausstieg nichts wissen wollte. So viel Belanglosigkeit bot dann aber auch die willkommene Basis für Kehrtwenden um 180 Grad. Sie verliefen derart unkontrovers, wie das nur geschehen kann, wenn eine Partei vollkommen im Heilschlaf dahindämmert.  Als Exzess diskursiver Demokratie nahm man es dann nachgerade wahr, dass eine Ethik-Kommission – Klaus Töpfer gab sich dazu leider her – post festum absegnen durfte, was die Politik als „Energiewende“ soeben bereits entschieden hatte. Das bedrückendste Beispiel für das versammelte Schweigen – wenn man Einzelstimmen wie die Wolfgang Bosbachs nicht mit Diskussionsoffenheit verwechselt - liefert sicher Europa. Die Trippelschritt-Politik, mit der alle drei Monate in letzter Sekunde jeweils wieder ein neuer Rettungsschirm im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde, hat jede diskursive Auseinandersetzung blockiert. Motto: Wer bei den ersten 100 Milliarden „A“ gesagt hat, wird sich doch bei 200, 300, 400 Milliarden nicht verweigern, und bei 800 auch nicht – dort sind wir ja gerade angelangt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Eine Politik, die die stärkere Integration Europas – ja, auch die Vereinigten Staaten von Europa! – ernst meint, ist aus meiner Sicht richtig. Aber grundfalsch bleibt es, über etwas nicht offen zu verhandeln, das doch die Dimension von – sagen wir's ruhig – der Ostpolitik zu Anfang der 70er Jahre hat. Auch auf anderen Feldern ließe sich das demonstrieren. Die prosperierenden Länder Europas – sagen wir, pars pro toto: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Spanien – bewegen sich mitten hinein, oder zurück, in eine Art Klassengesellschaft. Die „Klassen“ von heute sehen gewiss anders aus als vor fünfzig oder vor hundert Jahren, sie ähneln meinethalben den 11000 Frauen vom Drogeriemarkt oder den Jugendlichen aus den britischen Suburbs, die sich per sms zu den riots verabredeten, und den nordafrikanischen Migranten in französischen Banlieues. Die sozialen Friktionen nehmen jedenfalls wieder zu. Es könnte ja sein, nur um beim Beispiel zu bleiben, dass sich das künftige Europa als politische Antwort darauf anbietet. Dann muss man das wollen und sagen. Mit „Fiskalunion“ wäre ein solches Europa ganz gewiss nicht beschrieben. Wer aber ein Europa vor Augen hat, das eine auf Effizienz und sparsame Haushalte getrimmte Wettbewerbs-Gemeinschaft meint, die sich in der globalen ökonomischen Rivalität am besten schlägt, auch der soll heraus mit der Sprache! Nein, die Parteien streiten wahrlich nicht zu viel, sie verschweigen zu viel. Man sollte ihnen jede Menge Mut einhauchen, nach den richtigen Pfaden zu suchen – öffentlich.
Das Spitzentrio der SPD - Gabriel, Steinmeier und Steinbrück - präsentiert sich zerstritten, die Medien üben sich in Alarmismus. Doch Kontroversen bringen die Politik voran. Sie sollten unbedingt öffentlich ausgetragen werden
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innenpolitik
2012-04-03T10:17:48+0200
2012-04-03T10:17:48+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/mehr-streit-bitte/48838
Sherlock Holmes - Nicht tot zu kriegen
Er lebt noch. Natürlich lebt er noch: Sherlock Holmes. Dass der Meisterdetektiv aller Meisterdetektive nicht tot zu kriegen ist, musste schon sein Schöpfer Arthur Conan Doyle erfahren. 1893 ließ er ihn in „The Final Problem“ zusammen mit seinem Widersacher Professor Moriarty die Reichenbachfälle bei Meiringen hinabstürzen. Zu zeitraubend waren Doyle die immer neuen Geschichten um Holmes geworden, nach denen das Publikum verlangte. Doch es half nichts: Nach empörten Protesten seiner Leserschaft gab Doyle nach. 1903 erschien die Kurzgeschichte „The Empty House“: Holmes hatte seinen Tod nur inszeniert, um Sebastian Moran zu entkommen, einem Komplizen Moriartys. Spätestens seit diesem ungeplanten literarischen Cliffhanger ist der britische Privatdetektiv aus der Baker Street 221b ein fester Bestandteil der Populärkultur geworden, wobei die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit mitunter verschwimmen. Am kuriosesten ist sicher die Gedenktafel am Reichenbachfall, auf der es heißt: „An diesem furchterregenden Ort besiegte Sherlock Holmes am 4. Mai 1891 Professor Moriarty“. – Wahrscheinlich werden in 500 Jahren Doktorarbeiten darüber geschrieben werden, ob Holmes nun existiert hat oder nicht. Angesichts der Popularität dieser Figur ist es kein Wunder, dass schon 1905 in den USA der erste Holmes-Film entstand: „The Adventures of Sherlock Holmes“. Sein ewig gültiges Filmgesicht verlieh Holmes jedoch der britische Schauspieler Basil Rathbone. Der stand ab 1939 in insgesamt 14 Produktionen als Holmes vor der Kamera und prägte die Vorstellung vom Aussehen des Meisterdetektivs für Jahrzehnte – auch wenn sich in den folgenden Jahren immer wieder renommierte Schauspieler an der Figur versuchten: Christopher Lee etwa, Stewart Granger oder Rupert Everett. Über 200 einschlägige Produktionen zählen Filmlexika. Doch irgendwie schien die Figur Sherlock Holmes einen schleichenden Kulturtod zu sterben. Viele Autoren und Regisseure wussten nicht so recht umzugehen mit dem Spagat zwischen einer Geschichte aus dem viktorianischen England und den Möglichkeiten und Sehgewohnheiten des modernen Kinos. Bezeichnend etwa Guy Ritchies ermüdender Versuch von 2009 aus Holmes – dargstellt von Robert Downey jr. – einen Actionhelden vor historischer Kulisse zumachen. Doch dann kam „Sherlock“. Steven Moffat und Mark Gattis, die Autoren und Produzenten der seit 2010 von der BBC produzierten Miniserie, mischten die Karten neu: „Sherlock“ versetzt die Geschichten von Doyle konsequent in das London des 21. Jahrhunderts, hält aber an ihren Grundkoordinaten fest. Nach wie vor wohnt Holmes zusammen mit Watson in der Baker Street 221b. Wie im Original ist Dr. Watson Militärarzt und Veteran eines Afghanistan-Kriegs. Auch der moderne Holmes arbeitet als „Consulting Detective“. Wie vor hundert Jahren löst er seine Fälle mit Hilfe seiner brillanten Beobachtungsgabe. Und weil schon der historische Holmes technisch auf der Höhe seiner Zeit war, nutzt sein Pendant Smartphone, GPS und die Mittel und Möglichkeiten moderner Forensik. Da sich jedoch nicht alle Eigenschaften von Holmes nahtlos in die Gegenwart übertragen lassen, schießt das ebenso blasierte wie gelangweilte Genie nicht die Initialen von Queen Victoria in die häusliche Tapete, sondern einen Smiley. Und da das Rauchen einer Pfeife irgendwie bieder und anachronistisch wirken würde, benutzt der Holmes des 21. Jahrhunderts Nikotinpflaster. Das allein wäre alles ganz nett, aber an sich nicht besonders spektakulär. Was „Sherlock“ zu einem Ereignis macht, sind die Drehbücher, die Optik und vor allem – Benedict Cumberbatch. Cumberbatch ist Holmes. Und wie der britische Schauspieler das Bild eines intellektuellen Snobs und schnöseligen Dandys zeichnet, der sich nicht einmal die Mühe gibt, die Verachtung zu verbergen, die er für seine ebenso einfältige wie hässliche Umwelt empfindet, das allein ist schon sehenswert. Doch Cumberbatch gibt nicht einfach nur den blasierten Ästheten und das intellektuelle Genie. Zusammen mit den Autoren gelingt es ihm, einen ultramodernen Holmes zu formen, der gerade aufgrund seiner arroganten Distanz und inhärenten Fremdheit der Welt des 21. Jahrhunderts als Spiegel dient. Das funktioniert nur, weil Holmes bei aller intellektuellen Entrücktheit zugleich ein Virtuose der Kommunikationstechniken unserer Zeit ist. Mehr als das: Im Grunde sind die Laptops, Smartphones und Navigationsgeräte, derer sich Holmes bedient, nichts anderes als Auslagerungen, Verlängerungen seines eigenen mathematischen präzise arbeitenden Hochleistungsgehirns – Marshall McLuhan lässt grüßen. Und weil die Welt nichts anderes ist als eine Sammlung von Daten, die verarbeitet, analysiert und geordnet werden wollen, erscheinen die Gedanken Holms mitunter wie auf einem in die Szene geblendeten Head-up-Display – die Benutzeroberfläche seines menschlichen Hochleistungsprozessors. Der notwendige Spagat zwischen den Epochen, zwischen dem spätviktorianischen England Doyles und dem postmodernen London, gelingt allerdings auch deshalb in so virtuoser Weise, weil Holmes bei aller intellektueller Hypermodernität zugleich eine Ästhetik kultiviert, die beides zugleich ist: modern und unzeitgemäß, gegenwärtig und aus der Zeit gefallen. Dazu trägt – im Original – Cumberbatchs wunderbar monochromes, dandyhaft englisches Timbre bei, das wie ein beruhigender Kontrapunkt wirkt zu der Hektik der Schnittfolgen. Mit welcher Virtuosität „Sherlock“ die Geschichten Doyles in unsere Gegenwart überträgt und dabei eine eigene Symbolsprache entwickelt, die das Original überbietet, ohne ihm untreu zu werden, zeigt sich jedoch in den Kostümen: Holmes auffälligstes Merkmal ist sein Mantel. Der ist von Balstaff (was an dieser Stelle ausdrücklich verziehen ist) und ein wunderbarer Kommentar zu dem ikonischen Havelock nebst Deerstalker-Mütze, die Holmes im kollektiven Gedächtnis trägt. Sein metallblauer Cashmere-Schal und seine Handschuhe stammen von Paul Smith, sein Morgenmantel – Reminiszenz an den britischen Gentleman – von Derek Rose. Konsequente Modernität und Zeitlosigkeit zugleich signalisieren seine Hemden von Dolce & Gabbana und vor allem die Anzüge von Spencer Hart. Die stammen natürlich aus der Savile Rowe, aber eben nicht von einem der großen Traditionshäuser, sondern sind amerikanischer Anzugskultur verpflichtet. Als launigen Kommentar dazu trägt Holmes Bruder Mycroft selbstverständlich Gieves & Hawkes, den traditionellen Schneider britischer Offiziere. Wie ein subtiler Scherz wirkt es da, dass Holmes großer Gegenspieler Moriarty Anzüge von Vivienne Westwood bevorzugt – und Schlipse von Alexander McQueen. Im August 2010 strahlte die ARD die erste dreiteilige Kurzstaffel von „Sherlock“ aus, im Mai 2012 folgte die zweite. In der sechsten Folge „Reichenbachfall“ stürzte sich Holmes von einem Krankenhausdach, um Watsons Leben zu retten. Doch wie gesagt: Holmes lebt noch. Und diesmal dauerte der Cliffhanger nur zwei Jahre. Am letzten Donnerstag strahlte die ARD die erste Folge der dritten Staffel aus, Episode acht und neuen folgt an Pfingsten – sehenswert!
Alexander Grau
Die BBC-Serie „Sherlock“ versetzt die Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle konsequent in das London des 21. Jahrhunderts - und wird dem Original dennoch gerecht. Der Erfolg dieses Konzepts hat einen Namen: Benedict Cumberbatch
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außenpolitik
2014-05-31T09:13:12+0200
2014-05-31T09:13:12+0200
https://www.cicero.de//stil/sherlock-holmes-nicht-tot-zu-kriegen/57685
Kehrtwende – Warum will jetzt auch die CDU den Mindestlohn?
Die CDU will den Mindestlohn einführen. Einen solchen Satz hätte Michael Fuchs, Unternehmer, Bundestagsabgeordneter der CDU und Chef der parteinahen Mittelstandsvereinigung, wohl vor ein paar Jahren noch nicht einmal laut vorgelesen. In zwei Wochen wird Fuchs aller Voraussicht nach seine Hand heben, wenn man ihn und die anderen Delegierten des Bundesparteitages in Leipzig zur Abstimmung über den Antrag der Parteispitze bittet. Und in dem Antrag heißt es: „Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Lohnuntergrenze wird durch eine Kommission der Tarifpartner festgelegt, die Höhe der Lohnuntergrenze soll sich am Tarifabschluss für Zeitarbeitnehmer orientieren. Wir wollen eine durch die Tarifpartner bestimmte und damit marktwirtschaftlich organisierte Lohnuntergrenze und keinen politischen Mindestlohn.“ Wie ist es in der CDU zum Umdenken über den Mindestlohn gekommen? Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, muss man einen Blick auf Karl-Josef Laumann richten. Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen ist Anhänger der katholischen Soziallehre und ringt als Chef des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA seit vielen Jahren um die Einführung von Lohnuntergrenzen. „Es gehört nicht zum Allerheiligsten der CDU, dass Menschen für 4,50 Euro die Stunde arbeiten. Die Parteibasis sieht das schon lange so: Wer acht Stunden arbeitet, muss auch davon leben können. Leistung muss sich lohnen“, warb Laumann dieser Tage für eine Kehrtwende seiner Partei. Und Laumann reiste in den vergangenen Monaten von Kreisverband zu Kreisverband und sicherte sich die Unterstützung der CDU-Mitglieder auch in langjährig arbeitgebernahen Ländern wie in Baden-Württemberg. Schließlich sammelte er auch die Zustimmung von Leuten wie Michael Fuchs vom Wirtschaftsflügel der CDU. Dass Menschen für eine Hand voll Euro arbeiten und abends zum Arbeitsamt gehen, damit sie die Miete bezahlen können, das konnte auf Dauer wohl auch der hartgesottenste Ordnungs- und Wirtschaftspolitiker den CDU-Mitgliedern nicht mehr erklären. Lesen Sie auf Seite 2, was die FDP zu den Mindestlohn-Plänen sagt. Wie steht der Koalitionspartner FDP dazu? Für die FDP ist die Mindestlohn-Wende des Koalitionspartners gelinde gesagt eine Katastrophe. Denn sie treibt den neuen Vorsitzenden Philipp Rösler in Erklärungsnot. Wäre Guido Westerwelle noch FDP-Chef, hätte er glaubwürdig die in der FDP geltende Ablehnung eines wie auch immer gearteten Mindestlohnes verkünden können und den Nerv der meisten Liberalen getroffen. Wahrscheinlich hätte er sogar vom neuen Mindestlohn-Kurs frustrierte Anhänger der CDU auf die Seite der FDP ziehen können. Doch Rösler selbst steht der Einführung von Lohnuntergrenzen bekanntlich nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Für einen Überzeugungs- und Diskussionsprozess in der FDP hatte er jedoch noch nicht genug Zeit. Das macht für ihn ein klares Bekenntnis nun schwer – und droht die FDP-Anhänger noch mehr zu verunsichern. Überrascht von der Volte des Regierungspartners, reagierten die Liberalen denn auch ganz unterschiedlich. „Gesetzliche Mindestlöhne halte ich für den falschen Weg“, sagte FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle, während Generalsekretär Christian Lindner nur Stunden zuvor die Lösung der CDU, solche branchenspezifischen Löhne durch Kommissionen bestimmen zu lassen, noch als diskussionswürdigen Weg beschrieben hatte. Und der Wirtschaftsexperte Hermann Otto Solms bezeichnete sich als „verhalten skeptisch, aber gesprächsbereit“ über den Weg, den die CDU gehen will. Gegner von Mindestlöhnen sagen, dadurch würden Arbeitsplätze vernichtet – stimmt das? Nein, es stimmt nicht. Zumindest, wenn man über die Variante spricht, die die CDU jetzt vereinbaren will. Dabei geht es nicht um einen einheitlichen Mindestlohn, der über alle Branchen und Regionen hinweg gelten soll, sondern um eine branchenscharfe Betrachtung. Überall dort, wo es bisher keine Tarifvereinbarungen gibt, sollen in Zukunft Kommissionen, in denen die Arbeitgeber und Arbeitnehmer sitzen, eine Lohnuntergrenze aushandeln. Diese wird dann von der Bundesregierung als allgemeinverbindlich für alle Unternehmen erklärt, die in der betreffenden Branche in Deutschland tätig sind. Seit Helmut Kohl 1997 für die Baubranche – übrigens unter tätiger Mithilfe der Arbeitgeber, für die der Lohn- und Preisdruck ruinöse Auswirkungen hatte – den ersten Branchenmindestlohn festlegte, gibt es Erfahrungen in unterschiedlichen Branchen. Diese Erfahrungen wurden in den vergangenen Monaten im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums zusammengetragen. Und siehe da: Das Urteil der Prüfer ist beinahe einhellig. Weder vernichten Branchenmindestlöhne Jobs noch behindern sie den Wettbewerb. Was höchstwahrscheinlich auch daran liegt, dass nicht Politiker, sondern Brancheninsider über die jeweilige Untergrenze bestimmen. Lesen Sie auf Seite 3, was der Schwenk für die SPD bedeutet. Reichen, wie von der CDU geplant, 6,90 Euro als Lohnuntergrenze? Diese Frage kann man so pauschal nicht für alle Branchen beantworten. Die IG Metall hat am Montag schon mal gewarnt, 6,90 Euro würden zu niedrig sein. Für den Metallbereich, wo man Mitarbeiter sucht, mag das durchaus auch zutreffen. Ob die Branche der Friseure, in der besonders schlecht bezahlt wird, auch so denkt, darf allerdings angezweifelt werden. Was bedeutet der Schwenk der CDU für die SPD-Wahlchanchen? SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles gab sich am Montag alle Mühe, den Eindruck aus der Welt zu schaffen, die neue Politik könne für ihre Partei zum Problem werden. „Wir haben keinerlei Sorge, dass wir nicht genügend Themen hätten“, versicherte sie . Tatsächlich aber schwinden mit der jüngsten Volte der Kanzlerin die Chancen, klare Unterscheidungsmerkmale aufzuzeigen. Mit großer Konsequenz hat die CDU-Chefin frühere Parteibastionen wie die Unterstützung der Atomkraft, das Festhalten an der Wehrpflicht oder die Verteidigung der Hauptschule geräumt. Sogar zur Finanztransaktionssteuer bekennt sich die Koalition nun. Wichtige SPD-Politiker erinnern sich schon an Merkels Wahlkampfstrategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ aus dem Jahr 2009. Damals vermied die CDU konfliktträchtige Aussagen und bot damit wenig Angriffsfläche. Die SPD erzielte mit 23 Prozent ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis.
Frage des Tages: Jetzt fordern ihn plötzlich alle. Die Christdemokraten machen sich zu eigen, was sie jahrelang bekämpften - und werden damit der SPD gefährlich.
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innenpolitik
2011-11-01T08:50:16+0100
2011-11-01T08:50:16+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/warum-will-jetzt-auch-die-cdu-den-mindestlohn/46349
Bundestagswahlkampf - Mit der Tarnkappe ins Kanzleramt
Eine politische Agenda kann auf dreierlei Weise mobilisieren: indem sie ein konkretes, greifbares Ziel verfolgt; indem sie die Annäherung an eine Utopie verspricht. Oder dadurch, dass sie die Verteidigung des Vorhandenen gegen dräuende Gefahren beschwört. In jeder bisherigen Bundestagswahl hat sich eine dieser Erzählungen durchgesetzt – auch wenn die darauffolgende Legislaturperiode oft genug unter gänzlich anderen Vorzeichen stand. Dieser Wahlkampf aber ist anders: Die aussichtsreichen Aspiranten und die Aspirantin für das Bundeskanzleramt haben entweder keine konzise Botschaft. Oder aber Angst, ihre Agenda zu enthüllen. Das Publikum bekommt vor allem taktische Vorstöße geboten, die aber in Ermangelung einer koordinierenden Strategie verpuffen beziehungsweise, schlimmer noch, einander negieren, weil sie widersprüchlich sind. Die Ausnahme macht das Vorgehen der SPD. Dem Wahlvolk soll suggeriert werden, es sei der politische Plan der Partei, die Ära Merkel mittels Olaf Scholz einfach fortzusetzen. Das funktioniert passabel, allerdings genügt es nicht für echte Höhenflüge, da das Narrativ, an dem gewebt wird, fadenscheinig ist. Denn programmatisch und vor allem beim sozialdemokratischen Spitzenpersonal hinter Scholz existieren sowohl sehr fassbare Ziele, deren Umsetzung einschneidend wäre, als auch Utopien, die weitreichende und ganzheitliche Reformen notwendig machen. Die Botschaft ist also uneindeutig, die Partei hinsichtlich ihres eigenen Vorsitzenden-Duos und den Wünschen der linken Basis verdruckst – aus Angst, Anhänger des Status Quo zu vergraulen, die gerade für ein kleines Scholz-Hoch sorgen. So hat die SPD zur Stunde relativ die Nase vorn, aber für eine euphorische Massenbewegung genügt diese augenscheinlich ambivalente Agenda zwischen dem (trotz diverser Skandale) immer noch seriös wirkenden Administrator Scholz und der Aussicht auf ein schillerndes Linksbündnis wie in Berlin nicht. Die Grünen setzen ganz auf das Thema Klimaneutralität, das sie glaubwürdiger vertreten können als jede andere Partei. Die Crux ist allerdings: Sie verfechten damit eine Utopie zur Bewahrung des Status Quo. Das ist ein Oxymoron, das nur schwer ein mobilisierendes Momentum entwickeln kann. Denn was ist die Botschaft für Wechselwähler: kämpft, bringt Opfer, schränkt euch ein, damit alles bleibt, wie es ist? Die positive Utopie fehlt, das Wie und Ob eines klimafreundlichen Wachstums, welches ein Mehr an Lebensqualität für alle abwirft, nicht nur für das innerstädtische grüne Stammwählertum. Der programmatisch minutiös ausgearbeitete Dreiklang von nationalen Ausstiegen, Verboten und Verzichtshandlungen krankt überdies an einem gewaltigen inhaltlichen Defizit: Welche globale Wirkung und welchen Nutzen hat das nationale Voranpreschen? Wie werden Europa und die Welt ins Boot geholt? Gelänge es aber nicht, Maßnahmen über die bundesrepublikanischen Grenzen hinaus durchzusetzen, wären alle lokalen Extra-Entbehrungen vergebens. Eine mutmaßliche deutsche Vorbildwirkung entfaltet da nicht genügend Strahlkraft, um Unentschiedene mitzureißen. Die aber bräuchte es, um das Kanzleramt zu erobern. Es reicht nicht, lediglich die schon ausmobilisierte Stammwählerschaft, die auch mit Klimaneutralität als Wert an sich zufrieden ist, zu erreichen. Diesbezüglich hüllt sich die inlandsfokussierte Programmatik der Grünen aber in Schweigen. Auch eine realistische Idee, wie die Breite der Gesellschaft und ihr Alltag 2030 und 2050 aussehen soll, ist nicht zu erkennen. Lediglich zu imaginieren, was dann alles nicht mehr erlaubt oder abgeschafft sein wird, ist allenfalls eine halbe Utopie. Die CDU schließlich hat überhaupt keine konsistente Botschaft. Das hat dazu geführt, dass der aussichtsreichste Kanzleramtsanwärter am meisten an Zustimmung eingebüßt hat. Es mangelt an konkreten Politikzielen, eine politische Utopie existiert erst recht nicht, die Fortführung der bisherigen Regierungszeit, quasi eines Kabinetts Merkel V, nur ohne die Kanzlerin, soll es aber auch nicht sein. Schon optisch ist die Kampagne uneinheitlich, ganz im Gegensatz zu den Designs von Grünen und SPD. Das Programm ist weithin unbekannt und nicht klar kommuniziert. Das zu spät vorgestellte „Zukunftsteam“ von Armin Laschet besteht aus vielen unbekannten Köpfen. Diese hätten durch ihren vielfältigen Hintergrund und die innerparteiliche Bandbreite, die sie abbilden, sicherlich 100 Seiten Wahlprogramm spielend ersetzen können. Das hätte aber vorausgesetzt, sie ein halbes Jahr (und nicht erst drei Wochen vor dem Wahlabend) der Öffentlichkeit zu präsentieren. So aber wird es keinem Mitglied des „Zukunftsteams“ gelingen, sich bekannt zu machen, wenn es nicht schon Bekanntheit genießt. Chance vertan. Der Kandidat selbst positioniert sich häufig, wie es gerade opportun erscheint: Mal nutzt er den Glottisschlag, die Genderpause, in einer Rede, mal distanziert er sich vom Gendern. Einmal präsentiert er sich auf Moria als Erbe der Migrationspolitik der Kanzlerin, dann heißt es, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Es entsteht der Eindruck, das Konrad-Adenauer-Haus habe sich nur unzureichend Gedanken gemacht, welches Thema wann gespielt werden soll. Als würde nach der morgendlichen Presseschau entschieden, zu welchem Thema heute eine Meinung kundgetan werden könnte. Eigene Themen durchzudrücken, die die potenzielle Wählerschaft mobilisieren könnten, anstatt nur zu versuchen, von der Medienkonjunktur zu profitieren? Scheinbar keine Option. Der inhaltliche rote Faden fehlt. Wofür möchte die Partei in der kommenden Wahlperiode stehen? Für eine Verlängerung der letzten 16 Jahre, für Deregulierung und eine Renaissance marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik? Armin Laschet hätte hier durchaus eine Linie vorweisen können: Die einzige schwarz-gelbe Koalition in Deutschland, seine eigene, offeriert durchaus einen eigenständigen und auch erfolgreichen Politikentwurf, der auf das gesamte Land übertragbar wäre, weil Nordrhein-Westfalen eine Bundesrepublik im Maßstab 1:4 ist. Anstatt aber rechtzeitig eine entsprechende Strategie aufs Gleis zu setzen, gaben sich die Verantwortlichen in der Union viel zu lange der Illusion hin, im Schlafwagen zum Machterhalt reisen zu können, anstatt den Kessel der Lok anzuheizen und die Weichen selbst zu stellen. Wer also wird mit der Tarnkappe, die wahlweise die Widersprüchlichkeit, die Unvollständigkeit oder das Fehlen der politischen Agenda verbirgt, ins Kanzleramt einziehen? Wenige Wochen vor der Wahl vermögen es die Parteien unterschiedlich, strategische Defizite in ihrer Kampagne zu bemänteln. Am besten schlägt sich nunmehr die SPD. Olaf Scholz gilt als Garant der ewigen 2010er-Jahre, obwohl es so nicht kommen kann und wird. Die Grünen sprechen zwar nur das eigene Milieu an, das aber äußert erfolgreich. Besonders schlecht aber gelingt es der Dauerregierungspartei CDU, mit Themenopportunismus zu reüssieren, obwohl genau dieses Vorgehen der Schlüssel zu den Erfolgen des zurückliegenden Jahrzehnts ist. Die Partei als zuverlässiger Exekutor eines durch Konsens und Kompromiss abgemilderten Zeitgeistes: Das hat solange funktioniert wie das Land von der Reformdividende der Jahrtausendwende zehren konnte. Nun aber, da es wieder reformbedürftig ist und Richtungsentscheidungen anstehen, die nicht allein mit teuren Formelkompromissen vertagt werden können, ist die Methode erschöpft. In der repräsentativen Demokratie werden die Repräsentanten für ihr antizipiertes Agieren in der Zukunft gewählt. Was aber ist von der CDU zu erwarten? Hier herrscht viel Unklarheit. Es ist höchste Zeit für eine klare Botschaft, eine sichtbare Strategie. Zumindest in diesem Wahlkampf käme das aber reichlich spät.
Markus Karp
Gut zwei Wochen vor der Wahl gelingt es den Parteien kaum, die strategischen Defizite ihrer Kampagnen zu bemänteln. Besonders schlecht steht die CDU da. Vor dem Hintergrund bevorstehender Richtungsentscheidungen hat sich ihre Methode des Vertagens von Reformen durch teure Kompromisse erschöpft.
[ "Wahlkampf", "CDU", "Grüne", "SPD", "Olaf Scholz" ]
innenpolitik
2021-09-15T11:59:02+0200
2021-09-15T11:59:02+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/bundestagswahlkampf-cdu-spd-gruene-merkel-scholz-laschet
Rente – Droht auch Normalverdienern die Altersarmut?
Es ist ein erschreckendes Szenario, mit dem Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) um politische Unterstützung wirbt. Nach Hochrechnungen ihres Hauses müssen vom Jahr 2030 an selbst Arbeitnehmer, die heute 2500 Euro brutto im Monat verdienen und 35 Jahre Vollzeit gearbeitet haben, zum Sozialamt – wenn sie nicht zusätzlich vorgesorgt haben. Ihre gesetzliche Rente ist dann nämlich nicht höher als die sogenannte Grundsicherung von 688 Euro. Und selbst bei 40 Jahren Beitragszahlung würde es noch Millionen erwischen. Um auf eine Rente über der Grundsicherung zu kommen, müssten sie konstant mindestens 2200 Euro brutto im Monat verdienen. Wie realistisch ist die Hochrechnung? Zunächst einmal handelt es sich um ein fiktives Szenario. Es geht der Einfachheit halber davon aus, dass es 35 Jahre lang weder Lohn- und Gehaltssteigerungen noch Rentenzuwächse gibt. Dieser unrealistische Part der Prognose wird jedoch dadurch wieder wettgemacht, dass auch die Inflation keine Rolle spielt und bei der Grundsicherung ebenfalls nur der gegenwärtige Level zugrundeliegt. Die Rechnung bezieht sich ferner ausschließlich auf Arbeitnehmer, die keine weitere Zusatzvorsorge fürs Alter getroffen haben. Aktuell gibt es 15,6 Millionen Riester-Verträge und 19,6 Millionen Anwartschaften für Betriebsrenten. Allerdings hat fast jeder zweite Geringverdiener keine solche Zusatzabsicherung. Und die der Prognose zugrundeliegende Annahme, dass Rentner 35 oder 40 Jahre lang ohne Unterbrechung und in Vollzeit sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, wird zunehmend unrealistisch. Bei zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit etwa wären ihre Renten noch niedriger als vom Ministerium berechnet. Was bezweckt Ursula von der Leyen mit der Veröffentlichung? Sie wirbt damit um Zuspruch für ihr umstrittenes Konzept einer Zuschussrente. Demnach sollen kleine Renten auf bis zu 850 Euro im Monat aufgestockt werden, wenn die Arbeitnehmer mindestens 30 Jahre lang Rentenbeiträge bezahlt und gleichzeitig privat vorgesorgt haben. Dagegen machen nicht nur die Liberalen mobil, sondern auch junge CDU-Abgeordnete. Sie warnen vor einer „Ausweitung von Sozialleistungen zulasten künftiger Generationen“ und sehen das „Leistungsprinzip“ infrage gestellt. Mit ihrem Brief – adressiert an die Parteifreunde Steffen Bilger, Reinhard Brandl, Carsten Linnemann, Philipp Mißfelder und Jens Spahn – versucht die Ministerin vor allem eins: klarzustellen, dass es sich bei dem Vorhaben nicht um überflüssigen Sozialleistungszuwachs handelt. Infrage stehe „nicht mehr und nicht weniger als die Legitimität des Rentensystems für die junge Generation“, schreibt sie. In die Armutsfalle tappten nicht nur „krasse Ausnahmefälle“ oder Menschen mit problematischer Erwerbsbiografie, sondern „ganz normale fleißige Menschen aus der Mitte der Gesellschaft“, schreibt sie. Und warnt: „Wenn wir jetzt nicht umsteuern, wird es (...) kein Ausnahmefall mehr sein, dass Niedrigverdiener, die Jahrzehnte gearbeitet, in die Rentenkasse eingezahlt und ihr ganzes Erwerbsleben unabhängig von staatlicher Hilfe bewältigt haben, mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt antreten müssen.“ Damit stünden diese Menschen im Alter „oft nicht besser da als diejenigen, die im Erwerbsleben keinen Grundstock fürs Alter gebildet oder sich schlicht nicht um ihre Alterssicherung gekümmert haben“. Das sei „zutiefst ungerecht“. Warum hilft die Riester-Rente so wenig gegen Altersarmut? Wie reagieren die Kritiker in der CDU auf die Zahlen des Ministeriums? Sie nehmen sie nicht als Argument für die Notwendigkeit einer Zuschussrente, sondern zum Anlass, das ganze System infrage zu stellen. Die Jüngeren erwarteten „zu Recht nicht mehr viel von der gesetzlichen Rente“, betont Jens Spahn. „Warum also sollen sie für die Zuschussrente nun noch einmal mehr in ein System zahlen, dessen Legitimität eh an seine Grenzen stößt, wenn man nach 35 Jahren nur Sozialhilfeniveau erreicht?“ Dann, so findet der Sozialexperte, sollte man gleich „so ehrlich sein und über den Systemwechsel zu einer steuerfinanzierten Grundrente für alle diskutieren“. Der Rest wäre über Privatvorsorge zu bestreiten. Müsste angesichts dieser Zahlen nicht auch die beschlossene Absenkung des Rentenniveaus rückgängig gemacht werden? In der SPD mehren sich die Forderungen, die unter rot-grüner Regierung beschlossene, schrittweise Absenkung des Rentenniveaus auf 43 Prozent des früheren Durchschnittseinkommens bis 2030 wieder einzukassieren. Seine Partei wäre „gut beraten, wenn sie das Rentenniveau nicht unter 50 Prozent fallen ließe“, ließ sich kürzlich etwa NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider vernehmen. Die CDU-Ministerin jedoch will dieses Fass nicht auch noch aufmachen. Für von der Leyen führt an getroffenen Entscheidungen jedoch „kein Weg vorbei“, weil die künftigen Beitragszahler ansonsten aufgrund des demografischen Wandels „völlig überfordert“ würden, wie sie schreibt. „Die dann zahlenmäßig kleine junge Generation müsste die Folgekosten über drastisch steigende Beiträge oder Steuern praktisch im Alleingang tragen“, warnt sie. Und bleibt bei der alten Linie aus dem Reformjahr 2003: niedrigere Renten, dafür aber staatliche Förderung von ergänzender Eigenvorsorge. Das Absenken des Niveaus müsse „dauerhaft und früh durch zusätzliche Vorsorge ausgeglichen werden, sei es durch Riestern, durch Betriebsrenten oder Ähnliches“. Warum hilft die Riester-Renten-Förderung so wenig gegen das Problem der Altersarmut? Weil ausgerechnet diejenigen, die eine Zusatzrente am dringendsten nötig hätten, nicht vorsorgen. Nach einer neuen Studie für den Alterssicherungsbericht im November betreiben 40 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Geringverdiener keinerlei zusätzliche Vorsorge. Das sind 1,8 Millionen Menschen. Und es bedeutet, dass das Riester-Konzept nicht aufgegangen ist. Das sieht auch die Ministerin so. Die Zurückhaltung könne „kaum daran liegen, dass die kleinen Einkommen kein Geld für zusätzliche Vorsorge erübrigen können“, schreibt sie. Schließlich beginnt die Förderung schon bei einer Eigenbeteiligung von fünf Euro im Monat, und im Verhältnis sind die staatlichen Zuschüsse für untere Einkommen am höchsten. Das Hauptproblem ist, dass Geringverdiener vom Sparen nichts haben, weil ihnen das Zurückgelegte später wieder von der Grundsicherung abgezogen wird. Hier will von der Leyen mit ihrer Zuschussrente einhaken. Erstens sollen nur diejenigen in den Genuss kommen, die tatsächlich auch zusätzlich vorgesorgt haben. Und zweitens sollen sie die Garantie erhalten, dass das Angesparte bei staatlicher Hilfe immer noch obendrauf kommt.
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Altersarmut schockt mit neuen Zahlen zur Rente. Was ist von den Berechnungen ihres Hauses zu halten?
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innenpolitik
2012-09-03T09:07:23+0200
2012-09-03T09:07:23+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/droht-auch-normalverdienern-die-altersarmut/51731
CDU - Die von Angela Merkel eingeschlagene Politik hat der Partei Schaden zugefügt
1999 war die CDU in einer schwierigen Lage – wegen der Spendenaffäre um Helmut Kohl. 2017 ist die CDU in einer schwierigen Lage – wegen der Politik Angela Merkels. Damals schrieb eine mutige Generalsekretärin der FAZ einen Artikel, in dem sie die „Abnabelung“ der CDU vom Helmut Kohl forderte. Heute fordern viele in der CDU die Abnabelung der Partei von Angela Merkel. Merkels Nach-Nach-Nachfolger im Amt des Generalsekretärs, #FEDIDWIGUGL-Erfinder Peter Tauber ist nicht aus dem Holz, um einen solchen Scheidungstext zu schreiben. Wer aber den Mut dazu hätte, er bräuchte im Original nicht allzu viel zu verändern. Wir haben uns schon mal die Mühe gemacht, den Merkel-Text von 1999 zu aktualisieren – ohne Auftrag, aber mit einem mutigen Unionspolitiker im Blick. Den 25. September 2017 haben viele als den Anfang vom Ende der Ära Merkel bezeichnet. Das war der Tag, an dem Angela Merkel nach den schweren Stimmverlusten der CDU/CSU sagte, sie sehe nicht, „ was wir anders machen sollten.“ Doch sofort hieß es auch, vielleicht liege in dieser schweren Wahlniederlage auch eine Chance – eine Chance auf eine neue schwarz-gelb-grüne bürgerliche Mehrheit. So schnell aber kann nur sprechen, wer das volle Ausmaß der Tragik des Wahltags nicht an sich heranlässt – der Tragik für Angela Merkel, der Tragik für die CDU. Was für eine Niederlage am 24. September 2017 – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde eine Kanzlerpartei vom Wähler so abgestraft. Noch nie hat eine Partei, die den Regierungschef stellt, so herbe Einbußen hinnehmen müssen, wie die CDU/CSU: Der Rückgang von 41,5 auf 32,9 Prozent bedeutet den Verlust von einem Fünftel der Wähler. Wie gut hatte es dagegen noch im September 2015 ausgesehen. Obwohl eine Regierungspartei bei „Halbzeit“ in der Wählergunst eher abfällt, lagen Angela Merkel und die CDU/CSU damals konstant bei mehr als 40 Prozent und damit auf dem Niveau des großartigen Wahlerfolges vom Herbst 2013. Doch mit der kurz darauf praktizierten Politik der offenen Grenzen und dem damit verbundenen Kontrollverlust verschlechterte sich die politische Stimmung rapide zu Lasten der Union. Der publizistische Beifall, der der Kanzlerin für ihre Willkommenspolitik gezollt wurde, hielt nicht lange an. Bald merkten die Redaktionen, dass sie sich mit ihrer Berichterstattung à la „Refugees are welcome here“ immer weiter von Lesern, Zuhörern und Zuschauern entfernten. „Bild“ korrigierte als erstes Medium seine eigene Berichterstattung und Kommentierung, die öffentlich-rechtlichen Anstalten nahmen den Kurswechsel als letzte vor. Die von Merkel eingeschlagene Politik hat der Partei Schaden zugefügt. Nicht nur haben sich Mitglieder und Wähler abgewendet. Zugleich ist auch rechts von der Union das entstanden, was Franz Josef Strauß und Helmut Kohl stets zu verhindern gewusst hatten – eine demokratisch legitimierte neue Partei. Das war nicht nur das Ergebnis einer falschen Flüchtlingspolitik. Dazu haben der von Merkel forcierte Modernisierungskurs der CDU sowie die vielen Zugeständnisse gegenüber der SPD in zwei Großen Koalitionen ebenso beigetragen. Es geht um die Glaubwürdigkeit Merkels, es geht um die Glaubwürdigkeit der CDU, es geht um die Glaubwürdigkeit politischer Parteien insgesamt. Merkel hat der Partei gedient. 17 Jahre war sie Parteivorsitzende, das ist die drittlängste Zeit nach Kohl und Adenauer. In vier Bundestagswahlen wurde die CDU/CSU mit ihr als Spitzenkandidatin stärkste Fraktion. Dennoch reicht es jetzt nicht mehr für eine zukunftsversprechende Koalition – nicht mehr für Merkel und nicht mehr für die CDU. Spätestens jetzt ist klar, nichts würde mehr so sein, wie es war. Die Zeit der Parteivorsitzenden Merkel ist unwiederbringlich vorüber. Nie wieder wird sie die CDU als Kanzlerkandidatin in eine Bundestagswahl führen können. Seither wird von ihren Leistungen in der Vergangenheit gesprochen – von der Sanierung der Bundesrepublik nach dem finanziellen Desaster von Rot-Grün, von der Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise, vom Zusammenhalten der EU in schwierigen Zeiten, von der mächtigsten Politikerin Europas. Viele Menschen – in der Partei zumal – vertrauen Angela Merkel. Die siebzehn Jahre der Parteivorsitzenden Merkel werden mit dem Verweis auf die 32,9 Prozent vom 24. September 2017 mit Sicherheit nicht ausreichend beschrieben. Das reicht vielleicht für ein paar Redakteure, nicht aber für ein Mitglied der Gemeinschaft CDU. Wir haben ganz andere Erfahrungen mit und Erinnerungen an Angela Merkel. Die Partei hat eine Seele. Deshalb kann es für uns nicht die Alternative „Schuldzuweisungen“ oder „das Erbe bewahren“ geben. Wenn es um das Bild Angela Merkels, um ihre Leistungen und um die CDU geht, gehören beide zusammen. Denn nur auf einem wahren Fundament kann ein richtiges historisches Bild entstehen. Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden. Diese Erkenntnis muss Angela Merkel, muss die CDU für sich annehmen. Und nur so wird es der Partei im Übrigen auch gelingen, nicht immer bei jeder neuen Schwierigkeit für die Bildung einer stabilen Regierung angreifbar zu werden, sondern aus dem Schussfeld auch derjenigen zu geraten, die die eingetrete Lage in Wahrheit nur nutzen wollen, um die CDU Deutschlands kaputtzumachen. Vielleicht ist es nach einem so langen politischen Leben, wie Angela Merkel es geführt hat, wirklich zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen, sich völlig aus der Politik zurückzuziehen und den Nachfolgern, den Jüngeren, das Feld schnell ganz zu überlassen. Und deshalb liegt es auch weniger an Angela Merkel als an uns, die wir jetzt in der Partei Verantwortung haben, wie wir die neue Zeit angehen. Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihre bisherige Frontfrau den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu der stehen, die sie seit 2000 ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute. Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen. Wie wir in der Partei aber damit umgehen, ob wir dieses scheinbar Undenkbare als Treuebruch verteufeln oder als notwendige, fließende Weiterentwicklung nicht erst seit dem 24. September 2017 begreifen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen in den Ländern und im Bund entscheiden. Ausweichen können wir diesem Prozess ohnehin nicht, und Angela Merkel wäre im Übrigen sicher die Erste, die dies verstünde. Wenn wir diesen Prozess annehmen, wird unsere Partei sich verändert haben, aber sie wird in ihrem Kern noch dieselbe bleiben – mit großartigen Grundwerten, mit selbstbewussten Mitgliedern, mit einer stolzen Tradition, mit einer Mischung aus Bewahrenswertem und neuen Erfahrungen nach der Ära der Parteivorsitzenden Angela Merkel – und mit einem Entwurf für die Zukunft. Ursprungstext: Angela Merkel, „Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 1999, S. 2.
Hugo Müller-Vogg
Vor 18 Jahren schrieb die damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel einen mutigen Artikel, in dem sie die Abnabelung vom Übervater Helmut Kohl forderte. Auch heute wäre ein solcher Brief in der CDU angebracht. Ein Vorschlag für den nächsten Mutigen
[ "Angela Merkel", "CDU/CSU", "Jamaika Abbruch", "große Koalition", "Bundestagswahl" ]
innenpolitik
2017-11-27T13:51:11+0100
2017-11-27T13:51:11+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/cdu-Angela-Merkel-Helmut-Kohl-Bundestagswahlen
Wim Wenders – „Ich habe diese Körperlichkeit innig geliebt“
Bei der Premiere ihres Filmes gab es u.a. von der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten viel Applaus und es fielen große Worte. Für einen Film über eine Frau, die wiederum keine Frau der großen Worte war, ja eigentlich kaum ihre Stimme gebraucht hat. Pina Bausch hat nicht besonders an Worte geglaubt. Pina hat eine andere, eigene Sprache. Das hat ihren Blick geschärft. Sie hat unsere Worte fast verlernt. Sie haben Pina Bausch vermutlich auch hinter der Bühne sehr intensiv beobachtet, um sich in diese Arbeit einzufinden? Ja, zu der Zeit, als wir dachten, wir machen den Film gemeinsam, hat sie mich bei den Proben zuschauen lassen. Sie wollte jedoch nicht ihre eigene Arbeit interpretieren müssen. Aber das hätte ich auch nicht von ihr verlangt. Das war dann auch unsere Maxime für den Film, den wir dann ohne Pina gemacht haben. Es war von Anfang an klar, erklären würde ich die Arbeit nicht, dass habe ich Pina versprochen. Ist bei diesen Proben auch gedreht worden? Nein, ich hatte Pina nie vor der Kamera. Im Juli 2009 waren wir mit dem gesamten Team in Wuppertal, wollten zum ersten Mal mit den Tänzern und Pina drehen, um ihr zu zeigen, was wir vorhaben, damit sie es sehen, damit sie es verstehen kann. Alle Materialen und die Kameras waren bereits verpackt als Pina plötzlich starb. Warum ist der Film in 3D gedreht? Der Tanz und die Tänzer sind doch bereits aus sich heraus enorm ausdruckstark. Warum bedurfte es eines derartigen technischen Mittels? Die Tänzer sind in der Tat sehr ausdruckstark, mit ihrer enormen Körperlichkeit, mit einer ansteckenden Körperlichkeit. Diese Körperlichkeit habe ich innig geliebt, sie ist mir wirklich tief ins Mark gegangen. Bei ihrem Tanz habe ich mich zum ersten Mal wirklich beteiligt gefühlt. Beim Ballett ist mir das nie passiert. Pina hat mich wirklich beteiligt. Doch diese Unmittelbarkeit, diese Körperlichkeit der Tänzer, konnte ich mit meiner Kamera nicht einfangen. Ich stand wie vor einer großen Wand, dahinter die Tänzer. Ich war nicht in deren Reich, in deren Raum, ich konnte nicht dorthin mit meinen Kameras. Das war wie verhext. Ich wusste nicht, dass mir 3D fehlte, ich wusste nur, dass ich aus irgendeinem Grund nicht an die Tänzer herankam. Ich musste Pina oft erklären, warum wir den Film immer noch nicht machen konnten, obwohl ich jeder Zeit hätte alles stehen und liegen lassen wollen, um den Film zu machen. Aber ich wusste nicht wie, ich kam nicht an die Tänzer heran. Auch das Studium anderer Tanzfilme hat mir eigentlich nur bewiesen, das niemand wirklich weiß, wie man filmisch in den Tanz hineinkommt, in dieses Königreich. Mein erster 3D-Versuch hat mir dann die Tür aufgemacht und ich konnte durch diese Wand hindurch, in diese ganz eigene Welt des Tanzes. Hat sie der 3D Filmdreh irgendwie eingeschränkt. War es schwierig Bewegungen einzufangen? Als wir mit dem Dreh begonnen haben, war das historisch der erste Moment, da man so etwas überhaupt hätte machen können. Es gab nun die Software, die Kameras, um natürliche Vorgänge, um Bewegungen, Menschen real live vor der Kamera aufzunehmen. Und zwar so, dass es fließend und elegant aussah. Vorher ging das noch nicht. Entsprechend klobig war unser erstes, teilweise selbstgebautes Equipment. Die ersten Aufnahmen haben wir mit einem riesigen Technikungeheuer gemacht. Schienen konnte ich da nicht legen, daher haben wir diese fliegende Kamera erfunden. Beim zweiten Dreh hatten wir dann schon leichtere Kameras, so dass wir viel flexibler arbeiten konnten. Welchen Einfluss hat die 3D-Technik auf die filmische Dramaturgie im Besonderen und auf den Dreh im Allgemeinen? Wir haben sehr schnell gemerkt, dass gewohnte Kamerabewegungen oder gar schnellere Schwenks, dass das alles nicht möglich war, weil jeder noch so kleine Fehler sofort multipliziert oder zum Quadrat erhoben wurde und fürchterlich aussah. Wir mussten also anders vorgehen. Wir haben gelernt die Kamera neu zu bewegen, mussten einsehen, dass Perspektivwechsel schwierig sind, da wir damit das Raumgefühl verändern. Im Actiongenre wird das zwar viel gemacht, letztlich ist das aber immer auch ein bisschen unangenehm und anstrengend für das Auge. Wir wollten daher viel bescheidener vorgehen, auf Objektivwechsel verzichten und mit einer Weite drehen. Wir haben uns im Vorfeld sehr mit der Physiologie des Sehens befasst, uns angeschaut, was ist für das Auge angenehm, was schwierig, was macht Kopfschmerzen. Wir wollten kein Action 3D, sondern ein anderes 3D. In ihrem Film sind die Gesichter der Tänzer dem Zuschauer näher als im Theater. Ist das vielleicht ein Mehrwert des Films im Vergleich zum Theater, dass die Gesichter nun die Geschichten unmittelbarer miterzählen können? Ich habe von jedem dieser Tänzer wirkliche Portraits gedreht, weil ich dieses Orchester von Pinas Stimmen, ihre Körperstimmen, auch vorstellen wollte und weil ich unbedingt zeigen wollte, dass es die Tänzer sind, die diese Sprache jetzt weitersprechen, diese Kunst weitertragen. Tanztheater kann man nicht weitergeben. Kein anderes Ensemble wird Pinas Stücke spielen können. Diese Stücke gibt es nur, weil es dieses Ensemble gibt. Tanztheater ist sehr fragil. Es verschwindet, wenn es nicht aufgeführt wird. Dessen war sich auch Pina bewusst. Das war auch Pinas große Last und einer der Gründe, warum wir diesen Film machen wollten. Pinas Ensemble spielt eine ganz wichtige Rolle. Es ist Pinas Gesicht geworden. Das wollte ich zeigen. Sie haben gesagt, dass der Körperausdruck von Pina Bausch und ihren Tänzerinnen etwas ist, was sie als Filmregisseur, der mit bewegten Bilder arbeitet, so nicht kannten. Haben sie beim Filmen Dinge entdeckt, die sie auch in einem Spielfilm einsetzen könnten? Als Filmregisseur hat man natürlich schon mit der Körpersprache der Schauspieler zu tun. Die sagenumwobene Präsenz eines Filmstars ist eine Umschreibung dafür, dass jemand eine besondere Beziehung zur Kamera hat. Es gibt Leute, die haben eine elektrisierende Präsenz. Das ist ihre Körpersprache. Ich hab von Pina gelernt, dass das was wir als Filmregisseure davon wissen, nicht das ist, was Pina herausgefunden, was sie gesehen und wofür sie ihren Blick geschärft hat. Wir sind in dieser Beziehung Analphabeten, wir können vielleicht das kleine Einmaleins, aber Pina hat da wirklich eine Anthologie geschaffen und einen Einblick in die Körpersprache und in die Psychologie des Körpers gefunden, der uns Filmemachern noch fremd ist. Und wir haben ja auch so viel anderes zu beachten: Die Geschichte, die Schauspieler, die Charaktere, den Dialog. Im Film gibt es all diese Dinge zu beachten, die letztlich diese Körperlichkeit verdecken. Sie zeigen am Ende des Filmes einen Menschenzug auf einem Hügel in einer Kohlegrube. Sind das bewusste oder unbewusste Bergmann-Assoziationen? Die Menschenkette auf dem Hügel ist ganz deutlich eine Anlehnung an Ingmar Bermann. Eigentlich wollten wir in dieser Grube in Bottrop, in dieser Mondlandschaft anfänglich nur um einen See herum drehen. Aus dem Augenwinkel sah ich dann diesen Hügel. Ich hatte meine Tänzer bereits hoch geschickt, und als sie da hochgingen, sah ich dieses Bild und musste an das Siebente Siegel von Ingmar Bergmann denken. Ich hatte Glück, dass mein Kameramann mich sofort verstanden hatte. Mehr als zwei Minuten hatten wir dafür nicht. Das war sozusagen die letzte Einstellung. Ohne Probe. Es war also ganz viel Glück, das ich das aus dem Augenwinkel habe sehen können. Die Szene erinnert zwar optisch an Bergman, ist aber irgendwie auch das Gegenteil davon, weil sie voller Lebensfreude steckt. Die Verlagerung der Szenerie von der Bühne in das unmittelbare Wuppertaler Umfeld, der Tanz zwischen Grube und Schwebebahn, ist diese Idee bereits mit Pina Bausch entstanden?                                                                                                                                                                                                                                                                                Nein, mit Pina wollten wir eigentlich in die Welt hinaus. Nach Südamerika, nach Asien. Die Arbeit mit Pina hätte aber vor allem auf der Bühne stattgefunden. Ohne Pina mit Ensemble nach Südamerika zu reisen, habe ich dann verworfen. Schließlich hat sich ein neues Konzept herauskristallisiert. Das große Loch das Pina hinterlassen hat, konnte letztlich nur von diesem Kessel gefüllt werden, von ihren Tänzern. Also habe ich mich entschieden, mit den Tänzern rauszugehen. Auch ein Film Pinas von 1990, der Außenaufnahmen zeigt, hat mich dazu ermutigt. Es ist uns aber auch gar nichts anderes übrig geblieben. Das Stadttheater Wuppertal wurde im Frühling geschlossen und wir hatten keine Bühne mehr. Ich wollte, dass die Stadt Wuppertal, in der Pina 30 Jahre lang lebte, die sie inspirierte, auch Teil des Films wird. Den Tanz hinauszutragen in die Stadt, war eine wunderschöne Aufgabe. Ich kenne das Ruhrgebiet gut. Diese Halde, in der wir drehten, war nur zehn Kilometer von meinem Gymnasium entfernt. Ich wusste es gibt diesen Wahnsinns Berg, diese Wüste mitten im Ruhrgebiet. Eine Kulturlandschaft, die einzigartig ist auf der Welt. In welchem Ausmaß hätten Sie Pina Bausch in diesen Film integriert, wenn Sie mit ihr diesen Film gemacht hätten? Dann hätten wir diesen Film nicht gemacht. Dann wäre es Pinas Blick auf ihr Ensemble gewesen und nicht der Blick des Ensembles auf Pina. Herr Wenders, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Timo Stein
Der Filmregisseur Wim Wenders präsentiert auf der diesjährigen Berlinale mit PINA seinen ersten 3D Film. Es ist eine Hommage an die legendäre Choreographin Pina Bausch, die kurz vor den Dreharbeiten verstarb. Im Interview mit Cicero Online verrät Wenders, warum es diesen Film mit Pina Bausch so nie gegeben hätte.
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kultur
2011-02-16T00:00:00+0100
2011-02-16T00:00:00+0100
https://www.cicero.de//kultur/%E2%80%9Eich-habe-diese-korperlichkeit-innig-geliebt%E2%80%9C/41654
Auswärtiges Amt - Wenn die Welt nicht mehr zum Weltbild passt
In einer Welt mit immer neuen Konflikten ist Voraussicht Gold wert. Wer weiß, in welcher Region sie eskalieren, in welchem Politikbereich sich Interessengegensätze verhärten oder aufweichen, welche Regierung in Schwierigkeiten gerät und wo sich neue außenwirtschaftliche Chancen eröffnen, ist unverkennbar im Vorteil. An der Einschätzung politischer Entwicklungen sind Unternehmen und Staaten gleichermaßen interessiert. Wenn sie klug sind, investieren sie deshalb in diese Voraussicht. Was nicht heißt, dass sie nicht ab und an von Ereignissen überrascht werden. Das Auswärtige Amt sei, so sagt der Leiter des Planungsstabes, Thomas Bagger, dreimal von wichtigen Entwicklungen überrascht worden. „Von Russland auf der Krim und in der Ost-Ukraine, von Ebola und dann vom Islamischen Staat, den niemand auf dem Schirm hatte.“ Die Antwort auf die Frage „Was tun wir eigentlich dagegen?“ sei dann gewesen, ein Referat für Frühwarnung und Szenarioplanung einzurichten. Diese Aufzählung ist allerdings schmeichelhaft. Denn auch vom Arabischen Frühling, dem militärischen Eingreifen in Libyen, der Flüchtlingswelle, der militärischen Intervention Russlands und der Türkei in Syrien und den staatsstreichartigen Reaktionen auf den Putsch in der Türkei ist das Auswärtige Amt überrascht worden. Also in der jüngsten Zeit eigentlich immer. Denn es geht noch weiter. Auch von der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten wurde man überrumpelt. Hätten seine Berater Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ansonsten den republikanischen Kandidaten einen „Hassprediger“ nennen lassen, der einen „Brandsatz“ an die amerikanische Gesellschaft legt? Das ist eine Sprache, die sonst im Zusammenhang mit Terrorismus genutzt wird. Auch der Brexit, die wichtigste Entwicklung für die Europäische Union in diesem Jahrzehnt, kam für das Auswärtige Amt überraschend. Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass innerhalb der EU wenig Wert auf den Austausch von Informationen gelegt wird. Auch wenn nun die außen- und sicherheitspolitische Integration verstärkt werden soll, so ist der Brexit selbst ein Beleg dafür, dass es nicht gelingt, Wissen zu teilen. Oder waren alle wirklich so unwissend? Auch das Heraufziehen des Arabischen Frühlings wurde beispielsweise von der französischen Diplomatie nicht so verstanden, dass man davon hätte profitieren können. Und im Vorfeld des Krieges gegen Libyen hatten Frankreich, Großbritannien und Deutschland sogar konträre Interessen. Das ist keine gute Grundlage, um sensible Informationen zu teilen. Sicherlich kann nicht erwartet werden, dass Entwicklungen im feinen Raster vorhergesehen werden können. Dafür sind die Verhältnisse zu komplex. Zu viele unterschiedliche Interessen von Staaten und Unternehmen spielen eine Rolle, als dass eine Konfliktrichtung sicher zu prognostizieren wäre. Politische Stabilität entpuppt sich immer häufiger als Illusion. Die Voraussicht wird da zum wichtigen Instrument der Diplomatie, um Handlungsspielräume zu eröffnen. Warum das nicht genutzt wird, hat verschiedene Gründe. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dort kluge, gut ausgebildete und erfahrene Fachleute zusammenarbeiten, dass sie über ein enormes Fachwissen verfügen und mehrere Regionen der Welt intensiv kennengelernt haben. An der Kompetenz der Beteiligten kann es nicht liegen, die steht außer Frage. Politische Analyse aber erfordert eine Offenheit, die für Bürokratien nur schwer zu ertragen ist. Die Arbeit in einem Ministerium fördert, dass die Beschäftigten denselben Blick auf die Welt ausbilden, gleich denken und ein gemeinsames Weltbild haben. Meistens ist es das der politischen Führung. Das hat gute hausinterne Gründe. Denn Konformität des Denkens erleichtert die arbeitsteilige Zusammenarbeit. Man versteht sich. Das kann den Blick auf die Welt aber derart einschränken, als würde man sie nur durch eine Brille sehen, etwa die Brille multilateraler Zusammenarbeit in internationalen Institutionen und der daraus resultierenden sozialisierenden Effekte auf Staaten. Der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat einmal lapidar gesagt: „Wer nur einen Hammer hat, für den ist alles ein Nagel.“ Analog gilt: Wer nur diesen einen Blick auf die Welt hat, für den ist alles ein Problem multilateraler Kooperation. Blöd ist nur, wenn das andere Regierungen nicht so sehen. Wenn sich ihr Handeln – derzeit sind das Russland und die Türkei, bald vielleicht die USA – anders gestaltet, dann ist es für eine Macht mit internationalem Gestaltungsanspruch ungenügend zu sagen: „Pech für die Welt“. Auch in Universitäten werden politikwissenschaftliche Theorien, die andere Weltsichten begründen, manchmal als Ideologie abgetan. Das ist ärgerlich. In Regierungsverantwortung aber ist es gefährlich. Denn dann versteht man die Welt nicht mehr und kann auch nicht vorausschauen, weil es an den nötigen Analyseinstrumenten mangelt. Wenn die Welt nicht mehr zur Weltsicht passt, gilt es entweder die Konformität des Denkens aufzubrechen oder sich weiter überraschen zu lassen. Es sei denn, man kann die Welt nach eigenem Willen prägen. Die Bundesregierung kann das mangels Ressourcen nicht.
Thomas Jäger
Trump, Brexit, Flüchtlingswelle – das Auswärtige Amt wurde von allen politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit überrascht. Viele Beamte scheinen den Kontakt zur Wirklichkeit verloren zu haben
[ "Auswärtiges Amt", "Außenministerium", "Brexit", "Trump", "Diplomatie" ]
außenpolitik
2016-11-24T13:27:13+0100
2016-11-24T13:27:13+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/auswaertiges-amt-wenn-die-welt-nicht-mehr-zum-weltbild-passt
Skandal um Berliner Ausländerbehörde - Blankoformulare für Aufenthaltstitel
Es ist ein Vorwurf, der Berlins Innensenator Andreas Geisel an einer empfindlichen Stelle trifft: Hat die Ausländerbehörde in Berlin Ermittlungen der Polizei gefährdet, indem sie kriminelle Asylbewerber vor Hausdurchsuchungen oder der Vollsteckung von Haftbefehlen gewarnt hat? Aus einem entsprechenden Rundschreiben  des Landeskriminalamtes (LKA) an die Kripo-Kommissariate hat die Berliner Zeitung  zitiert. Danach soll das Lka der Polizei Tipps gegeben haben, wie sie der Behörde Informationen vorenthalten kann, um ihre Ermittlungen nicht zu gefährden. Es ist nicht das erste Mal, dass die dem Innensenator unterstellte Behörde in die Kritik geraten ist. Darauf weist die Welt in einer Geschichte hin, die ein erschreckendes Licht auf den Missbrauch von Aufenthaltstiteln wirft. Schon 2017, das hat die Anfrage des AfD-Abgeordneten Hanno Bachmann an den Berliner Senat ergeben, waren in der Ausländerbehörde 20.000 Blanko-Formulare für Aufenthaltserlaubnisse gestohlen worden. Seither, so heißt in dem Bericht, seien vermehrt gefälschte Aufenthaltstitel aufgetaucht, mit deren Hilfe sich die Inhaber bei anderen Bürgerämtern neue Pässe erschleichen konnten. Wie diese Masche funktioniert, hat jetzt ein Ermittler der Welt erklärt. Möglich sei der Missbrauch nur deshalb, weil Berlins Behörden bei der Digitalisierung hinterherhinken. „Aus kapazitären Gründen werden Aufenthaltstitel bei der Berliner Ausländerbehörde bis auf Weiteres als Klebe-Etikett ausgestellt“, schreibt die Ausländerbehörde auf ihrer Homepage.
Cicero-Redaktion
In Berlin wird die Kritik an der Ausländerbehörde lauter. Erst verschwanden Formulare, mit denen sich Zugewanderte Aufenthaltserlaubnisse erschleichen können. Jetzt soll das Amt Klienten vor Haftbefehlen gewarnt haben. Das LKA instruiert seine Mitarbeiter für eine Zusammenarbeit mit dem Amt
[ "Asylbewerber", "Berlin", "Ausländer", "Polizei", "Andreas Geisel" ]
innenpolitik
2019-08-28T14:07:47+0200
2019-08-28T14:07:47+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/berlin-auslaenderbehoerde-blankoformulare-aufenthaltstitel-lka-polizei-andreas-geisel
re:publica XI – Vertane Chance – Nerds und Geeks bleiben lieber unter sich.
Eigentlich hätten die politischen Netzaktivisten, die sich in dieser Woche auf der re:publica XI in Berlin getroffen haben, allen Grund, stolz und selbstbewusst zu sein. Erst kürzlich hat die Bundesregierung das Netzsperren-Gesetz wieder gekippt, nach massiven Protesten vor allem aus dem Netz. Die Zensursular- und Stasi-2.0-Kampagnen gegen die Sperrung von Internetseiten und Vorratsdatenspeicherung haben gezeigt, im Internet lassen sich nicht nur politische Akteure mobilisieren, sondern es können auch politische Schlachten gewonnen werden. Und dies nicht nur in der schönen neuen digitalen Welt, sondern auch in der alten analogen, in der immer noch die politischen Entscheidungen gefällt werden. Das Internet und seine Aktivisten sind mittlerweile ein politischer und gesellschaftlicher Akteur, das haben in Deutschland nicht zuletzt auch der Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler und die Diskussionen um den Plagiator Karl-Theodor zu Guttenberg gezeigt. Ohne das Netz und seine Blogger wären beide noch im Amt. In der arabischen Welt wurden gar Facebook-Revolutionen ausgerufen. Aber auch die destruktive Macht des Internets und die Grenzen der digitalen Revolution wurden in den letzten Monaten deutlich: beim fragwürdigen und leichtfertigen Umgang von Wikileaks mit Geheimakten, bei der Diskussion über die ökonomische Macht von Internetgiganten wie Google, Apple oder Facebook oder auf dem Webportal „I share gossip“, mit dessen Hilfe Schüler sogar in den Selbstmord getrieben wurden. Doch auf der re:publica, auf der in dieser Woche rund 3.000 Netzaktivisten über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft diskutierten, war von der politischen und gesellschaftlichen neuen Macht des Internets zwar viel die Rede, aber wenig zu spüren. Das Programm war vollgepfropft mit allem Möglichem, aber mit wenig Relevantem. Der ganze Kongress litt darunter, dass er im Grunde kein Thema hatte. Die re:publica ist ein großes Familientreffen, die Blogger sind froh, sich mal wieder im realen Leben zu treffen, miteinander Kaffee oder ein Bier zu trinken und zu plaudern. Aber wie jede Familie bleiben auch die Geeks und Nerds lieber unter sich, diskutieren über Gated Communities, informieren sich über die neusten Trends der Troll-Forschung und amüsieren sich am Abend beim PowerPoint-Karaoke. Und damit sind sie sich dann selber genug. Schön, dass wir uns alle mal wieder gesehen haben und gegenseitig erklärt haben, wie cool, wie trendy und wie politisch korrekt wir sind. Es mag ja sein, dass die re:publica in den Vorjahren noch schlimmer war, dass in der Vergangenheit noch mehr digitale Nabelschau betrieben wurde. Die Organisatoren der re:publica haben das Defizit offenbar auch erkannt, sie wollen eine andere Kommunikation, sie wollen auch diejenigen erreichen, die nicht Tag und Nacht mit ihrem Notebook oder iPhone herumlaufen. Sie wollen mit Menschen ins Gespräch kommen, für die digitale Kommunikation Mittel zum Zweck ist aber kein Selbstzweck. Eigens dafür wurde am Rande des Kongresses der Verein „Digitale Gesellschaft“ gegründet. Nur scheinen die Vereinsgründer ihre Ziele selbst nicht besonders ernst zu nehmen. Denn von der Öffnung, die sie so wortreich propagieren, war auf der re:publica wenig zu spüren. Weder wurden Themen gesetzt, noch mit möglichen Mitstreitern das Gespräch gesucht. „Mitmachen“, sollen möglichst viele Menschen, aber warum lädt man dann nicht Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder traditionelle Bürgerrechtsgruppen zum Mitdiskutieren ein. „Druck auf die Politik“ wollen die digitalen Akteure ausüben, aber warum streiten sie sich nicht mit ihnen auf der wichtigsten Blogger-Konferenz in Deutschland? „Aufklären“ wollen die Netzaktivisten, aber warum beginnen sie nicht damit, in einer Sprache zu kommunizieren, die nicht nur von Insidern verstanden wird? Wer den Menschen das Internet näher bringen will, der darf zudem nicht nur von der bedrohten Freiheit im Netz reden, von mächtigen Datenkraken und orwellschen Überwachungsszenarien. Er muss vielmehr auch über Verantwortung sprechen, über die Grenzen der Netzfreiheit und über staatliche Regeln. Und er darf die massiven und teilweise kriminellen Urheberrechtsverletzungen im Internet nicht bagatellisieren und idealisieren. Vor allem aber müssen die Netzaktivisten auch die berechtigten Ängsten und Sorgen ernstnehmen, mit denen viele Menschen der entgrenzten digitalen Welt begegnen, von der Internetkriminalität bis zum digitalen Rufmord. Vollmundig verkünden die Netzaktivsten zwar, sie wollten „Internetpolitik für die Menschen machen“, doch sie betreiben weiterhin vor allem ihre digitale Nabelschau, die reale Welt bleibt außen vor. Dabei war die Chance, politischen Einfluss zu gewinnen und digitale Bürgerechte zu stärken, nie größer. Immer mehr Menschen verstehen, wie wichtig das Internet ist, wie wichtig es ist, dass es demokratische Regeln hat und wie wichtig es ist, dass der ökonomischen Macht im Netz Grenzen gesetzt werden. Die Politik hat zudem erkannt, wie mobilisierungsfähig das Netz ist und beginnt sich darauf einzustellen, die Netzaktivisten politisch ernst zu nehmen. Aber die Chance wurde auf der re:publica XI vertan und nicht nur dort.
Das Internet und seine Aktivisten sind mittlerweile ein wichtiger politischer und gesellschaftlicher Akteur. Auf der Blogger-Konferenz re:publica XI wurde zwar viel über die Öffnung zur Gesellschaft geredet, aber wenig dafür getan. Ein Kommentar
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kultur
2011-04-15T00:00:00+0200
2011-04-15T00:00:00+0200
https://www.cicero.de//kultur/vertane-chance-%E2%80%93-nerds-und-geeks-bleiben-lieber-unter-sich/41878
Kirchliche Meinungsmacht - Jagd auf die Häretiker
Man stelle sich folgendes Video vor: Die Berliner Bundesminister lümmeln am Kabinettstisch, mit verschränkten Armen, gähnen. Der Chefsessel ist noch leer. Tuscheln, Lästern. Schnitt. Eine Tür geht auf. Angela Merkel stürmt herein, hebt den Zeigefinger – tanzt und rappt: „Wer hat das grad‘ gesagt – und Mutti hinterfragt?“ Nächstes Bild, die Kanzlerin lutscht das Grundgesetz ab. Schnitt. Jetzt steht sie vor einem Foto des Deutsche-Bank-Vorstands. Sie lehnt sich zurück, hebt den Rock hoch. „Jürgen Fitschen ist eine Bank, nur für ihn zieh ich blank.“ Der Satire-Film sollte eigentlich in einem öffentlich-rechtlichen Sender ausgestrahlt werden. Doch daraus wird nichts. Die Begründung der Programmmacher: Der Clip könne politische Überzeugungen von Zuschauern verletzen. Ein paar Tage später fordert eine radikale CSU-Splittergruppe rechtliche Konsequenzen. Die Produzenten hätten gegen das Strafgesetzbuch verstoßen – Kanzlerlästerung. Völlig gaga? Ein Märchen aus Iran, aus der Türkei, vielleicht aus Griechenland, wo ein Regierungschef im Handstreich mal eben das Licht beim staatlichen Sender ERT löschen kann? Ja – wenn man die Vorzeichen dieses Szenarios ändert: das Politische wird religiös. Dann erzählt diese Szene die Geschichte des kirchenkritischen Satire-Rap „Dunk den Herrn“ von Carolin Kebekus. Das Video, das seit einer Woche ein Hit auf Youtube ist, wurde von den Verantwortlichen des WDR aus dem Programm bei Einsfestival genommen. Womöglich sogar: zensiert. Die Comedy-Darstellerin hatte so ziemlich alles gemacht, was einen frommen Katholiken auf die Palme bringt: sich in eine Ordenskluft geschmissen, ein Kruzifix abgeleckt, Ministranten von Priestern streicheln lassen. [video:Carolin Kebekus: Dunk den Herrn!] Prompt gab es Widerstand der erzkonservativen Pius-Brüder, die jahrelang den Holocaust-Leugner Richard Williamson in ihren Reihen toleriert hatten. Die Produktionsfirma habe gegen Paragraf 166 Absatz 1 Strafgesetzbuch verstoßen. Danach macht sich schuldig, wer „den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Früher hieß das auch: Gotteslästerung. Die Pius-Bruderschaft veröffentlichte auf ihrer Webseite sogar eine Musterklage gegen Kebekus. Jetzt droht der Satire-Künstlerin ein Strafverfahren. Was man eigentlich als rheinische Provinzposse abtun könnte, ist ein Betriebsunfall des politisch-medialen Systems Bundesrepublik. Wir haben keinen Ajatollah, keinen Scheich, keinen Großinquisitor mehr (oder zumindest fast: der nämlich heißt heute „Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre“ und findet sich in der Person des emeritierten Regensburger Bischofs Gerhard Ludwig Müller). Aber wir haben den Paragrafen 166. Er ist eine Daumenschraube, die Kirchenobere auch heute noch gern den Häretikern anlegen. Nicht ohne Erfolg. Nach einem einzigen Protestaufruf bei Stefan Raabs TV Total schweigt Kebekus jetzt. Der 166er: Man könnte an ein lustiges Gesetz denken, wie es sie massenhaft in den USA gibt; wo etwa im Staat Idaho das Karussellfahren am Sonntag genauso verboten ist wie Angeln vom Kamelrücken aus. Doch in Deutschland kann morbider Spaß schnell zu strafrechtlichem Ernst werden. Ein Button mit der Aufschrift „Lieber eine befleckte Verhütung als eine unbefleckte Empfängnis“? Strafbar. Ein gekreuzigtes Schwein auf dem T-Shirt einer Punk-Band? Ein Fall für den Justizvollzug. Ein Theaterstück, das Gott als Toilettenbrille zeigt? Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Auch, wenn der umstrittene Strafrechtspassus nur noch selten angewandt wird – all das haben Richter entschieden, das letzte Beispiel sogar beim Bundesverfassungsgericht. Wenn es nach dem Großinquisitor Präfekt der Glaubenskongregation, Gerhard Ludwig Müller, ginge, würde der Paragraf 166 sogar noch viel häufiger angewandt. Etwa bei unliebsamen Recherchen. Journalisten, die vor zwei Jahren über die Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen schrieben, bescheinigte der Regensburger Bischof „kriminelle Energie“. Die Presse habe „antikatholische Propaganda“ betrieben und sich am „totalen Herrschaftsanspruch des Neo-Atheismus und der Diktatur des Relativismus“ orientiert, dokumentierte die Süddeutsche Zeitung damals. Und in seiner eigenen Predigt verdrehte Müller einfach mal die Aussagen des Philosophen Michael Schmidt-Salomon. Immerhin – der Humanist wehrte sich und erwirkte im August 2011 (!) ein bahnbrechendes Urteil vorm Bundesverfassungsgericht: Geistliche dürfen sich seitdem nicht mehr auf die Religionsfreiheit berufen, wenn sie in ihren Predigten falsche Tatsachen verbreiten. Ähnliches wünscht sich Schmidt-Salomon auch für den Paragrafen 166, „der weltanschauliche Borniertheit unter Denkmalschutz stellt“. Beim WDR gibt es noch einen eigenen 166er: Das Gesetz in §5 legt die Rücksichtnahme vor religiösen Überzeugungen fest. Auf diesen Passus beriefen sich die Programmmacher, als sie Kebekus‘ Sendung annullierten. Die Kirchen haben offenbar mehr Einfluss, als ihre beiden Sitze im Rundfunkrat des Kölner Senders vermuten lassen. Bei anderen öffentlich-rechtlichen Anstalten ist das Missverhältnis noch größer: Im NDR-Rundfunkrat sind zehn Prozent der Mitglieder von den Kirchen oder kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen entsandt, beim MDR in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sogar knapp zwölf Prozent. Dabei sind drei von vier Ostdeutschen konfessionslos. In die Kirche geht dort überhaupt nur jeder zehnte Christ regelmäßig. Mit welchem Recht haben die christlichen Religionsgemeinschaften also ein derart starkes Mitspracherecht bei der öffentlich-rechtlichen Programmgestaltung? Muslimische Vertreter etwa haben in diesen Gremien noch keinen Platz – auch nicht bei ARD und ZDF. Schmidt-Salomon sagt, bei den Medien beobachte er „Selbstzensur“ und „vorauseilenden Gehorsam“. Im Gegenzug litten die Religionsgemeinschaften unter einem „kognitiven Glasknochensyndrom. Schon ein kurzes, spitzes Argument genügt, um schwerste innere Verletzungen herbeizuführen.“ Dabei habe die „besondere Rücksichtnahme auf die religiöse Kritikallergie“ gerade beim WDR Tradition. So sei 1997 der Fernsehbeitrag „Spott und Hohn für Gottes Sohn“, der den Umgang mit Kirchenkritik in Deutschland dokumentieren sollte, kurzfristig aus dem Programm genommen worden. 1998 habe sich das Gleiche beim WDR-Hörfunkfeature „Straftatbestand: Gotteslästerung“ wiederholt. „So werden selbst Sendungen über Zensur noch zensiert.“ Wo Gleichgültigkeit angesagt wäre, regiert eine geradezu mittelalterliche Raserei gegen jede Form von medialer oder künstlerischer Kirchenkritik. Und das sogar im Deutschen Presserat. Nicht nur die Papst-Satire der Titanic fiel durch das bigott-engmaschige Moralraster der obersten Standesvertreter. Auch die Berliner Tageszeitung kassierte eine Rüge. Sie sei zu weit gegangen, als sie zum Antritt des neuen Papstes Franziskus titelte: „Junta-Kumpel löst Hitlerjunge ab“. Der Presserat sah darin eine Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht und rügte das Blatt. Die Nähe Jorge Bergoglios zur argentinischen Militärjunta sei nicht ausreichend bewiesen. Dabei hatten Zeitzeugen und ein Investigativjournalist diese Nachweise erbracht: Bergoglio habe in den 70er Jahren Jesuiten verraten. Allerdings liegen auch gegenteilige Darstellungen über Bergoglios Verhalten in der Diktatur vor, wie Taz-Chefin Ines Pohl in einem Blog-Beitrag einräumte. „Damit sind wir in diesem Fall übers Ziel hinaus geschossen.“ Noch so ein Einknicken, das Schmidt-Salomon nicht nachvollziehen kann: „Das würde ich anders sehen. Es muss erlaubt sein, Aussagen zuzuspitzen.“ In Deutschland hat sich aus seiner Sicht eine Überempfindlichkeit gegenüber religiösen Diskussionen entwickelt, die nicht nur im europäischen Vergleich, sondern auch in der historischen Betrachtung ungewöhnlich ist. So empörten sich 2007 viele Menschen über Richard Dawkins Buchtitel „Der Gotteswahn“. „Dabei hat schon Immanuel Kant, der ganz gewiss kein militanter Atheist war, von ‚Religionswahn‘, ja sogar von einem ‚Afterdienst Gottes‘ gesprochen“, sagt Schmidt-Salomon. „Stellen Sie sich die Empörung vor, wenn man einen solchen Ausdruck heute gebrauchen würde! Selbst sehr gemäßigte Autoren haben in früheren Jahrhunderten Formulierungen verwendet, die man heute nicht benutzen darf, ohne dass sofort der Presserat dagegen einschreiten würde.“ Nicht zu vergessen all die Kirchenvertreter, Verlage und Rundfunkräte, die Berichte noch vor der Veröffentlichung zu verhindern wissen.
Petra Sorge
Mit ihrem Rap-Video im Look der Ordensschwester nahm es Carolin Kebekus mit dem kirchengnädigen Meinungsmonopol in Deutschland auf. Ein hoffnungsloses Unterfangen: Gotteslästerung steht im Prinzip immer noch unter Strafe. Viele Medienhäuser üben vorsorglich Selbstzensur
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innenpolitik
2013-06-13T14:36:33+0200
2013-06-13T14:36:33+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/kirchliche-meinungsmacht-jagd-auf-die-haeretiker/54737
Offener Brief an Annalena Baerbock und Olaf Scholz - Am nuklearen Abgrund: Die Eskalationsspirale durchbrechen
Liebe Frau Baerbock, lieber Herr Scholz! Es ist das furchtbare Ergebnis einer nüchternen Bestandsaufnahme: Ein nuklearer Vernichtungskrieg ist eine reale politische Möglichkeit in der nahen Zukunft. Die Welt bewegt sich seit der Drohung Wladimir Putins vom 24. Februar 2022 auf einen Atomkrieg zu. Putin drohte allen, „die sich von außen einmischen“, mit Konsequenzen, „wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie gesehen haben“. Wir wollen das nicht wahrhaben? Alles nur Panikmache, um uns in Angst zu versetzen? Sind wir nicht seit dem Einmarsch der Putin-Truppen in der Ukraine immer wieder belehrt worden, dass der russische Präsident nicht zu leeren Drohungen neigt? Putin hat sich offenbar verrechnet und mit dem mutigen Widerstand der Ukrainer nicht gerechnet. Er steht mit dem Rücken zur Wand, wird von der gesamten Welt isoliert. Wird er einfach aufgeben oder weiter eskalieren? Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz von Nuklearwaffen nur bei einem Prozent liegen sollte, dann ist das ein unerträgliches „Restrisiko“. Die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki mit dem damit einhergehenden Grauen sind unserem – meine Generation prägenden – kollektiven Bewusstsein weitgehend entschwunden. Japan konnte damals auf die amerikanischen Atombomben nicht antworten. Heute aber bliebe ein Einsatz russischer Nuklearwaffen nicht unbeantwortet: Armageddon … Sie beide haben im Deutschen Bundestag eindrucksvolle Reden gehalten – ebenso der neue Oppositionsführer, Friedrich Merz. Sie beide haben in den letzten Wochen immer wieder versucht, diplomatische Lösungen zu finden. Das war nicht naive Beschwichtigungspolitik, das war der ernste Versuch, Krieg und Zerstörung abzuwenden. Auch wenn der Versuch gescheitert ist, er war es wert. Und auch hier war es gut, dass der Vorsitzende der Unionsfraktion Ihnen den Rücken stärkte. Es ist beruhigend, dass es in der Krise in Deutschland einen Grundkonsens gibt. Aber kurze Zeit nach der Bundestagsdebatte – wir wissen, dass Putin nicht selten Debatten in Deutschland am Fernseher verfolgt – versetzte er die russischen Atomstreitkräfte in Alarmzustand, weil „Spitzenpersönlichkeiten der führenden Nato-Staaten aggressive Äußerungen gegen unser Land“ zuließen. Natürlich muss man diese Drohung verurteilen. Aber ich bitte Sie eindringlich, es nicht damit abzutun, sondern davon auszugehen, dass Putin auch vor diesem Schritt nicht grundsätzlich zurückschreckt. Sie haben bisher klug und besonnen gehandelt und sich von der hektischen Unruhe nicht anstecken lassen. Bitte lassen Sie sich deshalb auch zukünftig nicht durch (nach der unerträglichen Aggression Putins verständliche) Stimmen treiben, die nach immer schärferen Sanktionen rufen. Wir müssen jetzt innehalten: Wo soll das alles enden? Bitte suchen Sie nach einem Ausweg aus der Eskalationsspirale! In der öffentlichen Debatte (z.B. am Sonntag bei „Anne Will“) ist bereits von einer Flugverbotszone die Rede, die die Nato über der Ukraine errichten möge. Das heißt de facto, dass die Nato russische Flieger vom Himmel holen soll. Das ist eine Kriegserklärung der Allianz an Russland. Das ist Wahnsinn! EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die Ukraine in die EU aufnehmen, obwohl sie keines der Aufnahmekriterien erfüllt. Der EU-Außenbeauftragte will das Land mit Kampfjets ausrüsten. In dem Gefühl einer hilflosen Solidarität fallen uns immer wieder neue Möglichkeiten ein, was wir tun könnten, um unserer Abscheu Ausdruck zu verleihen. Alles hochgefährlich, denn Putin hat gezeigt, dass ihn alle Sanktionen der Welt nicht von seinem Kurs abbringen. Die Diplomatie ist gescheitert, aber die Politik der immer schärferen Verurteilungen und Strafen ebenso. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat sicher recht, dass es schwierig ist, Gesprächskanäle zu jemandem offenzuhalten, der „lügt, betrügt und völlig unberechenbar ist“ (im ZDF bei „Berlin direkt“). Aber heißt das, dass wir die Dinge einfach weiter treiben lassen? Offenbar haben die Amerikaner inzwischen die Gefahr der Situation erkannt. Wie „Politico“ berichtet, soll es einen Draht zwischen dem Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff der US-Streitkräfte, General Mark Milley, und seinem Counterpart bei den russischen Streitkräften, General Valery Gerassimov, geben. Das wäre sehr wichtig, denn es geht jetzt darum, dass kein Funke versprüht wird, aus dem ein Flächenbrand entsteht. Hochgerüstete und sehr nervöse Nato-Streitkräfte und russische Truppen stehen sich jetzt an der Grenze zur Ukraine unmittelbar gegenüber, da kann es leicht zu unbeabsichtigten Zusammenstößen kommen. Was, wenn Russland Cyber-Attacken gegen Nato-Länder startet? Wird dadurch der Bündnisfall ausgelöst? Es dürfen keine Fehleinschätzungen auf beiden Seiten entstehen, die zu einem Krieg aus Versehen führen. Um diese Gefahr abzuwenden, haben die USA auf militärischen Kanälen Russland um eine Verbindung „auf operativer Ebene“ gebeten. Das sollten wir unterstützen! Meine Bitte ist, dass wir neben unserer eindeutigen Verurteilung Putins, der Solidarität mit der Ukraine und aller von Ihnen beiden im Bundestag geschilderten Konsequenzen uns auch auf die Suche nach diplomatischen Wegen aus der Krise begeben: Lassen wir das beschlossene Sanktionspaket wirken! Gebieten wir der rastlosen Verkündung immer neuer Strafen Einhalt! Suchen wir nach einer Persönlichkeit, die bei Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine mit Autorität und Glaubwürdigkeit vermitteln könnte! Auch wenn die Mahnung nicht zu den Stimmungen des Tages passt: Wer aufhört zu reden, wird früher oder später Krieg führen. Ihr Friedbert Pflüger
Friedbert Pflüger
Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock haben sich wochenlang bemüht, eine diplomatische Lösung für den Ukraine-Konflikt zu finden. Unser Gastautor Friedbert Pflüger plädiert dafür, auch nach dem russischen Einmarsch nicht von einem besonnenen Vorgehen abzurücken. Gerade wenn man Putins Drohungen ernstnehme, müsse man auf Deeskalation hinarbeiten, um einen Atomkrieg zu verhindern.
[ "Ukraine-Konflikt", "Russland", "Wladimir Putin", "Sanktionen", "Atomkrieg", "Nato" ]
außenpolitik
2022-03-01T13:02:19+0100
2022-03-01T13:02:19+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/offener-brief-annalena-baerbock-olaf-scholz-eskalation-ukraine-russland-putin-atomkrieg
Halina Wawzyniak – „Die DDR war kein Rechtsstaat“
Ein Gesicht zwischen Arsch und Busen. Christian Ströbele hätte einem leidtun können. Denn sein Konterfei hatte es im Bundestagswahlkampf 2009 mit unerwartet freizügiger Konkurrenz zu tun. Während der Grünen-Politiker mit einem unspektakulären Comic des legendären Zeichners Seyfried in den Wahlkampf zog, warf die Konkurrenz signalstarke Körperteile in die politische Arena. Die CDU-Politikerin Vera Lengsfeld präsentierte ihr Dekolleté, die Linke Halina Wawzyniak ihr jeansbedecktes Hinterteil und den Slogan: „Mit Arsch in der Hose in den Bundestag“. Der Wahlkampf war typisch für den Berliner Bezirk, für das politisch hart umkämpfte Friedrichshain-Kreuzberg: frech, einladend und auf seine Art zugespitzt originell. Scheinbar wie gemacht für die 38-jährige Halina Wawzyniak, die auf den ersten Blick wie eine drahtige Autonome daherkommt: hager und muskulös, mit kurzer, frech-listiger Haarpracht. Zwei Jahre später erinnert nur noch das Poster an ihrer Abgeordnetentür an den frivolen Wahlkampfherbst. Sie würde es heute noch einmal genauso machen, sagt Halina Wawzyniak, die mittlerweile stellvertretende Parteivorsitzende ist. Und sie versucht dem Motto hinter dem Spruch treu zu bleiben. Sie traut sich was, steht für ihre Überzeugungen ein. Frei von prätentiöser Eitelkeit, ruhig, sachlich aber immer auch ein bisschen trotzig. Ein Trotz, der sie früh begleitete und bereits mit 17 Jahren Mitglied der damaligen PDS werden ließ. Aus Protest gegen die allgemeine Wendebegeisterung 1990 sympathisierte sie mit der Ostpartei. Die Wiedervereinigung fand Wawzyniak in jungen Jahren „blöd“. Sozialisiert wurde sie in der DDR, genauer: im brandenburgischen Königs-Wusterhausen. Von den Jungpionieren über die Thälmann-Pioniere bis zur FDJ wuchs sie in die realsozialistische Gesellschaft hinein. Sie sei „ein Kind der DDR“ gewesen, sagt Wawzyniak und keine Widerstandskämpferin. In den Wendejahren hatte sie große Angst vor einem Großdeutschland und als Neonazis 1992 in Rostock-Lichtenhagen unter dem Jubel der Anwohner ein Asylbewerberheim in Brand steckten, sah sie wie viele Linke ihre Ängste vor einem aggressiven deutschen Nationalismus bestätigt. Heute sieht sie das weitaus differenzierter, sagt Sätze wie „die Vereinigung war vermutlich gar nicht anders zu machen.“ Gerade weil sie so früh politisiert wurde, getrieben von der Idee, den zusammenbrechenden Sozialismus irgendwie am Laufen zu halten, ist ihr heutiger Blick auf die DDR-Geschichte frei von jedem nostalgischen Pathos. Weitaus kritischer und distanzierter als viele andere in ihrer Partei geht sie mittlerweile mit diesem sozialistischen Erbe ins Gericht:  „Die DDR war kein Rechtsstaat“, erklärt Wawzyniak und stellt sich dabei rhetorisch fragend, warum sie in jungen Jahren die Verklärung der DDR unkritisch mitgetragen habe. Längst weiß sie, die DDR ist an mangelnder Demokratie und Rechtstaatlichkeit zerbrochen. Vor allem der Rechtstaat ist der studierten Juristin, die seit 2010 stellvertretende Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses ist, wichtig. Wawzyniak weiß um die Vorzüge eines auf Recht und Gesetz fußenden Systems, in dem es die Möglichkeit gibt, Rechtsmittel einzulegen. „All dies konnte man in der DDR nicht“, kritisiert sie. Die Frau, die von sich selbst sagt, sie würde sich nicht als Kommunistin bezeichnen, gilt innerhalb der Partei als Reformerin. Sie ist auf ihre Art pragmatisch konsequent. Sie scheut keine Diskussion und ist vor allem bemüht, solche offen auszutragen, sehr zum Leidwesen mancher Parteigenossen. So kritisierte Wawzyniak jüngst in ihrem Blog für alle nachlesbar ihren Parteivorsitzenden Klaus Ernst, schrieb von „anonymen Anschuldigungen“ gegenüber Parteifreunden, mit denen Ernst das Klima in der Partei „vergiften“ würde. Hinter solchen Äußerungen steht bei Wawzyniak weniger eine parteiinterne Strategie oder gar ein Machtkampf. Vielmehr versucht sie, damit ihr Verständnis von Politik zum Ausdruck zu bringen, ein Verständnis von Politik, mit dem sie viele in ihrer Partei noch schwer tun. Es geht ihr um transparente Diskussionen, um Mitbestimmung und demokratische Offenheit. „Die Gesellschaft hat einen Anspruch darauf zu wissen, was eine Partei diskutiert“, erklärt sie, „es gibt keine rein innerparteilichen Diskussionen mehr.“ Eine offene Diskussion ist ihr deshalb wichtiger als innerparteiliche Disziplin. Eine rein innerparteiliche Auseinandersetzung hält sie für überholt. Das ist auch der Grund, warum ihr Themen wie Demokratie und Netzpolitik besonders am Herzen liegen, Sie selbst bezeichnet sich als internetaffin, bloggt seit 2006 und glaubt, über das Medium Internet mehr Offenheit und demokratischen Partizipation in den politischen Willensbildungsprozess miteinbringen zu können. Aus diesem Politikverständnis leitet sich auch die immer wieder vorgetragene Forderung zum Bruch mit dem Stalinismus ab. Dieser Rucksack, den die Partei zweifelsohne mitsichtrage, dürfe nicht einfach abgelegt werden, findet Wawzyniak. Im Gegenteil: Daraus erwachse eine ganz besondere Sensibilität und Verantwortung, erklärt sie ruhig. Sie sieht sich in der Pflicht dieser Verantwortung gerecht zu werden und auch innerhalb der Partei einzufordern. In dieser Rolle erinnert sie ein wenig an Edgar Allen Poes „Tell-Tale Heart“, an eben jenes verräterische Herz, das da immer klopft, mahnt und erinnert. Während andere in der Partei die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte scheuen, eher bemüht zu sein scheinen, das Gestern auszublenden, die Vergangenheit zu verklären, versucht sie der Partei diesen „Rucksack“ auch programmatisch aufzuladen. So hat sie beispielsweise an einem alternativen Programmentwurf für die Linke mitgeschrieben, der den maßgeblich von Lafontaine, Wagenknecht und deren Anhängern formulierten Entwurf dafür kritisiert, dass er den offenen Bruch mit dem Stalinismus als System gerade nicht thematisiert. Doch auch darüber hinaus fordert sie eine breitere programmatische Ausrichtung ihrer Partei über die Themen Soziales und Frieden hinaus. So eckt Wawzyniak in ihrer Partei immer wieder an. Das Ziel des demokratischen Sozialismus, ihr gesellschaftliches Alternativmodell stellt sie allerdings nicht in Frage. Was sie darunter versteht, weiß sie gekonnt grazil, gleichwohl ein wenig nüchtern und gebetsmühlenhaft in groben Pinselstrichen zu skizzieren. Darunter versteht sie eine Gesellschaft, die mit den Menschen gemeinsam entwickelt wird. Sie spricht von einer Gesellschaft, die sich an den Interessen der Menschen orientiert, die ökologisch nachhaltig ist, die auf sozialer Gerechtigkeit basiert und in der es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt. Und auch klassische Elemente einer bürgerlichen Demokratie weiß sie in ihre politische Utopie einzubauen: Sie plädiert für Gewaltenteilung und Repräsentation ergänzt durch direktdemokratische Einflussmöglichkeiten. „Ob man das Kommunismus, Demokratischen Sozialismus, Bockwurst oder Tofu nennt, ist mir Wurst“, schließt Wawzyniak mit einem Lächeln.
Einst ging sie mit ihrem Hintern auf Wählerfang, mittlerweile gilt sie als Reformerin innerhalb ihrer Partei DIE LINKE – Halina Wawzyniak. CICERO ONLINE besuchte sie in ihrem Parteibüro und stieß auf eine junge, meinungsstarke Stimme.
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innenpolitik
2011-07-15T09:39:36+0200
2011-07-15T09:39:36+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/die-ddr-war-kein-rechtsstaat/42384
Nach Blockupy - Linksextreme spielen Revolution, die Politik redet es schön
Das war mal wieder was: brennende Autoreifen, Polizeiwagen, die in Flammen stehen, abgefackelte Mülltonnen, demolierte Haltestellen – dunkle Rauchschwaden über Frankfurt. Es war absehbar, es war angekündigt, es ist so gekommen. Und die nächsten Termine, um ein bisschen Revolution zu spielen, stehen auch schon fest: der 1. Mai in Berlin, die G7-Tagung Anfang Juni auf Schloss Elmau. Dann folgt das übliche Ritual: Minister, Fraktionsführer und Parteifunktionäre werden die Gewalt auf das Schärfste verurteilen. Man wird betonen, dass das Demonstrationsrecht nicht missbraucht werden dürfe, dass man für Steinewerfer kein Verständnis habe und diese nun die ganze Härte des Gesetzes spüren müssten. Doch ändern wird sich natürlich nichts. Daher werden, wann immer sich ein Vorwand findet, die Straßenbarrikaden weiter brennen, im Hamburger Schanzenviertel oder in Berlin-Kreuzberg. Und wenn es keinen aktuellen Anlass gibt, dann werden eben „Bonzenautos“ angezündet oder Baugerüste abgefackelt. Ganz ehrlich: Es reicht! Man kann es einfach nicht mehr ertragen. Diese Hobbyrevolutionäre, ihr aufgeblasenes Getue, ihre peinliche Attitüde, die schwarzen Klamotten und schwarzen Fahnen, dieser ganze infantile Guerilla-Kitsch. Die zynische Gewalt. Noch schlimmer als die abstoßende Straßenkampfästhetik ist jedoch die Selbstgerechtigkeit, mit der man sich zum Besitzer der einzigen moralischen Wahrheit emporschwingt. Dass die dabei zutage tretende Weltsicht – vorsichtig formuliert – etwas unterkomplex ist, überrascht nicht, vereinfacht aber griffige Slogans, zur Not in wackligem Englisch („People over Banks“). So widerwärtig die Gewaltinszenierung und die intellektuelle Dürftigkeit der linksextremen Szene sind, so beschämend ist das verbale Gewürge im ideologischen Umfeld. So gab sich Ulrich Wilken, Anmelder der Blockupy-Demonstration und Abgeordneter der Linkspartei im Hessischen Landtag, zwar entsetzt über die Gewalt, zeigt aber durchaus Verständnis „für die Wut und die Empörung“. Für Katja Kipping, Bundesvorsitzende der Linken, war nicht etwa der Gewaltexzess des schwarzen Blocks „erschreckend“, sondern das Polizeiaufgebot. Und eine Sprecherin der Grünen Jugend, Teil des Blockupy-Bündnisses, befand, „das ist halt die Dynamik einer Demonstration“. Doch Demonstrationen arten nicht naturgemäß in Gewaltexzesse aus. Wer zudem, wie Blockupy auf seiner Homepage, einen „Knast-Shuttle“ anbietet, plant offensichtlich Straftaten oder nimmt sie billigend in Kauf. Noch einmal: Es reicht! Man kann diese Beschwichtigungen nicht mehr hören, dieses Schönreden und Relativieren. Ganz zu schweigen von der unterschwelligen Symphatie, diesem unerträglichen Augenzwinkern – zumal von Leuten, die bei anderen Gelegenheiten nicht schnell genug Lichterketten oder Mahnwachen veranstalten können. In Deutschland herrscht eine verzerrte und mitunter bizarre Wahrnehmung des Linksextremismus und linksextremistischer Gewalt. Immer noch gelten Linksextremisten vielen hierzulande als die Guten – die in ihren Mitteln vielleicht etwas übertreiben und hin und wieder über die Stränge schlagen, im Grunde aber ehrbare Ziele verfolgen. Exemplarisch für dieses Milieu erklärte etwa Jakob Augstein in seinem Blog: „Die Gewalt der Protestierenden wird einhellig verurteilt. Aber die Gewalt des Systems ignorieren wir. Was ist mehr wert: Das Leben eines griechischen Rentners? Oder ein deutscher Streifenwagen?“ In diesen geschmacklosen Sätzen kristallisiert sich der Irrsinn des linksintellektuellen Weltbildes: Der Wahn von dem gewalttätigen „System“, die Rechtfertigung von Gewalt gegen Sachen, die Tränendrüsigkeit, hinter der sich ein aggressiver Hypermoralismus verbirgt. Gerade im Juste Milieu der Akademiker, der Kreativen und Intellektuellen sind linksextremistische Positionen allerdings schon lange salonfähig geworden. Gegen Banken, das Finanzsystem, gegen TTIP und die Globalisierung ist man ja ohnehin. Und was macht die Politik? Damit man erst gar nicht genauer hinschauen muss, war es eine der ersten Amtshandlungen von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, die von ihrer Vorgängerin eingeführte Extremismusklausel wieder zu streichen. Die sollte verhindern, dass Radikale in den Genuss staatlicher Förderung kommen. Aber wieso eigentlich? Staatsgeld für Verfassungsfeinde, warum denn nicht? Sich ritualisiert über linksextremistische Gewalt aufzuregen, ist wohlfeil. Wer linksextremistische Gewalt nachhaltig bekämpfen möchte, sollte zunächst einmal die Gelder für all die Initiativen, Zentren und Gruppen streichen, die unter dem Mäntelchen des Antifaschismus verfassungsfeindliche Ziele verfolgen und unseren Staat bekämpfen. Denn ein Faschist ist aus deren Sicht jeder, der nicht so denkt wie sie. Vor allem aber dürfen linksextreme Denkmotive nicht länger als irgendwie comme il faut gelten. Da das aber ein frommer Wunsch ist, werden bald wieder Barrikaden brennen und Pflasterstein fliegen. Und irgendwann wird einmal Schlimmeres passieren. Aber daran wird dann natürlich das „System“ Schuld sein.
Alexander Grau
Kolumne: Grauzone. Die Blockupy-Proteste folgten dem üblichen Ritual: Angriffe auf Polizisten, Kritik seitens der Politik, weiter im Programm. In Deutschland herrscht eine verzerrte Wahrnehmung des Linksextremismus
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innenpolitik
2015-03-21T11:52:09+0100
2015-03-21T11:52:09+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/linksextremismus-deutschland-linksextreme-spielen-revolution-die-politik-redet-es
Corona-Krise - Die Wahrheit des Virus
Ein hochgebildeter Herr, stets bemüht um eine bessere Welt, Schweizer überdies und als Gastgeber prominent in Davos zugange, mithin ein Urbild des alten weisen Mannes, unterzog sich dem Bemühen, zu Corona Bedeutsames zu formulieren. Dabei kam folgender Satz heraus: „Wir müssen das als Warnschuss der Natur verstehen.“ Die Natur warnt uns also durch Corona. Mehr noch, sie mahnt uns. Das Zeichen an der Wand. Corona als Menetekel. Doch wozu die Ermahnung? Zur Einkehr? Zur Umkehr? Zur Besserung? Zur Buße? Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel, einst kühl-klassischer Aufklärung verpflichtet, inzwischen die Erbauungsschrift der Merkel-Republik, gab gerade die Antwort auf die Weissagung des weisen alten Mannes vom Berg: „Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt.“ Demnach besitzt das Virus nicht nur Stachelproteine, die sich hartnäckig an den Zellen eines Wirtsorganismus festkrallen. Nein, es entfaltet außerdem Wirkung im Organismus der Weltgesellschaft, und zwar heilsame – wenn der Mensch es nur will, wenn er die Viruswarnung als Zeichen der Natur versteht. Wie wäre es, wir würden beim Virus bleiben? Beim Virus als Virus, nichts weiter. Wie wäre es, wir würden darauf verzichten, den Krankheitserreger zur Prophetie, zum biblischen Bild zu überhöhen? Ja, wie wäre das? Es wäre zunächst einmal des aufgeklärten Bürgers würdig, selbstverständlich vor allem des aufgeklärten Intellektuellen, des Journalisten auch – so er denn jenseits berufsbedingter Schwärmerei für drohendes Heil oder Unheil noch zu skeptisch-entspanntem Denken in der Lage ist. Gegen derlei Einwände lässt sich natürlich der Einwand erheben, es gehöre zum Wesen der westlichen Kultur, jedwede Krise, und sei es eine medizinische, zur Selbstkritik mit anschließender Hinwendung zum Besseren zu nutzen. Schließlich hat diese Fortschritts-Dialektik die offene Gesellschaft, wie wir sie leben und genießen, mitsamt ihrem demokratisch gezähmten Kapitalismus an die Weltspitze gebracht. Corona als Ansporn, diesen Weg weiter zu beschreiten? Die metaphysische Überhöhung des elenden Schlagworts Corona, so edel sie auch gemeint sein mag, lenkt ab von dem, was jenseits der medizinischen Bekämpfung gerade die ganz konkrete Frage ist: Wer hat uns das eingebrockt? Wer Corona zum Ausgangsbegriff für die bessere Zukunft adelt, macht aus dem widerlichen Virus eine historische Offenbarung, für die künftige Generationen sogar dankbar sein müssen: Corona als Segen für die sünden-süchtige westliche Welt. Wann steigen unsere Dankgebete in den Osthimmel, allwo die chinesische Sonne unser zerknirschtes Erwachen überstrahlt? So gesehen wäre dann auch die ganz und gar prosaische Frage nach der Verantwortung für die Kranken und die Toten und die unermesslichen wirtschaftlichen Schäden nicht nur überflüssig, sie wäre geradezu lästerlich, nicht zuletzt angesichts der Wohltaten in Form von Plastikoveralls und Schutzmasken, mit denen uns die Täter von Wuhan und Peking derzeit verwöhnen. Verhöhnen! Ja, die Täter sitzen in der Geburtsstadt der Pandemie und in der Hauptstadt der Diktatur, allen voran Xi Jinping, Pekings gefroren lächelnder Pate. Der allmächtige Führer des ersten digitalen Totalitarismus erstickte systematisch und unter Strafandrohung während Wochen jedes wahre Wort über das, was in seinem Reich geschah: die Ausbreitung einer lebensgefährlichen Krankheit sowohl im eigenen Land als auch im westlichen Ausland durch ungehinderte Flüge von Tausenden seiner Untertanen. Dem Verschweigen folgte das Verharmlosen. Dem Verharmlosen das Verdächtigen anderer. Während Peking Lug und Trug statt Tatsachen verbreitete, überrollte die Seuche den Globus – bis tief hinein in die abgelegensten Regionen wehrloser Entwicklungsländer. Da die chinesische Führung nicht mit Dummköpfen besetzt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Täuschung bewusst geschah. Weshalb bei dieser ungeheuerlichen Tat durchaus Vorsatz festgestellt werden darf. Doch weder die USA noch die EU, schon gar nicht die Vereinten Nationen werden sich zu einem Gerichtsverfahren entschließen können, das Xi Jinping als Verantwortlichen für die Pandemie unter Anklage stellt. Gerichtshöfe für Verbrechen gegen die Menschheit bleiben Despoten und Kriegskriminellen aus afrikanischen Bürgerkriegsgebieten vorbehalten. China ist einfach zu groß. Zudem unterhält man herzlichen Geschäftsverkehr mit dem Reich der Mitte. Soll der wegen ein paar Tausend Toten gestört werden? Zu Zeiten des Vietnamkrieges setzten sich Intellektuelle, Künstler und engagierte Bürger aus der antiamerikanischen Protestbewegung in Berlin zusammen und veranstalteten ein „Vietnam-Tribunal“. Zeit für ein China-Tribunal.
Frank A. Meyer
Es ist mittlerweile unstrittig, dass die Corona-Krise die Gesellschaft verändert. Ob zum Positiven oder Negativen wird sich zeigen. Die Frage, wer der Menschheit diese Krise eingebrockt hat, steht weiter im Raum. Die Verantwortung des chinesischen Regimes muss geklärt werden.
[ "China", "Peking", "Coronavirus" ]
außenpolitik
2020-05-04T12:05:52+0200
2020-05-04T12:05:52+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/corona-krise-wahrheit-virus-china-verantwortung
Religion und Atheismus - Mein Geist der Weihnacht ist ein Humanist
„Alle Jahre wieder derselbe Stress!“ „Alles dreht sich nur ums Fressen und Konsumieren!“ „Wir beschenken uns, gaukeln uns Frieden vor, und anderswo herrscht Krieg!“ „Das alljährliche Massenschlachten der Gänse ist unmoralisch!“ „Einmal im Jahr rennen die Leute in die Kirche, alle haben sich lieb, und danach wird weitergehasst!“ Die Liste solcher Aussagen über das Weihnachtfest ließe sich beliebig fortsetzen, jeder kennt Dutzende solcher Statements und hat sicherlich auch selbst Bekannte, die in etwa so denken. Und wer etwas auf sich hält, nickt entweder betroffen mit dem Kopf oder stimmt ein in den Sermon. Denn tatsächlich gilt man heute als up to date, aufgeklärt und kritisch, wenn man Ähnliches zum Besten gibt, zumindest aber die eigene Distanz zum alljährlichen Weihnachtsritual unterstreicht und von sich sagt: „Ich mache da nicht mit, ich renne mir nicht die Füße wund, nur weil Geschenkekaufen im Kalender steht, ich bin da ganz anders.“ Aber ist man mit einer solchen Haltung wirklich so anders und so kritisch? Und vor allen Dingen: Ist man dadurch irgendwie bewusster, ehrlicher, besser als andere? Ich persönlich glaube das nicht. Es ist nicht erstrebenswert oder gar fortschrittlich, wenn man das, was so vielen Menschen um uns herum wichtig ist, worauf sie sich freuen und woran sie glauben, arrogant und von oben herab kommentiert und zynisch beurteilt. Natürlich kann man religiösen Traditionen und gesellschaftlichen Ritualen kritisch gegenüberstehen. Doch bei dem alljährlichen Weihnachts-Bashing geht es nicht um Religionskritik, sondern darum, sich selbst über andere Menschen zu erheben, sie herabzuwürdigen und ihnen das zu verderben, woran sie hängen. Daran kann ich nichts Positives entdecken. Auch bei uns zu Hause war Weihnachten immer auch ein innerfamiliärer Stresstest, insbesondere weil meine Mutter bei der Kirche arbeitete und die Weihnachtstage für sie immer die härtesten Arbeitstage des Jahres waren. Dennoch schafften meine Eltern es immer, dass mit dem Auflegen der obligatorischen Weihnachts-Schallplatte die negativen Stimmungen verschwanden und alle sich größte Mühe gaben, so gut zueinander zu sein, wie es eben ging. Und es ging immer ziemlich gut. Weihnachten war bei uns kein frommes Fest, wir hatten unsere eigenen Familienrituale entwickelt, die diesen Abend selbst für einen praktizierenden Ungläubigen wie mich zu einem irgendwie „heiligen Abend“ machten. Vielleicht sind es Erinnerungen wie diese, die dazu beigetragen haben, dass meine eigene Gottlosigkeit nicht in Religionsfeindlichkeit oder gar in Ablehnung religiöser Menschen umgeschlagen ist. Ich sehe Religionen nicht als göttliche Eingebungen, sondern als menschgemachte, kulturelle und intellektuelle Wertesysteme. Menschen können ewiggestrig und unmenschlich, aber au sein. Für menschgemachte Religiosität gilt dies auch, wie für viele andere Glaubensuniversen, Gedankengebäude, politische Überzeugungen und solche, die vorgeben, keine zu sein. Sie alle tragen zu der Entwicklung dessen bei, was wir Zivilisation nennen. Über die konkreten Beiträge kann man trefflich streiten. Wer Religionen und religiöse Feste aber einfach nur zynisch und pauschal abkanzelt, der hält in der Regel auch nicht viel vom Menschen. Es liegt im Trend, Religionen für das Elend der Welt verantwortlich zu machen. Schließlich gibt es kaum Konflikte, in denen nicht Religionen als Motive oder Ursachen genannt werden. Dennoch denke ich, dass Kriege nicht durch den religiösen Glauben, sondern durch eine Vielzahl von Faktoren entstehen. Der allzu plumpe Verweis auf jahrhundertealte Religionen erklärt keinen einzigen modernen Konflikt, und er macht auch keine fortschrittliche Lösung sichtbar. Es gibt zweifelsfrei viele gute Gründe, Religionen und Ideologien zu kritisieren, aber nicht jede Religionskritik fußt auf solch guten Gründen. Und obwohl ich nicht gläubig bin, gerate ich immer wieder in Situationen, in denen ich die Freiheit religiöser Menschen gegen teilweise sehr freiheits- und auch menschenverachtend argumentierende Religionskritik verteidige. Es entspricht ebenfalls dem Zeitgeist, mit religiösen Menschen hart ins Gericht zu gehen. Und damit meine ich nicht nur die Muslime. Denn obwohl wenn sich dieser Tage viele Menschen der „Rettung des christlichen Abendlandes“ verschrieben haben, so hat dies nichts mit einem Revival des christlichen Glaubens zu tun. Die behauptete christliche Verwurzelung fungiert eher als eine notdürftige Verkleidung einer antiislamischen Monstranz. Tatsächlich gehören praktizierende Christen eher selten zu denjenigen, die in inhumaner Art und Weise pauschale Urteile über Großgruppen fällen und den Einzelnen aus dem Blick verlieren. Während religiöse Menschen mir zumeist eher als interessiert, diskussionsfreudig und auch offen gegenübertreten, kann ich genau das von selbsterklärten Religionsfeinden und Atheisten nur selten sagen. Oftmals vermitteln diese den Eindruck, jede aufklärerische Zuneigung zur Freiheit des Einzelnen abgelegt zu haben. Stattdessen wird mit rigoroser Absolutheit gegen die Glaubens- und Meinungsfreiheit Andersdenkender und -glaubender vorgegangen und dabei behauptet, man rette die westliche Zivilisation. Tatsächlich sind viele dieser vorgeblich modernen Atheisten weniger fortschrittlich, aufgeklärt und zivilisationsinteressiert als diejenigen, die sie glauben bekämpfen zu müssen. Über viele Jahrhunderte hat das Streben nach Aufklärung, nach Befreiung des Menschen und nach gesellschaftlichem Fortschritt die Entwicklung der modernen Gesellschaft und auch des religionskritischen Denkens geprägt. In dem Maße aber, in dem Aufklärung und Humanismus in den vergangenen Jahrzehnten außer Mode geraten sind, ist auch der aufgeklärte Atheismus verschwunden. Heutige Atheisten wirken häufig sehr zynisch, desillusioniert und pessimistisch, misstrauisch und misanthropisch. Sie scheinen den Glauben an Gott durch den Glauben an das Schlechte des Menschen ersetzt zu haben. Gern hüllen sie ihren missmutigen Weltschmerz in ökologisches und planetenretterisches Vokabular. In ihrer Verachtung der modernen Gesellschaft ähneln sie jedoch auf fatale Weise den heute nicht nur in der arabischen, sondern auch in der westlichen Welt nachwachsenden selbsternannten Gotteskriegern. Diese oft wissenschaftlich verbrämte Misanthropie ist der Grund, warum ich mich als nichtreligiöser Mensch in betont religions- und kirchenkritischen Kreisen häufig unwohl fühle: Die Ablehnung des Glaubens an Gott geht hier zuweilen Hand in Hand mit der offenen Ablehnung einer humanistischen Weltsicht. Tatsächlich sind mir menschliches Handeln und humanistisches Denken in religiösen Kreisen häufiger begegnet als in atheistischen. Vor diesem Hintergrund freue ich mich als Ungläubiger immer auf das Weihnachtsfest. Ich sehe es als einen Anlass, zu dem viele Menschen versuchen, anderen eine Freude zu machen und selbst anders zu sein als im Rest des Jahres. Ob sie die Kraft dazu aus religiösen Vorstellungen oder sonst woher ziehen, spielt für mich keine Rolle. Mich interessiert allein das Handeln und ob man es schafft, sich vom zynischen Zeitgeist nicht anstecken zu lassen. Hierin besteht für mich der Geist der Weihnacht: Er ist für mich kein Christ, kein Moslem oder Atheist, sondern ein Humanist. Und darauf hätte auch meine Mutter das Glas erhoben. Frohe Weihnachten!
Matthias Heitmann
Kolumne: Schöne Aussicht. Wer Religionen und religiöse Feste einfach nur zynisch und pauschal abkanzelt, der hält in der Regel auch nicht viel vom Menschen
[ "Weihnachten", "Christentum", "Religion", "Weihnachts-Bashing", "Humanismus", "Religionskritik" ]
kultur
2016-12-22T10:58:24+0100
2016-12-22T10:58:24+0100
https://www.cicero.de//kultur/religion-und-atheismus-mein-geist-der-weihnacht-ist-ein-humanist
Fukushima – „Wir laufen Gefahr, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben“
Professor Renn, das Bundesverfassungsgericht hat 1978 in seinem Urteil zum AKW Kalkar entschieden, die Bevölkerung habe mit der Nutzung der Atomenergie ein so genanntes ?Restrisiko? als sozialadäquate Last zu tragen. Wie definieren Sie als Risikoforscher diesen Begriff? Ich mag ihn nicht, denn er klingt wie der unvermeidliche Kaffeesatz, der noch übrig bleibt. Besser wäre zu sagen, es geht um das Risiko, was wir zugunsten eines bestimmten Nutzens bereit sind zu tolerieren. Ein Nullrisiko existiert nicht, wenn man der Semantik des Risikos folgt. Bei allen Anlagen kann es keine hundertprozentige Sicherheit geben. Risiken sind immer graduell zu verstehen, es kann jeweils noch schlimmer kommen. Trotzdem muss irgendwo ein Schnitt gemacht werden. Ab hier nehme ich das verbleibende Risiko in Kauf. Wo diese Schwelle hingelegt wird, ist keine sicherheitstechnische Frage mehr, sondern eine politische: Wie viel Risikoreduktion ist mir wie viel Aufwand wert. Diese Frage ist durch das Kalkar-Urteil zwar aufgegriffen, aber mit dem Begriff ?Restrisiko? verniedlicht worden. Ein ?Restrisiko? beschreibt also weniger das, was wir verdängen oder nicht ausschließen können, und mehr das, was wir bereit sind zu akzeptieren? Im Grunde ja, nur dass die Formulierung des Kalker-Urteil suggeriert, das Risiko sei so klein, dass wir es vergessen können. Das ist irreführend. Denn wie hoch ein Risiko sein darf, ist immer vom Nutzen abhängig. Ein Mittel was in der Nebenwirkung den Blutdruck steigert, würde ich problemlos nehmen, wenn ich todkrank bin, nicht aber bei Kopfschmerzen. Das Risiko ist also ein Einsatz ? wie beim Roulette ? um einen bestimmten Nutzen zu gewinnen. Das kann auch unter Umständen sehr groß sein. Und genau das sollte man auch ehrlich so nach außen kommunizieren. Wie genau ermittelt die Forschung überhaupt, welche Risiken unter welchen Bedingungen ausschließbar sind, und welche nicht? Da gibt es zwei Wege, nehmen wir das Beispiel Kernkraftwerk. Zum einen kann ich Szenarien entwerfen: Flugzeugabsturz, Bombardement, Ausfall des Kühlkreislaufs. Ich kalkuliere die Folgen mit Hilfe einer Fehlerbaumanalyse, also Schritt für Schritt, bis ich am Ende zu einem Super-Gau komme. Zweite Möglichkeit: Eine Ereignisbaumanalyse, da fange ich von hinten an. Ich gehe vom Schlimmsten aus, sagen wir einer Kernschmelze, und frage dann auf welchen Wegen es dazu kommen könnte, bis ich beim auslösenden Ereignis angekommen bin. Im Prinzip müssten am Ende die beiden Methoden zum gleichen Ergebnis gelangen. Bei aller Eleganz dieser Methoden bleiben Unsicherheiten und Probleme: Erstens, ich habe nicht für alle denkbaren Ausfälle Wahrscheinlichkeiten, und zweitens, ich kann mir nicht alle auslösenden Ereignisse vorstellen, vor allem wenn mehrere gleichzeitg eintreffen... Wohl auch, weil es wenige, sehr wahrscheinliche Szenarien gibt, und eine wachsende, gegen unendliche Zahl von unwahrscheinlichen Szenarien. Wie geht die Risikoforschung mit den unendlichen Unwahrscheinlichkeiten um? Genau das ist das Problem. Es gibt eine Millionen Ereignisse mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Millionen, es gibt sie jeden Tag, und theoretisch hat jede von ihnen das Potential, die Weltgeschichte zu verändern... In Japan hat man zur Absicherung der Atomkraftwerke eine schlimmstmögliche Erdbebenstärke von etwas über 8 angenommen, auf mehr als 9 war man nicht gefasst. Steigt der Aufwand zur Absicherung von Risiken in der Regel proportional zum potentiellen Risiko, oder potentiert er sich? Das hängt natürlich von der Art des Risikos ab. Die Richterskala bei Erdbeben ist zum Beispiel logarithmisch: Von 8 zu 9 erhöht sich die Stärke nicht um Faktor 1 sondern um Faktor 10, ja sogar um einen Faktor 30, wenn wir die Energiefreisetzung zum Maßstab nehmen. Entsprechend erhöht sich der Sicherungsaufwand. Aus Japan hören wir, dass man Kraftwerke mit einer Erdbebensicherheit von 10 im Prinzip gar nicht bauen kann, diese Stärke ist schlichtweg nicht aufzufangen. Inwieweit lässt sich mit der Erfahrung geschehener Katastrophen das Risiko von zukünftigen Unglücksfällen minimieren? Auch da kommt es auf den Einzelfall an. Nehmen sie Flugzeugabstürze. Bei jedem neuen Absturz gibt es eine Untersuchung: Ist da irgendetwas Systemisches dabei? Gibt es zum Beispiel Bauteile, die stärker unter Materialermüdung leiden, als andere? Oder einen Pilotenfehler, der regelmäßig auftaucht? Falls ja, kann das Risiko für die Zukunft eingegrenzt werden und es macht Sinn, diese Erkenntniss dann schnell auf alle anderen Flugzeuge anzuwenden. Es gibt aber eben auch einzigartige Ereignisse und Risiken, mit denen dann eben nicht gerechnet werden kann, zum Beispiel ein Tsunami in Deutschland. Ein Tsunami gehört in Deutschland nicht zu den denkbaren Risiken, heißt es. Was definiert denkbar? Worauf beruht die Annahme dessen, was geschehen kann? Es gibt drei Quellen dafür. Das eine ist die Phsyik. Die Herkunft eines Tsunamis zum Beispiel, kann ich aus der Geophysik und Platonik ableiten. Damit kann ich ausschließen, dass ein Tsunami bis nach Bayern vorstößt. Das zweite ist die Beobachtung aus der Vergangenheit. Zum Beispiel sind deutsche Kernkraftwerke darauf ausgerichtet, jedes Erdbeben, das in historisch überschaubaren Zeiträumen - etwa seit 800 Jahren - in Deutschland stattgefunden hat, aushalten zu können. Die dritte Methode wäre systemanalytisch, indem ich alle Fälle durchspiele, um dann zu sehen: sind diese Fälle noch mit dem Sicherheitsdesign kompatibel oder nicht. Das wäre dann ein reiner Stresstest, unter Umgehung der Frage der Herkunft: Eine äußere Kraft belastet das Kraftwerk, ob sie von einer Bombe, einem Flugzeug oder einem Erdbeben kommt, ist dann unerheblich, relevant sind nur die Schwachstellen. Wie definiert man die Schwelle zwischen notwendiger und absurder Absicherung? Gibt es da eine ermittelbare, logische Grenze? Das ist immer wieder versucht worden, und es gibt auch in der Risikoforschung solche quantitativen Festlegungen von Schwellenwerten zur Risikotoleranz: Weltweit diskutiert wird der Vorschlag, im Arbeitsbereich ein Risiko von 1 zu hunderttausend im Jahr zu tolerieren und im öffentlichen Bereich ein Risiko von 1 zu einer Millionen. Das lässt sich allerdings nicht flächendeckend durchhalten, nehmen sie die Risiken des Autofahrens. Das müsste nach dieser Definition verboten werden. Welches Risiko ich tolerieren möchte, hängt von dem Nutzen an. Deshalb waren die Japaner ja auch zu so hohen Risiken beim Kraftwerksbau bereit, weil sie keine Kohle, kein Öl und kein Gas haben. Und umgekehrt: Da wo der Nutzen gering ist, macht auch ein minimales Risiko weniger Sinn. Die Wissenschaft kann das Problem also nicht lösen, weil es sich letztlich um Abwägungen und damit um Wertfragen handelt. Mit dem geplanten, ruckartigen Rückzug aus der Atomenergie minimieren wir einen lange bekannten Risikobereich, die Gefahren der Atomenergie, und bewegen uns auf einen neuen, relativ unbekannten zu: Energieknappheit und Energieabhängigkeit. Wie bewerten sie das? Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn auch alle anderen Energiequellen, ob Kohle, Öl oder regenerative Energien, haben versorgungstechnische, sozialverträgliche oder auch wirtschaftliche Risiken. Die müssen wohlbedacht abgewägt werden. Denn natürlich sind wir im gesundheitlichen Bereich besonders sensibel, nur müssen wir uns auch darüber im klaren sein: Bricht die Versorgungssicherheit zusammen, birgt das ebenfalls gesundheitliche Risiken. Das klingt, als wären sie skeptisch gegenüber dem übereilten Atomausstieg. Ja. Ich verstehe natürlich den politischen Druck. Nur hat sich auch durch Japan nichts an der Sicherheitslage deutscher Kernkraftwerke geändert. Ob in Japan überhaupt etwas Systemisches vorliegt, was auch unsere Kernkraftanalgen betrifft, wage ich zu bezweifeln. Allenfalls lernen wir viel aus Japan, wie man Krisenmanagement und Katastrophenkommunikation nicht machen soll. Aber Aktionismus, wie wir ihn jetzt in Deutschland erleben, kann kontra-produktiv sein. Durch unsere Hektik laufen wir Gefahr, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Wir werden jetzt wahrscheinlich Atomstrom von außen einführen, und damit indirekt die Tschechen ermuntern, ihre AKWs auszubauen. Ob wir das wollen, ist eine andere Frage. Es gibt also einen ganzen Rattenschwanz von Folgeerscheinungen, die wir möglicherweise gar nicht in Kauf genommen hätten, wenn wir uns etwas Zeit zur Abwägung genommen hätten. Das Interview führte Constantin Magnis
Über die Unehrlichkeit des Begriffes vom "Restrisiko" in der Atomdebatte, den wissenschaftlichen Entwurf von Katastrophenszenarien und die Wahrscheinlichkeit von Tsunamis in Bayern: Der Risikoforscher Ortwin Renn im Interview.
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außenpolitik
2011-03-17T00:00:00+0100
2011-03-17T00:00:00+0100
https://www.cicero.de//weltbuhne/%E2%80%9Ewir-laufen-gefahr-den-teufel-mit-dem-beelzebub-auszutreiben%E2%80%9C/12804
Richtungsentscheidung in China - Am Scheideweg
China steht nun schon seit geraumer Zeit am Rande einer Wirtschaftskrise. Strukturelle Probleme im Finanzsystem und die anhaltende Schließung wichtiger Drehkreuze und Häfen sowie Lockdowns in ganzen Provinzen haben zu Unterbrechungen der Lieferketten geführt, zu verlangsamtem Wirtschaftswachstum und zu allgemeinen Unruhen im ganzen Land. Und da die wirtschaftliche Vitalität die Grundlage der Macht der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) ist, stellen diese Szenarien eine Gefahr für die Stabilität der Regierung dar. Bisher ist es Präsident Xi Jinping gelungen, seine Macht so zu konsolidieren, dass er Chinas Herrscher auf Lebenszeit bleiben könnte. Sein Versagen bei der Bewältigung der neuen Herausforderungen hat jedoch Zweifel an Xis Führungskompetenz aufkommen lassen – insbesondere in den Kreisen, auf die es wirklich ankommt: dem Rest der KPC, in dem es zwei Fraktionen mit zwei unterschiedlichen Ansichten über Chinas künftige Beziehungen zum Rest der Welt gibt, insbesondere zum Westen. Als China eine stabile Wirtschaftsmacht war, war auch Xis Position gesichert. Die florierende Wirtschaft basierte immer auf Exporten, und obwohl die chinesische Führung alle Anstrengungen unternommen hat, um zu einem konsumbasierten Wirtschaftsmodell überzugehen, sind das verarbeitende Gewerbe und die Exporte nach wie vor der Motor des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Dies hat das Land besonders anfällig für globale Unterbrechungen der Lieferketten gemacht, die durch die russische Invasion in der Ukraine und durch die Corona-Pandemie verursacht wurden. Strukturelle Probleme wie Schattenkredite, zunehmende Eingriffe in Marktangelegenheiten, Importabhängigkeit und finanzielle Schwierigkeiten im Immobiliensektor sind jedoch schon seit einiger Zeit gravierend, ebenso wie das wirtschaftliche Gefälle zwischen den wohlhabenden Küstenregionen und dem unterentwickelten Landesinneren. Das könnte Sie auch interessieren: Die extrem strengen Eindämmungsmaßnahmen im Zuge der grassierenden Omikron-Variante haben die Situation noch verschärft: Interne wirtschaftliche Störungen, die erzwungene Stilllegung von Schlüsselindustrien, rapide steigende Preise sowie Nahrungsmittel- und Treibstoffknappheit führen zu wachsender Unruhe innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Trotz der strengen Zensur machen innerhalb der Partei Erzählungen die Runde, wonach Xi als Präsident gescheitert sei. Einer der schärfsten Kritiker ist Han Zheng, Vizepremier, Mitglied des siebenköpfigen Ständigen Ausschusses des Politbüros, ehemaliger Parteisekretär von Shanghai und Mitglied der „Shanghai-Clique“, einer informellen Gruppe von Parteifunktionären, die die Geschäftsinteressen von Chinas Küstenregionen vertreten. Als geschäftsführender Vizepremier des Staatsrats zeichnet Han für Chinas Binnenwirtschaft verantwortlich und leitet die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission. Zusammen mit dem rangniedrigeren Vizepremier Hu Chunhua scheint Han nun zum Anführer einer Gruppe innerhalb des Zentralkomitees geworden zu sein, die gegen Xis derzeitige wirtschaftliche Maßnahmen opponiert. Im Rahmen von Xis Agenda bestand das größte geplante Wirtschaftsprojekt der vergangenen Jahre in der kontrollierten Implosion von Chinas übergroßem Immobilienmarkt – und zwar mit dem langfristigen Ziel, die Wirtschaft weg von einer übermäßigen Abhängigkeit von Wohnungsbau- und Infrastrukturinvestitionen hin zu einer besseren Ausrichtung auf den Binnenkonsum zu führen. In dieser Frage vertreten zwei wichtige Personen innerhalb der chinesischen Führung stark voneinander abweichende Meinungen: Das Xi-Lager, angeführt von Liu He, dem Vizepremier und langjährigen Finanz- und Wirtschaftsberater von Xi, hat dafür plädiert, den Druck auf den Immobiliensektor im Vorfeld eines eventuellen Einbruchs zu verringern. Liu, der wegen der möglichen Auswirkungen auf das Finanzsystem besorgt ist, hat den Investoren wiederholt versichert, dass Xis Regierung die Wirtschaft ankurbeln wird. Das andere Lager, angeführt von Han und Hu, hat sich auf die Seite des Wohnungsbauministeriums gestellt, das den Druck auf die Bauträger aufrechterhalten will, indem es die Verwendung der Projekterträge streng regelt. Ziel dieses Ansatzes ist es, die Verschuldung im Verhältnis zum Cashflow, zu den Vermögenswerten und zur Kapitalausstattung der großen Unternehmen zu begrenzen und sie so an einem übermäßigen Wachstum zu hindern. Die Immobiliendebatte steht in direktem Zusammenhang mit der zentralen Herausforderung, die die chinesischen Regierungen seit Jahrzehnten zu lösen versuchen: die Umverteilung des Wohlstands. Die Anhebung des Einkommens von Stadt- und Landbewohnern und die Förderung eines gleichberechtigten Zugangs zu Dienstleistungen sind für das Aufrechterhalten eines friedlichen Wachstums in China unerlässlich. Xi verfolgt die Wohlstandsverteilung im Rahmen seines Plans für „gemeinsamen Wohlstand“, der darauf abzielt, das Wohlstandsgefälle in China zu verringern, indem er gegen „unangemessen“ hohe Einkommen vorgeht und den Wohlstand von den wohlhabenden Küstenregionen in das ärmere Landesinnere umverteilt. Die Strategie begann mit einem Paukenschlag, indem gegen große Technologieunternehmen vorgegangen wurde, aber angesichts der jüngsten wirtschaftlichen Probleme hat sie etwas an Kraft verloren. Um es klar zu sagen: Beide Gruppierungen sind für Wirtschaftswachstum; sie sind sich nur nicht einig darüber, was die treibende Kraft hinter dem Wachstum sein soll. Chans Fraktion wendet sich aktiv gegen die Verteilung des Wohlstands, um die Wirtschaft in den Küstenregionen zu stützen und sie noch stärker an die internationalen Märkte zu binden, damit das sprichwörtliche steigende Wasser alle Boote hebt. Xi hingegen möchte, dass das Wachstum des Landes von der staatlichen Verwaltung und dem Binnenkonsum angetrieben wird, wobei internationale Akteure keine Rolle spielen. Die jüngste Sitzung des Politbüros am 3. April hat gezeigt, dass diese Differenzen längst nicht beigelegt sind. Und die Lage könnte sich noch weiter zuspitzen. Die Kapitalabflüsse aus China erreichten im April ein Rekordhoch und untergraben die Glaubwürdigkeit von Xis Lager. Vor allem die Opposition teilt ihre Bedenken nach wie vor frei und öffentlich mit – was bedeutet, dass Xi im Gegensatz zu den vergangenen Jahren nicht in der Lage ist, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen. Im Vorfeld des für November anberaumten Nationalkongresses der Kommunistischen Partei, bei dem Chinas neue Führungsspitze für die nächsten fünf Jahre bestimmt werden soll, werden beide Seiten um die Macht kämpfen. Die Wiederherstellung des Vertrauens der Gesellschaft spielt hierbei eine entscheidende Rolle, insbesondere nach den Abriegelungsmaßnahmen wegen Corona. Xis Rivalen werden Gelegenheit haben, aus der öffentlichen Unzufriedenheit Kapital zu schlagen, und eine weiterhin wackelige Wirtschaft wird sie darin nur bestärken. Bis November sind es noch einige Monate hin. In dieser Zeit könnte jede noch so kleine Veränderung in den Beziehungen zwischen den chinesischen Führern einen Hinweis darauf geben, wie sich der Kongress entwickeln wird. Xis anfängliche Pläne für Immobilien- und Steuerreformen sowie der Stopp der Vermögensumverteilung deuten bereits auf eine geschwächte Position hin, so dass jede unerwartete wirtschaftliche oder finanzielle Maßnahme, die diesen Plänen zuwiderläuft, eine Stärkung der Opposition signalisieren dürfte. Auch die Entfernung einer Schlüsselperson aus den höchsten Rängen der Macht wäre aufschlussreich. Es wird sich demnächst also entscheiden, wo Chinas wirtschaftlicher Schwerpunkt in Zukunft liegen soll: auf dem Binnenkonsum und der Unterstützung der Provinzen im Landesinneren. Oder auf dem internationalen Handel, der durch den Reichtum und den Einfluss der Küstenstädte vorangetrieben wird – was wiederum maßgeblich dafür wird, wie sich China künftig gegenüber dem Rest der Welt verhält. In Kooperation mit
Victoria Laura Herczegh
China steht am Rand einer Wirtschaftskrise, Staatspräsident Xi Jinping gerät deswegen zunehmend in die Kritik: Innerhalb der Kommunistischen Partei hat sich eine immer lauter werdende Opposition gegen ihn und seine Politik herausgebildet. Demnächst entscheidet sich, wer den Machtkampf gewinnt – und wie China sich künftig dem Rest der Welt gegenüber verhält.
[ "China", "Kommunistische Partei China", "Xi Jinping" ]
außenpolitik
2022-05-23T15:38:49+0200
2022-05-23T15:38:49+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/richtungsentscheidung-china-scheideweg-xi-jinping-han-zheng
GroKo - Koalition der Sollbruchstellen
Die Ruhe zwischen den Jahren haben sich Angela Merkels Christdemokraten redlich verdient. Erst der Monate lange Wahlkampf, dann das Vierteljahr der Sondierungs- und Koalitionsgespräche - das schafft. Da können sie jeden Weihnachtstag, in dem es mal nicht um Politik, jeden freien Tag, an dem keine Inhalte oder Personalien abgestimmt werden müssen, gut gebrauchen. Die politische Pause zwischen Weihnachten und Dreikönig ist aber zu kurz, um die Christdemokraten für das zu wappnen, was kommt: Ihnen stehen Jahre des Konflikts bevor. Die Koalition, die sie mit CSU und Sozialdemokraten eingegangen sind, wird ein kraftraubendes Bündnis, in dem jeder gegen jeden agiert, in dem die Sollbruchstellen schon zu sehen sind, obwohl die GroKo ihre Arbeit noch nicht einmal richtig aufgenommen hat. Im Vergleich zu dem, was nun kommt, war die phasenweise heillos zerstrittene schwarz-gelbe Koalition ein Hort der Harmonie. Einen Vorgeschmack gab es schon, als die Minister noch nicht einmal vereidigt waren. Die Sozialdemokraten schossen kräftig gegen den designierten Digitalminister Alexander Dobrindt (CSU) und stutzten verbal dessen Zuständigkeit zurück. Nur wenige Tage später schoss CSU-Chef Horst Seehofer quer: Beim von den Koalitionären vereinbarten gesetzlichen Mindestlohn müsse es Ausnahmen geben - für Praktikanten, für dazuverdienende Rentner. Die SPD reagierte mehr als verschnupft. Die Streitereien zwischen CSU und SPD sind programmiert. Denn da sind noch die im Koalitionsvertrag untergebrachten Zeitbomben doppelte Staatsbürgerschaft und Pkw-Maut. Gegen die eine sind konservative CSUler, gegen die andere europafreundliche Sozialdemokraten - viel Vergnügen beim Versuch der Konsensfindung. Die CDU wird in den nächsten Monaten und Jahren nicht nur zwischen den ungleichen Partnern vermitteln müssen, sie hat auch intern einiges zu klären und somit Koalitionszündstoff zu bieten. Bei ihr hat das Ringen um die Nachfolge Angela Merkels begonnen. Die Kanzlerin absolviert gerade ihre dritte Amtszeit. Obwohl sie noch nicht einmal 60 ist, gehen viele in der Union davon aus, dass es ihre letzte sein könnte. Da Wolfgang Schäuble zu alt ist und Merkel potenzielle Konkurrenten wie Friedrich Merz oder Norbert Röttgen aus der Politik gedrängt hat, bleiben derzeit in der CDU nur noch zwei potenzielle Nachfolger: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr Amtsvorgänger Thomas de Maizière. Der Konflikt zwischen den beiden wird ein prägender Bestandteil der GroKo sein. Von der Leyen wird nachgesagt, von Ehrgeiz zerfressen zu sein. Sie wollte schon Bundespräsidentin werden, Außenministerin und weigerte sich zuletzt, das Gesundheitsministerium zu übernehmen, weil es ihr nicht bedeutend genug erschien. Wenn es der eigenen Profilierung dient, kennt sie keine Loyalitäten. Sie mobbte Kristina Schröder, ihre Amtsnachfolgerin als Familienministerin. Sie bahnte vor knapp einen Jahr beim populären Thema Frauenquote ein Bündnis mit SPD und Grünen an - hinter Merkels Rücken. Die Frau, die sich mit dem heimeligen Sieben-Kinder-Image schmückt, ist zu allem entschlossen. Und da ist Thomas de Maizière, den sie aus dem Bundeswehrministerium vertrieben hat, der ihr dies nachträgt. Im Gegensatz zu ihr hat er in der CDU eine Hausmacht. Vor allem aber kennt er das Verteidigungsministerium aus dem Effeff, weiß inzwischen um all seine Fallgruben und Minenfelder, die schon etlichen Ressortchefs zum Verhängnis wurden. Auch de Maizières bis dato tadelloses Image erhielt durch die Drohnen-Affäre Kratzer. Auf diesem Feld agiert nun von der Leyen, die ohne jegliche Fachkenntnisse an ihr Amt kam. Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann ins Straucheln kommen. Und de Maizière müsste schon ein Übermaß an christlicher Nächstenliebe aufbringen, um der Versuchung zu widerstehen, mögliche Stolperer der Konkurrentin in die Öffentlichkeit zu lancieren. Aber es gibt noch jemanden, der sich für die Kanzlerschaft warm läuft. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat nach der verheerenden Wahlniederlage alles auf eine Karte gesetzt, um seiner Partei eine Position auf Augenhöhe mit Merkels Sieger-CDU zu sichern: Ein negatives Votum der SPD-Basis zu Verhandlungen mit der Union und Koalitionsvertrag hätte sein Ende als Parteichef besiegelt. Bei diesem Alles-oder-Nichts-Manöver hat er allerdings einen wichtigen Aspekt übersehen: Er hat sich in Merkels Kabinett mit der Zuständigkeit für Wirtschaft und Energiewende das falsche Ressort geangelt. Wirtschaftsminister sind traditionell einflusslos, und die Energiewende wird in der Öffentlichkeit als Problem mit falschen Subventionen, Strompreiserhöhungen und Netzausbau-Verzögerungen wahrgenommen. Sobald Gabriel dies wahrgenommen hat, wird er sich auf Teufel komm raus profilieren wollen, um seine Anwartschaft auf die Kanzlerkandidatur parteiintern zu sichern. Und das kann nur auf Kosten der Koalitionspartner gehen. Die Christdemokraten ahnen ansatzweise, was auf sie zukommt: Ein unberechenbarer Koalitionspartner, dem nur zu bewusst ist, wie er nach der letzten Großen Koalition von den Wählern mit dem schlechtesten Ergebnis der SPD-Geschichte bedacht wurde. Ein Koalitionspartner, der jederzeit aus der GroKo aussteigen kann, weil er sich per Parteitagsbeschluss die rot-rot-grüne Option gesichert hat - ein Bündnis, das schon jetzt im Bundestag die rechnerische Mehrheit hat. Die CDU steuert gegen - indem sie eine Koalition mit den Grünen vorbereitet. Sei es nach der nächsten Bundestagswahl 2017, sei es für den Fall eines Koalitionsbruches. Jüngere CDU- und Grünen-Abgeordnete haben die frühere "Pizza-Connection" reanimiert. Schon im Januar soll das erste Treffen stattfinden, um sich kennenzulernen, Aversionen abzubauen und Gemeinsamkeiten zu sondieren. Es gibt führende Köpfe bei den Grünen, die glauben, dass im Herbst "eine historische Chance vertan wurde", als Jürgen Trittin und Claudia Roth einer schwarz-grünen Koalition eine Absage erteilten und Merkel die Partei nicht offensiv genug umwarb. Diese Chance wird nun in Hessen nachgeholt, mit der ersten Koalition aus CDU und Grünen in einem Flächenland. Den sehr ungleichen Partnern Volker Bouffier und Tarek Al-Wazir ist es tatsächlich gelungen, einen Koalitionsvertrag zu schmieden und - noch wichtiger - die breite Zustimmung ihrer jeweiligen Parteibasis dafür einzuholen. Funktioniert Hessen, dann ist Schwarz-Grün im Bund nicht nur eine arithmetische Überlegung, sondern eine ernsthafte Option. Sei es 2017 oder eben früher. Für die schon bald in der GroKo zermürbte CDU ist die Hoffnung grün.
Andreas Theyssen
Die Große Koalition hat noch nicht einmal richtig die Arbeit aufgenommen, da kracht es schon. Schon jetzt ist absehbar, dass Dauerstreit das Bündnis prägen wird. Die CDU hat keine andere Wahl, als sich den Grünen zuzuwenden
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innenpolitik
2013-12-29T15:28:23+0100
2013-12-29T15:28:23+0100
https://www.cicero.de//groko-koalition-der-sollbruchstellen/56759
Deutsche Bank – Wer beerbt Josef Ackermann?
Wenn in Rom ein Papst gewählt wird, ziehen sich die Kardinäle in die Sixtinische Kapelle zurück. Hat man sich auf einen Bewerber geeinigt, steigt weißer Rauch aus dem Schornstein auf. An diesem Sonntag tagt der Nominierungsausschuss der Deutschen Bank, um einen Vorstandsvorsitzenden als Nachfolger von Josef Ackermann zu nominieren. Im Vorfeld gab es bereits heftige Machtkämpfe, und von der Öffentlichkeit wurde jedes Zeichen registriert: Welcher Vorstand darf bei der Hauptversammlung neben Ackermann sitzen? Warum lernt der Inder Anshu Jain Deutsch? Was bedeutet das Machtspiel zwischen Aufsichtsratschef Clemens Börsig und Ackermann. Natürlich geht es in Frankfurt nur um eine Bank. Aber eben nicht um irgendeine. Deshalb sieht die Finanzwelt gebannt der Entscheidung entgegen – auch wenn sie nicht durch weißen Rauch angezeigt wird. Wer könnte Josef Ackermann beerben? Eigentlich läuft Ackermanns Vertrag noch bis 2013. Die Frage nach seinem Nachfolger drängt aber jetzt schon, weil es keinen klaren Favoriten gibt. Die Aktionäre möchten wissen, wie es weitergeht. Sollte jemand von außen kommen, bräuchte er Zeit, um sich einzuarbeiten. Die amtierenden Vorstände machen ihre Sache alle gut, aber keiner scheint der geborene Chef zu sein. Die größten Umsätze kann der Investmentbanker Anshu Jain für sich verbuchen. Jain ist aber Inder, spricht kaum Deutsch und hat wenig Kontakte in Deutschland. Sehr gut vernetzt ist dagegen Deutschlandchef Jürgen Fitschen. Der ist aber schon 62. Privatkundenchef Rainer Neske (47) wiederum gilt als zu jung. Risikovorstand Hugo Bänziger hat einen guten Blick über das Gesamtgeschäft, ist aber angeblich kein Freund von Aufsichtsratschef Clemens Börsig. Josef Ackermann hätte am liebsten Axel Weber auf seinem Posten gesehen, den ehemaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank. Angeblich aber hat Börsig es versäumt, Weber ein Angebot zu machen. Jetzt geht der zu UBS. Der Aufsichtsrat ist formell für die Berufung des Vorstands verantwortlich. Börsig und Ackermann bekämpfen einander schon seit Jahren. 2009, bevor Ackermanns letzter Vertrag auslief, hatte der Aufsichtsratschef sich mangels Alternativen selbst als Vorstandschef vorgeschlagen. Daraufhin zog Ackermann es vor zu bleiben und brachte das Gremium auf seine Seite. In der vergangenen Woche gab es Gerüchte, der Aufsichtsrat könne Börsig seines Amtes entheben und Ackermann zum Chefaufseher machen. Dann könnte der die Bank repräsentieren, während Jain die Geschäfte führt. Gegen einen so schnellen Wechsel in den Aufsichtsrat gibt es aber ethische Bedenken. Wahrscheinlich ist darum, dass sich Börsig durchsetzt. Er präferiert eine Doppelspitze mit Jain und Fitschen. Die Entscheidung fällt wahrscheinlich schon heute. Warum ist die Frage der Nachfolge an der Spitze der Deutschen Bank so wichtig? „Ein so großes Haus wie die Deutsche Bank kann man gar nicht führen“, sagt Martin Faust, Bankenprofessor an der Frankfurt School of Finance. Bei weltweit mehr als 100 000 Mitarbeitern könne man unmöglich alle Produkte und Geschäfte kennen. Die wichtigste Aufgabe eines Vorstandsvorsitzenden sei es daher, die großen strategischen Linien festzulegen, aber auch die unterschiedlichen Bereiche des Hauses miteinander zu verbinden, etwa die hippen Investmentbanker in London und New York mit dem eher bodenständigen Filialgeschäft in Deutschland. Zugleich ist der Chef der Deutschen Bank aber auch ihr wichtigster Lobbyist. Kaum eine Branche ist so stark reguliert wie das Bankgewerbe, durch die Krise kommen gerade viele neue Regeln hinzu. Da macht es Sinn, wenn man einen guten Draht in die Politik hat – und nicht zuletzt ein Gespür für die Befindlichkeiten der Bürger, für die der Deutsche-Bank-Chef wie kein anderer die Personifizierung seiner Branche ist.
Frage des Tages: Machtkampf bei der Deutschen Bank. Es geht um die Nachfolge Josef Ackermanns. Und damit um den künftigen Wert der Marke. Am Sonntag könnte eine Vorentscheidung fallen. Wer führt zukünftig Deutschlands größte Bank?
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wirtschaft
2011-07-10T09:45:18+0200
2011-07-10T09:45:18+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/wer-beerbt-josef-ackermann/42331
Geschichte der Kernspaltung - Krieg der Kerne
Auf der Postkarte stand der Bestimmungsort Hechingen, und damit war klar, wo die deutsche Physikerelite mit Uran experimentierte: auf der Schwäbischen Alb, weit weg vom kriegs­gefährdeten Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. Der freundliche junge Mann aber, der den Starphysiker Heisenberg 1944 nach einem Vortrag noch zur Post begleitete, war gar kein aufstrebender Wissenschaftler, sondern ein amerikanischer Agent. Zusammen mit der eigens gegründeten Alsos-Gruppe verfolgte der US-Geheimdienst jede Bewegung der deutschen Kernphysik, die als „Uranverein” bekannt war und die Atombombe entwickeln sollte. Die Amerikaner waren mit ihrem Manhattan Project, dem atomaren Militärprogramm, aber schon unendlich viel weiter – so uneinholbar, dass sich die zehn deutschen Spitzenforscher nach der Vernichtung Hiroshimas resigniert als „zweitklassig” geißelten. Seit Kriegsende waren sie auf dem englischen Landsitz Farm Hall interniert, wo die Alliierten mittels Komplettverwanzung die gescheiterten deutschen Forscher belauschten. Die Geschichte der Kernspaltung ist die vielleicht atemberaubendste des 20. Jahrhunderts, denn sie revolutioniert nicht nur die physikalischen und philosophischen Weltbilder der Moderne, wie Richard von Schirach in „Die Nacht der Physiker” erzählt. Die Kernspaltung führt innerhalb weniger Jahre von abstraktester Theorie zu furchtbarster Vernichtung; von der Entdeckung des Neutrons über Lise Meitners und Otto Hahns Überlegungen, ob das „Zerplatzen” eines Atomkerns doch möglich sei, bis zu den fieberhaften Experimenten zur Gewinnung und Spaltung des Uranisotops 235 – und zur ersten Atombombe von Hiroshima. Seit die Kerne spaltbar geworden sind, hält die Welt nichts mehr im Innersten zusammen, denn das Vernichtungspotential ist ins Unermessliche gestiegen. Nicht nur angesichts iranischer Atomdrohgebärden werden solche Fragen, über zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges, wieder unheimlich und aktuell. Dass sich die ethischen Grundfragen an die naturwissenschaftliche Forschung seit der Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 1938 vollkommen neu stellen, wird allen Beteiligten spät bewusst – oder vielmehr, sie werden vorerst nicht formuliert. Wie auch bei den völkerrechtlich geächteten Giftgasen des Ersten Weltkriegs galt lange: Das Machbare wird gemacht, weil es hilft, einen grausamen Krieg abzukürzen. So schrieb Lise Meitner ihrem Kollegen Otto Hahn, der das Chlorgas als chemischen Kampfstoff mitentwickelt hatte, nach der Zweiten Flandernschlacht von 1915: „Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern”. Einen Krieg weiter, 1939, wissen etwa hundert Physiker auf der Welt: Wenn eine atomare Kettenreaktion möglich ist, kann man eine „Uranmaschine” konstruieren – und „wenn Atombomben möglich sind, wird es jemanden geben, der sie macht.” So resümiert Carl Friedrich von Weizsäcker, Bruder des späteren Bundespräsidenten und Sohn des NS-Diplomaten Ernst von Weizsäcker, rückblickend seine Beratungen mit dem Philosophen Georg Picht. 1939, als 27jähriger, zählte er seit Jahren zur Elite der deutschen Atomphysik. Richard von Schirachs erzählerisch weit ausholende und dabei angenehm nüchterne Geschichte der deutschen Kernphysik erwirbt sich das große Verdienst, auch für Nichtphysiker verständlich zu sein: Sie veranschaulicht, wie in den Dreißigern die Entdeckung des Neutron die bis dato unumstößliche Vorstellung eines nicht teilbaren Atomkerns revidiert – und wie die gigantischen Energiemengen der atomaren Kettenreaktion sowohl eine „Uranmaschine” (später Atomreaktor genannt) als auch eine Bombe denkbar machen. Das den Kern spaltende Neutron muss entschleunigt werden, wobei man zwei Bremssubstanzen in Betracht zieht: Schweres Wasser oder Graphit. Die Deutschen verlegen sich auf das Schwere Wasser – eine Fehlentscheidung, die den Amerikanern mit ihren graphitmoderierten Reaktoren den entscheidenden Vorsprung sichert. Nächste Seite: 6. August 1945: Die Amerikaner „konnten es besser” „Die Nacht der Physiker” heißt der Band, weil dramaturgisch alles auf eine bestimme Nacht hinausläuft: Am Abend des 6. August 1945 wurde in Farm Hall zunächst vom beaufsichtigenden Major Rittner, dann von den 18-Uhr-Nachrichten der BBC der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima vermeldet. Die versammelten Physiker waren zunächst fassungslos, danach liefen die Abhörmikrofone heiß, die in allen Zimmern ganz simpel auf der Rückseite der Bilderrahmen angebracht waren. Bis in die Nacht besprach die Gruppe die grundstürzende Tatsache, dass „die Amerikaner es besser konnten” – was zu Nervenzusammenbrüchen, enttäuschter Selbstkritik oder zynischen Kommentaren führte. Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn, Paul Harteck, Walther Gerlach, Erich Bagge, Kurt Diebner und die anderen waren sich uneinig in ihrer Interpretation der Lage – aber aus ihren Debatten spricht das Entsetzen darüber, wie viel erfolgreicher die wissenschaftliche Konkurrenz gearbeitet hatte. Das Abhörteam der „Operation Epsilon” – sechs stets unsichtbare Engländer mit deutscher Muttersprache belauschten die Atomphysiker Tag und Nacht – konzentrierte sich dabei auf politische Anmerkungen wie auch auf den technischen Stand der Gefangenen: Schließlich wollte man nicht nur wissen, wie weit die deutschen Wissenschaftler gekommen waren, sondern man wollte auch verhindern, dass die deutsche Forscher-Intelligenz den Russen in die Hände fiel. Die Tonaufzeichnungen wurden abgetippt, übersetzt und zur Auswertung an höhere Stellen weitergeleitet. Die Protokolle der „Operation Epsilon” wurden erst 1993 in England veröffentlicht und erschienen im selben Jahr auch in einer deutschen Rückübersetzung. Historiker wie Michael Schaaf („Heisenberg, Hitler und die Bombe”), Konrad Lindner („Carl Friedrich von Weizsäckers Wanderung ins Atomzeitalter”) und Rainer Karlsch („Hitlers Bombe”) gingen den Verstrickungen der deutschen Kernphysik nach und bezogen sich teilweise auch auf die Protokolle aus Farm Hall. Richard von Schirach, der im Jahr 2005 ein Buch über seinen Vater Baldur veröffentlichte, birgt nun das fast schon Krimi-taugliche Potenzial dieses Stoffs; man ist versucht, seine Darstellung packend zu nennen, auch wenn das angesichts des Naziregimes, dem die Forscher gedient hatten, wohl doch die falsche Vokabel wäre. Vor allem aber wird in den zurückhaltenden Kommentaren und Ausführungen Schirachs klar, wie sehr die Gefangenen unmittelbar nach Hiroshima eine Umdeutung ihrer eigenen Forschertätigkeiten in Gang setzten. Vielleicht hatte man weder eine funktionierende Uranmaschine, geschweige denn eine Bombe zustande gebracht, weil man sie diesem Regime nicht an die Hand geben wollte? Dagegen spricht unter anderem, dass noch 1945 fieberhaft mit einem geheimen Reaktor experimentiert wurde, der im Bierkeller des Haigerlocher Schwanenwirts installiert wurde; Forscherpech war, dass der Nachschub an Schwerem Wasser aus Norwegen kriegsbedingt ausblieb. Richard von Schirachs aufschlussreiche Darstellung legt viel eher nahe, dass eine Gemengelage aus entfesseltem Ehrgeiz, dem Glauben an den überragenden deutschen Geist und einer ordentlichen Dosis Größenwahn sich wie eine dunkle Wolke vor die Verantwortungsfrage schob (vielleicht könnte man sogar von einer langen Umnachtung der Physiker sprechen). Er habe geglaubt, mit den Plänen einer Atombombe könne er „Hitler rumkriegen, eine vernünftige Politik zu machen”, bekennt Weizsäcker in einem Gespräch von 1993. Zu Silvester 1945 in Farm Hall hatte der dichterisch begabte Physiker einen Limerick verfasst, der bei aller Ironie die Erfolgsgetriebenheit aufs Schönste zusammenfasst: „Und fragt man Wozu / Denn das ganze Getu’? / S’ist nur wegen unsrer Karrieren.” Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Berenberg, Berlin 2012. 272 S., 25 €
Jutta Person
Richard von Schirach erzählt, wie deutsche Physiker bis 1945 an der atomaren Kettenreaktion tüftelten – und wie sie die Bombe auf Hiroshima erlebten
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kultur
2013-02-06T13:56:14+0100
2013-02-06T13:56:14+0100
https://www.cicero.de//kultur/krieg-der-kerne/53383
Gain-of-function-Forschung - Wissenschaftler fordern Stopp gefährlicher Laborversuche mit Viren
In Anlehnung an die Göttinger Erklärung von 1957, in der führende Naturwissenschaftler vor den Gefahren der nuklearen Bewaffnung warnten, haben Forscher aus Deutschland, den USA und anderen Ländern eine eindringliche Warnung vor biotechnologischen Experimenten mit pandemiefähigen Viren unterzeichnet. Sie unterstützen damit den Hamburger Physikprofessor Roland Wiesendanger, der die deutsche Öffentlichkeit vor den Gefahren der sogenannten „Gain-of-function“-Forschung gewarnt hat, aber bislang meist als Einzelkämpfer und Querulant abgetan wurde. Wiesendanger hat den internationalen Aufruf initiiert und organisiert. zur weltweiten Beendigung der hoch risikoreichen „Gain-of-function“-Forschung an Krankheitserregern mit weltweitem Pandemie-Potential Im Bewusstsein des Auftrags und der Verantwortung von Wissenschaft und Forschung, dem Wohle der Menschheit zu dienen, nach Wahrheit zu streben und die gewonnenen Erkenntnisse der breiten Bevölkerung zu vermitteln, möchten die Unterzeichner dieser Erklärung auf eine große Bedrohung für das menschliche Dasein aufmerksam machen, welche sich in den vergangenen Jahren durch neuartige biotechnische Verfahren zur Veränderung gefährlicher Krankheitserreger ergeben hat. Durch die sogenannte „Gain-of-function“-Forschung werden natürlich vorkommende Viren durch Veränderungen der Gensequenz so angepasst, dass ihr Andocken an und Eindringen in menschliche Zellen erleichtert wird. Dadurch entsteht ein enormes Potential einer Pandemie, auf welches verantwortungsvolle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den vergangenen zehn Jahren immer wieder hingewiesen haben. Solche Forschungsarbeiten wurden in den letzten Jahren an verschiedenen hoch gefährlichen Krankheitserregern wie Vogelgrippeviren und SARS-artigen Coronaviren durchgeführt, was in der Fachliteratur dokumentiert ist. Viele dieser Arbeiten entstanden auch im Rahmen öffentlich geförderter Forschungsprojekte. Die gegenwärtige Corona-Pandemie zeigt klar, was es heißt, wenn Krankheitserreger extrem leicht von Mensch zu Mensch übertragbar sind. Wir haben weltweit Millionen von Verstorbenen zu beklagen und Milliarden von Menschen sind in ihrer Existenz bedroht oder haben diese gänzlich verloren. Der enorme Schaden für die Menschheit entstand, obwohl die Sterblichkeitsrate des SARS-CoV-2 Virus lediglich im Prozentbereich liegt. Es gibt Hinweise darauf, dass in diversen Biotechnologielaboren der Welt sehr viel gefährlichere Viren wie MERS-, Ebola- oder Nipah-Viren gentechnisch manipuliert werden. Der Ausgang solcher Experimente ist oftmals schwer oder gar nicht vorhersagbar. Kein Biotechnologielabor der Welt ist jedoch sicher genug, um einen Austritt solcher gentechnisch veränderter Viren garantiert ausschließen zu können. Ein Katastrophenfall könnte für einen substantiellen Anteil der Weltbevölkerung tödlich enden, insbesondere, wenn eine Übertragbarkeit hochgefährlicher Viren über die menschlichen Atemwege durch gentechnische Veränderungen erleichtert wird. Lesen Sie auch zum Thema: Wir als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind uns der Bedeutung der Freiheit von Wissenschaft und Forschung bewusst. Dennoch appellieren wir an alle Politiker und Politikerinnen der Welt, dafür Sorge zu tragen, diese „Gain-of-function“-Forschung an Krankheitserregern mit weltweitem Pandemie-Potential umgehend zu beenden. Das mit dieser Forschung einher gehende Risiko und das Potential der Auslöschung großer Teile der Weltbevölkerung sind nicht weiter verantwortbar. Wir fordern, dass der Stopp durch eine unabhängige internationale Aufsichtsbehörde kontrolliert und kontinuierlich überwacht wird. Unabhängig von der Staats- und Regierungsform der Länder dieser Erde muss es das Anliegen jeder verantwortungsvoll handelnden Führungspersönlichkeit sein, zum Wohle der Bevölkerung des eigenen Landes, aber auch der Menschheit als Ganzes beizutragen. Der Mensch hat gelernt, in die molekularen Grundbausteine des Lebens einzugreifen. Daraus ergeben sich viele Chancen zur Verbesserung menschlichen Lebens, aber auch eine große Verantwortung zum Erhalt der Schöpfung. Nehmen wir diese Verantwortung ernst, bevor es zu spät ist. Roland Wiesendanger, Prof. Dr. Dr. h.c., Nanoscientist, University of Hamburg, Germany (Organizer) Hiroshi Arakawa, Dr., Institute of Molecular Oncology, IFOM, Milan, Italy Ute Bergner, Dr., Physicist, Jena, Germany Valentin Bruttel, Dr., Immunologist, University of Würzburg, Germany Colin Butler, Hon. Prof. Dr. Dr., Epidemiologist, Australian National University, Canberra, Australia Lounes Chikhi, Dr., Population Geneticist, CNRS, Paul Sabatier University, Toulouse, France Jean-Michel Claverie, Prof. Dr., Dept. of Medicine, Aix-Marseille University, Marseille, France Fabien Colombo, Communication and Sociology of Science, Université Bordeaux Montaigne, France Malcolm Dando, Prof. Dr., Section of Peace Studies and International Development, University of Bradford, United Kingdom Étienne Decroly, Prof. Dr., Member of the Board of Directors of the French Virology Society, CNRS Director of Research, AFMB lab, UMR7257, Aix Marseille Université, Marseille, France Gilles Demaneuf, Engineer and Data Scientist, Auckland, New Zealand Richard Dronskowski, Prof. Dr., Institute of Inorganic Chemistry, RWTH Aachen, Germany Lucia Dunn, PhD, Professor of Economics, The Ohio State University, Columbus, USA Frank Fehrenbach, Prof. Dr., Faculty of Humanities, University of Hamburg, Germany André Goffinet, Prof. Dr., Neurobiology, University of Louvain, Belgium Ingrid Gogolin, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Department of General, Intercultural and International Comparative Education & Educational Psychology, University of Hamburg, Germany Mai He, Prof. Dr., School of Medicine, Washington University, St. Louis, USA Martina Hentschel, Prof. Dr., Institute of Physics, TU Chemnitz, Germany Michael Hietschold, Prof. Dr., Institute of Physics, TU Chemnitz, Germany Burkard Hillebrands, Prof. Dr., Dept. of Physics, TU Kaiserslautern, Germany Florence Janody, Dr., i3S-Institute for Research and Innovation in Health, University of Porto, Portugal Bernd Kaina, Prof. Dr., Institute of Toxicology, University of Mainz, Germany Hideki Kakeya, Prof. Dr., School of Science and Technology, University of Tsukuba, Japan Bernd Kretschmer, Dr. h.c., Physicist, Freiburg i. Brsg., Germany Franz Kreupl, Prof. Dr., Dept. of Electrical and Computer Engineering, TU Munich, Germany Jonathan Latham, PhD, Executive Director, The Bioscience Resource Project, Ithaca, New York, USA Milton Leitenberg, Senior Research Fellow, Center for International and Security Studies, University of Maryland, USA Alexander Lerchl, Prof. Dr., Biology and Ethics of Science & Technology, Jacobs University Bremen, Germany Alexander Lichtenstein, Prof. Dr., I. Institute of Theoretical Physics, University of Hamburg, Germany Steven Massey, Prof. Dr., Dept. of Biology, University of Puerto Rico, San Juan, Puerto Rico Paul-Antoine Miquel, Prof. Dr., Contemporary Biology, Toulouse 2 University, France Sven-Olaf Moch, Prof. Dr., II. Institute of Theoretical Physics, University of Hamburg, Germany Michael Morrissey, Dr., Lecturer for English Studies, University of Kassel, Germany Peter Oppeneer, Prof. Dr., Dept. of Physics and Astronomy, Uppsala University, Sweden Anja Pistor-Hatam, Prof. Dr., Faculty of Arts and Humanities, University of Kiel, Germany Arnaud Pocheville, Dr., CNRS Researcher, Evolution and Biological Diversity Laboratory, Paul Sabatier University, Toulouse, France Steven Quay, MD, PhD, Former Facility, Stanford University School of Medicine, USA Monali Rahalkar, Dr., Microbiologist, Agharkar Research Institute, Pune, India Bahulikar Rahul, Dr., Plant Genetics and Taxonomy Expert, Development Research Foundation, Pune, India Jürgen Schmitt, Prof. Dr., Dept. of Physics, University of Hamburg, Germany Nariyoshi Shinomiya, Prof. Dr., President of the National Defense Medical College, Saitama, Japan Michael Stuke, Prof. Dr., Max Planck Institute for Biophysical Chemistry, Göttingen, Germany Günter Theißen, Prof. Dr., Geneticist, University of Jena, Germany André Thess, Prof. Dr., Engineering Sciences, University of Stuttgart, Germany Ronny Thomale, Prof. Dr., I. Institute of Theoretical Physics, University of Würzburg, Germany Michael Thorwart, Prof. Dr., I. Institute of Theoretical Physics, University of Hamburg, Germany Rémi Tournebize, Dr., Genetics and Human Evolutionary Biology, Instituto Gulbenkian de Ciência, Oeiras, Portugal Frank Wilhelm, Prof. Dr., Clinical Psychology, University of Salzburg, Austria Allison Wilson, PhD, Science Director, The Bioscience Resource Project, Ithaca, New York, USA Michael Winklhofer, Prof. Dr., Institute for Biology and Environmental Sciences, University of Oldenburg, Germany
Cicero-Redaktion
Ob die Corona-Pandemie ihren Ursprung in einem chinesischen Virenlabor hatte, bleibt nebulös. Virologen wie Christian Drosten hatten das bis vor kurzem als Verschwörungstheorie abgetan. Fest steht allerdings, dass in Wuhan gefährliche Gen-Experimente mit Krankheitserregern gemacht wurden. Internationale Wissenschaftler fordern nun einen weltweiten Stopp dieser hochriskanten „Gain-of-function“-Forschung. Wir dokumentieren ihren Aufruf.
[ "Coronavirus", "Wuhan", "Wissenschaft", "Ethik", "Christian Drosten" ]
außenpolitik
2022-02-21T12:18:53+0100
2022-02-21T12:18:53+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/hamburger-erklarung-2022-gain-of-function-wuhan-corona-drosten-wiesendanger
Gender-Dogma - Die Frauenquote entmündigt das weibliche Geschlecht
Obwohl nicht viele die Quote wollen, wird sie Frauen doch ständig als Verheißung eines besseren Lebens angedient. Warum wollen Politikerinnen das Selbstbewusstsein ihrer Wählerinnen kränken und sie im Wettbewerb mit Männern in Berufen, Medien und Wissenschaften als Unterlegene ausgeben? Die meisten Quotenanhängerinnen wollen nicht wahrhaben, dass die Fürsorglichkeit, die sie Frauen zugedacht haben, diese nur infantilisiert. Die Quote lebt von der Unterstellung, dass Frauen alleine es nicht schaffen. Deshalb brauchten sie früher den stützenden Ehemann und heute den Staat, der ihnen beim Aufstieg hilft. Die leistungsorientierte Konkurrenzgesellschaft könne demnach nichts für Frauen sein. Sondern nur für Männer. Das ist erschreckend deckungsgleich mit Ideologien um 1900. Der Neurologe Paul Möbius etwa hielt Frauen für schwachsinnig; sie seien für das Leben außerhalb der Familie schlicht untauglich. Sehen das die Quotenbefürworter heute noch genauso? Der Platz der Frau sei für immer und ewig zuhause, denn außerhalb der Familie holten sie sich nur Blessuren? Heute wird das durch eine beschützende Idee ergänzt: Der Arbeitswelt müsse der Stachel genommen werden, damit sich Frauen dort wohlfühlen können. Auf diese Idee kämen Männer wohl kaum, denn sie mussten stets alleine oder mit ihrer Gewerkschaft um bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Wenn Quotenpolitikerinnen das aber fordern, dann wollen sie nicht kämpfen, sondern Frauen „in gemachte Betten legen“. Im privaten Leben geschieht das bereits einverständlich. Jetzt wollen sie das in die öffentliche Sphäre der Berufe und Wissenschaften übertragen. Wenn Männer dazu schweigen, dann stimmen sie dem zu. Das Dogma, das Politikerinnen vor allem des linken Spektrums mit Hilfe paternalistischer Männer als zukunftsweisend ins Auge fassen, lässt sich auf den einfachen Nenner bringen: Männer sollen sich um Frauen sorgen – so wie in ihren privaten Beziehungen. Nicht die selbstbewusste und entschlossene Frau wird als Ideal vorgestellt. Es ist die nachsichtig zu fördernde, der alle Steine aus dem Weg geräumt werden müssen, damit es für sie aufwärts geht. Es ist die Rückkehr traditioneller Rollenbilder. Negativer Paternalismus Männer bestätigt dies in ihrer kindlichen Erfahrung. Vater und Mutter hielten ihre Zuständigkeiten strikt getrennt. Die Berufstätigkeit von Frauen war allenfalls ein Zubrot. So konnten Männer weiterhin sagen: Ich bin ein guter Mann, der für Frau und Kinder außerhalb der Familie die Letztverantwortung trägt, der Rücksichten übt, den Schutz vor Unbilden der äußeren Welt auf sich nimmt und sich selbst vernachlässigt. Es ist all das, was Männlichkeit in ein ergänzendes Verhältnis zu dem setzt, was sie wechselseitig mit ihrer Lebenspartnerin verbindet. Erstaunlicherweise scheint es diese herkömmliche, in Auflösung begriffene Welt zu sein, welche vor allem Quotenpolitikerinnen quer durch die Parteien heimlich vorschwebt, wenn sie von „Gleichstellung“ reden. Würde das wirklich zur Maxime, dann würden – wie vor gut 50 Jahren – Männer Frauen nicht nur den Vortritt an der Tür lassen, sondern der leistungsschwächeren Kollegin im Wettbewerb auch die begehrte Stelle im Vorstand überlassen. Obwohl der Job im harten Wettbewerb ihnen zugesprochen wurde. Diese neue Ritterlichkeit im Leistungswettbewerb wird allen Ernstes gefordert. In den USA nennen Frauen das „negativen Paternalismus“. Die Vision einer neuen Ritterlichkeitskultur beruht auf einer Unterstellung. Demnach hätten alle Männer sich dazu verschworen, Frauen am beruflichen Erfolg zu hindern. Dem widersprechen zwar die zahllosen Erfolge leistungsentschlossener Frauen. Dennoch wird an diesem Mythos festgehalten. Sein Vorteil ist, dass sich unter den meisten Männern damit nicht nur ein diffuses Unbehagen, sondern vor allem Schuldgefühle auslösen lassen. Denn nicht fürsorglich zu sein, widerspricht ihrem Anspruch an sich selbst. Lässt Männlichkeit in den Augen der Frauen zu wünschen übrig, dann trifft das viele Männer hart. Aus dem Bereich der „sexuellen Performance“ ist das gut bekannt. Doch oft wird übersehen, dass sich das auf das gesamte männliche Selbstverständnis erstreckt. Wer in feindseligen Klischees über „Männlichkeit“ verfangen ist, kann das nur schwer nachvollziehen. Frauen allerdings, die auf Hausverstand und Intuition setzen, wissen gut, dass sie am erfolgreichsten sind, wenn sie nicht von Vorwurfskultur reden, sondern Männer dezent auf ihre Ansprüche an sich selbst hinweisen. Das löst unter ihnen Unbehagen aus und Besserungswünsche. Was in Partnerschaften durchaus zum Alltag zählt, das haben die Anhänger der Vorwurfskultur in eine Strategie verwandelt. Im linken Spektrum findet diese sich ausdrücklich in der Satzung der SPD wieder. So gesehen war Gerhard Schröders Diktum vom Weiber-„Gedöns“ ein hilflos-aggressiver Versuch, sich vom Vorwurf freizuschwimmen, Frauen enttäuscht zu haben. An der Unterstellung, dass Männer Frauen im Beruf blockieren wollten, wird aber aus einem weiteren Grund festgehalten. Denn wer Verschwörungstheorien nachhängt, will der Realität nicht ins Auge blicken, weil sie böse Überraschungen bereit hält. Etwa die, dass die besonders gut ausgebildeten Frauen, bei vorhandenem hohen Lebensstandard und freier Berufswahl, frei darin sind zu bestimmen, welche Rolle die Arbeit in ihrem Leben spielen soll. Soll sie groß oder klein sein, vorübergehend, selbstbestätigend oder das Leben füllend? Frauen sind dabei freier als Männer. Aus zwei Gründen. Frauen heiraten nach oben, Männer nach unten Zum einen haben sie nicht wie Männer die lebenslange Letztzuständigkeit für die Familie am Vorbild des Vaters und der darauf bauenden Mutter internalisiert. Frauen können sich darauf verlassen, dass ihre Partner ihre Optionen zumeist unterstützen. Männer hingegen können den verinnerlichen Lebenskompass nur schwer aufgeben. Selbstverständlich wollen viele Frauen im Beruf Erfolg haben. Und den erarbeiten sie sich auch. Aber die Wissenschaft zeigt, dass Frauen auf Erfolg weniger aus sind als Männer: In der Schweiz interessieren sich etwa nur sechs Prozent der Arbeitnehmerinnen für einen Chefposten, wie eine Studie aus dem Jahr 2011 zeigt. Damit tut sich eine erhebliche Kluft zwischen der Aufstiegsmotivation von Männern und Frauen auf. In den USA entsteht eine neue Frauenbewegung, die das aufgreift und zu dem Motto verdichtet: Das Leben ist mehr als nur berufliche Arbeit! Vielen gilt das als konservativ, aber offenbar drückt es weibliche Vorlieben aus, die Männer sich nicht zu nehmen wagen. Diese Freiheiten zu wählen, ist das gute Recht der Frauen. Allerdings hat diese Freiheit einen zweiten Grund: Statusmäßig heiraten Frauen weiterhin nach oben und Männer nach unten. Das macht die Wahlfreiheit der Frauen vielfach erst möglich. Erst wenn sich daran etwas ändert, wäre diese Wahlfreiheit gefährdet. Doch dafür gibt es bisher keine Anzeichen. Darüber wollen Quotenpolitikerinnen nicht reden. Noch weniger darüber, dass es erforscht wird. Stattdessen führen sie ein unerfreuliches Spiel der letzten Dekaden fort: Männern die Schuld zuzuweisen. Das verdeckt die Wirklichkeit und macht das Agitieren leichter. Deshalb opfern Quotenpolitikerinnen auch lieber die Subjekthaftigkeit der Frauen, als dass sie die immer schärfer auseinander driftende Verteilung der Berufe in solche für Männer und solche für Frauen als Ausdruck von Lebensprioritäten von Frauen begreifen. Mit Diskriminierung hat das so gut wie nichts mehr zu tun. Gerhard Amendt ist Professor für Geschlechter und Generationensoziologie und Gründer des gleichnamigen Instituts an der Universität Bremen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem „Frauenquoten-Quotenfrauen“. Zuletzt erschien „Von Höllenhunden und Himmelswesen. Plädoyer für eine neue Geschlechter-Debatte“
Gerhard Amendt
Die Frauenquote in Aufsichtsräten soll nach den Willen der Großen Koalition ab 2016 kommen. Aus Sicht des Geschlechterforschers Gerhard Amendt ist die Quote aber das falsche Instrument: Sie infantilisiert Frauen, löst bei Männern Schuldgefühle aus und zementiert traditionelle Rollenklischees
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innenpolitik
2013-12-19T17:50:43+0100
2013-12-19T17:50:43+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/gender-dogma-warum-frauenquote-weiblich-geschlecht-entmuendigt/56700
Der letzte Sommer des Rock ’n’ Roll - Spielt es noch einmal!
Deep Purple in Rock, noch einmal Deep Purple in Rock. Die erhabenen Felsformationen der Alpen sind verhüllt, Wolken verdecken Eiger, Jungfrau und Mönch. 9000 Menschen haben sich am Fuße des Massivs versammelt, sind aus dem Tal mit der Zahnradbahn hinaufgefahren auf das Hochplateau, über ihnen die Wolken und die Berge, in ihnen die Vorfreude.Open-Air-Konzert auf der Kleinen Scheidegg im Berner Oberland. Saisonabschluss im Skigebiet. Die Passhöhe zwischen Eiger und Lauberhorn liegt 2061 Meter über dem Meeresspiegel. In einer Senke des Hochtals ist eine Bühne aufgebaut, nicht weit davon steht in einem Lockschuppen ein historischer Waggon der Zahnradbahn. Rot gepolsterte Stühle, vergoldete Leuchten, dunkle Holzverkleidung. Das Museumsstück dient als Garderobe für die Musiker. Eine Pistenraupe wird sie gleich zur Bühne bringen. ....
Thomas Winkler
Uhuuhuuu. Noch eine Zugabe. Und noch eine. Aber irgendwann geht das Licht aus. Was passiert, wenn die Väter und Mütter des Rock ’n’ Roll weg sind? Eine Reise zu den großen Alten einer Musikgeneration 
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kultur
2014-06-03T14:32:59+0200
2014-06-03T14:32:59+0200
https://www.cicero.de//kultur/der-letzte-sommer-des-rock-n-roll-spielt-es-noch-einmal/57702
Gegen das Gendern in der Verwaltung - Sprache soll einen, nicht spalten!
Aufmerksamen Beobachtern des politischen Diskurses in unserem Land wird auffallen, dass linke Identitätspolitiker immer häufiger versuchen, diesen zu vereinnahmen. Sie teilen die Menschen vor allem über äußere Merkmale wie das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung in einzelne Gruppen ein, deren vermeintliche oder tatsächliche Diskriminierung oder Privilegierung es zu bekämpfen gelte. Im Ergebnis würde die Politik kein Allgemeinwohl mehr kennen, nur noch die Partikularinteressen einer gespaltenen Gesellschaft. Wie so oft, wenn sich ideologisch motivierte Gruppen des öffentlichen Diskurses bemächtigen wollen, wählen die linken Identitätspolitiker zunächst das Feld der Sprache. Denn von der Sprach- zur Gedankenpolizei ist es – wie schon Orwell wusste – nur ein kurzer Weg. Ein scheinliberales Milieu möchte daher beispielsweise aus „Fußgängern“ „Zu-Fuß-Gehende“ machen, um das grammatische Genus vermeintlich verschwinden zu lassen. Dies treibt so seltsame Blüten wie „verunfallte Autofahrende“ – ein Widerspruch in sich. Anstatt von „Ärzten“ oder „Ärztinnen und Ärzten“ ist wahlweise von „Ärzt*innen“, „Ärzt_innen“ oder „Ärzt:innen“ zu lesen – Formen, die nicht von der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung gedeckt sind. In diesem Milieu entstehen Wortungetüme wie „Passivraucher*innenschutzverordnung“. Manche wollen sogar Wörter wie „Migrant“ oder „Einheimische“ in der Berichterstattung abschaffen. Diese Bemühungen lassen unsere Sprache verarmen – von ästhetischen Gesichtspunkten mal ganz abgesehen. Wenn etwa Substantive durch substantivierte Partizipien ersetzt werden, werden Unterschiede wie der zwischen einem Kochenden und einem Koch verwischt. Aber es geht eben nicht nur um die richtige Anwendung der deutschen Grammatik. Hinter der Gender-Sprache verbirgt sich ein identitätspolitisches Weltbild. Allgemeine Formulierungen sollen nicht mehr ausreichen, möglichst jede einzelne geschlechtliche Identität muss sichtbar gemacht werden, da die jeweilige Gruppe sich sonst angeblich nicht angesprochen fühlt. Weder das Gemeinsame in der Gesellschaft noch das einzelne Individuum stehen bei diesem Ansatz im Mittelpunkt, sondern es geht nur noch um äußere Merkmale und Gruppenidentität. Trotzdem greift die Gender-Sprache auch in Behörden, Universitäten, Schulen oder anderen staatlichen Einrichtungen immer weiter um sich. Studenten schreiben aus Angst vor schlechten Noten widerstrebend in der Gender-Sprache; Forscher, die etwa Anträge bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG stellen, fürchten Schwierigkeiten, wenn sie nicht alle Texte durchgendern; selbst in Schulen kommt es immer häufiger vor, dass Lehrer den Kindern mindestens nahelegen, zu gendern – trotz eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz, dass die amtliche Rechtschreibung zu lehren ist. Natürlich entwickelt sich Sprache ständig weiter, und selbstverständlich sollte jeder privat so sprechen und schreiben können, wie er möchte. Wenn aber staatliche Einrichtungen ohne jegliche Grundlage oder Legitimation anderen eine orthografisch und grammatisch fehlerhafte Gender-Sprache aufzwingen möchten, sollten in der bürgerlichen Mitte alle Alarmglocken schrillen. Im benachbarten Ausland hat man bereits erkannt, welches spalterische Potenzial in der Gender-Sprache liegt und dass sie der Bildung jüngerer Menschen schadet: Aus Frankreichs Schulen und Gesetzesblättern soll die Gender-Schreibweise daher verbannt werden. Auch bei uns warnen führende Intellektuelle wie der Historiker Andreas Rödder, der Philosoph Peter Sloterdijk oder der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor der spalterischen Gefahr, die von der Gender-Sprache für unsere Gesellschaft ausgeht. Auch eine klare Mehrheit der Deutschen lehnt die Gender-Sprache laut Umfragen ab und möchte sie sich schon gar nicht aufzwingen lassen. Sie alle wissen, dass die Gender-Sprache das wichtige Ziel der Gleichberechtigung in keiner Weise fördert. Wäre das so, müsste in Ländern mit genuslosen Sprachen wie Ungarn oder der Türkei die Diskriminierung von Minderheiten völlig unbekannt sein. CDU und CSU sollten sich in ihrem Regierungsprogramm daher klar auf die Seite der bürgerlichen Vernunft im Land stellen und Repräsentanten für die vielen Wähler im Land sein, denen dieses Anliegen wichtig ist. Ins Regierungsprogramm gehört das Versprechen, dass in allen Behörden, Schulen, Universitäten und anderen staatlichen Einrichtungen die amtliche Rechtschreibung und damit keine grammatisch falsche Gender-Sprache verwendet wird. Gerade die Jüngeren und Modernen in CDU und CSU haben erkannt, dass wir den Zusammenhalt in unserem Land nicht dadurch stärken, indem Menschen immer häufiger in Gruppen einsortiert werden. Wir brauchen stattdessen in unserer Gesellschaft mehr Empathie und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sprache sollte einen und zusammenführen, sie darf nicht ausschließen. Die bürgerliche Mitte muss daher auch in Deutschland einer spalterischen Identitätspolitik entschlossen entgegentreten.
Christoph Ploß
Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß will das Gendern in staatlichen Verwaltungen verbieten. In einem Gastbeitrag für „Cicero“ schreibt er, warum Behörden nicht auf diesen Zug aufspringen sollten. Die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Bettina Jarasch, wird ihm später an dieser Stelle Kontra geben.
[ "Gendern", "Verwaltung", "CDU", "Christoph Plos" ]
innenpolitik
2021-05-31T11:42:55+0200
2021-05-31T11:42:55+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/gendern-verwaltung-cdu-christoph-ploss-identitaetspolitik
Putin in Berlin - Dicke Bretter
Man könnte wieder einmal die viel strapazierte, banale Frage stellen: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wer nach Mitternacht im Kanzleramt dabei war, kann nur zu dem Schluss kommen: Es ist halb leer. Es ist wohl ohne Beispiel, dass die Regierungschefs der beiden größten europäischen Staaten einen Gast in dieser Form auf die Anklagebank setzen, der eine ihn als Verantwortlichen für Kriegsverbrechen bezeichnet und die Gastgeberin das unwidersprochen lässt. Da hilft auch alles andere nicht, was möglicherweise – aber eben nur möglicherweise – an diesem langen Abend in Berlin erreicht wurde. Ja, es war gut und richtig, dass der so oft in Reden beschworene Dialog mit Russland auf diese konkrete Weise wieder aufgenommen wurde. Und ja, man muss es Wladimir Putin zugutehalten, dass er selber gekommen ist und sich der Kritik gestellt hat. Er hat offensichtlich geglaubt, zu Angela Merkel zu reisen, sei das kleinere Übel. Mit den Deutschen zu sprechen, das komme gut, die redeten doch ständig davon, den Kontakt mit Moskau aufrechtzuerhalten. Er hatte François Hollande brüskiert, indem er seinen Besuch in Paris einfach absagte.  Um dann in Berlin doch wieder auf ihn zu treffen, wo  der französische Präsident prompt Russlands und damit Putins Rolle bei den barbarischen Bombardements in Aleppo erneut als Kriegsverbrechen brandmarkte – und Gastgeberin Angela Merkel zwar diesen Begriff nur allgemein ansprach, aber keineswegs beschwichtigte, sondern ebenfalls für ihre Verhältnisse unmissverständlich die Bombenangriffe als „unmenschlich“ bezeichnete und von einer „sehr klaren“ und „sehr harten Aussprache“ mit Putin berichtete. Zu den massiven Attacken auch auf Zivilisten sagte Merkel, sie könne „die Sinnhaftigkeit“ dieser Angriffe nicht erkennen. Was dann dazu führte, dass selbst ein hochrangiger russischer Teilnehmer hinterher meinte, beim Thema Syrien habe er keine Annäherung der Positionen feststellen können. Angela Merkel, deren Führungsrolle in Europa von vielen Staaten ebenso gefürchtet wie gleichzeitig als unverzichtbar empfunden wird, hat sich von Putin nicht auf eine deutsche Sonderrolle festlegen lassen und dessen Versuch, einen Spaltpilz zu installieren, abgewiesen. Sie hat Frankreich eingebunden, François Hollande hat den Ball dankbar aufgenommen und gleich noch einen draufgesetzt, als er davon sprach, sie beide handelten „im Namen Europas“. Das fiel umso leichter, weil beide Staatenlenker dann doch davor zurückschreckten, Moskau wegen Syrien konkret mit neuen Sanktionen zu drohen, was vor allem bei südlichen EU-Staaten auch kaum durchzusetzen wäre. Man solle sich der „Optionen nicht berauben“, sagte Merkel bloß, was erst mal nur als eine Beschwichtigungsformel für die Sanktions-Drängler auch in den eigenen Reihen zu verstehen ist. Bleibt der Konflikt, der irgendwie immer mehr am Rande mitläuft, obwohl er längst ebenfalls an die 10.000 Menschenleben gekostet hat und vor der deutschen Haustür stattfindet. Für die Lösung des Ost-Ukraine-Konflikts immerhin hat man einen neuen Fahrplan verabredet, mehr Truppenentflechtung, Schritte in Richtung einer politischen Lösung, sprich, Wahlen und die Regelung eines Sonderstatus für die umstrittene Region – vielleicht, vielleicht. Da muss die Regierung in Kiew ebenfalls liefern, die sich damit mehr als schwer tut. Die Außenminister sollen das jetzt in eine konkrete Form gießen, und zwar schon im November. Zu diesen Schritten hat sich auch Wladimir Putin hinterher öffentlich bekannt – und gleichzeitig dämpfend hinzugefügt, bei der dringlichen Regelung der humanitären Probleme, die vielen Menschen in der Ost-Ukraine besonders dringlich auf den Nägeln brennen, „haben wir leider nicht viel erreicht“. Angela Merkel sprach davon, es sei ein „dickes Brett, das wir bohren müssen“. Und dann noch: „Es ist aller Mühen wert.“ Wie wahr. Das Glas in Sachen Ukraine ist nicht mal halb voll, doch hat es sich – vielleicht – ein wenig mehr gefüllt. Eine nicht unwesentliche Fußnote am Rande: Über die Annektierung der Krim wurde anscheinend nicht gesprochen, keine Lösung gefordert. Dieser Fall ist offenbar nicht mehr der Rede wert. Damit ist klar: Für Wladimir Putin ist dieses Glas ganz voll.
Die Stimmung ist angespannt zwischen Europa und Russland, erst recht, seitdem der Waffenstillstand in Syrien gebrochen wurde. Das Gipfeltreffen zwischen Russlands Präsident Putin, Frankreichs Staatschef Hollande und Angela Merkel sollte eine Annäherung ermöglichen. Der Weg aber ist noch weit
[ "Angela Merkel", "Wladimir Putin", "François Hollande", "Syrien", "Konflikt" ]
außenpolitik
2016-10-20T13:23:15+0200
2016-10-20T13:23:15+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/putin-in-berlin-dicke-bretter
journal, belletristik, sachbuch – Die Wollust des Niederkniens
Dies ist das faschistischste Buch seit langem. Dass es zumindest stellenweise brillant ist, ist das Irritierende. Sein Autor ist E.M. Cioran, jener 1995 in Paris verstorbenen «Nietzsche unserer Tage» (Susan Sontag), der am 8. April 100 Jahre alt geworden wäre. «Über Deutschland» heißt jenes befremdliche Komplementärstück zum zuletzt erschienenen Band «Über Frank­reich». Bislang nur teilweise bekannte Frühschriften dieses großen, aus Rumänien stammenden Aphoristikers und Essayisten kann man hier entdecken. Von dessen Pathos der Skepsis und des Verneinens, das den seit 1937 in Paris lebenden Autor späterhin berühmt machte, ist hier noch nicht viel zu spüren. Vielmehr offenbaren die 25 erstmals auf Deutsch erschienenen Essays des jungen Rumänen vor allem einen vitalistischen Vernichtungswillen und unverhohlene Begeisterung für den Nationalsozialismus. «Es gibt keinen Politiker in der heutigen Welt, der mir größere Sympathie einflößte als Hitler», so beginnt der 22-Jährige im Juli 1934 seinen hymnischen Artikel für die rumänische Zeitschrift «Vremea»: «Die Führer-Mystik in Deutschland ist völlig gerechtfertigt.» Kurz und bündig: «Das Verdienst Hitlers besteht darin, einer Nation den kritischen Verstand geraubt zu haben.» Seinem Deuter offensichtlich auch. Wie kam es dazu? Von November 1933 bis Juli 1935 lebte Cioran als Student in Deutschland und berichtete darüber in rumänischen Zeitschriften. Dass Cioran damals der nationalfaschistischen und antisemitischen «Eisernen Garde» zuneigte – und womöglich sogar Mitglied war, wie der Herausgeber und Übersetzer Ferdinand Leopold andeutet –, ist bekannt. Diese Geheimbündler-Truppe versuchte den Umsturz in Rumänien durch Attentate und zugleich auf legalem Wege herbeizuführen. So erklärt sich der atavistische Erlösungsrausch, den Cioran später als den «schlimmsten Wahn seiner Jugend» bezeichnete. Damals sehnte er wie viele die gewaltsame Erneuerung einer als schlaff-liberal empfundenen Gegenwart herbei. In ersten altklug zusammengebrauten «Wir und Hegel»-Artikeln hatte bereits der 20-jäh­rige Bukarester Philosophiestudent Deutschland im Visier. Vor Ort entfaltet sich Ciorans Größenwahn dann zum pathetischen Delirium. Zeitgenössische Kultur-Klischees werden oft reproduziert; er bewundert das Naziregime, das «drei Viertel der anerkannten Werte brutal beseitigt, rasend verneint und dabei vor Enthusiasmus pulst».  Cioran freut sich über das Ende der Demokratie und das endlich angebrochene «Zeitalter des Irrationalismus». Ein eruptiver Höhepunkt ist das unscheinbar als Großstadtflaniererei zwischen Benjamin und Kracauer daherkommende Stück «Berliner Aspekte»: «Ich verspüre eine Wollust», bekennt darin der junge Mann, «zu beobachten, wie in Deutschland alle Welt dasselbe sagt, unabhängig von Bildung, Gesellschaftsschicht und Beruf.» Die «Tragödie einiger Einzelner» habe den Staat nicht zu interessieren. Wenige Tage später bekennt er «Abscheu vor dem Menschen»: «der Tod einiger Nullen» will ihn nicht beeindrucken; es sei gut, wenn man die «Menge von Schwachsinnigen» minimiere. So weit, so widerlich. Jugendsünden sind diese Tiraden sicherlich. Ihre Faszinationskraft allerdings wird nicht verhehlen können, wer sich der Zumutung einer genauen Lektüre aussetzt. Denn zum einen haben diese Texte Klassikerpotential, wenn die Anfälligkeit von Intellektuellen für den Nationalsozialismus belegt werden soll. Zum anderen entwickelt sich Ciorans Stil: Alsbald tauchen glasklare Formulierungen auf, der Rhythmus wird sicherer, die rhetorischen Mittel virtuoser – der 22-Jährige zeigt erstaunliche Begabungen. Trotz aller Begeisterung für den «Schrei nach Diktatur» bleibt er Beobachter, mit weitreichenden Einsichten: So vergleicht er die Terrorlust des Jahres 1933 mit der Lenins 1917 in Russland oder entdeckt bei «den Intellektuellen unserer Zeit eine sonderbare Unterwerfungswut, eine Notwendigkeit der Verblendung, eine Wollust des Niederkniens»; darin wurzele die heftige Leidenschaft für die Rechte oder Linke. «Der Diktator hat die Seele eines messianischen Henkers, von Blut und Himmel befleckt»: So falsch diese Hitler-Diagnose ist, wird man einem solchen Satz ästhetische Meisterschaft nicht absprechen können. Cioran ahnt zudem Vernichtungskämpfe: «Und wer weiß, ob die Lebenskraft dieses Volkes uns künftig nicht teuer zu stehen kommt.» Erst Jahre später in Paris wird Cioran zivilisiert werden und nach dem Krieg zu jenem Autor mutieren, dem die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller 1995 den Nachruf in der «taz» schreibt. «Meine krankhafte Bewunderung für Deutschland» hätte sein Leben vergiftet, so der schuldbewusste Cioran einmal: «Ich war dreiundzwanzig und verrückter als alle Welt.» In seinen frühen Schriften macht sich ein Junggenie auf den Weg, das sich zunächst schrecklich verrennt. Umso bewundernswerter ist Ciorans mühselige Selbstbefreiung aus diesem ideologischen Labyrinth. E.M. Cioran Über Deutschland Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp, Berlin 2011. 232 S., 17, 90 €
Er hat lange gebraucht, um sich aus diesem Labyrinth zu befreien: Frühe Schriften zeigen den rumänischen Schriftsteller E.M. Cioran als flammenden Bewunderer des deutschen Nationalsozialismus
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kultur
2011-04-20T14:23:27+0200
2011-04-20T14:23:27+0200
https://www.cicero.de//kultur/die-wollust-des-niederkniens/47363
Klimaschutz im Koalitionsvertrag - Ein Fuß auf dem Gas, einer auf der Bremse
Die Umweltstiftung WWF sieht Deutschland beim Klimaschutz im Rückwärtsgang. Germanwatch kritisiert, Deutschland werde vom „Vorreiter zum Mitläufer“. Am meisten enttäuscht die Klimaschützer, dass das von der SPD gewollte Klimaschutzgesetz nicht Teil des Koalitionsvertrags geworden ist. Stattdessen wollen Union und SPD einen unverbindlichen „Klimaschutzplan“ vorlegen. Tatsächlich sind die Klimaziele, die Deutschland auf europäischer Ebene unterstützen will, nicht besonders ambitioniert. In Brüssel soll bis 2030 eine Verminderung der Treibhausgasemissionen um „mindestens 40 Prozent“ im Vergleich zu 1990 unterstützt werden. Mit dieser geringen Vorgabe bliebe der europäische Emissionshandel bis weit in die 2030er Jahre lahmgelegt. Denn je bescheidener das Klimaziel ist, desto mehr CO2-Zertifikate, also Emissionsberechtigungen, kommen in den europäischen Emissionshandel. Rund zwei Milliarden Kohlendioxidzertifikate sind derzeit zu viel auf dem Markt. Dadurch liegt der CO2-Preis pro Tonne beständig unterhalb von fünf Euro. Das ist kein Anreiz für Unternehmen, in Energieeffizienz zu investieren. In Sachen Emissionshandel will sich Deutschland in Brüssel zwar nicht mehr wie bisher einem sogenannten Backloading verweigern. Demnach könnten 900 Millionen CO2-Zertifikate zunächst vom Markt genommen werden. Am CO2-Preis dürfte das wenig ändern, weil dann immer noch 1,1 Milliarden Zertifikate zu viel auf dem Markt sind und die 900 Millionen Tonnen CO2 gegen Ende der Handelsperiode doch wieder auf den Markt geworfen werden sollen. Ohne ambitionierten Emissionshandel muss Deutschland das im Koalitionsvertrag wiederholte Klimaziel von minus 40 Prozent CO2 bis 2020 im Vergleich zu 1990 über verstärkte Gebäudesanierung oder CO2-Einsparungen im Verkehr erbringen. Angesichts der auf deutsche Initiative stark verwässerten CO2-Grenzwerte für Autos ein schwer zu erreichendes Ziel. Die Einsparung von Energie ist im Koalitionsvertrag zwar prominent platziert, bleibt aber allgemein. Das Förderprogramm der KfW-Bank für die Gebäudesanierung soll „aufgestockt und verstetigt“ werden. Summen werden nicht genannt. Die schon in der vergangenen Legislaturperiode zwischen Bund und Ländern monatelang verhandelte steuerliche Abschreibungsmöglichkeit für energetische Sanierung wurde in der letzten Verhandlungsrunde aus dem Text gekippt. Man verspricht sich von Beratung eine Erhöhung der Energieeffizienz. Ohne wirkungsvollen Emissionshandel und mit der geplanten Begrenzung beim Ausbau erneuerbarer Energien dürfte es für Deutschland schwer werden, seine Klimaziele zu erreichen.
Dagmar Dehmer
Energiewende und Klimaschutz stehen in engem Zusammenhang. Welche Ziele stellt sich die künftige große Koalition auf dem Gebiet der Klimapolitik?
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innenpolitik
2013-12-02T08:54:07+0100
2013-12-02T08:54:07+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/klimaschutz-im-koalitionsvertrag-wider-deutschlands-klimaziele/56540
Offener Brief an Fridays for Future - Klimaschutz klappt nur mit Kernkraft
Seit drei Jahren streikt und demonstriert Fridays for Future (FFF) für eine Wahrnehmung der Klimakrise als eine existenzielle Bedrohung der Menschheit und fordert eine wirkungsvolle Politik ein, die der Einhaltung der Ziele des Pariser Abkommens und der 1,5-Grad-Grenze gerecht wird. Der klimapolitische Kurs in Deutschland wird zu Recht als nicht vereinbar mit den Zielen des Pariser Abkommens kritisiert. Gefordert werden sofortige Handlungsinitiativen, die die Treibhausgasemissionen „so schnell wie möglich stark“ reduzieren. In diesem Kontext fordert FFF unter anderem einen schnelleren Kohleausstieg (bis 2030), 100 Prozent erneuerbare Energien (bis 2035) und eine CO2-Steuer von 180 Euro pro Tonne. Leider schweigt FFF bisher zum Atomausstieg und seinen für den Klimaschutz in Deutschland gravierenden kontraproduktiven Konsequenzen. Da der Atomausstieg einer schnellen und deutlichen Reduktion der Treibhausgase in dieser Dekade entgegenwirkt und damit die Einhaltung eines mit dem 1,5-Grad-Ziels kompatiblen CO2-Budgets außer Reichweite bringt, die Reduktionslasten erhöht und weiter in die Zukunft verschiebt, ist dies ein mehr als problematisches Versäumnis. Es ist darüber hinaus wohl auch nicht mit der eigenen Forderung „nach absoluter Transparenz und faktenbasierten Aufklärung für alle Bürger*innen“ über alle klimarelevanten Maßnahmen vereinbar. Hier zunächst die Fakten zu wesentlichen klimarelevanten Effekten und Wirkungen des Atomausstiegs in Deutschland. 1. Der Atomausstieg hat eine deutlich weitergehende Reduktion der Treibhausgasemissionen verhindert Im Rahmen des deutschen Atomausstiegs sind mit der Abschaltung von 8,8 Gigawatt elektrischer Leistung im Jahr 2011 bis zum Jahr 2020 insgesamt 13 Gigawatt Kernkraftwerksleistung vorzeitig stillgelegt worden. Dies entspricht einem entgangenen Stromerzeugungspotenzial im Jahr 2020 von rund 94 Terawattstunden. Und die durch den Atomausstieg seit 2011 insgesamt entgangene CO2-arme Stromerzeugung aus Kernenergie beläuft sich auf rund 650 Terawattstunden. Die Stromerzeugung aus Wind und Photovoltaik stieg in diesem Zeitraum von 69,3 auf 185,5 Terawattstunden im Jahr 2020. Dieser Zuwachs der Erzeugung aus Wind und Photovoltaik konnte die kumulierte entgangene Stromerzeugung aus Kernenergie nur zu etwa 80 Prozent kompensieren. Im Jahr 2020 standen der Mehrerzeugung aus Wind und Photovoltaik in Höhe von 116,2 Terawattstunden eine durch den Kernenergieausstieg entgangene Stromerzeugung von 94 Terawattstunden gegenüber. Für die Treibhausgasemissionen ergibt sich aus diesen Zahlen also allenfalls ein Nullsummeneffekt der Substitution einer CO2-armen Stromerzeugung durch eine andere. Ein positiver Klimaeffekt war also mit dem Ausbau von Wind und Photovoltaik seit 2011 nicht verbunden. Ein Weiterbetrieb der 2011 vorhandenen Kernkraftwerke hätte die CO2-Emissionen im Jahr 2020 um rund 72 Millionen Tonnen senken können und das deutsche CO2-Budget wäre mit rund 500 Millionen Tonnen CO2 weniger belastet worden. 2. Der Atomausstieg verhindert eine schnelle Reduktion der Treibhausgasemissionen in dieser Dekade Ein mit dem 1,5-Grad-Ziel kompatibler Reduktionspfad ist nicht erreichbar. Die sechs derzeit noch betriebenen Kernkraftwerke sollen bis Ende 2022 abgeschaltet werden (drei Anlagen Ende 2021, drei Anlagen Ende 2022). Damit entfällt dann eine CO2-arme Stromerzeugung in Höhe von 65 Terawattstunden (11,5 Prozent der Gesamterzeugung in 2020). Um diese Strommenge klimaneutral zu ersetzen, wäre ein Zubau des 1,2- fachen der derzeitigen Photovoltaik-Anlagenleistung oder von rund 65 Prozent der Onshore-Windkapazität erforderlich. Ein Zubau von Wind und Photovoltaik zur Kompensation der Stromerzeugung aus den derzeit noch betriebenen Kernkraftwerken würde aber einige Jahre erfordern, mit zunächst wohl höheren CO2-Emissionen bis zum Ende der Kompensationszeit. Ein Treibhausgasreduktionspfad, der kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel ist, lässt sich mit dem Atomausstieg praktisch nicht erreichen. Die Verlängerung der Laufzeit der derzeit noch betriebenen Kernkraftwerke würde eine Reduktion von rund 45 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr ermöglichen. Dies wäre eine Reduktion, die den jährlichen CO2-Emissionen aller Diesel-Pkw in Deutschland oder den gesamten Emissionen der Eisen- und Stahlindustrie entspricht. 3. Die Einhaltung Paris-kompatibler CO2-Budgets ist beim Atomausstieg praktisch außer Reichweite Der Atomausstieg verhindert eine deutlich schnellere und weitergehende Reduktion der CO2-Emissionen in den kommenden Jahren und trägt damit zu einer schnelleren Ausschöpfung unseres CO2-Budgets bei. Diese Belastungen des CO2-Budgets lassen sich anhand der durch eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke vermeidbaren CO2-Emissionen quantifizieren. So würde eine Laufzeitverlängerung um zwölf Jahre zur Vermeidung von rund 540 Millionen Tonnen CO2 im Zeitraum bis 2035 führen. Dies entspricht 13 Prozent des 1,5-Grad-Emissionsbudgets von 4.200 Millionen Tonnen CO2. Bei Nichtnutzung dieses CO2-Reduktionspotenzials ist die Einhaltung des CO2-Budgets praktisch außer Reichweite. Selbst die in der Wuppertal-Studie skizzierte Transformation zu einem CO2-neutralen Energiesystem im Jahr 2035 würde, unabhängig von ihrer Machbarkeit, die Einhaltung des 1,5-Grad-Budgets nicht ermöglichen. Neben diesen für die Senkung und Begrenzung der Treibhausgasemissionen in Deutschland kontraproduktiven Wirkungen sind mit dem Atomausstieg auch noch höhere Kostenbelastungen für die Bürger und die Wirtschaft verbunden. Bei einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke ließen sich nicht nur jährlich 45 Millionen Tonnen CO2 vermeiden, sondern auch die Kosten der Elektrizitätsversorgung würden um zwei bis drei Milliarden Euro pro Jahr geringer ausfallen. Darüber hinaus würde mit der Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke eine gesicherte, regelbare Leistung von 8,5 Gigawatt zur Verfügung stehen, was einen wesentlichen Beitrag für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit bedeutet. Kann man als Bewegung, die wirksame Anstrengungen zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad einfordert und generationenübergreifende Klimagerechtigkeit anmahnt, den Atomausstieg und seine gravierenden Folgen für den Klimaschutz in Deutschland unter dem Deckmantel des Schweigens verstecken, ohne damit sein eigentliches Anliegen und seine Glaubwürdigkeit zu gefährden? Wenn es dann noch so ist, dass eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke die einzige Klimaschutz-Sofortmaßnahme ist, die die CO2-Emissionen schnell, wirksam und deutlich reduziert und die Kostenbelastungen des Klimaschutzes minimiert, dann ist die Laufzeitverlängerung doch eine zielkonforme Maßnahme, die in den Forderungskatalog von Fridays for Future aufzunehmen ist. Der Slogan „Science not Silence“, der bei Demonstrationen von FFF-Aktivisten zu sehen war, müsste doch auch für das Thema Kernenergieausstieg gelten. In diesem Kontext sei dann auch noch an das Zitat von Molière erinnert, das den Forderungen zum Klimaschutz von Fridays for Future vorangestellt ist: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“
Prof. Dr.-Ing. Alfred Voß
Wie kann man als Bewegung, die das 1,5-Grad-Ziel einfordert und generationenübergreifende Klimagerechtigkeit anmahnt, den Atomausstieg und seine gravierenden Folgen für den Klimaschutz ignorieren? Ein offener Brief an Fridays for Future.
[ "Klima", "Klimawandel", "Klimastreik", "Atomkraft", "Fridays for future", "Energie" ]
wirtschaft
2021-09-28T15:31:29+0200
2021-09-28T15:31:29+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/offener-brief-an-fridays-for-future-klimaschutz-klappt-nur-mit-kernkraft-alfred-voss
NS-Opfer Coppi - Das Kind des Widerstands
Dieser Text ist eine kostenfreie Leseprobe aus der März-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie das Monatsmagazin für politische Kultur kennerlernen wollen, empfehlen wir Ihnen unser Testabo. Hier bestellen Dreieinhalb Wochen nach Hans Coppis Geburt wird sein Vater ermordet. Nur einmal hat er den Sohn sehen dürfen, begrüßen, bestaunen, berühren. Das Papier, in dem der Mord am Vater dokumentiert wird, ist voller Nummern und Kürzel. Geheime Kommandosache! 21 Abdrucke. Reichskriegsgericht, 2. Senat. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage wird der Mann, der gerade eben Vater geworden ist, zum Tode verurteilt. Am 19. Dezember 1942. Acht Monate nach Hans Coppis Geburt wird seine Mutter hingerichtet. Sie hat ihn im Gefängnis noch stillen dürfen. Dann wird ihr der Sohn genommen.Und dem Sohn die Mutter. Der Beschluss, der dazu führt, dass der Junge ein Waisenkind wird, ist auf zwei Schreibmaschinenseiten festgehalten. Gnadensachen. 17 Verurteilte. Führerhauptquartier, 21. Juli 1943: „Ehefrau Hilda Coppi, Urteil vom 20. 1. 1943, wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen.“ Vor ihren Namen ist handschriftlich ein Häkchen gesetzt worden. Es stammt von Adolf Hitler, er hat das Papier selbst unterzeichnet und damit ihr Gnadengesuch abgelehnt. Systematisch hat er die Liste seiner Gegner abgehakt, Name für Name, Leben für Leben. Hans Coppi steht in seiner Wohnküche, die Sonne scheint herein. Berlin-Mitte, ein kleiner Plattenbau, sechster Stock. An der Wand hängen Gemälde, Stillleben und eine Landschaft, die Stimmung angenehm ruhig, die Farben gedeckt, die Töne gebrochen. Seine Frau ist Galeristin. Er ist ein schlaksiger Mann. Schwarze Jeans, kariertes Hemd, die Haare eher braun als grau. Er sieht etwas jünger aus als seine 71 Jahre, nicht nach dem Geburtsjahr 1942, in dem er in Berlin im Gefängnis zur Welt kam. Sein Gesicht hat eine gesunde Farbe, um die Augen liegen Kränze aus Lachfältchen. Er gießt Orangensaft ein. [[{"fid":"63017","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":400,"width":345,"style":"height: 139px; width: 120px; margin: 5px 7px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Die Eltern gehörten zu einem Freundeskreis, den Hitlers Geheime Staatspolizei zur sogenannten Roten Kapelle zählte. Es war ein Sammelbegriff der Nazis für Widerstandsgruppen in Berlin, Brüssel und Paris, teilweise waren ihre Mitglieder befreundet, teilweise standen sie gar nicht miteinander in Verbindung. Sie verfassten Flugblätter und nahmen Kontakt mit dem kommunistischen Russland auf. Wie die Weiße Rose oder die Offiziere um Claus Schenk Graf von Stauffenberg wollten sie Hitler stürzen. Mehr als 50 Menschen, die von den Nazis als Mitglieder der Roten Kapelle verhaftet wurden, starben. Was ist ein Verräter? Hans Coppi spricht behutsam. Er ist sich seiner Sache sicher, er will nur genau sein. „Edward Snowden, Bradley Manning – da haben meine Eltern etwas ganz Ähnliches gemacht: Geheimnisse weitergegeben und Dinge angeprangert.“ [[{"fid":"63018","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":417,"width":345,"style":"height: 145px; width: 120px; margin: 5px 7px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Was für ein Vergleich. Obama hat doch nichts mit Hitler gemein. Aber es geht Coppi ja auch gar nicht um einen direkten Vergleich, sondern um Begriffe, auf die er einen besonderen Blick hat und die auch heute noch benutzt werden: Landesverräter, Kriegsverräter, Hochverräter. Wer wird wann von wem so genannt? Die Frage, was Heldentum ist und was Verrat, möchten immer und überall die Mächtigen bestimmen. Hans Coppi beschäftigen die Begriffe ein Leben lang, weil seine Eltern beides genannt wurden. In der DDR galten sie als Helden, als Verräter im Westen Deutschlands. Auch noch lange nach Kriegsende, denn der Antikommunismus beherrschte dort den Blick auf das Gestern. Und heute werden also Snowden und Manning von den USA als Verräter verfolgt. Wenn das Wort in der Gegenwart auftaucht, sucht Coppi Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit. Er will seine Eltern und ihre Geschichte aus jedem Blickwinkel heraus betrachten und sie verstehen: als Menschen, nicht als Figuren. Er will ihnen näher kommen. Die Geschichte von Hans Coppi ist auch eine über die Suche eines Sohnes nach Vater und Mutter. Als sie starben, war es für ihn zu früh, etwas im Gedächtnis zu behalten. Seine Erinnerung beginnt später. Er wächst bei den Großeltern auf. Das Sagen hat Frieda, die Mutter seines Vaters, starke Arme, das Haar nach hinten gesteckt. Der Junge weiß vom Tod der Eltern. Die Großmutter erzählt Geschichten aus deren Leben: Dass sie alle in der Kleingartenkolonie Waldessaum wohnten, dass sie dort einen Eisladen führten, dass einmal die Katze etwas vom Essen stibitzte. „Aber der Schluss ihres Lebens hat immer die Erzählung überlagert“, sagt er heute. In der ersten Klasse fragt der Religionslehrer, wer an seinem Unterricht teilnimmt. Als Hans ablehnt, erwidert der Lehrer, er werde mal mit den Eltern sprechen. „Ich habe keine Eltern mehr“, sagt der Junge. „Meine Großeltern glauben auch nicht an Gott. Weil, wenn es einen geben würde, hätte ich meine Eltern noch." Viele Jahrzehnte später liegt auf dem Tisch in der Wohnküche im sechsten Stock eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Hans Coppi sieht sie sich an. Das Foto zeigt ihn in einem Garten, Lederlatzhose, die Haare gut gekämmt. Es muss der Gedenktag für die Opfer des Faschismus im September gewesen sein. Der Junge hält einen Blumenstrauß, im Hintergrund ist eine Gedenktafel mit den Namen seiner Eltern zu sehen. Der Nachbarsjunge reicht ihm die Hand. Als ob er ihm sein Beileid ausspricht. Hans hat sich ein wenig zur Seite gedreht. Verlegen sieht er aus, fast beschämt. Er trägt den Namen seines Vaters. Hans Coppi, der Sohn von Hilde und Hans Coppi, ihr Erbe. Sie wohnen in Ostberlin. Wenn der Junge Kirschen klaut, sagt die Großmutter: „Hans, du musst daran denken, dass deine Eltern bekannt sind.“ Mit 13 stößt er auf ein ihm gewidmetes Buch. Die Journalistin Elfriede Brüning hat es 1949 veröffentlicht, es heißt: „Damit du weiterlebst“. Seine Eltern sind Helden in dem Buch, es ist ein Roman und dann wieder nicht. Denn Brüning zitiert seitenweise aus Briefen, die Hans und Hilde Coppi im Gefängnis einander und ihren Eltern schrieben, sie hat sie von der Großmutter bekommen. „Werdet, soweit es angeht, glücklich mit unserem Kind, das einer großen Liebe entsprossen ist“, schreibt Hilde Coppi am Tag ihrer Hinrichtung an ihre Mutter. „Diese große Liebe, die uns vereint hat, geben wir jetzt weiter an Euch, Eure Hilde.“ Brüning arbeitet aber nicht nur mit den Briefen. Sie hat auch Zitate erfunden, die oft theatralisch klingen. An einer Stelle legt sie Hilde Coppi einen ungeheuerlichen Satz in den Mund: „Vielleicht werde ich das Kind eines Tages um unserer Sache willen opfern müssen.“ Hans Coppi sagt heute, das Buch habe ihn damals verstört. Als er es vor zwei, drei Jahren noch einmal las, habe er sich geärgert. „Da find ich meine Mutter nicht wieder. Meine Eltern wollten weiterleben.“ 5.  August 2013, kurz nach 17 Uhr. Hans Coppi steht vor einem Mietshaus in Berlin-Kreuzberg, auf den Tag genau 70 Jahre, nachdem seine Mutter im Hinrichtungsschuppen von Plötzensee starb. In dem Mietshaus hat Ursula Götze gewohnt. Sie wurde am selben Tag ermordet, zwölf Minuten vor Hilde Coppi. Die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, deren Vorsitzender Coppi ist, hat zu einer Gedenkfeier eingeladen. 50 Leute versammeln sich, eine Frau hält eine blau-weiß-rote Fahne der Vereinigung, ein Fernsehteam vom Rundfunk Berlin-Brandenburg dreht Bilder. Coppis Frau Helle ist auch da, im Vorgarten blühen gelbe Blumen. Hans Coppi steht vor einem Mikrofonständer. Er hält sein Manuskript mit beiden Händen fest. Er spricht über Ursula Götze und die anderen. Ein Mann schiebt sein Mountainbike aus dem Hauseingang, ein junges Paar mit zwei Eistüten schlendert vorbei, eine Feuerwehr rast die Yorkstraße entlang, das Martinshorn gellt. Coppi presst die Lippen zusammen. Er wartet. Irgendwann ebbt der Lärm ab. „Heute würde man die Frauen und Männer Whistleblower nennen“, sagt er ins Mikrofon. „Das war kein Landesverrat.“ Die Begriffe Verräter und Whistleblower sind wie ungleiche Brüder. Der eine ist böse, der andere gut. Der eine verletzt das Vertrauen, ist illoyal, beschmutzt das eigene Nest. Der andere bläst die Trillerpfeife, schlägt Alarm, gibt Geheimnisse preis, um ein Verbrechen aufzudecken, um weitere zu verhindern. Für den Whistleblower gibt es im Deutschen kein präzises Wort. Coppi, vor dem Mietshaus, nennt den Namen Edward Snowdens, dessen Enthüllungen das Ausmaß der Überwachung durch die USA zeigen. Er fordert ein dauerhaftes, sicheres Bleiberecht für ihn. Als er fertig ist und die Lesebrille in die Brusttasche steckt, zittert seine Hand. Er müsste das nicht machen, nicht an diesem Tag. Aber er will nicht, dass andere seine Eltern und ihre Freunde erklären. Davon hat er genug. Als er in Ostberlin aufwächst, ist die Rote Kapelle im Westen Deutschlands verhasst: Ihre Mitglieder gelten als kommunistische Spione, die kriegswichtige Geheimnisse von Hitler-Deutschland an Stalins Russland gefunkt haben. Ein Krieg im Äther. Eine rote Vereinigung, an der Spitze Harro Schulze-Boysen, Oberleutnant im Luftfahrtministerium, und Arvid Harnack, Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, dirigiert von Strategen in Moskau. Die Schlachten im Osten – verloren wegen feindlicher Spione im eigenen Land. Es ist eine Art neue Dolchstoßlegende. Nach dem Krieg hat Hans Coppi mit seinen Großeltern noch eine kurze Zeit in Tegel gewohnt, im Westteil Berlins. Dort wird gleich nach dem Krieg die Hatzfeldt­allee in Hans‑und‑Hilde‑Coppi‑Allee umbenannt. Aber bald wird das wieder rückgängig gemacht: Nach Verrätern darf keine Straße heißen. Die Coppis ziehen in den Osten. Das Bild von den roten Verrätern entspringt den Berichten der ehemaligen Geheimpolizisten, der Staatsanwälte und Richter. Als sie noch herrschen, haben sie ein Interesse, ihren Ermittlungserfolg so groß wie möglich erscheinen zu lassen. Als der Führer besiegt ist, wollen sie sich damit rechtfertigen. Hitlers Chefankläger Manfred ­Roeder verbreitet im Westen seine Sicht. Er ist der Mann, der Hans und Hilde Coppi angeklagt hat. 1951 druckt der Stern eine Artikelserie über die Rote Kapelle. „Rote Agenten unter uns“, lautet der Titel. Es erscheint auch ein ausführlicher Brief ­Roeders an den Herausgeber Henri Nannen. Darin klagt der Täter seine Opfer noch einmal öffentlich an. Es ist die Zeit, als die Bundesrepublik aufgebaut wird, als sich noch deutsche Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft befinden. Der Kalte Krieg hat längst begonnen. Bis zum ersten Auschwitz-Prozess wird es noch über zehn Jahre dauern. Die Justiz schont viele Verbrecher des Naziregimes, auch Ermittlungen gegen ­Roeder werden eingestellt. Verrat ist Verrat, ganz gleich, ob er sich gegen ein verbrecherisches Regime richtet, so geht die Logik. So argumentiert auch ­Roeder. Im Stern schreibt er, in den USA drohe Spionen doch auch die Todesstrafe. Alle Kulturstaaten bestraften schließlich den Verrat. „Kulturstaaten“ – er benutzt tatsächlich dieses Wort. 1952 veröffentlicht ­Roeder eine Broschüre zur Roten Kapelle, in der er schreibt: „Wie viele Witwen und Waisen des Krieges werden die Frage stellen, wurde auch dein Liebstes Opfer des Krieges im Äther?“ Die Antwort liefert er selbst: Die deutsche Abwehr sei von 200 .000 Opfern der Spione ausgegangen. Die Schuldzuweisung gehört zum Gedankenkonstrukt des Verrats: Der Blick wird auf unschuldige Opfer gelenkt, die Motive der Verräter geraten in den Hintergrund. Es ist eine Technik, die Geheimdienste bis heute anwenden.­Roeder, den Hitler vor Kriegsende zum Generalrichter befördert hatte, wird später in Glashütten im Taunus in den Gemeindevorstand gewählt. Noch bis kurz vor seinem Tod 1971 unterzeichnete er mit „Generalrichter a. D.“ Erst 2009 wird der Bundestag alle Urteile der NS-Justiz wegen Kriegsverrats aufheben. 64 Jahre nach dem Ende des Krieges werden die Menschen, die sich gegen Hitler auflehnten, endlich doch rehabilitiert. Als Hans Coppi aufwächst, hört er, dass ­Roeder unbehelligt im Westen lebt. Greta Kuckhoff, für die der Jurist das Todesurteil gefordert hatte, erzählt ihm davon. Ihr Mann, der Dichter Adam Kuckhoff, starb in Plötzensee ebenfalls am 5. August 1943, 18 Minuten vor Hilde Coppi. Greta Kuckhoff kannte die Coppis gar nicht. „Sie hat ja meine Mutter nur einmal gesehen“, sagt der Sohn in seiner Wohnung in Berlin. „Als sie vom Alexanderplatz zur ersten Vernehmung mit dem ­Roeder gefahren sind.“ Er spricht noch behutsamer, wenn er so etwas erzählt. Mal macht er lange Pausen, dann zieht er das Sprechtempo an, als wolle er rasch ein anderes Thema erreichen. Er wirkt, als liege ein frischer Schmerz unter einer sehr dünnen Schicht. Er weiß das. „Eine Hornhaut ist nicht gewachsen“, sagt er. „Gut, ich habe ja schon oft über sie gesprochen. Aber es berührt mich immer noch. Stärker als früher.“ In den fünfziger Jahren ist Greta Kuckhoff Präsidentin der Notenbank der DDR. Sie wird Hans Coppis Vormund. Die Wochenenden mit ihr bedeuten ihm neue Horizonte, sie liest ihm Homer und Boccaccio vor. Wenn sie über Harro und Libertas Schulze-Boysen spricht, über Arvid und Mildred Harnack, über seine Eltern, dann klingt das menschlich. Dann sind sie für den Moment keine unerreichbaren Helden.Aber er ist der Heldensohn. Das System macht ihn dazu. In der DDR sind Antifaschisten Märtyrer, ihrer wird mit ­Fackeln gedacht, mit Fahnenappellen und flammenden Opferschalen. Als er 25 ist, schreibt Hans Coppi einen Artikel in der Jungen Welt, der auflagenstarken Zeitung der FDJ. Er berichtet, sein Vater sei 1,96 Meter groß gewesen. „Den Langen möchte ich euch vorstellen. Es ist Hans Coppi, mein Vater.“ Er schreibt, wie der Vater auf der Berliner Schulfarm Scharfenberg eine Gruppe des Kommunistischen Jugendverbands gründete, wie ihn ein Schulfreund mit Harro Schulze-Boysen bekannt machte, wie er der Funker der Widerstandsgruppe wurde. Auch der Sohn gibt den Eltern eine wichtige Rolle im Krieg. „Sie halfen der Roten Armee, sich besser auf den Aggressor einzustellen und den Vormarsch der Faschisten zu stoppen.“ Er wiederholt in dieser Zeit, was andere über seine Eltern sagen. Er übernimmt das fremde Bild und zieht eine gerade Linie von den Kommunisteneltern zum Sozialistensohn. Natürlich wird er SED-Mitglied. In den sechziger Jahren darf er nach Westberlin zu einer Gedenkveranstaltung fahren. Er nutzt die Gelegenheit, um Harald Poelchau in Zehlendorf zu treffen, den Gefängnispfarrer, der vor der Hinrichtung für seine Eltern da war. Poelchau erinnert sich nicht an Details. Er hat so viele Menschen in den Schuppen in Plötzensee begleitet. [[{"fid":"63020","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":491,"width":345,"style":"height: 199px; width: 140px; margin: 5px 7px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Mit Ende zwanzig begegnet Hans Coppi Vater und Mutter im Kino. Ein Defa-Spielfilm in Starbesetzung, Premiere im Kosmos an der Karl-Marx-Allee. Der Film heißt „KLK an PTX“, das sollen die Rufzeichen gewesen sein, mit denen sich die Rote Kapelle bei ihren Agentenführern meldete. Der Funker im Film, das ist sein Vater Hans Coppi, treu und zuverlässig, Stimme und Ohr der Berliner Kommunisten. Seine Eltern küssen sich in einer verschneiten Landschaft. In der gemeinsamen Wohnung sitzt der Vater mit Kopfhörern. Er tippt die Morsetaste, unablässig, der rote Pianist in der Roten Kapelle. Sein Gerät blinkt und piept und sendet und blinkt. Die Informationen fließen nach Moskau. „Das Ausmaß ist unvorstellbar, die Wirkung ist verheerend“, sagt ein Mann von der Gestapo. In der DDR-Darstellung ist die Rote Kapelle so mächtig wie im Westen, nur nicht böse, sondern gut. Verräter und Helden. In beiden Begriffen steckt die Vorstellung, dass ein Mensch einem Land gehört, einer Regierung oder einer Sache.Mitte der achtziger Jahre ist Hans Coppi selbst Vater, er hat drei Töchter. Aus dem Außenhandel ist er in die SED-Bezirksleitung gewechselt. Er soll in Betrieben herausfinden, was die Arbeiterschaft denkt, um daraus Argumentationen abzuleiten. Doch er stellt fest, dass die Oberen gar keine Meinungen von unten hören wollen. Er hadert. Ein Freund seines Vaters spricht ihn an, Heinrich Scheel, Historiker und Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ob er nicht nachforschen will, wie das mit der Roten Kapelle im Detail war? Scheel richtet eine Forschungsstelle ein. Dort fängt Coppi an. Es ist der Beginn einer systematischen Suche nach den Spuren seiner Eltern. Er sichtet Dokumente, gleicht Daten ab, betrachtet Fotos. Die DDR geht unter, Coppi macht weiter. Er promoviert an der Technischen Universität in Westberlin mit einer biografischen Studie über den Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen. Er stößt auf Widersprüche. Das Funkgerät seines Vaters soll auf eine Empfangsstation in Minsk ausgerichtet gewesen sein. Aber Minsk hatten die Deutschen schon Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion erobert. Er fährt nach Moskau, er sucht die Funksprüche des Vaters. Es gibt andere, aus Brüssel, aus der Schweiz, aber nicht aus Berlin. Ein Mann vom Geheimdienst in Moskau schaut für ihn nach, aber da ist nichts. Nur eine Testmeldung vom 26. Juni 1941: „Tausend Grüße allen Freunden!“ Kann das stimmen? Aber warum sollten die Russen den Erfolg ihrer Verbündeten in Berlin kleinreden? Ein erfolgreiches Spionagenetz in Hitlers Hauptstadt, das wäre doch die ruhmreichere Geschichte in den Annalen des Geheimdiensts.Coppi sucht immer weiter. Er findet Fotos von Ausflügen, vom Zeltplatz, von Touren mit dem Faltboot. Er sieht ein glückliches Leben, nicht nur einen schrecklichen Tod. Endlich sind sie nicht mehr nur die Ikonen, deren Gesichter die DDR auf Briefmarken druckte. In einer Karteikarte des Naziapparats ist die Körpergröße seines Vaters vermerkt. Der Lange maß gar nicht 1,96, sondern bloß 1,86 Meter. Hans, der Vater, war nur so groß wie Hans, der Sohn. Er kommt ihm auch dadurch näher, fast auf Augenhöhe. Er recherchiert Details, veröffentlicht Studien. Seine Arbeit bringt ihn in die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, in der die Rote Kapelle seit 1987 behandelt wird und zu einem Forschungsschwerpunkt geworden ist. Er gewinnt den Eindruck, dass seine Eltern nicht von Aufträgen aus Moskau lebten, sondern dass sie von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen angetrieben wurden. Er findet einen Zettel, den die Widerstandsgruppe an Hauswände klebte. Die Nazis hatten in der Ausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten den Feind verächtlich gemacht. Auf dem Klebezettel stand: „Das Nazi-Paradies – Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo. Wie lange noch?“ Nur eine Zettelaktion, aber kein Mythos, kein Gerücht. Und eine Zettelaktion gegen Hitler ist 1942 sehr viel. Das Geschichtsbild hat sich verändert. Die Verräter sind Menschen, die sich von der Mehrheit in Nazideutschland unterschieden. Sie waren anders. Hans Coppi hat Anteil an dem neuen Bild. Er spricht an Schulen und erzählt den Schülern von seinen Eltern. Er macht das gern, vor Kindern fällt es ihm leichter als sonst. Hans Coppi sitzt an seinem Küchentisch, auf dem Tisch das Foto von dem Jungen mit dem Blumenstrauß in der Hand. Wenn seine Eltern nicht mehr als Verräter verunglimpft werden, bleibt dann das Heldenbild? „Als Helden und Märtyrer waren sie mir immer sehr entrückt“, sagt er. Jetzt sind sie einfach seine Eltern geworden, Vater und Mutter. Zum Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler zeigt das ZDF die sehenswerte Dokumentation „Die Kinder des 20. Juli“. Darin reden die Kinder und Enkelkinder der Widerstandskämpfer erstmals über ihre traumatischen Erlebnisse. ZDF, Sonntag, 20. Juli 2014, 23.25 Uhr. Weitere Infos hier Dieser Text ist eine kostenfreie Leseprobe aus der März-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie das Monatsmagazin für politische Kultur kennerlernen wollen, empfehlen wir Ihnen unser Testabo. Hier bestellen
Georg Löwisch
Wenn sich das Attentat auf Hitler am 20. Juli zum 70. Mal jährt, gilt das Gedenken allen Widerstandskämpfern des Dritten Reiches. Auch Hans Coppi wird um seine Eltern trauern: Er wurde Waisenkind, als er noch ein Baby war. Die DDR erklärte ihn zum Heldensohn, die Bundesrepublik zum Sohn von Verrätern. Aber er wollte wissen, wer seine Eltern wirklich waren
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innenpolitik
2014-07-18T11:14:04+0200
2014-07-18T11:14:04+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/reportage-ns-opfer-hans-coppi-kind-des-widerstands/57945
Contra - Die Vermögenssteuer gefährdet Arbeitsplätze
Die Besteuerung von Wohlhabenden ist wieder einmal Gegenstand politischer Diskussionen. Im Kern steht hierbei die Frage, ob Reiche genug zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Vorschläge gibt es viele: die Wiederbelebung und Umgestaltung der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe, die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie die Anhebung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer und des Abgeltungssteuersatzes. Selbst wenn man für eine umfassendere Umverteilung ist und zudem den zusätzlichen Finanzierungsbedarf des Staates anerkennt, muss doch genau analysiert werden, wer demnach „reich“ ist und was im Detail besteuert wird. Einkommen und Vermögen sind dabei zu unterscheiden. Einkommen kann konsumiert oder zum Aufbau von Vermögen, etwa in Form von Unternehmensbeteiligungen, genutzt werden. Aus Vermögen kann dann wiederum weiteres Einkommen erzielt werden. Neben angespartem Einkommen ist es außerdem möglich, durch Schenkungen und Erbschaften Vermögen aufzubauen. Besteuert werden sowohl das erwirtschaftete Einkommen als auch Vermögens­zuwächse aus Schenkungen und Erbschaften. Diese Besteuerung unterliegt sozialpolitischen Normen: Durch den progressiven Einkommensteuertarif zahlen Bezieher höherer Einkommen nicht nur absolut, sondern auch relativ mehr Steuern als Steuerpflichtige unterer Einkommensklassen. Gleichzeitig wird die Übertragung von Vermögen auf die nächste Generation durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer beschnitten – im Sinne eines Strebens nach mehr Chancengleichheit. Eine Erbschaftsteuer mit breiter Bemessungsgrundlage, moderaten Steuersätzen und klugen Stundungsregeln erscheint dabei jedoch vertretbar. Studien zeigen, dass die Befürchtung, die Erbschaftsteuer sei insolvenzgefährdend, sich nicht bestätigen lässt. Allerdings kann eine negative Wirkung auf die Wettbewerbs- und damit Überlebens­fähigkeit von Unternehmen nicht ausgeschlossen werden, wenn die Erbschaftsteuersätze deutlich erhöht und Betriebsvermögen – anders als derzeit – steuerlich einbezogen werden. Bemängelt wird, dass nicht nur Einkommen, sondern auch Vermögen zu ungleich verteilt ist. Offensichtlich war nach dieser Auffassung die Besteuerung der Vermögenszuwächse in der Vergangenheit unzureichend, um dem gesellschaftlichen Umverteilungswunsch und weiteren öffentlichen Aufgaben gerecht zu werden. Korrigiert der Gesetzgeber dies, indem das Vermögen durch eine Vermögensteuer wieder „verkleinert“ wird, wird im Ergebnis nachträglich eine weitere Einkommen-, Erbschaft- oder Schenkungsteuer erhoben. Auch wenn eine Vermögensteuer als attraktives verteilungspolitisches Instrument angesehen wird, gibt es doch Detailprobleme: Kann ein Betroffener die Vermögensteuer nicht aus seinem Einkommen begleichen, muss Vermögen und damit die Basis für späteres Einkommen abgebaut werden. Dieser Substanzverlust verringert dann wiederum die zukünftige Einkommensteuer. Das Vermögen umfasst zudem nicht nur liquide Mittel, sondern auch Grundstücke und Anteile an Unternehmen. Diese müssten eventuell veräußert oder aufgelöst werden, um Steuerschulden zu begleichen. Besonders problematisch sind dann wirtschaftliche Situationen, in denen ein Unternehmen keine Gewinne erzielt. Darüber hinaus ist die Bestimmung des tatsächlichen Wertes von Vermögen problembehaftet. Hierzu wäre der Marktwert des Unternehmens, also der Betrag, der bei einer fiktiven Unternehmensveräußerung erzielt werden kann, zu ermitteln. Da dieser Wert jedoch geschätzt werden muss, kann Sachvermögen über- oder unterbewertet sein, während Geldvermögen eindeutig im Wert festliegt. Die vom Verfassungsgericht in diesem Kontext geforderte Gleichbehandlung aller Vermögensarten stellt den Gesetzgeber schon seit Jahren vor schier unlösbare Probleme. So führen auch die reformierten erbschaft- und schenkungsteuerlichen Bewertungsverfahren immer noch zu erheblichen Bewertungsunterschieden bei Grundstücken und zwischen Unternehmen verschiedener Branche, Rechtsform und Größe. In der politischen Diskussion werden die hier angedeuteten Probleme als Randerscheinungen abgetan. Tatsächlich ist jedoch durchaus zu klären, wie man diese Art der Besteuerung, jenseits der Frage, ob sie gerecht oder nicht gerecht ist, überhaupt handhaben kann. Seite 2: Verfassungsrechtlich höchst bedenklich Die Einführung einer Vermögensteuer würde schließlich erfordern, fast alle Doppelbesteuerungsabkommen Deutschlands mit anderen Staaten zu ändern, um – angesichts der vermögensteuerlichen Freistellung von ausländischen Betriebsstätten und Beteiligungen – unerwünschte Ausweichreaktionen und Verlagerungen von Vermögen ins Ausland zu verhindern. Bereits die Diskussion über die Einführung einer Vermögensteuer hat hier zu bemerkbaren Bewegungen geführt. Solche Kapitalverlagerungen führen zu ungleichen Kostenstrukturen zwischen verlagerten und inländischen Unternehmen, was letztlich einen Kostendruck auf die inländischen Löhne bewirken kann. Auch vor diesem Hintergrund ist daher anzuzweifeln, ob das mit der Vermögensteuer angestrebte Belastungs- und Verteilungsziel erreicht werden kann. Das steuerpflichtige Vermögen besteht bei einem zurzeit diskutierten Freibetrag von einer Million Euro zu 70 Prozent aus Unternehmensvermögen. Das Aufkommen aus einer Vermögensteuer kollabiert somit fast vollständig, wenn unternehmerisches Vermögen ganz oder weitgehend von der Vermögensteuer freigestellt wird, um auf diese Weise den Mittelstand zu schonen, wie dies zum Beispiel von der SPD gefordert wird. Dies dürfte zudem verfassungsrechtlich höchst bedenklich sein. Auf die großen Probleme und Risiken bei der Gestaltung und Erhebung einer Vermögensteuer haben viele Staaten reagiert. In Europa findet man sie nur noch in Frankreich, Liechtenstein, Norwegen und einigen schweizerischen Kantonen. Darüber hinaus haben Island und Spanien zeitlich begrenzt eine Vermögensteuer eingeführt. Da auch das Aufkommen aus einer Erbschaftsteuer, wenn sie nicht extreme Risiken für den Standort Deutschland bedeuten soll, nur geringfügig erhöht werden kann, liegt der Schluss nahe, eine erhöhte Besteuerung der Wohlhabenden – wenn dies eine politische Setzung ist – in erster Linie über eine Reform der Einkommensteuer umzusetzen. Wenn Einkommen höher besteuert werden soll, muss allerdings politisch klar kommuniziert werden, wer davon betroffen ist, denn es findet bereits jetzt eine erhebliche Umverteilung statt (fünf Prozent aller Steuerpflichtigen tragen 40 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens, die obersten zehn Prozent tragen 53 Prozent). Wird der politischen Forderung nach einem zusätzlichen Aufkommen von circa 15 Milliarden Euro gefolgt, so ist wichtig zu wissen, dass eine Besteuerung der „Reichen“ über die Einkommensteuer bedeutet, dass Steuerpflichtige bereits ab einem Einkommen von 70.000 Euro dem derzeit politisch propagierten zukünftigen Höchstgrenzeinkommensteuersatz von 49 Prozent unterworfen werden müssten. Um das angestrebte Aufkommen zu generieren, müsste zudem die Abgeltungs- und Körperschaftsteuer um etwa fünf Prozent erhöht werden. Die Behauptung, ein gesetztes Aufkommen könne lediglich durch die Belastung „extrem Reicher“ erzielt werden – gegegenenfalls sogar ohne dabei unternehmerisches Vermögen zu belasten – ist schlichtweg falsch. Die Mittelschicht muss sowohl bei einer Vermögensteuer- als auch bei einer Einkommensteuerlösung mitbezahlen, wenn das gewünschte Aufkommen erzielt werden soll. Angesichts des enteignenden Charakters jeder Substanzbesteuerung (Vermögensteuer oder Vermögensabgabe) und der aufgezeigten Probleme muss dabei besonders genau geprüft werden, ob dieser Zugriff gerechtfertigt ist. Eine Vermögensteuer ist im deutschen Steuersystem nur dann akzeptabel, wenn – ähnlich wie in Island – ein außergewöhnlicher Notstand des Staates einträte, in dem eine weitere Verschärfung der Ertragsbesteuerung das erforderliche Aufkommen nicht generieren könnte. Derzeit in Deutschland von einer solchen Notlage zu sprechen (die Steuereinnahmen sind derzeit so hoch wie nie), ist jedoch absurd. Unabhängig davon, ob eine Reichenbesteuerung über die Einkommensteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer oder Vermögensteuer erfolgt, steht zu befürchten, dass im Zuge der aktuellen Diskussionen die Errungenschaften der Unternehmenssteuerreformen der letzten 20 Jahre, die wesentlich zur Verbesserung der Qualität des Standortes Deutschland beigetragen haben, geopfert werden. Eine Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen hat gravierende unerwünschte Verteilungs- und Budgeteffekte, auch für spätere Generationen. Die Einführung einer Vermögensteuer wäre hier sicherlich die schlechteste Option. Solange sich die Haushaltslage nicht wesentlich verschlechtert, etwa durch eine gravierende Verschärfung der Eurokrise, sind die diskutierten Steuererhöhungen wachstums- und arbeitsplatzgefährdend.
Caren Sureth
Die unter anderem von der SPD geforderte Reichensteuer bedroht die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland, sagt Wirtschaftswissenschaftlerin Caren Sureth. Egal, wie man obere Einkommensklassen zur Kasse bittet: Zusätzliche Besteuerung wäre nicht nur kompliziert umzusetzen, sondern auch wachstumsgefährdend
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wirtschaft
2013-04-02T16:19:25+0200
2013-04-02T16:19:25+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/vermoegenssteuer-steuerdebatte-wer-reiche-weiter-besteuert-gefaehrdet-arbeitsplaetze/54063
Video - Soap Opera gegen Mangelernährung
Gerade in abgeschiedenen Gegenden haben die Menschen mit Blutarmut und Eisenmangel zu kämpfen. 80% der Mahlzeiten in Laos bestehen aus Reis, dazu gibt es ab und zu ein paar tierische Proteine. Reich an Kalorien, aber arm an Mineralien und Vitaminen. Was kann man dagegen tun? Der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung hat sich was ganz Neues ausgedacht: eine Seifenoper im Fernsehen, die den Menschen helfen soll, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern: Die Serie „Happy Family“ funktioniert dabei besser als jeder Vortrag.
Deutsche Welle
Jedes zweite Kind in Laos ist unterernährt. Das heißt auch: Sie haben Lernschwierigkeiten und verdienen später weniger. Eine Seifenoper soll helfen, die Essensgewohnheiten im Land zu ändern
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außenpolitik
2016-07-29T13:45:02+0200
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