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Der Iran nach der Wahl - Das Schweigen der Mehrheit
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Mit der Wahl von Ebrahim Raisi zum achten Präsidenten des Irans seit dem Sturz von Mohammad Reza Schah im Jahr 1979 beginnt ein neues Kapitel in der Politik der Islamischen Republik. Der Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei arbeitet ernsthaft daran, die Grundlagen des politischen Systems zu stärken und das Amt des Obersten Führers zu institutionalisieren. Er glaubt, dass der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und der Aufstieg Chinas in Kombination mit einem neuen Atomabkommen mit den Großmächten Irans Ambitionen erfüllen würden, die führende Regionalmacht zu werden. Die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen in der vergangenen Woche lag bei etwa 49 Prozent, in Teheran waren es sogar weniger als 26 Prozent. Das ist die niedrigste Beteiligung bei den 13 Wahlen im Iran seit der Revolution von 1979. Im Gegensatz zu den 85 Prozent Wahlbeteiligung bei den Wahlen 2009 und 73 Prozent bei den Wahlen 2017 zeigt die niedrige Wahlbeteiligung 2021 die Enttäuschung der Wähler über die Fähigkeit der Reformisten, sinnvolle politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen zu bewirken, sowie ihre Erkenntnis, dass sie nicht in der Lage sind, die Hegemonie der Konservativen herauszufordern. Im Jahr 2009 ging das iranische Volk in großer Zahl auf die Straße, weil es glaubte, dass der reformistische Politiker Mir-Hossein Mousavi die Wahl gegen den ultrakonservativen Amtsinhaber Mahmoud Ahmadinejad leicht gewinnen würde. Doch Chamenei, der nicht daran glaubte, dass es bei der Islamischen Revolution um das Auszählen von Stimmzetteln geht, manipulierte die Abstimmung, um den Sieg seines Kandidaten zu sichern, und löste damit massive Proteste aus, die von den paramilitärischen Basidsch-Truppen rücksichtslos niedergeschlagen wurden. Bei der Wahl im Jahr 2017 war Raisi der bevorzugte Kandidat von Chamenei. Doch die Popularität des amtierenden Präsidenten Hassan Rouhani und sein Versprechen auf bessere Zeiten, insbesondere nachdem er 2015 erfolgreich das Atomabkommen ausgehandelt hatte, besiegelten Raisis Schicksal. Er erhielt nur 38 Prozent der Stimmen, hinter den 57 Prozent von Rouhani. Sicher in seiner Position und widerwillig, den Volksaufstand von 2009 zu wiederholen, griff Khamenei nicht ein. Die folgenden vier Jahre der Präsidentschaft von Rouhani untergruben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit der Reformer, ebenso ihre Hoffnungen auf weitreichende Reformen und eine Neudefinition ihrer Beziehung zur herrschenden Elite. Zuerst kam die Wirtschaftskrise, die den Iran Anfang 2018 heimsuchte, einschließlich massiver Proteste wegen der galoppierenden Inflation. Dann kam im vergangenen Jahr der versehentliche Abschuss eines ukrainischen Flugzeugs, bei dem 176 überwiegend iranische Passagiere ums Leben kamen. Der Gnadenstoß bestand dann darin, dass die Reformisten es versäumten, einen offiziellen Kandidaten zu präsentieren, der Raisi herausfordern sollte. Aber sie hätten ohnehin verloren. Raisi wurde 2019 von den USA wegen Menschenrechtsverletzungen mit Sanktionen belegt, unter anderem wegen seiner Rolle im Teheraner Todeskomitee von 1988, das Tausende von politischen Gefangenen nach Ablauf ihrer Haftzeit zum Tode verurteilte, sowie wegen vieler anderer außergerichtlicher Tötungen über vier Jahrzehnte hinweg. Dennoch hat er nicht nur Berühmtheit erlangt, sondern auch das volle Vertrauen von Khamenei, der Raisi 2019 an die Spitze der iranischen Justiz berief. Der zwölfköpfige Wächterrat, der vom Obersten Führer und dem Chef der Justiz handverlesen wird, bestimmte effektiv das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen zu Gunsten von Raisi, als er 592 von 599 Kandidaten disqualifizierte. Khamenei war darauf bedacht, andere mächtige konservative Kandidaten auszuschließen, nämlich den ehemaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und den ehemaligen Parlamentspräsidenten Ali Laridschani, um Raisis Sieg mit einfacher Mehrheit in der ersten Runde sicherzustellen. Dem 82-jährigen Khamenei war es sehr wichtig, dass Raisi, sein treuer Schüler und ein wahrer Anhänger der Prinzipien der Islamischen Revolution des Irans, Präsident wurde, damit Khamenei ihn für die Position des Obersten Führers heranbilden konnte. Khamenei war Irans Präsident, als der Oberste Führer Ayatollah Ruholla Khomeini 1989 starb, und die 88-köpfige Versammlung der Experten wählte ihn sofort zu Khomeinis Nachfolger. Mit der Wahl von Raisi haben die Konservativen ihre Kontrolle über die drei formellen Regierungszweige gesichert. Raisis Wahl bedeutet auch, dass Irans regierende Konservative in Zukunft keine abweichenden Standpunkte zu grundlegenden Fragen des Staates dulden werden, insbesondere wenn es um die Formulierung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Politik geht. Raisi steht vor der wenig beneidenswerten Aufgabe, das Vertrauen der Wähler in das politische System wiederherzustellen und die Beschwerden der Öffentlichkeit über die sich verschlechternde Lebensqualität aufzulösen. Er muss sofort die Herausforderung der schwächelnden iranischen Wirtschaft angehen, die durch US-Sanktionen, niedrige Ölpreise, Covid-19 und durch allgegenwärtige Korruption verschlimmert wird. In den vergangenen zwei Jahren, die er als oberster Justizchef verbrachte, hat er hohe Beamte wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten vor Gericht gestellt und verurteilt. Dazu gehörte auch der Bruder von Rouhani, der wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Annahme von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Raisi versprach, dass er als Präsident jedes Jahr vier Millionen Wohneinheiten bauen und eine Million Arbeitsplätze schaffen werde. Außerdem verpflichtete er die Regierung, jährlich 700.000 Eheschließungen zu unterstützen. Er sagte, er werde Pläne zur Bekämpfung des Schmuggels und zur Förderung der Diversifizierung der iranischen Nicht-Öl-Exporte aufstellen. Im Jahr 2017 verkündete Raisi, dass er im Falle seiner Wahl den iranisch-arabischen Beziehungen mehr Aufmerksamkeit schenken würde, vorausgesetzt, dass die Völker von Jemen, Syrien und Irak ihr Schicksal ohne ausländische Intervention selbst bestimmen. Er wiederholte dieselben Aussagen während und nach seiner Wahlkandidatur. Angesichts der Tatsache, dass der Iran bereits erheblichen Einfluss in diesen Ländern ausübt, bedeutet deren Selbstbestimmung – in Raisis Worten – die Fortführung der Rolle Teherans bei der Kontrolle ihrer Politik. Raisis Äußerungen zur arabischen Politik erinnern an Khomeinis Arabienpolitik von 1979, die sich darauf konzentrierte, Irans islamische Revolution in der gesamten arabischen Region zu verbreiten und seinen regionalen Imperialismus effektiv zu fördern, selbst wenn damit langwierige Konflikte von niedriger Intensität ausgelöst würden. Als Raisi vor vier Monaten nach Bagdad reiste, legte er Wert darauf, den Ort zu besuchen, an dem Qassem Soleimani letztes Jahr bei einem US-Drohnenangriff getötet wurde, um die Entschlossenheit des Irans zu signalisieren, Khomeinis Regionalpolitik fortzusetzen. Insgesamt bedeutet die Wahl Raisis die Fortsetzung einer langjährigen konservativen Politik: innenpolitisch, um die Macht zu konsolidieren und die Opposition zum Schweigen zu bringen, und regional, um auf Irans Errungenschaften der letzten vier Jahrzehnte aufzubauen und das Vakuum zu füllen, das durch die Entscheidung der USA, sich aus dem Nahen Osten zurückzuziehen, entstanden ist. Im vergangenen Februar hielt Khamenei eine Rede an die Nation, in der er seine Vision für die Entwicklung des Irans im nächsten Vierteljahrhundert skizzierte. Er sprach von einer Wiederbelebung der islamischen Revolution unter der alleinigen Führung junger religiöser Revolutionäre und deutete damit an, dass die Tage des Entgegenkommens der Reformisten vorbei sind. Khamenei beabsichtigt, die Jugend und die verschiedenen Schattierungen der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die wegen der schwachen Leistung der Reformer unzufrieden sind, zu mobilisieren, um sich hinter Raisi zu versammeln, der weitreichende bürokratische Reformen und wirtschaftliche Anreize versprach. Khamenei ist besorgt wegen der Unruhe in der Gesellschaft, die durch die unzureichende Leistung der Regierung und die wirtschaftliche Stagnation während des letzten Jahrzehnts entstanden ist. Was für ihn am wichtigsten zu sein scheint, ist die Institutionalisierung des Amtes des Obersten Führers und die Beständigkeit der theokratischen Ideale der Islamischen Revolution im Iran. Die beiden wahrscheinlichen Anwärter auf die Nachfolge sind zum einen Khameneis Sohn Mojtaba sowie zum anderen Raisi selbst. Diese beiden mächtigen Männer genießen die Unterstützung des Korps der Islamischen Revolutionsgarden, einschließlich der Basij (wörtlich: „Organisation zur Mobilisierung der Unterdrückten“), die das Hauptmittel zur Unterdrückung von Dissidenten und zur Sicherstellung der Konformität mit der Staatsideologie ist. Obwohl Mojtabas Chancen real sind, scheint es wahrscheinlicher, dass Raisi die Nachfolge Khameneis antreten wird, da er über ausgeprägte theologische Qualifikationen verfügt, seine Fähigkeiten zur Repression unter Beweis gestellt hat und sich verpflichtet fühlt, das Ziel der ersten beiden Obersten Führer, den Iran zu einer Weltmacht zu machen, weiter zu verfolgen. Khamenei ist sehr daran interessiert, den Atomstreit mit den USA zu lösen und ein neues Abkommen mit der Biden-Administration zu schließen, die dieses Thema gerne hinter sich lassen und ihre Aufmerksamkeit auf den Pazifik und die entstehende chinesisch-russische Allianz richten möchte. Er ist jedoch nicht daran interessiert, sich von Washington vereinnahmen zu lassen, weil er glaubt, dass die USA die größte Bedrohung für das Überleben der Islamischen Revolution im Iran darstellen. Khamenei ist davon überzeugt, dass die Zukunft des Irans in einem Bündnis mit China und Russland liegt. Er glaubt, dass die Modernisierung seines Landes nicht von der Verbesserung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern abhängt. Stattdessen weist das kürzlich geschlossene 25-jährige strategische Abkommen mit China in die Richtung, in der sich der Iran sieht. Das Abkommen schafft die Voraussetzungen für chinesische Investitionen im Iran in Höhe von 400 Milliarden Dollar in den nächsten 25 Jahren und leitet die Zusammenarbeit in Dutzenden von Wirtschaftssektoren ein: Bankwesen, Kommunikation, Häfen, Eisenbahn, medizinische Versorgung und Informationstechnologie, neben vielen anderen. Und zwar im Austausch für regelmäßige und stetige Öllieferungen zu reduzierten Preisen. Das Abkommen sieht auch eine enge militärische Zusammenarbeit vor. Die iranische Führung glaubt, dass China die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit ihnen braucht, um seine interkontinentale „Belt and Road“-Initiative zu vervollkommnen. Sie scheinen davon überzeugt zu sein, dass sich das internationale Kräfteverhältnis in einem größeren Wettbewerb zwischen den großen Ländern verändert und dass dies dem Iran zugute kommen würde, da Russland und China darauf abzielen, den Einfluss des US-Dollars auf den internationalen Handel und die Finanzen zu lockern. Aber verstärkte Aktivitäten mit der Außenwelt, vor allem mit dem Osten, bedeuten aus der Sicht von Khamenei keine wirtschaftliche Liberalisierung, zumal er auch gegen eine Lockerung der sozialen Beschränkungen oder einen Übergang des politischen Systems zur Mehrheitsherrschaft ist. Im Jahr 1905 rebellierten die Iraner gegen den Qajar-Herrscher Mozaffar ad-Din Shah, um ein Parlament einzuführen und eine konstitutionelle Monarchie zu errichten. Doch die anglo-russische Intervention vereitelte ihr Ziel und ebnete schließlich den Weg für Reza Khan, der 1925 die Pahlavi-Dynastie gründete und eine neue Ära autoritärer Herrschaft einleitete. Der Zweite Weltkrieg und die britische Besetzung des Südwestens des Irans im Jahr 1941 legten den Grundstein für den Beginn der demokratischen Periode, die 1952 in der demokratischen Wahl von Mohammad Mosaddegh zum Premierminister gipfelte. Die US-geführte Operation Ajax im Jahr 1953 stürzte ihn jedoch und setzte die Herrschaft von Mohammad Reza Shah wieder durch. Im Jahr 1978 startete das iranische Volk erneut eine Revolution, um eine säkulare Demokratie zu errichten, aber 1979 wurde sie von Ayatollah Khomeini gekapert und eine Theokratie installiert. Khamenei versucht, Khomeinis Staat zu vertiefen und auszuweiten. Allerdings werden seine Bemühungen den Beginn eines unvermeidlichen landesweiten Aufstandes nur hinausschieben. Die meisten Iraner haben grundsätzliche Probleme mit einer anachronistischen Regierungsform, die mehr materielle Ressourcen für ausländische Abenteuer bereitstellt als für das Wohlergehen des Volkes. In Kooperation mit
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Hilal Khashan
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Bei den jüngsten Wahlen im Iran haben die Hardliner gewonnen. Eine Mehrheit der Bevölkerung indes ist erst gar nicht mehr an die Urnen gegangen. Wohin steuert der Iran unter dem ultrakonservativen Ebrahim Raisi?
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[
"Iran",
"Wahl",
"Nichtwähler",
"Islam"
] |
außenpolitik
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2021-06-24T18:21:34+0200
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2021-06-24T18:21:34+0200
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https://www.cicero.de/ausland/iran-wahl-raisi-wahlbeteiligung-konservative-mehrheit
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Rundfunkbeitrag - Weniger ist mehr
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Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Rundfunkbeitrag im Wesentlichen verfassungsgemäß ist. Das Urteil überrascht nicht wirklich. Eine Revolution hatte niemand ernsthaft erwartet. Ein jahrelanger Streit um den wohnungsbezogenen Rundfunkbeitrag, der 2013 die gerätebezogene Rundfunkgebühr abgelöst hat, ist somit zu Ende gegangen. Geklagt hatten unter anderem ein bekannter Autovermieter und ein Zweitwohnungsbesitzer. Autovermieter müssen auch in Zukunft für jeden Mietwagen Rundfunkbeträge abführen. Dagegen sind privat genutzte Personenwagen nicht gebührenpflichtig. Der Preis ist schon in den 17,50 Euro enthalten, die jeder Mieter oder Wohnungseigentümer im Monat zahlen muss. Freuen dürfen sich hingegen Zweitwohnungseigentümer: Bislang doppelt beitragspflichtig, muss hier nun der Gesetzgeber tätig werden. Die Länder hatten sich 2013 dafür entschieden, die Wohnung als Anknüpfungspunkt für einen Beitrag zu nehmen – andere Möglichkeiten wie die gemeldete Person wären ebenfalls möglich gewesen (Kopfpauschale), doch die Politik hatte bei der Wahl des Anknüpfungspunktes laut Bundesverfassungsgericht einen weiten Spielraum. Die Rundfunkpolitik darf das Urteil jedoch nicht zum Anlass nehmen, von den tatsächlichen Problemen weiter abzulenken. Denn über die Frage, wieviel Programme und Online-Inhalte zur Grundversorgung erforderlich sind, muss der Gesetzgeber in jedem Fall nachdenken dürfen. Dies betrifft auch die Frage, ob Nicht-Rundfunkinhalte wie die Online-Angebote der Rundfunk- und Fernsehsender überhaupt zur Grundversorgung gehören. Menschen, die jünger als 40 Jahre alt sind, erreicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk kaum noch. Die Argumentation, die Jugendlichen informierten sich online, sie bräuchten verlässliche Infos, um mündige Bürger in einer demokratischen Gesellschaft zu sein, heißt ja noch nicht, ohne die Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wäre das Netzangebot defizitär. Hier scheut die Politik übrigens die Klärung und Auslegung des Rundfunkbegriffs im Lichte des EU-Rechts. Die gegenwärtige rundfunkpolitische Diskussion geht an diesen Fragen vorbei. Sie hält den Status quo der öffentlich-rechtlichen Angebote für „gegeben“. Dies hat auch realpolitische Gründe, denn welcher Politiker würde schon auf Spartenkanäle verzichten? Das Gegenteil ist der Fall: Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist keine Zielgruppe zu klein, um nicht doch noch durch eine weitere „Verspartung“ bedient zu werden. Zugegeben: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk versucht, Kostensteigerungen zum Beispiel durch gemeinsame Technik-, Verwaltungsstrukturen und redaktionelle Zusammenarbeit in der ARD und durch das „Auftauen zurückgelegter Beitragsüberschüsse“ zu begrenzen. Gleichzeitig darf der Gesetzgeber nur bedingt in den Programm- und Produktionsbereich sowie auf das Personal einwirken. Dies führt zum bekannten medialen Ping-Pong-Spiel: Die Ministerpräsidenten fordern ARD und ZDF auf, zu sparen. Und die Sender beteuern: Mehr geht nun wirklich nicht. Richtig ist auch, dass die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Haushaltsbeiträge solange sachgerecht erscheint, wie man den potentiellen Vorteil, öffentlich-rechtlichen Rundfunk empfangen zu können, überhaupt für gesellschaftlich notwendig und damit finanzierungspflichtig hält. Eine ehrliche Auftragsdiskussion in Richtung „Weniger ist Mehr" wäre nun aber dringend wünschenswert. Derzeit finanzieren wir Institutionen, keine Inhalte. Deswegen stellt sich die Frage, ob ein öffentliches Finanzierungsmonopol des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Form der Landesrundfunkanstalten, des ZDF und des Deutschlandfunks besteht. Können qualitativ-wertvolle Public-Value-Inhalte auch außerhalb dieser Strukturen finanziert werden? Müssen wir dafür dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk erst ein Defizit nachweisen, bevor man andere Inhalte öffentlich finanzieren darf? Wenn wir uns darauf einigen können, die logische Herangehensweise beizubehalten, zunächst über Auftrag und Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu reden und erst in einem zweiten Schritt über die dann – reduzierte – Finanzierung, weshalb dreht sich die aktuelle Debatte um eine automatische Erhöhungsspirale? Interessant wäre auch die Frage, wann sich die Rundfunkpolitik endlich zu einem Werbeverbot für ARD und ZDF durchringen kann. Insbesondere Paul Kirchhof, der Bruder des derzeitigen Verfassungsrichters Ferdinand Kirchhof, hatte in seinem Gutachten zur Zulässigkeit des Rundfunkbeitrags gefordert, die Einführung des Rundfunkbeitrags mit dem Ende der Mischfinanzierung zu koppeln. Sein Kernargument ist, es solle schon nicht der Anschein entstehen, dass die Werbeindustrie überhaupt Einfluss auf die Inhalte oder deren Kommerzialisierung nimmt. Aus der gleichen Argumentation heraus hätte sich übrigens der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhoff, beim Streit um seine mögliche Befangenheit aufgrund der Verwandtschaftsverhältnisse selbst aus dem Verfahren nehmen sollen. Ein System, das auch regionale Berichterstattung übernehmen könnte, wäre ausreichend. Im Übrigen könnte man, wenn es politisch gewollt wäre, publizistische Inhalte, die einen erhöhten Public-Value erkennen lassen, ausschreiben und beitragsfinanzieren. Deswegen sollte der Beitrag beibehalten werden. Angebote und Strukturen müssen aber grundlegend optimiert und der Beitrag gesenkt werden.
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Maxim Hauk
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Das Bundesverfassungsgericht hält einen Rundfunkbeitrag von 17,50 Euro im Monat für gerechtfertigt. Aber das Urteil darf für die Radio- und Fernsehsender kein Freibrief sein. Der Gesetzgeber muss sie dazu anhalten, dass sie ihre Programme und Inhalte abspecken
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[
"öffentlich-rechtliches Fernsehen",
"GEZ",
"Haushaltsabgabe",
"Medien"
] |
innenpolitik
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2018-07-18T16:47:32+0200
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2018-07-18T16:47:32+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/rundfunkbeitrag-ARD-ZDF-Deutschlandfunk-bundesverfassungsgericht-Haushaltsabgabe
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Islamismus – Warum werden Salafisten-Vereine verboten?
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Es ist der härteste Schlag, der das islamistische Spektrum
in Deutschland bislang getroffen hat. Ein Verein der salafistischen
Szene wurde verboten, zwei weiteren Gruppierungen steht die
Auflösung bevor. Nach den Krawallen vom Mai in Solingen und Bonn
war für Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Zeit
reif, wenn nicht überreif, die extremen und meist gewaltbereiten
Frömmler hart anzufassen. Die Pläne, Verbote gegen die Vereine
Millatu Ibrahim, Die wahre Religion und Dawa FFM auszusprechen,
sind aber schon älter. Warum wurde Millatu Ibrahim verboten? Der Verein Millatu Ibrahim war noch jung, fiel aber von Beginn
an mit brachialen Parolen auf. Im November 2011 präsentierte der Anführer („Amir“) des Vereins,
der Österreicher Mohammed Mahmoud, als eine Art Keimzelle des
Vereins die Internetseite „Millatu Ibrahim“. In einer
programmatischen Rede, die in einem Chatroom veröffentlicht wurde,
beschrieb Mahmoud in holprigem Deutsch den Kampf um eine weltweite
Herrschaft des Islam, „so dass Allahs Scharia und diese Flagge,
diese Flagge über das Weiße Haus und über das Vatikan weht. Oder
wir sterben.“ Anfang 2012 benannten Anhänger Mahmouds die Solinger
Hinterhof-Moschee „Deutsch-Islamisches Zentrum“ um in „Millatu
Ibrahim e.V.“, allerdings gab es keinen Eintrag im Vereinsregister.
Mahmoud selbst ist schon lange einschlägig bekannt. Der Sohn eines
nach Österreich geflohenen, ägyptischen Islamisten war 2007 als
„Amir“ (Anführer) der „Globalen Islamischen Medienfront“
aufgetreten, die im Internet für Al Qaida warb. 2008 verurteilte
ein Wiener Gericht Mahmoud zu vier Jahren Haft. Nach Verbüßung der
Strafe begab sich Mahmoud zur salafistischen Szene in Berlin, dann
trat er als Prediger in der Millatu-Ibrahim-Moschee in Solingen
auf. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn im Blick. Die Propaganda von Millatu Ibrahim war heftig. Bei den
Ausschreitungen am 1. Mai in Solingen heizte der Millatu Ibrahim
zugerechnete Prediger Hassan K. den Salafistenmob auf, in dem er
afghanische Terroristen als „die wertvollsten Menschen für uns“
glorifizierte. Der Verein „kümmerte“ sich auch um inhaftierte
Islamisten, um sie in der Szene zu halten. Politiker wurden bei Millatu Ibrahim systematisch beleidigt und
bedroht. Zitate aus einem Video vom Januar: „Die Leute, die die
Gesetze machen, die sind die Schlimmsten. Die sind schwul, die sind
kokainsüchtig, pädophil, einfach ekelhaft. (...) Guckt mal Wowereit
an, ekelhaft. (...) Möge Allah ihn vernichten.“ Der Mann, der diese
Hetze von sich gab, war die Nummer 2 bei Millatu Ibrahim, der
Berliner Denis Cuspert. Er wurde einst bekannt als Rapper „Deso
Dogg“, heute gilt er als einer der gefährlichsten Islamisten in
Deutschland. In der Verbotsverfügung wird Cuspert, der auch
„Islamseminare“ abhält, mehrfach zitiert – und seine Sehnsucht
erwähnt, auf dem „Schlachtfeld“ zu sterben. Das ist offenbar ernst
zu nehmen. Im Mai entdeckte die Polizei in Berlin Utensilien zur
Herstellung einer Sprengstoffweste. Das Material wird dem
inzwischen nicht mehr auffindbaren Cuspert zugeordnet. „Die Weste
ist ein weiteres Zeichen für die aggressiv-kämpferische
Grundhaltung der Vereinigung“, heißt es in der
Verbotsverfügung. Was wirft der Bundesinnenminister den anderen beiden
Vereinen vor? Die Argumente gegen Die wahre Religion (DWR) und Dawa FFM ähneln
denen im Fall Millatu Ibrahim. Die Propaganda des DWR nach den
Ausschreitungen in Solingen und Bonn stelle „den vorläufigen
Höhepunkt einer auf die systematische Diskreditierung der
verfassungsmäßigen Ordnung angelegten Agitation dar“, steht in
Friedrichs Verfügung zur Einleitung eines vereinsrechtlichen
Ermittlungsverfahrens. So drohte der DWR-Prediger Abu A. in einem
Video dem Innenminister und Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie
brächten „ihre Bürger in Gefahr“, sollte es weiter zulässig sein,
die Mohammed-Karikaturen zu zeigen. Auch Journalisten werden aus dem Umfeld von DWR attackiert. In
einem Video ist comicartig zu sehen, wie einem Redakteur der „Welt“
der Kopf explodiert. Ein Salafist, den Sicherheitsexperten der
Umgebung von DWR-Chef Ibrahim Abu Nagie zuordnen, hat zudem in
einem Video gegen Mitarbeiter von Tagesspiegel und „Frankfurter
Rundschau“ gehetzt. Bei dem Verfahren gegen DWR spielt die vom
Verein initiierte Verteilung von Gratisexemplaren des Korans keine
Rolle. Dem Verein Dawa FFM wirft Friedrich ebenfalls vor, er billige
„Gewalt gegen den Staat und dessen Funktionsträger“. Dawa FFM hatte
sich mit den salafistischen Randalierern in Solingen und Bonn
solidarisiert und auch das Droh-Video gegen Friedrich und Merkel
veröffentlicht. In der Verfügung zur Einleitung des Verfahrens
gegen Dawa FFM wird außerdem erwähnt, dass Vorträge des Anführers
Abdellatif Rouali zur Radikalisierung des Attentäters Arid Uka
beitrugen. Der junge, über das Internet aufgeputschte Kosovare
hatte 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen und
zwei weitere lebensgefährlich verletzt. Seite 2: Wie reagieren die muslimischen Verbände auf
Salafisten? Welche Verbindungen zum Terror gibt es? Aus den über das Internet vernetzten Salafistenmilieus sind
immer wieder Männer und Frauen in die pakistanische Terrorhochburg
Wasiristan gereist. Von dort werden die Salafisten in Deutschland
auch zu Straftaten ermuntert. Nach den Krawallen in Solingen und
Bonn rief der Terrorist Yassin Chouka, er stammt aus Bonn, in einer
Audiobotschaft die hiesige Szene auf, Journalisten und Mitglieder
der islamfeindlichen Partei „Pro NRW“ zu töten. Chouka und sein
Bruder gehören der Terrororganisation „Islamische Bewegung
Usbekistans“ an, die mit Al Qaida und Taliban verbündet ist. Wie reagieren die muslimischen Verbände auf
Salafisten? Die meisten muslimischen Organisationen lehnen die Salafisten
ab. Nach dem Treffen der Islamkonferenz im April berichtete
Friedrich, die muslimischen Verbände hätten sich überwiegend „sehr
eindeutig“ gegen den Salafismus positioniert. Vielen muslimischen
Organisationen sind die Salafisten viel zu radikal. Selbst im
Spektrum der Islamisten gibt es zumindest Vorbehalte.
Organisationen wie der türkische Verein Milli Görüs streben zwar
auch ein Gesellschaftssystem auf der Basis „göttlicher Offenbarung“
an, propagieren aber keine Gewalt. Was können die Maßnahmen bewirken? Das Verbot von Millatu Ibrahim und die zu erwartende Auflösung
von DWR und Dawa FFM wird die Salafisten schwächen, aber nicht
stoppen. Sicherheitskreise erwarten sogar, dass die Szene, derzeit
etwa 4000 Personen, weiter wächst. Ein wesentlicher Grund: Die
Aktivitäten im Internet sind kaum zu bremsen. Über ausländische
Provider und Server erreichen Extremisten gleich welcher Couleur
die Bundesrepublik, auch nach Verboten. Die Sicherheitsbehörden
versuchen dennoch, die Hetze im Internet einzudämmen. Es sei eine
„dreistellige Zahl von Providern“ angeschrieben und um Herausnahme
der Seiten von Millatu Ibrahim, DWR und Dawa FFM gebeten worden,
sagen Experten. Die Website von Millatu Ibrahim konnte am
Donnerstag nicht mehr aufgerufen werden. Trotzdem sind islamistische Organisationen mit Verboten nur
schwer zu zerschlagen. So taxiert der Verfassungsschutz den 2003
aufgelösten Verein Hizb-ut-Tahrir weiterhin auf 300 Anhänger. Der
Gruppierung „Kalifatsstaat“, schon 2001 verboten, halten sogar 800
Islamisten die Treue.
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Der Staat wehrt sich gegen radikale Salafisten-Vereine in Deutschland. Wer sind die nun von Innenminister Friedrich verbotenen Gruppierungen und warum hält er sie für gefährlich?
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außenpolitik
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2012-06-15T14:33:47+0200
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2012-06-15T14:33:47+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/warum-werden-salafisten-vereine-verboten/49754
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Krimis – Harry Potter auf Speed
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Gut und wirklich
schön: Altmeister Arne Dahl ndet zur Höchstform zurück. Jährlich
legt er seit über zehn Jahren einen neuen Roman vor und hat dabei
das Personal seiner ermittelnden «A-Gruppe» inzwischen um etliche
Häupter erweitert. Das Resultat war zuletzt eine Art erzählerischer
Hyperaktivität, die Marionettenfäden, an denen die Figuren
zappelten, traten zunehmend störend hervor. Im Roman «Opferzahl»
ist dies nun ganz anders. Im Nachtzug einer Stockholmer
U-Bahn-Linie ist eine Bombe detoniert – wer hat, aus welchen
Gründen, den letzten Wagen dieses Zuges hochgehen lassen und dabei
zehn Menschen in den Tod geschickt? Das ist die Frage. Mit raschen
Perspektivwechseln und präzise zusammenarbeitenden
Untersuchungs-Teams unternimmt Dahl eine Exploration ins Innerste
der schwedischen Gesellschaft, die die Nachtseiten des
Wohlfahrtsstaats hervorkehrt – purer Krimi-Genuss. Und doch wächst
die Lust auf etwas ganz anderes: auf Romane, die das Potential
haben, das Genre zu erneuern. Natürlich gibt es nicht alle Tage einen Autor wie Josh Bazell,
der in «Schneller als der Tod» Muster des Maa-Krimis ironisch mit
Charakteristika der in den USA populären Holocaust-Literatur
verquickte (siehe Literaturen 4/2010). Doch scheint der 1973
geborene Franzose Antonin Varenne aus ähnlichem Holz geschnitzt –
das merkt sofort, wer seinen Roman «Fakire» zu lesen beginnt. Hier
geht es um die Gewalt des Einzelnen gegen sich und Andere, konkret
aber um die gesellschaftliche Praxis der Folter, deren Folgen für
den Folterer selbst und um inszenierten Selbstmord als die letzte
Konsequenz daraus.
Varennes
Inszenierung lenkt zwei Protagonisten aufeinander zu. In Paris
wirkt Kommissar Guérin, ein leicht verwachsenes, skurril gewandetes
Individuum mit einem feindseligen Papagei namens Churchill. Trotz
überdurchschnittlicher Fähigkeiten wurde Guérin in die
Selbstmord-Abteilung strafversetzt; der junge Polizist Lambert ist
sein einziger Gehilfe, durch die Decke ihres Mansarden-Büros dringt
das Blut der auf dem Dachboden aufgehängten Kleider der
Selbstmörder. In der Provinz andererseits lebt der
franko-amerikanische Psychologe John Nichols in einem Tipi. Seine
Dissertation über die Folterpraktiken im Irak-Krieg, die sich
wesentlich auf Aussagen eines aufgrund dieser Erfahrung
drogenabhängigen Freundes stützt, ist abgeschlossen, jedoch
unveröffentlicht – es handelt sich um hochbrisantes Material über
noch tätige Verhörer. Als Nichols erfährt, dass der Freund, der als
Fakir in einem Pariser Varieté auftrat, auf spektakuläre Weise ums
Leben gekommen ist, trifft er auf Guérin, der mit der Akribie des
leicht wahnsinnigen Genies eine spezielle Theorie verfolgt: Er
sieht eine Gruppe wohlsituierter jüngerer Bürger am Werk, die
Gefährdete zur möglichst bizarren Selbsttötung treiben.
Das Quälen Anderer wird so in zwei gesellschaftlich unterschiedlich
motivierten Varianten vorgeführt, denen dasselbe Muster zugrunde
liegt: Die Täter folgen einem perversen Antrieb, den Opfern bleibt
keine Wahl. Doch muss dies alles erst erwiesen werden, und es ist
geradezu genial, wie aus der Aufklärung beider Vorgänge schließlich
ein dritter Fall hervortritt, der sich vor Jahren in den Reihen der
Polizei ereignete und dessen indirektes Opfer der übersensitive
Guérin war – ein Politkrimi des 21. Jahrhunderts, hart an
gesellschaftlichen Fakten und Möglichkeiten erzählt, voll
grandioser literarischer Phantasie und subtiler Ironie. Doch dann
plötzlich kippt auf den letzten Seiten – der Showdown ist brillant
vollzogen – alles ins Konventionelle zurück: Guérin wie Lambert
nden ein tiefschwarzes Ende, das weder literarisch noch logisch
zwingend ist; eher schon, was den Autor anlangt,
selbstmörderisch. Erlösung von solchem Verdruss kommt aus unerwarteter Richtung.
«System Neustart» heißt der Thriller von William Gibson und ist
eine Art «Harry Potter» auf Speed – mit einem Maß an Erndungslust,
einer Lässigkeit im Überschreiten scheinbar selbstverständlicher
Genregrenzen und einem Spaß an überraschenden Kapriolen, dass dem
auf geradlinige Logik gedrillten Krimileser vor Vergnügen die Luft
wegbleibt. Natürlich folgt auch das Unübliche einer Logik; sie war
uns bislang in dieser Form nur unbekannt. Hollis Henry heißt die ehemalige Rocksängerin, die sich aus
nanziellen Gründen für einen Auftrag des undurchsichtigen Tycoons
Hubertus Bigend hat anwerben lassen. Worin der Auftrag genau
besteht, muss sich erst herausstellen, auf jeden Fall hat er mit
Mode zu tun, genauer mit Kreationen eines geheimen Labels, das
seinen Reiz nicht nur aus der Verwendung traditioneller Materialien
und Farben sowie der Anonymität seiner Urheber zieht – auch das
Militär spielt eine Rolle, das Großaufträge für seine Elite-Truppen
zu vergeben hat. Denn dies ist die allem Geschehen zugrunde
liegende Theorie: Die Mode des 20. Jahrhunderts folgte
militärischen Materialien und Schnitten. Nun will das Militär sich
wieder in die modische Führungsposition bringen, indem es sich das
Allerneueste zu eigen macht. Dies aber ist das Allerälteste,
lediglich in neuesten Gestaltungsformen, und es kommt eben nicht
von den großen Marken, sondern von Untergrund-Labels, material- und
schnittbesessenen Einzelnen, deren Verborgenheit die Avantgarde
gerade anzieht. Hollis Henry nun
soll eine Designerin aufspüren, über deren Kreationen ein
gigantischer Militär-Auftrag zu erzielen wäre. Doch natürlich ist
ihr Boss in seinem Maßanzug von durchdringendem Yves-Klein-Blau
nicht der Einzige mit diesem Vorhaben. Wie auch der
Militärmode-Coup beileibe nicht der Einzige ist, den Hubertus
Bigend verfolgt – ganz im Gegenteil. Während sein zweiter
Mode-Spion, ein clean gewordener, sanftmütiger Ex-Junkie namens
Milgrim, noch klandestin ein Hosenschnittmuster kopiert, marschiert
bereits die Gegenmacht unter Führung des eher auf herkömmliche Art
sinistren Waffenmagnaten Gracie. Alle möglichen grandiosen
technischen Erndungen auf dem Gebiet der Ausspähung und
Ausschaltung des Gegners kommen da zwischen London und Paris zum
Einsatz; nicht zuletzt aber auch die Macht menschlicher
Gefühle.
Aufs Engste mit dem Einsatz und der Steuerung der exzentrischen
Waffen des verfügungsgewaltigen Bigend verbunden, sind es nämlich
letztlich die fühlenden Wesen, die den Mann im blauen Anzug am Ende
zu einer Art geheimer Weltmacht No. 1 aufsteigen lassen. Und sich
danach ihrem persönlichen Glück zuwenden oder auch mit Bigend auf
utopischen Fahrzeugen zu neuen Ufern aufbrechen – Harry Potter
meets James Bond, gewissermaßen. An Spannung sind die spektakulären
Schachzüge aller Beteiligten dabei allein deshalb nicht zu
überbieten, weil sie unlösbar mit deren menschlichen Regungen
verknüpft sind, also nicht bis ins entscheidende Letzte berechenbar
bleiben.
Gibson hat in der Verklammerung des Überkommenen mit dem
Futuristischen eine Form des Thrillers hervorgebracht, die alles
Geläuge locker überfliegt: weil sie so bislang noch nicht Gedachtes
als vollkommen naheliegend, logisch und dabei bestechend rafniert
erscheinen lässt, während das gute alte Herz sein Recht zugleich
ebenso selbstverständlich behauptet. Der Wunsch-Thriller des 21.
Jahrhunderts also. Literarisch gefertigt übrigens in einer Manier,
die jener textilen Mischung aus Retro-Stil und Avantgarde-Design
verwandt ist, von der hier für einen Moment die Beherrschung der
Welt abhängt.
Arne Dahl
Opferzahl
Aus dem Schwedischen
von Wolfgang Butt
Piper, München 2011. 440 S., 19,95 €
Antonin Varenne
Fakire
Aus dem Französischen von
Tobias Scheffel und Claudia Steinitz
Ullstein, Berlin 2011. 315 S., 18 € William Gibson
System Neustart
Aus dem Amerikanischen
von Hannes Riffel
Tropen, Stuttgart 2011. 488 S., 24,95 €
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Was macht die Konvention aus dem Krimi, was macht der Krimi mit der Konvention? Arne Dahl beherrscht die Form perfekt, Antonin Varenne versucht Neues – und William Gibson segelt locker über alle Grenzen
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kultur
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2011-06-16T15:14:08+0200
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2011-06-16T15:14:08+0200
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https://www.cicero.de//kultur/harry-potter-auf-speed/47434
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Ursula von der Leyen hat gegen EU-Recht verstoßen - Gericht zu Covid-Impfstoff: EU-Kommission gab zu wenig Infos
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Die EU-Kommission von Ursula von der Leyen hat nach einem Urteil des EU-Gerichts mit der Geheimhaltung von Informationen zu milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen gegen EU-Recht verstoßen. Besonders mit Blick auf mögliche Interessenkonflikte und Entschädigungsregeln für Impfstoff-Hersteller habe die Brüsseler Behörde nicht ausreichend Zugang zu Dokumenten gewährt, entschieden die Richter in Luxemburg. Das Urteil kann vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) angefochten werden. Während der Pandemie hatte die EU-Kommission in den Jahren 2020 und 2021 im Namen der Mitgliedstaaten mit Pharmaunternehmen Verträge über Hunderte Millionen Dosen Impfstoff verhandelt und abgeschlossen. Das Vorgehen stand immer wieder in der Kritik, weil die Verträge nur teilweise öffentlich gemacht wurden oder weil es Verzögerungen bei der Lieferung des Impfstoffs gab. Unter anderem die Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Zusammenhang. 2021 beantragten EU-Abgeordnete und Privatpersonen, Zugang zu den Verträgen zu bekommen. Die EU-Kommission unter Leitung von der deutschen CDU-Politikerin von der Leyen gewährte diesen aber nur teilweise. Daher klagten Parlamentarier und Privatpersonen und bekamen nun teilweise Recht. Das Urteil kommt einen Tag vor der Abstimmung im Europäischen Parlament über eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin. Das Gericht beanstandete, dass die EU-Kommission nicht ausreichend begründet habe, warum ein weitgehender Zugang zu den Klauseln über Entschädigungsregeln die geschäftlichen Interessen der Unternehmen beeinträchtigen würde. Die EU-Kommission habe zudem mit Verweis auf den Schutz der Privatsphäre von Personen den Zugang zu den Dokumenten verweigert. Die Kläger hätten allerdings den besonderen Zweck des öffentlichen Interesses an der Veröffentlichung der Daten ordnungsgemäß nachgewiesen: Es lasse sich nämlich nur dann überprüfen, dass kein Interessenkonflikt bestehe, wenn die Namen und beruflichen Rollen der an den Verträgen beteiligten Personen vorliegen. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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In der Corona-Pandemie hat die EU-Kommission milliardenschwere Deals über Impfstoffdosen geschlossen, hielt diese aber teilweise geheim. Der Europäische Gerichtshof fügt Ursula von der Leyen nun eine Niederlage zu.
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[
"Ursula von der Leyen",
"Pfizer-Gate",
"Corona",
"Impfstoff"
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innenpolitik
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2024-07-17T11:55:28+0200
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2024-07-17T11:55:28+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ursula-von-der-leyen-eu-recht-covid-impfstoff-pfizer-gate
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NSU-Affäre in Berlin – Was wusste das LKA vom Umfeld des Terrortrios?
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Die Liste der Ermittlungsfehler rund um das rechtsextreme
Terrortrio „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ist um einen
Fall reicher. Diesmal steht das Berliner Landeskriminalamt
(LKA) im Mittelpunkt. Denn das LKA hat über mehr als zehn Jahre
einen Mann als „Vertrauensperson“ geführt, der zum Umfeld der NSU gehört hat. Welche Rolle spielte der V-Mann? Die SPD-Obfrau im Untersuchungsausschuss, Eva Högl, bestätigt,
dass es sich bei dem V-Mann um den gebürtigen Chemnitzer Thomas
S. (44) handelt. „Er ist ein Unterstützer der ersten Stunde des
Terrortrios und soll dem NSU-Trio um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und
Beate Zschäpe beim Untertauchen geholfen haben“, sagte Högl.
Gleichzeitig habe Thomas S. aber wohl seit 1998 keinen „intensiven“
Kontakt mehr zu den Terroristen gehabt. Er soll demnach dem
Trio 1997, vor dem Gang in den Untergrund, Sprengstoff geliefert
haben. Auch war er einst mit Beate Zschäpe liiert. Er gehört zu den
13 Beschuldigten, gegen die der Generalbundesanwalt im Zusammenhang
mit dem NSU-Terror ermittelt. Das LKA Berlin warb Thomas S. Ende 2000 an, als V-Mann erhielt
er ein Honorar. Der Rechtsextremist wusste viel über die braune
Musikszene und stand in Verdacht, der Berliner Band „Landser“ beim
Vertrieb der CD „Ran an den Feind“ geholfen zu haben. Parallel
nutzte die Bundesanwaltschaft die Bereitschaft von Thomas S. zur
Kooperation. Im Verfahren gegen die Mitglieder von „Landser“ machte
S. Angaben zum Vertrieb von CDs, dafür bekam er Vertraulichkeit
zugesichert. [gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert
Deutschland] Von 2001 bis 2005 berichtete S. dem LKA fünf Mal über Vorgänge,
die aus heutiger Sicht dem Komplex NSU zuzuordnen sind. Der
brisanteste Hinweis stammt von 2002. Seinem V-Mann-Führer sagte
Thomas S., die Szenegröße Jan W. habe Kontakt zu drei Personen aus
Thüringen, die per Haftbefehl „wegen Waffen und Sprengstoff“
gesucht werden. Namen und Aufenthaltsort des Trios kannte S.
angeblich nicht. Das war, wie man heute weiß, falsch, da S. den
untergetauchten Neonazis bei der Quartiersuche geholfen haben soll.
Dennoch hatte die Information viel Wert. Die Polizei suchte die
„drei Personen“ Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wegen des Verdachts
der Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens. Anfang 1998 hatten
Beamte bei einer Razzia in einer vom Trio genutzten Garage
Sprengstoff entdeckt. Die Vorwürfe gegen Mundlos, Böhnhardt und
Zschäpe waren 2002 noch nicht verjährt, das war erst ein Jahr
später der Fall. Gegen Böhnhardt war bis 2007 noch die Verbüßung
einer Haftstrafe von mehr als zwei Jahren wegen Bombenattrappen
offen. Der Hinweis von S. war wichtig, weil der Neonazi Jan W. genannt
wurde. Im September 1998 hatte Brandenburgs Verfassungsschutz den
Kollegen des Bundesamtes und denen in Thüringen und Sachsen
mitgeteilt, W. habe Kontakt zum Trio – und solle Waffen besorgen.
Wäre 2002 dieser Tipp neben die Information von Thomas S. gelegt
worden, hätten die Sicherheitsbehörden womöglich bei der Fahndung
nach dem Trio weiterkommen können. Doch in den Akten des Berliner
LKA findet sich nichts, was auf eine Weitergabe der Information
schließen lässt. Es ist auch offen, ob die Berliner von dem
Brandenburger Vermerk wussten. Bei den weiteren vier Hinweisen von
S. ging es noch mal um Jan W.. Konkrete Hinweise auf Versteck und
Taten des Trios gab es offenbar nicht. Im Jahr 2011 wurde S. vom
Berliner LKA „abgeschaltet“, da die Informationen seit 2009 nur
spärlich flossen. Seite 2: Wie erfuhr der Ausschuss von dem V-Mann? Wie erfuhr der Ausschuss von dem V-Mann? Der Ermittlungsbeauftragte des NSU-Untersuchungsausschusses, der ehemalige
Richter Bernd von Heintschel-Heinegg, erhielt den Vorgang Thomas S.
am 24. Juli von der Bundesanwaltschaft. Offenbar wegen der
parlamentarischen Sommerpause kam der Beauftragte erst jetzt dazu,
den Ausschuss zu informieren. Das Berliner LKA hatte im März nach
einer Anfrage des BKA zu mehreren Personen im Fall NSU umfangreich
Akten gesichtet, zehn Jahre zurück. Bei einer Person handelte es
sich um Thomas S., und in den Akten fand sich der brisante Vorgang
zur Vertrauensperson. Noch im März berichtete die Polizei mündlich
der Bundesanwaltschaft davon. Dass der Untersuchungsausschuss des Bundestages nicht
informiert wurde, ist mit einer Art Güterabwägung zu erklären.
Für die Berliner Polizei wie auch die Bundesanwaltschaft hatten die
Ermittlungen im Fall NSU Priorität. Eine sofortige Weitergabe der
Unterlagen zu Thomas S. an den Ausschuss hätte ein Risiko bedeutet.
Wären schon im Frühjahr Details in die Öffentlichkeit geraten, so
wie jetzt, hätten Ermittlungen gefährdet sein können. So ist der
Vorgang ein Beispiel für die Interessenkollision, die sich ergibt,
wenn ein Untersuchungsausschuss in einer Sache forscht, die
strafrechtlich nicht abgeschlossen ist. Wie sieht das der Ausschuss? Für die Abgeordneten gilt der Anspruch, alles zu bekommen, was
angefordert wird – auch ohne Verzögerung wegen parallel laufender
Ermittlungen. SPD-Obfrau Högl fordert von Berlins Innensenator
Frank Henkel (CDU) mehr Tempo bei der Aufklärung des Falls: „Er
muss jetzt den Turbo einschalten.“ Bernd Krömer (CDU),
Staatssekretär der Innenverwaltung, wies im RBB Vorwürfe zurück,
der Ausschuss habe zu lange auf Unterlagen über verdeckte
polizeiliche Ermittlungen warten müssen, die am Donnerstag
übergeben wurden. Der spezielle Auftrag des Ausschusses dazu sei
erst im Juli eingegangen. Es müssten Akten über zehn Jahre
ausgewertet werden, was viel Zeit in Anspruch nehme. Auch habe es
keine Frist in der Anforderung gegeben. [gallery:Rechtsextreme Symbole im Wandel] Gegen diese Argumentation verwahrt sich Högl. Was Krömer sage,
sei „ein dickes Ding“. Sie verwies darauf, dass direkt nach
Einsetzung des Ausschusses Beweisbeschlüsse an alle Länder gegangen
seien. Auch ohne die Anfrage vom Juli hätte Berlin nach Ansicht
Högls den Vorgang Thomas S. schon im März liefern müssen. Der
Ausschuss wurde Ende Januar 2012 eingesetzt. Im März erhielt Berlin
die Aufforderung, mit dem Untersuchungsauftrag in Zusammenhang
stehende Dokumente zu übermitteln. Das Schreiben richtet sich an
die Senatsinnenverwaltung. Darin ist auch von Thomas S. die Rede.
Im Juli erreichte die Innenverwaltung dann das spezielle Schreiben,
in dem sie auch aufgefordert wird, „sämtliche Einsätze operativer
nachrichtendienstlicher Mittel oder verdeckter polizeilicher
Ermittlungsmaßnahmen“ zu übermitteln. Wie reagiert der Innensenator? Frank Henkel (CDU) sagte am Freitag, er wolle mit
„höchster Priorität“ aufklären. „Mir ist bewusst, dass solche
Vorgänge kein günstiges Licht auf unsere Sicherheitsbehörden
werfen.“ Das Vertrauen in den Rechtsstaat dürfe nicht verspielt
werden. Henkel hatte die Ausschuss-Mitglieder am Donnerstag in
einem kurzen Fax über die Grundzüge des Vorgangs informiert. Das
Dokument ist als geheim eingestuft und liegt den Mitgliedern nur
zur Einsicht vor. Daraus gehe aber hervor, dass es sich um Thomas
S. handle, verbunden mit der Zusage, Dokumente zu liefern, ist aus
Ausschusskreisen zu hören. Am Freitag traf sich Henkel mit den
Innenexperten der Parteien im Abgeordnetenhaus. „Man kann Henkel
aber nach derzeitigem Stand keinen Vorwurf machen, Akten
zurückgehalten zu haben“, sagte Thomas Kleineidam,
SPD–Innenexperte. Ermittlungen gegen das Umfeld rechtsextremer
Terroristen und ein Ausschuss, der Neues möglichst schnell
öffentlich machen will, harmonierten naturgemäß nicht immer. Die Grünen kritisierten hingegen: „Noch am Donnerstag hatte
Henkel im Abgeordnetenhaus gesagt, er sei davon überrascht, dass es
offenbar einen Bezug des NSU nach Berlin gebe. Nun stellt sich
heraus, der Senator wusste schon länger davon.“ Ähnlich sehen das
die Piraten. Aus der CDU wurde das nicht kommentiert.
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Das Landeskriminalamt Berlin führte jahrelang einen V-Mann, der Kontakt zum Terrortrio NSU hatte. Wichtige Informationen hatte er auch. Doch irgendetwas ist schief gelaufen. Aber was?
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innenpolitik
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2012-09-15T08:55:23+0200
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2012-09-15T08:55:23+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/was-wusste-das-lka-vom-umfeld-des-terrortrios/51883
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Koalitionsausschuss – Merkel und ihr Kindergarten
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Text…
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Rainer will das Dreirad von Philipp, Peter möchte sein Förmchen nicht her- und Wolfgang keine Smarties abgeben. Der Koalitionsausschuss der Bundesregierung in der kommenden Woche wird zeigen, ob das Tohuwabohu im Regierungssandkasten bald ein Ende hat
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innenpolitik
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2012-11-01T11:43:06+0100
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2012-11-01T11:43:06+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/merkel-und-ihr-kindergarten/52412
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Macrons Rede zu Europa - Auf dem Holzweg in die Universalrepublik
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Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte an der Sorbonne-Universität eine europapolitische Grundsatzrede gehalten, die eines kritischen Kommentars bedarf, den Eric Bonse nicht leistet, sieht er die Rede doch nur aus Brüsseler Sicht und lässt sich von Macrons Rhetorik einfangen. Schauen wir genauer hin: Es ist nicht erstaunlich, dass die Vorschläge und das Pathos des Präsidenten in Brüssel Gefallen finden, denn Emmanuel Macron ging wie selbstverständlich davon aus, dass Europa und die EU (Brüssel) identisch seien. Diese falsche Vorstellung erlaubt, jede Kritik an Brüssel als antieuropäisch zu diskreditieren, als könne es in einem vielfältigen Europa nur eine Perspektive geben. Zumal bei näherem Hinsehen die EU gravierende demokratische Defizite besitzt, wie Heinrich August Winkler ihr in seinem kürzlich erschienenen Buch „Zerbricht der Westen?“ attestiert hat. Die Umsetzung von Macrons Vision würde diese Defizite vergrößern. Ein paar Tage zuvor hatte der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits wichtige Forderungen Macrons formuliert, wozu die Berufung eines EU-Finanzministers mit eigenem Budget gehört. Etwa zur gleichen Zeit empörte sich der französische EU-Währungskommissar Pierre Moscovici über einen angeblichen Skandal, der darin bestünde, dass die Kreditbewilligung für Griechenland von „Technokraten“ vorgenommen würde und einige Mitgliedsländer in diesen Fragen sogar ihre Parlamente zu befragen hätten. Der Grund für Moscovicis Poltern findet sich darin, dass er das Ziel verfolgt, immer mehr Entscheidungsmöglichkeiten in Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik von den Mitgliedsstaaten nach Brüssel zu verlagern, also von demokratisch legitimierten zu demokratisch nicht legitimierten Institutionen. Nur allzu deutlich scheinen Moscovicis Ambitionen hindurch, der von Juncker gewünschte EU-Finanzminister zu werden. Und so sieht es nicht nach einem Zufall aus, dass der französische Präsident wenige Tage später in seiner Rede seinerseits die Einsetzung eines europäischen Finanzministers mit eigenem Budget forderte. Politisch geschickt wurde die Frage, wer dieses Budget zu stellen hat, etwas verunklart, doch am Ende soll es dann doch aus den Haushalten der Mitgliedsländer kommen. Demnach könnten die Mitgliedsländer der EU 3 bis 4 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung jährlich zum Budget beisteuern. Das würde bis zu 43 Milliarden Euro einbringen, von denen Deutschland jährlich circa 30 Prozent zu überweisen hätte: also ungefähr 13 Milliarden pro Jahr, zuzüglich der Gelder, die von der Bundesrepublik bereits jetzt schon zum EU-Haushalt beigesteuert werden. Der Vorschlag ist also letztlich eine mit allzu schönen Worten drapierte kräftige Erhöhung des Budgets der EU-Kommission. Dazu muss man wissen, dass Deutschland der größte Netto-Zahler der EU ist, auch wenn man alle Summen, die als EU-Förderungen nach Deutschland zurückfließen, von den Beiträgen abzieht. Allein im Jahr 2015 beliefen die sich auf 14,3 Milliarden Euro. Die Kosten werden sich durch den Brexit erhöhen, denn die Briten waren im gleichen Zeitraum mit 11,3 Milliarden Euro der zweitgrößte Nettozahler. Nach heutigem Stand würde die Vision des französischen Präsidenten den deutschen Steuerzahler konservativ geschätzt jährlich 27,3 Milliarden Euro kosten, hinzu kämen 3 Milliarden Euro, die durch den Brexit auf Deutschland entfallen, statt circa 14,3 somit 30,3 Milliarden jährlich. In diese Schätzung sind nicht eingerechnet die Kredite und Garantien, die für die griechischen Hilfspakete und für den europäischen Rettungsschirm (ESM) gezahlt oder zurückgestellt werden müssen. Ebenso sind in dieser Summe nicht erfasst die diversen Überweisungen, die beispielsweise an die Ukraine oder an die Türkei gehen. Auch nicht mitgezählt sind die Risiken der Target-Salden und die europäische Umverteilung aus den Sozialkassen- und fonds, die im nächsten Schritt kommen werden. Und das alles vor dem Hintergrund der enormen Kosten, die durch die Migration bereits jetzt schon zu Buche schlagen und die sich in den Jahren 2016 bis 2017 auf rund 50 Milliarden belaufen. Es ist abzusehen, dass der Familiennachzug die jährlichen Kosten von circa 25 Milliarden Euro vervierfachen wird. Womit man bei der Asylpolitik wäre, für die Emmanuel Macron verblüffende Vorschläge unterbreitet. Der französische Präsident wünscht sich die Schaffung einer europäischen Asylbehörde. Es steht zu vermuten, dass sie nach der simplen Rollenverteilung funktionieren wird: „Wir bestimmen, ihr zahlt.“ Nicht nur, dass eine neue und sehr teure Bürokratie aus dem Boden gestampft werden würde, sie würde de facto die Institutionalisierung der Politik des Durchwinkens bedeuten, weil das Gros der Migranten ohnehin nach Deutschland strebt, wo die Sozialleistungen sehr hoch sind. Eric Bonse fällt nicht auf, dass Emmanuel Macron zum einen fordert, dass Europa nicht den „Bürokraten“ überlassen werden darf, er aber in der gleichen Rede neue und den Erfahrungen nach sehr teure Bürokratien errichten will: EU-Finanzminister mit Ministerium natürlich und EU-Asylbehörde als eine Art Super-BAMF. Macron deklariert das Gegenteil von dem, was er in der Rede vorschlägt. Welche Behörde regelt eigentlich den Einzug der von ihm propagierten Internetsteuer? Weshalb sollen die Einnahmen einer Finanztransaktionssteuer dem EU-Haushalt und nicht den Etats der Mitgliedsländer zugute kommen? Wird nicht unter den hehren Worten die Tendenz sichtbar, dass sukzessive das nationale Steuerrecht aufgeweicht wird, weil die Steuereinnahmen direkt nach Brüssel fließen sollen? Der ESM-Vertrag hat jetzt bereits das Königsrecht des Parlaments ausgehöhlt, nämlich die Herrschaft über den Haushalt. Wenn man allerdings in einem fort die Geschichte bemüht, sollte man sich auch daran erinnern, dass gerade die Aushebelung des Königsrechts des Parlaments 1789 in Paris die Revolution auslöste. Das ungewöhnliche Pathos des Präsidenten verrät, dass sich die EU auf dem Holzweg in einen bürokratischen Zentralstaat befindet, mit dem ein Weniger an Demokratie verbunden sein wird. Zu bezahlen haben die von Macron versprochene lichte Zukunft gerade die jungen Menschen. Die Schaffung einer europäischen Armee mit eigenem Verteidigungsbudget sei nur am Rande erwähnt, nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der Nato, selbstverständlich auch sie mit eigener Verwaltung. Dazu wünscht sich der Präsident eine „europäische Staatsanwaltschaft“, einen europäischen Zivilschutz – alles neue Ministerien, die auf EU-Ebene entstehen sollen und die die Ministerien in den Mitgliedsländern zu Regionalverwaltungen herabstufen werden. Man wird bei der Rede des französischen Präsidenten den Verdacht nicht los, dass die „Neugründung Europas“ als ein Europa der Bürokratie, der Zentralisierung und des Demokratieverlustes konzipiert ist. Wie passt Macrons Forderung, Europa nicht den Bürokraten zu überlassen, mit der Schaffung neuer Bürokratien zusammen? Oder sind Bürokraten immer nur die anderen? Und sind die „Technokraten“ der EU keine, weil sie für die EU arbeiten? Ist ein eingesetzter Kommissionspräsident, der nicht gewählt wurde, nicht im Wortsinne auch ein Technokrat? Schaut man sich die europäische Realität unvoreingenommen an, kann man durchaus zu anderen Befunden kommen, als dass Brüssel mit Europa identisch wäre. Und man kann durchaus befürchten, dass die vorangetriebene „Vertiefung der EU“ zur vertieften Spaltung Europas führen könnte. Es geht doch nicht darum, den Bürger mitzunehmen, wie neuerdings Politiker in paternalistischer Selbstüberhebung immer öfter äußern. Denn die Bürger sind keine bockigen Kinder, sondern sie bilden den Souverän. Es geht vielmehr darum, die Bürger zu fragen, ob sie überhaupt das Projekt einer europäischen Universalrepublik wünschen. Aus Emmanuel Macrons Satz: „Ich habe keine roten Linien, ich habe nur Horizonte“ spricht eine Absage an die Realität. Denn wer keine Grenzen mehr kennt und in Horizonten schwelgt, der opfert den Träumen zuliebe die Wirklichkeit. Was unser guter, alter Kontinent braucht, ist nicht eine Häutung der Technokratie, sondern eine Stärkung der Regionen und Länder. Eine Vertiefung der Demokratie, nicht eine Zentralisierung der Macht. Das Argument der Geschichte taugt nicht für die Diskussion, die wir um unsere europäische Zukunft führen müssen, weil es sich auch umkehren lässt. Ein Zentralstaat Europa wird nicht gelingen, eine Universalrepublik auch nicht. Ein föderatives Modell, das die Regionen und Länder verbindet, dagegen schon.
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Klaus-Rüdiger Mai
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Der französische Präsident Emmanuel Macron will Europa nicht den Bürokraten überlassen, aber zugleich sehr teure, neue Institutionen errichten. Was Europa braucht, ist nicht eine Vertiefung der EU, sondern eine Stärkung der Regionen und Länder. Eine Antwort auf Eric Bonse
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[
"EU",
"Emmanuel Macron",
"Vision",
"Utopie"
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außenpolitik
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2017-09-29T15:15:06+0200
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2017-09-29T15:15:06+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/macrons-rede-zu-europa-auf-dem-holzweg-in-die-universalrepublik
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Gustav Kuhn – Wahn und Wirklichkeit im Einklang
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Was Brunst ist, wissen die meisten. Was Inbrunst ist, verraten viele Wörterbücher nicht mehr. Wer es wissen will, sollte diesen Mann kennenlernen, am besten, wenn er sich auf dem Heimweg befindet nach Erl in Tirol. Dort hat sich Gustav Kuhn vor knapp 30 Jahren ein eigenes Heim hingebaut und vor 15 Jahren seine eigenen Festspiele. Zu einem anderen Zeitpunkt ist Kuhn, den seine Leute Maestro nennen, die Erler den Erlkönig oder Guschtl und Journalisten einen Marathonmann, schwer dingfest zu machen. Morgens zwischen fünf und sieben steht er im Dialog mit den Sternen und mit seinen Gedanken. Danach steht er im Dialog mit seinem Chor, seinem Orchester und den Gesangssolisten. Und nach einem Tag, der bis an die Ränder gefüllt ist, steht Kuhn im Dialog mit Freunden und dem Genuss. Den Genuss sieht man ihm an, den Marathonmann weniger. Um den zu erkennen, genügt allerdings ein einziger Blick auf das Festspielprogramm. Im vergangenen Jahr hat er in Erl innerhalb von 24 Stunden Wagners gesamten Ring dirigiert, was manche Zuhörer an den Rand der Erschöpfung brachte, ihn keineswegs. Wie er das durchhält, fragt man sich auch in diesem Jahr, denn nach dem Festival im Juli wird er auch noch eines im Dezember bewerkstelligen, das zusammen mit dem neuen Festspielhaus eröffnet wird. Sponsor ist sein Freund Hans Peter Haselsteiner, Inhaber eines der größten Bauunternehmen Europas. Der ließ für das Winterquartier, ausgestattet mit dem größten Orchestergraben Europas, 36 Millionen Euro springen. „Nur Wagner hat von König Ludwig in Bayreuth so viel bekommen“, grinst Gustav Kuhn. [video:Musikalischer Auftakt des Beethovenfests in Bonn] Äußerlich teilt der Hüne aus der Steiermark mit dem Kurzgewachsenen aus Sachsen wenig. Ähnlich wie Wagner aber bringt er Wahn und Wirklichkeit in Einklang. Schließlich ist Kuhn Experte für beides. Er hat in Salzburg und Wien Musik studiert, daneben Philosophie, Psychologie und Psychopathologie. Der Dr. phil. war Mitglied der österreichischen Olympiamannschaft im Segeln und österreichischer Staatssieger auf dem Flying Dutchman. Er hat eine Intergalaktische Messe komponiert und das CD-Label „col legno“ gegründet, jagt Konzertbesucher auf die Alm und beschallt österreichische Flüsse mit Musik von heute. Er verwirklicht, was andere wahnsinnig finden, weil er den Opernbetrieb wahnsinnig findet. Dafür lieferte er mit 35 einen schlagkräftigen Beweis, als er sich mit einer Ohrfeige vom Bonner Opernintendanten verabschiedete. Die Liste dessen, was er zwischen Paris, Macerata und Tokio gemacht hat, was er nicht gemacht hat, obwohl es von ihm gewünscht wurde, und was er derzeit macht, ist abenteuerlich. Und eines kann ein Abenteurer nicht brauchen: Vorschriften. Ein berühmter Kollege, der in San Francisco die Götterdämmerung dirigierte, erlebte bei der Generalprobe ein Fiasko: 20 Minuten vor dem Ende des Sechs-Stunden-Werks machte das Orchester Schluss – um 18 Uhr, wie das Gesetz es befahl. „Wenn ein Dirigent anständig ist, bringt er sich in dieser Situation um“, sagt Kuhn. „Wenn er hochanständig ist, dann bringt er zuerst den Konzertmeister um, und dann sich selbst.“ Er lacht, dass es bebt, und weiß, was es braucht, damit so etwas nicht geschieht: Inbrunst. Die innere Form jener Brunst, von der er, der sechs Kinder von vier Frauen hat und dafür glüht, mit einer schönen Frau vor dem Kaminfeuer zu sitzen, zweifelsohne
viel versteht: „Inbrunst kennen wir im Gebet. Und sehr viel große Musik ist Gebet.“ [video:Musikalischer Auftakt des Beethovenfests in Bonn] Brunst kommt von brennen. Doch wie hält einer wie er sein inneres Feuer am Lodern? Energie beziehe er aus dem Ort, sagt Kuhn. „An einem Flughafen fällt mir nichts ein. Aber dort, wo der Boden geladen ist.“ Geladen mit Vergangenheit, Mystik und Mysterien wie in Erl, wo seit bald 400 Jahren Passionsspiele aufgeführt werden. Das elektrisiert Kuhn, den lachenden Mystiker, der wiederum andere so entflammen kann, dass sie brennen für seine Sache. Auch im Musikbetrieb ist eine Energiewende möglich. Elf Stunden probte er im vergangenen Jahr Verdis „Requiem“. Keiner seiner Musiker dachte daran, vor dem Ende aufzuhören. Bürokratie macht das Mögliche unmöglich. Kuhn das Gegenteil. „Ich will von meinen Musikern geliebt, nicht gefürchtet werden“, so Kuhn. „Macht hat mich nie interessiert.“ Das sagt ein Mann, der zugibt, Herbert von Karajan, dessen Lieblingsschüler er war, habe viel für ihn getan, „als er der Niki Lauda der Musikszene war“. Aber er war wohl kaum der ideale Lehrer für einen, der Macht wegen der Gefahr des Missbrauchs für mörderisch hält? „O doch!“, jubelt Kuhn. „Karajan hat überzeugend vorgeführt, wie das reine Machtausüben schiefgeht.“ Statt die Berliner oder Wiener oder Londoner Philharmoniker zu dirigieren wie früher, dirigiert Kuhn ein Orchester, wo sich um die Stelle eines zweiten Flötisten 270 Spitzenmusiker aus der ganzen Welt rangeln. An den erlauchten Tyrannen glaubt er nicht, schon gar nicht in der Musik. „Ein Tyrann ist immer zerstörerisch, nie erlaucht.“ Stattdessen glaubt er an das, was Jürgen Klopp macht, der als Trainer die Borussen zum deutschen Meistertitel führte: „Der untersucht bestehende Strukturen und beweist, dass ein Spieler für 30 000 Euro besser sein kann als einer für drei Millionen.“ Wenn der Spieler, ob er Fußball oder Oboe spielt, Feuer fängt und sein Geltungsbedürfnis mit Inbrunst verheizt. Vielleicht sollten die Wörterbücher das Wort wieder aufnehmen. Anfang Juli beginnen die Konzerte der Tiroler Festspiele Erl. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.
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Wie wird man der berühmteste Außenseiter des Musikbetriebs? Zu Besuch bei dem Dirigenten Gustav Kuhn, dem Gründer der Festspiele von Erl
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kultur
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2012-06-19T15:49:40+0200
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2012-06-19T15:49:40+0200
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https://www.cicero.de//kultur/wahn-und-wirklichkeit-im-einklang/49759
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Liberalismus - Keine Freiheit ohne soziale Sicherheit
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Sie sprechen von Raucherdiskriminierung. Einen Veggieday finden sie bevormundend. Interventionen in die Wirtschaft lehnen sie ab. Liberale reden gerne von Freiheit. Ihnen geht es vor allem um ihre Handlungsfreiheit, die Freiheit von etwas. Die negative Freiheit also, wie sie der Philosoph Isaiah Berlin einst beschrieb. Die Freiheit zu etwas, also die positive Freiheit, die er davon unterschied, und bei der es um Selbstbestimmung geht, stand bei dem Liberalen Berlin hingegen unter einer Entartungsvermutung. Während Berlin unter der positiven Freiheit mehr verstand, dass man sein eigener Herr sein will, was vor allem heißt, politische Partizipationsrechte zu haben, um daran teilzuhaben, wie regiert wird, verstehen andere unter positiver Freiheit die sozialen Möglichkeiten zu etwas. Und in der Tat fragt sich: Ist Freiheit nicht eigentlich an soziale Voraussetzungen gebunden und an welche? Kann es wirkliche Freiheit ohne ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit geben? Die „Freiheit zu“ ist der eigentliche linke Freiheitsbegriff, denn bei ihm geht es um die substanziellen Voraussetzungen zu etwas. Dem können aber auch Liberale zustimmen. Im 19. Jahrhundert regte sich die Frage nach den sozialen Voraussetzungen von Freiheit. Muss die materielle Habe als Bedingung von Freiheit mit betrachtet werden? Ist diese verfassungstechnisch garantierte Freiheit (Grundfreiheiten bzw. Grundrechte) schon alles was man unter Freiheit verstehen kann? Ist die eigene reale Freiheit, nicht auch an Voraussetzungen geknüpft, die sie bedingen? Freiheit umfasst auch die Vorstellung von sozialen Voraussetzungen. Und diese soziale Frage war nicht nur ein Projekt antiliberaler Kräfte, sondern ebenso auch ein Projekt von liberalen Sozialreformern von John Stuart Mill über Ralf Dahrendorf bis John Rawls und Amartya Sen. In Amartya Sens Theorie ist dieses substantielle Verständnis von Freiheit am deutlichsten. Im Zentrum seines Werks steht der Begriff der Verwirklichungschancen (capabilities). Die Verwirklichungschancen seien „Ausdrucksformen der Freiheit: nämlich der substantiellen Freiheit, alternative Kombinationen von Funktionen zu verwirklichen“, schreibt Sen in seinem Buch über die „Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“. So ist für Sen nur derjenige richtig frei, der gute Chancen am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren hat, der Zugang zu ordentlicher Gesundheitsvorsorge hat, der Zugang zu ordentlicher Bildung und der ein Existenzminimum an materiellen Ressourcen zur Verfügung hat. Für Sen hat jeder das Recht auf reale Verwirklichungschancen zu den Lebenszielen, wozu er Gründe haben mag. Sozialpolitik soll die einzelnen Individuen, etwa das Kind aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen, befähigen, etwas aus dem eigenen Leben machen zu können. Sozialpolitik hat die Aufgabe für annähernde Chancengleichheit zu sorgen. Diese Vorstellung von Freiheit betrachtet die Sozialpolitik nicht als Feind der Freiheit, sondern als Voraussetzung von Freiheit. Freiheit bekommt somit einen ganz anderen Sinn. Man kann diese Freiheitsidee sozialdemokratisch nennen oder die linke Freiheitsidee. Die substanziellen Möglichkeiten müssen nämlich vom Staat geschaffen werden. Die linken Freiheitskämpfer sind daher staatsfreundlich. Der Sozialstaat ist für die meisten Sozialdemokraten ein Ermöglichungsinstrument für Freiheit. „Jedem seine substanzielle Freiheit!“ ist ihr Motto. Der Traum von der „sozialen Gerechtigkeit“ ist für die meisten Sozialdemokraten ein Prozess der Verwirklichung realer Freiheit. Der Sinn der Freiheit liegt in der Realität der Freiheit. Und für Sozialdemokraten heißt dies nicht nur die Realität der Grundfreiheiten, wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Wahlfreiheit und Vertragsfreiheit, sondern auch die Realität von substanzieller Freiheit. Diese Idee von Freiheit können aber auch Liberale teilen. Dieser Freiheitsidee ist auch die FDP Jahre lang angehangen. Ralf Dahrendorf, Karl-Hermann Flach und Walter Scheel stellten diese sozialliberale Linie der FDP da. Der Liberalismus ist viel komplexer als dies der „Statusliberale“ anerkennen will. Der Liberalismus hat viel mehr Gemeinsamkeiten mit der Sozialdemokratie als er es in der Ära „Westerwelle und Rösler“ zugegeben hat. Aber seit Langem hat die FDP diese sozialliberale Linie aufgegeben. Die Freidemokraten waren in den letzten Jahren ein Sammelbecken für konservative Liberale und für neoliberale Globalisierungsgewinner, die sich unter dem Mantra der „Steuersenkung“ zusammenschlossen. Für diese ist mit dem Rechtsstaat – der auch die kapitalistische Wirtschaftsordnung sichert – die Freiheit verwirklicht. Sozialliberale denken anders. Für sie hat der Staat mehr Aufgaben als nur für Sicherheit zu sorgen und die Grundfreiheiten zu garantieren. Für sie muss der Staat auch ein Sozialstaat sein. Doch auch die Sozialliberalen sind zumeist kritisch gegenüber einer Umverteilungspolitik des Staates. Aber ist diese Antihaltung der Sozialliberalen gegen jede Form von Verteilungsgerechtigkeit eigentlich plausibel? Gehört zu den sozialen Voraussetzungen von Freiheit nicht auch, dass man von seinem eigenen Gehalt auch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann? Ist ein Mindestlohn nicht die Grundlage für einen gesicherten ökonomischen Grundstock und damit auch freiheitsrelevant? Der Sozialdemokrat erkennt diesen Zusammenhang an. Er glaubt, dass man ohne ökonomische Grundversorgung nicht davon sprechen kann, dass jemand real frei ist. Auch der Sozialliberale kann das anerkennen. Inhaltlich wäre also ein Konsens möglich. Sozialliberale können höhere Besteuerung und Mindestlöhne akzeptieren, selbst dann, wenn sie die Idee der Gleichheit ablehnen. Man nennt Leute, die die Gleichheit als das zentrale Ziel der Gerechtigkeit auffassen, Egalitaristen. Und die sagen, dass die Relation zwischen dem Einen und dem Anderen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit die zentrale Perspektive sei. Die sozialliberalen Egalitaristen glauben – im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Egalitaristen –, dass Verteilungsgerechtigkeit kein Gerechtigkeitsziel ist. Aber sie glauben, dass der Staat durch Sozialpolitik für eine Annäherung an Chancengleichheit sorgen muss und damit meinen sie vor allem eine gute Bildungspolitik. Diese Sozialliberalen werden zwar nicht Steuererhöhungen an sich gut finden – denn sie interessiert die Summe des Wohlstandes mehr als seine Verteilung –, aber als Finanzierungsmittel für eine bessere Bildungspolitik, müssen diese Sozialliberalen Steuererhöhungen für Wohlhabende dann doch zumindest in Betracht ziehen. Bei Mindestlöhnen sind diese Sozialliberalen eher kritisch, weil dies einen Eingriff in die Marktwirtschaft bedeutet, aber da sie die Marktwirtschaft als soziale Marktwirtschaft denken, müssen sie auch anerkennen, dass eine Korrektur des Marktes erforderlich ist, wenn die selbstregulativen Tendenzen des Marktes bei der Lohnbildung versagen. Oder anders gesagt: Wenn die am schlechtesten Gestellten dauerhaft schlecht weg kommen und dies obwohl die Wirtschaft und der Wohlstand in der Summe wächst, dann müssen diese Sozialliberalen sich die Frage stellen, ob der Markt nicht auch korrigiert werden muss. Non-Egalitaristen sind nun solche Leute, die glauben, dass Gerechtigkeit nichts mit Gleichheit zu tun hat. Der sozialdemokratische Non-Egalitarist sagt: Im Prinzip ist es egal, wie der Reichtum in einer Gesellschaft verteilt ist, aber es kommt darauf an, dass zumindest absolute Mindeststandards vorhanden sind, unter die keiner fallen kann. Diese Position wurde in der „Politik des dritten Weges“ von Gerhard Schröder und Tony Blair forciert. Diese Politik senkte Steuern, kürzte den Sozialstaat und deregulierte den Arbeitsmarkt, was man als neoliberal kritisierte. Aber letztlich war das nicht neoliberal, sondern nur einfach eine Absage an die Idee der Gleichheit. In diesem Sinne kann man Schröder und Blair als sozialliberal verstehen. Deswegen fühlten sich damals auch so viele Sozialdemokraten fremd in ihrer eigenen Partei, weil die meisten Sozialdemokraten glauben, dass Verteilungsgerechtigkeit ein sozialdemokratisches Grundanliegen ist. Nun muss man aber konstatieren, dass zwar eine Erhöhung der Einkommenssteuer oder Einführung einer Vermögenssteuer mit diesem sozialdemokratischen Non-Egalitaristen, den man nicht nur in der SPD, sondern eben auch in der FDP, bei den Grünen, den Piraten und sogar der CDU findet, eher schwierig ist, aber auch nicht völlig ausgeschlossen. Moderate Steuererhöhungen für Wohlhabende würden nämlich immer noch bedeuten, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse signifikant ungleich wären. Aber zumindest könnte man durch Steuererhöhungen für Wohlhabende das Geld für umfangreiche Bildungsinvestitionen bekommen, und das ist für den Sozialliberalen ja gerechtigkeitsrelevant. Ein Mindestlohn ist mit diesem Typen aber definitiv zu machen, weil der Mindestlohn einen Mindeststandard beschreibt, der für ihn gerechtigkeitsrelevant ist. Für eine linke Mehrheit in Deutschland sind das gute Nachrichten. Denn nicht alle Liberalen sind „rechts“ oder „konservativ“. Linke Politik ist mit Liberalen zu machen. Nach dem Zusammenbruch der FDP verteilen sich die Liberalen nun jedoch auf sechs Parteien: Die FDP, die Grünen, die Piraten, die AFD, die SPD und die Union. Alle außer der AFD sind nach links offen. Nur weil die Mehrheit der Wähler bei dieser Wahl vermeintlich rechte Parteien gewählt hat, soll man nicht glauben, dass es keine linke Mehrheit gebe. Die linke Mehrheit ist vorhanden. Sie teilt sich nur mehr auf. Und die Liberalen gehören teilweise sehr wohl zu dieser linken Mehrheit. Eine Streitschrift von dem ehemaligen FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach aus dem Jahre 1971 trägt den Titel: „Noch eine Chance für die Liberalen. Oder: Die Zukunft der Freiheit“. Sie ist auch heute ein Zeichen für alle Liberalen und die Partei, die in der bundesrepublikanischen Geschichte beanspruchte den Liberalismus zu repräsentieren. Der Liberalismus hat so gut wie alles erreicht. Gesellschaftspolitisch findet sich liberales Gedankengut in allen demokratischen Parteien, und die Wirtschaftsliberalität wird mittlerweile von außen in die Parlamente getragen. Auch demokratietheoretisch hat der Liberalismus seine Zeit hinter sich. Die liberale Demokratie ist zur Postdemokratie mutiert. Karl-Hermann Flach schrieb damals in seiner Streitschrift: „Die Frage nach der Zukunft der Freiheit, nach den Chancen des Liberalismus, bleibt gestellt. Es ist die Frage nach der Zukunft einer menschenwürdigen Gesellschaft“. Und heute, 40 Jahre später, gibt es auf diese Frage eigentlich nur noch eine Antwort: Die Zukunft der Liberalen ist links.
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Nils Heisterhagen
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Die Liberalen reden gerne von Freiheit. Aber wenn man von Freiheit redet, welche Freiheit meint man eigentlich? Ein Plädoyer dafür, Freiheit substanziell zu verstehen. Denn Freiheit braucht soziale Sicherheit
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kultur
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2013-11-27T15:32:01+0100
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2013-11-27T15:32:01+0100
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https://www.cicero.de//liberalismusschwerpunkt-die-linken-sind-die-eigentlichen-freiheitskaempfer/56500
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Martin Schulz und das EU-Parlament - „Wir brauchen keinen Alleinunterhalter als Präsidenten“
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Am 17. Januar 2017 wird das Europaparlament einen Präsidenten für die zweite Hälfte der Legislaturperiode wählen. Im Parlament herrscht eine informelle Große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten. Eigentlich ist verabredet, dass der Sozialdemokrat Martin Schulz seinen Posten als Parlamentspräsident, den er seit 2012 inne hat, zugunsten eines konservativen Kandidaten abgeben soll. Doch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, selbst ein Konservativer, hat oft betont, wie gern er mit Schulz zusammenarbeite und dass er an ihm festhalten will. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat – zumindest bisher – in der EU auf Kontinuität gesetzt. Doch die Personalie Schulz erregt die Gemüter der konservativen EVP-Fraktion im Parlament. Ihr gehört auch Herbert Reul an, der die CDU/CSU-Gruppe in der EU-Kammer führt. Herr Reul, Sie haben sich gegen eine neue Amtszeit von Präsident Martin Schulz ausgesprochen – warum? Das ist relativ einfach. Wir haben im Parlament eine Regel, die heißt: Alle zweieinhalb Jahre werden die Spitzenämter getauscht. Wir haben also eine Rotation. Das war hier immer guter Brauch, und keiner hat das bisher in Frage gestellt. Nach der Europawahl 2014 ist die Amtszeit von Martin Schulz einfach verlängert worden. Das heißt, er hat schon eine Doppelperiode hinter sich und ist aus dieser Regel ausgebüchst. Ursprünglich wollte er sogar gleich um fünf Jahre verlängern. Wo ist das Problem, es sind doch alle mit ihm zufrieden? Das Problem ist, dass wir eine schriftliche Absprache haben. Er hat unterschrieben, dass nach zweieinhalb Jahren die andere große Fraktion am Zuge ist. Insofern ist klar, dass diesmal wir dran sind, und dass dann auch alle Sozialisten unseren Kandidaten wählen. Und wenn nicht? Ich gehe davon aus, dass Martin Schulz ein Ehrenmann ist und sich an Absprachen, die er selber getroffen hat, auch hält. Wenn nicht, dann ist eben das Tischtuch zerschnitten. Heißt das, dass die informelle Große Koalition im Europaparlament beendet wäre? Das müssen die Fraktionen selbst wissen, ob sie das wollen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Große Koalition nur deshalb arbeitsfähig ist, weil es Martin Schulz gibt. Ich glaube, dass das Manfred Weber, unser Fraktionsvorsitzender, und Gianni Pitella, Fraktionsvorsitzender der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten, auch ohne ihn können. Ich fange immer dann an zu zweifeln, wenn einer glaubt, er allein könne das Abendland retten. Dann schnappt einer meistens über, und das ist gefährlich. Nun gibt es aber ein Problem: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich für den Verbleib von Schulz ausgesprochen… Genau. Doch es geht Herrn Juncker nichts an, um es deutlich zu sagen, denn er ist Vorsitzender der Kommission, und nicht Mitglied des Parlaments. Die Parlamentarier sind alle Manns und Frau genug, um selbst zu entscheiden, wen sie zum Präsidenten wählen. Das nennt man auch Trennung der Gewalten. Ich käme ja auch nicht auf die Idee zu sagen, wen Herr Juncker einstellen soll. Ist das eine Mehrheitsmeinung in der EVP-Fraktion, haben Sie das schon so offen angesprochen? Ja. Ich trage das seit Monaten vor in der Fraktion und in der CDU/CSU-Gruppe, auch im Präsidium der CDU Deutschland. Mir hat bisher noch niemand widersprochen. Und was passiert, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sich für Schulz ausspricht? Ist das denkbar? Es ist alles im Leben denkbar. Wenn Angela Merkel eine andere Auffassung hat, dann würde ich sagen, dass ich die Sache mit Martin Schulz oft genug in ihrer Anwesenheit vorgetragen habe, und es gab keinen Widerspruch. Ich erzähle es immer wieder, damit keiner sagen kann, er hätte es nicht gewusst. Wenn jetzt jemand auf die Idee kommt, den Kurs zu ändern, dann tut’s mir leid: Es ist zu spät – und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wen hätten Sie denn am liebsten als Nachfolger für Schulz? Ich habe keinen Favoriten. Wir brauchen eine qualifizierte Person, die öffentlich wirksam ist wie Schulz und das Parlament führen kann. Ich würde mir wünschen, dass sie auch die Fraktionen zusammenführen kann und nicht so ein Einzelkämpfer ist. Wir brauchen keinen Präsidenten, der Alleinunterhalter ist. Sondern jemand, der sich als Spitzenmann unter Gleichen versteht. Wenn der Neue das besser machen würde, dann könnten wir nur gewinnen. Er oder sie muss nicht unbedingt Spitzenkandidat in der Europawahl gewesen sein, wie Schulz? Darf er, muss er aber nicht.
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Eric Bonse
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Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, fordert die Ablösung des Parlamentspräsidenten Martin Schulz – und kündigt die Nominierung eines eigenen Kandidaten an
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[
"Martin Schulz",
"Herbert Reul",
"EU",
"Angela Merkel",
"Jean-Claude Juncker"
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außenpolitik
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2016-09-21T13:26:13+0200
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2016-09-21T13:26:13+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/martin-schulz-und-das-euparlament-wir-brauchen-keinen-Alleinunterhalter-als-Prasidenten
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Kalter Krieg – Wie der „Unternehmen Barbarossa“ zum Abenteuerurlaub wurde
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Die Trümmer in den deutschen Städten waren noch nicht
weggeräumt, die Kriegsversehrten und Kriegsblinden gehörten noch
zum Straßenbild, alte Wehrmachtsmäntel wurden noch aufgetragen,
eine Bilanz des millionenfachen Völkermords an Europas Juden
existierte noch längst nicht, und Zehntausende Verantwortliche für
das größte moralische und politische Debakel der deutschen
Geschichte saßen weiterhin in Amt und Würden. Ein Jahrzehnt nach Kriegsende stieg die publizistische
Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zum vierfarbig illustrierten
Unterhaltungsgenre auf. Das „Unternehmen Barbarossa“, der Überfall
auf die Sowjetunion, erschien als militärisch heroisierende
Abenteuerserie in der Zeitschrift Kristall. Verfasst hatte sie ein
gewisser Paul Carell. Hinter dem Pseudonym verbarg sich der
ehemalige SS-Obersturmbannführer Paul Schmidt und Sprecher von
Ribbentrops Auswärtigem Amt, der inzwischen hoch bezahlter Berater
des Verlegers Axel Springer geworden war. Er sollte später den
Russlandfeldzug als „Präventivkrieg“ charakterisieren. Seine
Interpretation des Überfalls gehörte während der Gründung der
Bundeswehr zur mentalen Ausrüstung vieler ehemaliger
Wehrmachtsoffiziere in neuen Uniformen. Immerhin gab es in den fünfziger Jahren bereits erste Verfahren
gegen Kriegsverbrecher vor deutschen Gerichten: „Denn sie mussten
wissen, was sie tun“, überschreibt die Illustrierte Stern im Jahr
1958 ihren Prozessbericht gegen sechs Angeklagte, die beschuldigt
wurden, in den letzten Kriegstagen auf Befehl des SS-Generals Hans
Kammler 129 russische Arbeiter, 77 Frauen und zwei Kinder
erschossen zu haben. Der nachfolgende Artikel nimmt den Vorwurf des
Titels allerdings zurück: Vor Gericht ständen „sechs unbescholtene,
korrekte und erfolgreiche Bürger aus unserer Mitte“. Die
zahlreichen Fotos zeigen nicht die Opfer, sondern mitfühlend die
mutmaßlichen Täter: freundliche Familienväter im Kreis ihrer
lächelnden Familie. Viele Leser protestierten gegen die
Überschrift: „Hört doch auf mit dem Irrsinn, deutsche Menschen zu
verurteilen, die keine Zeit zum Überlegen hatten, was sie taten
oder tun sollten“, oder: „Ich bin erstaunt, dass Sie sich jetzt an
der Hetze gegen eine tapfere Truppe und an der Schwarzmalerei
beteiligen.“ Die Illustrierten Stern und Quick erreichen in den fünfziger
Jahren ein Millionenpublikum. Die Hefte werden gekauft,
weitergereicht, in Arztpraxen und beim Friseur gelesen. Von
Kriegsverbrechen wie anlässlich des Prozesses in Arnsberg berichten
die Reporter eher selten und wenn, setzen sie „Kriegsverbrecher“ in
Anführungszeichen, oft mit dem Zusatz „sogenannte“. Umso
leidenschaftlicher erinnern sich Fortsetzungsromane und
historisierende „Tatsachenberichte“ an Vergangenheit und Krieg.
Deren Akteure handeln, denken und fühlen wie Romanfiguren. Im
Zentrum der Quick-Serie „So wahr mir Gott helfe“ steht der
Hitlerjunge Hans, der den eleganten Major Dittrich grenzenlos
bewundert: Er betrug sich wie ein Sportsmann, deshalb bekam ihm der
Krieg. „Er war undenkbar ohne Reitstiefel und Pistole. Von beiden
trug er immer das neueste Modell. Hans dachte: Was für ein
großartiger Kerl, so möchte ich auch sein.“ „Schwere deutsche Bombenangriffe setzten die Eisenbahnlinien
außer Betrieb, brachten den Straßenverkehr durcheinander und
unterbrachen das Nachrichtennetz. Die Heeresgruppen säubern das
besetzte Gebiet.“ Mit kühlem Stolz beschreibt die Stern-Serie „In
Europa gingen die Lichter aus“ den deutschen Vormarsch nach Osten.
Diese Texte, von einzelnen Autoren oder Autorenteams von Heft zu
Heft verfasst, spiegeln einen Mainstream von Ansichten,
Interpretationen und Überzeugungen wider, auf die sich die Mehrheit
der Leser – auch mit kontroversen Leserbriefen – verständigt. Immer
wieder geht es um die Frage, ob die Offiziere und Mannschaften der
Wehrmacht nun eigentlich (böse) Nazis oder (gute) loyale Soldaten
gewesen seien. Generalfeldmarschall Walter von Reichenau
beispielsweise, von dem die Quick weiß, dass der „Führer“ ihn einst
mit Tränen in den Augen empfing, „weil Sie der einzige General des
Heeres sind, den man als Nationalsozialisten bezeichnet und den ich
aufrichtig schätze“, bekommt den Beinamen „General zwischen den
Stühlen“. Er wird als Mann „mit einem Ruck zum Genialen“
charakterisiert: „Ein sprühender Kopf, den die Einfälle jagen, der
die halbe Welt bereist hat, ein halbes Dutzend Sprachen und die
Literatur kennt, der Shakespeare übersetzt und Gedichte hersagt und
zugleich doch so fest in der militärischen Wirklichkeit steht.“
Walter von Reichenau, der mit der 6. Armee „nach Russland
marschiert“, habe das Verhängnis gesehen, heißt es nebulös, aber
das sei die Schuld derer, die versäumten, rechtzeitig „die Hand auf
Hitler zu legen“. Solche rhetorischen Fragen und Antworten
wiederholen sich häufig: Waren die Offiziere „Paladine“, also
ergebene Gefolgsleute, „treugläubige Werkzeuge“ oder „erbitterte
Gegner“ Hitlers? Antwort: Ein jeder suchte nach seinen
Möglichkeiten, „die Hand auf Hitler zu legen“. So gab es beim Überfall auf die UdSSR, in diesem
„Weltanschauungskrieg“, keine „schwarzen Schafe“, Sadisten und
Mörder? Doch. Zufälligerweise aber (fast) nur unter denjenigen
Offizieren, die in sowjetischer Gefangenschaft dem „Nationalkomitee
Freies Deutschland“ beitraten, „Verräter“, nach landläufiger
Auffassung. Unter der Überschrift „Der große Schwindel“ beklagt der
Stern 1952 die ungerechte Verurteilung der Generäle Hermann Hoth
und Hans von Salmuth wegen Judendeportationen: „Zwei Generäle büßen
für die Tat des dritten“, heißt es in dem Bericht, denn der
wirklich Schuldige, General Vincenz Müller, der nun in der DDR
lebt, habe nicht vor Gericht gestanden: „Müller leitete persönlich
den Einsatz von Heeresteilen bei den Judenerschießungen. In
Artemowsk wurden 1300 Juden liquidiert.“ Offenbar überrascht diese
Nachricht (von der Judenerschießung) die Leser nicht. Sie wissen
jetzt Bescheid. Trotzdem wird die Formel „nichts gewusst zu haben“ gehörig
strapaziert. Wie absurd sie war und ist, verrät eine Passage in der
Quick-Serie „Haie und kleine Fische“. Darin diskutieren die beiden
Fähnriche Heyne und Teichmann die Ermordung der Juden. „Meinst du,
die hohen Generäle, die Marschälle, die Oberbefehlshaber – wissen
die das?“ „Nein, ich glaub, sie wissen’s nicht. Der von der
Luftwaffe – ja.“ Die jungen „Frontsoldaten“ wissen ganz
selbstverständlich von Vorgängen, die ihrer Führung angeblich
verborgen bleiben. Und dann schlägt Teichmann vor, mit „diesen
Brüdern“ nach dem Krieg abzurechnen: „Wenn wir Frontsoldaten uns
zusammentun, von allen drei Wehrmachtsteilen – und ich garantiere
dir, dass auch die Fronttruppen der SS mitmachen würden –, dann ist
Himmlers Gangsterclub erledigt.“ Doch sobald in einer anderen Serie Himmlers „Gangsterclub“ ins
Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, stellt sich heraus: Er ist
weniger furchterregend als gemeinhin angenommen. Dies schildert
eindrücklich jene Stern-Geschichte, in der Oberleutnant Hartmann
zum SS-Geheimdienst SD abkommandiert wird. Ihm ist mulmig zumute.
Aber: Ein blonder Obersturmführer öffnet im Bademantel die Tür
eines sonnendurchfluteten Hotelzimmers und fragt, „mit einem
Gesicht, das immer zum Lachen bereit schien: ‚Sekt oder Weißwein?‘
‚Wenn schon, dann Sekt‘, sagte Hartmann und lachte mit.“ „Deutsche
Frontsoldaten“, auch die von der SS, sind in derlei Serien stets
hochgewachsen und haben fröhliche Augen, während die
„Sowjetsoldaten mit stechenden Augen“ „Mord, Brand und
Vergewaltigung vor sich hertragen“. So erschien in den Erzählungen der Nachkriegspresse der
Bundesrepublik, in den Landser-Heften und Konsalik-Romanen der
Überfall auf die Sowjetunion jahrelang als ein sportliches,
gefährliches Abenteuer – bis die Leser genug hatten von der
Glorifizierung einer geschlagenen Wehrmacht und es vorzogen, die
Augen erst einmal vor der eigenen Geschichte zu schließen, und bis
die ersten NS-Richter in Pension gingen und die Auschwitz-Prozesse
von 1963 an das ganze Grauen des Ostfeldzugs vor aller Augen
führten. Doch die Täterrolle der Wehrmacht in ihrem „grauen
Ehrenkleid“ im Holocaust blieb noch jahrelang ein deutsches
Tabu. Diesen Artikel finden Sie auch in der Juni-Ausgabe des
Magazins Cicero. Lesen Sie in der aktuellen Titelgeschichte „Der
Herr der Welt“, was Hitler mit seinem „Unternehmen Barbarossa“
wirklich wollte. Das neue Heft erhalten Sie in Ihrem Kiosk oder im
Cicero Shop Zur Übersicht über alle Themen in der aktuellen
Juni-Ausgabe: Inhalt Juni
2011
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In Landser-Heften und Illustrierten verwandelte sich Hitlers Überfall auf die Sowjetunion in den fünfziger Jahren in ein heroisches Ereignis, das seinen eigenen Platz im Kalten Krieg behauptete.
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außenpolitik
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2011-05-27T09:48:34+0200
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2011-05-27T09:48:34+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/wie-der-unternehmen-barbarossa-zum-abenteuerurlaub-wurde/42011
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Film „Die Kinder des Kalifats“ - „Es gibt keinen Unterschied zwischen der Hitler-Jugend und jungen Djihadisten“
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Ein Studio in Berlin-Friedrichshain. Es ist der Sitz der Firma Berlin Basis. Zusammen mit dem rbb hat sie einen Dokumentarfilm produziert, der am 24. Februar ins Rennen um die Oscars in Los Angeles geht – als zweiter deutscher Beitrag neben dem Spielfilm „Werk ohne Autor“ und als einziger europäischer Dokumentarfilm. „Von Vätern und Söhnen“ erzählt die Geschichte einer politischen Radikalisierung, ebenso schnörkel- und schonungslos. Zwei Jahre lang hat Talal Derki einen Al-Quaida-Kämpfer in der syrischen Provinz Idlib dabei beobachtet, wie er seine Söhne zu Gotteskriegern erzieht. Derki, 40, ist ein schmaler, fast zartgliedriger Mann. Er trägt ein Hemd im Tarnfarben-Look und bewegt sich sich so unauffällig, als befinde er sich immer noch im Kriegsgebiet. Dabei lebt er schon seit 2013 in Berlin. Wo, will er nicht sagen. Safety first. Seit sein Film einen Preis nach dem anderen abräumt, steht er auf der schwarzen Liste der Djihadisten. Herr Derki, in Ihrem Dokumentarfilm „Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats“ sagt der 13-jährige Sohn zu seinem Vater, einem Al-Quaida-Kämpfer: „Ich hab den kleinen Vogel geschlachtet – so wie Du einem Mann den Kopf abgeschlagen hast, Papa“. Was verrät diese Szene über die Werte, mit denen Söhne von Djihadisten aufwachsen? Sie wollen so sein wie ihre Väter. Deshalb eifern sie ihnen nach. Ihre Väter sind ihre Vorbilder, ihre Helden. Diese Szene verrät etwas über die Legitimität von Gewalt und die Ideologie, die dahinter steht. Dass Kinder Tiere misshandeln, ist nicht so ungewöhnlich.
Nein, so etwas passiert überall. Aber hier ist es in gewisser Weise organisiert. Der Vater hat einem anderen Mann den Kopf abgeschnitten, weil der nicht an die Scharia glaubt. Er vermittelt seinem Sohn die Überzeugung, dass ihr Gott die Welt nur für die Gläubigen geschaffen hat. Und dass es deswegen sein gutes Recht sei, Ungläubige zu töten. Ist das der Schlüssel zu Ihrem Film?
Ich würde sagen: Er gibt die Richtung vor. Der Zuschauer erfährt, in welcher Welt dieser Film spielt. Und er lernt, welche Rolle Erziehung darin spielt. Für Djihadisten ist das Leben nur eine Brücke in eine bessere Welt. Es ist ihnen schlicht und einfach egal. Der Tod ist in ihren Augen kein Verlust. Bomben auf sie zu werfen, erschreckt sie nicht. Es macht sie nur noch stärker. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Dschihadismus zum Thema eines Films zu machen?
Ich verfolge den Aufstieg djihadistischer Gruppen schon seit geraumer Zeit mit Sorge – nicht nur in Syrien. Solche Bewegungen können überall dort entstehen, wo Chaos oder Krieg herrscht. Wo Menschen es schwer haben, ihren eigenen Platz zu finden. Die Djihadisten reden der Bevölkerung ein, sie würden sie beschützen. Sie betreiben Propaganda. Sie verstehen es, Menschen zu brain-washen. Warum haben Sie das Verhältnis eines Djihadisten zu seinen Söhnen zum Dreh-und Angelpunkt Ihres Films gemacht?
Ich bin selbst Vater eines sechsjährigen Sohnes. Und als ich meinen letzten Film „Rückkehr nach Homs“ gedreht habe, habe ich einen Vater kennengelernt, der seinem Sohn beibrachte, wie man mit Waffen umgeht und Menschen tötet. Ich war so schockiert, dass ich beschloss, einen eigenen Film darüber zu drehen. Ihre Hauptfigur ist Abu Osama, ein Al-Quaida-Kämpfer aus der syrischen Provinz Idlib. Wie haben Sie ihn gefunden?
Das war gar nicht so leicht. Ich habe Camps abgeklappert, in denen Al-Quaida-Gruppen ihren Nachwuchs für den Krieg schulen. Einer der Ausbilder hat mich zu Abu Osama gebracht, und als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich gleich: Das ist mein Mann. Warum?
Er ist charismatisch, mit diesem großen Kopf und dem langen Bart, aber er entspricht nicht dem Klischee eines Djihadisten. Er hat dieses Lächeln, und man merkt, dass er seine Kinder von ganzem Herzen liebt. Und dann sind da seine Augen. In denen flackert der Wahnsinn. Dieser Mann ist vollkommen aus der Zeit gefallen. Wenn er den bevorstehenden Weltuntergang beschwört, denkst du, der hat vor 1.500 Jahren gelebt. Jetzt ist der Film für einen Oscar nominiert. Menschen auf der ganzen Welt erleben den liebenden Vater als Diktator und Killer. Haben Sie gar keine Gewissensbisse? Nein, das Wort Schuld hat hier nichts zu suchen. Ich habe Abu Osama im Film ja nicht kritisiert. Er entlarvt sich selbst und den ganzen Wahnsinn dieser Ideologie. Aber Sie haben ihn dazu gebracht. Müssen Sie sich jetzt vor Rache-Akten der Djihadisten fürchten?
Ich hatte keine andere Wahl. Sehen Sie, ich lebe seit 2013 mit meiner Familie in Berlin. Ich bin hier gestrandet, weil hier die Firma sitzt, die meinen letzten Dokumentarfilm produziert hat. Mein Sohn geht hier zur Schule. Die Stadt ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Ich könnte sagen: Mir geht es hier gut. Ich lebe in Frieden. Mir doch egal, was in Syrien passiert. Dass Afrin, die Heimatstadt meiner Familie, seit zwei Jahren von Djihadisten terrorisiert wird. Dass Baschar al-Assad wegen dieser Leute überhaupt nur noch an der Macht ist. Dass sich die Gesellschaft immer weiter radikalisiert. Ich habe das Gegenteil getan. Sie haben wirklich keine Angst vor den Gotteskriegern?
Ich hatte schon keine Angst vor ihnen, als ich den Film gedreht habe. Jeder Tag war ein Adrenalin-Test. Die Gefahr drohte nicht nur von Abu Osama. Er wurde ja auch von anderen Djihadisten verfolgt. Und das Terrain war vermint. Wenn ich einen Fehler gemacht hätte, hätte mich das den Kopf kosten können. Bekommen Sie keine Morddrohungen, jetzt, da der Film für einen Oscar nominiert wurde?
Doch, aber nur im Internet. Ich nehme solche Drohungen aber nicht ernst. Die wirklich gefährlichen Leute schicken keine Morddrohungen per Email. Die handeln. Sie meinen: Diese Leute morden?
Es würde keinen Sinn machen, mich jetzt zu töten, wo der Film raus ist. Das hätte ja zur Folge, dass alle Leute diesen Film sehen würden wollen. Und der ist ja nun mal keine gute Werbung für sie. Dieser Film erzählt nicht nur vom Djihad – es geht darin auch um Radikalisierung. Und darum, wie eine Ideologie von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Wussten Sie, dass der IS in Libyen innerhalb von einer Woche eine Armee aufgebaut hat? Sie wollen damit sagen, das Kalifat kann auch überall anders entstehen?
Jederzeit – solange wir das System und die Erziehung nicht ändern und die Verletzung der Menschenrechte ignorieren. Mein Film ist ein Appell an die Vereinten Nationen, die Rechte der Kinder und Frauen in den betroffenen Ländern zu stärken. Religion gehört nicht in die Schulen. Abu Osama ist gläubiger Moslem, er kann den Koran seitenweise auswendig. Was hat ihn zum Gotteskrieger gemacht?
Er war immer das Problemkind in der Familie. Als Jugendlicher fing er plötzlich an, sich für den Kampf der Taliban zu interessieren. Mit 18 Jahren fand er den Weg zu Al Quaida. 2008 kam er ins Gefängnis. Man warf ihm vor, er hätte in Damaskus einen Bombenanschlag auf den Geheimdienst verübt. Wo hört der Glaube auf, wo fängt der Fanatismus an?
Da gibt es keine Grenze. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Aber nicht jeder Muslim ist ein Gewalttäter.
Aber wenn Du diese Gewalt schon in deiner Kindheit erlebst, ist es in deinem Kopf drin. Und du kriegst es nicht mehr so leicht heraus. Das Muster ist immer dasselbe?
Genau, es geht um Radikalisierung. Das ist das eigentliche Thema meines Films. Ob sich eine Nation radikalisiert oder eine Religion, das macht keinen Unterschied. Das Ziel ist in beiden Fällen die Weltherrschaft. In Ihrem Film gibt es einen Moment, in dem die Söhne vor ihrem Vater zurückweichen. Da kommt Abu Osama mit Krücken nach Hause – eine Mine hat ihm ein Bein zerfetzt. Warum hat ihnen das nicht die Augen für die Schrecken des Krieges geöffnet?
Der Unfall hat sie noch enger zusammengeschweißt. Der Vater ist jetzt praktisch der Rentner in der Familie. Sie fühlen sich dafür verantwortlich, seine Rolle zu übernehmen. Warum sieht man in dem ganzen Film nicht eine einzige Frau?
Das ist der normale Alltag. So behandeln die Salafisten ihre Frauen. Die dürfen nicht mit Fremden sprechen oder vor der Kamera erscheinen. Ich hatte Abu Osama gebeten, ein Interview mit einer seiner beiden Frauen zu führen. Er hat das abgelehnt. In Deutschland übernehmen die Frauen eine immer wichtigere Rolle in der salafistischen Szene. Fürchten Sie nicht, dass Ihr Film sämtliche Vorurteile gegen Muslime befördert?
Wenn Sie einen Film über Nazis in Deutschland drehen würden, müssten Sie dann nicht auch Angst haben, dass der Film den Eindruck erweckt, alle Deutschen seien Nazis? In den Augen vieler Deutscher sind alle Syrer Flüchtlinge – und sie werden es auch noch in hundert Jahren sein. Das Problem in Europa ist, dass die Menschen gerne verallgemeinern. Aus solchen Vorurteilen entsteht Krieg. Auch in Deutschland ist es erst rund 80 Jahre her, dass die Hitler-Jugend zu Kriegern erzogen wurde. Wo ist der Unterschied zum Djihadismus?
Da gibt es keinen. Jeder hat sein eigenes Motiv, andere umzubringen. Jeder glaubt, er sei der richtige, um andere zu unterwerfen. Jeder hat seine eigene Ideologie. Und sie alle benutzen Kinder. Es ist immer leichter, ein Kind zu überzeugen als einen Erwachsenen. Hat es Sie überrascht, dass Ihr Film jetzt in den USA für einen Oscar nominiert wurde?
Nein, gar nicht. Mein Film gibt eine Antwort auf die Frage, wie Extremismus entsteht. Und das ist im Augenblick DAS beherrschende Thema. Es ist der einzige europäische Dokumentarfilm, der im Wettbewerb startet. Er ist den Arschlöchern dieser Welt gewidmet. Ich bin mir sicher, wir gewinnen den Oscar. Hat ihn Abu Osama schon gesehen?
Nein, er wurde im vergangenen Oktober bei einem Bomben-Attentat getötet. Was ist passiert?
Nachdem sich die Al-Nusra Gruppe von Al Quaida getrennt hatte, hat er mit anderen Djihadisten eine neue Gruppe gegründet: The Guardian of the religion. Die Al-Nusra Gruppe hat ihn getötet. Seine Mörder haben mir übrigens eine versteckte Drohung geschickt. Sie hätten von meinem Film erfahren. Abu Osama werde durch diesen Film noch richtig berühmt. Der Dokumentarfilm „Of Fathers and Sons – Kinder des Kalifats kommt“ am 21. März ins Kino. Vorher geht Regisseur Talal Derki mit dem Film auf Deutschlandtournee. Mehr infos unter: https://www.offathersandsons-film.de/
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Antje Hildebrandt
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Seit dem Anschlag auf das World Trade Center reißt die Serie islamistischer Terror-Akte nicht ab. Wie wird aus einem Muslim ein Djihadist? Der Regisseur Talal Derki beantwortet diese Frage in einem oscar-nominierten Dokumentarfilm. Ein Gespräch über die Macht der Väter und die Ohnmacht der Politik
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"Oscar-Verleihung",
"Oscar",
"Kalifat",
"IS",
"Krieg"
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kultur
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2019-02-11T11:52:46+0100
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https://www.cicero.de//kultur/oscar-verleihung-talal-derki-von-vaetern-und-soehnen%E2%80%93djihad-islam-vereinte-nationen-syrien
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Steinbrück-Hollande - Fettnapf-Kandidat trifft Affären-Präsident
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Sie haben es momentan beide nicht leicht. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Frankreichs Staatspräsident François Hollande trafen sich am Freitag an einem Tiefpunkt ihrer Sympathiewerte in der Bevölkerung. Die Zustimmung der Deutschen für Steinbrück liegt nach dem jüngsten ARD-„Deutschlandtrend“ nur noch bei 32 Prozent. Hollande steht sogar noch schlechter da: Nach dem Skandal um ein Schwarzgeldkonto seines zurückgetretenen Budgetministers Jérôme Cahuzac sind gerade mal 27 Prozent der Franzosen mit Hollandes Arbeit zufrieden. Wie ist das Treffen zwischen Steinbrück und Hollande gelaufen? François Hollande und Peer Steinbrück würden sich freuen, wenn die deutsche und die französische Regierung zukünftig dieselbe politische Couleur hätten. Das konnte man jedenfalls aus den Worten schließen, mit denen der Kanzlerkandidat der SPD nach dem Empfang im Elysée-Palast vor Journalisten um Verständnis für die Situation des sozialistischen Staatspräsidenten warb, dessen Politik nur noch von einem Drittel der Franzosen gutgeheißen und im Ausland, nicht zuletzt in Deutschland, auf Skepsis stößt. „Man kann nicht erwarten, dass Hollande in den zehn Monaten seit seiner Wahl alles nachholt, was von seinen konservativen Vorgängern in zehn, fünfzehn Jahren versäumt wurde“, sagte Steinbrück. Auch die Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder habe erst nach Jahren Rendite abgeworfen. Er erneuerte seine bei seinem letzten Besuch in Paris vertretene Linie, die Krise in Europa nicht allein durch Sparen, sondern auch durch Wachstumsmaßnahmen zu bekämpfen. Viele Länder gerieten in einen Teufelskreis, aus dem sie nicht mehr herauskämen, sagte er. Weder er noch Hollande bestritten, dass es notwendig sei, die Haushalte zu konsolidieren. Die Frage sei jedoch die Dosierung. Steinbrück kritisierte, dass die im Juni beschlossene Wachstumsinitiative der EU im Sande verlaufen sei. Vor dem Hintergrund der Debatte über den Kampf gegen Steuerflucht, die in Frankreich mit dem Skandal des zurückgetretenen Budgetministers Jérôme Cahuzac zu einer Staatsaffäre geworden ist, nutzte der Kanzlerkandidat die Gelegenheit zu einer im Ausland ungewöhnlichen Kritik an der Bundesregierung. Er warf ihr vor, ein Abkommen mit der Schweiz angestrebt zu haben, das für Steuerflüchtlinge praktisch eine Amnestie vorsah. Er nannte „Heuchelei“, wenn die CDU jetzt ein „Steuer-FBI“ fordere, nachdem sie die Steuerfahndung in Deutschland ins Abseits befördert habe. Seite 2: Hollande will Steinbrück an der Regierung sehen Wie eng will sich Steinbrück an Hollande binden? Es war bereits die vierte Begegnung zwischen Hollande und Steinbrück, aber der erste Besuch, den der SPD-Politiker seit seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten in Paris absolvierte. Außer dem Gespräch mit Hollande standen Treffen mit Premierminister Jean-Marc Ayrault sowie dem Parteichef der Sozialisten Harlem Désir auf seinem Programm. Die Einladung des Kanzlerkandidaten darf als ein deutlicher Wink verstanden werden, wem im Elysée-Palast die Präferenz bei der bevorstehenden Bundestagswahl gilt. Dass Hollande zum Wahlkampf nach Deutschland reist, ist indes unwahrscheinlich. Im vergangenen Jahr hatte sich die SPD-Spitze mit dem französischen Sozialisten beim Kampf gegen die Euro-Krise eng abgestimmt und Kanzlerin Angela Merkel das Versprechen zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer und ein Bekenntnis zu einer stärkeren europäischen Wachstumspolitik abgerungen. Hollande empfing die SPD-Troika damals sogar noch vor Merkel. Allerdings beklagt die SPD, die Bundesregierung verschleppe die Umsetzung der Zusagen, ohne die die SPD im Bundestag nicht für den EU-Fiskalpakt und den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM gestimmt hätte. Hollande und Steinbrück eint die Überzeugung, dass eine einseitige, übertriebene Austeritätspolitik die Krisenländer der EU in den Ruin treiben würde, weil sie nicht nur hohe soziale Kosten hat, sondern auf Dauer auch die Wirtschaft abwürgt. Der Gleichklang auf europäischer Ebene bedeutet allerdings nicht, dass die SPD etwa Hollandes Reichensteuer von 75 Prozent oder die Rente mit 60 für richtig oder gar übertragbar hält. In diesen Fragen markiert Steinbrück, der glühende Anhänger der Agenda-Politik der Schröder-Regierung, mit höflichen Worten eine große Differenz zu Hollande. Die Bundesregierung wird auch nicht von der Furcht vor einem neuen Zangenangriff der SPD und Hollandes umgetrieben. Zwar hat auch in der Koalition niemand Interesse an einem wirtschaftlich schwachen Nachbarland. Doch gibt es die Hoffnung, dass die schlechten Arbeitslosen, Wirtschafts- und Haushaltsdaten den französischen Präsidenten zwingen, „von seinem sozialistischen Baum herunterzukommen“, wie das ein Koalitionsvertreter in Berlin nennt. Die Erwartung ist, dass er sich von Teilen seiner Wahlkampfversprechen verabschiedet und auf eher pragmatische Weise durch Reformpolitik die Wettbewerbsfähigkeit seines Landes erhöht. In Regierungskreisen wird der Besuch des SPD-Kandidaten in Paris eher hämisch kommentiert: Steinbrück könne damit beim deutschen Wähler nur verlieren, der keine Neben-Außenpolitik schätze, heißt es. Allerdings will die SPD die Debatte um die Euro-Rettung gar nicht zu einem Schwerpunkt ihres Wahlkampfes machen. Da laut Umfragen eine breite Mehrheit der Deutschen mit dem Krisenmanagement der Kanzlerin zufrieden ist und sie als Hüter eigener finanzieller Interessen schätzt, wäre Steinbrück schlecht beraten, in der Auseinandersetzung vor allem auf das Versprechen einer anderen Krisenpolitik zu setzen. Je näher der deutsche Wahltermin rückt, um so unwahrscheinlicher wird es, dass Steinbrück noch einmal die Nähe Hollandes sucht. Allerdings wird der Präsident bei der Feier zum 150. Geburtstag der SPD im Mai in Leipzig neben Bundespräsident Joachim Gauck der Festredner sein. Seite 3: Die SPD gibt sich geschlossen Wie will die SPD trotz schlechter Umfragewerte für Steinbrück punkten? Ihre Hoffnung setzt die SPD auf eine Wiederholung ihres Erfolgs bei der Landtagswahl in Niedersachsen Ende Januar. Dort war Amtsinhaber David McAllister (CDU) noch beliebter als Angela Merkel heute, anders als die schwarz-gelbe Koalition im Bund bekam auch seine Landesregierung von den Bürgern positive Noten. Trotzdem siegte der bei den persönlichen Sympathiewerten weit abgeschlagene SPD-Herausforderer Stephan Weil knapp. Auch im Bund will die SPD nun mit ihren Themen punkten, die sich um das Versprechen sozialer Gerechtigkeit drehen. In Umfragen befürworten jeweils deutliche Mehrheiten die SPD-Vorhaben wie den gesetzlichen Mindestlohn, Kitaplätze statt Betreuungsgeld oder Schranken gegen zu hohe Mietsteigerungen. Die SPD will damit Merkels Popularitätsbonus gleichsam unterlaufen und zudem mit Millionen von direkten Kontakten in Stadtvierteln mit potenziell SPD-affiner Sozialstruktur Wähler mobilisieren. Hoffnung schöpfen SPD-Strategen auch aus dem Umstand, dass ihre Partei trotz des Gegenwinds in den Umfragen so geschlossen wie selten auftritt. „Wenn etwas bei uns funktioniert, dann ist es die Geschlossenheit“, sagt ein Sozialdemokrat. Sogar als Steinbrücks zumindest missverständliche Äußerungen zum zu niedrigen Kanzlergehalt in Deutschland die Endphase des Niedersachsen-Wahlkampfes verhagelten, wurde aus der SPD zumindest öffentlich keine Kritik am Kandidaten laut. Am Sonntag in zehn Tagen will die SPD auf ihrem Parteitag in Augsburg ihr Wahlprogramm verabschieden und damit Unterstützung für ihren Kandidaten bekunden. Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Delegierten größere Kontroversen austragen wollen, die Steinbrück zur Last werden.
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Hans Monath
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SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat Frankreichs Präsidenten François Hollande in Paris getroffen. Beide kämpfen mit schlechten Umfragewerten. Können sie einander helfen?
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innenpolitik
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2013-04-06T09:05:57+0200
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2013-04-06T09:05:57+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/fettnapf-kandidat-trifft-affaeren-praesident/54122
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Sozialkreditsysteme in China - „Viele empfinden die Daten-Überwachung als praktisch“
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Frau Kostka, in China wollen der Staat und auch Unternehmen sogenannte Sozialkreditsysteme einsetzen, um Bürger und Kunden nach ihrem Verhalten zu bewerten und dadurch zu belohnen oder zu bestrafen. Sie haben dazu eine wissenschaftliche Studie erarbeitet. Worum geht es bei diesen Maßnahmen eigentlich?
In China gibt es bereits seit den neunziger Jahren Bemühungen, ein Bonitätssystem einzuführen, also letztlich die Kreditwürdigkeit der eigenen Bürger zu berechnen und abzubilden. Neu war 2014 die Ankündigung der Regierung, bis 2020 ein nationales Kreditsystem einführen zu wollen, das auch tatsächlich von ihr selbst geleitet wird. Neben der Kreditwürdigkeit geht es bei Sozialkreditsystemen jedoch auch um die „Vertrauenswürdigkeit“ der Bürger, Unternehmen und Organisationen in China. Diese geplante massenhafte Datenerhebung von allen Bürgern hat vor allem in der westlichen Welt zu Diskussionen geführt, in denen dieses Szenario mit Überwachungsdystopien wie etwa der Serie „Black Mirror“ oder im Buch „The Circle“ verglichen wurde. Wie weit ist die Regierung mit diesem Projekt?
Derzeit gibt es mehr als 40 Pilotprojekte von Lokalregierungen zu Sozialkreditsystemen. Die haben wir uns im Rahmen einer Studie angeschaut. Manche Projekte spezialisieren sich auf die Bewertung von Unternehmen, und andere auf die der Bürger, die in der jeweiligen Pilotregion leben. Man muss außerdem zwischen den staatlichen Projekten und solchen von kommerziellen Anbietern wie zum Beispiel der Tochterfirma des Amazon Pendants Alibaba (Ant Financial) oder auch Tencent unterscheiden. Was haben die für Ziele?
Die kommerziellen Anbieter wollen natürlich ihre eigenen Plattformen bewerben. Bei dem Sozialkreditsystem von Ant Financial namens Sesame Credit geht es zum Beispiel darum: Wer hat welche Produkte gekauft? Wer hat seine Rechnungen pünktlich bezahlt? Wer einen hohen Wert hat, bekommt dann etwa vergünstigte Kaufangebote oder bessere Bankkonditionen. Man will damit also die Nachfrage für die eigenen Produkte steigern. Die Pilotprojekte der Lokalregierungen hingegen wollen mehr Vertrauenswürdigkeit in der Gesellschaft fördern. Hier werden dann zum Beispiel rote und schwarze Listen veröffentlicht. Auf den roten Listen sind Bürger oder Unternehmen zu finden, die sich nach den Maßstäben der chinesischen Regierung durch besonders soziales Verhalten hervorgetan haben, beispielweise Freiwilligen-Dienste geleistet oder Geld gespendet haben. Auf den schwarzen Listen befinden sich Bürger oder Unternehmen, die nach Regierungsmaßstäben durch besonders unsoziales oder illegales Verhalten aufgefallen sind. Das klingt erschreckend. Und sie wollten herausfinden, ob Chinesinnen und Chinesen solche Überwachungssysteme akzeptieren?
Ja, unsere Frage für die Studie war: Was denken eigentlich die Chinesen selbst darüber? Mit welchem Ergebnis?
Wir haben per Online-Umfrage gut 2.200 chinesische Bürgerinnen und Bürger befragt. Dabei kam heraus, dass mehr als 80 Prozent die staatlichen und auch die kommerziellen Sozialkreditsysteme als positiv bewerten. Ist das in einem derart staatlich kontrollierten Land nicht ein sehr erwartbares Ergebnis?
Natürlich glauben auch wir, dass eine Umfrage in einem autoritären Staat immer eine gewisse Verzerrung hat. Das gute an unserer Online-Umfrage war aber, dass wir über private chinesische App-Anbieter unsere Fragen stellen konnten und diese im Gegensatz zu Telefonanfragen nicht zensiert wurden. Zusätzlich zu dieser anonymen Umfrage haben wir außerdem noch Interviews mit Teilnehmern geführt, um zu verstehen, ob es sich bei dem Ergebnis um einen Methodenfehler handeln könnte. Auch in den Interviews gab es eine Akzeptanz dieser Systeme von um die 90 Prozent. Wie lässt sich diese Sorglosigkeit vor Überwachung erklären?
Das liegt nicht daran, dass die Befragten keine Privatsphäre schätzen und gerne alle Daten dem Staat geben. Es ist aber auch so, dass die Bürger nicht sonderlich überrascht sind darüber, dass der Staat von ihnen Daten erhebt. Die Kommunistische Partei, so denken viele, habe sowieso bereits viele Informationen über sie. Wenn das Politbüro auf Daten zugreifen möchte, bekommt es die auch. Das ist natürlich eine sehr passive Haltung zum Datensammeln. Tatsächlich zeigt die hohe Zustimmung für die Sozialkreditsysteme vor allem, dass die Befragten sich eine gesteigerte Lebensqualität wünschen. Viele empfinden die Systeme nämlich schlicht als praktisch. Das müssen Sie ausführen.
Man muss sich bewusst sein, dass es in den vergangenen 40 Jahren in China viele Transformationsprozesse gab. Dabei blieb etwa das Bankensystem insbesondere für die Bürger stets unterentwickelt. Große Teile der Bevölkerung haben zum Beispiel über Jahre hinweg keine Kredite erhalten. Wenn die kommerziellen Anbieter nun ein System anbieten, bei dem man durch eine hohe Bewertung schneller an einen Kredit kommen kann, ist das für viele sehr attraktiv. Das Wort Sozialkreditsystem bedeutet im Chinesischen zwar Kredit, aber auch Vertrauen. Wir denken zuallererst an so etwas wie bei uns die Schufa. In China impliziert die doppelte Bedeutung auch, dass man Vertrauen in den Markt schaffen will. Und ein zweites Problem für viele Chinesen sind die zahlreichen Regulierungslücken. Die Rechtsdurchsetzung klappt in China nur sehr schlecht. Gerade bei Themen wie Nahrungsmittelsicherheit ist den Bürgern das verständlicherweise aber sehr wichtig. Wenn jetzt also auch Unternehmen danach bewertet werden, ob sie bestimmte Lebensmittelvorschriften einhalten, kann man diese Unternehmen auch besser einschätzen. Das führt dann zu mehr Sicherheit und Vertrauen bei Kaufentscheidungen. Welche Daten werden denn konkret von den chinesischen Bürgern erhoben?
Das unterscheidet sich tatsächlich bei jedem dieser Pilotprojekte. In Shanghai fokussiert man sich zum Beispiel darauf, Unternehmen zu bewerten. Dafür werden dann Daten von verschiedenen lokalen Regierungsbehörden zusammengeführt. Dass diese Institutionen diese Daten nun über eine Plattform teilen, ist ein gänzlich neuer Vorgang. Kann man sagen, dass China damit im Zeitalter von Big Data im Hauruckverfahren nachholt, was in der deutschen Verwaltung seit Jahrzehnten organisch und einigermaßen behutsam gewachsen ist?
Es hat viel damit zu tun, dass an der Spitze des chinesischen Staates nun Xi Jinping steht, der explizit mehr gegen Korruption unternehmen will und muss. Das Sozialkreditsystem bietet eine ideale Möglichkeit, mehr Informationen über Bürger und Unternehmen auch auf lokaler Ebene zu sammeln. Peking versucht nun online zu verschiedensten Themen Daten zu sammeln, um die Informationsflüsse in dem riesigen Land besser zu organisieren. Bei uns in Deutschland wäre es nicht möglich, dass verschiedene Behörden so einfach Daten austauschen. Für Deutschland sind solche Ideen also nicht vorstellbar? Schließlich könnte man auch hierzulande mit Effizienz, Korruptionsbekämpfung und Rechtsdurchsetzung argumentieren.
Da bin ich äußerst skeptisch. Dazu müsste man zahlreiche Datenschutzregeln und -gesetze mal eben so überspringen. Was allerdings auch in Deutschland teilweise längst existiert, sind zahlreiche kommerzielle Online-Anbieter, die Daten sammeln. Da gibt es durchaus Parallelen, worüber wir in der Gesellschaft meines Erachtens viel stärker diskutieren sollten. Was darf mit unseren Daten passieren? Wie viele Daten sollten verfügbar sein? Das sind wichtige Fragen für unser Verständnis von Gerechtigkeit. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass es sich die Menschen in China gefallen lassen, auf einer öffentlich einsehbaren schwarzen Liste als „schlechter Bürger“ angeprangert zu werden?
Momentan stehen auf diesen Listen noch sehr wenige Bürger. Das System funktioniert derzeit noch auf eine Weise, dass vor allem die Vorteile guten Verhaltens hervorgehoben werden. Etwa dadurch, dass beim Bikesharing oder Carsharing keine Kaution hinterlegt werden muss. Darum gibt es wohl auch keinen großen Aufruhr. Was die Studie aber auch zeigt, dass den Befragten Fairness sehr wichtig ist. Momentan empfinden die Leute ihre Bewertung offenbar als fair. Sollte sich das ändern, hätte das mit Sicherheit Auswirkungen auf die Akzeptanz. Wie transparent sind diese Scoring-System denn gestaltet? Erfahre ich, wie sich mein Wert zusammensetzt?
Auch das ist je nach System unterschiedlich. So gibt es zum Beispiel ein kommerzielles System, bei dem es einmal pro Monat ein Update des persönlichen Scores gibt. Dann erhöht oder erniedrigt sich die persönliche Punktzahl. Man erfährt aber tatsächlich nicht, warum man nun nach einem Monat mehr oder weniger Punkte hat. Bei den lokalen, staatlichen Systemen gibt es nicht unbedingt eine Zahl. Bürger bekommen nur in einzelnen Pilotprojekten konkrete Bewertungen wie AAA für eine sehr gute Bewertung oder C für eine schlechtere Bewertung. Probleme haben die Befragten aber tatsächlich damit, was man unter Credit Repair versteht. Also damit, wie sie ihren individuellen Wert verbessern können?
Ja. Wer zum Beispiel krank war und sich deshalb verschulden musste, kann seine Bewertung nur sehr schwer wieder verbessern. Wir haben online dazu Diskussionen beobachtet, in denen dieser Zustand als ungerecht empfunden wird. Für die chinesische Regierung steckt in diesem System also durchaus sozialer Sprengstoff, wenn sie es nicht schaffen sollte, es einigermaßen gerecht und nachvollziehbar auszugestalten. Also müssen diese Systeme zwangsläufig irgendwann zumindest transparenter werden?
Der Finanzdienstleister von Alibaba, Ant Financial, weist immerhin fünf Kriterien aus, aus denen sich der Score zusammensetzt. Sie veröffentlichen jedoch keine genauen Beschreibungen der einzelnen Kriterien oder zu welchen Anteilen diese Kriterien schließlich in die Bewertung einfließen. Dabei wird ein Kriterium besonders stark diskutiert, nämlich der Faktor des sozialen Netzwerkes. Die Frage, die sich viele stellen, ist: verringert sich mein Score, wenn ich viele Kontakte mit einem niedrigen Score habe? Eine erschreckende Vorstellung.
Ja, das sehen viele auch so. Ant Financial hat darauf insofern reagiert, indem sie sagten, dass das so nicht ganz stimme. Entscheidend sei vielmehr, ob man viele oder wenige Freunde habe. Wer mehr Freunde hat, solle demnach seinen Score nach oben verbessern können. Die genaue Berechnung bleibt aber sehr intransparent. Die meisten Befragten gaben an, schlicht nicht zu wissen, wie sich der eigene Wert berechnet.
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Bastian Brauns
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Der chinesische Staat beginnt, seine Bürger mit sogenannten Sozialkreditsystemen anhand riesiger Datenmengen zu bewerten. Warum viele Chinesen darin Fortschritt für mehr Lebensqualität sehen, darüber spricht die Sinologin Genia Kostka
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"China",
"Sozialkreditsystem",
"Überwachung",
"Kreditwürdigkeit",
"Kredit",
"Unternehmen"
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wirtschaft
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2018-07-24T11:51:14+0200
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2018-07-24T11:51:14+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/sozialkreditsysteme-china-ueberwachung-staat-vertrauen-markt-unternehmen-kredite
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Lehren aus Freiburg - Es ist was faul im Staate
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Wenn schon „Hamlet“, dann bitte richtig. Dass die CDU-Vorsitzende sich bei ihrer Essener Parteitagsrede auf den Dänenprinzen von der traurigen Gestalt berief, mochte noch angehen. Ebenso, dass sie die Zeit, die laut Hamlet aus den Fugen sei, zur Welt machte – schließlich gilt diese, nicht jene als ihr Wirkungsfeld. Besser aber hätte zu jenem Land, dessen Nutzen zu mehren sie schwur, ein anderer Satz des Shakespeare‘schen Helden gepasst: „Es ist was faul im Staate Dänemark.“ Faul und morsch ist hier so manches, immer mehr wird die Realität zur schärfsten Kritikerin der Realpolitik. Ist es aber ein Wunder, dass Potemkin als Ausstatter der Innenpolitik reüssiert, wenn im Kopf der Kanzlerin die Frage wabert, ob die Mehrheit der Staatsbürger Menschen sind, „die schon länger hier leben“ (Merkel am 20. November) oder „Menschen, die schon immer hier in Deutschland leben“ (Merkel am 6. Dezember)? So oder so hat die Verweildauer auf deutschem Staatsgebiet die deutsche Staatsbürgerschaft ersetzt. Bald werden die Pass- und Meldeämter nachziehen und die Rubriken in den Ausweispapieren abändern. Das bunte ist das unbestimmbare Deutschland, ist Durchgang für alle, nicht Heimat für viele, ist ein einziger großer Hamlet-Staat. Dummerweise lässt sich die Sprache, nicht aber die Realität zurechtbiegen. Realität ist, dass „die Zunahme von gewaltsamen Übergriffen“ durch zugewanderte Ausländer „leider keine Einzelfälle sind. Sie verändern vielmehr das Alltagsleben in Deutschland spürbar, vom sommerlichen Schwimmbadbesuch bis zur abendlichen S-Bahn-Fahrt.“ Realität ist die starke Zunahme von „Körperverletzungen, begangen durch Flüchtlinge in Bayern“, mit syrischen und afghanischen Haupttätern. Realität ist, knapp jenseits der Grenze, die Zunahme der „Zahl der Vergewaltigungen durch Asylbewerber“ im Jahresvergleich um 133 Prozent, wobei abermals Syrer und Afghanen besonders auffällig wurden. Schlimme Zahlen sind es, harte Sätze, die niederzuschreiben und auszusprechen nicht leichtfällt. Doch genau vor dieser Entscheidung stehen weite Teile der politischen wie der medialen Klasse: Ob sie ihre vertraute Sprache retten um den Preis der Realitätsbeugung – oder ob sie die widrigen Realitäten benennen und gerade so, durch Schmerz und Schock hindurch, einer besseren Realität den Weg bahnen. Für die erste Variante, für die reaktionäre Wirklichkeitsverklappung zur Sprachbewahrung, hat sich Sigmar Gabriel entschieden. Nach dem Sexualmord an einer Freiburger Studentin, wofür ein afghanischer Asylbewerber als hauptverdächtig gilt, erklärte der SPD-Vorsitzende: „Solche abscheulichen Morde gab es schon, bevor der erste Flüchtling aus Afghanistan oder Syrien zu uns gekommen ist.“ Er warne vor „Volksverhetzung“ und „Generalverdacht“. Das ist zynisch, das ist abgeschmackt, das ist roh. Die Frage, die Gabriel aufwirft und zur Seite fegt, stellt sich gar nicht. Niemand, wirklich niemand behauptet, mit der unkoordinierten und unkontrollierten Grenzöffnung durch die Merkel-Administration 2015 sei ein zuvor gänzlich unbekanntes Phänomen, die Niedertracht des Menschen, nach Deutschland geschwappt. Niemand, niemand behauptet das. Wohl aber gibt es zusätzliche Verbrechen durch Menschen, die neu und oft illegal ins Land kamen. Gabriel spielt den billigsten aller rhetorischen Tricks. Er weist eine von keinem Menschen vertretene These zurück, um der schlimmen Tat den Ruch des Besonderen zu nehmen. Und um ohne argumentative Anstrengung bei seiner Lieblingsbeschäftigung zu landen, der Warnung vor dem bösen Deutschen. Dass man angesichts der Vorfälle in Freiburg und andernorts vielleicht eher Menschen, die noch nicht „länger hier leben“, davor warnen sollte, die hiesigen Gesetze zu brechen, und dass man vielleicht sogar jungen Frauen raten sollte, mehr als eine Armlänge Abstand zu halten – diese empathische Wendung ist bei derart rabiater Sprachpflege nicht vorgesehen. Auch in den Medien gilt an vielen Stellen der Grundsatz: Schlimm wird eine Tat erst dann, wenn die Falschen die richtigen Fragen stellen. Die Ermordung der Freiburger Studentin muss darum relativiert und eingeebnet werden. An der perversen Tat interessiert weniger deren Aufklärung als die Auswirkung auf das gute Lebensgefühl. So wird das Opfer statt des Täters zum Störfall. Es ist dann eben der „Fall Maria L.“, der für „Risse im Idyll“ sorgt oder einen „Schatten über Freiburg“ wirft. Das Kapitalverbrechen wird als Anschlag auf die linke Moralhoheit betrachtet. Mehr Egozentrik, mehr Schuldumkehr, mehr Instrumentalisierung geht kaum. Insofern war das anfängliche Schweigen der ARD-„Tagesschau“ zum Freiburger Sexualmord kein Zufall, sondern Symptom. Auch dort, wo man die einzig wahre Nachrichtenkompetenz zu hüten meint, ist die Versuchung zur Wirklichkeitsausblendung im Dienst der guten Sache enorm. Postfaktisch erklärte hernach Kai Gniffke, der schon einmal in Kauf genommen hatte, „wieder richtig auf die Fresse zu bekommen“, es handele sich um ein Ereignis von bestenfalls „regionaler Bedeutung“. Gewiss hätte der Leiter von ARD-Aktuell diese Behauptung nicht gewagt, hätten Opfer und Hauptverdächtiger von Freiburg eine je umgekehrte Staatsangehörigkeit. Nein, hier sollte gezeigt werden, dass bei nicht-deutschen Tätern journalistische Rücksichtnahmen walten, weil deutsche Opfer die Erzählung vom humanitären Imperativ stören. An dieser Erzählung, die dem Gemeinwohl zuwider läuft, hielten weite Teile von Politik und Medien lange fest. Tun sie es noch immer? Von der Kanzlerin sind keine Lernfortschritte zu erwarten. Wer sich durch das Asylrecht gefesselt sieht, der zieht weiterhin einen moralisch verkleideten Fatalismus jeder Interessenpolitik vor, „so wahr mir Gott helfe“. Der wird auch nach den beiden Bochumer Vergewaltigungen durch einen irakischen Asylbewerber nicht ablassen von seiner relativierenden Rhetorik. Und der wird auch nun, da „der Flüchtlingsstrom die Gerichtssäle“ erreicht hat, keine Überforderung des Gemeinwesens, keine Erosion der Sicherheit erkennen. Sonst müsste er, müsste sie eingestehen, dass mit Macht und Gewalt für überwunden geglaubte Kategorien in die Tagespolitik zurückkehren: das Eigene, das Fremde, die Grenze. 2016 erleben wir einen Rücksturz in die Geschichte. Wie aber ist es um eine tendenziell durchaus lernfähige Presse bestellt? Wird weiterhin das Gedankenverbrechen schwerer wiegen als die Gewalttat, sofern Täter und Opfer im sozialpädagogisch erwünschten Herkunftsverhältnis stehen? Wir wissen es nicht, doch eine Hoffnung besteht: Selbstkritik wird hie und da aus der Rumpelkammer hervorgeholt und alltagstauglich gemacht. Ein in dieser Hinsicht traumtänzerischer Pressekodex, wonach die Herkunft von Tatverdächtigen wie ein Staatsgeheimnis zu behandeln sei, verliert seine bindenden Kräfte. Nachrichten, in denen „ein Mann, 41“ oder eine anonyme „Großfamilie“ als Täterchiffre fungieren, sind nicht ernst zu nehmen. 2016 wird auch das Jahr sein, in dem die politisch-mediale Wirklichkeitsbeugung an ihr Ende kam. Die Realität lässt sich in der digitalen Ära nicht kanalisieren. Sie bricht sich Bahn. Es ist zu viel faul im Staat der hier Lebenden, als dass sich alle Ungereimtheit in moderne Regierungslyrik übersetzen ließe. Diese Zeiten sind vorbei.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Auch Asylbewerber und Flüchtlinge begehen Gewalttaten. Politik und Medien dürfen diese nicht bagatellisieren. Realität lässt sich nicht dauerhaft verdrängen
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"Fall Maria L.",
"Freiburg",
"Pressekodex",
"Flüchtlinge",
"Asylbewerber",
"Kriminalstatistik",
"Tagessschau",
"Regierungslyrik",
"Übergriffe"
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kultur
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2016-12-08T11:32:37+0100
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2016-12-08T11:32:37+0100
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https://www.cicero.de/kultur/lehren-aus-freiburg-es-ist-was-faul-im-staate
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Contra – Der Minister muss bleiben
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Ja, er hat zu viel Gel im Haar. Ja, er sieht aus wie Ken, nur ohne Barbie. Seine vorweihnachtliche PR-Reise nach Afghanistan war grenzwertig. Auch in der Affäre um die Bombardierung von Zivilisten in Kunduz ist bis heute ein schaler Nachgeschmack geblieben. Zu Guttenberg ließ die Köpfe von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan und Verteidigungs-Staatssekretär Peter Wichert rollen, bevor alle Fakten auf dem Tisch lagen. Auch beim Umgang mit der Besatzung der Gorch-Fock ist der Freiherr schnell ins Gericht gegangen. Bevor die Bildzeitung mit neuen Vorwürfen an die Öffentlichkeit gehen konnte, wurde der Kapitän des Segelschulschiffs vom Verteidigungsminister abberufen. Vielen ging das viel zu schnell. In der Plagiatsaffäre hingegen hat es ein bisschen gedauert, bis der Verteidigungsminister den Schuldigen identifiziert hatte. Es dauerte Tage, bis aus „Ich habe die Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen angefertigt“ und die Vorwürfe seien „abstrus“, das Eingeständnis „die Arbeit enthält fraglos Fehler“ und schließlich „Ich stehe auch zu dem Blödsinn, den ich da geschrieben habe“, wurde. Weder schnell noch elegant löste zu Guttenberg sein Dissertationsproblem und doch hat er am Ende mit einem Siegerlächeln die Wähler auf seine Seite gezogen. Es zeigt sich, der Karl-Theodor zu Guttenberg kann Fehler machen, aber er kann sie auch wieder gerade bügeln, weil er reagiert. In einem Land, in dem über acht Wochen lang um fünf oder acht Euro für Hartz-IV-Empfänger gestritten wird, ist es zudem ein Segen, einem Minister dabei zuzusehen, wie er etwas tut. Im vergangenen Jahr hat zu Guttenberg mit der Abschaffung der Bundeswehrpflicht eine Reform angestoßen, die überfällig war und jetzt seine Mitarbeit verlangt. Politisch wäre es eine Katastrophe, müsste nun ein neuer Minister diese umsetzen. Die Menschen mögen den Macher Karl-Theodor zu Guttenberg, trotz der Diskussionen über seine Doktorarbeit. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap vom Montag sind 73 Prozent der Befragten zufrieden mit seiner politischen Arbeit. Die Zustimmung geht über Parteigrenzen hinweg. Die Menschen stehen hinter ihm, trotz der Fehler, die er – mittlerweile für jeden ersichtlich – begangen, aber auch eingestanden hat. Auf die Stimmung im Lande muss die Politik hören, sonst verfestigt sich der Eindruck, Politiker agierten nur noch in einer abgehobenen Welt, die mit dem tatsächlichen Leben nichts zu tun hat. Auch deswegen geht einem das politische Theater in Berlin maßlos auf den Geist. Die vielen parteipolitisch motivierten Aufschreie, die nun im moralischen Gewand daher kommen, waren vorhersehbar und gleichen einem Ritual. Ob zu Guttenberg der Wissenschaft geschadet hat, wird die Universität Bayreuth zu regeln haben. Der Verteidigungsminister wird sich wohl auf eine Rüge gefasst machen müssen. Eine völlig andere Frage ist es, ob er seinen politischen Job gut macht. Es ist eine unsägliche Entwicklung, Politiker wegen tatsächlicher oder vermeintlicher privater Fehltritte zum Rücktritt aufzufordern. Wenn, dann sollten sie wegen politischer Fehler gehen. Wenn es die Opposition aber nicht schafft, den Minister zu Guttenberg auf Verfehlungen in seiner Arbeit festzunageln, muss sie eben bis zur nächsten Wahl warten. Pro: Lesen Sie hier, warum zu Guttenberg zurücktreten sollte.
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Träte Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg zurück, würde die deutsche Politik einen fähigen, vor allem aber beliebten Politiker verlieren. Das kann sie sich nicht leisten.
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innenpolitik
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2011-02-23T00:00:00+0100
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2011-02-23T00:00:00+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/der-minister-muss-bleiben/41669
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Proteste beim G20-Gipfel - Augen zu und durch!
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Hatte eigentlich allen Ernstes jemand daran geglaubt, das G20-Treffen in Hamburg werde friedlich über die Bühne gehen? Dann wäre diese Annahme jedenfalls so kreuznaiv gewesen, wie der umgekehrte Fall eine Verantwortungslosigkeit sondergleichen dargestellt hätte: Diese Veranstaltung nämlich trotz erheblicher Sicherheitsbedenken in der Hansestadt durchzuführen. Die Bundesregierung hat es aber ganz offensichtlich so gewollt; der Termin kurz vor der Wahl ist ja auch eine prima Gelegenheit, sich noch mal mit Aplomb als Akteur von Weltrang in Szene zu setzen. Ob also aus Blödheit oder wegen der gewohnten deutschen Selbstüberschätzung: Das Motto der Planer war ein beherztes „Augen zu und durch!“ Ein paar Kollateralschäden müssen die Bürger da schon wegstecken. Bitte um Verständnis! Aber zum Glück gibt es ja immer jemanden, der die Party finanziert – auf den Steuerzahler ist schließlich Verlass. Und wenn eine Demo mit dem friedfertigen Leitgedanken „Welcome to Hell“ ein bisschen aus dem Ruder gerät, dann muss das wohl daran gelegen haben, dass die Polizisten kurzfristig ihre Benimmregeln vergessen hatten. So ist das auf dem Narrenschiff namens MS Deutschland, wo jeder Protest als „politisch“ zu gelten hat, wenn denn nur ein „Aktivist“ sein Sprüchlein auf sein Schildchen gepinselt hat – von wegen „Kapitalismus versenken“ oder so. Zu solchen Gelegenheiten öffnet dann auch schon mal das örtliche Schauspielhaus großzügig seine Pforten für jene aufrechten Globalisierungsgegner, die keinen Platz mehr auf dem nahegelegenen Campingplatz gefunden haben. Mit Staatsknete lässt sich das gute Gewissen immer noch am bequemsten aufpolieren. Der G20-Gipfel in Hamburg könnte eine Farce sein, aber dafür sind die Begleitumstände zu bedrückend. Ein Staat, der seinen eigenen Armeeangehörigen verbietet, während der Konferenztage in Uniform durch die Stadt zu gehen, weil es sonst zu „spontanen Angriffen gewaltbereiter linksextremistischer Protestteilnehmer“ kommen könnte, hat seine Souveränität faktisch aufgegeben. Wenn ein G20-Treffen, bei dem Antworten auf globale Probleme gefunden werden sollen, schon dazu ausreicht, das staatliche Gewaltmonopol zu verwässern – was ist dann eigentlich los, wenn es wirklich mal brennt? Und wer schützt dann eigentlich all jene Politiker und wohlgesinnten Mandatsträger aus den linksalternativen Resonanzräumen, die mit Gewalt immer dann kokettieren, wenn sie nur aus der richtigen Richtung kommt? Womöglich sind das dann ja doch ein paar Uniformträger – zumindest, wenn sie vorher kein Ausgehverbot erhalten haben, weil ihr Outfit den einen oder anderen Militanzclown provozieren könnte. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, lautet der grenzdebile Wahlkampfslogan der CDU. Vielleicht hätte man hinzufügen sollen: Die Definition von „gut“ und „gerne“ übernimmt die Partei Ihres Vertrauens kostenlos gleich auch noch mit. Gut und gerne lebt es sich demnach offenbar in einem Land, dessen Regierung es zulässt, dass G20-Gegner ihre Plakate an Ladenbesitzer verteilen, damit diese sich durchs Anbringen kruder Antikapitalismusparolen an den Schaufensterscheiben vor „Entglasung“ und anderen Übergriffen durch marodierende Wohlstandsautonome schützen. Das nennt man dann wohl Meinungsfreiheit: Wenn einem die Meinung der anderen frei Haus geliefert wird. Und wer sie nicht teilt, kriegt halt aufs Maul. Oder die Familienkutsche abgefackelt. Es wäre ja auch seltsam, wenn sich der sogenannte Antifaschismus nicht an seinem Antagonisten orientieren würde – methodisch und sonstwie. Am Ende ist es dann auch egal, ob die Verantwortlichen sich aus Dummheit oder aus Verantwortungslosigkeit für Hamburg als Austragungsort entschieden haben. Der Affenzirkus dieser Tage, bei dem selbst Mordaufrufe zu Kunstaktionen nobilitiert werden, ist in jedem Fall ein schönes Abbild der Bundesrepublik anno 2017: Derangierte Linke machen Front gegen einen Staat, der sie mit Taschengeld alimentiert und gleichzeitig zu feige ist, Flagge zu zeigen. Heutzutage subsumiert man so etwas offenbar unter den Begriff „Haltung“.
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Alexander Marguier
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Krawalle der linksautonomen Szene überschatten den G20-Gipfel. Die Hamburger Polizei hat um Verstärkung aus anderen Bundesländern gebeten. Dabei hat der Staat selbst es so weit kommen lassen
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"G20-Gipfel",
"Hamburg",
"Proteste",
"Linke",
"Gewalt",
"Randale"
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innenpolitik
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2017-07-07T12:29:42+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/proteste-beim-g20gipfel-augen-zu-und-durch
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Frankreichs Regierung tritt zurück - Ist Premier Philippe das Bauernopfer für Macrons Neuausrichtung?
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Spätestens nachdem die Präsidentenpartei La Republique En Marche (LREM) in der zweiten Runde der frankreichweiten Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag durchgängig deutlich gescheitert ist und kaum eines der wichtigen Rathäuser hat erobern können, war klar, dass Macron die Regierung umbilden würde. Zwar war die „Niederlage“ von LREM bereits vor dem Wahlgang sicher: Die junge, erst zwei Jahre alte Partei hatte es nicht einmal ansatzweise geschafft, von einer Bewegung - einzig zu dem Zweck gegründet, Emmanuel Macron ins Amt des Präsidenten zu bringen, um dann die Verkrustungen des politischen Systems aufbrechen zu können – zu einer richtigen Partei mit Strukturen und vorzeigbaren Persönlichkeiten in der Fläche zu werden. Im Gegenteil. Viele der anfangs begeisterten LREM-Anhänger haben sich unterdessen abgewendet. Enttäuscht von der konkreten Politik des Präsidenten, aber ebenso überrascht davon, wie viel harte Arbeit Politik bedeutet, zumal, wenn man vor Ort reale Änderungen durchsetzen will. Dass Macron würde handeln müssen, war mithin klar. Und alle Präsidenten vor ihm haben in vergleichbaren Situationen ihr Kabinett umgebaut und in aller Regel den Premier ausgetauscht. Insofern wurde in Paris seit Tagen spekuliert, ob und wann Edouard Philippe gehen muss und wer sein Nachfolger werden könnte. Außerdem hatte der Präsident selber einen Umbau des Kabinetts bereits definitiv angekündigt. Aber im echten Leben sind die Probleme doch meist komplizierter. Erstens hat Edouard Phillippe in seiner nun dreijährigen Amtszeit als Premierminister deutlich an Statur gewonnen. Ursprünglich hatte Macron ihn ins Amt gebracht, um dadurch den Konservativen zu signalisieren, dass er auf sie zugehen wolle. Philippe ist inzwischen aber nicht nur ausweislich der Umfragen durchaus beliebt. Er ist auch der einzige aus den Reihen der LREM, der am vergangenen Sonntag in das Bürgermeisteramt einer größeren Stadt – Le Havre – gewählt wurde. Ein Faktor, der ihm persönlich Unabhängigkeit verschafft. Vielleicht konnte er auch deshalb den Schritt zum Rücktritt selbst vollziehen. Genauso möglich ist aber auch, dass es eine Geste gegenseitigen Respekts ist. Philippe stand immer ausgesprochen loyal zu Macron. Die beiden haben meist gut zusammengearbeitet. Vor allem nutzt die Demission Macron rein gar nichts. Ja, er muss seine Politik verändern. Er muss sowohl grüner, ökologischer und vor allem auch sozialer werden, anders sind die Ergebnisse der Wahl nicht zu interpretieren. Und der konservative Politiker Edouard Philippe steht nicht für diesen Kurs. Insofern sieht es logisch aus, ihn zu ersetzen. Aber nur auf den ersten Blick. Eine genauere Analyse führt eher zum gegenteiligen Ergebnis. Viele französische Wähler verorten Macron unterdessen deutlich im liberal-konservativen Lager und würden ihm daher eine „Kehrtwende“ zu seinen linken Ursprungspositionen schlicht nicht glauben. Dafür würde die Entlassung von Philippe aber die eher bürgerlichen Unterstützer verärgern und abschrecken. Es ist – anders als es bisweilen den Anschein vermittelt – überhaupt nicht ausgemacht, dass Macron die Mehrheit im Land bereits verloren hätte. Wahrscheinlich ist viel eher, dass die Franzosen ihn erneut, wenn auch zähneknirschend wählen würden. Aber er kann es sich ganz sicher nicht leisten, die Wähler auf beiden Seiten, der Linken wie der Rechten zu verprellen. Macron ist auch deswegen so relativ unangefochten, weil die politische Rechte keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten vorweisen kann. Edouard Philippe könnte allerdings ein solcher werden. Was also sollte Macron dazu veranlassen, einen potentiellen Gegner auch noch dadurch aufzubauen, ihn aus der Verantwortung für die Durchsetzung der präsidentiellen Politik zu entlassen? Das wäre ein politischer und ein wahrscheinlich taktischer Fehler. Richtig ist aber auch: Macron kann nicht nur sagen „Ich habe verstanden“, er muss handeln und zwar schnell. Er wird bereits heute, spätestens aber in der kommenden Woche erklären müssen, was die zentralen politischen Inhalte seiner Agenda für die nächsten beiden Jahre sind. Und er muss sagen, wer diese Politik verantwortlich als Minister umsetzen soll. Ob dabei der „alte“ Premierminister nicht auch der „neue“ sein würde blieb nur bis zum Mittag ungeklärt. Da der Posten Dreh- und Angelpunkt aller Diskussionen ist, ging es mit der Neubesetzung sehr schnell. Bereits am Mittag wurde bekannt, das der in Deutschland wenig bekannte Jean Castex, Bürgermeister von Prades, einer Kleinstadt mit 6000 Einwohner in den östlichen Pyrenäen als Nachfolger von Edouard Philippe nominiert wird. Castex ist wie Philippe und Macron Absolvent der ENA, und er ist wie sein Vorgänger Mitglied der konservativen Partei LR, Les Republcains. Ein Schachzug, der offenbar den erwartbaren Ärger im bürgerlich-konservativen Lager begrenzen soll. Gleichzeitig wird es Macron aber im linken Lager, zu dem sich die französischen Grünen ganz eindeutig bekennen, wahrscheinlich weiter schaden. Um diese Klientel zurückzugewinnen, müsste Macron bei den Ministern schon den ein oder andern Coup landen und Persönlichkeiten aus dem Hut zaubern, mit denen heute niemand rechnet und denen dann obendrein ein gerüttelt Maß an Verantwortung und eigener politischer Gestaltung zugestehen. Sonst wird sich der Eindruck verfestigen, dass Edouard Philippe zum Bauernopfer der Neuausrichtung der Politik des Präsidenten gemacht wurde.
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Kay Walter
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Die französische Regierung unter Premierminister Edouard Philippe ist heute zurückgetreten. Zwar wird seit Tagen über eine Kabinettsumbildung spekuliert, dieser konkrete Schritt kam dann aber doch überraschend. Was hat der Rücktritt zu bedeuten? Wem nutzt, wem schadet er?
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"Emmanuel Macron",
"LREM",
"Frankreich"
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außenpolitik
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2020-07-03T13:14:28+0200
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2020-07-03T13:14:28+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/frankreich-regierung-rucktritt-edouard-philippe-jean-castex-emmanuel-macron
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Gerhard Schindler, Manuel Ostermann und Susanne Gaschke im Gespräch mit Alexander Marguier - Cicero Podcast Politik: „Wir brauchen in Deutschland eine neue Sicherheitskultur“
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Diese Entwicklung ist alarmierend: Das Bundeskriminalamt (BKA) hat im ersten Halbjahr 2023 einen deutlichen Anstieg der Gewaltkriminalität in Deutschland registriert. Nach soeben veröffentlichten Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik kletterten die Zahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 17 Prozent nach oben, wie das BKA mitteilte. Der Zuwachs sei vor allem auf öffentlichen Straßen und Plätzen zu verzeichnen. Fast täglich ist über solche und ähnliche Fälle in den Nachrichten zu hören: Auch auf Deutschlands Straßen wird die Terrororganisation Hamas gefeiert, in Berlin kam es an Sylvester zu gewalttätigen Randalen, in öffentlichen Parks grassiert der Drogenhandel, Clankriminalität hält die Polizei in Atem – und Polizisten werden selbst immer häufiger Opfer von Übergriffen. Es ist hierzulande etwas ins Rutschen geraten beim Thema Innere Sicherheit. Aber was kann der Staat dieser Entwicklung entgegensetzen? Darüber diskutieren der ehemalige BND-Präsident Gerhard Schindler, Bundespolizeigewerkschafter Manuel Ostermann und die Journalistin Susanne Gaschke in dieser Podcast-Sonderausgabe „Cicero Hard Talk“ mit Chefredakteur Alexander Marguier. Das Gespräch wurde am 20. November 2023 in den Studios von Kivvon als Cicero Hard Talk aufgezeichnet. Das dazugehörige Video können Sie hier ansehen oder auf dem Kivvon-Kanal. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Alexander Marguier
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Steigende Kriminalität, Anti-Israel-Demos oder Clan-Strukturen: Mit der Sicherheit geht es in Deutschland rapide bergab. Warum das so ist, darüber diskutieren der ehemalige BND-Präsident Gerhard Schindler, Bundespolizeigewerkschafter Manuel Ostermann und die Journalistin Susanne Gaschke in der Podcast-Sonderausgabe „Cicero Hard Talk“ mit Chefredakteur Alexander Marguier.
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"Podcast",
"innere Sicherheit",
"Polizei",
"Hamas",
"BND"
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2023-11-23T11:53:05+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gerhard-schindler-manuel-ostermann-susanne-gaschke-alexander-marguier-cicero-podcast-politik-innere-sicherheit
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Ex-Staatssekretär: - Deutsche Außenpolitik braucht weniger Soldaten
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Noch ist der verlorene Krieg in Afghanistan nicht beendet. Noch gibt es keine politische Bilanz aus dieser und allen anderen militärischen Interventionen, noch steckt die Bundeswehr tief in gewaltigen Umbau-Schmerzen – da ertönt bereits der Ruf, das militärische Engagement in Afrika auszuweiten. Nicht nur Mali, auch die vom islamisch-christlichen Krieg zerstörte Zentralafrikanische Republik soll gerettet werden. Beschwichtigend heißt es, dass der Einsatz sich auf die Hauptstadt Bangui und die Sicherung des dortigen Flughafens konzentriert. So fing es auch in Afghanistan an. Nur Kabul und die Umgebung sollten gesichert werden. In sechs Monaten sollte alles geschafft sein. Daraus sind 13 Jahre geworden. Und man wird froh sein dürfen, wenn der höchst komplizierte Rückzug möglichst opferfrei gelingt. Rund eine Milliarde Euro hat die EU zwischen 2007 und 2013 für die zivile Entwicklung in der Sahel-Zone ausgegeben – nahezu erfolglos. Nun sollen Soldaten es richten. Beschlossen ist eine EU-Mission. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass sie mehr Erfolg haben wird. Durch militärische Intervention erzwungene Regime-Wechsel wie im Irak oder in Libyen haben Chaos erzeugt, nicht Stabilität. Die Bewegungsfreiheit für Terrorgruppen ist größer geworden, nicht kleiner. Bagdad ist heute unsicherer als vor 13 Jahren. Gescheitert ist auch der Versuch, mittels militärischer Unterstützung für gewaltbereite Oppositionsgruppen einen Systemwechsel herbeizuführen. Noch nie hat Syrien so bluten müssen wie heute im Bürgerkrieg. Und was lehrt uns das verlustreiche Umsturzbeispiel Ägypten? Zwei Präsidenten – Mubarak und Mursi – befinden sich in Haft. Alle Hoffnungen richten sich, wieder einmal, auf das allmächtige einheimische Militär. Doch nicht einmal die existenziell wichtige Finanzhilfe durch die USA hat bei den ägyptischen Machthabern Appetit auf demokratische Verhältnisse nach angelsächsischem Vorbild geweckt. Fazit: Politische Bewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten haben die mangelnde Fähigkeit von Akteuren gezeigt, Systemveränderungen zugunsten demokratisch legitimierter Machtausübung friedlich herbeizuführen. Weder die Europäische Union mit ihrer finanziell aufwendigen Nachbarschaftspolitik noch erfahrene ehemalige Kolonialmächte wie Großbritannien oder Frankreich haben diese Entwicklung vorausgesehen, geschweige denn zu beeinflussen vermocht. Längst ist ein Politikwechsel gegenüber jenen Staaten überfällig, die unter Armut, Unsicherheit und Staatszerfall leiden. Und dieser Politikwechsel muss von der Europäischen Union beschlossen werden. Noch ist das vereinte Deutschland gerade in afrikanischen Augen unbelastet genug, um dazu den entscheidenden Impuls zu geben. Nicht mit Soldaten, sondern mit einem politischen Konzept. Geschieht das nicht, bleibt die vereinbarte Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein leeres Versprechen. Dreh- und Angelpunkt einer neuen Politik muss eine andere Erkenntnis sein: Veränderungen müssen zuallererst einheimische, nicht intervenierende Kräfte, herbeiführen. Am Ende muss eine gerechte Teilhabe am politischen Prozess und an der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes möglich sein. Wo der Zusammenhang von Eigenverantwortung für Frieden und Gerechtigkeit nicht akzeptiert wird, kann auch mit Hilfe von außen nichts dauerhaft Sinnvolles bewirkt werden. Wer die mühsam und schwerfällig geführten Toleranz-Gespräche zwischen Christen und Muslimen in einer so gefestigten Demokratie wie der bundesdeutschen vor Augen hat, wird nicht glauben können, dass Soldaten aus EU-Ländern einen Religionskrieg zwischen radikalen Islamisten und Christen in Afrika dauerhaft beilegen können. Vielerorts ist vergessen, dass sich die damals noch nicht sehr erfahrene Bundeskanzlerin 2006 vom französischen Staatspräsidenten Chirac zur Mitintervention im Kongo verleiten ließ. Militärisch glimpflich ist die Operation ausgegangen, politisch gebessert aber hat sich bis heute nichts. Deutschland muss endlich einsehen: Der wünschenswerte Wandel in postkolonialen Systemen zu rechtsstaatlich verfassten und demokratisch legitimierten Regierungssystemen kann nicht herbeigeschossen werden. Er muss sich entwickeln. Und dabei kann und muss die EU helfen. Gegenwärtig sind zwölf zivile Missionen und vier militärische Operationen im Auftrag der EU im Einsatz. Diese Ziffern weisen auf Wichtiges hin: das zivile Gesicht der EU ist weitaus stärker als das militärische. Das ist die richtige Richtung. Es gibt Wichtigeres als immer neue kurzatmige Militärinterventionen: etwa, funktionierende und korruptionsresistente Justiz- und Polizeidienste aufzubauen, eine geordnete Gesetzesarbeit und eine transparente Kontrolle über die Ausbeutung einheimischer Bodenschätze zu entwickeln, vor allem aber politisches Führungspersonal durch politische Stiftungen auszubilden. Deutsche Politik muss wieder offensiv dafür eintreten, dass zivile Krisenprävention Vorrang hat vor nacheilender militärischer Intervention. Der Verzicht auf verschwenderische Rüstungsausgaben wird von den Geberländern mit verstärkter Hilfe zur Selbsthilfe honoriert. Ein absolut restriktiver und vollkommen transparenter Rüstungsexport gehört zwingend zu diesem Politikwechsel. Gewiss: Aus alledem folgt nicht, dass etwa auf die Hilfe beim Aufbau von Streitkräften gänzlich verzichtet werden könnte, auch vor Ort. Auch nicht, dass Interventionen aus humanitären Gründen gänzlich auszuschließen sind. Aber sie müssen die Ausnahme sein, nicht die Regel. Über die bisher weit mehr als 100 weltweiten Einsätze der Bundeswehr gibt es bislang keinen bilanzierenden Rechenschaftsbericht. Der Deutsche Bundestag sollte ihn anfordern und gründlich erörtern, bevor er neuen Einsätzen, etwa in Afrika, zustimmt. Der Verfasser war von 1998 bis 2002 Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, ist Honorarprofessor an der Universität Potsdam und arbeitet als freier Publizist in Berlin.
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Walther Stützle
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Deutschland sollte sich in Afrika nicht ins nächste militärische Abenteuer stürzen, warnt der frühere Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Walther Stützle. Die bisherigen Operationen haben wenig Positives bewirkt
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außenpolitik
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2014-01-31T11:59:15+0100
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2014-01-31T11:59:15+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/ex-staatssekretaer-mali-zentralafrika-verteidigungspolitik-weniger-soldaten/56951
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Nach Frankreichwahl - Welchen Macron hätten wir denn gern?
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Am Sonntag wird Emmanuel Macron vereidigt und kommt dann sofort nach Berlin. Dort sagte es sich vor seiner Wahl ganz leicht: Deutschlands Führung setzt auf Macron. Natürlich wollten alle von Angela Merkel bis Martin Schulz, dass lieber der links-liberale Aufsteiger in den Élysée-Palast gewählt wird als die rechtspopulistische Marine Le Pen. Doch nur einen Tag nach der Wahl hat der Streit begonnen: Welchen Macron hätten wir denn gern? Wirklich den, der sich durchsetzt? Auch gegen Deutschland in Europa? Die Antworten machen alte Fronten klar. Die SPD will ihn pur, die Union nur light. Macron steht für Schuldenumverteilung. Das würde viele Staaten in der EU stärken, Deutschland finanziell schwächen und damit die Frage offen lassen, ob die EU im Ganzen gestärkt oder geschwächt würde. Dennoch wird dieser Kampf zwischen linker und rechter Mitte in Deutschland mit Verve geführt. Kanzlerkandidat Martin Schulz wählt Pathos. Er reiste am Europatag zu den Schlachtfeldern von Verdun, wo seine Botschaft war: Die europäische Zusammenarbeit über Grenzen hinweg sei „das bessere Konzept als das, was zu Verdun geführt hat“. Was in der EU wiederum das bessere Konzept zur Zusammenarbeit sei, sagte Schulz anschließend in einer Diskussion mit jungen Leuten: ein großes Investitionsprogramm und eine europäische Strategie gegenüber Donald Trump. „Als Kanzler würde ich darauf bestehen, dass finanzielle und wirtschaftliche Solidarität auch praktische politische Solidarität braucht.“ Ebenso sieht es Außenminister Sigmar Gabriel. Er drängt den Koalitionspartner, Frankreich ein höheres Defizit zuzugestehen, damit Macron mehr Spielraum für Reformen bekomme. Frankreich hat in den vergangenen Jahren die Defizitgrenze von 3 Prozent der Wirtschaftsleistung gerissen. Doch für dieses Jahr rechnet die EU mit einem französischen Defizit von nur 2,9 Prozent, im kommenden Jahr liegt die Kalkulation derzeit bei 3,1 Prozent. Klingt in Ordnung, allerdings gibt es kein Wachstum in Frankreich – seit zehn Jahren nicht. Macron will das ändern und ist für Dinge, die Union und FDP ganz und gar nicht wollen: einen Eurozonen-Finanzminister, einen gemeinsamen Haushalt der Euro-Zone, soziale Mindeststandards in der EU und für gemeinsame Anleihen der Euroländer, und Umverteilung, sprich: Eurobonds. Die CDU lehnt diese franko-sozialdemokratischen Ideen ab. Denn sie fürchtet munteres Weiterverschulden der Olivenländer – zu denen sie Frankreich insgeheim zählt: „Weder die Eurozone noch Frankreich leiden an zu wenig Schulden“, höhnt Finanzstaatssekretär Jens Spahn. Vor „Vergemeinschaftung von Schulden“ warnt der Vorsitzende des EU-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum. FDP-Chef Christian Lindner fasst es zusammen: „Wir hoffen auf Macron, aber mehr Schulden als erlaubt darf auch er nicht machen.“ Aus der CSU kommt eine klare Weisung an den Neuling im Élysée-Palast: Macron dürfe erst Reformschritte in Europa fordern, sagt Partei-Vize Manfred Weber, „wenn er bewiesen hat, dass sein eigenes Land reformfähig ist“. Auch wenn es um das große und wichtige Frankreich gehe – eine „Sonderbehandlung“ sei ausgeschlossen. Bei Finanzminister Wolfgang Schäuble klingt das genauso: „Macron weiß, dass Frankreich wie jedes europäische Land Entscheidungen treffen muss, die nur Frankreich treffen kann.“ Vertreter der deutschen Industrie und der EU-Haushaltskommissar stoßen in dasselbe Horn. Günther Oettinger will keinen Eurozonen-Finanzminister. Alles solle bleiben, wie es ist: Die EU-Kommission überwacht die Haushaltsentwicklung. Die Eurogruppe hat über Finanzhilfen zu entscheiden. Und der bewährte Rettungsschirm ESM, der Europäische Stabilitätsmechanismus, steht bereit, um Hilfen zu finanzieren. „Es gibt derzeit keinen Grund, an dieser Architektur etwas zu ändern.“ Hier ist eine Mauer gebaut, an der Macron schnell spüren wird, wer in der EU das Sagen hat. Bis zur Bundestagswahl im September wird er weder im Kanzleramt noch im Finanzministerium Fürsprecher finden, was seine wahren Pläne angeht. Die SPD ist ihm eine schwache Hilfe. Denn sie taumelt derzeit und wird nicht auf feste Beine kommen können mit einem Wahl-Aufruf: Mehr Geld für die EU! Weil schon jetzt die Konkurrenz das abwandelt in: Mehr Schulden für alle! Am Ende aber wissen Merkel wie auch Schäuble aus leidvoller Erfahrung mit Griechenland: Die EU zusammenzuhalten, das kostet halt. Wer Macron ab dem kommenden Jahr nicht unterstützt, riskiert dessen Versagen. Man kann es auf eine alte Merkel-Formel bringen, nur leicht abgewandelt: Scheitert Macron, scheitert nicht nur der Euro, sondern die ganze EU.
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Wulf Schmiese
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Kolumne: Leicht gesagt. Vor seiner Wahl hatten alle deutschen Politiker Emmanuel Macron bejubelt. Doch noch vor der Vereidigung des neuen französischen Präsidenten hagelt es wegen seiner EU-Reformpläne Kritik, vor allem aus FDP und Union. Warum Berlin damit ein großes Risiko eingeht
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"Emmanuel Macron",
"Frankreich",
"EU",
"Reformen",
"Schuldengrenze"
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außenpolitik
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2017-05-10T11:01:49+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/Nach-Frankreichwahl-Welchen-Macron-haetten-wir-denn-gern
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Türkischer Wahlkampf in Deutschland - Das Versäumnis deutscher Politik
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Die Parlamentswahlen im Juni haben im ersten Anlauf zu keinem Ergebnis in der Türkei geführt – es konnte keine Regierung gebildet werden. Zum einen wollte keiner mit der AKP, der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, koalieren, zum anderen wollten auch die Oppositionsparteien untereinander nicht zusammenarbeiten. Jetzt müssen die türkischen Bürger erneut an die Wahlurne. Das hat auch Auswirkungen auf Deutschland. Türkische Politiker kommen zu Besuch. Das hat nichts mit Diplomatie zu tun: In Deutschland leben mehr als eine Millionen wahlberechtigte Türkischstämmige. Das kann in der gegenwärtigen Ausgangslage türkischer Parteien entscheidend sein. Einfach ausgedrückt: Es ist Wahlkampf. Besuche türkischer Politiker lösten in der Vergangenheit große Echos aus – insbesondere dann, wenn sie Recep Tayyip Erdoğan hießen. „Ich bin nicht zum Streit gekommen. Meine Sache ist die Liebe. Das Haus des Freundes, das sind die Herzen. Ich kam, um Herzen zu gewinnen“, sagte er 2008 vor 16.000 Deutsch-Türken. Tatsächlich aber hat er an jenem Tag viel Streit zwischen seinen hierzulande lebenden Landsleuten hinterlassen. Seine Worte „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ waren monatelang ein Thema in deutschen Medien und auch an türkischen Stammtischen. Jetzt kommt sein Nachfolger, der amtierende Premierminister der Türkei, Ahmet Davutoğlu, erneut nach Deutschland. In Düsseldorf will der AKP-Vorsitzende und Ministerpräsident Davutoğlu am 3. Oktober den Wahlkampf seiner Partei starten. Erdoğan selbst will einen Tag später in Österreich auftreten – allerdings nicht für Wahlkampfzwecke, heißt es offiziell. Erdoğan und Davutoğlu können bei ihren Besuchen auf die Dienste von Süleyman Çelik, Vorsitzender der AKP-nahen Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), zählen. Laut Çelik zeige der Besuch, wie viel Wert Davutoğlu den europäischen Türken und den türkischstämmigen Europäern beimesse. Die Eintrittskarten für die Veranstaltungen sollen, wie auch bei den Wahlkampfauftritten zuvor, durch die UETD-Büros und Moscheevereine sowie weitere türkische Verbände kostenlos verteilt werden. Dies habe mit Sicherheitsvorkehrungen zu tun. Die UETD gibt sich zwar seit ihrer Gründung als parteineutrale Organisation aus, fällt allerdings durch ihre Nähe zur AKP und ihrer strikten Distanz zu den Oppositionellen auf. Deshalb ist die UETD als AKP-Lobbyorganisation bekannt. Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender Ahmet Davutoğlu war bereits vor den vergangenen Parlamentswahlen im Juni nach Deutschland gekommen. Auch andere Oppositionspolitiker werden zwecks Stimmenfangs ihre Landsleute „besuchen“. Türkischen Staatsbürgern, die in Deutschland leben, wird bis zum 1. November die Wahl aus dem Ausland ermöglicht. Es ist das dritte Mal, dass Auslandstürken ohne Einreise in die Türkei ihre Stimme in türkischen Auslandsvertretungen abgeben können. Deutschland kann sich vor dem Hintergrund dieser Veranstaltungen erneut auf Debatten einstellen. Vor den Veranstaltungen müssen wieder Einsatzkräfte der Polizei aufrücken, um rivalisierende Demonstranten voneinander fernzuhalten. Gerade jetzt, wo der PKK-Terror wieder täglich Opfer fordert, wird das eine heikle Angelegenheit sein. Ärgerlich ist, dass für anfallende Kosten Steuergelder ausgegeben werden, für die der deutsche Bürger aufkommen muss. Machen wir uns nichts vor: Es ist das gute Recht türkischer Politiker, hierzulande aufzutreten. An den Wahlen vom 7. Juni beteiligten sich circa 413.000 der 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland. Zumal Recep Tayyip Erdoğan bei den Wahlen in Deutschland im Durchschnitt mehr Stimmen gesammelt hat als in der Türkei. Auch die HDP konnte im Ausland mehr Stimmen einholen als in der Türkei. Nur die CHP und MHP waren im Ausland noch schwächer als daheim. Aber es ist auch die Schuld der deutschen Politiker, dass sich Deutsch-Türken mehr für die türkische Politik interessieren statt für die des Landes, in dem sie leben. Ein paar leere Versprechen vor den Wahlen reichen einfach nicht aus. Schließlich bekommen es hiesige Politiker nicht einmal vernünftig hin, die doppelte Staatsbürgerschaft für Türken einzuführen. Die SPD hatte noch vor den letzten Bundestagswahlen propagiert, sie wolle nur in die Koalition mit der CDU/CSU gehen, wenn diese unter anderem bereit wären, die doppelte Staatsangehörigkeit voll und ganz einzuführen. Tatsächlich aber umfasst die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit nicht alle Deutsch-Türken. Sie gilt nur für diejenigen, die bisher vom Optionsmodell umfasst waren. Diese sind die ab dem Jahre 2000 in Deutschland Geborenen. Auch die zwischen 1990 und 2000 in Deutschland geborenen Kinder haben dieses Recht, wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit nach einer Übergangsvorschrift erworben haben. Für einen 1989 Geborenen kann sie also nicht wirklich angewandt werden. Nichtsdestotrotz: Die SPD ist die Koalition eingegangen. Für viele Deutsch-Türken ist das ein eindeutiger Vertrauensmissbrauch. Es reicht auch nicht aus, dass die Parteien ein paar türkischstämmige Abgeordnete aufstellen und dann versuchen, nur über diese Leute den Kontakt zu dieser Bevölkerungsgruppe aufrechtzuerhalten. Insgesamt 11 türkischstämmige Bundestagsabgeordnete gibt es derzeit. Allerdings sind die meisten Deutsch-Türken, aber vor allem die AKP-Anhänger, nicht mit deren Politik einverstanden. Kein Wunder, wenn der Grünen-Chef Cem Özdemir offenen Wahlkampf für eine der türkischen Oppositionsparteien betreibt. Dieser neuen, für deutsche Parteien wichtigen Wählerschaft fallen selbstverständlich auch wiederkehrende Wahlkampfstrategien auf. Vor den Wahlen eine Moschee zu besuchen, kann einem Politiker zwar Punkte einbringen. Moscheevereine erhoffen sich von diesen Politikern einen regen Austausch und fortlaufende Kooperationen. Aber wenn diese Besuche tatsächlich nur vor den Wahlen stattfinden, verliert nicht nur der eine Politiker an Glaubwürdigkeit, sondern die gesamte Partei. Man kann von der türkischen Politik halten, was man will. Genau das macht sie aber richtig. Deren Politiker kommen nicht nur vor den Wahlen her, sondern auch mal zwischendurch und halten Reden voller Pathos: „Wir sind eins. Wir sind für Euch immer da! Ihr gehört zu uns!“. Die Menschen, die sich von den deutschen Politikern betrogen fühlen, lassen sich von diesen Sprüchen ganz leicht überzeugen.
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Fatih Aktürk
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Am Samstag besucht der amtierende türkische Premierminister Düsseldorf und wird von da aus seinen Wahlkampf starten. Deutschland spielt bei den Neuwahlen eine enorme Rolle. Aber warum interessieren sich Deutsch-Türken nicht für die Politik dieses Landes?
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außenpolitik
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2015-10-02T12:11:01+0200
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2015-10-02T12:11:01+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/wahkampf-die-tuerkische-wahl-wird-auch-deutschland-entschieden/59932
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Deniz Yücel über Erdogan - „Hobby-Islamist, hauptberuflich Gangster“
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Denis Yücel braucht einen Moment, um sich zu fassen. Seine Stimme ist brüchig, seine Augen auffällig glasig. Gerade hat der Journalist einen Einspieler über sein Jahr in türkischer Haft und seine vielen Unterstützer während dieser Zeit gesehen. Die vielen Briefe, seine Frau und sein Wille zum Widerstand gegen das türkische Regime hätten ihm in dieser Zeit geholfen, sagt er dann. Selbst als er im Gefängnis nicht schreiben durfte, hat er sich einen Kugelschreiber geklaut und sein Buch „Der kleine Prinz“ vollgeschrieben. Bei Maybrit Illner soll es an diesem Abend um genau dieses Thema gehen: „Erdogans Willkür – wie erpressbar ist Europa?“ Das Interview mit Yücel nimmt die gesamte erste Hälfte der Sendung in Anspruch. Es ist das erste Mal, dass er sich so umfangreich zu seiner Haft äußert. Er lasse „so nicht mit sich umgehen“, sagt er. Dass es einen Rüstungsdeal gegeben hätte, um seine Freilassung zu erkaufen, glaubt er jedoch nicht. „Es ist ja nichts Neues, dass Waffen in die Türkei geliefert werden.“ Tatsächlich habe er sich gewünscht, dass die Wirtschaft Erdogan weniger unterstütze. Denn dieser und seine Mitstreiter verstünden nur die Sprache des Geldes: „Das sind zwar Islamisten und Nationalisten, aber das sind sie alles hobbymäßig. Hauptberuflich sind sie Gangster.“ Gleichzeitig wirft er Angela Merkel vor, dass ihre Regierungen die Türkei abgewiesen haben, als diese dabei war, sich zu demokratisieren. Merkels Staatsbesuch kurz vor der Wahl 2015 und auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, habe indes nur Erdogans Macht gestärkt. Yücel sei nur freigekommen, weil die Türkei sich gleichzeitig mit den USA und der EU überworfen habe, das sei „zu viel Krach“ gewesen. Er habe im Gefängnis jedoch viel über Freundschaft und Liebe gelernt. Es sei ihm klar geworden, warum er seinen Job macht. Gerade jetzt aber brauche die Gesellschaft guten Journalismus. Und das klingt dann so, als hätte er den kleinen Prinzen nicht nur vollgeschrieben, sondern vorher auch gelesen. Erst jetzt geht Illner zu ihren weiteren Gästen über: Özlem Tupcu, Journalistin bei der Zeit, Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, und Claudia Roth, Grünen-Politikerin. Die drei nehmen die Kritik von Yücel auf, ihre Meinungen liegen erwartbar nah beieinander. Auch Röttgen weist die Vorwürfe eines Waffen-Deals zur Freilassung Yücels zurück: „So bescheuert kann man gar nicht sein. Darauf kann sich keine Regierung einlassen.“ Für ihn ist die Lage in der Türkei ein Dilemma, weil es das einzige demokratisch-muslimische Land gewesen sei. Özlem Topcu betont, dass ihr Welt-Kollege auch nach türkischem Recht nicht so lange in Untersuchungshaft hätte bleiben dürfen. Was ist jetzt zu tun? Man kann den Gästen dabei zuschauen, wie sie nach Auswegen aus der verzwickten Lage suchen: Nach Erdogans Angriff in Nordsyrien könne man ihm zwar kurzfristig die Waffenlieferungen verweigern. Langfristig sähe das aber anders aus, weil sonst die Gefahr bestünde, dass sich das Land von der Nato ab- und Russland zuwende. Es gebe keinen Blanko-Check für Nato-Partner, betont aber Claudia Roth. Innerhalb des Bündnisses bestehe ein riesiger Konflikt. Den Flüchtlingsdeal würde sie gerne aufkündigen, weiß aber auch, dass dann Europa mehr Flüchtlinge aufnehmen müsste. Das sei sehr unwahrscheinlich, denn Merkel stehe mit dieser Bereitschaft ziemlich allein da. Für Roth ist es ein „Wettlauf der Schäbigkeit“. Topcu ergänzt: Deutschland brauche zwar die Türkei, aber umgekehrt braucht die Türkei Deutschland noch viel mehr. Röttgen will keine Sanktionen gegen die Türkei erlassen. Die Daumenschrauben würden aber trotzdem bereits jetzt enger gezogen. Der Türkei sei die gemeinsame Zollunion sehr wichtig und genau diese Gespräche seien bis auf Weiteres auf Eis gelegt. Wirtschaftliche Sanktionen würden Erdogan innenpolitisch nur stärken, ergänzt die Zeit-Journalistin Topcu. Sie wünscht sich mehr Coolness und Gelassenheit im Umgang mit dem türkischen Staatschef. Roth betont hingegen, dass Erdogan nicht die Türkei sei und umgekehrt. Von der deutschen Regierung sei bis jetzt nur „lautes Schweigen“ gekommen. Wahlkampfauftritte von türkischen Politikern müsse unsere Demokratie aushalten. Röttgen widerspricht, man dürfe das nicht dulden. Was bleibt von der Sendung? Zwei Politiker sind da und keiner will es gewesen sein. Röttgen kann sich nicht erklären, warum die Regierung erst ankündigt, keine Waffenlieferungen mehr zu genehmigen, um dann doch damit weiter zu machen. Und das, obwohl er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses ist. Das Gespräch war mit 30 Minuten zu kurz. Illner musste am Ende einen Themenkatalog in fünf Minuten abhandeln. Das war schade. Denn obwohl alle drei in ihren Meinungen nah beieinander waren, waren sie dabei noch weit genug voneinander entfernt, um sich gut zu ergänzen. Das Interview mit Yücel war zwar spannend, aber es ging zu viel um seine Haft. Das eigentliche Thema, wie erpressbar Europa geworden ist, kam zu kurz.
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Chiara Thies
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Bei Maybrit Illner ging es gestern Abend um „Erdogans Willkür“, und mit dem lang inhaftierten Journalisten Deniz Yücel war der Kronzeuge geladen. Bei seinem ersten TV-Auftritt nach der Haft gab sich Yücel kämpferisch. Dem Rest der Sendung fehlte leider der Elan
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"Erdogan"
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außenpolitik
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2018-04-27T09:47:32+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/maybrit-illner-deniz-yuecel-tuerkei-erdogan-norbert-roettgen-claudia-roth
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Landtagswahl in Niedersachsen - Ein trügerisches Zeichen der Stabilität
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Fest steht, was schon vorher als sicher galt: Stephan Weil bleibt Ministerpräsident von Niedersachsen. Fest steht auch, die rot-schwarze Koalition unter Führung des Sozialdemokraten wurde nicht „abgewählt“ in dem Sinne, dass sie keine Mehrheit mehr hätte. Aber laut Hochrechnungen verlieren beide Parteien im Vergleich zur vorangegangenen Wahl insgesamt knapp zehn Prozentpunkte an Zustimmung – die CDU mit einem Minus von 5,6 Punkten allerdings deutlich stärker als die SPD mit einem Abschlag von 3,7 Punkten. Dieser Effekt dürfte zu einem Großteil auf die jeweiligen Spitzenkandidaten zurückzuführen sein. Stephan Weil ist es gelungen, dem starken Abwärtstrend der SPD im Bund aufgrund seiner hohen Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen etwas entgegenzusetzen. Bernd Althusmann hingegen, bisheriger Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident, hatte nicht die notwendige politische Überzeugungskraft, um vom stetig-langsamen Wachstum der CDU auf Bundesebene zu profitieren – im Gegenteil. Die niedersächsische SPD also laut erster Zahlen bei 33,2 Prozent, die CDU bei nur 28 Prozent. Für Bundeskanzler Olaf Scholz (und den aus Niedersachsen stammenden SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil) ist das eine gute Nachricht, für CDU-Chef Friedrich Merz entsprechend eine schlechte. Er wird versuchen, und zwar nicht ganz zu Unrecht, die Wahlschlappe auf das Personal vor Ort abzuwälzen. Allerdings bedeutet dieser Wahlausgang alles andere als Rückenwind für die deutschen Christdemokraten. Zumal in Niedersachsen nach aktuellem Stand eine rot-grüne Koalition knapp möglich wäre – welche für Weil nach eigener Aussage auch Priorität hätte vor einer Fortsetzung von Rot-Schwarz. Die CDU dürfte also die Regierungsbeteiligung verlieren, zumal sich dies für die SPD angesichts des hohen Stimmverlusts für den bisherigen Koalitionspartner auch gut verargumentieren lässt. Die Grünen selbst landen mit einem Ergebnis von um die 14 Prozent zwar nicht dort, wo die Demoskopen sie vor einigen Wochen noch gesehen hatten. Aber ein Zuwachs von mehr als fünf Punkten dürfte für sie immer noch Grund genug sein, zu jubeln (zumindest, wenn die Fernsehkameras eingeschaltet sind). Sie werden sich jetzt als „klare Wahlsieger“ in den Vordergrund schieben und breitbrüstig eine Regierungsbeteiligung anstreben. Der Preis dafür wird für den künftigen Koalitionspartner entsprechend hoch sein – wie immer, wenn dieses Partei ein Bündnis eingeht. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein lassen grüßen. Und Robert Habecks Fehlleistungen als Bundeswirtschaftsminister, sein würdeloses Hazardspiel um den möglichen zeitweiligen Weiterbetrieb des niedersächsischen Atomkraftwerks Emsland, dürften jetzt von seinen Parteifreunden vor Ort möglichst schnell zu den Akten gelegt werden. Kaum vorstellbar jedenfalls, dass ausgerechnet die niedersächsischen Grünen sich in dieser Hinsicht konziliant zeigen sollten – Stromknappheit hin oder her. Die Ideologie ist für diese Partei wegleitend, nicht Ratio oder Pragmatismus. Für die FDP setzt sich der Niedergang auch in Niedersachsen fort, sie steht laut Hochrechnung bei fünf Prozent (minus 2,5 Punkte) und muss um den Einzug in den Landtag bangen. Hier dürften landespolitische Effekte kaum ins Kontor geschlagen haben; die Liberalen befinden sich im Bund in einer für sie toxischen Koalition mit SPD und Grünen. Christian Lindner macht zwar – und zwar nicht zu Unrecht – stets darauf aufmerksam, seine Partei würde als Mitglied der „Ampel“ immer wieder Schlimmeres verhindern. Aber dass sich mit diesem Argument keine Wahlen gewinnen lassen, gehört zum kleinen politischen Einmaleins. Für die Freidemokraten wird es jetzt wirklich brandgefährlich, und zwar nicht nur in Niedersachsen. Völlig unklar ist, wie sie sich aus dieser Situation befreien wollen. Zumal die Mitkoalitionäre in Berlin sich jetzt gestärkt fühlen und nun erst recht ihren rot-grünen Kurs in Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik fortsetzen dürften. Bei den Liberalen stellt sich inzwischen (wieder einmal) die Existenzfrage. Es ist ein Jammer. Ein absolutes Alarmsignal ist der deutliche Zuwachs für die AfD: Sie steht in Niedersachsen laut Hochrechnungen bei knapp zwölf Prozent, das entspricht einem Zuwachs von rund 5,5 Punkten. Und das in einem westlichen, wirtschaftsstarken Bundesland. Das starke Abschneiden der AfD, die übrigens von den Grünen auch nur knapp zweieinhalb Punkte entfernt liegt, dürfte sehr eindeutig auf das als unzureichend empfundene Krisenmanagement der Bundesregierung zurückzuführen sein. Ob das alles Putin-Verehrer waren, die da ihr Kreuzchen bei der „Alternative“ gemacht haben, kann bezweifelt werden. Die Partei entwickelt sich zum politischen Sammelbecken all jener, die sich wegen Inflation, kommender Rezession und vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs zunehmend überfordert fühlen und den „etablierten“ Parteien schlicht keine Problemlösungskompetenz mehr zutrauen. Dies wird sich noch verstärken, wenn demnächst die Folgen der aktuellen Massenzuwanderung notgedrungen auf die Tagesordnung kommen. Eine Bundesregierung, die es in der Migrationsfrage einfach so weiterlaufen lässt wie bisher, unterminiert sehenden Auges den gesellschaftlichen Frieden in der Bundesrepublik. Da hilft es auch nichts, die AfD als rechtsradikale Brunnenvergifter zu stigmatisieren. Dass dieser Vorwurf gerade mit Blick auf die Funktionärsebene durchaus zutrifft, ändert nichts an der Tatsache, dass die AfD sich als klassische Protestpartei in Deutschland etabliert hat – und es ganz offenbar auch bleiben wird. Denn die Linke, auch das zeigt sich in Niedersachsen sehr deutlich, ist schlicht und ergreifend abgemeldet: Sie landet mit einem Minus von 1,9 Punkten bei jetzt nur noch 2,7 Prozent. Was bei Lichte besehen immer noch erstaunlich viel ist für eine sich selbst zerfleischende Partei, der eine irre Identitätspolitik allemal wichtiger ist als die Probleme von Geringverdienern und anderen Menschen, die in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Eine echte linke Partei alten Schlags könnte in dieser Zeit eigentlich auftrumpfen. Was zeigt, wie sehr sich die Linke in ihrer sektiererischen Ideologie verrannt hat. In ihrer jetzigen Verfassung hat sie schlicht keine politische Zukunft. Die Niedersachsenwahl hat also eine landeseigene und eine bundesweite Komponente. Beide voneinander zu trennen und gegeneinander aufzurechnen, das wird die Aufgabe in den nächsten Tagen sein. Jede Partei wird diese Aufgabe in ihrem eigenen Sinne erfüllen. Manchen wird dies halbwegs glaubhaft gelingen, anderen weniger. Man möchte denken, von dieser Landtagswahl geht ein Signal der Stabilität aus. Doch genau das könnte ein Trugschluss sein.
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Alexander Marguier
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Stephan Weil bleibt Ministerpräsident in Niedersachsen – und wird künftig womöglich eine rot-grüne Regierung anführen. Man könnte dies als Bestätigung des Kurses der dominierenden Ampelparteien in Berlin werten. Doch genau das wäre ein Trugschluss. Denn ein etwas genauerer Blick auf das vorläufige Wahlergebnis zeigt: An den Rändern tut sich etwas. Und das verheißt nichts Gutes. Höchste Zeit für einen Politikwechsel in Berlin.
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"Stephan Weil",
"Niedersachsen",
"Bernd Althusmann"
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innenpolitik
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2022-10-09T19:31:18+0200
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2022-10-09T19:31:18+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/landtagswahl-niedersachsen-stephan-weil-truegerisches-zeichen-der-stabilitaet
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Die AfD - Das Auffanglager für politische Flüchtlinge
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Es ist geschafft: Seit Jahren beklagen die etablierten Parteien die niedrige Wahlbeteiligung. Nun steigt sie. Viele Nichtwähler sind nicht nur wählen gegangen, sondern ihre Stimmen sind nun auch in den Parlamenten vertreten. Die Revolution ist ebenfalls ausgeblieben. Weder in Baden-Württemberg, noch in Rheinland-Pfalz oder in Sachsen-Anhalt – oder gar auf Bundesebene – wurden Regierungschefs abgewählt. Doch schaut man in die Gesichter des politischen Establishments, bekommt man den Eindruck, als stünde Deutschland seit vergangenem Wochenende einer Invasion von außen gegenüber – einem Einmarsch von Neonazis und dunkeldeutschen Rechtsradikalen. Das klingt dramatisch, sorgt für mediale Aufmerksamkeit und parteipolitisches Hyperventilieren – und ist doch so fern jeder Realität. Weder sind die Sympathisanten der „Alternative für Deutschland“ (AfD) durch die Bank braune Ewiggestrige, noch sind sie fremde Eindringlinge. Anstelle einer Invasion von außen erleben wir eine ziellose innerdeutsche politische Flüchtlingsbewegung. Und dies auch nicht erst seit einem halben Jahr: Vor vier Jahren befürchteten Parteistrategen, das geölte Machtgefüge könnte durch marodierende Politpiraten geentert werden. Vor und nach den Piraten beäugte man ängstlich abwechselnd die Wutbürger, die antikapitalistischen Blockupy-Kids, die antiislamischen Montagsspaziergänger, die migrantischen Nachwuchs-Dschihadisten und die apokalyptischen Klimaknuddler. Und über all diesen thronte, gewissermaßen als großer Unbekannter, der Nichtwähler. Dieser ist auch im Frühjahr 2016 noch der eigentliche Wahlsieger. Doch seine Mehrheit schrumpft, denn es kommt Bewegung in die Sache: Eine recht große Menge von Parteiverdrossenen und politisch Entfremdeten ergießt sich in eine neue Mulde unserer flachgehobelten wie dünnhäutigen politischen Landschaft. In dieser Fließbewegung sind nicht klare Visionen gefragt, sondern Halt. Es geht nicht um grundlegende Orientierungen, weder von links nach rechts oder umgekehrt, und auch nicht von Ost nach West. Wenn man überhaupt von einer Richtungsentscheidung sprechen kann, dann eher von „politisch drinnen“ nach „politisch draußen“. Die AfD ist zu einem Hotspot für die innerdeutsche politische Flüchtlingsbewegung geworden. In ihr finden Menschen Zuflucht, die sich vom politischen Mainstream abgewandt haben und dies nun per Stimmzettel kundtun. Sie sind keineswegs von Natur aus Außenseiter; die meisten haben eher das Gefühl, dazu gemacht zu werden. Sie sind auf der Suche nach einem neuen politischen Zuhause – nicht, weil sie die Sehnsucht nach Veränderungen, neuen Sitten und Gebräuchen gepackt hat, sondern weil sie die eigene Vergangenheit verteidigen und bestimmte aktuelle Veränderungen verhindern wollen. Wie bei allen Flüchtlingsbewegungen, so gilt auch hier: Wer die Flüchtlingszahlen reduzieren will, muss die Fluchtursachen bekämpfen. Fluchtwillige lassen sich nicht dadurch abhalten, dass man ihre Sammelpunkte abriegelt, ihre Lager anzündet oder ihre Fluchtwege verbarrikadiert. Im Gegenteil: Durch die fortgesetzte Ausgrenzung verstärkt man bei Flüchtlingen den Eindruck, in der Mainstream-Gesellschaft fremd und unerwünscht zu sein. Den Leitern des Auffanglagers AfD spielt das in die Hände: Sie werden zu neuen machtvollen Instanzen und haben daher gar kein Interesse daran, die ihnen zugelaufenen Flüchtlinge zur freiwilligen Umkehr zu bewegen. Die entscheidende Frage lautet also: Wie können die sich fremd fühlenden Menschen davon überzeugt werden, dass bei allen Schwierigkeiten eine offene und tolerante Gesellschaft mehr Möglichkeiten bietet als die ideelle Monokultur, der sie entstammen oder die sie anstreben? Derzeit erscheint die AfD als ein seetüchtiges und antriebsstarkes Rettungsboot der innerdeutschen politischen Flüchtlinge. Doch der Schein trügt: Ohne den hysterischen Berliner Gegenwind ist sie politisch navigationsunfähig und antriebslos. Ihr Treibstoff ist die hass- und angsterfüllte Ausgrenzung, die sie erfährt. Insofern ist das jetzt durch den Wähler erzwungene Eintreten der AfD in die Niederungen des Parlamentarismus der direkte Weg in den politischen Alltag – hinaus aus der medialen Dauerwerbesendung, hinein in die Windstille des öffentlichen Desinteresses. Voller Erschütterung und hysterisch wird nun die Frage erörtert, wie man mit den Sympathisanten der AfD umgehen solle. Ich plädiere dafür, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und sie ernst zu nehmen. Die meisten von ihnen haben sich die Entscheidung, ihrer Heimat den Rücken zuzukehren, nicht leicht gemacht. Ihre Flucht ist Ausdruck einer politischen Notlage, und genauso ziellos geht sie vonstatten. Wohin diese Flüchtlinge später weiterziehen, oder ob und wie sie sich innerhalb dieses Provisoriums AfD einrichten, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es uns gelingt, sie zu überraschen: mit ernsthaftem Interesse für politische Motive und menschliche Schicksale, und sachlich und konsequent im inhaltlichen Konflikt. Dass diese Form der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden in unserer politischen Kultur außer Mode geraten ist, ist eine der zentralen Ursachen der Massenflucht aus unserem entleerten System. Eigentlich müssten wir uns nur zu unseren eigenen demokratischen Werten bekennen: Diese Werte schützen unter anderem das Recht des Anderen auf eine andere Meinung – nicht, weil man sich nicht zutraut, sich gegen andere Standpunkte durchzusetzen, sondern weil man sich eben das zutraut. Mit diesem Zutrauen können wir Gesellschaft und Demokratie neu beleben und zugleich die Integration von Flüchtlingen bewerkstelligen, egal aus welcher Nation oder aus welcher Partei sie kommen.
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Matthias Heitmann
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In Deutschland gibt es eine neue Kategorie von politischen Flüchtlingen: Es sind die Parteiverdrossenen und Unzufriedenen, die sich in der AfD sammeln. Anstatt sie zu dämonisieren, sollten wir die Ursachen ihrer Flucht bekämpfen
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innenpolitik
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2016-03-16T12:14:38+0100
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2016-03-16T12:14:38+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/zum-umgang-mit-der-afd-ein-auffanglager-fuer-deutsche-politische-fluechtlinge
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Martina Gedeck in „Die Wand“ – „Sie ist froh, dass die Wand da ist“
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Martina Gedeck spielt in „Die Wand“ – einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Marlen Haushofer – eine Frau, die durch eine unsichtbare Wand plötzlich von der Außenwelt abgetrennt wird. Sie ist allein mit sich und ihren Ängsten und wird vor die unausweichlichen Grundfragen des Lebens gestellt. Nach und nach richtet sie sich in ihrer neuen Welt ein, sie lernt, im Einklang mit der Natur zu leben und sich mit der einzigen Gesellschaft zu arrangieren, die ihr bleibt – ihren Tieren Frau Gedeck, was ist die Wand für Sie? Welche Bedeutung hat sie?Die Wand bedeutet, dass man nicht mehr in sein altes Leben zurück kann. Sie ist der Bruch mit dem bisherigen Leben. Und die Wand hat eine doppelte Funktion: Sie schützt und hält gleichermaßen gefangen.Ja, ich glaube, dass die Wand der Protagonistin die Möglichkeit gibt, sich neu zu verorten und sich im eigenen Raum anzusiedeln. Das ist für sie, aber im Grunde auch für jeden Menschen wichtig. Täuscht der Eindruck, dass dieser plötzliche Verlust der Außenwelt für die Frau gar nicht so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick scheint? Die Wand hält sie im Grunde doch auch irgendwie am Leben. Es scheint, als wolle sie diesen geschützten Raum gar nicht wirklich verlassen.Ja. Sie ist eigentlich froh, dass die Wand da ist. Sie hat ihr bisheriges Leben als von sich selbst entfremdet empfunden. Sie sagt ja selbst, dass sie eigentlich nie in ihrem eigenen Leben angekommen ist. Sie ist fremdbestimmt, unglücklich. Hinter der Wand aber geht es ihr besser und besser, obwohl sie sich dort natürlich mit einem schweren und harten Leben konfrontiert sieht. Aber die Grundlagen werden besser: Sie fühlt sich identer mit sich, sie fühlt sich wohler. Am Schluss des Films sagt sie sogar, dass sie weiß, dass dies noch nicht das Ende ist. Das ist doch großartig, wenn man das sagen kann. Der Film endet dann auch mit dem Beginn neuen Lebens: Die Kuh erwartet ein neues Kalb. Trotz aller Schwere senden Film und Buch am Ende ein leises, positives Signal des Aufbruchs.Sie ist zunächst sehr traurig, weil sie weiß, ihre nach und nach sterbenden Tiere Perle, Luchs und Stier wird es nicht mehr geben. Sie weiß aber auch, dass etwas Neues heranwächst und sie sich diesem Neuen nicht entziehen kann und will. Und dann gibt es ja noch die weiße Krähe, die sie jeden Tag füttert. Die Krähe wartet jeden Tag auf sie. Es ist doch schön zu sehen, dass es immer jemanden gibt, der auf einen wartet. Im Grunde durchzieht Film und Buch eine permanente Traurigkeit, die aber letztlich immer versöhnlich wirkt. Wie würden Sie die Grundstimmung beschreiben?Es gibt so etwas wie eine Schwere, eine Last, die die Protagonistin trägt, tragen muss. Sie muss gegen Widrigkeiten ankämpfen und braucht alle Kraft, um das Notwendige für sich überhaupt sicher zu stellen. Und das heißt, dass das Leben hinter der Wand sie sehr viel Energie kostet. Es gibt wenige leichte Momente. Sie ist permanent damit beschäftigt, für sich und die Tiere zu sorgen. Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Martina Gedeck speziell an dieser Rolle gereizt hat Was hat Sie persönlich an speziell dieser Rolle gereizt?Die Rolle hat mich sehr erfüllt. Ich hatte das Gefühl, dass wir eine Geschichte erzählen, die viele Menschen berühren könnte. Die Geschichte zeigt eine Frau, die zweifelt, die Angst hat. Eine Frau, die letztlich alles mit sich selber ausmachen muss. Kennen Sie dieses Gefühl auch?Das kennt im Grunde doch jeder Mensch. In vielen Situationen muss man sich selber helfen. Zu sehen, dass das jemandem gelingt, dass jemand kämpft mit sich und der Welt, das ist etwas sehr Wichtiges.[gallery:Die Berlinale-Highlights] Die Protagonistin ist nahezu komplett der Natur ausgeliefert. In der Literatur wurde das immer wieder als radikale Zivilisationskritik ausgelegt. Das Buch wurde seinerzeit extrem politisiert. Aber trifft nicht im Grunde genau das Gegenteil zu? Im Grunde war die Heldin ja nie wirklich eingebunden in die Zivilisation. Geht es daher nicht eher um den Kampf eines Einzelnen mit sich selbst? Ein Kampf, der allein im Innern stattfindet?Ich denke auch, dass Haushofers Geschichte nicht einfach auf äußere Dinge übertragen werden kann. Ich glaube, alle Interpretationen, die das versuchen, überzeugen nicht. Früher wurde die Geschichte auf alles Mögliche übertragen. Es hieß, das Buch richte sich gegen Atomkraft, gegen Atomkrieg, es sei ein emanzipatorisches Buch. Aber ich glaube auch, dass es in der Geschichte um etwas viel Existentielleres geht: Das kann ein einschneidendes Erlebnis sein, etwas, das ihr den Weg zu ihrer Vergangenheit versperrt. Vielleicht eine Krankheit, ein schwerer Unfall oder eine Traumatisierung. So etwas sehe ich darin schon. Die Protagonistin lebt in einer Welt, in einem Raum, der im Grunde völlig menschenleer ist. Der einzige Mensch, der diesen Raum betritt, wird von der Frau schließlich abgeknallt.Ja, der wird abgeknallt, weil er ihre lebensnotwendigen Mitstreiter, die Tiere – Hund und Stier – tötet. Diese Tiere sind für ihr Leben existentiell. Der Mann, der die Tiere tötet, ist längst selbst zum Tier geworden. Somit werden die Grenzen zwischen Mensch und Tier hinter dieser Wand letztlich völlig aufgelöst. Die Wand als Grenze löst wiederum andere Grenzen auf. Sie verkehrt die Dinge. Die festgesetzten Wände, die im Menschen selbst existieren, verschwinden. Deswegen beachtet sie die eigentliche Wand irgendwann gar nicht mehr. Sie nimmt die Wand nicht mehr wirklich wahr. Sie sieht sie nicht mehr, sie beschäftigt sie nicht mehr. Das heißt, dass man die Vorstellungen, die man sich selber macht – das passiert meistens in der Lebensmitte – irgendwann zu hinterfragen und aufzulösen beginnt. Das macht auch die Protagonistin. Sie geht mit der Wirklichkeit um. Mit dem, was da ist und nicht mit dem, was sein müsste. Bevor die Wand in ihr Leben bricht, ist sie wie ein festgepanzertes städtisches Wesen, was nichts will, nichts macht und nur noch funktioniert. Dieses Loslösen vollzieht sie ziemlich radikal. Was sie allerdings immer an ihre alte Welt bindet, ist das Schreiben. Solange sie schreibt, solange sie Stift und Papier hat, bleibt sie Mensch.Wobei sie sich auch vom Schreiben wird verabschieden müssen. Und das Spannende ist, dass sie sich dessen absolut bewusst ist. Ihr wird bewusst, dass ihr alles genommen wird, alles, bis zum Tod. Mit dieser Vorstellung versöhnt sie sich während des Schreibens. Wenn das Papier alle ist und der Kugelschreiber alle ist, dann, so wird sie sagen, wird sich das Leben eben wieder andere Bahnen suchen. Dann werde ich in die Büsche schreiben. Dann verwandle ich mich ins Schreiben, in Buchstaben, dann tanze ich meine Sprache, dann denke ich nur noch. Die Frau hat schließlich keine Angst mehr davor, Dinge zu verlieren. Das ist es, was ihr aufhilft und warum man auch sagen kann, dass die Geschichte am Ende eine offene positive Perspektive besitzt. Die Wand löst Grenzen, Vorstellungen, Ängste. Alles löst sich. Auch körperlich löst sich die Frau von ihrem Geschlecht.Ja, sie verliert mehr und mehr ihre Weiblichkeit. Das Geschlecht löst sich auf. Man kann sie nicht mehr genau definieren. Niemand weiß, was für ein Wesen sie am Schluss ist. Frau Gedeck, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Timo Stein
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Sie ist die Frau mit der besonderen Stimme – Martina Gedeck. Auf der Berlinale präsentierte sie ihren neuesten Film „Die Wand“ nach dem gleichnamigen Bestseller von Marlen Haushofer. Cicero Online sprach mit ihr über innere Grenzen, Zweifel und Ängste
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kultur
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2012-02-15T15:21:26+0100
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2012-02-15T15:21:26+0100
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https://www.cicero.de//kultur/sie-ist-froh-dass-die-wand-da-ist/48315
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Talibanherrschaft in Afghanistan - Der Terror wird im Westen spürbar werden
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Der Himmel über Kabul ist blau, leuchtend blau. Die Stadt ist umgriffen von Bergen, deren Gipfel grau in den Himmel ragen. In meiner Kindheit gaben mir die Berge und der blaue, ferne Himmel inmitten des Bürgerkrieges Trost und Hoffnung, dass einmal der Krieg entschwinden werde. Doch nach 42 Jahren hält der Krieg in Afghanistan an, allein seine Protagonisten wechseln – seine Besetzer und Beschützer auch. Der Blick in den blauen Himmel ist heute trostlos geworden. Im ganzen Land sind Menschen auf der Flucht, ziellos auf der Flucht, mittellos auf der Flucht, die deshalb meistens nirgendwo, irgendwo in Afghanistan selbst endet, nicht selten in einem freien Feld an einem Straßenrand. Die Menschen, die aus Afghanistan flüchten, mögen sich zunächst wie Helden vorkommen, weil sie überlebten, aber spätestens im Iran, in Pakistan, wo seit Jahrzehnten eine desaströse Afghanistanpolitik verfolgt wird, erkennen sie, dass sie zu den Elenden unserer Zeit gehören. Die Jagenden sind die Taliban. Sie sind keine neuen Protagonisten. Exakt vor 20 Jahren waren sie schon einmal die schrecklichen Herrscher Afghanistans, haben Musik und Fernsehen verboten, Mädchenschulen geschlossen, Frauenrechte überhaupt nicht beachtet, Bildung, Kunst, Kultur zugrunde gerichtet, die Buddha-Statuen in Zentralafghanistan zerstört. Aber allen voran haben sie Afghanistan zu einem Land verkommen lassen, das für militante Terroristen aller Länder, insbesondere des Terrornetzwerks Al-Qaida, zu einem Anziehungsort wurde. Die Existenz der Taliban und deren afghanische Wirkungsstätte hat keine bloß regionale Bedeutung, vor der sich die Weltgemeinschaft mit bequemer Verachtung abwenden kann. Sie hat vielmehr eine globale Bewandtnis, die uns alle und überall betrifft, weil Terror grenzenlos ist. Denn fast exakt vor 20 Jahren, am 11. September 2001, verübte die Al-Qaida, koordiniert aus Afghanistan, Terroranschläge in den Vereinigten Staaten mit annähernd 3.000 Toten. Die USA, die zu keiner Zeit eine eindeutige Afghanistanpolitik erkennen ließen, reagierten darauf radikal und griffen unmittelbar Afghanistan an. Der Entschluss zum Krieg galt weniger der Befreiung des afghanischen Volkes aus den Fängen der Taliban als der Bekämpfung von al-Qaida. Der darauffolgende Nato-Einsatz sollte auf den Kampf gegen den Terror zielen, aber auch den Aufbau des Landes, die Ausbildung der afghanischen Armee und Sicherheitskräfte, zivilgesellschaftliche und demokratische Strukturen ermöglichen. Die Terrorbekämpfung als die eigentliche Zielsetzung der USA ist durchaus gelungen, aber die Taliban, die anfänglich vertrieben wurden, waren niemals ganz weg. Immer wieder musste die afghanische Bevölkerung durch Terroranschläge an deren Existenz erinnert werden. Der Aufbau des Landes hatte aber von Anfang an keine überzeugende Struktur, keinen nachhaltigen Plan. Die Demokratisierung des Landes ist bei weitem nicht flächendeckend gelungen, Infrastrukturen, Alphabetisierungsmaßen, die Gleichstellung der Frauen und andere zentrale Elemente sind nicht abgeschlossen. Die Regierungen in Afghanistan innerhalb der vergangenen 20 Jahren ähnelten stark ihren Vorgängern, wirkten wie Marionetten anderer Ideologien, korrupt, zuweilen inkompetent, mut- und saftlos, an der eigenen Bereicherung mehr interessiert als daran, die notwendige Sorge für die leiderfahrene Bevölkerung zu tragen. Hoffnungsmomente waren aber immer wieder da. Frauen waren sichtbar, an der Gestaltung des Landes integriert; partielle Projekte wie die Errichtung einzelner Mädchenschulen, Elektrisierungsprojekte und so weiter waren durchaus erfolgreich. Umso bestürzender ist der Zerfall all dieser Arbeit. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump schloss im Februar 2020 ein Friedensabkommen mit den Taliban auf Grundlage des Abzugs aller US- und Nato-Truppen bis zum 1. Mai 2021. Die Taliban sollten im Gegenzug die Gewalt reduzieren und in ein Friedensgespräch mit der afghanischen Regierung eintreten. Hier ging es nicht um Bedingungen, die notwendig wären, sondern um einen bedingungslosen Abzug, der am Ende unwürdig wie eine Flucht wirkte. Bei den Gesprächen und Vereinbarungen waren weder die afghanische Regierung noch die politische Opposition beteiligt. Das ist weder politisch noch humanitär haltbar. Der aktuelle US-Präsident Joe Biden hat mit einer Verzögerung letztlich den Abzug vollzogen. Und die restlichen Staaten folgten diesem Schritt. Der gesamte Entscheidungsprozess wirkt wie ein übereilter Aktionismus. Die Ortskräfte in Afghanistan bangen um ihr Leben, weil ihnen nicht entschieden geholfen wurde. Das ist verantwortungslos und ein gravierendes politisches Versagen. Das Land wird in einer Phase verlassen und sich selbst überlassen, deren Herausforderungen es nicht gewachsen ist. Der Westen hat damit eine milliardenschwere Arbeit, aber auch seine Glaubwürdigkeit verloren. Das afghanische Militär mit seinen rund 300.000 Soldaten (so die offiziellen Angaben, die augenscheinlich illusorisch waren) wurde kostspielig ausgebildet und aufgerüstet, aber sie haben sich kampflos den Taliban ergeben. Die rasche Übernahme Afghanistans scheint für niemanden absehbar gewesen zu sein. Das heißt aber auch, dass in Bezug auf Afghanistan wohl jegliche Expertise fehlt, dass dieser durchaus kalkulierbare Verlauf der Geschehnisse nicht bedacht wurde. Auch dies ist inakzeptabel. Das ist aber auch ein Zeugnis dafür, dass die afghanische Regierung nicht von ihrem Militär unterstützt wurde. Dies wurde aber nicht jetzt plötzlich offenbart, sondern seit langem war der Unmut des Militärs gegenüber der afghanischen Regierung wahrnehmbar. Damit haben die Regierung und das Militär ihr Volk im Stich gelassen, aber verlässlich waren beide Größen von Anfang an nicht. Es ist jedoch auch die Verantwortung des Westens, der Nato und insbesondere der USA, die ihren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren selbst für nichtig erklärt haben und nun achselzuckend behaupten wollen, dass Afghanistan in der Verantwortung der Afghanen sei. Doch dies überzeugt zum einen deshalb nicht, weil die außenpolitische Einmischung des Westens in die politische Situation Afghanistans seit dem Ende der 1970er-Jahre massiv gewesen ist, da die geopolitische Lage Afghanistans im Kalten Krieg von großer Bedeutung war. Und zum anderen würde die völlige Lossagung von Afghanistan nichts als die Leugnung weltpolitischer Verantwortung bedeuten. Die Taliban übernehmen also nach wenigen Wochen nicht nur die wichtigsten Provinzen und Großstädte des Landes, sondern auch die Hauptstadt Kabul. Mit Kabul zerfällt aber die letzte Hoffnung, die in den vergangenen 20 Jahren gewachsen war. Menschen in Kabul sind erneut Gefangene in ihrem eigenen Land. Und die Taliban fangen mit ihrem Feldzug an, zerstören Häuser, bedrohen Frauen, verhaften Menschen und sind dabei, ihre Schreckensherrschaft über ganz Afghanistan zu etablieren und auszuweiten. Sie sind nicht bloß eine extreme Strömung, sondern eine ideologische Bewegung, die denk- und pluralitätsfeindlich, frauenverachtend, jede Form der Mehrdeutigkeit, der religiösen Demut, der Offenheit und Freiheit verbietet. Die Taliban sind nicht einfach Muslime, die ihre Religion ideologisiert haben; vielmehr sind sie militante, fundamentalistische Ideologen, die ihre Ideologie islamisieren. Sie meinen mit Gewissheit zu wissen, was die Wahrheit ist, was Gott will und wie sich der Wille Gottes vollstrecken lässt. Diese hybride Hyperreligiosität verrät im Kern alle Tugenden der Religion. Die Frage ist: Wessen Problem ist Afghanistan? Afghanen selbst leben in mehreren Generationen bereits im Krieg, in Armut und in Gefahr, dass jeder Tag der letzte Tag ihres Lebens sein könnte. Afghanistan wird das Problem aller bleiben, weil sich die internationale Gemeinschaft nicht von Afghanistan lossagen kann. Denn der Terror, der zunächst das afghanische Volk betrifft und die gesamte Region vergiften wird, wird dann erneut global, aber vor allem im Westen spürbar werden. Wir schauen zu, wie Kabul zerfällt, sehen aber daran den Zerfall an Vertrauen in die Idee Europas, in Wertevorstellungen wie Demokratie und Menschenrechte, die mit unserem Voyeurismus an Wert, an Glaubwürdigkeit verlieren. Denn der Zerfall Afghanistans bedeutet allem voran eine moralische, eine humanitäre Katastrophe.
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Ahmad Milad Karimi
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Die Taliban erobern Afghanistan – vor den Augen der internationalen Gemeinschaft. Was bedeutet dieser Feldzug des Bösen und welche Folgen
hat unser Voyeurismus? Ein Gastbeitrag von Ahmad Milad Karimi.
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"Afghanistan",
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"Joe Biden",
"Donald Trump"
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außenpolitik
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2021-08-20T13:00:05+0200
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2021-08-20T13:00:05+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/talibanherrschaft-in-afghanistan-der-terror-wird-im-westen-spurbar-werden-trump-biden
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Harter Corona-Loockdown - Livestream zur Pressekonferenz
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Der Bund und die Länder haben sich wegen der steigenden Corona-Infektionszahlen auf einen harten Lockdown ab dem kommenden Mittwoch (16. Dezember) geeinigt. So heißt aus mehren Medien. Eine abschließende Einigung auf ein Beschlusspapier liegt es aber noch nicht vor. In einem am Sonntagmorgen vom Bundeskanzleramt an die Länder geschickten Beschlussentwurf zur Bund-Länder-Runde mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war unter anderem vorgeschlagen, den Handel mit Ausnahme der Geschäfte für den täglichen Bedarf vom 16. Dezember bis zum 10. Januar zu schließen. Die Beschlüsse sollen nun verkündet werden:
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Cicero-Redaktion
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Ab Mittwoch sollen in ganz Deutschland ein harter Lockdown erfolgen. Zahlreiche Geschäfte sollen wegen immer höherer Infektions- und Todeszahlen noch vor Weihnachten geschlossen werden. Sehen Sie hier die Regierungspressekonferenz im Livestream.
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innenpolitik
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2020-12-13T11:15:01+0100
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2020-12-13T11:15:01+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/livestream-harter-lockdown-pressekonferenz
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Grüne Bildungspolitik - Thema verfehlt
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Wörter sind verräterisch, weil sie die Geisteshaltung der Autoren enthüllen. Im Bildungskapitel des neuen Grundsatzprogramms der Grünen findet sich zehn Mal das Wort „sozial“, ergänzt durch „ungleich“, „benachteiligt“ und „prekär“. Man glaubt, ein Dokument des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zu lesen. Folgerichtig wird dann auch – in einem Bildungsprogramm! – eine „höhere Besteuerung von Vermögen und Erbschaften“ gefordert. Die Grünen versuchen gar nicht erst zu verbergen, was sie in der Bildungspolitik antreibt. Sie schreiben: „Bildungspolitik und Sozialpolitik gehören zusammen.“ Die sozialpolitische Dominanz sieht man auch daran, dass es im Bildungskapitel ständig um Finanzen geht. Es trägt die Überschrift „In Bildung investieren“, wo man doch eigentlich erwartet hätte: Die beste Bildung für unsere Kinder! Der innerdeutsche Leistungsvergleich zeigt deutlich, dass höhere Bildungsausgaben keineswegs bessere Schulleistungen verbürgen. Das Siegerland Sachsen gibt im Jahr pro Schüler 7.400 Euro aus; das Schlusslicht Berlin 9.700 Euro. Nicht Geld entscheidet über Bildungserfolge, sondern das pädagogische Konzept und seine praktische Umsetzung. Vom Schulprogramm einer Partei erwartet man, dass es auf die evidenten Schwächen unseres Schulsystems Bezug nimmt und stimmige Lösungen anbietet. Ein ins Auge springender Mangel ist die hohe Quote an Schülern, die jährlich die Schule ohne Abschluss verlassen. Laut „Bildungsmonitor“ des Instituts der Deutschen Wirtschaft von 2020 ist die Quote der Schulversager in Deutschland seit 2013 von 5,2 Prozent auf 6,8 Prozent gestiegen. Jedes Jahr werden 54.000 Schüler – das entspricht der Einwohnerschaft von Wetzlar – in eine ungewisse Zukunft entlassen. Wenn sie einen Lehrberuf beginnen, scheitern sie häufig an den Ansprüchen der Berufsschule. Oft landen sie in Billigjobs, im Hartz IV-System, nicht selten auch in der Delinquenz. Was sagt das grüne Schulprogramm zu diesem alarmierenden Befund? Es fordert lapidar: „Kein Bildungsschritt soll ohne Abschluss bleiben.“ Nach pädagogischen Rezepten, wie das gelingen kann, sucht man vergebens. In Deutschland ist die Schülerschaft insgesamt in ihren Leistungen zurückgefallen. Lagen deutsche Schüler beim PISA-Test 2015 in Mathematik noch 16 Punkte über dem OECD-Durchschnitt, sind es 2019 nur noch 11 Punkte. Dieser Trend nach unten wird durch die Zahlen des IQB-Bildungstrends 2018 betätigt. Demnach sind die Leistungen von Neuntklässlern in den Fächern Mathematik und in den MINT-Fächern Biologie, Physik und Chemie im Vergleich zu 2012 signifikant schlechter geworden. Alarmierend ist die Zahl der Schüler, die in einigen Bundesländern unter den Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss bleiben. In Schleswig-Holstein sind es 28,5 Prozent, in Hamburg 28,8, im Saarland 31,2, in Berlin 33,9 und – absoluter Negativrekord – in Bremen 40,6 Prozent. Nur Sachsen und Bayern schaffen es durchgängig, bei ihren Schülern die Regel- und Mindeststandards zu sichern. Wenn Schüler im Unterricht zu wenig lernen, liegt es häufig daran, dass sie die Lehrkraft mit ihren didaktischen Angeboten nicht erreicht. In unseren Klassenzimmern werden heute viele „moderne“ Lernmethoden angewandt, mit denen die „kognitive Aktivierung“ der Schüler, die der Bildungsforscher Olaf Köller für wesentlich hält, nicht optimal gelingt. Die Schüler sind im Klassenzimmer aktiv, greifen sich am „Lernbüffet“ Material ab und kommunizieren mit ihren Klassenkameraden im „Karussell-Gespräch“. Was dabei an Lernfortschritt und Wissenszuwachs herauskommt, ist in den meisten Fällen dürftig. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die didaktische Mode des „selbstregulierten Lernens“ die Mehrzahl unserer Schüler überfordert. Nach meiner Erfahrung als Lehrer für Deutsch und Geschichte können nur leistungsstarke Schüler mit „offenen“ Unterrichtsformen wie dem „individuellen Lernen“ gewinnbringend umgehen. Das Münchener Ifo-Institut hat in einer Studie herausgefunden, dass ein Lehrer bei seinen Schülern einen Wissenszuwachs von ein bis zwei Monaten erzielen könnte, wenn er zehn Prozent mehr Zeit auf frontales Unterrichten verwendete. Der Lüneburger Erziehungswissenschaftler Martin Wellenreuther plädiert aus demselben Grund dafür, in stark heterogenen Lerngruppen das „entdeckende Lernen“ zugunsten der „direkten Instruktion“ der Lehrkraft und des von ihr gelenkten Unterrichtsgesprächs zu reduzieren. Wellenreuther verweist dabei auf Erkenntnisse der Kognitionsforschung. Demnach erzeugt der offene Unterricht im Gehirn nicht die kognitiven Strukturen, an die die Schüler neu erworbenes Wissen andocken können. Da in den Bundesländern mit schlechten Schülerleistungen überwiegend in integrativen Schulformen gelernt wird, deren Klassen eine starke Heterogenität aufweisen, ist nicht von der Hand zu weisen, dass die dort praktizierten Varianten der Binnendifferenzierung einem effektiven Lernfortschritt im Wege stehen. Im Unterricht an einer Berliner Gesamtschule lernte ich, dass vor allem die schwächeren Schüler auf die helfende Hand der Lehrkraft angewiesen sind. Notfalls muss man ihnen einen Sachverhalt mehrfach erklären. Solche Hilfestellungen sind bei einer Lernform, die den Lehrer zum Lernbegleiter herabstuft, aber nicht vorgesehen. Und was sagt das grüne Schulprogramm zur Problematik der geringen Wirksamkeit von Unterricht? Auf fünf Programmseiten findet sich zum Unterricht nur ein lapidarer Satz: Der „Unterricht [ist] so [zu] gestalten, dass er den natürlichen Wissensdurst, die Neugier und die Spielfreude junger Menschen fördert“. Ob das die Botschaft ist, auf die 800.000 Lehrer in Deutschland gewartet haben? Sollte man vom Schulprogramm einer Partei, die sich anschickt, Regierungspartei zu werden, nicht erwarten dürfen, dass es wenigstens in Ansätzen den Stand des wissenschaftlichen Diskurses reflektiert? Wenn ein Schulkonzept der „sozialen Gerechtigkeit“ verpflichtet ist, geraten die Akteure gern in Versuchung, bei der Vergabe von Schulabschlüssen großzügig zu verfahren. In Berlin ist an den Sekundar- und Gemeinschaftsschulen die Zahl der Schüler deutlich gestiegen, die den Übergang auf die gymnasiale Oberstufe schaffen. Dabei weisen sie, wie Olaf Köller in einem Interview im Tagesspiegel klar machte, ein niedrigeres Leistungsniveau auf als die vorigen Jahrgänge. Die Berliner Abiturienten erzielten im Corona-Abitur 2020 mit 2,3 einen besseren Notendurchschnitt als die Prüflinge des Vorjahrs, obwohl in den Wochen vor der Prüfung der Präsenzunterricht ausgefallen war. Auch die Quote der Abiturienten mit der Idealnote 1,0 ist binnen Jahresfrist von 2,1 auf 2,5 Prozent gestiegen. Wunderbare Wissensvermehrung in Corona-Zeiten? Es liegt nahe, dass in einem schulischen Klima, in dem ständig das „Soziale“ eingefordert wird, bei Leistungsschwächen der Schüler großzügig verfahren wird. Man tut es ja für einen guten Zweck. Vor diesem Hintergrund versteht man die hohe Zahl an Studienabbrechern, die seit Jahren rund 30 Prozent beträgt. Wie das Bundesbildungsministerium ermittelt hat, liegen die wichtigsten Ursachen in zu hohen Leistungsanforderungen (30 Prozent) und mangelnder wissenschaftlicher Motivation (17 Prozent). Wäre es nicht die wichtigste Aufgabe des Gymnasiums, seine Absolventen auf die Anforderungen des Studiums vorzubereiten? Insgesamt liest sich das grüne Schulprogramm wie ein provinzielles Kiez-Manifest. Die Wissenskonkurrenz, in der unser Land und die EU in der Welt stehen, wird völlig ausgeblendet. Die PISA-Studie von 2019 hat gezeigt, dass sich unter den zehn besten Ländern sieben aus Asien befinden. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Innovationsstandort Deutschland verliert unser Land bei den wichtigen Zukunftstechnologien zunehmend an Bedeutung. Gehörte Deutschland 2010 noch in 47 dieser 58 Technologien zu den drei Nationen mit den meisten Weltklassepatenten, so hat sich dieser Anteil 2019 auf 22 Technologien mehr als halbiert. Deutschland vernachlässigt offensichtlich die Förderung seiner intellektuellen Talente. Zwei Prozent unserer Schüler gelten als hochbegabt, weil sie einen Intelligenzquotienten von über 130 besitzen. Bei einer Gesamtschülerzahl von 10,9 Millionen sind das 218.000 Schüler. Dies entspricht der Einwohnerzahl der Stadt Mainz. Diese Schüler im Unterricht nicht ausreichend zu fördern, verstößt nicht nur gegen das Gebot der Humanität. Es ist auch töricht, weil es diese jungen Menschen sind, die später die kreativen Geschäftsmodelle generieren, die unseren Wohlstand mehren. Statt noch mehr Sozialpolitik in der Schule benötigen wir eine intellektuelle Bildungsreform, die die schulischen Leistungen aller Schülergruppen verbessert. Maßstab für Unterrichtsqualität sollten die anspruchsvollen Bildungsstandards sein, die die KMK schon vor Jahren für alle Fächer beschlossen hat. Sie müssen nur konsequent durchgesetzt werden.
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Rainer Werner
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Das neue Grundsatzprogramm der Grünen versteht Bildungspolitik primär als Sozialpolitik. Den Anforderungen unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft wird es nicht einmal ansatzweise gerecht.
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"Grüne",
"Bildung",
"Schule",
"Abitur",
"Bildungspolitik"
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innenpolitik
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2021-02-02T11:19:38+0100
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2021-02-02T11:19:38+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gruene-grundsatzprogramm-bildungspolitik-schulen-sozialpolitik
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Spitzenkandidaten - Politisierung der EU vergrößert Demokratiedefizit
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Wenn die Europäerinnen und Europäer in Kürze an die Wahlurnen gebeten werden, entscheiden sie möglicherweise nicht nur über die Zusammensetzung der ihrem Mitgliedstaat zustehenden Sitze im Europäischen Parlament. Erstmals haben die europäischen Parteienfamilien zudem Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für das wichtigste europäische Amt benannt. Die Parteienfamilie, die die meisten Stimmen erhält, soll den nächsten Kommissionspräsidenten stellen. Zwei der benannten Spitzenkandidaten haben realistische Chancen auf den Wahlsieg: der aus Deutschland stammende jetzige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz, der für die europäischen Sozialdemokraten kandidiert, und der ehemalige Vorsitzende der Euro-Gruppe, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, der für die europäischen Christdemokraten und Konservativen ins Rennen geht. Nach den Wahlen wäre es dann die Aufgabe des Rats der Staats- und Regierungschefs, dem Europaparlament den Wahlsieger als Präsidenten der Kommission vorzuschlagen. Bisher gab es bei Wahlen zum Europaparlament keine konkurrierenden Spitzenkandidaten, keine Gesichter, die für unterschiedliche politische Programme standen. Überhaupt existierte zwischen den großen Fraktionen nur wenig Parteienwettbewerb. Die großen Parteien wirkten zusammen, um die Arbeit des Parlaments auf eine stabile und verlässliche Basis zu stellen. Entsprechend wurden die Europawahlen von den Bürgerinnen und Bürgern als vergleichsweise langweilig empfunden. Von Wahl zu Wahl sank daher die Beteiligung, von 63 Prozent bei den ersten Wahlen im Jahr 1979 auf 43 Prozent bei den letzten im Jahr 2009. Das alles könnte nun anders werden. Denn nunmehr ließe sich ein publikumswirksamer Wahlkampf mit Gesichtern führen. Die Personalisierung des Wahlkampfs erlaubt eine größere Polarisierung als in der Vergangenheit, eine Polarisierung, die sich womöglich auch in der Arbeit des Europaparlaments fortsetzt. Mehr Bürgerinnen und Bürger werden sich dann vielleicht für den Wahlkampf und die europäische Politik interessieren. Eine steigende Wahlbeteiligung ginge einher mit einer größeren Legitimation europäischen Regierens. Namentlich würden das neue Verfahren und die gestiegene Wahlbeteiligung die Legitimation der Kommission zusätzlich stärken, der im Zuge der Eurokrise neue Aufgaben bei der Überwachung und Korrektur der mitgliedstaatlichen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zugefallen sind. Und die Europäerinnen und Europäer könnten im Zuge transnationaler Debatten über die Führung der Kommission ein stärkeres Wir-Gefühl entwickeln. Kurz, das neue Verfahren scheint einen Zugewinn an europäischer Demokratie zu versprechen – oder, wie es ein kürzlich veröffentlichter Aufruf ausdrückte, der unter anderem von Ulrich Beck und Jürgen Habermas unterstützt wurde: „Das ist ein politischer Quantensprung.“ Bemerkenswert ist: Die Demokratiequalität der EU lässt sich demnach ohne komplizierte institutionelle Reformen erheblich erhöhen. Wäre man doch, so mag man meinen, früher darauf gekommen – zahlreiche Debatten über das europäische Demokratiedefizit hätte man sich sparen können. Aber die Hoffnungen, die in das Verfahren gesetzt werden, sind überzogen. Mehr noch, das Verfahren ist gewagt und bewirkt am Ende vielleicht sogar das Gegenteil des Wir-Gefühls, das man sich von ihm erhofft. Die These vom Quantensprung setzt voraus, dass die dominante Konfliktachse in der EU tatsächlich die parteipolitische Links-Rechts-Achse ist, so wie wir sie aus dem nationalen Parteienwettbewerb kennen. Schon in der Vergangenheit galt diese Annahme nur bedingt. Gänzlich irreführend ist sie leider seit Beginn der Eurokrise, die eine tiefe politische Spaltung entlang der europäischen Nord-Süd-Achse bewirkt hat – eine Spaltung in Länder mit Handelsüberschüssen und -defiziten, in Gläubiger und Schuldner, und in Befürworter und Empfänger austeritätspolitischer Vorgaben. Diese Spaltung bewirkt, dass Repräsentanten aus dem Norden und dem Süden höchst unterschiedliche Anforderungen an die europäische Politik formulieren, ob diese nun die Weiterentwicklung der Verschuldungsregeln, die installierten Überwachungsverfahren, die Spielräume für die Europäische Zentralbank und den Europäischen Stabilitätsmechanismus, die Transferunion, das „soziale Europa“ oder Eurobonds betreffen. In all diesen Fragen sind die europäischen Parteienfamilien intern gespalten – weshalb im Wahlkampf wichtige europäische Problemstellungen ausgespart bleiben zugunsten von Forderungen, die sich entlang der Links-Rechts-Achse politisieren lassen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Forderung der Sozialdemokratie nach europäischen Mindestlöhnen, die verschweigt, dass den Organen der EU zur Regelung von Mindestlohnsätzen jegliche Kompetenzgrundlage fehlt. Höchst zweifelhaft erscheint angesichts der zu beklagenden innereuropäischen Spaltung, ob sich die Bürgerinnen und Bürger aus Spanien, Portugal, Griechenland und Italien durch einen deutschen oder luxemburgischen Kommissionspräsidenten mehr als in der Vergangenheit vertreten fühlen würden. Denkt man so darüber nach, entdeckt man die Vorzüge des Status quo gegenüber dem vermeintlichen Quantensprung. Denn bisher war es die Aufgabe des intergouvernemental besetzten Rats der Staats- und Regierungschefs, einen Kommissionspräsidenten zu identifizieren, mit dem alle Mitgliedstaaten leben konnten. Politiker wie Daniel Cohn-Bendit und Wolfgang Schäuble fordern nun sogar die Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch die Bürgerinnen und Bürger, was dem Übergang in ein europäisches Präsidialsystem entspräche. Was aber wäre von einer solchen Direktwahl angesichts des Risses zu erwarten, der derzeit durch Europa geht? Wäre dem erhofften Wir-Gefühl mit einer Kampfabstimmung zwischen Süd und Nord gedient? Oder mit einer Wahl zwischen zwei Repräsentanten desselben Blocks der ehemaligen Hartwährungsländer, so wie es bei den bevorstehenden Europaparlamentswahlen der Fall ist? Diesen Szenarien ist der Status quo klar vorzuziehen. Und wie steht es um die erhoffte Legitimitätszufuhr für die mit neuen Aufgaben betraute Kommission? Zweifellos richtig ist, dass das neue Euro-Regime tief in die nationalen budget-, wirtschafts- und sozialpolitischen Zuständigkeiten der teilnehmenden Länder schneidet und das europäische Demokratiedefizit damit vergrößert, ja sogar radikalisiert. In den Krisenländern administriert die Troika Rentenkürzungen und Sozialabbau, kürzt im Gesundheitswesen, senkt Mindestlöhne und beschädigt die Tarifautonomie der Sozialpartner. Doch verschwinden Troika-Eingriffe, kommissarische Aufsicht und sanktionsbewehrte Korrekturverfahren durch die Benennung von Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft nicht. Die Hoffnungen richten sich vielmehr auf eine Erhöhung der Akzeptanz und Folgebereitschaft durch die Betroffenen. Wie berechtigt aber sind diese Hoffnungen? Werden die Betroffenen den Eingriffen wirklich mehr Legitimität zusprechen, wenn man sie – wie es die Rechtswissenschaftler Christian Joerges und Florian Rödl einmal treffend ausgedrückt haben – darüber belehrt, dass sie den Kommissionspräsidenten als treibende Kraft der Eingriffe ja schließlich mitgewählt haben? Das scheint schwer vorstellbar. Naheliegender ist wohl die Möglichkeit, dass sich die Betroffenen umso bereitwilliger antieuropäischen Parteien zuwenden oder den Wahlen zum Europaparlament gänzlich fernbleiben. Wiederum hätte die Demokratisierungsstrategie das Gegenteil dessen bewirkt, wofür sie eigentlich angetreten ist. Und ziehen mehr Europagegner in das Europaparlament ein, müssen die großen Fraktionen sogar noch mehr zusammenarbeiten als in den vergangenen Wahlperioden. Es wäre dann sogar mit weniger Polarisierung entlang der Links-Rechts-Achse zu rechnen. Auch ein weiterer Umstand verdient Beachtung – nämlich die Möglichkeit, dass keiner der von den Parteienfamilien vorgeschlagenen Spitzenkandidaten Kommissionspräsident wird. Denn Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrages verlangt vom Rat lediglich, die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bei der Nominierung des von den Abgeordneten zu wählenden Kandidaten zu „berücksichtigen“. Das Gebot der Berücksichtigung impliziert indes nicht, dass die Liste möglicher Kommissionspräsidenten ausschließlich die Spitzenkandidaten der Parteienfamilien umfasst. Der nächste Kommissionspräsident könnte also durchaus auch – um ein Beispiel zu nennen – David McAllister heißen, was unter den europäischen Parteien einige Erklärungsnot auslösen würde. Aber ernsthaft beschweren dürften sich die europäischen Parteien hierüber nicht. Denn sie haben das neue Verfahren ohne Beteiligung des Rats proklamiert. Es gibt aber gute Gründe für seine Mitwirkung an der Auswahl des Kommissionspräsidenten. Ohne Vertrauen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten kann Europa keine Probleme lösen. Für Großbritannien etwa dürften die überzeugten Föderalisten Juncker und Schulz gleichermaßen inakzeptabel sein. Auch darf gefragt werden, warum die Staats- und Regierungschefs ausgerechnet den Repräsentanten einer Steueroase (Juncker) zum Kommissionspräsidenten ernennen sollten. Bei genauer Hinsicht also bleibt von der Behauptung eines demokratischen Quantensprungs nichts übrig. Was bleibt, ist die Radikalisierung des europäischen Demokratiedefizits. Sie besteht darin, dass die supranationalen Organe mit immer mehr Befugnissen zur Überwachung und Korrektur der demokratischen Prozesse in den Mitgliedstaaten ausgestattet werden, um jene Konvergenzen auf Ebene der mitgliedstaatlichen Politiken zu erzwingen, die der Fortbestand des Euro erfordert. Die Vorstellung, die dadurch ausgelösten Legitimationsprobleme ließen sich durch das Drehen an einigen wenigen Schrauben der europäischen Institutionenmaschinerie beheben, ist naiv. Die Probleme sitzen tiefer – in der Diskrepanz zwischen den Konvergenzerfordernissen eines festen Wechselkursregimes einerseits und den heterogenen Präferenzen, Praktiken, Institutionen und Prozessen in den mitgliedstaatlichen Demokratien andererseits. Demokratieschützend wäre vor diesem Hintergrund die Suche nach europäischen Lösungen, die den demokratischen Prozessen in den Mitgliedstaaten mehr Spielraum lassen, statt ihnen autoritativ vorzugeben, zu welchen Ergebnissen sie gelangen dürfen.
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Martin Höpner
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Erstmals wurden im Europawahlkampf Spitzenkandidaten benannt. Das soll helfen, das Demokratiedefizit der EU abzubauen. Das Gegenteil aber könnte der Fall sein: Die Demokratisierungsstrategie könnte die Europagegner stärken
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kultur
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2014-05-12T16:16:52+0200
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2014-05-12T16:16:52+0200
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https://www.cicero.de//kultur/spitzenkandidaten-politisierung-radikalisiert-demokratiedefizit/57559
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Angela Merkels „Wir schaffen das“ - Die Sprücheklopferin
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Wenn wir jetzt anfangen müssten, „uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen“, dann sei das „nicht mein Land“. So sprach die Kanzlerin, und seither herrscht einigermaßen betretenes Schweigen. Wer Angela Merkel noch bis vor kurzem vorgeworfen hatte, die Schleusen geöffnet und dabei das Recht außer Kraft gesetzt zu haben, sieht sich nun in der Position des moralischen Verlierers, des kaltherzigen Chauvinisten, des positivistischen Erbsenzählers. Allerdings: Niemand hat von ihr eine Entschuldigung verlangt. Sondern eher, die Folgen ihres Tuns wenn schon nicht vom Ende her zu denken, dann doch zumindest dessen Auswirkungen zu erläutern. Denn es ist ja nicht so, dass eine humanitäre Aktion außerhalb jeglichen Erklärungszusammenhangs stünde – selbst wenn dann zweifelsfrei andere Regeln zu gelten haben. Spätestens seit dem militärischen Eingreifen Deutschlands auf dem Balkan dürfte darüber kein Zweifel mehr bestehen. Und ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen ist eben immer dann besonders opportun, wenn damit vor allem das eigene Antlitz gemeint ist, nicht aber die Gesichter derjenigen, die deshalb an vorderster Front sind. Also beispielsweise die Bürgermeister von Städten und Gemeinden, denen angesichts der schieren Masse an Asylsuchenden, Flüchtlingen und anderen Zuwanderern das Wasser bis zum Hals steht. So ist es denn auch nur das freundlich lächelnde Konterfei Angela Merkels, das jetzt die Titelseite des französischen Magazins Le Point ziert – verbunden mit dem Stoßseufzer: „Wenn sie doch bloß Französin wäre…“ Dabei hätte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter es womöglich eher verdient, derart prominent gehuldigt zu werden. Nun denn. Das eigentliche Ärgernis an Merkels seltsam erratischer Flüchtlingspolitik ist die Inhaltsleere ihrer markanten Sprüche, die merklich darauf angelegt sind, in die Geschichtsbücher einzugehen. Da wäre zum Beispiel das apodiktische „Wir schaffen das!“ Klingt gut, klingt zupackend, klingt zuversichtlich. Und es klingt auch besonders charmant aus dem Mund einer Frau, die sich noch vor einigen Wochen während der jüngsten Eurokrise tausendfach auf Plakaten mit Hitlerbärtchen und Folterwerkzeugen abgebildet sehen musste. Aber der sympathische Hegemon verliert seinen Charme schon wieder in Höchstgeschwindigkeit, weil den Menschen in Deutschland und Europa ein nettes Lächeln auf Dauer nicht ausreicht. Denn jeder merkt – oder müsste zumindest merken –, dass mit der Massenmigration derzeit Fakten geschaffen werden, die unsere Gemeinwesen auf Jahre und Jahrzehnte verändern werden. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das sei einmal dahingestellt. Und ja: Es liegt auch an uns, nicht nur an denen, die jetzt kommen. Aber was bedeutet vor diesem Hintergrund eigentlich der kesse Spruch „Wir schaffen das“? Wer ist „wir“? Die deutsche Gesellschaft ganz allgemein? Die Kommunen? Das Technische Hilfswerk? Die Politiker? Unsere Sozialsysteme? Oder ist damit gar, was nur allzu konsequent wäre, die europäische Öffentlichkeit gemeint? Denn Flüchtlingspolitik, das hat die Bundesregierung ja klar und deutlich gemacht, kann keine Angelegenheit nationaler Alleingänge sein. Mit welchem Recht würde sich die Bundeskanzlerin es dann aber herausnehmen, über die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit unserer Nachbarländer zu urteilen? Um nicht zu sagen: ihnen entsprechende Befehle zu erteilen? Außerdem wüsste man so langsam schon ganz gern, wie sich das „Schaffen“ definiert. Was genau gilt es denn zu schaffen? Die bürokratische Abwicklung der Migrantenströme inklusive Asylverfahren und möglichen Abschiebungen? Die kurzfristige Unterbringung Hunderttausender in provisorischen Zeltlagern und Containerdörfern? Oder gar die langfristige Integration von Millionen Neuankömmlingen aus anderen Kulturkreisen? Letzteres mag zwar ein hehres Ziel sein (und insbesondere auch im Sinn der deutschen Wirtschaftsverbände, die dieser Tage auf billige Arbeitskräfte hoffen, für die gewiss schon bald eine Aufhebung des Mindestlohns gefordert wird). Aber wie soll gleichsam über Nacht etwas funktionieren, das sich in der Vergangenheit schon in viel kleinerer Dimension als schwierig bis teilweise unmöglich erwiesen hat? Nein, jetzt ist gewiss nicht der richtige Moment für Defätismus. Dafür aber umso mehr für pragmatische und praktische Lösungsansätze. Salopp dahingesagte Lippenbekenntnisse grenzen dagegen an Volksverdummung. Es wäre an der Zeit, dass die Bundeskanzlerin ihren Bürgern reinen Wein einschenkt. Und ihnen sagt, dass die derzeitigen Zuwanderungswellen ihren Preis haben werden. Nicht nur finanziell, sondern auch kulturell und nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der inneren Sicherheit. Sonst „schaffen wir das“ nämlich ganz sicher nicht.
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Alexander Marguier
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Mit ihrem „Wir schaffen das“ wollte Angela Merkel Zuversicht verbreiten. Doch der Spruch entpuppt sich bei näherem Hinsehen als mehrdeutig und inhaltsleer. Die Bundeskanzlerin sollte ihren Bürgern endlich reinen Wein in der Flüchtlingsfrage einschenken
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innenpolitik
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2015-09-16T15:34:51+0200
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2015-09-16T15:34:51+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/angela-merkels-wir-schaffen-das-die-spruecheklopferin/59847
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Europäischer Salon - Europapolitik ist Innenpolitik
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Cicero Online ist Medienpartner des Europäischen Salons. Am Dienstag, den 26. November, laden wir um 18 Uhr in die Berliner Robert Bosch Stiftung zu der Veranstaltung „Nationaler Populismus - Europäische Öffentlichkeit - Europäische Werte?“ Cicero Online: Ist die Europapolitik zu komplex und flüchten sich deshalb viele wieder in eine nationale Perspektive? Christian Calliess: Ein bekannter Werbeprofi, der für die EU eine Kampagne entwerfen sollte, sagte einmal: „Europa ist nicht Bionade“. Soll heißen, Europa ist ein komplexes „Produkt“, abstrakt finden es viele gut, konkret, wenn die gemeinsamen Regeln der EU nicht passen, dann fühlt man sich schnell gestört. Aber es ist auch Teil der europäischen Solidarität, nicht nur die ökonomischen und politischen Vorteile der europäischen Integration anzunehmen, sondern auch die daraus resultierenden Verpflichtungen – selbst, wenn man im Entscheidungsprozess mal überstimmt worden ist. Es ist ebenso die Ferne von Brüsseler Entscheidungen, die dazu führt, dass die Bürger sich schwer tun, Europapolitik als „ihre“ Politik anzunehmen. Insoweit sollte einerseits das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur das entscheiden soll, was von grenzüberschreitender Bedeutung ist und wo ein europäischer Mehrwert zu erkennen ist, stärker beachtet werden. Andererseits haben natürlich auch nationale Politik und Medien die Aufgabe, Europa-Themen so wie innenpolitische Themen aufzugreifen. Denn längst ist Europapolitik keine Außenpolitik mehr, sondern, so nenne ich es, europäisierte Innenpolitik.Auch mich irritieren natürlich manche Dinge, die auf europäischer Ebene laufen. Dann mache ich mir aber immer wieder bewusst, was ich von der EU habe. Noch meine Großeltern haben zwei verheerende Weltkriege mit all ihren Folgen erleben müssen. Das vergessen wir schnell, ebenso wie die anderen selbstverständlich gewordenen Vorteile Europas, etwa die Reise- und Aufenthaltsfreiheit in der EU. Macht Ihnen der neue nationale Populismus Sorgen?Er macht mich nachdenklich, aber er ist letztlich als Teil der europäischen Demokratie zu sehen. Wir brauchen eine kontroverse Debatte, im Rahmen derer wir populistische Bewegungen nicht einfach abtun, sondern uns politisch, wissenschaftlich und medial mit ihren Argumenten auseinandersetzen. Der im Hinblick auf die Europawahl 2014 angekündigte Zusammenschluss der französischen Front-National-Vorsitzenden Marine Le Pen und des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders zeigt nur, dass populistische Bewegungen ernst genommen werden sollten. Die europäische Mehrebenen-Demokratie kann und muss diesen Diskurs führen, das kann die Demokratie in den Mitgliedstaaten – und auch in der EU – auf lange Sicht vielleicht sogar stärken. Auf diese Weise können aus nationalen Debatten europäische Debatten werden, geführt von einer europäischen Öffentlichkeit. Was bedeutet es, wenn Marine Le Pen französische Präsidentin werden würde? Ist die EU dann am Ende?Die europäische Integration hat schon viele politische Krisen durchlebt, auch diese gehören zur Demokratie. Immer wieder hat sich gezeigt, dass die Vorteile als Mitgliedstaat der EU nicht nur ökonomisch, sondern in einer globalisierten Welt auch politisch überwiegen. Letztlich können wir nur gemeinsam das europäische Sozialmodell und die europäischen Werte gegenüber anderen Wirtschaftsmächten verteidigen. Das ist auch den Europaskeptikern bewusst, die auf diese Herausforderungen letztlich keine Antwort geben. Abgesehen davon finde ich es wichtiger, die Europawahl im Mai 2014 in den Fokus zu rücken, als bereits jetzt den Blick auf die Präsidentschaftswahl in Frankreich zu werfen. Angenommen die Wirtschaftskrise in Europa löst sich auf. Wird das dann zu einer Vertiefung der europäischen Integration führen? Oder braucht es erst eine europäische Öffentlichkeit?Im Zuge der Krise werden viele negative Assoziationen mit der Europäischen Union verknüpft, nationale Ressentiments werden geschürt. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hätte viele europäische Staaten ohne den gemeinsamen Schutzschild der EU allerdings viel härter getroffen. Sie hat allerdings auch den Konstruktionsfehler des Euro für uns alle sichtbar gemacht: Wir haben mit dem Vertrag von Maastricht 1992 zwar eine Währungsunion bekommen, dies aber ohne eine echte Wirtschaftsunion. Für die Wirtschafts- und Haushaltspolitik bleiben die Mitgliedstaaten zuständig, die bislang vorgesehene Koordinierung auf europäischer Ebene hat sich – das sehen wir immer wieder – als zu schwach erwiesen. Wer also den Euro mit all seinen Vorteilen erhalten will – und das ist gerade für das exportabhängige Wirtschaftswachstum in Deutschland von Interesse – der muss nach Lösungen suchen, wie die nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitiken europäisch überformt werden können, ohne dass das Prinzip der Eigenverantwortung aufgegeben wird. Wenn europäischer Zentralismus vermieden werden soll, dann muss insoweit dem Subsidiaritätsprinzip und den nationalen Parlamenten eine wichtige Rolle zugewiesen werden. Wir haben uns dazu in einem Kreis von Wissenschaftlern, der „Glienicker Gruppe“, Gedanken gemacht und Vorschläge in die öffentliche Debatte eingespeist. Wie kann eine europäische Öffentlichkeit entstehen?Zunehmend gibt es ja bereits europäische Kommunikationsräume: Europapolitische Themen wie die „Eurorettung“ werden in den einzelnen Mitgliedstaaten als europäisches Thema diskutiert, noch nie habe ich im Zuge dessen so viel über die politische Situation in Griechenland, Portugal, Spanien oder auch Frankreich erfahren wie in den letzten Jahren. Nationale Medien beschäftigen sich mit innenpolitischen Fragen anderer Mitgliedstaaten, sei es mit dem Italien Berlusconis oder den Verfassungsentwicklungen in Ungarn. Die Wahl in Italien oder Griechenland hat plötzlich innenpolitische Bedeutung in Deutschland! Für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit ist es jedoch auch notwendig, dass sich daran anknüpfend eine neue Kultur der öffentlichen Debatte in Europa herausbildet. Neue Informationskanäle wie die sozialen Medien bieten neben den klassischen Kanälen insoweit Chancen. Da setzt unser Projekt des „Europäische Salons“ an. Auch auf Unionsebene gibt es bereits Mechanismen zur Beteiligung der Öffentlichkeit – wie z.B. die neue Europäische Bürgerinitiative – aber diese Mechanismen können nur ausgefüllt werden, wenn den Bürgern ihre Rolle im Rahmen des europäischen Kommunikationsraumes mehr bewusst wird. Ich denke aber, das kommt mit den Themen. Im Übrigen sollten wir in diesem Kontext nicht strengere Kriterien an die EU anlegen, als im nationalen Raum, auch hier erleben wir mitunter eine Politikverdrossenheit, die öffentliche Diskurse ins Leere laufen lässt. Wird es jemals die Vereinigten Staaten von Europa geben und wird das Bundesverfassungsgericht da mitmachen?Als Winston Churchill in seiner Zürcher Rede 1946 davon sprach, ging es für die in einem zerstörten Europa lebenden Menschen um eine Vision, eine Perspektive, die Hoffnung schaffen sollte. Heute hat dieser Begriff für mich eher eine Leitbildfunktion, anhand derer wir diskutieren können, wie viel Europa wir wollen. Aber die EU wird sich weder nach dem Vorbild der USA entwickeln, obwohl es sicher manch interessante Parallelen gibt, noch orientiert sich die europäische Integration an staatlichen Kategorien. Wir probieren hier in Europa – im Bewusstsein unserer kulturellen Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten – etwas ganz Neues. Es geht nicht um eine Staatswerdung Europas, um einen Bundesstaat, es geht vielmehr um etwas, das man als föderalen Verbund der Mitgliedstaaten beschreiben kann. Da kann auch das Bundesverfassungsgericht keine Einwände haben: Artikel 23 unserer Verfassung fordert die Mitwirkung Deutschlands auf dem Wege zu einem, wie es dort heißt, vereinten Europa. Und sofern das Gericht die sogenannte Ewigkeitsklausel unseres Grundgesetzes nicht im Hinblick auf die europäische Integration künstlich auflädt, werden auch die Integrationsgrenzen nicht erreicht. Herr Calliess, wir danken Ihnen für das Interview. Christian Calliess ist Professor für Europarecht an der Freien Universität Berlin und Mitinitiator- und veranstalter des Projekts „Europäischer Salon“. Im Rahmen der „Glienicker Gruppe“ hat er zusammen mit anderen Wissenschaftlern Vorschläge für eine Reform der EU formuliert. Am Dienstag, den 26. November, findet in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung in Berlin um 18 Uhr eine Veranstaltung des Europäischen Salons zum Thema „Nationaler Populismus - Europäische Öffentlichkeit - Europäische Werte?“ statt.
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Cicero-Redaktion
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Europa ist ein komplexes Gebilde, aber auch ein großes Projekt. Der Rechtsexperte Christian Calliess spricht im Interview über die Chancen europäischer Einigung und die Tücken der Europapolitik
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außenpolitik
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2013-11-25T13:05:48+0100
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2013-11-25T13:05:48+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/interview-mit-europaexperten-europapolitik-ist-mittlerweile-europaeisierte-innenpolitik
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SPD - Wie sie Globalisierungsverlierer und -gewinner einen könnte
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Nach dem Wahlerfolg der dänischen Sozialdemokraten empfiehlt der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel seiner Partei einen abrupten „drastischen Positionswechsel in der Migrations- und Zuwanderungspolitik“ und damit eine „robuste“ innenpolitische Rechtswende. Dieser Appell allerdings wird ungehört verhallen und es wäre auch nicht klug, ihm zu folgen. Zunächst ist schon die Ausgangslage falsch beschrieben. Seit Tagen wird in den deutschen Medien mehrheitlich so getan, als hätten Mette Frederiksen und ihre dänischen Sozialdemokraten einen fulminanten Wahlsieg errungen. Ganz so ist es allerdings nicht. Ja, sie wurden mit 25,9 Prozent stärkste Kraft. Aber das waren sie auch schon bei den Wahlen des Jahres 2015. Gegenüber den damaligen Werten haben sie sogar etwas verloren. Dass dieses nicht gerade üppige Ergebnis dennoch wie die Wiederauferstehung der Arbeiterklasse gefeiert wird, liegt vor allem an der Dezimierung der Rechtspopulisten. Die Dänische Volkspartei erreichte nur noch rund 9 Prozent und büßte gegenüber 2015 ganze mehr als 12 Prozentpunkte ein. Offenbar, so unter anderem die weit verbreitete These, sei es den Sozialdemokraten durch eine innenpolitische Rechtswende gelungen, den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nur hat ihnen dies selbst wenig gebracht. Diejenigen ehemaligen Wähler der Dänischen Volkspartei, die nun zu den Sozialdemokraten gewechselt sind, haben lediglich diejenigen ersetzt, die aufgrund der innenpolitischen Rechtswende ihr Glück bei anderen politischen Kräften gesucht haben. Ein Nullsummenspiel also. Nicht einmal ein solches Nullsummenspiel würde bei der deutschen Sozialdemokratie funktionieren. Man erinnere sich: Sie gehörte wie die Grünen und die Linken zu den vehementesten Unterstützern der „Wir schaffen das“-Politik der deutschen Kanzlerin. Es war der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der seinerzeit Bürger mit anderer Auffassung als „Pack“ titulierte. Zwar reservierte er derartige Titel nur für ausgewählte Exemplare der Spezies „Wutbürger“, aber unter „normalen Leuten“ hatte dies dennoch verheerende Wirkungen. Die damalige Reaktion der SPD-Führung war dabei verständlich und erwartbar. Schon seit Langem sind sozialdemokratische Wählerschaft und Mitgliedschaft ökonomisch wie kulturell tief gespalten. Da gibt es auf der einen Seite das klassische, aber schrumpfende Arbeitermilieu samt „Prekariat“. Es empfindet sich häufig als Opfer der Globalisierung und des Freihandels und steht dem Multikulturalismus sowie dem liberalen Lebenswandel höchst skeptisch gegenüber. Gerechtigkeit wird in diesem Milieu vor allem als berechtigte Selbstsorge unter Seinesgleichen interpretiert (Kommunitarismus). Auf der anderen Seite stehen die Aufsteiger und Bildungsgewinner, die die Freiheiten der schönen neuen Welt genießen und sich in ihr vor allem auch behaupten können. Sie werden kaum von Existenzängsten geplagt und können sich eine immer weiter steigende Verfeinerung ihrer multikulinarischen Lebensstile sowohl finanziell als auch kulturell leisten. Die universalistische Logik der Globalisierung schlägt hier unterschwellig auf das gesamte eigene Weltbild durch und der Begriff der Gerechtigkeit wird planetarisch ausbuchstabiert. Hierin findet das linksliberale Politikmodell die materielle Quelle seines moralistischen Sendungsbewusstseins. Während dabei die klassischen Wählerschichten der SPD aus blanker Not die Beantwortung der Gerechtigkeitsfrage auf der Vertikalen zwischen oben und unten erwarten, können es sich die Nachkommen der „Neuen Mitte“ leisten, die Gerechtigkeitsfrage auf der Horizontalen und damit unter ihresgleichen zu platzieren: „Gendersternchen statt Klassenkampf“ lautet die Parole linker, postmoderner Identitätspolitik. Der Kampf um die soziale Frage wird zunehmend durch symbolische Deutungskämpfe ersetzt. Diese vor allem auch kulturelle Spaltung der sozialdemokratischen Wählerschaft setzt sich in Mitgliedschaft und Funktionärsschicht der SPD fort – nur unter zugespitzten Bedingungen. Sie ist verwoben in intergenerationelle Ungleichzeitigkeiten. Während ältere Sozialdemokraten, die selbst in der Arbeiterklasse sozialisiert wurden oder sich zumindest noch daran erinnern können, wie es ihren Eltern einmal ergangen ist, bis heute häufig auf Seiten der „alten Welt“ stehen, rekrutieren sich die Funktionäre der SPD kulturell zunehmend aus der linksliberalen Nachkommenschaft der „Neuen Mitte“. Mit der Erneuerung und Verjüngung der SPD-Funktionäre wird sich dieser Trend nicht nur fortsetzen, sondern verschärfen. Ein unvermittelter innenpolitischer Rechtsschwenk der SPD erforderte daher nicht, wie Gabriel es konstatiert, „Mut”, sondern wäre Ausdruck eines aus Panik resultierenden Übermutes. Zunächst wäre er innerhalb der SPD-Funktionärsschaft und großen Teilen der Mitgliedschaft ideologisch nicht vermittelbar. Die verbindende Brücke zwischen Kommunitaristen und Liberalen ist bis heute einfach nicht gefunden. Aber selbst, wenn dies gelänge, würde das die Glaubwürdigkeitskrise der SPD noch einmal vergrößern. Es gälte in der Öffentlichkeit als ein weiterer Beleg jener programmatischen Beliebigkeit, die der SPD schon so viele Jahre vorgeworfen wird. Sie setzte sich mit einem solchen Schritt in völligen Gegensatz zum bisherigen, offiziell vertretenen Kurs. Die Grünen haben es da bedeutend einfacher. Wählerschaft wie Mitgliedschaft sind ideologisch weitestgehend homogen und die Debatte um den Klimawandel arbeitet ihnen leistungslos politisch zu. Spätestens mit der Postmoderne ist der Linken der Sinn für den Begriff der Grenze in seiner fundamentalen Grundbedeutung abhanden gekommen, während sich im eigentlich konservativen Milieu vermittelt über das Christentum immerhin noch eine Restahnung davon erhalten hat. Grenzen gibt es für Menschen überall: politisch, ethisch, ökologisch, materiell. Territoriale Grenzen sind davon nur ein Anwendungsfall. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bereitete dies noch keine Probleme. Man konnte der Unbegrenztheit, auch in Fragen von Asyl und Migration, in der Theorie folgenlos huldigen, weil die damalige Welt in funktionierende internationalen Ordnungsgefüge (z.B. „Bretton Woods“) und funktionierende nationalstaatliche Sozialsysteme eingebettet blieb („Rheinischer Kapitalismus“). Die gesellschaftliche Praxis hinkte der Ideologie meilenweit hinterher. Auf der guten Seite der Weltgeschichte zu stehen hatte damals keinen Preis. Außer in Zeiten von Konjunktur- und Finanzkrisen, in denen auch der Kapitalismus seine Begrenztheit zyklisch und machtvoll unter Beweis stellte. Und nicht einmal Merkel war dazu in der Lage, während der „Flüchtlingskrise“ die Unhintergehbarkeit der Begrenztheit dieser Welt zu ignorieren. Sie verlagerte die Grenze allerdings im Rahmen eines Milliardendeals mit Erdogan aus Deutschland in die Türkei und erklärte innenpolitisch die Diskussion über „Obergrenzen“ weiterhin zu einem unmenschlichen Akt. Aus den Augen, aus dem Sinn: So konnte in Deutschland das wohlige Willkommens-Gefühl aufrechterhalten bleiben und den zwanghaften Tatsächlichkeiten der empirischen Welt dennoch entsprochen werden. Es gab Zeiten, in denen man das für einen Akt von Heuchelei gehalten hätte. Mit der schrittweisen Etablierung des planetarischen Kapitalismus infolge des Zusammenbruchs der Ost-West-Blöcke, der Forcierung des Freihandels sowie des symbolisch-kommunikativen Überbaus in den digitalen Weiten des World Wide Web hat sich die Lage dramatisch geändert: Die sich ökonomisch universalisierende Welt drängt dazu, eins mit ihrem Begriff zu werden. Seit der „Flüchtlingskrise“ 2015 werden dabei die Folgen dieser Entgrenzung der Welt auch für den „normalen“ deutschen Wahlbürger konkret adressierbar. Das diffuse Unbehagen an der Zunahme der Unordnung und politischen Unkontrollierbarkeit der weltweit stattfindenden Prozesse kristallisiert sich in einem neuen Sündenbock. Das ist zumindest nicht überraschend. Während von den Segnungen der multikulturellen Gesellschaft in den größeren Städten vor allem das linksliberale Milieu durch hippe Kneipenviertel profitiert, sind die Lasten der Integration in die ohnehin schon sozial segregierten Wohnviertel verschoben. Heute sind Preise für Entgrenzungen zu zahlen, nur fallen die Rechnungen für Unterschiedliche unterschiedlich hoch aus. Das linksliberale Milieu muss auf das Phänomen des Unmuts unter den Modernisierungsverweigerern entweder mit Unverständnis oder mit moralischen Attacken reagieren. Wer sich der Einsicht in die ontologische Unhintergehbarkeit von Grenzen aller Art im Interesse eines gelingenden gesellschaftlichen Miteinanders verweigert, muss jene, die (wie diffus auch immer) an ihren Lebensgewohnheiten festhalten wollen, entweder für rückschrittlich und daher leider etwas minderbemittelt halten oder als moralisch verkommenes „Pack“ betrachten. Die ökonomisch ohnehin sich seit Jahrzehnten vollziehende Spaltung der Gesellschaft erhält so durch den linksliberalen politischen Diskurs ihren kulturellen Überbau und wird zementiert. Wer hingegen den Begriff der Grenze als fundamentale auch politische Kategorie akzeptiert, wird sich auf dem Weg zum „Fortschritt“ bei Widerständen durch Betroffene die Frage vorlegen müssen, ob in ihnen nicht zumindest ein Aspekt des Richtigen zur Erscheinung kommt. Die dafür erforderliche Grundhaltung politischer Akteure wäre: Demut. Aber selbst, wer diese Demut nicht aufbrächte, wäre in einer repräsentativen Demokratie mit einer Grundfrage der Legitimation konfrontiert. Mit welchem Recht glauben sich politische Repräsentanten des linksliberalen Milieus eigentlich nicht selten in der Sonderlage, sich über aus ihrer Sicht rückschrittliche Lebensentwürfe ihrer Wählerinnen und Wähler moralisch zu erheben? Warum soll dem Lebensentwurf eines Landbewohners ohne Hochschulabschluss, der Wert legt auf die bewusste Pflege seiner regionalen kulturellen Bestände und der eigentlich nichts anderes will, als dass alles bleibt, wie es ist, eigentlich nicht dieselbe Achtung entgegen gebracht werden wie dem Lebensentwurf eines an der Welt und fremden Kulturen interessierten Multikulturalisten? Und dabei sei nur am Rande daran erinnert, dass es für diesen in den fremden Ländern gar nichts Possierliches zu bestaunen gäbe, wenn dort nicht umgekehrt traditionelle Kulturbestände ganz regressiv gepflegt würden und so zum Bestaunen erhalten blieben. Gerade in einer repräsentativen Demokratie kann man nicht dauerhaft gegen seiner Wählerschaft regieren. Auch sie kann Grenzen des Machbaren ziehen. Den Begriff der Grenze in seinem weitesten Sinne wieder in die Politik einzuführen, wäre keine „Rechtswende“, sondern die Rückkehr von Ordnungspolitik: „Eigentlich (...) geht es um die Rückgewinnung von Kontrolle: der Kontrolle des eigenen Staatsgebiets ebenso wie der Kontrolle eines aus den Fugen geratenen Finanzkapitalismus. Die soziale Zähmung, die Schaffung von Regeln und die Durchsetzung von Staatlichkeit ist das eigentliche Thema des Wahlsiegs der dänischen Sozialdemokratie.“ (Sigmar Gabriel) Von heute auf morgen ließe sich Derartiges aber nicht erreichen. Die SPD müsste sich als Gesamtpartei auf den Weg zu einer fundamentalen Grundsatzverständigung machen und hierbei außerdem die Öffentlichkeit behutsam mitnehmen. Unerlässlich hierfür wäre es, sich nicht von Medien-Hypes am Nasenring durch die Manege ziehen zu lassen. Es würde Jahre der Bewusstseinsbildung und des politischen Diskurses erfordern und vor allem die Bereitschaft zum Kompromiss zwischen verschiedenen weltanschaulichen Grundausrichtungen voraussetzen. Dies wäre aber eine notwendige Bedingung dafür, dass sich die SPD als Partei mit ernstzunehmenden Wahlergebnissen auf der politischen Bühne zurückmelden könnte. Andernfalls würden diese ohnehin unvermeidlichen Kompromisse schlicht auf die Zeit nach den Wahlen im Rahmen von Koalitionsbündnissen verlagert werden – allerdings in einem auf Dauer segmentierten Parteiensystem. Dabei scheint ein Bündnis zwischen kommunitaristischen Globalisierungsverlierern und linksliberalen Globalisierungsgewinnern gar kein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Nur so könnte verhindert werden, dass die SPD dauerhaft zwischen Grünen und AfD zerrieben wird. Der Anspruch, die Gerechtigkeitsfrage auf der Vertikalen zu thematisieren und dabei zugleich moralische Ansprüche möglichst weitreichend zu verallgemeinern, findet einen gemeinsamen Gegner in Globalisierung und entgrenztem Kapitalismus. Globalisierungsverlierer nämlich gibt es überall, in den westlichen Industriestaaten ebenso wie in der Dritten Welt. In der Bekämpfung von Fluchtursachen – und zwar nicht als wohlfeile und folgenlose Sonntagsrede, sondern als ernstgemeinte Strategie – könnte daher das gemeinsame Interesse der in Deutschland soziologisch und politisch auseinanderdriftenden Milieus der politischen „Linken“ liegen – wenn auch aus unterschiedlichen Motivlagen. Rigoroser Umweltschutz, die Beseitigung unfairer Welthandelsbeziehungen, international harmonisierte Besteuerungssysteme und Sozialstandards sowie die Bereitschaft, in Notlagen der Bevölkerung ärmerer Länder zu helfen, würden den moralischen Ansprüchen des linksliberalen Milieus ebenso entsprechen wie dem wohlverstandenen Eigeninteresse jener, die ansonsten im Lebensalltag die Konsequenzen von Unordnung und Entgrenzung vor allem zu tragen hätten. Es bräuchte dafür die Stimme eines ordnungspolitischen Antikapitalismus, der sich allerdings der Begrenztheit seiner selbst bewusst bliebe. Oder umgekehrt: Man kann ohne Widerspruch moralisch und in der Theorie „Sozialist“ sein, ohne daran zu glauben, dass der Sozialismus als Gesellschaftsform tatsächlich lebensfähig ist. Man muss nur akzeptieren, dass der Mensch ein zwiespältiges Wesen mit hehren Absichten in einer begrenzten Welt ist.
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Mathias Brodkorb
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Sigmar Gabriel empfiehlt der SPD mit Blick auf Dänemark eine härtere Migrations- und Zuwanderungspolitik. Dabei würde ein solcher Umschwung nur die Glaubwürdigkeitskrise der Partei vertiefen. Die Frage ist vielmehr, wie die Partei ihre gespaltene Wählerschaft einen könnte
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innenpolitik
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2019-06-12T17:23:42+0200
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2019-06-12T17:23:42+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-sigmar-gabriel-links-arbeiterklasse-waehler
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SPD vor dem Parteitag - Die Drama Queen
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Die Rolle der Drama-Partei reklamiert mit großen Erfolg stets die SPD für sich. Selbst wenn sich das eigentliche Drama in der CDU abspielt, die seit mehr als zwei Jahren eine Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende nicht abschütteln kann und deshalb mit einem verheerenden Wahlergebnis im September abgestraft wurde. Mit schlafwandlerischer Sicherheit aber lenkt die SPD die Lichtkegel auf sich. So auch jetzt nach den Sondierungen mit der Union über eine dritte Große Koalition unter Angela Merkel. Das inner-parteiliche Drehbuch, das die Sozialdemokraten sich gegeben haben, sieht vor, dass sich die mögliche Peripetie, der Kulminations- und Wendepunkt der klassischen Tragödie, bei ihnen abspielt. Erst soll am kommenden Samstag ein Parteitag über eine dritte Amtshilfe für Merkel befinden. Dann müssen noch alle Mitglieder darüber abstimmen. Die Stimmung ist aufgeladen. Wie gesagt: Drama, das können die Genossen. Erste Landesverbände, wie jener Sachsen-Anhalts, haben sich schon mit hauchzarter Mehrheit von einer Stimme (Drama!!!) gegen das Bündnis ausgesprochen. In der Rolle des klassischen Unholds: ein junger Mann namens Kevin Kühnert. Weder auf den Mund noch auf den Kopf gefallen, agitiert er gegen den Vorsatz des Parteivorsitzenden Martin Schulz und die gesamte Parteispitze, geschlossen in die Große Koalition zu gehen. Oder fast die gesamte Parteispitze. Denn SPD-Vize Ralf Stegner, die SPD-Maschinenpistole mit dem gegen sich selbst gebogenen Lauf, tut seit der durchwachten Nacht im Willy-Brandt-Haus das, was er am besten kann: Er stegnert. Stegnern, das ist die autodestruktive Kunst, in scheinbarer Loyalität („Ich will die Große Koalition“) größtmögliches Unheil („aber nicht so“) anzurichten. Eine Woche Zeit haben die Stegners und Kühnerts noch, den nicht etwa latent, sondern stark vorhandenen Widerwillen des Ochsen SPD gegen das Joch Merkel so zu steigern, dass der Parteitag in Bonn am kommenden Sonntag für Schulz schief geht und ihm keine Prokura zum Weiterverhandeln gibt. Kühnert geht konsequent vor und argumentiert gar nicht so sehr inhaltlich, arbeitet sich gar nicht so sehr an all dem ab, was aus Sicht der SPD in den 28 Seiten Sondierungspapier fehlt. Er argumentiert vor allem damit, dass ein weiteres Bündnis mit Merkel für die SPD politisch tödlich wäre. Damit attackiert Kühnert Schulz mit einem sehr guten Argument. Und obendrein dessen eigenem. Denn Martin Schulz höchstselbst hatte unmittelbar nach der Wahl genau das gesagt, was Kühnert jetzt auch sagt: dass die Große Koalition die Wahl verloren habe und die SPD für die nächsten Jahre besser in der Opposition aufgehoben sei. Das stärkste Argument aber führt Kühnert gar nicht im Munde. Wenn die SPD am kommenden Wochenende Martin Schulz die Gefolgschaft verweigert, dann ist sie ihn als Parteivorsitzenden los. Gar nicht wenige in der SPD würden das nicht als Kollateralschaden sondern als Kollateralnutzen begreifen, als Korrektur eines einzigen großen Missverständnisses. Und obendrein würde die SPD so das Geschäft der schwächlichen und wenig mannhaften Widersacher Angela Merkels in der CDU gleich mit erledigen. Die politische Tragödie, die sich seit dem 24. September auf der Berliner Bühne abspielt, strebt also einem Höhepunkt zu. Vielleicht sollten in der Zwischenzeit die Chips- und Biervorräte aufgefüllt werden. Das wird ein Wochenende mit doppeltem Kick. Am Sonntag Phoenix einschalten und live dabei sein bei der Peripetie. Das, was beim SPD-Parteitag an Nervenkitzel in der Luft liegt, kann sogar mit dem Abfahrtsklassiker, der Streif in Kitzbühel, konkurrieren, der am Samstag vorher aufs Fernsehsofa lockt. Vor dieser höllisch steilen Piste am Hahnenkamm haben sogar die verwegensten Fahrer ungefähr so viel Bammel wie Martin Schulz vor seinem Parteitag. Zu Recht.
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Christoph Schwennicke
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Die SPD macht es spannend: Nach dem erfolgreichen Ergebnis der Sondierungsgespräche könnten die Delegierten des Parteitags am kommenden Sonntag eine erneute Große Koalition noch verhindern. In der Rolle des klassischen Unholds: ein junger Mann namens Kevin Kühnert. Und der hat gute Argumente
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"Kevin Kühnert"
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innenpolitik
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2018-01-15T10:54:07+0100
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2018-01-15T10:54:07+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/spd-parteitag-grosse-koalition-groko-kevin-kuehnert-martin-schulz
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SPD-Pläne zur Abschaffung von Hartz IV - „Der Begriff Hartz IV verursacht Abstiegsängste“
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Ulrich von Alemann ist Politikberater und Publizist. Als Professor für Politikwissenschaft hat er das Institut für deutsches und europäisches Parteirecht und Parteiforschung an der Universität Düsseldorf geleitet. Herr von Alemann, „hartzen“ gilt als Synonym für „in der sozialen Hängematte“ liegen. Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Hartz IV hören?
Ich denke an Gerhard Schröder und an ein tiefes Trauma der SPD. Hartz VI hockt wie ein Nachtmahr auf den Schultern der Partei und bedroht sie weiterhin – jedenfalls subjektiv. Warum denn ein Nachtmahr, ein Geist aus einem Albtraum? Man könnte die Agenda 2010 doch auch als beispielloses Erfolgsprojekt der SPD betrachten. Deutschland ist heute eines der Länder mit der niedrigsten Arbeitslosenquote der Welt.
Die Arbeitslosenquote wurde tatsächlich reduziert, von 11,7 Prozent auf 5,3 Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg von 37 auf 44 Millionen. Es stehen aber auch Probleme gegenüber. Zum Beispiel?
Die Zahl der Geringverdiener ist gestiegen, und die Leiharbeit hat drastisch zugenommen. Und dann hat sich etwas Subjektives gesteigert, nämlich die Abstiegsangst in der Bevölkerung. Aber die gehen doch nicht nur auf das Konto der Agenda 2010?
Stimmt, dafür gibt es auch noch andere Gründe. Schuld daran sind zum Beispiel auch die Zunahme der Kurzarbeit 2008 oder die Lohnzurückhaltung. Das ist eine schwierige Gemengelage. Die Ökonomen streiten darüber: Was ist Folge von Hartz IV – und was nicht? Der große volkswirtschaftliche Erfolg der Reform ist natürlich nicht zu leugnen. Jetzt hat die SPD nach ihrem Debattencamp am Wochenende angekündigt, sie wolle „Hartz IV hinter sich lassen.“ Der Sozialstaat soll ein freundlicheres Gesicht bekommen. Was meint SPD-Chefin Andrea Nahles damit?
Das würde ich auch gern wissen. Die SPD war schon mal mutiger. Der fast schon vergessene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte im Wahlkampf 2017 angekündigt, große Teile der Agenda 2010 würden rückgängig gemacht. Das war aber eben im Wahlkampf ... ... der mit einer beispiellosen Niederlage für den Spitzenkandidaten endete.
Genau. Und deshalb stellt sich die Frage, ob die Wählerschaft tatsächlich so sehr auf Hartz IV fixiert ist wie die Funktionärsschicht der SPD. Die, die sich auf Parteitagen treffen, sind ja kein Abbild der Wähler oder der Mitglieder. Warum verspricht Frau Nahles eine Reform des Sozialstaates, wenn das schon im vergangenen Wahlkampf nicht verfangen hat?
Die Fixierung der Funktionäre auf Hartz IV halte ich für falsch. Hartz IV 2018 ist ja nicht mehr Hartz IV 2004. Was hat sich geändert?
Es gibt zum Beispiel Ausnahmen von der Regel, dass man nach einem Jahr Arbeitslosengeld I automatisch ins Arbeitslosengeld II rutscht – also in Hartz IV. Das gilt nicht mehr so streng für Jugendliche, und bei über 55-jährigen Arbeitnehmern wird es auch schon mal 18 Monate lang gezahlt. Die ganz harte Kante, die man damals mit der Hartz IV-Reform eingeführt hat, wurde schon an einigen Stellen geschliffen. Auch das private Vermögen, das man als Hartz-IV-Empfänger behalten darf, wurde erhöht. Und diesen Weg wird die SPD jetzt verlassen?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Diesen Weg wird die SPD weitergehen. Sie wird die Agenda 2010 immer wieder überprüfen und an manchen Stellen nachbessern. Hartz IV hinter sich zu lassen, heißt eben nicht, Hartz IV radikal abzuschaffen. Aber der unsichtbare Verlierer-Stempel, den Hartz IV-Empfänger auf der Stirn tragen, bleibt?
Ja, und das verursacht eben Abstiegsängste in weiten Teilen der Unterschicht und der unteren Mittelschicht. Und diese Ängste sind eben auch für ein politisches Klima in Deutschland mitverantwortlich, in dem die SPD nicht reüssieren kann. Aber kann die Partei die betroffenen Bürger mit einer Reform der Reform zurückgewinnen?
Das ist offen. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen hat sich die SPD praktisch halbiert. Bedient sie deshalb die Abstiegsängste in der Bevölkerung, weil sie selbst nackte Angst ums Überleben hat?
Ich glaube, in der Partei gibt es eine Sehnsucht, endlich mal einen Schalthebel zu finden, mit dem man einen Vorwärtsgang einschalten kann. Gerade auf dem linken Flügel der Partei gibt es den Glauben, wenn es nur gelinge, das Stigma von Hartz IV loszuwerden, würde es wieder aufwärts gehen. Aber so einfach ist das sicherlich nicht. Als Andrea Nahles noch Arbeitsministerin war, hat sie die Hartz IV-Reform als Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit gelobt. Wie glaubwürdig kann sie denn heute die Forderung vertreten, Hartz IV müsse weg?
Als Arbeitsministerin hat sie die Agenda 2010 nicht grundlegend reformiert, sie hat aber an Schräubchen gedreht. Das war durchaus sinnvoll. Jetzt will sie dem Sozialstaat ein freundliches Gesicht verpassen. Hoffentlich ist das nicht nur PR-Getöse und Kosmetik. Denn das wird vielen Leuten wahrscheinlich nicht reichen. Wo sehen Sie denn Reformbedarf?
Die Partei muss Hartz IV überwinden, indem sie konkretere Reformen auf dem Arbeitsmarkt für ältere Arbeitnehmer und Menschen verwirklicht, denen es schlechter geht. Die SPD muss damit aufhören, sich an diesem Begriff abzuarbeiten. Dadurch bläst sie ihn nur noch unnötig auf. Aber mit der CDU sind diese konkreten Reformen nicht zu machen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn trat einen Shitstorm los, als er behauptete, Hartz IV-Empfänger seien gar nicht arm.
Mit Jens Spahn und Friedrich Merz wird es diese Reform mit Sicherheit nicht geben. Annegret Kramp-Karrenbauer kommt aus der sozialen Ecke der CDU. Sie könnte an einer freundlicheren Sozialpolitik interessiert sein. Aber bei der CDU muss man erstmal gucken, wohin die Reise geht. In der Partei gibt es eine Sehnsucht, stärker nach rechts zu gehen. Bei der SPD ist es genau umgekehrt. Die SPD möchte den Hartz IV-Satz erhöhen. Müsste dann nicht auch der Mindestlohn steigen? Menschen mit geringem Einkommen hätten doch sonst gar keinen Anreiz mehr, zu malochen.
Das ist ein wichtiges Thema. Aber der Vorwurf, dass sich Arbeitslose in der sozialen Hängematte ausruhten, ist ja damals von der Hartz-Reform aufgegriffen worden. Ihr Credo lautete: Fördern und fordern. Aber wo werden Hartz-IV-Empfänger denn gefordert?
Die Empfänger werden strikter kontrolliert als früher. Es gab auch einmalige Zuschüsse für besondere Anschaffungen wie einen Wintermantel, die es jetzt nicht mehr gibt. Jetzt dreht Frau Nahles dieses Rad wieder zurück. Sie will Sanktionen für Jugendliche entschärfen.
Ich kenne nur ihre Good-Will-Absichten. Ich hab noch nicht gelesen, dass sie so konkret geworden ist. Die SPD will die Reform von Hartz IV mit einer Sozialstaatsreform verbinden. Beamte und Selbständige sollen künftig auch Rentenbeiträge zahlen. Droht dann aus dieser Ecke nicht neuer Widerstand?
Das will die SPD schon lange. Doch die Reform zielt auf das Jahr 2025. Mit dieser Großen Koalition wird die Partei es nicht umsetzen. Sie stellt die Forderung jetzt schon, um ihr sozialpolitisches Profil im Wahlkampf 2021 zu schärfen. Es ist also reine Symbolpolitik. Gibt es die SPD dann überhaupt noch?
Die SPD ist wie der Hundertjährige. Man weiß nie, ob er aus dem Fenster steigt und verschwindet, oder ob er zurückkommt und die Welt rettet.
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Antje Hildebrandt
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Die SPD steht mit dem Rücken zur Wand. Um ihr sozialpolitisches Profil zu schärfen, will sie jetzt das von ihr eingeführte Hartz IV abschaffen. PR-Getöse oder Kampfansage? Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann über die Suche nach einem Hebel, um in den Vorwärtsgang zu schalten
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"Integration in den Arbeitsmarkt",
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"Jens Spahn"
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innenpolitik
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2018-11-13T10:39:36+0100
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2018-11-13T10:39:36+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/hartzIV-abschaffung-spd-andrea-nahles-debattencamp-agenda2010-sozialstaat-arbeitslosigkeit
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entdecken: Fotokunst – Suburbia ist überall
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Let’s take a ride, and run with the dogs tonight. In Suburbia.» So besangen die Pet Shop Boys den Ausbruch aus der Enge und Spießigkeit der kleinbürgerlichen Vorstadt. Nach fünfundzwanzig Jahren klingt das nicht mehr zeitgemäß. Denn was soll schon passieren, da draußen auf der Straße? Wir leben längst im Zeitalter der Weltinneneinrichtung. Das Paradies ist privat, eine nach ureigenen Wünschen modellierte Sphäre allumfassender Häuslichkeit. Doch wenn auch niemand mehr mit den Hunden rennt, haben diese deshalb noch lange nicht aufgehört zu bellen. Ihr Gebell ist das uneingelöste Begehren und die unterschwellige Angst, die auf den Bildern von Beth Yarnelle Edwards eher zu spüren als zu sehen sind. Nach eigenem Bekunden porträtiert die amerikanische Fotografin «real people in their real homes».
Damit hat Edwards vor zehn Jahren genau dort begonnen, wo die Benutzeroberfläche unserer Welt gestaltet wird: Die Foto-Serie «Suburban Dreams» nahm im kalifornischen Silicon Valley ihren Anfang, im Mekka der Digitalisierung und des Designs der in alle Welt exportierten Unterhaltungsmedien. Man erfährt nicht, für welche Unternehmen die hier gezeigten Menschen arbeiten – es könnten Google, Apple oder Sun Microsystems sein, das aber spielt für den Betrachter keine Rolle. Die Möblierung von Küchen, Wohnzimmern und Freizeiträumen macht die kalte Glätte der digitalen Kultur vergessen. Auf schon anrührende Weise ist hier der Mensch darum bemüht, als Gemütsmensch zu sich zu kommen. Nestwärme erzeugen die rustikalen Holzmöbel des schon zur Karikatur heruntergekommenen Landhausstils und das flauschige Holzfällerhemd.
An die Stelle der abwesenden Arbeit sind Hobbys getreten: Flötespielen, Aktmalen, Kuchenbacken – der Homo californicus greift auf Beschäftigungstherapien und Kulturtechniken der Alten Welt zurück. Andererseits – und darin besteht die Pointe dieser Fotoarbeiten – sind territoriale Grenzen schon lange unbedeutend. Edwards hat auch in Frankreich, Deutschland, Spanien, den Niederlanden und Island fotografiert, und es fällt schwer, die Eigenheiten der europäischen Variante des American way of life zu identifizieren. Dietlinde zum Beispiel könnte auch eine kalifornische Rentnerin sein: Durch akkurate Abstimmung von Kleidung und Tapete zaubert sie die herrliche Illusion ins deutsche Eigenheim. Suburbia ist überall, und niemand muss mehr auf die Straße.
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Heim und Heimeligkeit – die Foto-Serie von Beth Yarnelle Edwards nimmt in den Vorstädten des kalifornischen Silicon Valley ihren Anfang. Sie zeigt: Gerade im digitalen Zeitalter will der Mensch als Gemütsmensch zu sich kommen
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kultur
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2011-02-17T12:24:31+0100
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2011-02-17T12:24:31+0100
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https://www.cicero.de//kultur/suburbia-ist-ueberall/47293
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Beerdigung von Lyra McKee - Im Schatten der „Neuen IRA“
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Wenn die „Neue Irische Republikanische Armee“ sich zu einem Anschlag bekennen will, dann meldet sie sich mit einem vereinbarten Code-Wort bei der „Irish Times“. So geschah es dann auch nach dem Mord an Lyra McKee, einer 29jährigen Journalistin, die am Donnerstagabend vor Ostern von einem Heckenschützen bei Unruhen im nordirischen Derry erschossen worden war. Wobei die „New IRA“ sich vor allem deshalb zu Wort meldete, um einen Irrtum einzugestehen. Und eine „volle und ernst gemeinte Entschuldigung“ abzugeben: „Lyra McKee wurde tragischerweise getötet, als sie sich neben feindlichen Streitkräften befand. Wir haben unsere Freiwilligen angewiesen, in Zukunft mit größter Vorsicht vorzugehen, wenn sie den Feind angreifen“, lautete ihre Botschaft. Lyra McKee stand neben Polizisten, als sie erschossen wurde. Diese hatten in der Wohnsiedlung Creggan nach Waffen gesucht, um Anschläge der „Neuen IRA“ am Ostersonntag zu verhindern. Die militante Gruppe wurde vor sieben Jahren gegründet, um Anschläge gegen die verhasste – britische – Staatsgewalt durchzuführen. Vier Morde gehen bereits auf ihr Konto. Ostern ist im nordirischen Konflikt immer ein heikler Moment gewesen. Vor gut hundert Jahren hatten irisch-katholische Republikaner sich gegen die Herrschaft der protestantischen Briten aufgelehnt. Dieser Oster-Rebellion von 1916 gedenken manche in Nordirland noch heute gerne mit Gewalt. Zumindest wenn man der „Neuen IRA“ angehört. Dass es in Nordirland eine bewaffnete Gruppe gibt, die den Kampf gegen die gemeinsame Polizei auch 2019 noch oder schon wieder für legitim hält, schockiert nicht nur die Nordiren. Auch in London ist man tief betroffen. „Das war kein Unfall. Es gibt eine kleine Anzahl von republikanischen Terroristen in Nordirland. Doch die Gemeinden in Nordirland wollen Frieden“, sagte Karen Bradley, Ministerin für Nordirland, am Dienstagabend im Parlament. Freundinnen von Lyra McKee ließen es sich am Montag nicht nehmen, vor das Büro der republikanischen Kleinpartei „Saoradh“ zu ziehen, die der „Neuen IRA“ nahe steht. Sie ließen Handabdrücke mit roter Farbe an der Hauswand zurück. Saoradh-Aktivisten standen mit verschränkten Armen vor ihrem Büro, konnten aber wegen der hohen Medienpräsenz wenig tun. „Die einzigen Neuigkeiten, die wir von der ‚Neuen IRA‘ hören wollen, ist, dass sie verschwindet“, meinte die Krankenschwester Sara Kanning, die Lebensgefährtin der getöteten Journalistin. Seit dem Karfreitagsabkommen 1998 herrscht in Nordirland relativer Friede zwischen irischen Republikanern und britischen Unionisten. Da sowohl Irland, als auch Großbritannien Mitglieder der EU sind, konnte die heikle Grenze zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland offen bleiben. So wurden Spannungen verhindert. Der militärische Konflikt hatte vom Ende der 60er Jahre bis zum Friedensschluss 1998 3.500 Todesopfer gefordert, die Mehrheit davon Zivilisten. 21 Jahre hat der kalte Friede zwischen den Bevölkerungsgruppen gehalten. Die Erinnerung an die „Troubles“ hätte langsam in den Bereich der Geschichtsschreibung übergehen sollen. Doch seit die Briten im Juni 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt haben, verstärken sich auch die Spannungen in Nordirland wieder. Unsicherheit über die Zukunft ist nicht gut für eine Region, in der die Wunden der „Troubles“ noch längst nicht verheilt sind. Jetzt weiß man wieder, wie fragil der Frieden in Nordirland ist und wie schnell sich Spannungen zwischen katholischen und protestantischen Nordiren in Gewalt entladen können. Der Tod von Lyra McKee könnte dazu führen, dass sich die politische Führung in Nordirland zusammenreißt und endlich wieder ernsthafte Gespräche über eine Regierungsbildung beginnt. Seit gut zwei Jahren gibt es keine lokale Regierung in Nordirland mehr. Die Kooperation zwischen der unionistischen DUP von Arlene Foster und der republikanischen Sinn Fein war über einen Finanzskandal zerbrochen und konnte bisher nicht erneuert werden. Zum Begräbnis der jungen Autorin in der St.-Anna-Kathedrale in Belfast am Mittwoch kommt viel Politprominenz aus Nordirland, unter vielen anderen reist auch Irlands Premierminister Leo Varadkar aus Dublin an. Selbst die britische Premierministerin Theresa May wird an der Trauerfeier teilnehmen. Es steht viel auf dem Spiel. Iren und Briten versuchen, die nordirischen Streitparteien wieder in Richtung einer Koalition zu bewegen, doch die Hoffnung ist nach Aussage von Beteiligten gering. Lyra McKee war sich als Autorin und auch als LGBT-Aktivistin bewusst, wie heikel die Lage ihrer Heimat war. Weithin bekannt wurde sie mit dem Blog-Posting „Brief an mein 14jähriges Ich“, in dem sie über die Schwierigkeiten schrieb, als lesbisches Mädchen in Nordirland aufzwachsen. Wie ein Pastor lesbische Paare als „sexuell pervers“ beschrieben hatte, wie sie in der Schule gemobbt worden war. Aber auch, wie sie das bigotte Umfeld besiegt hatte: „Das Leben wird immer besser. Später wirst du ohne Furcht, die Straße hinuntergehen.“ Die junge Autorin schrieb bald für das US-Magazin „The Atlantic“, der angesehene Verlag Faber gab ihr zwei Buchverträge. „The lost Boys“ über das Schicksal zweier im Jahre 1974 verschwundener Jungen sollte 2020 erscheinen. Das Forbes-Magazine nahm sie in die Liste der dreißig einflussreichsten Medien-Figuren unter 30 in Europa auf. Begründung: „McKees Leidenschaft ist es, sich in Themen hineinzuwühlen, die anderen nicht wichtig erscheinen.“ Eines ihrer zentralen Themen blieb die „Illusion“ des Friedens, wie sie es nannte: „Mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens sagte man meiner Generation, dass wir die ersten in Jahrzehnten sein würden, die in Frieden leben könnten“, schrieb Lyra McKee hellsichtig vor vier Jahren in einem Artikel: „Doch nur weil wir nicht mehr im Krieg sind, heißt das noch lange nicht, dass der Schatten des Killers den Raum verlassen hat.“
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Tessa Szyszkowitz
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In Nordirland wird heute die ermordete Journalistin Lyra McKee beerdigt. Die „Neue IRA“ nennt die brutale Tat ein Versehen. Schon die Existenz der Terroristen zeigt, wie leicht der Friede in Nordirland bricht. Der chaotische Brexitprozess verschärft die Lage weiter.
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"IRA",
"New IRA",
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"Mord",
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"Lyra McKee"
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außenpolitik
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2019-04-24T09:02:49+0200
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2019-04-24T09:02:49+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/lyra-mckee-new-ira-nordirland-journalistin-brexit
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Ein Jahr nach Fukushima – Scheitert die Energiewende?
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Ein
Jahr Energiewende – Eine Serie bei CICERO ONLINE. Anlässlich
des ersten Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Fukushima widmet
sich CICERO ONLINE in einer Serie der Energiewende, den
Herausforderungen und den Widerständen, den Akteuren und ihren
Interessen. Hier geht's zum Dossier Vor einem Jahr hat die Bundesregierung die Energiewende
ausgerufen, die Opposition sekundierte und eine ganzen Nation
jubelte dem Jahrhundertprojekt zu. Der ökologische Umbau einer der
führenden Industriestaaten. Es ist historisch einmalig und ohne
Blaupause. Das Ausland verfolgt die deutschen Pläne mit
Skepsis. Doch die anfängliche Euphorie ist verflogen. Die
Energiewende ist im politischen Alltag angekommen und droht dort im
Klein-klein zu versacken. Die Gründe sind vielfältig. Thomas
Bareiß, der Koordinator für Energiepolitik der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wird nicht müde zu betonten, die
Bundesrepublik müsse mit ihrem nationalen Alleingang „keinen
Sprint, sondern einen Marathonlauf“ hinlegen. Es ist ein langer
Lauf. Viele Jahre wird er dauern und er wird auf viele Widerstände
stoßen. Und wenn die Politik nicht aufpasst, dann wird ihr
Jahrhundertprojekt zerrieben. Da sind die großen Energieunternehmen – EON und RWE vorneweg –
die ihre offene Ablehnung in Unterstützung oder zumindest in einen
Waffenstillstand umwandeln müssen. Da sind die ökologischen
Ideologen , die mehr Realitätssinn brauchen. Da sind die Bürger,
die den Sinn von Energieeinsparung einsehen und befolgen sowie
höhere Energiekosten akzeptieren müssen. Da ist aber vor allem die
Politik, die all das zusammenbringen, die handeln und koordinieren
muss und sich nicht in kleinteiligem Gezänk um Kompetenzen
verzetteln darf. [gallery:Von Photovoltaik bis Geothermie – Erneuerbare
Energiequellen im Überblick] Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister
Philipp Rösler (FDP) jedoch gaben seit Wochen ein eindrucksvolles
Beispiel an parteipolitischem Kompetenzgerangel ab, gepaart mit
einer ordentlichen Portion populistischer Stimmungsmache – vor
allem von Seiten der FDP. Mit einer Partei,
der das Wasser so nah an der Unterlippe steht, muss man
vielleicht einiges an Nachsehen haben. Wenn aber die Energiewende
geschafft werden soll, dann darf es nicht um Stimmenfang gehen.
Sogar ein Brandbrief der beiden Fraktionschefs, in dem sie ihre
Minister endlich zum Handeln aufforderten, verhallte zunächst
ungehört. Nun endlich hat man sich geeinigt und präsentierte einen
Kompromiss, der nur schwerlich als Erfolg zu verkaufen ist. Die
Förderung der Sonnenenergie wird früher als geplant gekürzt, die
Fördersätze sinken schneller. Von einer Deckelung allerdings, wie
sie der Wirtschaftsminister forderte, ist keine Rede mehr. Opposition und Industrie sind entsetzt. Die Solarwirtschaft
würde abgewürgt, einen „kalten Ausstieg aus der
Solarstromförderung“, nennen die Grünen die Einigung.
Röslers offenes Bashing der Subventionen der Photovoltaik findet
zwar seine Anhänger unter den zahlenden Stromverbrauchern, im
Hinblick auf die Herausforderungen des Atomausstiegs aber ist es
kaum von Nutzen. Ohne höhere Energie-Umlage, staatliche Subvention
also, wird sich kein einziges Windrad rechnen. Es gibt „keine
erneuerbare Energie am Markt, die sich dem Wettbewerb stellen
kann“, sagt auch der CDU-Politiker Bareiß. Welche Weichen gestellt werden müssten, damit die
Energiewende rollt Windenergie, Biogasanlagen, Photovoltaik und Wasserkraft – sie
alle kommen nicht ohne finanzielle Unterstützung aus. Gleichzeitig
sind sie nun einmal die „Energiequellen der Zukunft“, wie Oliver
Krischer, Sprecher für Energie und Ressourceneffizienz der Grünen,
sagt. Ihr Anteil soll von den heutigen 20 auf mindestens 35 Prozent
im Jahr 2020 steigen. 2050 sollen es dann 80 Prozent sein, so
lauten die offiziellen Visionen der Bundesregierung. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Energieffizienz.
Deutschlands Gebäudebestand sei zu 80 Prozent sanierungsbedürftig,
so Krischer. Hier müsse gehandelt werden, anders seien die hoch
gesteckten Ziele nicht zu erreichen. Schwarz-Gelb allerdings will
nach den neuesten Verlautbarungen auch keine Einsparverpflichtung
der Energieversorger einführen. Beim hart umkämpften Netzaus-, bzw. Umbau, der die wenigen
zentralen Kraftwerke mit den Verbrauchern verbinden muss, geht es
nicht nur um Tausende Kilometer dicker Hochspannungsleitungen, die
sich beispielsweise von den Offshore-Windparks aus dem Wattenmeer
der Nordsee bis in die bayerische Tiefebene hervorschlängeln müssen
und auf ihrem Weg etliche Bürgerinitiativen zu passieren haben. Es
sind vor allem die vielen kleinen Kabel, die in die
Industrieanlagen und Häuser der Menschen führen müssen, die jetzt
Probleme bereiten. Politische Anreize zum Bau dieser Netze sind
dürftig. Um die Spitzen im Energiebedarf auch künftig erfolgreich
abfangen zu können, werden neue Kraftwerke benötigt. Bayerns
Ministerpräsident Horst Seehofer etwa hatte den Bau von sechs
Gaskraftwerken angekündigt. Bis heute gibt es aber keinerlei
Anzeichen für den Bau auch nur eines dieser Kraftwerke. Die
Investorensuche gestaltet sich offenbar aufwendiger als gedacht.
Die Bundesregierung kündigt seit langem ein
Kraftwerkförderungsprogramm an, scheitert aber an den Maßstäben der
EU, die die bisher gewohnten 15 Prozent Förderung als unzulässige
Subventionen ansehen. Hier müssten schneller Alternativlösungen
gefunden werden, die Rösler bisher schuldig bleibt, moniert
Krischer. Und so wittern die großen Energieunternehmen Morgenluft. RWE und
EON beispielsweise könnten vor der geplanten Abschaltung des
nächsten Kernkraftwerkes mit guten Argumenten den Verdacht säen,
dass die Energiewende langsamer vor sich gehe als gedacht. Dass man
wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ein paar AKW länger
laufen lassen müsste als geplant. Die nächste Anlage soll 2015
abgeschaltet werden. Es liegt in den Händen der Politik, ob die
Energiewende scheitert. Lesen Sie zu diesem Thema auch die März-Ausgabe des Magazins
Cicero – mit einem Porträt des Umweltministers Norbert Röttgen.
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Vor einem Jahr, nach dem Supergau in Fukushima, beschloss Deutschland aus der Atomenergie auszusteigen und zukünftig auf erneuerbare Energien zu setzen. In zehn Jahren soll das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet werden. Doch die Herausforderungen sind gewaltig und die Politik scheint überfordert
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innenpolitik
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2012-02-28T12:00:49+0100
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2012-02-28T12:00:49+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/scheitert-die-energiewende/48471
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CDU-Wahldebakel in Baden-Württemberg - „Wie aus der Zeit gefallen“
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Die Baden-Württemberg-Partei 2021 heißt Bündnis 90/Die Grünen. Das wäre vor zehn Jahren noch schwer vorstellbar gewesen. Damals erhielt die CDU bei der Landtagswahl im Ländle 39% der Stimmen. Teile der Partei, leider auch der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus, pflegten eine ausgeprägte Abneigung gegen die Grünen, so dass für sie eine schwarz-grüne Koalition nicht infrage kam. 2011 fand die Landtagswahl wenige Wochen nach dem Atomreaktorunfall in Fukushima statt. Dieses Ereignis und der nachfolgende Ausstieg aus der Kernenergie, den eine von CDU/CSU geführte Bundesregierung vollzog, wäre in Baden-Württemberg der Kairos, also der günstige Moment, für eine schwarz-grüne Regierung gewesen. Es war die Zeit, in der sich politische Prioritäten bereits verändert hatten. Die Zukunft der Energieversorgung, neue Konzepte für die Mobilität, die Gefahren der Klimaentwicklung gehörten ebenso dazu wie die generelle Feststellung, dass für all die neuen Prioritäten eine Stärkung der Innovationskraft in Deutschland wichtig ist. Daran hätte sich diese Koalition gleichsam als Pionier beteiligen können, zumal Baden-Württemberg mit seinen Universitäten und zahlreichen innovativen Unternehmen beste Voraussetzungen hatte und hat, Avantgarde bei zukunftsweisenden Lösungen zu sein. Es kam anders. Winfried Kretschmann, der damalige Spitzenkandidat der Grünen, erreichte 24,2% der Stimmen und schmiedete eine Koalition mit der SPD, die 23,1% der Stimmen bekommen hatte. Seither regiert er das Land als Ministerpräsident mit hohen Zustimmungswerten in wechselnden Koalitionen. Die Vorstellung, eine grün geführte Landesregierung werde in Baden-Württemberg eine Episode sein, machte in der CDU die Runde. Das hat sich nun endgültig als Irrtum erwiesen. Was ist in den zehn Jahren mit der CDU im Ländle passiert? Nach sechs Jahrzehnten als „Baden-Württemberg-Partei“ mit starken Wahlergebnissen war die Erfahrung, in der Opposition zu sein, ein Schock. Bis heute sagen manche in der CDU-Landtagsfraktion – auch gute Freunde sagen es mir –, man könne halt Opposition nicht. Es stimmt ja auch, dass Oppositionsarbeit anspruchsvoll ist und eher ernüchternd. So, wie wir in den CDU-Ministerien die Papiere der Opposition in den Mülleimer geworfen haben, so tat es die neue Regierung nun auch. Winfried Kretschmann war lange genug der Vorsitzende einer Oppositionspartei gewesen, um den Frust zu kennen, den eine Fraktion in der Opposition erlebt, wenn ihre Ideen abgelehnt werden – und zwar nicht, weil sie schlecht sind. Sondern einfach nur, weil sie von der Opposition kommen. Trotzdem hatte sich Kretschmann 2011 offenkundig eine Sammlung jener Ideen angelegt, die bislang keine Chance hatten. Nun war die Zeit gekommen, um sie zu verwirklichen. Weil die CDU die neue Regierungspartei als Episode verstehen wollte, nutzte sie die Zeit nicht für eine programmatische Weiterentwicklung der Landespartei. Sie wirkte bei manchem Thema wie aus der Zeit gefallen. Sie verlor den Blick für die Veränderungen im Land, in den für sie wichtigen Milieus – und hing am Gewohnten. So begann eine Dekade des zunehmenden Vertrauensverlustes, der bei der jüngsten Landtagswahl zu erschreckenden Ergebnissen in den Wahlkreisen führte und dazu, dass die CDU von den fünf Jahren als Partner der Grünen in der Landesregierung seit 2016 nicht profitieren konnte. Sie hatte in dieser Regierung zentrale Ressorts, wie das Kultusministerium und das Innenministerium, sowie drei weitere Ministerien, mit denen sich gestalten lässt. Sie hatte also richtig gute Chancen, die jedoch ungenutzt blieben. Hinzu kommt, dass die Gründe für eigene Schwächen immer bei anderen gesehen wurden – vornehmlich „bei denen in Berlin“. So wurde aus einem einst starken Landesverband, der in Berlin großen Einfluss hatte, eine nörgelnde und sich selbst verzwergende CDU. Nun gilt es, einen umfassenden Erneuerungsprozess auf den Weg zu bringen und neues Vertrauen in allen Regionen des Landes zurückzugewinnen. Dazu wird gehören: 1.) Eine Kommunikation in allen Wahlkreisen, die die CDU als interessierte und neugierige Partei mit überzeugenden Ideen und zukunftsfähigen Konzepten zeigt. 2.) Eine Präsenz in den städtischen und ländlichen Räumen, die erkennen lässt, dass die CDU die Stärken des Landes kennt und das in Baden-Württemberg vorhandene Potential wahrnimmt und mit politischen Lösungen verbindet. 3.) Eine Erneuerung, die von der Kommunalpolitik ausgeht. Stadt- und Gemeinderäte müssen eine wichtige Rolle spielen, ebenso die Spitzen der Kommunen und Landkreise. Es gibt viele gute Frauen und Männer, die Verantwortung tragen jenseits der „Stuttgarter Blase“. 4.) Sorgfalt bei der Auswahl der Personen, die landesweit für die CDU stehen, die Vertrauen aufbauen können, also vertrauenswürdig sind und verankert in der Bürgerschaft. Denn es stimmt ja nicht, wenn gesagt wird, man finde niemanden. Die Bindekraft aller Parteien hat sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Bindungen werden eingegangen, wenn damit interessante Erfahrungen und Gestaltungsmöglichkeiten verbunden sind. Aus Tradition geht niemand mehr in eine Partei, und es übernimmt auch niemand ein Mandat oder ein Parteiamt. Eine interessante Person zieht andere Personen nach sich. 5.) Zukunftspartei sein zu wollen, das kann der programmatische Schlüssel für die CDU sein. Sie kann an Zukunftsverträgen arbeiten, Region für Region, und ihre immer noch vorhandenen guten Kenntnisse über das Land dafür nutzen. Sie kann auch wieder nahe an den Traditionen im Land sein, die den Zusammenhalt wesentlich stärken. Erneuerung meint den Willen, wieder stimmig aufzutreten. Wer regieren will, muss zum Land passen. Baden-Württemberg ist ein wunderbares Land mit vielen Talenten und Möglichkeiten, mit Liebe zum Detail und Stolz über das, was das Ländle in den fast 70 Jahren seines Bestehens (2022 wird gefeiert!) erreicht hat, mit dem Selbstbewusstsein der Gemeinwesen und einem kulturell und wirtschaftlich reichen Leben. Erneuerung meint, eine tragfähige Verbindung aufzubauen zwischen der gewünschten Stabilität, die Traditionen geben, und der Kreativität, die zu neuen Wegen führen, um eine gute Zukunft zu ermöglichen.
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Annette Schavan
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Vor einer Woche musste die CDU bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg eine herbe Niederlage hinnehmen. Warum hat die Partei es nicht geschafft, sich in den vergangenen zehn Jahren zu regenerieren? Die ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan übt in einem Gastbeitrag Kritik an ihrer Union – und sagt, was sich ändern muss.
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[
"CDU",
"Annette Schavan",
"Baden-Württemberg",
"Winfried Kretschmann"
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innenpolitik
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2021-03-19T18:04:38+0100
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2021-03-19T18:04:38+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cdu-landtagswahl-baden-wuerttemberg-annette-schavan
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„Germany 2064“ - Der Thriller zur Globalisierung
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Es sagt sich leicht, dass die Zukunft Deutschlands schlechter würde als die Gegenwart. Denn es ging dem Land, wie jedes Kind von Eltern und Großeltern erfahren kann, noch nie so gut. Das schürt Ängste vor Änderungen. Der Flüchtlingsandrang zeigt das nicht nur, sondern deutet bereits Bewegung in politischen Umfragen an. Niemand jedoch kann wirklich in die Zukunft schauen. Umso spannender ist es, wenn Berufene es versuchen. Martin Walker etwa, einst „Guardian“-Journalist und inzwischen weltweit erfolgreicher Autor. In den kommenden Tagen wird er in Deutschland auf Tour sein, um aus seinem jüngsten Buch zu lesen. Denn er ist für den Wirtschaftsbuchpreis 2015 nominiert. „Germany 2064“ heißt es, „Zukunftsthriller“ ist sein Genre. Das Buch ist – was die Handlung angeht – eher schlicht, literarisch wirklich nicht wertvoll. Spannend macht es jedoch der Versuch Walkers, das Leben in Deutschland in den kommenden 50 Jahren zu beschreiben, und zwar auf Grundlage heutiger Forschung. Die Idee dazu hatte nicht der Schriftsteller, sondern eine berühmte amerikanische Unternehmensberatungsgesellschaft. A.T. Kearney feierte im vergangenen Jahr seinen 50-jährigen Bestand auf dem deutschen Markt. Aus diesem Anlass ersann sie gemeinsam mit deutschen Politikern, Unternehmern und Wissenschaftlern einen Zukunftsentwurf für das Jahr 2064. Es wurden Antworten gesucht auf grundlegende Fragen, die Walker nennt: Wie werden wir sein? In welcher Welt werden wir leben, wie Geld verdienen? Was machen dann unsere großen Firmen? Wie werden sich die Menschen bewegen, wie ihre Güter und Daten? Walker wurde gedrängt, das literarisch darzustellen. Denn der Schotte, der in Washington lebt, ist Bestseller-Autor der „Bruno, Chef de police“-Kriminalromane. Er kam dem Wunsch nach. In dem hochkarätig besetzten Seminar der Unternehmensberatung war allen Teilnehmern bewusst geworden, dass weite Teile der deutschen Infrastruktur noch aus dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg stammten: Straßen, Schienen, Energieversorgung, Häfen, Raffinerien, Telefonleitungen, Schulen, Universitäten, Wohnungsbau. Die jetzige Generation solle nachdenken, all das für die kommenden Jahrzehnte zukunftsfest zu machen. Die notwendigen Voraussetzungen dafür waren folgende: möglichst präzise demografische Vorhersagen ebenso wie die Zuwanderungsquoten. Doch die änderten sich schon 2015 enorm – und damit auch die Anzahl der zu erwartenden Menschen im Rentenalter. Ebenso schwer kalkulierbar war die künftige Energieversorgung, wobei schon vorhersehbar war, welche politisch gewünschten Möglichkeiten es dazu gibt, nämlich die Förderung erneuerbarer Energieträger. Walker vermutet nun, dass Deutschlands Bevölkerung in 50 Jahren in zwei verschiedenen Welten lebt: der Großteil städtisch modern mit allem Hightech, ein kleiner Teil hingegen bewusst ländlich, in sogenannten freien Gebieten. Diese Menschen heißen Freiländer, sind faktisch Aussteiger-Ökos, die alle Technik ablehnen, welche nach 1980 erfunden wurde. Politisch wird das insofern problematisch, da diese nicht steuerlich angebundenen Menschen im Notfall medizinische Versorgung als auch Sicherheit von den Städtern bekommen. Nach Jahren der friedlichen Koexistenz wird das ein Streitthema, nachdem sich zunehmend Kriminelle in die freien Gebiete absetzen. Nach ihnen jagt die staatliche Polizei mit automatisierten Partnern, das sind Roboter-Wesen mit künstlicher Intelligenz. Fiction das alles, doch mancher Aspekt in Walkers künftigem Deutschland scheint greifbar nahe: etwa die Fusion von Banken und Telekommunikation, da schon jetzt etliche Finanztransaktionen online getätigt werden, Diensten wie Google oder Paypal nur noch die Banklizenz fehlt. Oder selbstfahrende Wagen, wie sie schon in Was-ist-Was-Büchern von 1975 dargestellt werden. Heute sind sie bereits technisch möglich und werden im Güterverkehr erprobt, denn – der Demografie wegen – ein absehbarer Fahrermangel lässt sie notwendig werden. Bei Walker fahren Logistik-Konvois mit 60 Wagen fahrerlos durchs Land, selbst navigierend. Auch der Personal Communicator, kurz PerC, ist bereits faktisch Androide-Realität, wenn er auch in Walker-Zukunft allmorgendlich alle Infos an die Zimmerdecke wirft. Danach folgt der programmierte Duschautomat, und das Abtrocknungsgerät ersetzt das Frottee-Handtuch, weil Baumwolle wegen des weltweiten Wassermangels unerschwinglich geworden sein wird. Die Städter haben allzeit ortungsbare Chips implantiert, die ihnen Versicherungsschutz gewähren, sofern sie sich verantwortlich ernähren und risikoarm leben. Aktuell wirken die von Walker dargestellten Überlegungen, „wonach Deutschland dank seiner starken Wirtschaft gutausgebildete Migranten anlocken und zu einem Superstaat mit mehr als hundert Millionen Einwohnern anwachsen würde, der so viel mächtiger wäre als seine europäischen Partner“. Deutschland bleibt jedoch europäisch gesinnt, eindeutig jedoch die Führungsmacht des Kontinents im engen Wirtschaftsverbund mit Nordamerika. „Paradoxerweise besiegelte der Erfolg der Globalisierung ihren Untergang“, heißt es bei Walker. Denn die USA seien isolationistisch geworden, bestärkt durch Energie-Unabhängigkeit. Mitte des 21. Jahrhunderts habe sich die Meinung durchgesetzt, dass Globalisierung nicht mehr im Interesse der eigenen Wirtschaft sei. „Weil keine andere Großmacht willens oder in der Lage gewesen wäre, Amerika zu ersetzen, ging es damit zu Ende. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da das halsbrecherische Wachstum der chinesischen Wirtschaft stagnierte. Die Niedrigzinspolitik führte schließlich zu einer noch nie dagewesenen Vermögensblase und einer Finanzkrise nach der anderen.“ Europa und die USA hätten aber dann wieder die Weltmarktführung übernommen, durch Rückeroberung der von Billiglohnländern lange dominierten Preisvorteile bei Kleinstwaren. 3-D-Drucker hätten dieser Konkurrenz den Garaus gemacht. „Das weltweite Handelsvolumen war stark zurückgegangen, ebenso der Bedarf an Rohöl und Gas, da erneuerbare Energien in ausreichendem Maße zur Verfügung standen. Die großen Wirtschaftsräume Europa und Nordamerika waren nunmehr aufgrund ihrer vielfältigen Geldgeschäfte (...) eng miteinander verflochten und entsprechend voneinander abhängig. Die lange Rezession während der 2030er Jahre, die auf die Krise der asiatischen Exportgeschäfte folgte, hatte die Wirtschaften Europas und Nordamerikas noch enger zusammenrücken lassen.“ Insgesamt geht es der Welt in Walkers Vision in 50 Jahren nicht spürbar schlechter als heute. Die Gesundheitsversorgung und Lebenserwartung ist sogar überall weit besser. Flüchtlingslager in Afrika allerdings gibt es, finanziert und streng bewacht von Soldaten jener Staaten, die ungefilterten Andrang abhalten wollen. Hierbei helfen dann auch martialische Roboter. Alles in dem Buch ist natürlich reines Mutmaßen. Wie jede Roboter-Beschreibung wird auch diese schon nach wenigen Jahren überholt wirken und wegen linkischer Details lächerlich. Doch, auch das nimmt Walker auf, ist der Begriff Roboter selbst noch jung. In der Literatur wurde er erstmals 1921 in Karel Čapeks tschechischem Bühnenstück „R.U.R.“, Rossumovi Universalno Robtoti, verwendet. Robota hat im Tschechischen neben Arbeiter auch die Bedeutung von Frontdienst. Beides ist in Zeiten der Automation und des Drohnen-Kriegs längst eingetreten. Insofern könnte auch Walkers ungebrochene Aussicht ein Glaskugel-Blick sein. Angesichts des gegenwärtigen Pessimismus wäre es fast schön, er bewahrheitete sich im Wesentlichen. Martin Walker: Germany 2064 – Ein Zukunftsthriller. Die Welt von morgen. Aus dem Englischen von Michael Windgas. Diogenes, September 2015. 432 Seiten, 32 Euro.
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Wulf Schmiese
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Wird Deutschland von den Flüchtlingsbewegungen erdrückt? Oder eher eine bunte, brummende Volkswirtschaft? Der schottische Buchautor Martin Walker schaut mit seinem Buch „Germany 2064“ in die Zukunft – und wagt erstaunliche Wirtschaftsprognosen
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wirtschaft
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2015-10-28T17:59:08+0100
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2015-10-28T17:59:08+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/germany-2064-martin-walker-rezension-globalisierung-fluechtlinge/60037
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Kanzler-Jubiläum – „Denn wir haben ein Idol, Helmut Ko-hol!“
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Vieles sagt sich leicht über einen, der nicht mehr widersprechen
kann. Über Helmut Kohl reden sie nun alle, egal ob sie Freunde oder
Feinde waren, Kritiker oder kritiklos zu seiner Zeit als Kanzler.
Jetzt wird allseits munter gemutmaßt, inwiefern er gefangen
gehalten werde von seiner jungen Frau. Dass er wohl ein Versager
gewesen sei als Vater. Und mancher sieht bei ihm die Schuld für die
Krise Europas, wenn dieser Vorwurf auch zu verhallen scheint. Vor 30 Jahren, am 1. Oktober 1982, schwor der langjährige
Oppositionsführer Kohl im Bundestag den Kanzler-Eid. Helmut
Schmidt, der heute weithin verehrt wird als elder statesman, war
gescheitert. Doch der Spott wurde über Kohl ausgekippt: „Birne“
nannten sie ihn, „Pfälzer Landei“. 30 Jahre ist das her, drei
Jahrzehnte die sich dritteln lassen: Die erste Phase Kohls als
Kanzler wäre ohne den Fall der Mauer wohl alles gewesen. Denn seine
eigenen Leute – Geissler, Späth, Süssmuth – wollten ihn wegputschen
im Sommer 1989. Die Wende in der DDR wurde auch eine Wende für Kohl
an der Spitze von Partei und Land. 1989 bis 1999 – das war sein
Jahrzehnt als Kanzler wie, im letzten Jahr, als Altkanzler. Da war
er gefeierter Vater der Einheit und des Euro. Das letzte Drittel
der 30 Jahre begann mit seinem Sturz. Zwei Tage vor Weihnachten
1999 schrieb Angela Merkel ihn ab: Vom „Ende der Ära Kohl“ handelt
der erste Satz ihres berühmten Gastbeitrags in der FAZ. Nun wird diese ganze Ära wieder gefeiert. „Kanzler der
Einheit – Ehrenbürger Europas“ heißt der Festakt, den die Konrad
Adenauer Stiftung am Donnerstag ausrichtet im Deutschen
Historischen Museum. Das passt. Die Festrede wird Angela Merkel
halten. Und Kohl hat eine Dankesrede geplant, die im Gegensatz zu
seinen nur kolportierten Worten vor der CDU/CSU-Fraktion vom
Dienstag öffentlich sein wird. Adenauers politischer Enkel soll
also von seinem eigenen „Mädchen“ geehrt werden und ihr dafür
danken. So ist es vorgesehen, so will es die Kanzlerin, die sich
somit in eine Reihe stellt von den historisch Großen: Adenauer,
Kohl, Merkel. Damit beherzigt sie einen Satz, den ihr vor 13
Jahren Roland Koch um die Ohren schlug, aus Empörung über ihren
Abnabelungsartikel: „Kohl ist konstitutiver Bestandteil der
Partei“, hatte Koch damals gesagt. Wer sich von ihm und damit von
der eigenen Geschichte distanziere, der verliere
Glaubwürdigkeit. Seite 2: Die JU nennt sich „Generation Kohl" Merkel ist seit Jahren darum bemüht, diese Glaubwürdigkeit
wieder zu erlangen. Getrieben dazu wurde sie von der Jungen Union.
Vor acht Jahren begann die öffentliche Ehrenrettung für den Kohl –
und es wurde eine leuchtende Show. Konsequent hatte der von Merkel
gestürzte Ehrenvorsitzende Parteiveranstaltungen gemieden. Doch zu
dieser kam er, auf den Deutschlandtag der Jungen Union in
Oldenburg. Er wusste: Hier muss er nichts fürchten. "Wir sind die
Kinder der Deutschen Einheit und die erste Generation des Vereinten
Europas", sagte der JU-Vorsitzende Philipp Mißfelder. "Helmut,
Helmut", riefen sie schon, als Kohl die Halle betrat. "Eye of the
Tiger", das Einmarschlied des Boxer-Champions aus Rocky III, hatte
die Regie aufgelegt, die Halle war dunkel, im Lichtkegel strahlte
Kohl wie einst auf Dutzenden von Parteitagen. "Denn wir haben ein
Idol, Helmut Ko-hol", sangen sie, stellten sich auf die Tische,
schwenkten Pappen. "Danke für die Einheit" und "Danke für Europa“.
Bis heute nennt sich die JU "Generation Kohl", da sie alle mit
diesem Kanzler groß geworden sind. "Sie sind der Grund, dass wir
uns in der JU engagieren", sagte Mißfelder damals. "Ihre
Lebensleistung ermöglicht es uns, dass wir in einem vereinigten
Vaterland und friedlichen Europa leben." Kohls Augen waren feucht,
als Mißfelder im Namen aller sagte: "Danke für eine friedliche
Kindheit." Daran konnte Merkel sehen, dass die illegalen Großspenden an
Kohl wie Kleinigkeiten wirken im Rückblick, den die Jungen allein
schon deshalb bestimmen, weil sie länger leben werden. Kohls 75.
Geburtstag im Jahr nach dem JU-Auftritt nutzte die
Parteivorsitzende Merkel dann ihrerseits zur Rehabilitation des
Vorgängers. Mehr noch: Sie half, das eigenhändig gestürzte
Denkmal Kohl wieder aufzubauen. Kohl werde „bald zum Mythos der CDU
werden“, hieß es in der Festschrift vor sieben Jahren. So wie
Frankreich die Mythen Napoleon und de Gaulle pflege, Italien seinen
Garibaldi, England seinen Churchill und die Vereinigten Staaten
ihre ermordeten Präsidenten Lincoln und Kennedy zum Mythos erhoben
hätten, werde auch Kohl für Deutschland neben Bismarck und Adenauer
stehen. John Major erinnerte damals auf dem Festakt schmunzelnd daran,
als der Kanzler ihn einst als Premierminister in London besuchte.
Draußen skandierten Bergarbeiter, die um ihre Jobs bangten: „Coal
for ever“. Doch der deutsche Kanzler habe selbstbewusst strahlend
verstanden: "Kohl for ever". Das hat Helmut Kohl nun tatsächlich
geschafft noch zu Lebzeiten. So wie er schon seit dem Mauerfall
nicht mehr „Birne“ war im Land, wird er auch nicht mehr bloß mit
Bimbes verbunden. Er ist trotz aller Schwächen und Schwäche der
Große, in seiner Partei sogar „der Alte“, als der einst nur
Adenauer galt. Früher hätte es hämisch geheißen: Kohl hat alle
Anfeindungen ausgesessen.
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2004 holte die Junge Union den Altkanzler wieder hervor und feierte ihn: Für Einheit und Europa. Damit begann die Rehabilitierung Helmut Kohls in der CDU. Schnell merkte auch Angela Merkel, welche Strahlkraft der Mann aus Oggersheim noch immer hat – trotz Spendenaffäre
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innenpolitik
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2012-09-26T09:53:48+0200
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2012-09-26T09:53:48+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/denn-wir-haben-ein-idol-helmut-ko-hol/51986
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Mikrozensus – Mehr Mütter arbeiten - warum nicht Vollzeit?
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Die Frage, was das bedeutet, hängt davon ab, was man erwartet.
Wenn es etwa darum geht, eine ausgewogene Teilhabe von Frauen und
Männern am Berufs- und Familienleben zu erreichen, sind die Zahlen
nicht sehr ermutigend. Zwar ist der Anteil der insgesamt erwerbstätigen Frauen von 1991
bis 2009 gestiegen, bei der Teilzeit in den vergangenen zwölf
Jahren sogar um 20 Prozent. Trotzdem kann man die Analysten des
Statistischen Bundesamtes so verstehen, dass in Deutschland das
bisherige Rollenmodell etabliert bleibt: Vater arbeitet, Mutter ist
zu Hause oder arbeitet in Teilzeit. Diese Aufteilung ist noch immer
das mit Abstand häufigste Modell in diesem Land. Im Vergleich zu 1996 sind heute bei Ehepartnern und in
Lebensgemeinschaften Frauen viel seltener, minus 20 Prozent, in
Vollzeit tätig. Die Politik und manche Familienforscher konzentrieren sich
deshalb gerne auf die Zahl der erwerbstätigen Mütter in Teilzeit,
die 2009 auf ein Rekordniveau gestiegen ist. In den neuen
Bundesländern hat sich die Zahl der in Teilzeit arbeitenden Mütter
sogar verdoppelt. Trotzdem ist fraglich, ob die Interpretation
einer gelungenen Familienpolitik hier angebracht ist. Kritisch
heißt es in der Auswertung des Statistischen Bundesamtes: „Eine
hohe Erwerbstätigenquote beider Geschlechter steht nicht allein für
eine ausgeglichene Integration in den Arbeitsmarkt.“ Die größte Gruppe dieser Frauen, die in Teilzeit – oder Vollzeit
– arbeitet, ist die der alleinerziehenden Mütter, danach folgen
Mütter ab dem 55. Lebensjahr. Innerhalb der Teilzeitbeschäftigung
steigen zudem atypische Beschäftigungsverhältnisse an: geringfügig
Beschäftigte, Zeitarbeitsverhältnisse. Immer öfter wird die Frau
aufgrund der ökonomischen Lage zum Arbeiten gezwungen,
beispielsweise weil der Mann arbeitslos wird. Arbeitsmarktforscher
kommen in Studien zu dem Schluss: „In Bezug auf die Modernisierung
der Geschlechterverhältnisse sind die Arbeitszeiten von Müttern und
Vätern ernüchternd. Eine Umverteilung von bezahlter und unbezahlter
Arbeit zwischen den Geschlechtern deutet sich bisher nicht an.“ In den alten Bundesländern schränkt die große Mehrheit der
Mütter ihre Berufstätigkeit wegen „familiärer Verpflichtungen“ ein,
in Ostdeutschland ist dieser Anteil geringer. Die Einstellung im
Westen Deutschlands hat sich in den letzten zehn Jahren kaum
verändert. Die Forscher heben allerdings hervor, dass für diese
Frauen eine Teilzeitbeschäftigung keine Notlösung darstelle,
sondern „sie entspricht ... den Wünschen von Müttern mit kleineren
Kindern“. An dieser Stelle setzen gerne die Argumente derer an, die sich
für ein Betreuungsgeld stark machen. Familien, die ihren ab 2013
geltenden Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz nicht in
Anspruch nehmen und den Nachwuchs zu Hause erziehen wollen, sollen
nach dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag monatlich 150 Euro
bekommen. Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU)
verlangte am Dienstag in der „Bild“: „Wir brauchen eine Politik,
die Kindern die Familie zurückgibt.“ Derzeit sei es das oberste
Ziel, „dass jeder der Erwerbstätigkeit außer Haus nachgeht. Andere
Wege werden total abgewertet.“ In der Wirtschaft und in
arbeitgebernahen Publikationen wird die Integration der Frau in den
Arbeitsmarkt und die Forderung nach mehr Kitaplätzen tatsächlich
häufig rein ökonomisch begründet – beispielsweise als „War of
Talents“. Der umstrittene frühere Bischof Walter Mixa hatte einst
gefordert, Deutschland brauche „eine familiengerechte Politik und
nicht eine arbeitsgerechte Familienpolitik“. Forscher wiederum sehen eher ein Problem in der
„widersprüchlichen Politik“. Der Soziologe Stefan Reuyß sagt, dass
der Wunsch vieler Frauen, zu Hause bleiben zu wollen, vor allem
„auf mangelnder Wahlfreiheit“ beruhe. Er kritisiert, dass die
Politik mit dem Elterngeld einerseits ein sinnvolles familien- und
arbeitsmarktpolitisches Instrument geschaffen habe, das Frauen die
Möglichkeit biete, vermehrt im Job zu bleiben. Andererseits aber
konterkariere die Politik dieses Ziel, indem sie am
Ehegattensplitting oder an der kostenlosen Mitversicherung von
Ehefrauen in der Krankenkasse festhalte. „Das zementiert das
klassische Rollenverhältnis“, sagt Reuyß. Wer die Anzahl arbeitender Mütter allein als Gradmesser für gute
oder schlechte Familienpolitik heranziehen will, ist sicher
schlecht beraten. Aber eine Balance zwischen Familie und Beruf ist
nur dann zu erreichen, wenn beide, Mütter und Väter, insgesamt
weniger und flexibler arbeiten dürfen. Bei gleichem Verdienst für
Mann und Frau.
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Die Frage des Tages: Heute sind zwar mehr Mütter als früher berufstätig, dafür arbeiten aber deutlich weniger in Vollzeit. Das hat der jüngste Mikrozensus des Statistischen Bundesamts ergeben. Was bedeutet diese Entwicklung?
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innenpolitik
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2011-08-31T08:56:41+0200
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2011-08-31T08:56:41+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/mehr-muetter-arbeiten-warum-nicht-vollzeit/42801
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Streit um Strategiepapier zum Koalitionsausstieg - FDP-Generalsekretär Djir-Sarai tritt zurück
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FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai tritt zurück. Grund ist die Diskussion über das Strategiepapier der FDP zum Koalitionsbruch. Djir-Sarai gab heute Mittag ein entsprechendes Statement in der Parteizentrale, dem Hans-Dietrich-Genscher-Haus. Zuvor waren Rücktrittsforderungen auch aus der eigenen Partei laut geworden, unter anderem von der Jugendorganisation „Junge Liberale“. Die FDP-Europapolitikerin Strack-Zimmermann hatte Selbstkritik und Aufarbeitung von ihrer Partei verlangt. Die FDP-Spitze hatte einen möglichen Ausstieg aus der Ampel-Koalition in dem Strategiepapier detailliert durchgespielt. Die Empörung über Stil und Inhalt ist nun groß. Die Liberalen hatten das achtseitige Dokument am Donnerstag selbst veröffentlicht, nachdem das Nachrichtenportal Table.Briefings bereits darüber berichtet hatte. In dem Papier wird auch der Begriff „D-Day“ verwendet. Djir-Sarai hatte allerdings erst vor wenigen Tagen in einem Interview mit dem Nachrichtensender n-tv gesagt, dieser Begriff sei „nicht benutzt worden“. Und: „Das ist falsch und das, was medial unterstellt wird, ist eine Frechheit.“ Die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann, hatte in der Affäre um das Strategiepapier für einen Koalitionsaustritt den Rücktritt des FDP-Generalsekretärs gefordert. „Als Generalsekretär trägt Bijan Djir-Sarai die politische Verantwortung für die Inhalte und die Ausrichtung der Partei. Um weiteren Schaden von der Partei abzuwenden, habe ich Bijan Djir-Sarai als JuLi-Bundesvorsitzende dazu aufgefordert, von seinem Amt zurückzutreten“, schrieb Brandmann auf dem Kurznachrichtendienst X. Sie erklärte, das am Vortag öffentlich gewordene Papier sei „einer liberalen Partei unwürdig“. Nicht nur die Öffentlichkeit müsse den Eindruck gewinnen, über Wochen getäuscht worden zu sein – sondern auch die eigene Partei. „Das gilt auch für mich – auch ich wurde getäuscht. Ich weiß, dass das Gefühl, das sich deshalb in mir breit macht, von vielen Mitgliedern der Freien Demokraten geteilt wird“, so Brandmann. Den Gesprächen im FDP-Bundesvorstand entspreche das Papier nicht. Auch sei es dort nicht vorgelegt worden. „Dass es erstellt wurde, lässt aber tief blicken. Was da zu sehen ist, passt nicht zu den Freien Demokraten, wie ich sie kenne – souverän, glaubwürdig und mit offenem Visier für liberale Politik eintretend. Es ist das Gegenteil von all dem“, erklärte Brandmann. Weder dieses Papier noch der Umgang damit in den letzten Wochen lasse sich auf Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle der FDP abwälzen. Der Versuch, das zu tun, sei inakzeptabel. Die Vorgänge kosteten die FDP „viel Glaubwürdigkeit“, fügte sie hinzu. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Marcus Faber (FDP) rechtfertigte hingegen das Vorgehen seiner Partei. „Es ist völlig normal, dass man sich in einem Szenario, in dem die Koalition schon erhebliche Probleme hat, auf alle Szenarien vorbereitet. Das ist ein Zeichen von Professionalität“, sagte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im ZDF-„Morgenmagazin“. „Wir haben in 85 Tagen eine Bundestagswahl, und natürlich ist das eine Auseinandersetzung im Wahlkampf. Das kann man bezeichnen, wie man will.“ Auf solche Szenarien müsse man sich in einer Parteizentrale vorbereiten. Das mache man im Brandt-Haus der SPD genauso wie im Genscher-Haus der FDP, so Faber. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Nach Rücktrittsforderungen auch aus der eigenen Partei wegen des Strategiepapiers zum Koalitionsausstieg tritt FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai zurück. Der FDP-Abgeordnete Marcus Faber verteidigt das Papier hingegen.
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"FDP",
"Ampelkoalition"
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innenpolitik
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2024-11-29T11:44:45+0100
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2024-11-29T11:44:45+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/streit-um-strategiepapier-zum-koalitionsausstieg-fdp-generalsekretar-djir-sarai-tritt-zuruck
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Kloster trifft Politik – „Schweigen kann auch eine Waffe sein“
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Schwester Bernadette, Schweigen ist Ihr Beruf. Was tun Sie, um sich von der Arbeit zu erholen?
Schweigen bringt für mich auch Ruhe mit – und da können sich mein Leib, mein Geist und meine Seele wieder erholen. Das Klarissenkloster Kevelaer wirbt mit der Botschaft: „Still sein und hören und hoffen im Lärm der Zeit“. Was ist für Sie der „Lärm der Zeit“?
Die Leute sind gestresst, rennen hektisch von einem Termin zum anderen. Sie sind kaum noch in der Lage, den Nächsten auf der Straße wahrzunehmen. Das ist eine ganz gefährliche Hektik. Was kann da das Kloster bringen?
Unsere Klarissenklöster versuchen Räume zur Stille und zur Begegnung mit Gott zu gestalten. Kein Radio, kein Fernsehen, keine Geräuschkulisse. Stille ist ja mehr als eine Flucht vor oder aus der Hektik. Ich muss bereit sein, mich in diese Stille begeben zu können. Wie lange schweigen Sie am Tag?
Wir sind ein kontemplativer Orden, wir haben uns also dem Schweigen verpflichtet. Zwischen 5 und 9 Uhr, während der Gebete und Gottesdienste, haben wir Zeit zur Meditation. Auch bei der Arbeit versuchen wir die Ruhe durchzuhalten. Das Nötige kann trotzdem immer gesagt werden.
Dabei heißt Schweigen nicht einfach nur äußere Stille. Es heißt nach innen hin abzuschalten, zu hören. Manchmal ist es schwer, denn es gibt immer Fluchtwege. Dann bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders und entfache in mir selbst eine Unruhe. Aber dann lebe ich nicht mehr in der Wahrheit. Welchem Politiker würden Sie den Tipp geben, einfach mal den Mund zu halten?
Es täte sicher vielen Politikern gut, sich einmal wieder der Stille auszusetzen, um erst zu denken und dann zu handeln. Wie wir das verlernt haben: Bewusst auf den anderen zuzugehen, um erst einmal dessen Argumente zu hören. Das sollten übrigens nicht nur Politiker, sondern auch Manager aus der Wirtschaft beherzigen. Haben sich denn bei Ihnen auch schon mal Politiker eingeschlossen?
Oh, ja. Wir haben die verschiedenen Gruppierungen bei uns. Sie sollen zur Ruhe kommen – und das ist manchmal gar nicht so leicht. Dann geht es in Einzel- und Gruppengespräche: Warum leben wir so und nicht anders? Was ist für unsere Gesellschaft wichtig? Sie wollen ganz bewusst auch mal andere Werte – eben die Religion – in den Blick nehmen. Und dafür sind unsere Klöster da. Nicht nur Ex-Bundespräsident Christian Wulff hat sich nach seinem Rücktritt aus dem Amt ins Kloster zurückgezogen. Auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière nutzt gern diese Art der Auszeit. Was reizt die Politiker am Kloster?
Vielleicht auch die ganz andere Welt. Sie fühlen sich mitgenommen. Während sie im öffentlichen Leben oft etwas darstellen müssen, dürfen sie hier so sein, wie sie sind. Sie dürfen ihre Maske ablegen. Wer sich der Stille bewusst aussetzt, wird vielleicht feststellen, wie sehr er in diesen Machtkämpfen verwickelt ist und hofft, für sich – brutal gesagt – etwas herausschlagen zu können. Seite 2: „Unsere Spitzenpolitiker sollten allesamt mal ins Kloster“ Welchen Politiker würden Sie jetzt gern als nächstes ins Kloster schicken?
Unsere Spitzenpolitiker, bevor sie sich endgültig in ihren Grabenkämpfen verschanzen. Reden Sie von Schwarz-Gelb? Einfach mal das Kabinett für eine Woche ins Kloster schicken?
Ja, ich glaube, es würde rundherum allen einmal gut tun. Zu Ostern dieses Jahres hat sich Horst Seehofer ins Kloster zurückgezogen – er war bei den Zisterzienserinnen in Waldsassen. Würden Sie auch einen Ehebrecher in Ihr Frauenkloster aufnehmen?
Uns steht es nicht zu, darüber zu urteilen, wie ein Mensch sein Leben gestaltet. [gallery:Horst Seehofer – Elf Freunde müsst ihr sein!] Aber ist es üblich, dass Männer ins Frauenkloster gehen?
Bei uns nicht. Nur in den Sprechzimmern zu den Gebetszeiten, denn wir haben keinen separaten Gästeflügel für Übernachtungen. Wir haben nur einmal eine Ausnahme gemacht – bei einem Berufsfotografen. Er hat einige Tage mit uns gelebt und Aufnahmen gemacht. Das war eine Bereicherung für alle. Und wenn Sie sich jetzt Seehofer so anschauen: Hat sein Klosteraufenthalt etwas gebracht?
Als Norddeutsche beschäftige ich mich nicht so sehr mit süddeutschen Politikern. Die Publizistin Gertrud Höhler behauptet im aktuellen Cicero mit Blick auf Angela Merkel, dass Schweigen auch ein Instrument der Machterhaltung sein kann. Zu viel Stille könne auch schaden.
Es kommt darauf an, wie ich schweigen deute. Ich kann schweigen, um den anderen herauszufordern, abzuwarten oder um keine Stellungnahme abzugeben. Ich kann aber auch schweigen, um herauszufinden, warum der andere auf eine bestimmte Art handelt, um ihn erst einmal zu Wort kommen zu lassen. Letzteres ist liebevolles Schweigen. Und welche Art des Schweigens wird aus Ihrer Sicht in der Bundesregierung häufiger angewandt?
Das Schweigen der Macht. Fällt Ihnen da ein konkretes Beispiel ein?
Ich spüre aus dem ganzen Gehabe unserer Politiker heraus, dass dieses Schweigen auch als eine ganz gefährliche Waffe gebraucht werden kann. Ich kann jemanden auch totschweigen. Das bedeutet für mich ein Stück Verachtung. Wie sollte man die Politik entwaffnen?
Das geht nur, wenn sie wirklich ehrlich miteinander umgehen. Sie sollten wieder den Mut zu echter Freiheit haben, die Würde und Ehre eines jeden Menschen anerkennen. Die Religion sollte nicht länger aus Politik und Gesellschaft ausgeschlossen werden – weder die christliche, noch die jüdische oder muslimische. Schwester Bernadette, vielen Dank für das Gespräch. Lesen Sie mehr über die Macht des Schweigens in der Dezember-Ausgabe des Cicero. Das Heft ist am Kiosk und auch im Online Shop ab sofort erhältlich. Das Interview führte Petra Sorge. Die Bildrechte liegen bei der Deutschen Ordensobernkonferenz (Schwester Bernadette).
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In der Politik werde Schweigen häufig als Mittel der Macht angewandt, sagt Bernadette Bargel vom Vorstand der Deutschen Ordensobernkonferenz. Die Äbtissin im nordrhein-westfälischen Klarissenkloster Kevelaer verrät, warum sich Politiker gerne ins Kloster zurückziehen und warum der ein oder andere besser mal schweigen sollte
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innenpolitik
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2012-11-23T11:43:45+0100
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2012-11-23T11:43:45+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/religion-aebtissin-ueber-politik-stille-schweigen-kann-auch-eine-waffe-sein/52650
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Geld oder Liebe? – Stiftung Hurentest
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„Face: hübsch, Brust: mäßig, Haut: sehr gut, Beweglichkeit: sehr gut, Haptik: sehr gut; Arsch: leichtes Polster, Zugänglichkeit: null“
- Peter4 Auf den Seiten von Lusthaus.cc (Zugang nur für zahlende Mitglieder) können Männer Bewertungen über ihre Treffen mit Escortdamen verfassen. In Tabellenform beschreibt hier Peter4 die „Fuckten“, wie er das nennt. Streng vergibt er Punkte für „Wärme“, „Funke“ und „persönliche Hygiene“. Tatsächlich. Auf den ersten Blick unterscheiden sich diese Reviews kaum von denen, die sich mit Zahnpasta, Pudding oder Staubsaugern beschäftigen. „Dialog: Was möchtest du? Ich: 1. 2. 3. 4. Sie: Kann ich, mach ich, krieg ich hin. Da kommt doch schon mal richtig gute Stimmung auf!“
- windhund „Anstelle des Fussballspiels Deutschland-Ecuador bin ich gerade mal in die Meglinger Str. gefahren. Eigentlich wollte ich zu meiner Alice. Also wieder geklingelt ...“
- Supermann27 Stephan Grünewald ist Psychologe und Mitbegründer des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold. Und ihm kommt angesichts dieser Bewertungen spontan erst mal der Begriff „Vorlust“ in den Sinn. Einem Autokauf zum Beispiel, sagt der Marktforscher, gingen manchmal Jahre akribischer Recherchen voraus. „In der Flirtphase holt sich der Mann in solchen Produktberichten Appetit auf mehr“, erklärt er. Langsam nähere sich der Frischverliebte dann dem Objekt seiner Begierde. Wenn er den Wagen das erste Mal „besteigt“, würde er sich häufig wünschen, dabei ungestört zu bleiben. „Sie bat mich dann in ihr Schlafzimmer, ging selbst ins Bad und kam dann nach kurzer Zeit splitterfasernackt rein, nur mit Overnees an ihren hübschen Beinen.
Also ihr Anblick verschlägt einem schon die Sprache, sie hat wirklich einen makellosen Körper, mit ein paar tollen Brüsten. Sie sind natürlich gemacht, aber das sehr gut!“
- Likker666 Und damit enden laut Grünewald die Parallelen zum Liebesspiel noch lange nicht: „Die ganze Suche vor dem Kauf ist oft verheißungsvoller als der eigentliche Kaufakt“, sagt der gelernte Psychologe. Danach käme bei den Männern fast so etwas wie eine „postkoitale Depression“ auf. Das Gute an den Foren: Hier können sie beim Schreiben der Bewertung das ganze Vergnügen noch einmal Revue passieren lassen. Geiz ist Geil „Ich hab sie gefragt, ob für 50 EUR auch ZK dabei ist... und sie meinte ja (ich war voll erstaunt, da ich das für diesen Preis noch nie erlebt hatte) war mir auch nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hatte.“
–Supermann27 Ob Zahnpasta oder Digitalkameras: Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist ein Dauerthema, natürlich auch im Lusthaus. Die Männer warnen vor falschen Versprechungen und zeigen sich gern als Connaisseure. Jedes technische Detail wird kommentiert, mit Fachbegriffen und Abkürzungen nur so um sich geworfen. „Angebot: 60=90; ZK+10, FT+20, AV+50“
– Peter4 Da wünschte man sich ein Glossar am Rande. Und die „Fuckten“? Die werden natürlich kritisch nachgeprüft. Stimmen Größe, Maße, Alter und Gewicht? Kleinlich gleichen die Männer die Angaben auf der Website ab, notieren, ob die Damen auch alles ordentlich saubergewischt haben und die Zeiten korrekt eingehalten wurden. Der Ton liegt dabei irgendwo zwischen pedantisch, gernegroß oder verächtlich. Auf jeden Fall gilt: zu mäkeln gibt es eigentlich immer etwas. „Das machte sie ganz gut, allerdings war es ohne große Raffinesse - mir etwas zu eintönig.“
-vino „Nach allem, was man so liest, kann man bei Escorts in der Preisklasse nichts anderes erwarten als junge Muttis, die versuchen, ihre Stunde schadlos, aber korrekt über die Runden zu bringen.“
– Peter4 „Es begann ein längeres gegenseitiges Streicheln und Küssen, dabei zeigt Stella keinerlei Berührungsängste, die ZK (Zungenküsse) sind eher zärtlich als leidenschaftlich und man merkt leicht, dass Stella Raucherin ist.“
- vino „Polly ist wirklich sehr zierlich. Aber sie sieht deutlich älter aus. Ich hätte sie auf 25-28 geschätzt. Sie ist wirklich süß, aber eher passiv, und war zumindest an dem Abend nicht wirklich leidenschaftlich.“
- jaegameista Seite 2: Konsumieren in der Wegwerfgesellschaft Konsumieren in der Wegwerfgesellschaft Die Massenkonsumgesellschaft, so lautet eine bekannte Klage, habe dem modernen Menschen beigebracht, auch seine Nächsten immer mehr wie Konsumprodukte zu behandeln. Die Testberichte lesen sich tatsächlich wie ein perfekter Beleg für diese These. So sieht sie aus, die wahre Konsumentensouveränität. Ab jetzt wird nicht mehr gemogelt, meine Damen! Die Männer sitzen – dem Internet sei es gedankt – endlich auch hier am längeren Hebel. „Man darf sich nicht von der warenförmigen Rhetorik blenden lassen, mit der hier sexuelle Dienstleistungen beurteilt und weitergegeben werden“, sagt Clement Ulrich. Er ist Paartherapeut und Professor für Psychologie in Heidelberg. Die Rhetorik habe sogar eine gewisse Berechtigung. „Schließlich wird hier ein Service gemietet und nicht um eine romantische Begegnung geworben.“ Auch Grünewald sieht die Deals weitaus gelassener, als es die „übliche intellektuelle Konsumkritik“ vielleicht nahe legen würde. „Der Mensch ist ja ein Mängelwesen“, erklärt er. „Ständig bekommt er vorgeführt, wie unvollkommen er ist, wie zerbrechlich alles ist und unberechenbar. Ganz besonders, wenn ein anderer Mensch beteiligt ist.“ Gute Produkte funktionierten daher wie Prothesen, oder wie Fluchtmöglichkeiten vor den ständigen Demütigungen des Alltags. Ein schnelles Auto hilft, die Potenz zu steigern. Ein iPad vermittelt das Gefühl, mit einem Fingerzeig die Welt zu beherrschen. Und eine professionelle Escortdame? „Die will zumindest keine Beziehungsgespräche führen und hat auch nie Migräne.“ Illusion zu verkaufen So taucht in den Beschreibungen immer wieder ein Begriff auf: GFS. Gemeint ist: Girlfriendsex. Die Escortdamen geben den Männern für die bezahlten Stunden nicht nur Sex nach Wunsch, sondern zugleich auch das Gefühl, ein perfektes Date zu erleben. Die Frauen sollen leidenschaftlich küssen, lieb lächeln und alles genau so machen, wie es sich der Kunde vorstellt. „Beim 2. Mal werde ich mit intensiven Küssen begrüßt, sie weiß noch Details vom ersten Mal, es ist wie zuhause bei der Geliebten aufschlagen, Wahnsinn, so was gibt's auch noch in diesem Gewerbe.“
- windhund „Die Konsumgesellschaft setzt Umstrukturierungen in der Psyche in Gang, denen man nicht mit moralischen Anforderungen entgegentreten kann“, klagte der bekannte Liebesexperte Wolfgang Schmidbauer in einem Interview mit dem ZEITmagazin. Und die Konzentration aufs Geld lasse wichtige soziale Fähigkeiten verkümmern. Doch wer allzu reflexartig auf das Wort „Konsum“ reagiere, der denke zu kurz. Das findet zumindest die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Annemarie Opp. In ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich mit der Literatur rund um „Liebe und Konsum“. Und sie verweist auf eine interessante Parallele: So wie heute das Einkaufen verpönt sei, so habe man früher auch über Paare gedacht, die zusammen gelesen hätten. „Romane sind verderblich!“, warnten im 18. Jahrhundert die Mediziner. Und heute mache man eben gerne den Konsum dafür verantwortlich, dass es im Zwischenmenschlichen so oft Probleme gebe. Bewiesen habe diese Zusammenhänge aber noch niemand. „Dafür ist das doch auch viel zu komplex“, sagt sie. Opp hat auch eine Erklärung dafür, warum das romantische Liebesideal so voller Konkurrenzgefühle auf das Thema Geld und Konsum reagiere. „In der romantischen Liebe geht es um Exklusivität, den geliebten Anderen, und sonst gar nichts.“ Konsum hingegen impliziere, dass man sich sein Glück auch kaufen könne. Er stünde zugleich für eine ständige Ersetzbarkeit. Was nicht mehr gefällt, wird eben weggeworfen. Opp findet zudem, dass Liebe und Konsum viel verwandter seien, als man auf den ersten Blick denken würde. „Wie die romantische Liebe ist der Konsum oft schwärmerisch, fetischisierend, sprengt gerne Grenzen.“ Sie verweist auf eine Studie amerikanischer Wissenschaftler. Sie haben Menschen ins Gehirn geguckt, die von sich behaupteten, dass sie ihr iPhone lieben. „Bei ihnen waren die gleichen Hirnregionen aktiviert wie bei Menschen, die in ein Wesen aus Fleisch und Blut verliebt sind.“ Und Grünewald sagt: „Den Begriff Auto-Erotik dürfen Sie auch gerne einmal wortwörtlich nehmen.“ Seite 3: Hausmannsprosa Hausmannsprosa Auch sprachlich haben die Testberichte allerhand interessante Muster aufzuweisen. Viele Männer ufern regelrecht aus in ihrer Urteilsprosa. Man fragt sich fast, ob die Frauen nur besucht werden, um später lang und breit davon berichten zu dürfen. „Einen kleinen Moment noch, komme gleich“ antwortet mir eine sanfte, ruhig und bedächtig wirkende weibliche Stimme. Julia, „aus dem schönen Osten Deutschlands“, spricht akzent- und nahezu dialektfrei und scheint ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Bedachtsamkeit, Gewissenhaftigkeit, Besonnenheit, Gelassenheit."
– strizel44 Dabei tauchen immer wieder die gleichen Erzählmuster auf, fast im Stile einer Heldenreise: Wie sich der Mann auf fremdes Terrain hervorwagt, wie dann die Tür geöffnet wird und er die Frau das erste Mal betrachtet, wie er es dann schafft, die Frau zu „knacken“ und vielleicht noch ein zweites Mal herauszuschlagen, bis hin zum abschließenden Kuscheln und Verabschieden. Die Literaturwissenschaftlerin will lieber nicht von einer eigenen Textform sprechen. Für Opp drängt sich eher ein anderer Vergleich auf. „Das ist Erlebnistourismus“, sagt sie. „Da wird vor allem eine Fantasie verkauft.“ Verborgene Gefühle „Das Hauptprogramm (OV, GV) war guter Durchschnitt, was mein Erlebnis mit Stella trotzdem zu etwas besonderem werden ließ, war ihr Verhalten, ihre Zärtlichkeit, die Nähe, die sie mich spüren ließ, vor zwischen und nach dem eigentlichen Akt.“
– vino „Nach Abschluss fragt sie mich, ob ich sie denn wieder besuche, wenn sie wieder in München ist? Ungefragt meint sie doch glatt, es hätte ihr mit mir sehr gut gefallen. Jetzt bin ich aber buff. Schade dass ich davon nichts gemerkt habe.“
– strizel44 „Wir quatschten noch ein bißchen und sie machte mich nochmal sauber. Dabei erzählte sie mir, dass ich sie fast zum Höhepunkt gebracht hätte.“
-tivoglio Bei vielen Männern schwingt die Hoffnung mit, dass die Frau sie insgeheim ja doch gemocht hätte, dass es ausgerechnet mit ihnen etwas Besonderes gewesen sei. Wie bei einer echten Freundin eben. Auch Clement Ulrich entdeckt unter der Oberfläche der Käuflichkeit noch eine ganz andere Dynamik. „Mit der scheinbar selbstbewussten Verbraucherhaltung werden auch bedürftige Gefühle verborgen: der Wunsch, angenommen zu werden, eine freundliche Resonanz auf das eigene Begehren zu bekommen, für die körperliche Zuwendung nichts beweisen zu müssen.“ Ulrich findet das sehr menschlich. „Als ich dann fertig war dachte ich schon ich müsse mich jetzt anziehen, und das wars schon... sie fragte „Schon fertig?“ Ich: „Ich ähhm nein“ und dann gab es noch eine exczelente Kuschel und Knutschrunde mit ihre.... sowas von lieb und geil die Kleine.“
-Supermann27 Grünewald erinnert sich an eine Studie, die sein Institut einmal zu Tamagotchis gemacht hat: Diese Spielzeugtierchen, die vorgaben, echte Lebewesen zu sein und liebevoll gepflegt werden wollten. Damals waren die Eltern regelrecht entsetzt, dass ihre Kinder die Viecher gnadenlos verhungern ließen. „Dabei haben die Kinder einfach viel besser verstanden als sie, dass die Tiere nicht echt waren, und es reizte sie eben, die Logik der Maschine zu kapieren“, sagt Grünewald. Wie bei den Kindern dürfte man umgekehrt auch bei den Männern davon ausgehen, dass sie wissen, dass es sich bei den Frauen nicht um Maschinen handelt. Und dass dieser Kaufakt nur eine Ersatzhandlung ist – eine „Prothese“, wie Grünwald sagen würde – für etwas, was eigentlich auch da sein könnte, aber aus dem einen oder anderen Grunde gerade nicht verfügbar ist. Vielleicht nennt man es nicht gleich Liebe, aber zumindest – Zuneigung? „Interessant ist vor allem, dass der virtuelle Dialog nicht mit den Frauen stattfindet, sondern dass sich hier ein Mann an Männer wendet“, sagt Ulrich Clement. „Die Frau wird kommunikativ weitergegeben, und so wird das, was möglicherweise an emotionaler Berührung und Kontakt mit der eigenen Bedürftigkeit stattgefunden haben könnte, abgeschlossen, indem es veröffentlicht wird.“ Geld oder Liebe. In den nächsten Wochen widmet sich Cicero Online in einer kleine Serie dem Zusammenhang von Geld und Liebe. Tina Klopp geht dabei unter anderem der Frage nach, welche Rolle Geld bei der Liebe in anderen Kulturen spielt, was die Marktforschung über das Konsumverhalten von Paaren herausgefunden hat oder wie die Chancen für reiche Frauen stehen, sich im Internet einen schönen, jungen Mann zu angeln. Geld oder Liebe? Es ist ein vertracktes Verhältnis, die Zusammenhänge sind viel komplexer, als es auf den ersten Blick scheint!
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Zum Jahreswechsel zeigen wir Ihnen noch einmal die erfolgreichsten Artikel aus dem Jahr 2012. Im April:
Es gibt Portale, auf denen werden Konsumprodukte bewertet. Es gibt sogar Seiten, auf denen Männer ihre Treffen mit Escortdamen bewerten. Ein Marktforscher, eine Literaturwissenschaftlerin und ein Sexualtherapeut haben sich die Testberichte genauer angeschaut. Teil 3 der Serie "Geld oder Liebe"
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kultur
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2012-04-05T16:14:44+0200
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https://www.cicero.de//kultur/stiftung-hurentest/48880
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Wahl zur Kulturhauptstadt - Drei für Europa
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Im Jahr 2025 wird Deutschland – neben Slowenien – ein weiteres Mal eine Kulturhauptstadt Europas stellen. Mit Chemnitz, Dresden und Zittau haben sich gleich drei sächsische Städte um den Titel beworben. Bis im Herbst 2020 die Kultusministerkonferenz zusammen mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien den eigentlichen Sieger küren wird, gibt es in den drei Städten noch viel Arbeit. Im Gespräch erklären die Bewerbungsverantwortlichen Ferenc Csák (Chemnitz), Kai Grebasch (Zittau) und Michael Schindhelm (Dresden) den jeweiligen Fahrplan zum ersehnten Ziel. EINBLICKE: Seit dem Jahr 1985 ernennt die Europäische Union jährlich eine neue „Europäische Kulturhauptstadt“. Dieser Titel scheint unverändert attraktiv zu sein. Was hat Ihre Stadt jeweils zur Bewerbung für das Jahr 2025 inspiriert?
KAI GREBASCH: Wir haben in der gesamten Neißeregion einschließlich unserer polnischen Nachbarn sehr viel Kraft aus der letztlich nicht erfolgreichen Görlitzer Bewerbung 2010 gezogen. Die Idee, eine solche Bewerbung nochmals anzustreben, kam vom Görlitzer Landrat Bernd Lange. Eine Stadt, nicht noch einmal Görlitz, sollte für die Region vorangehen. So hat der Landrat unseren kulturell sehr engagierten Oberbürgermeister Thomas Zenker gefragt, ob er sich das vorstellen könne. FERENC CSÁK: Als ich im Sommer 2015 als Leiter des Kulturbetriebes nach Chemnitz kam, hatten mehrere Kultureinrichtungen und die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig Gespräche über eine Kulturhauptstadtbewerbung längst angestoßen. Wegen meiner Erfahrun-gen mit Pécs 2010 wurde ich dann um meine Meinung gefragt. Ich denke, jede Stadt sollte sich gut überlegen, welche Ziele sie sich mit solchen Bewerbungen setzt. Die Kulturhauptstadtbewerbung von Chemnitz entwickelt sich zum Katalysator für Stadtentwicklungsprozesse der nächsten zwei Jahrzehnte. Unsere Arbeit ist inspirierend und nachhaltig. MICHAEL SCHINDHELM: Als ich das Mandat als Kurator für Dresden übernahm, haben mich viele in Unkenntnis gefragt, wieso Dresden nicht ohnehin Kulturhauptstadt sei. Es gibt historisch gewachsene Städte, die diesen Rang haben, und wahrscheinlich würde man Dresden hier auch einordnen wollen. Deshalb meinen viele wiederum, Dresden hätte geringe Chancen, weil die Stadt in den Augen der Jury schon alles habe. Und so hätte man es in Dresden womöglich auch gesehen, wenn sich gesellschaftliche Konflikte nicht gerade hier zugespitzt hätten, Stichwort Pegida. Hinzu kommt der Imageschaden durch den Verlust des Welterbetitels nach dem Bau der umstrittenen Waldschlösschenbrücke. Deshalb hat sich der Stadtrat relativ früh für eine Bewerbung 2025 entschieden. In diesem Kontext würde ich gern eine steile These vortragen, der Sie widersprechen dürfen: Haben nicht alle drei Städte ein Trauma zu kompensieren und erhoffen Heilung durch den Kulturhauptstadt-Prozess?
CSÁK: Chemnitz galt und gilt als die Stadt der Brüche, gesellschaftlich und industriell. Die vergangenen 28 Jahre seit der Wende erlauben aber eine komplett neue Perspektive für die Stadt. SCHINDHELM: Das Ruhrgebiet ist auch – eine Region, die der Heilung bedurfte. Es gab – etwa bei Essen 2010 oder bei Weimar 1999 – ein Narrativ, nach dem Kultur eine mögliche Form der Neuentwicklung von Städten im postindustriellen Zeitalter sein könne. Kultur sei demnach die neue Energieressource der Städte. Wir sind aber jetzt in einer anderen Phase. In den vergangenen 25, 30 Jahren haben viele Städte von Glasgow bis Herrmannstadt den Kulturhauptstadttitel benutzt, um ihre Hardware upzugraden und um in ihre kulturelle Infrastruktur zu investieren. Heute prägt Zerrissenheit den Kontinent, die Spaltung in ein Lager, das Zukunft in einer offenen Gesellschaft will, und in ein anderes, das in die Vergangenheit schaut und Abgrenzung fordert. Auch hier im Osten stehen wir in dieser Entwicklung. Es geht also um Investitionen in Menschen, in die Gesellschaft. Wie halten wir eine Gesellschaft zusammen, die zunehmend auf Grenzen setzt?
GREBASCH: Die Oberlausitz bietet ein gutes Beispiel für viele ländliche Räume in Europa. Aus der Perspektive der großen Städte sind wir an den Rand gerückt. Die Leute nehmen das auch so wahr: Niedergang, Abwanderung, demografischer Wandel, ein politischer Rechtsruck. Das ist ein Problem für die Dynamik in einer solchen Region. Wir müssen Identität schaffen, das Gefühl geben, dass man nicht zu den Verlierern gehört; auch, dass Nachbarschaft nicht nur wirtschaftliche Konkurrenz zu Polen oder Tschechien bedeutet. Insofern ergibt die Kulturhauptstadtbewerbung allein schon dadurch einen Sinn, dass wir als Region gemeinsam ein Thema angehen. CSÁK: Der Wirtschaftsregion Sachsen-Chemnitz-Zwickau ging es immer gut, wenn sie in der Familie Europa zu Hause war. Das gilt auch für Zuwanderung. Ich beobachte wie Herr Schindhelm auch verschiedene Phasen der Kulturhauptstadtbewerbungen. Aber eigentlich hat es das Programm Kulturhauptstadt Europas in 40 Jahren immer wieder geschafft, Kulturpolitik als
Gesellschaftspolitik zu verstehen. Stadtkultur versteht sich also als Labor für die großen kulturellen Fragen?
CSÁK: Die Zeiten sind vorbei, in denen man von der Bundes- oder der Landesebene maßgebliche Ziele und Strategien erwarten sollte. In der Kommune, in der Region sollten Zukunftsperspektiven aufgezeigt werden. Darin scheinen Sie übereinzustimmen, aber daraus erwächst auch eine innersächsische Konkurrenzsituation. Stehen Chemnitz, Dresden und Zittau mit der Bewerbung also gegeneinander?
GREBASCH: Ich sehe keine echte Konkurrenz und würde treffender von einem Wettbewerb sprechen. Die Programme, mit denen wir ins Rennen gehen, sind sehr unterschiedlich und regionalbezogen, und wir verschaffen uns keinen Vorteil, indem wir andere schlecht machen. CSÁK: Wichtig ist, aus Görlitz 2010 die Lehre zu ziehen, dass die Lichter nicht einfach ausgehen, sollte man den Titel nicht bekommen. Auch die Jury verlangt einen Plan B für den Fall der Nichtnominierung, erwartet, dass die Landesregierungen die Bewerbungsleistungen finanziell anerkennen. Dafür sollten wir gemeinsam gegenüber der Landes- und Bundesregierung eintreten. „Es hat sich auf jeden Fall gelohnt“, haben Sie, Kai Grebasch, damals gesagt, als Görlitz Essen den Vortritt lassen musste.
GREBASCH: Wir haben leider die Kulturhauptstadtidee nicht über Görlitz hinaustragen können; wir waren zu klein und auf uns bezogen. Das wollen wir mit dem Schritt in die Region jetzt anders machen. Bei uns kann man europäische Musterlösungen studieren: das alltägliche Leben mit den östlichen Nachbarn, das Leben in einer geteilten Stadt wie Görlitz, das Leben mit Minderheiten wie den Sorben. Dresden bildet die natürliche Dominante. Herr Schindhelm, wie sehen Sie Ihre Mitbewerber?
SCHINDHELM: Ich sehe schon einen sportlichen Wettbewerb. Brüssel möchte von den Bewerbern nachhaltige Konzepte sehen, doch werden die Jurymitglieder zu diesem Zeitpunkt der Bewerbung nicht in den einzelnen Städten vorbeikommen. Das ist ein Problem, und so kommen Fehlentscheidungen wie die italienische Stadt Matera zustande, die im kommenden Jahr den Titel tragen wird und die die meisten Pläne nicht umgesetzt hat. Außerdem wissen wir nicht einmal, ob es die EU 2025 noch gibt – eine bizarre Situation. Deshalb halte ich den Plan B fast noch für wichtiger. Es geht um das, was wir ohnehin tun müssen. Die Bewerbung ist nur ein Instrument, diese Hausaufgaben anzugehen. Dabei sollten wir die gemeinsamen Schnittmengen betonen. CSÁK: Einspruch! Ich beobachte schon eine größere Sorgfalt der Jury bei der Titelvergabe. Man möchte für die Stadtgesellschaft relevante Projekte sehen. Ungeachtet der Titelvergabe – kann der Bewerbungsprozess schon zu dieser notwendigen Verständigung auf unsere kulturellen Grundlagen beitragen? Von einem neuen Kulturbegriff sprechen auch kleine Zentren der kulturellen Basis, die im Zuge der Kulturhauptstadtbewerbung verstärkt ans Licht drängen.
SCHINDHELM: Die Zukunft wird durch Technologie und Migration zu radikaleren Veränderungen unserer Städte führen. Wir müssen mit der nächsten Generation gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das Nichtwestliche, Nichtchristliche, möglicherweise auch Nichtdemokratische einbeziehen und damit umgehen. CSÁK: Europa hat ein Jahrzehnt verschlafen, in dem antidemokratische Kräfte die neue geopolitische Lage dominieren, finanziert von Ländern außerhalb Europas, aber auch nach Europa hineinwirkend. Es wird Aufgabe der Kommunen sein, die ja größtenteils Träger der kulturellen Infrastruktur sind, dem etwas entgegenzusetzen. Und natürlich hat eine Kulturhauptstadtbewerbung immer einen Horizont von zwei Jahrzehnten, und der Erfolg zeigt sich oft erst nach den Jahren, in denen die Veranstaltungen stattgefunden haben. GREBASCH: Ich will nicht von der Oberlausitz auf die große Weltpolitik schließen oder glauben, dass wir auf sie Einfluss nehmen können. Ich bemerke aber, dass offene Grenzen einigen Angst machen, obschon sie uns eigentlich helfen. Die jüngsten Kommunalwahlen in Polen und Tschechien nähren wiederum Hoffnung, dass Nationalisten nicht die Oberhand gewinnen. Erfreulicherweise verschiebt sich eine Wahrnehmung. Nicht das 130 Kilometer entfernte Dresden gilt als die nächste Großstadt, sondern das früher schon einmal vertrautere Liberec. Das Marseille-erfahrene Jurymitglied Ulrich Fuchs hat gesagt, die Rolle der Kultur werde bei der Lösung der dringenden Zeitfragen überschätzt.
SCHINDHELM: Das halte ich bei aller Wertschätzung für Quatsch. Kultur ist wichtiger geworden, das kann man überall beobachten. Sie stiftet gerade dort Identität, Zusammenhalt und Kommunikation mit dem Fremden, wo die Politik versagt. Bei uns wird sie auch als ein Instrument der Partizipation und des Widerspruchs in der Demokratie gebraucht. Stichwort Partizipation. In Dresden haben sich von Anfang an freie Künstler, Initiativen und die Soziokultur gemeldet und gesagt: Nicht ohne uns! Gibt es in Zittau oder Chemnitz überhaupt eine vergleichbare Spannung zwischen sogenannter Hoch- und Basiskultur?
CSÁK: Wir sind bei einem breiten Kulturbegriff angelangt, der die Kleingärten ebenso einbezieht wie unsere großen städtischen Kunstsammlungen. Das hilft auch der Freien Szene, und Chemnitz ist da beispielhaft mit einem Anteil von fünf Prozent der Kulturausgaben. Nicht die Intendanten und Leiter der großen Kultureinrichtungen haben sich ein Programm für die Bewerbung überlegt, sondern alle haben dazu einen offenen Zugang. GREBASCH: Den Titel bekäme auch bei uns nicht das Gerhart-Hauptmann-Theater, sondern das Kulturleben einer ganzen Region. Wir brauchen die Menschen dafür. Einige können leider nur zum geringen Teil etwas mit diesem Titel anfangen und reden dann prompt zuerst von dem, was sie für Hochkultur halten. Da müssen wir aufklären und ein Bewusstsein für die Chancen schaffen. CSÁK: Eine Kulturhauptstadtbewerbung bietet auch der Verwaltung eine riesige Spielwiese, neue Förderinstrumente zu erfinden. Bei uns sind es die mit bis zu 2500 Euro unterstützten „Mikroprojekte“ des kulturellen Zusammenlebens. Die Stadtverwaltung insgesamt ist zur Reflexion über ihre Umgangsformen aufgerufen. Die Bewerbung ist eine Querschnittsaufgabe. Die Bewerbungskriterien tun in dieser Hinsicht auch weh und verlangen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Dazu gehören bei uns auch die Spuren der Vergangenheit von Industrie und Arbeit. Wie schätzen Sie die Resonanz in der Einwohnerschaft ein? In Dresden begann es mit einer Postkartenaktion, in die sogar der Fußballklub Dynamo Dresden einbezogen war.
CSÁK: Ich kenne keine Kulturhauptstadtbewerbung, bei der sich bereits am Anfang des Prozesses spontan 100 000 Leute versammelt hätten. Das ist zunächst eigentlich immer eine Sache der Avantgarde. Auch mit Kampagnen und Basisarbeit wird man erfahrungsgemäß etwa die Hälfte der Einwohner nicht erreichen. Bei manchen fällt erst nach dem Titeljahr der sprichwörtliche Groschen. Aber immerhin hat eine Umfrage in Chemnitz kürzlich gezeigt, dass Dreiviertel der Einwohner wissen, dass wir uns bewerben. GREBASCH: Der Weg ist das Ziel. Und da wollen wir möglichst viele mitnehmen. Immerhin gibt es bei uns als einziger Stadt im Mai 2019 einen Bürgerentscheid darüber, ob wir uns im Herbst wirklich bewerben wollen. CSÁK: Das ist mutig! Aber man braucht auch eine greifbare Mehrheit. Wie fühlen Sie sich mit Ihren kleinen Stäben? Nur als Provisorium angesichts der Erfolgsaussichten?
GREBASCH: Für die gegenwärtige Phase sind in Zittau erst einmal drei Stellen in einer städtischen Gesellschaft geschaffen worden. Der Vorteil des Bürgerentscheids überwiegt das Risiko. Wir werden ohne Frage über das nicht allzu ausgeprägte „kulturelle Grundrauschen“ hinaus Menschen mobilisieren. Solche Impulse für gemeinsame Ziele brauchen Zittau und die Oberlausitz sowieso, und falls es nicht für den Titel reichen sollte, werden wir das Angestoßene weiterführen. CSÁK: Solch eine Bewerbung muss in jedem Fall gelebt werden, ins Blut gehen, damit muss man aufstehen und zu Bett gehen. Denn ich teile die Meinung von vielen Experten nicht, dass wegen des Ost-West-Prozesses nach Essen nun wieder eine ostdeutsche Stadt den Titel erhalten müsste. Man hat in der Bewerbungsphase die Chance, einen Traum zu leben, und das mit wunderbaren Leuten. Aber das ist auch ein Weg, den wir mit der Taschenlampe gehen. Wir wissen heute nicht, wo wir in zwei Jahren herauskommen werden. Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Einblicke“ von Cicero und Monopol.
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Michael Bartsch
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Der Weg zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 ist lang. Die drei Bewerbungsverantwortlichen erklären im Interview Motive, Wegmarken und Ziele
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"Kulturhauptstadt",
"Chemnitz",
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"Zittau",
"Kultur"
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kultur
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2019-02-24T20:10:50+0100
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2019-02-24T20:10:50+0100
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https://www.cicero.de//kultur/wahl-zur-kulturhauptstadt-drei-fuer-europa-sachsen-dresden-chemnitz-zittau-kultur
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J. Spahn, L. Reisner, J.M. Scherf im Gespräch mit A. Marguier - Cicero Podcast Politik: „Die Zeit für Formelkompromisse in der Migrationspolitik ist vorbei!“
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Die Migration bleibt eines der brisantesten und umstrittensten Themen in der deutschen Politik. Nach der ersten großen Flüchtlingswelle der Jahre 2015/2016 hieß es von der damaligen Kanzlerin Angela Merkel, eine solche Situation dürfe sich nicht wiederholen. Doch in den vergangenen zwei Jahren ist es eben doch wieder passiert: Hunderttausende Asylsuchende sind nach Deutschland gekommen, die meisten von ihnen werden wohl für immer hier bleiben. Und der Anteil an Menschen, die kein Anrecht auf Schutz in der Bundesrepublik haben, ist unverändert hoch. Inzwischen steuert die Ampelkoalition gegen, es gibt Grenzkontrollen oder mitunter auch Bezahlkarten statt Bargeld für die Migranten. Und der Bundeskanzler will, wie er selbst sagt, massenhaft abschieben. Trotzdem ist die gesellschaftliche Situation angespannt, die Debatte teilweise vergiftet. Wie kommen wir da wieder raus? Sind die Grenzen der Integrationsfähigkeit längst überschritten? Oder können und sollten wir noch viel mehr Menschen aufnehmen? Darüber spricht Chefredakteur Alexander Marguier in der neuen Ausgabe des „Cicero Hard Talk“ mit Jens Spahn, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und früherer Bundesgesundheitsminister. Spahn sagt, die Migration sei eine Existenzfrage für unsere Demokratie und, Zitat: „Die Zeit für Formelkompromisse ist vorbei!“ Auch mit dabei ist Lea Reisner von der Linkspartei. Sie kandidiert für das Europaparlament, arbeitete von 2017 bis 2022 als Einsatzleiterin und Krankenschwester auf Seenotrettungsschiffen von Sea-Watch und anderen. Außerdem Reisner Ko-Autorin des Buches „Grenzenlose Gewalt – Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“. Ebenfalls zu Gast: Jens Marco Scherf, Landrat im unterfränkischen Miltenberg – womit er zu jenen Politikern gehört, die sich wirklich vor Ort mit der Migrationsproblematik auseinandersetzen müssen. Jens Marco Scherf sieht angesichts der schieren Flüchtlingszahlen kaum noch eine Möglichkeit, die ankommenden Menschen zu integrieren. Und kritisiert deshalb die Haltung seiner eigenen Partei – er gehört nämlich den Grünen an. Das Gespräch wurde am 23. Februar 2024 als „Cicero Hard Talk“ in den Studios von KiVVON aufgezeichnet. Sie können das dazugehörige Video hier anschauen oder auf KiVVON. Dort finden Sie auch alle bisher erschienenen „Cicero Hard Talk“-Folgen. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Alexander Marguier
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Im Cicero Podcast Politik spricht Alexander Marguier mit Mitglied des Bundestages Jens Spahn, CDU, der Seenotretterin Lea Reisner (Die Linke) und Landrat Jens Marco Scherf (Bündnis 90/Die Grünen) über eines der dringlichsten Themen zur Zeit: die Flüchtlingspolitik.
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"Podcast",
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"Flüchtlingskrise"
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2024-02-29T09:17:50+0100
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2024-02-29T09:17:50+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/jens-spahn-lea-reisner-jens-marco-scherf-podcast-alexander-marguier-fluechtlingspolitik
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Trump, Iran und Israel - Deals mit dem Todfeind?
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Der Mann ist wirklich für Überraschungen gut. Erst der Erzfeind Nordkorea, jetzt der Iran. Mit seiner Ankündigung, ohne Vorbedingungen Gespräche mit der iranischen Führung aufzunehmen, verblüfft US-Präsident Donald Trump Freund und Feind. Sein Angebot kommt zu einer Zeit, in der sich die Probleme im Nahen Osten zuspitzen. Vor allem Israel ist davon betroffen. Kommt jetzt Bewegung in den festgefahrenen Konflikt? Die Zeiten scheinen sich zu ändern, auch in Israel selbst. Dazu passt eine Szene aus einem Hotel in Amman, der jordanischen Hauptstadt, die wie aus einem Politthriller anmutet: In einem Zimmer hat sich der stellvertretende Direktor des israelischen Geheimdienstes Mossad einquartiert, im Zimmer daneben der Botschafter des Todfeindes Iran. Beide sind von ihren Sicherheitsleuten umgeben. Und beide wollen sich nicht etwa gegenseitig an die Kehle, sondern sie verhandeln über eine neue Entwicklung. Ein jordanischer Mittelsmann überbringt wechselseitige Forderungen. Offenbar mit Erfolg. So geschehen am vergangenen Wochenende. Jedenfalls berichtet dies das saudische Internetportal Elaph bisher unwidersprochen. Auf Nachfrage von Cicero Online hieß es dazu aus israelischen Geheimdienstkreisen: „Wir möchten uns nicht äußern“. Ein Dementi ist das nicht. Ziel der Übereinkunft war es offenbar, iranische Einheiten aus den Kämpfen in unmittelbarer Nähe der israelischen Grenze herauszuhalten, Israel versprach dafür, ebenfalls nicht einzumarschieren. Inzwischen hat Syrien dort Fakten geschaffen. Syrische Truppen haben den letzten verbliebenen Außenposten des sogenannten Islamischen Staates (IS) auf den Golanhöhen eingenommen, eine kleine Ortschaft im Grenzdreieck zwischen Syrien, Israel und Jordanien. Damit haben Assads Truppen die Rückeroberung der östlichen Seite der Golanhöhen in der Provinz Kuneitra praktisch abgeschlossen. Nach sieben Jahren Bürgerkrieg und einer starken Präsenz von sunnitischen Widerstandsgruppen, neben dem IS Dutzende anderer, in dieser Grenzregion zu Israel ist jetzt die alte Ordnung mehr oder weniger wieder hergestellt – syrische Regierungstruppen im Osten, israelische im Westen der Golanhöhen. Die Frage ist nun: wie geht es weiter? Noch vor wenigen Tagen sah es nach einer dramatischen Eskalation aus. Eine junge Frau im Range eines Hauptmanns der israelischen Streitkräfte wurde als Heldin gefeiert. Unter ihrem Kommando schoss eine israelische Patriot-Rakete einen syrischen Jagdbomber auf den Golanhöhen ab. Dass er etwa zwei Kilometer weit in den sraelischen Luftraum eingedrungen war, wird inzwischen von beiden Seiten eher als Betriebsunfall angesehen. Die Maschine war buchstäblich über das Ziel hinausgeschossen. Der Angriff galt eigentlich der IS-Enklave auf syrischem Gebiet. Doch Israel ist nervös. Die Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse an seiner nordöstlichen Grenze löste erkennbar erhebliche Unruhe aus. Dabei werden nicht die syrischen Truppen als Bedrohung angesehen. In Wahrheit hatten sich Syrien und Israel nach einem Waffenstillstandsabkommen seit 1974 wechselseitig so eingerichtet, dass die Golanhöhen jahrzehntelang zu einem der ruhigsten Orte im ringsum brodelnden Nahost-Konflikt wurden. Es gab sogar Verhandlungen über die Rückgabe des Golan an das Assad-Regime. Auch seit Beginn des blutigen Bürgerkrieges in Syrien war klar, dass beide Seiten kein Interesse an einem neuen Krieg miteinander hatten. „Let them bleed – sollen sie sich doch gegenseitig umbringen“, fasste es der damalige israelische Verteidigungsminister Moshe Jaalon zusammen. Mit einer, allerdings entscheidenden Ausnahme: Der Iran nutzte die Gelegenheit, sich in Syrien festzusetzen, mit eigenen Milizen und vor allem ihren libanesischen Ziehkindern, der Hisbollah. Eine iranische Präsenz in Syrien unmittelbar an seinen Grenzen will die Regierung in Jerusalem aber unter keinen Umständen hinnehmen. Das zeigte sich auch erneut vor wenigen Tagen, als Russlands umtriebiger Außenminister Sergej Lawrow nach Jerusalem kam und gleich auch noch seinen Generalstabschef Waleri Gerassimow mitbrachte, offenbar auf der Suche nach einer Lösung für die Zeit nach der völligen Rückeroberung des syrischen Territoriums durch das von Russland massiv unterstützte Assad-Regime. Seine Botschaft: eine Zukunft ohne iranische Präsenz ist nicht realistisch. Bestenfalls könne man sich vorstellen, die Iraner auf einer Linie rund 100 Kilometer von der Grenze entfernt zu halten. Doch das stieß bei Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf erbitterten Widerstand. Er setzte dem die israelische Maximalposition entgegen: die Iraner müssten komplett aus Syrien verschwinden, vor allem dürfe es keine hoch entwickelten Luftabwehrsysteme geben. Das heißt: Israels Luftwaffe müsse ihre Lufthoheit über syrischem Gebiet behalten, wo sie praktisch seit Monaten immer wieder Angriffe auf iranische Ziele und Waffenlieferungen auch in den Libanon fliegt. Einen Kuhhandel wäre das, würde sich Israel auf den russischen Vorschlag einlassen. Denn, so Arye Shalicar aus dem israelischen Geheimdienstministerium gegenüber Cicero Online: „Wer will das kontrollieren?“. Und immer wieder geht es darum, die Hisbollah im Libanon einzudämmen, die inzwischen längst in Beirut mit in der Regierung sitzt und mit Hilfe des Iran zu einer mit zehntausenden von Raketen hochgerüsteten Militärmacht geworden ist, die Israel unmittelbar bedroht. „Die Hisbollah ist stärker als je zuvor“, stellt der Mann aus dem Geheimdienstministerium nüchtern fest. Teherans langer Arms streckt sich, aus Sicht Jerusalems, auch in den Gaza-Konflikt hinein. Dort versucht der militärische Flügel der Hamas seit Wochen mit allen Mitteln, den Leidensdruck der Bevölkerung in eine immer größere Spirale der Gewalt gegen Israel umzusetzen, mit Raketen, Mörserangriffen und Feuerballons, die israelische Siedlungen und Felder angreifen. „Eine Verzweiflungstat, die Hamas steht mit dem Rücken zur Wand“, analysiert Arye Shalicar die Lage. Israel macht dafür aber auch eine Koalition aus dem Iran, Katar und der Türkei verantwortlich. Shalicars Chef, Geheimdienstminister Israel Katz, will ein ganz großes Industrieprojekt für Gaza auf einer künstlichen Insel vor der Küste, um den verzweifelten Menschen eine Perspektive zu geben, bislang jedoch vergeblich. Der Druck wächst jedoch auch in Jerusalem. Die israelische Politik ist gespalten, eine Reihe von rechten Politikern will eine harte Reaktion bis hin zum erneuten Einmarsch in Gaza. Dagegen ist vor allem der Sicherheitsapparat, also Militär und Geheimdienste, unter Führung von Generalstabschef Gadi Eizenkot. Ministerpräsident Netanjahu hält bisher aus diesem Konflikt heraus. „Ein Chaos bei der Reaktion“ rund um die beiden Konfliktherde nennt das Ron Ben Yishai, einer der der führenden Militärkorrespondenten Israels. Eine tiefe Verunsicherung ist zu spüren in Israel bei der Frage, wie der Staat der Juden mit den Herausforderungen an seinen Grenzen umgehen soll. Und mitten dort hinein platzt Donald Trump mit seinem Angebot für ein Treffen mit Israels Todfeind Iran – ganz ohne Vorbedingungen. Nach Trumps Aufkündigung des Atomdeals mit dem Iran und der spektakulären Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem glaubte man im Netanjahu-Lager, dass zwischen den US-Präsidenten und der israelischen Regierung kein Blatt Papier mehr passt. Jetzt könnte sich das ändern, in Jerusalem dürfte man den Atem anhalten. Nicht überraschend hat die Regierung in Teheran erst einmal Einwände erhoben und seinerseits Bedingungen für ein solches Treffen mit Trump gestellt. Aber völlig abgelehnt hat sie es nicht. Und ob das Angebot des US-Präsidenten nur eine spontane Idee war und per Twitter am nächsten Morgen wieder kassiert wird, ist höchst ungewiss. Sicher ist hingegen: Die lange festgefahrene Lage im Mittleren Osten ist in Bewegung geraten. Der Ausgang aber bleibt völlig offen.
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Werner Sonne
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Donald Trump platzt mit seinem Angebot für ein Treffen zwischen USA und Iran mitten hinein in die explosive Lage im Nahen Osten. Israel ist tief verunsichert darüber, wie es mit der Situation an seinen Grenzen umgehen soll. Und öffnet sich wohl selbst zaghaft für Verhandlungen mit dem Iran
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"Israel",
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außenpolitik
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2018-08-01T11:24:13+0200
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2018-08-01T11:24:13+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/israel-iran-donald-trump-syrien-naher-osten
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Nach dem Militärputsch - Lage im Niger weiter ungewiss
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Nach dem Militärputsch im westafrikanischen Niger bleibt die Lage am Freitag weiter ungewiss. Offiziere der Präsidentengarde hatten den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum am Mittwoch in seinem Palast festgesetzt und für entmachtet erklärt. Die Streitkräfte Nigers stellten sich am Donnerstag auf die Seite der rebellierenden Militärs. Die Putschisten warnten ausländische Staaten davor, militärisch einzugreifen. Auch Oppositionsparteien stellten sich nigrischen Medien zufolge hinter die Putschisten. Unklar blieb zunächst, welche und wie viele Parteien dahinterstanden. Die Verfasser riefen für Freitag zu Demonstrationen auf. Am Donnerstag hatten Unterstützer des Putsches bei Protesten unter anderem den Sitz der Präsidentenpartei in Niamey angegriffen. Das Innenministerium untersagte daraufhin alle Demonstrationen mit sofortiger Wirkung. Mit dem Militärputsch haben die europäischen Bemühungen um eine Stabilisierung der Sahelzone einen schweren Rückschlag erlitten. Scharfe Kritik am Vorgehen der Putschisten war aus Washington, von der UN, der EU, Frankreich, der Afrikanischen Union, der westafrikanischen Staatengemeinschaft Ecowas sowie von der Bundesregierung gekommen, die noch etwa 100 Soldaten in dem westafrikanischen Land stationiert und mehrfach Angebote zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit dem Militär gemacht hat. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sicherte ihrem nigrischen Amtskollegen Hassoumi Massoudou am Donnerstag telefonisch die „volle Unterstützung“ Deutschlands für die demokratische Entwicklung in dem westafrikanischen Land zu. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte auf Twitter, er habe am Donnerstagabend noch einmal mit dem festgesetzten Bazoum gesprochen. Die EU rief die Putschisten erneut zur sofortigen Freilassung des Präsidenten auf. Nach Militärputschen in Mali und Burkina Faso seit 2020 war der Niger das letzte der drei Nachbarländer in der Sahelzone, das von einer demokratisch gewählten Regierung geführt wurde. Erst Ende 2022 hatte die EU eine Militärmission im Niger beschlossen, um den Terrorismus in der Region zu bekämpfen. Der Niger ist in den vergangenen Jahren in den Mittelpunkt der westlichen Bemühungen gerückt, dem gewaltsamen Vormarsch der Dschihadisten in Westafrika und auch einem wachsenden militärischen Einfluss Russlands entgegenzuwirken. Das könnte Sie auch interessieren: Niger sei aufgrund seiner relativen Sicherheit und politischen Stabilität ein Ort der Hoffnung in der von islamistischem Terror geprägten Sahelzone gewesen, sagte Ibrahim Yahaya Ibrahim, ein politischer Analyst des afrikanischen Thinktanks Crisis Group. Der Putsch habe diese Hoffnung nun zerstört und werde die künftige Zusammenarbeit zwischen Ländern der Sahelzone und dem Westen erschweren, so Ibrahim. Wegen des Putsches sperrten die nigrischen Behörden den Luftraum sowie die Landesgrenzen. Die Vereinten Nationen haben aufgrund dessen ihre humanitären Hilfsprogramme im Niger aussetzen müssen. Der Niger mit seinen rund 26 Millionen Einwohnern ist eines der ärmsten Länder der Welt. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen belegte das Land in der Sahelzone zuletzt Platz 189 von 191. Mehr als 40 Prozent der Menschen leben in extremer Armut. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Nach einem Putsch im Niger bleibt die Lage im Land prekär. Rebellierende Militärs haben Präsident Mohamed Bazoum für entmachtet erklärt - und warnen ausländische Staaten davor, militärisch einzugreifen.
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außenpolitik
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2023-07-28T11:02:27+0200
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2023-07-28T11:02:27+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/nach-dem-militarputsch-lage-im-niger-weiter-ungewiss
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AfD-Chef ins Krankenhaus eingeliefert - Offene Fragen zu Chrupalla-Vorfall
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Ermittlungen ohne Verdächtige, eine Diagnose mit „Nadelstich“, aber ohne auffällige Blutproben: Nach dem Vorfall um AfD-Chef Tino Chrupalla bei einer Wahlkampfveranstaltung in Ingolstadt und einem Krankenhaus-Aufenthalt laufen die Ermittlungen auf Hochtouren, ein vorläufiger Arztbrief liefert erste Details zur medizinischen Untersuchung. Doch was hat den 48-Jährigen ins Krankenhaus gebracht? Was bisher zu dem Fall bekannt ist: Bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD wird Parteichef Tino Chrupalla ins Krankenhaus gebracht. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen nach ersten Ermittlungen auf Grundlage von Zeugenaussagen davon aus, dass es zu einem leichten Körperkontakt kommt, als mehrere Menschen mit Chrupalla Selfies machen. Später hat der AfD-Chef demnach Schmerzen im Oberarm und wird wegen weiterer Beschwerden ins Klinikum Ingolstadt gebracht. Dort wird er zeitweise intensivmedizinisch betreut. Laut einem vorläufigen Arztbrief verlässt er das Krankenhaus schließlich „nach unauffälligem Monitoring und in beschwerdefreien, gutem Allgemeinzustand“. Was zu den Gesundheitsbeschwerden des AfD-Parteichefs geführt hat, bleibt auch am Freitag zunächst unklar. Während Politiker der Partei wie die bayerische Landtagsfraktionschefin Katrin Ebner-Steiner von einem „Angriff“ sprechen, gibt es laut Staatsanwaltschaft nach ersten Zeugenvernehmungen „keinerlei Erkenntnisse“ dazu. „Die Beibringung einer Spritze oder einen körperlichen Angriff haben diese Zeugen nicht wahrgenommen“, heißt es in einer Mitteilung der Behörde vom Freitag. Unter den Zeugen sei auch Chrupalla selbst. Es werde aber weiter wegen des Anfangsverdachts einer Körperverletzung ermittelt. In einem vorläufigen Arztbrief, den Chrupallas Büro der Deutschen Presse-Agentur zur Einsicht zur Verfügung gestellt hat, ist sowohl von einer „intramuskulären Injektion“ als auch an anderer Stelle von einer „Infektion mit unklarer Substanz“ die Rede. Auch ein „Nadelstich“ am rechten Oberarm wird beim körperlichen Untersuchungsbefund erwähnt. Wie die Deutsche Presse-Agentur aus Ermittlerkreisen erfuhr, hat die Polizei inzwischen dazu auch den behandelnden Arzt befragt. Dem zufolge handelt es sich bei dem Wort um eine Beschreibung des Verletzungsbilds auf Grundlage von Chrupallas Angaben, nicht um eine tatsächliche Feststellung eines erfolgten Nadelstichs. Staatsanwaltschaft und Arztbrief zufolge waren die Untersuchungen des Bluts von Chrupalla sowohl im Krankenhaus als auch bei den Ermittlern unauffällig. Die kriminaltechnisch-toxikologische Untersuchung habe nur ergeben, dass der AfD-Chef Schmerzmittel „im therapeutischen Bereich“ aufgenommen habe. Diese könnten dem Arztbrief zufolge aber auf seine Behandlung im Krankenhaus zurückzuführen sein. Die bayerische AfD-Landtagsfraktionschefin Ebner-Steiner hat Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Freitag erneut vorgeworfen, nicht für einen angemessenen Schutz von Politikern ihrer Partei zu sorgen. Das hatte Herrmann schon am Donnerstag zurückgewiesen und die AfD im Gegenzug scharf kritisiert: Es sei erschreckend, „wie infam und hinterfotzig die AfD im Landtagswahlkampf versucht, aus den Vorfällen bei ihrer eigenen Klientel Kapital zu schlagen, ohne die Ermittlungen abzuwarten“. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mahnte am Freitag, es sollten keine „Verschwörungstheorien“ betrieben werden: „Die Demokratie braucht Wahrheit, braucht Aufrichtigkeit, braucht Redlichkeit.“ Nach Angaben der Staatsanwaltschaft stehen bei den Ermittlungen zu dem Vorfall weitere Zeugenaussagen aus. Zudem wird noch ein Ergebnis von der Untersuchung von Chrupallas Kleidung erwartet. Weitere Hinweise erhoffen sich die Ermittler demnach aus der Auswertung von Bildmaterial, das mutmaßliche Zeugen über ein Upload-Portal der Polizei zur Verfügung gestellt haben. Nach Angaben der AfD wird Chrupalla im Endspurt vor der bayerischen Landtagswahl am Sonntag nicht mehr im Freistaat auftreten. dpa
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Cicero-Redaktion
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Das Krankenhaus in Ingolstadt hat AfD-Chef Chrupalla inzwischen verlassen. Unterdessen tobt ein Kampf um die Deutungshoheit darüber, was dort zuvor bei einer Wahlkampfveranstaltung passiert sein könnte. Was bisher bekannt ist.
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"AfD",
"Tino Chrupalla"
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innenpolitik
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2023-10-06T16:17:09+0200
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2023-10-06T16:17:09+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/afd-chef-ins-krankenhaus-eingeliefert-tino-chrupalla-
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Große Koalition - Und was ist mit Merkel?
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Verglichen mit den vorherigen Europawahlen fiel die CDU/CSU von rund 35 Prozent auf rund 28 Prozent zurück, ihr Koalitionspartner SPD von rund 27 Prozent auf rund 15 Prozent. Diese Zahlen illustrieren kalt und klar das aktuelle Desaster der deutschen Regierung. Und was bewegt die deutschen Medien? Es wird geschwatzt über den jungen Webvideo-Produzenten Rezo, einen Social-Media-Rebell, der mit seinem Youtube-Auftritt die CDU/CSU zerstören wollte. Es wird geschwärmt von der Greta-Thunberg-Bewegung Fridays for Future, die zur Rettung des Weltklimas Panik säen möchte. Es wird gelästert über die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich mit einer Äußerung zur Reglementierung von digitalen Wahlkampagnen verstolperte. Es wird gehöhnt über die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, die nun zurücktreten musste. Ja, in den deutschen Medien ist dieser Tage allerhand los. Kein Begriff, kein Name wird ausgespart, der die Leser- und User-Seelen aufzuwühlen verspricht. Oder doch? Ein Begriff, ein Name fällt nicht in diesem medialen Getümmel um die Europawahlen: Angela Merkel, die Chefin der Regierung, kommt in der aufgeregten Debatte nicht vor. Die Inhaberin der politischen Richtlinienkompetenz ist kein Thema. Zwar lächelt sie selbstzufrieden über sämtliche Medienkanäle aus dem amerikanischen Harvard herüber. Die Elite-Universität hat sie mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Die geografische Distanz entspricht der medialen Ferne: Kein Blatt, kein Sender, keine Plattform zieht die Verliererin dieser Wahlen – die Verantwortliche für das katastrophale Resultat – zur Verantwortung. Man stelle sich die Regierung einer wachen Demokratie nach einer solchen Niederlage vor: Sie würde von den Journalisten der demokratischen Medien in Haftung genommen, auf die Bühne gezerrt, ätzenden Fragen ausgesetzt, schonungsloser Kritik unterzogen – dekonstruiert! Die Chefin oder der Chef einer solchen Regierung hätte den Wählern – vermittelt durch unbestechliche Journalisten – Tag und Nacht Rede und Antwort zu stehen. Wahltag ist Zahltag. In der Demokratie. Im demokratischen Deutschland mit dem modernsten freiheitlichen Grundgesetz der Welt jedoch machen die Journalisten einen ehrfürchtigen Bogen um die Bundeskanzlerin – und wenn sie sich ihr doch mal nähern, dann unter Bücklingen und nur, um sich so rasch wie möglich dienerhaft rückwärts zu entfernen. In der deutschen Demokratie ist alles zulässig, nur nicht Kritik an der Frau, die seit 14 Jahren regiert – und nun von ihren einstigen Wählern die Quittung für offensichtliche Fehlleistungen erhält: für eine irrlichternde Umweltpolitik, für eine fahrlässig abgetakelte Bundeswehr, für den Verzicht auf eine Europastrategie, für das Verschlafen digitaler Zukunftspläne – vor allem für das angerichtete Migrationschaos. Letzteres sollte man sich noch einmal gesondert vor Augen führen: Im Juli 2015, einen Monat vor der mutwilligen Grenzöffnung, standen CDU und CSU in der Wählergunst bei 42 Prozent, die Sozialdemokraten bei 25 Prozent – die rechtspopulistische AfD bei drei Prozent. Der deutsche Journalismus, einst bewundert als Bollwerk gegen jedwedes Begehren des Büttels und nie der Verehrung Mächtiger verdächtig, ist heute das, was man auf Englisch „embedded journalism“ nennt – eingebettet in die Riten und Regeln der Regierungsmacht. Im Bett. Dieser Text erschien zuerst im Schweizer „Blick“
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Frank A. Meyer
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Nach der Europawahl 2019 geht es in den Medien um den Rücktritt der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles, um den Youtuber Rezo und über Klimapolitik. Nur Angela Merkel, die Chefin der Regierung in Aufruhr, kommt in der Debatte nicht vor. Wie kann das sein?
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"große Koalition",
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innenpolitik
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2019-06-03T11:21:23+0200
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2019-06-03T11:21:23+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/grosse-koalition-angela-merkel-andrea-nahles-rezo-youtube-harvard
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Nahost - Der Siedlungsbau schadet Israel
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Dieser Artikel erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe des Cicero. Das Magazin für politische Kultur erhalten Sie am Kiosk oder direkt hier im Online-Shop. Elon Moreh liegt auf einem Hügel im nördlichen Teil der Westbank. Die Straßen sind gepflegt, die Vorgärten grün, die Dächer mit roten Ziegeln gedeckt. Elon Moreh sieht aus wie alle anderen jüdischen Siedlungen: auf Höhen gebaut, Präsenz ausstrahlend, sofort unterscheidbar von den palästinensischen Dörfern. Genau so haben es sich die Gründer der Siedlung, eine Gruppe messianischer Aktivisten, Mitte der siebziger Jahre auch vorgestellt. Mit Bedacht wählten sie sich als Bauplatz die Gegend nahe der palästinensischen Stadt Nablus, dem biblischen Schechem. Sie wollten zeigen, dass hier Geschichte reklamiert wird, um eine neue Zukunft zu bauen, die das palästinensische Leben verändert. Kein arabischer Staat soll mehr Platz zwischen Jordan und Mittelmeer haben. Genau deshalb wollte der damalige Premier Jitzchak Rabin verhindern, dass die Siedlung hier entsteht. Mehrfach besetzte die Siedlergruppe ein Stück Land; mehrfach wurde sie von der israelischen Armee vertrieben. Da die „Erstbesetzung“ auf privatem Land stattfand, verbot auch das israelische Oberste Gericht den Bau einer Ortschaft. 1980 jedoch, unter der Regierung des Likud-Politikers Menachem Begin, wurde das Plazet zum Bau der Siedlung Elon Moreh etwas nordöstlich der ursprünglich auserkorenen Stelle gegeben. Die Armee vertrieb keine Siedler mehr, sie schützte sie nun. Für die rechtlichen Fragen fand sich eine Antwort. Wie schon die jordanische Regierung, die die Westbank zwischen 1948 und 1967 besetzt hatte, berief sich auch Israel auf osmanisches Recht. Land, zu dem keine Titel vorlagen und das als „ungenutzt“ galt – ein dehnbarer Begriff, wenn man bedenkt, dass manche Felder oft aus landwirtschaftlichen oder ökonomischen Gründen brachliegen –, galt als „Sultansland“ oder, in der israelischen Interpretation, als „Staatsland“, nun unter Verwaltung Israels. Das Muster der Gründung von Elon Moreh wiederholte sich seither viele Male: Eine Gruppe wild Entschlossener besetzt ein Stück Land, wird von der Armee vertrieben, kommt immer wieder zurück. In Jerusalem beginnt eine inzwischen hervorragend organisierte Lobbyarbeit bei der Regierung. Irgendwann ist es geschafft: Die Wohnwagen werden abtransportiert, Häuser gebaut, „Sultansland“ und – wie eine Studie der israelischen Friedensbewegung „Peace Now“ zeigt – durchaus auch Privatland werden konfisziert. Auf Elon Moreh folgte Itamar südlich von Nablus, folgte schließlich Beit El nahe Ramallah in direkter Nähe zu den palästinensischen Ballungszentren. Was sich in Elon Moreh zeigt, erwies sich als das politisch dümmste, finanziell kostspieligste und nutzloseste Unterfangen, das sich Israel in den über sechs Jahrzehnten seiner Existenz geleistet hat. Der Siedlungsbau ist nicht das einzige Hindernis für den Frieden – aber es trägt doch erheblich dazu bei, dass die Gewalt kein Ende findet. Charakteristisch für die Debatte über die Siedlungen ist, dass sie sich fast ausschließlich an der Frage ihrer Völkerrechtswidrigkeit festmacht. Beginnen wir also hier. Grundlage ist ein durch die Vierte Genfer Konvention verbotener gewaltsamer Transfer eigener Bevölkerung in besetztes Land. Israel hingegen erachtet das Land in der Tat nicht als besetzt, sondern als „umstritten“, da es vor 1967 keine anerkannte souveräne Herrschaft in diesen Gebieten gegeben habe. Wichtiger aber als die Genfer Konvention oder gar die vom Völkerbund in San Remo 1920 festgelegte Entscheidung, dass Juden in allen Gebieten Palästinas siedeln dürften, ist der Uno-Teilungsplan von 1947. Schließlich legt dieser fest, dass im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina ein jüdischer und ein arabischer Staat entstehen sollten. Den jüdischen Staat haben die Vereinten Nationen ausdrücklich als solchen anerkannt. Er besitzt, anders als viele andere nach 1945 neu gegründete Staaten, ein völkerrechtlich einwandfreies Gütesiegel. Die Gründung eines arabischen, also palästinensischen Staates, ist die Auflage des Teilungsplans, die noch nicht erfüllt worden ist. Auch, weil die arabische Seite eine Teilung Palästinas bis 1988 ablehnte. Nicht weniger entscheidend als die völkerrechtlichen Fragen ist: Nicht die Siedlungen, sondern die ideologischen Siedler sind ein wesentliches Hindernis für den Frieden – und damit auch eine Gefahr für den jüdischen Staat. Weit über 500 000 Israelis leben außerhalb der Grenze von 1967 – etwa 200 000 in den von Israel einseitig erweiterten Stadtgrenzen von Jerusalem, über 300 000 in 102 „autorisierten“ Siedlungen und etwa 100 sogar von der israelischen Regierung als illegal bezeichneten „Außenposten“. Der Großteil der Siedler konzentriert sich auf einige wenige, inzwischen zu Kleinstädten herangewachsenen Ortschaften wie Ariel nordöstlich von Tel Aviv oder Siedlungsblöcke wie den sogenannten Gusch-Etzion-Block südlich von Jerusalem. Sowohl Ariel als auch der Gusch-Etzion-Block sollen laut der Genfer Initiative, einem Grundsatzpapier, auf das sich palästinensische und israelische Politiker 2003 einigten, Israel überlassen werden. Die Palästinenser würden dafür mit einem fairen Landaustausch entschädigt. Ein Großteil der Siedler befände sich dadurch nicht mehr auf dem Boden eines künftigen Staates Palästina. Ein weiterer, nicht geringer, Teil der Siedler ist nicht aus ideologischen Gründen in die Westbank gezogen, sondern wegen der billigen, weil vom israelischen Staat direkt und indirekt subventionierten Immobilienpreise. Sobald sie Ersatz bekämen, wären sie bereit, in das Kernland Israel zurückzuziehen. Wenigstens 5 Prozent der Siedler jedoch, so schätzen israelische Sicherheitsdienste, sind zum harten ideologischen Kern zu zählen. Sie waren in der Lage, einen gehörigen Aufruhr gegen das Osloer Abkommen von 1992/93 zu entfachen. Dass die Hamas ebenfalls den Friedensprozess unterminierte und zahlreiche Israelis nach Abschluss der Abkommen durch Terrorattentate tötete, erhöhte das Vertrauen der Israelis in den Friedensprozess auch nicht gerade. Aus den Reihen der ideologischen Unterstützer der radikalen Siedler stammte der Mörder des israelischen Regierungschefs Jitzchak Rabin. Dem Rückzug aus dem Gazastreifen 2005 und der Räumung der dortigen Siedlungen mögen sich die Siedler gebeugt haben. Aber Gaza hat – im Gegensatz zu „Judäa und Samaria“ – auch keine historische oder heilsgeschichtliche Bedeutung für sie. Sie sind der Überzeugung, in einem höheren geschichtlichen Auftrag zu handeln, und sie werden mit allen Mitteln versuchen zu verhindern, dass Land aufgegeben wird, das sie als „Wiege des Judentums“ betrachten. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie eine Entscheidung der israelischen Regierung für einen umfassenden und abschließenden Friedensvertrag und damit die Räumung von Siedlungen wie Elon Moreh oder Kiryat Arba bekämpfen würden. Israel hat über Jahrzehnte eine Gruppe von Fanatikern alimentiert, die enormes Unheil anrichten kann. Mehrere israelische Menschenrechts- und Friedensorganisationen versuchen seit Jahren, eine Bilanz der Kosten für den Bau, die Bereitstellung von Infrastruktur, den militärischen Schutz und nicht zuletzt für die subventionierten Immobilien zu berechnen. Vergeblich. Festzustellen ist nur: Milliarden wurden ausgegeben für Siedlungen, von denen inzwischen klar ist: Die meisten wird Israel räumen müssen, der neue Wohnraum für die Bewohner wird Geld kosten. Die Siedlungsprojekte sind aber nicht nur eine gigantische Immobilien-Fehlinvestition. Sie haben großen politischen Schaden verursacht. Der fortgesetzte Bau von Siedlungen – selbst, wenn er „nur“ in den Gebieten stattfände, die eh ausgetauscht werden – wird mittlerweile international als sichtbares Zeichen für illegale Landnahme gedeutet und hat erheblich zu Israels Isolation beigetragen. Dabei hat sich die militärstrategische Lage für Israel nicht einmal verbessert. Der Schutz gerade der verstreut oder nahe an palästinensischen Städten liegenden Siedlungen bindet Kräfte – nicht zuletzt, weil in diesen Gegenden mehr Palästinenser als Israelis leben.Dabei ruhte der Zionismus immer auf der Annahme, dass Israel ein Staatsgebiet mit einer jüdischen Mehrheit umfassen müsste. In der Westbank leben 1,9 Millionen Palästinenser, ihr Bevölkerungswachstum ist größer als das Israels. In Elon Moreh, dessen Gründer einst angetreten sind, den Palästinensern eine jüdische Präsenz vor die Nase zu setzen, leben etwa 1200 Menschen. Allein in Nablus und Umgebung leben circa 305 000 Palästinenser. Anders als die jüdische Bevölkerung Palästinas vor der Staatsgründung haben die Siedler nie eine nennenswerte funktionierende Wirtschaft in den Gebieten etablieren können. Die meisten Siedlungen sind Schlafstädte, deren Bewohner in den Großstädten des israelischen Kernlands arbeiten. Werden die Siedlungen nicht geräumt, sondern ausgebaut, wird das Projekt eines palästinensischen Staates hinfällig. Dann wird Israel eine hässliche Besatzung aufrechterhalten müssen – mit allen politischen, moralischen, finanziellen und militärischen Kosten. Lesen Sie hier das Pro zum Siedlungsbau
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Judith Hart
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Die Siedlungen außerhalb des Kernlands haben Israel nur geschadet. Sie sind nicht nur unnütz und teuer, sondern ein beträchtliches Hindernis für den Frieden
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außenpolitik
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2013-12-11T11:18:18+0100
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2013-12-11T11:18:18+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/contra-siedlungsbau-israel-unterstuetzt-eine-gruppe-von-fanatikern/56589
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Philipp Lahms Buch – In der K-Frage gar nicht nett
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„Ich bin 27 Jahre alt. Ich spiele beim FC Bayern München, der besten Mannschaft Deutschlands.“ Was so harmlos beginnt, löste noch vor Erscheinen der Biografie „Der feine Unterschied. Wie man heute Spitzenfußballer wird“ eine Empörungswelle aus, die die Fußballwelt für einen Moment in heftige Schwingungen versetzte. Dabei hatte der junge Autor Philipp Lahm lediglich ein paar Dinge ausgeplaudert, die Fußballinteressierte ohnehin schon wussten. Ein bisschen Taktikgerede und ein paar Anmerkungen zu den Marotten einiger prominenter Trainer waren in kurzen Passagen vorab veröffentlicht worden. Seither hagelte es Belehrungen für den vermeintlichen Verräter und Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Die ach so harte Fußballbranche präsentierte sich als empfindlicher Männerbund, der nichts mehr zu fürchten scheint als Meinungsfreude und Transparenz. Tabuverletzung und Nestbeschmutzung dürfte aber wohl das Letzte gewesen sein, was Philipp Lahms Co-Autor Christian Seiler und der ambitionierte Verlag Kunstmann-Verlag dem Spitzenfußballer als Stempel aufdrücken wollten. Im Ensemble exzentrischer Weltstars gab Lahm bislang den Jungen von nebenan, ein ehrgeiziger Verteidiger aus dem kleinen Ort Gern bei München. Verlässlich und bodenständig, aber wohl auch ein bisschen bieder. Ein Buch zur rechten Zeit und im richtigen Verlag sollte seinen Reifeprozess demonstrieren. Ein Mann in kurzen Hosen will Vorbild sein. Das Bild vom artigen Bub war ohnehin nicht ganz zutreffend. Im Verlauf seiner Karriere hat Philipp Lahm wiederholt Killerinstinkt bewiesen. In der so genannten K-Frage, in der sich ganz Fußballdeutschland Gedanken über eine Armbinde mit Gummizug und die Entmachtung des ehemaligen Kapitäns Michael Ballack machte, erhob Lahm Führungsanspruch und behauptet ihn seither. Einfach nur nett scheint der Mann also nicht zu sein. Die Geschichte allein böte hinreichend Stoff für ein knackiges Drehbuch über eine andere Geschichte des Fußballs, und Philipp Lahm könnte dazu als wichtiger Kronzeuge für die Beschreibung des ebenso widersprüchlichen wie faszinierenden Systems Fußball gehört werden. Was wird gespielt, wenn die 90 Minuten vorbei sind? Wie läuft der internationale Handel mit der kostbaren Ware Talent? Welche Rolle spielt dabei eine Beraterbranche, die sich als unverzichtbare Größe zwischen Vereinen und Spielern etabliert hat? Der Untertitel des Buches legt derlei Fragen nahe. Aber Philipp Lahm beantwortet sie nicht. Dabei verlief die Karriere des Musterprofis keineswegs nur geradlinig. Auf der Schwelle zum Profifußball hat auch ein Talent wie er sich durchbeißen müssen. Und als schwere Verletzungen ihn in seiner jungen Karriere zurückwarfen, hatte er mit „schwarzen Gedanken“ zu kämpfen. Dass es auch Opfer solcher schwarzen Gedanken gibt, weiß Lahm genau. Seinen Nationalmannschaftskollegen Robert Enke haben sie in den Suizid getrieben. Der Name Enke fällt in dieser Lebensbeschreibung jedoch nicht. Weil seit Jahren Gerüchte kursieren, Philipp Lahm sei homosexuell, ergreift er hier die Gelegenheit, dem zwischen zwei Buchdeckeln zu widersprechen. Und bemerkt dazu: „Ich würde keinem schwulen Profifußballer raten, sich zu outen.“ Für die psychologischen Dramen, die der Sport bereithält, ist man bei diesem Autor an der falschen Adresse. Lieber erzählt Lahm die Geschichte seiner Erfolge: Er berichtet von großen Spielen und triumphalen Momenten. Und davon, wie er sich für die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern in Afrika einsetzt. Sozial engagiert, politisch neutral und meistens auf der richtigen Seite. Wer wollte bezweifeln, dass Philipp Lahm ein aufrichtiger Mensch ist. Es hätte seiner Authentizität aber nicht geschadet, wenn er verraten hätte, dass solche Dinge inzwischen zum perfekten Design einer prominenten Persönlichkeit in der Öffentlichkeit gehören, für die es wiederum umsichtig sorgende Agenturen gibt. Philipp Lahm hält sich eher an die Version des zielstrebigen Aufsteigers aus kleinen, aber soliden Verhältnissen. Das Leben war gut zu ihm, Zweifel plagen ihn eher selten. Auch dann nicht, als er ein mit der Presseabteilung seines Vereins nicht abgestimmtes Interview gab und anschließend eine Konventionalstrafe über 50.000 Euro zahlte, die höchste, die der FC Bayern jemals verhängte. Im festen Glauben, im Dienst der Mannschaft gehandelt zu haben, hält Lahm das Kapitel seither für erledigt. Als Beobachter der Szene wüsste man gern, wie das Interview eingefädelt wurde, wer beratend zur Seite stand und welche Kollateralschäden die Affäre verursachte. Ein Enthüllungsbuch in eigener Sache zu schreiben, war aber wohl nicht die Absicht des Profis Lahm. So reiht er Gemeinplatz an Gemeinplatz und versucht sich in flotten Formulierungen. „Wir verteidigten hinten so entschlossen wie die Schweizer das Bankgeheimnis.“ Philipp Lahm indes verteidigt den schönen Schein seines manchmal nicht ganz so schönen Sports. Wenn das Ganze jenseits des vorübergehenden Skandals als Jugendbuch gedacht war, dann muss man davor eher warnen. Denn so viel Harmlosigkeit ist jugendgefährdend.
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Philipp Lahms Fußballbuch ist der Sachbuchbestseller des Herbstes. Der Kapitän der Nationalmannschaft verteidigt darin vor allem den schönen Schein seines Sports
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kultur
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2011-11-08T13:40:09+0100
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2011-11-08T13:40:09+0100
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https://www.cicero.de//kultur/philipp-lahm-fussball-biografie-k-frage-gar-nicht-nett/47554
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Nach Amoklauf - Oscar für Killerspiele
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Die Berliner ARD-Korrespondentin Marion van Haaren fragte nach dem Amoklauf von München in der Tagesschau: „Sollte man gewaltverherrlichende Videos und Computerspiele verbieten?“ Das war forsch. Denn niemand kann diese Spiele verbieten. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) nicht, die Kanzlerin nicht, und selbst der Kaiser von China dürfte seine Mühe damit haben. Das liegt in der Natur einer Sache, die im Internet verfügbar ist. Der Innenminister hatte die Debatte mit einem Satz über den Amokläufer und exzessiven Counter-Strike-Spieler angestoßen: „Es ist nicht zu bezweifeln – und so war es auch in diesem Fall –, dass das unerträgliche Ausmaß von gewaltverherrlichenden Spielen im Internet auch eine schädliche Wirkung gerade auf junge Menschen hat. Das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten.“ Das kann vielleicht kein vernünftiger Mensch bestreiten. Das halbe Netz aber kann das. Sofort schnellte der Hashtag #Killerspiele in den Twitter-Ranglisten auf Platz eins. Digitalchefs der Zeitungen hauten in die Tasten oder beauftragten ihre Kollegen, de Maizière zu kritisieren. Er sei wohl ein Experte für Zeitreisen, mokierte sich die Süddeutsche über den Innenminister, weil er eine Debatte aufrufe, „die seit langem als beendet galt“. So verliefen Killerspiel-Debatten noch immer. Sobald jemand etwas gegen digitale Spiele einwandte, wurde er in den sozialen Medien sofort attackiert. Daran beteiligen sich oft auch Journalisten – auf Netzniveau: Sie machen sich lustig, sie sind zynisch, sie verhöhnen Kritiker von Ballerspielen. „Wo jetzt wieder alle drüber reden, krieg ich total Bock auf ne Runde CounterStrike/Quake III“, twitterte etwa Hannes Leitlein, ein Kollege von Christ & Welt und Zeit Online. Nach den Schulmassakern in Erfurt und Winnenden hatte die Bundesregierung so genannte Killerspiele verbieten wollen. 2005 stand das sogar im Koalitionsvertrag von CDU und FDP. Das Netz veräppelte die Politik regelrecht dafür. Im Bundestag trat daraufhin eine Lobby von netzaffinen Abgeordneten auf den Plan. Sie gewannen die Fraktionschefs Volker Kauder (CDU) und Birgit Homburger (FDP) für ihre Sache. Eine Vorreiterin war die Abgeordnete Dorothee Bär (CSU), selbst begeisterte Gamerin und heute Staatssekretärin im Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Computerspiele seien ein Kulturgut, behauptete sie, veranstaltete eine Lan-Party mit Ballerspielen im Bundestag und half, den Deutschen Computerspielpreis aus der Taufe zu heben. Bedingung damals: Es dürfe keinen Games-Oscar für Gewaltspiele geben, sondern nur für pädagogisch und kulturell hochwertige Computerspiele. Seitdem hat sich der Diskurs über so genannte Ballerspiele vollkommen verändert. Er ist so etwas wie ein Testfeld für die Digitalisierung der Gesellschaft geworden. Wo früher viel Ablehnung war, darf heute praktisch keine Kritik mehr geübt werden. Im Netz gibt’s für Games-Kritiker sowieso Prügel. Aber auch im Bundestag ist die Pro-Netz und Pro-Games-Lobby inzwischen extrem stark. Manche Abgeordnete geben – vertraulich – zu, dass sie es kaum wagen, Kritisches über Probleme im Netz oder etwa über Killerspiele zu sagen. Als im Bundestag jüngst ein Bericht des Technikfolgenausschusses über „digitale Medien in der Bildung“ diskutiert wurde, klammerten die Berichterstatter die Risiken kurzerhand aus. Stattdessen schlugen sie vor, Computerspiele vermehrt in Schulen einzusetzen. Der Amoklauf in München hat die Killerspiel-Frage nun unversehens wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Selbst Volker Kauder (CDU), den die Gamer und Digitalisten im Bundestag schon fest auf ihrer Seite wähnten, gab wieder ganz alte Töne ab. „Auch diese Ego-Shooter-Spiele müssen einmal hinterfragt werden“, sagte Kauder der Welt, „es gibt für alles Grenzen“. Über ein echtes Verbot von Killerspielen wird aber wohl nicht mehr gesprochen werden. Niemand will das heute noch. Wie sollte das auch gehen? Das Verbot ist nur ein von Games-Community und -Industrie aufgebauter Scheingegner, um die Debatte leichter steuern zu können. In Wahrheit muss man natürlich über digitale Spiele und ihre Effekte sprechen – gerade in Zeiten von Pokémon Go und intelligenten Puppen, die via künstlicher Intelligenz kommunizieren und ihre Umgebung komplett aufzeichnen. Es geht aber auch um Suchtgefahr. Erst jüngst haben die führenden Uni-Kliniken mit Sucht-Ambulanzen im Bundestag berichtet, dass die Abhängigkeit von Online-Computerspielen die am meisten verbreitete unter den Internet-Süchten ist. Rund 40 Prozent der Online-Sucht-Patienten kommen aus diesem Bereich. Interessant könnte es werden, wenn Thomas de Maizière einmal nicht in der Öffentlichkeit laut spräche, sondern am Kabinettstisch besser zuhörte. Dort sitzt mit Alexander Dobrindt ein Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur, der jedes Jahr Hunderttausende Euro ausgibt – um den Markt für die Computerspielindustrie auszuweiten. Eine Schlüsselrolle spielt dabei wieder Dorothee Bär, seine Staatssekretärin. In ihrer Amtszeit wurden die Kriterien für den Deutschen Computerspielpreis so definiert, wie Bär es ausdrückte, „dass man auch mal ein 18er-Spiel auszeichnen kann“. Will sagen: ein Computerspiel, das Gewaltdarstellungen beinhaltet. Genau besehen vollführte die Staatssekretärin ein ziemlich cleveres politisches Manöver. Forderungen nach einem Verbot von Killerspielen kamen früher stets von der CSU. Ausgerechnet der CSU-Frau Bär gelang es nun, das Blut von den Brutalo-Games abzuwischen, indem sie ihnen das Label „kulturell wertvoll“ verpasste. Kaum gab es den Games-Oscar, legte Bär noch eins drauf: Plötzlich sollten auch „richtige Computerspiele“ ausgezeichnet werden – so genannte Killerspiele. Bär hat Nägel mit Köpfen gemacht. Sie schloss Verträge mit der Industrie, in denen langfristig fixiert wurde, dass die Regierung den Computerspielpreis fördert. Der Betrag steigt von Jahr zu Jahr: Waren es 2015 noch 280.000 Euro und 2016 350.000 Euro, sollen die Mittel allein im Jahr 2017 auf 450.000 Euro steigen. Dass man Ballerspiele nicht verbieten kann, ist das eine. Aber muss die Bundesregierung für das Image der boomenden deutschen Games-Industrie über die Jahre eine Million Euro ausgeben? Muss sie Ballerspiele mit Preisen belohnen? Und warum sagt de Maizière nichts dazu, dass der Bund jene Spiele fördert, die er so grässlich findet? Oder weiß der Innenminister das etwa nicht? Staatssekretärin Bär ist längst in einem neuen Level. In ihrem jüngsten Projekt unterstützt sie die „Stiftung Digitale Spielkultur“ dabei, Computerspiele „zu entdämonisieren“ – diesmal Spiele für Drei- bis Siebenjährige. Digitale Spiele für Kinder in diesem Alter sind selbstverständlich keine Killerspiele, sondern meistens Apps, die auf dem Smartphone laufen. Experten warnen dennoch davor, Kinder bereits in diesem Alter auf die Reizschemata von Games zu konditionieren. Es ist Zeit, über digitale Spiele einen Diskurs zu führen. Vielleicht ist also das exzessive Spielverhalten des Amokläufers aus München Anlass, eine überfällige Debatte wieder neu zu führen. Nur diesmal vernünftig.
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Christian Füller
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Nach dem Amoklauf von München hat Innenminister de Maizière gewaltverherrlichende Spiele kritisiert. Recht hat er. Bloß sollte er seine Bedenken lieber am Kabinettstisch äußern: Die Bundesregierung fördert die Computerspielindustrie mit viel Geld
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"Ballerspiele",
"Amoklauf",
"München",
"Winnenden",
"Dorothee Bär",
"Thomas de Maizière",
"Computerspiele"
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wirtschaft
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2016-07-25T10:23:50+0200
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2016-07-25T10:23:50+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/amoklauf-de-maiziere-killerspiele-doppelmoral-der-bundesregierung
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Außenpolitik der Türkei – Zerrissen zwischen Asien und Europa
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Die Tage, in denen die Türkei als Bittsteller an die Tore
Europas klopft, sind vorbei. Stattdessen strotzt das Land vor
Selbstbewusstsein. Premierminister Reccep Tayyip Erdogan gilt als
einer der mächtigsten Politiker der Welt, das Wirtschaftswachstum
des Landes ist seit Jahren zweistellig. „Die Türkei versteht sich
selbst als bedeutende Macht“, sagt Yildirim Üctug, Rektor der
Istanbul Kemerburgaz Universität. Umso mehr war es für viele eine Überraschung, als Stefan Füle,
Erweiterungskommissar der Europäischen Union, kürzlich bekannt gab,
dass es Bewegung in den Beitrittsgesprächen mit der Türkei gibt. Viele
hatten den Türkei-Beitritt schon ad-acta gelegt. Zwei Jahre lang hatte Stillstand geherrscht,
nach dem Frankreich, Deutschland und Zypern alle Wege Vorwärts
blockiert hatten. Für die EU waren es zwei Jahre der Dauerkrise.
Die Türkei hingegen lässt sich als neue politische Macht und
Wachstumsmotor feiern. [gallery:Türkei] Dahinter steht ein politischer Paradigmenwechsel. Statt nach
Berlin, Paris und Washington, schaut die Türkei zunehmend Richtung
Osten. Das Ergebnis: Wachstumsraten im zweistelligen Bereich,
einflussreiche Gespräche im Balkan, in Russland, den arabischen und
asiatischen Staaten, eine Vielzahl von Militärkooperationen.
„Anatolien war das Herz vieler großer Imperien“, sagt Yildirim
Üctug, Rektor der Istanbul Kemerburgaz Universität. „Und seit die
Türkei an wirtschaftlicher Stärke gewinnt, will sie wieder eine
größere Rolle in der Region spielen.“ Aushängeschild dieses neuen Selbstbewusstseins ist Türkeis
inoffizielle Hauptstadt Istanbul. Während Touristen und
Kulturinteressierte die Stadt seit Jahrzehnten besuchen, bevölkert
eine neue Gruppe die vielen neugebauten fünf Sterne Hotels der
Stadt: Reiche arabische und asiatische Businessmänner, auf der
Suche nach Investitionsmöglichkeiten. Und sie werden fündig.
Zwischen 2001 und 2010 stieg die Summe asiatischer
Direktinvestitionen in der Türkei von einer auf achtzehn Milliarden
US-Dollar. „Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verschiebt sich Richtung
Osten“, sagte Stephan Walt, Harvard-Professor für internationale
Politik, kürzlich am Rande einer Konferenz im Herzen der Stadt.
„Und wenn ein Land wie die Türkei eine Menge Sachen produziert, die
andere Leute kaufen wollen, im Gegenzug Geld hat um anderswo zu
investieren und dazu große militärische Kapazitäten vorweisen kann,
dann hören andere Länder zu und dein Einfluss wächst.“ Schon ein
Blick in das Programm der Konferenz gab eine Vorstellung dieses
neuen Selbstverständnisses. Mehr als zwei Drittel der
Podiumsteilnehmer kam aus der Türkei, der arabischen Welt und
Asien. Ursprünglich hatte Türkeis Gründungsvater Kemal Mustafa Atatürk
dem Land eine strikte Westausrichtung verordnet. Eine strikt
säkulare Türkei sollte am Beispiel Europas lernen und seine
politische, wirtschaftliche und militärische Rückständigkeit
abschütteln. Dabei ging Atatürk soweit, das arabische durch das
lateinische Alphabet zu ersetzen. NATO-Mitgliedschaft und
EU-Beitrittsverhandlungen schienen die Verbindung zu zementieren.
Doch der amtierende Premierminister Reccep Tayyip Erdogan und sein
Außenminister Ahmet Davutoglu haben diese Strategie erweitert,
viele sagen: umgekehrt. Gespräche mit früheren Erzfeinden wie Iran und den Kurden des
Nordiraks wurden aufgenommen, Grenzen geöffnet und Freihandelszonen
ausgehandelt. Die Geschäfte der Region sind voll mit
Waschmaschinen, Süßigkeiten und Dreifachsteckern „Made in Turkey“.
Im vergangenen Jahrzehnt haben sich türkische Exporte in den Nahen
und Mittleren Osten fast verzehnfacht. „Die Türkei hat das Glück
einen ziemlich dynamischen Premier und einen ziemlich dynamischen
Außenminister zu haben“, sagt Walt. „Ich glaube nicht, dass die
beiden viel Schlaf bekommen.“ [video:Wer schreibt, lebt gefährlich – Menschenrechte in der
Türkei] Neben der Regierung gibt es eine weitere treibende Kraft hinter
der Expansion: die „anatolischen Tiger“, eine Klasse aufsteigender
Industrieller und Investoren im Osten der Türkei. Niedrige
Lohnkosten und ein Arbeitsethos, der von Beobachtern
„calvinistisch-islamisch“ getauft wurde, haben Städte wie Gaziantep
zu Wachstumszentren gemacht. Der Großteil dieser Klasse bekennt
sich ganz offen zu ihren muslimischen Wurzeln. „Die anatolischen Businessleute blicken in den Nahen Osten und
nach Afrika, um neue Märkte zu finden“, sagt Walt. Unterstützt
werden sie dabei von der islamischen Ausrichtung ihres
Premierministers. „Erdogan hat weniger Berührungsängste mit den
muslimischen Nachbarn, als die früheren, strikt säkularen
Militärherrscher des Landes“, so Walt. Das sieht auch Robin Niblett, Direktor des einflussreichen,
britischen Thinktanks Chatham House, so: „Die Menschen in der
Türkei fühlen sich nicht so sehr dem Westen verbunden. Viele sehen
ihre muslimischen Nachbarstaaten als nächste Verbündete, nicht den
Westen.“ Die Revolutionen und Aufstände in der arabischen
Welt haben die neue Außenpolitik jedoch durcheinander gebracht.
Außenminister Davotglus Strategie „Keine Probleme mit den Nachbarn“
wird spätestens seit dem Bürgerkrieg in Syrien auf eine harte Probe
gestellt. Nachdem es in den Neunzigern fast zu einem Krieg zwischen
den Ländern gekommen war, wurden in den letzten Jahren
Freihandelsabkommen ausgehandelt, Visabeschränkungen fielen weg.
Die Beziehungen verbesserten sich stetig. Diese Ostausrichtung, sagt Universitätsrektor Üctug, entspricht
dem Gefühl vieler Türken. „Die Menschen in der Türkei sehen ihr
Land als selbstverständliche Regionalmacht. Was wir jetzt sehen,
ist eine Rückbesinnung in der türkischen Außenpolitik. Die Türkei
erinnert sich, dass sie für 600 Jahre ein Imperium war.“ Doch seit Syriens Präsident Bashar al-Assad die Demonstrationen
im eigenen Land gewaltsam unterdrückt herrscht wieder Eiszeit.
Erdogan unterstützt offen die Aufständischen, hat die Grenzen für
Flüchtlinge geöffnet und Oppositionsgruppen Schutz versprochen. Das
belastet auch die Beziehungen zum Iran, Syriens
Hauptverbündetem. [video:Rigide Visavergabe bedroht Handel mit der Türkei] In anderen Ländern hingegen wurden die Umbrüche als Chance
genutzt. Von Beginn an unterstützte Erdogan die Revolutionen in
Tunesien und Ägypten und nach kurzem Zögern schlug er sich auch auf
die Seite der libyschen Aufständischen. Im Oktober 2011 bereiste
Erdogan die drei Länder dann mit einer Entourage von 200 türkischen
Geschäftsleuten. Vielen Revolutionären gilt Erdogans Modell der
„islamischen Demokratie“ darüber hinaus auch politisch als
Vorbild. „Die Stimmung der Menschen in der Türkei bezüglich Europa hat
sich geändert“, sagt Üctug. „Wenn du jeden Tag in der Zeitung
liest, dass Länder wie Deutschland und Frankreich dich nicht
wollen, dann beginnst du woanders zu schauen.“ Trotz allem sehen Beobachter darin kein Ende der Beziehungen mit
dem Westen, eher eine Ergänzung. „Die Türkei wird weiterhin
versuchen, EU-Mitglied zu werden, auch wenn die Chancen gering
sind. Es hat ein Jahrzehnt gedauert, bis Spanien vollwertiges
Mitglied wurde“, sagt Niblett. Auch wirtschaftlich werden die
Beziehungen von großer Bedeutung bleiben. Über fünfzig Prozent des
Außenhandels findet mit Europa statt. „Ein etabliertes Land wie die Türkei macht keine so extremen
außenpolitischen Korrekturen“, sagt auch Üctug. „Die Türkei wird
sich einfach nicht zwischen Ost und West entscheiden. Sie wird eine
selbstständige Weltmacht.“
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Gründungsvater Kemal Mustafa Atatürk hatte seinem Land eine strikte Westausrichtung verordnet. Eine Mitgliedschaft in der EU sollte das garantieren. Doch mittlerweile wendet sich das Land mit seiner inoffiziellen Hauptstadt immer mehr dem Osten zu und findet Geschäftspartner in Asien und den arabischen Staaten
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außenpolitik
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2012-05-24T16:53:11+0200
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2012-05-24T16:53:11+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/zerrissen-zwischen-asien-und-europa/49442
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Abdelhamid Abaaoud - Der Drahtzieher des Terrors
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Ein Heckenschütze hätte vor anderthalb Jahren beinahe das Leben jenes Mannes beendet, der als Drahtzieher der Anschläge von Paris gilt. Syrien, irgendwo im Gebiet des „Islamischen Staates“. Abdelhamid Abaaoud liegt seit etwa einer Stunde in einem Schützengraben. Der Feind, sagt er in einem Video des Nahost-Medienrechercheinstituts MEMRI, habe Panzer, und schwere Artillerie; er und seine Dschihadisten – rund 50 Personen – aber nur einfache Kalaschnikows, einige Panzerbüchsen und Maschinengewehre. Der Heckenschütze, sagt Abaaoud, „wird mich nicht kriegen, das ist der Wille Allahs. Und wenn er mich bekommt, war es Allahs Willen, sein Schicksal, und dann werde ich zufrieden sein.“ Abaaoud trägt einen grünen Turban und einen schwarzen Oberlippenbart. In der linken Hand hält er ein Sturmgewehr, im Hintergrund sind Feuersalven zu hören. Abaaoud wirkt erschöpft, seine Stimme bricht immer wieder ab. Die Worte, die er in dem wackeligen Video erhebt, sind umso markerschütternder. „Es macht Spaß, das Blut von Ungläubigen rinnen zu sehen“, ruft er. Denn: Er und seine Unterstützer seien aufgewachsen mit Fernsehbildern, „in denen wir seit Jahrzehnten sehen, wie Blut von Muslimen vergossen wird“. Abaaoud ruft: „Kommt zum Dschihad. Erhebt euch, steht auf, macht euch auf den Weg von Allah. Erhebt euch für den Sieg hier und im Jenseits!“ Abdelhamid Abaaoud, 28, Kämpfername Abu Omar Al-Belgiki – „der Belgier“ –, war einer der wichtigsten Rekrutierer des „Islamischen Staates“ in Belgien. Die französischen Ermittler haben ihn am Montag, nach drei Tagen Fahnung, als bedeutendsten Anführer der Pariser Terrorgruppe identifiziert. Lange Zeit hatten Nachrichtendienste ihn in Syrien vermutet. Am Donnerstag bestätigte die Staatsanwaltschaft nun seinen Tod. Er soll bei der Razzia im Pariser Stadtteil Saint-Denis ums Leben gekommen sein. Schon im Januar soll Abdelhamid Abaaoud Anschläge in Europa geplant haben. Ein belgisches Gericht hatte ihn in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Abaaoud ist in dem Brüsseler Vorort Molenbeek aufgewachsen. Sein Vater, der aus Marokko stammt und vor etwa 40 Jahren auswanderte, hat dort einen Laden. Die Familie lebt in der Rue de l’Avenir, einem wohlhabenderen Teil Molenbeeks, aus dem zahlreiche andere Islamisten stammen. In diesem Quartier hat die belgische Polizei allein am Sonntag sieben Terrorverdächtige festgenommen. Derzeit fahnden sie auch nach einem weiteren mutmaßlichen Täter von Paris, dem Dschihadisten Salah Abdeslam. Warum sich Abaaoud radikalisierte, ist selbst für seine Familie ein Rätsel. Sein tief traumatisierter Vater sagte, der Junge sei in Belgien einer „Gehirnwäsche unterzogen worden“, um in den Dschihad zu ziehen. Dabei hatte er laut seiner Schwester, die selbst keinen Schleier trägt, nie großes Interesse an Religion gezeigt. Er sei früher nicht einmal in die Moschee gegangen, sagte sie der New York Times. Abaaoud soll sogar auf eine katholische Schule gegangen sein. Ein Angestellter der Stadt mutmaßte: „Er wurde im Gefängnis in Saint Gilles radikalisiert.“ Die Haftanstalt befindet sich im Süden Brüssels. Die Propaganda wirkte: Vor zwei Jahren trat Abdelhamid Abaaoud dem „Islamischen Staat“ bei. Sein Charme und seine Brutalität ließen ihn schnell in den Reihen des IS aufsteigen. Er trat in zahlreichen Propagandafilmen auf, brüstete sich mit Gräueltaten, bediente das Netzwerk „Sharia4Belgium“. Ein Video zeigt ihn in einem Auto, das vier verstümmelte Leichen hinter sich herzieht. Mittlerweile leitet Abaaoud eine 32-köpfige Abteilung von Terroranwerbern. Seine Wut richtet sich gegen die angebliche Unterdrückung von Muslimen in der Welt. In dem Memri-Video sagt er, „die Feinde Allahs und die Feinde des Islams haben sich in der ganzen Welt versammelt, seien es die sogenannten pazifistischen Buddhisten, die die Muslime Asiens auslöschen, köpfen, zerstückeln und essen, oder die Afrikaner in Zentralafrika, die Muslime töten“. Er wettert gegen den Westen, gegen die Schiiten, „die Allah verflucht“. „Sie sind alle versammelt gegen die sunnitischen Muslime, die den Sieg Allahs wollen.“ An die „Tyrannen, deren Soldaten und Bewunderer“ richtet er diese Botschaft: „Möge Allah euch den Rücken brechen, möge Allah euch auslöschen!“ Im Januar 2014 lockte er auch seinen jüngeren Bruder Younes nach Syrien. Der damals gerade mal 13-Jährige wurde schnell bekannt als „jüngster Dschihadist der Welt“. Auf einem Foto ist der Schuljunge mit einem Turban und einer AK-47-Waffe in der linken Hand zu sehen. Der Vater der beiden Jungs, Omar, erstellte bei der Polizei Anzeige. Abdelhamid Abaaoud wurde wegen Kidnappings verurteilt. Am 15. Januar 2015, kurz nach den Anschlägen auf die französische Satirezeitung „Charlie Hebdo“ und auf den koscheren Supermarkt, plante Abaaoud sein erstes großes Attentat in Belgien. Mit zwei Komplizen soll er von Syrien eingereist sein, um in Verviers an der Grenze zu Deutschland zuzuschlagen. Ziel sollten Kioske sein, die „Charlie Hebdo“ verkaufen. Die Polizei konnte den Anschlag jedoch vereiteln: Einsatzkräfte stürmten das Versteck der Dschihadisten und töteten zwei Terroristen. Nach Angaben von Spiegel Online war Abaaoud kurz nach dem versuchten Attentat in Deutschland. Am 20. Januar soll ihn die Bundespolizei am Flughafen Köln/Bonn kontrolliert haben, als er von dort nach Istanbul fliegen wollte. Den Beamten habe er erzählt, er wolle Freunde und Verwandte in der Türkei besuchen und anschließend wieder nach Köln reisen. Doch die Tour zurück erfolgte dann offenbar auf anderen Wegen. In jedem Fall konnte sich Abaaoud wieder nach Syrien absetzen. Laut dem Spiegel-Online-Bericht war der Belgier auch schon 2007 in Köln. Für die Planung des Anschlags in Verviers hatte Abaaoud ein griechisches Handy benutzt. Die Sicherheitsbehörden konnten das Gerät lokalisieren. In Athen kam es zu einer Razzia. Doch Abaaoud entwischte damals erneut. Im Magazin des „Islamischen Staates“, Dabiq, brüstete er sich damit, einer weiteren Polizeikontrolle entkommen zu sein. „Ich wurde von einem Beamten verhaftet, der mich lange anschaute, um mich mit einem Fahndungsfoto zu vergleichen. Aber er ließ mich gehen, weil er keine Ähnlichkeit feststellen konnte.“ Abaaoud nannte das „ein Geschenk Gottes“. Nach An
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Petra Sorge
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Der belgische Dschihadist Abdelhamid Abaaoud soll hinter den Terroranschlägen von Paris stecken. Die französische Staatsanwaltschaft bestätigte am Donnerstag, dass er bei der Razzia in Saint-Denis getötet wurde. Abaaoud war Top-Anwerber des „Islamischen Staates“ und lockte sogar seinen 13-jährigen Bruder nach Syrien
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außenpolitik
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2015-11-16T18:51:19+0100
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2015-11-16T18:51:19+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/abdelhamid-abaaoud-der-drahtzieher-des-terrors/60129
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Terminübersicht - Silbermann-Tage
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MITTWOCH, 4.9.2019, 20 UHR
ERÖFFNUNGSKONZERT
Dom zu Freiberg DONNERSTAG, 5.9.2019, 20 UHR
KRIEG UND FRIEDEN
Petrikirche Freiberg FREITAG, 6.9.2019, 19.30 UHR
ZUM GIPFEL!
Kirche Cämmerswalde SAMSTAG, 7.9.2019, 9.30 UHR
ORGELWETTBEWERB 1. PRÜFUNG
Jakobikirche Freiberg SAMSTAG, 7.9.2019, 14 UHR
MACHT MUSIK!
Innenstadt Freiberg SONNTAG, 8.9.2019, 10 UHR
FESTGOTTESDIENST
Dom zu Freiberg MONTAG, 9.9.2019, 9.30 UHR
ORGELWETTBEWERB 1. PRÜFUNG
Jakobikirche Freiberg DIENSTAG, 10.9.2019, 19.30 UHR
MACHT UND MUSIK
Kirche Forchheim MITTWOCH, 11.9.2019, 9.30 UHR
ORGELWETTBEWERB 2. PRÜFUNG
Kirche Langhennersdorf FREITAG, 13.9.2019, 19.30 UHR
KÖNIGSTHEMA AUF SILBERMANN
Schloss Bieberstein SONNTAG, 15.9.2019, 17 UHR
ABSCHLUSSKONZERT
Dom zu Freiberg Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Erzfreunde“ von Cicero und Monopol. Jetzt kostenfrei bestellen
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Cicero-Redaktion, Monopol Magazin
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Vor 300 Jahren schuf Gottfried Silbermann in der Region rund um Freiberg eine einzigartige Orgellandschaft. Silbermanns wichtigstes Werk, die große Freiberger Domorgel, steht im Mittelpunkt der seit 1978 veranstalteten Silbermann-Tage. In diesem Jahr finden sie vom 4. bis zum 15. September statt
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"Erzgebirge",
"Welterbe",
"Sachsen",
"Kultur",
"Musik",
"Kirche"
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kultur
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2019-08-15T09:34:23+0200
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2019-08-15T09:34:23+0200
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https://www.cicero.de//kultur/termine-silbermann-tage-erzgebirge-sachsen-welterbe
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Seehofers Einladung - Warum es richtig ist, jetzt mit Orbán zu reden
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Es ist Zeit, mit Viktor Orbán ein Wörtchen zu reden. Von Angesicht zu Angesicht. In Ungarn zerbröselt gerade das Wertefundament der Europäischen Union. Orbán wettert nicht nur gegen Muslime, er kriminalisiert nun auch Flüchtlinge. Menschen, die die Grenze zu Ungarn übertreten, gelten nun als Straftäter und können inhaftiert werden. Das Land erwägt sogar, einen Zaun nach Rumänien zu errichten. Angesichts des Pfades, den Orbán betreten hat, angesichts von Pressezensur und autoritärem Regierungsstil, müsste man ein neues Wort schöpfen: die „Ungarnkrise“. Horst Seehofer hat insofern ausnahmsweise auf das richtige Politikfeld gesetzt. Er hat Viktor Orbán nach Deutschland eingeladen, ins Kloster Banz. Dort hat die CSU-Landtagsfraktion am 22. September ihre nächste Klausurtagung. Schon seit Jahren scheuen es viele Staats- und Regierungschefs Europas, mit Orbán Klartext zu reden. Er gilt als der Pfui-Mann Europas. Aber soll man ihn deswegen schneiden? Nein, das Reden, Ringen und Verhandeln gehört zu jeder Krisendiplomatie, so wie Angela Merkel das in der Griechenlandkrise und der Ukrainekrise schon perfektioniert hat. Das will die CSU mit ihrer Einladung erkannt haben. Nur: Sie denkt gar nicht daran, Orbán in die Parade zu fahren. Horst Seehofer hatte Orbán nicht etwa eingeladen, um ein Krisengespräch zu führen. Vielmehr will er gemeinsam mit ihm Wege finden, wie die EU-Außengrenzen noch stärker geschützt – besser gesagt: abgeriegelt – werden können. Seehofer kommt also nicht als Mahner daher, sondern als Partner. Als Bruder im Geiste. Für Orbán ist es ein unglaublicher Propagandacoup, seiner Wählerschaft demonstrieren zu können, dass er doch noch Verbündete hat in Deutschland, das in der Flüchtlingsfrage ja kurzzeitig zum weltweiten Vorbild geworden ist. So wird ausgerechnet Orbán, der von einer illiberalen Demokratie träumt, bei der Flüchtlingspolitik zu einem leuchtenden Vorbild in Europa. Seehofer torpediert mit seinem Gesprächsangebot also nicht nur Merkels Politik, sondern auch alle Versuche seitens der EU, die Flüchtlingsfrage zu klären. Angesichts seiner Rhetorik ließ sich die Kanzlerin am Dienstag zu einem seltenen Satz hinreißen: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, sagte sie nach einem Treffen mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann. Beide befürworteten einen Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs über die Flüchtlingspolitik noch in der kommenden Woche. Man muss Horst Seehofer dankbar sein: Er hat mit seiner zweifelhaften Geste an den Provokateur und Autokraten gezeigt, dass die Flüchtlingsfrage eben doch vor allem eine deutsche Frage ist. Deutschland aber muss mehr tun, als nur einen Sondergipfel auszurufen. Es muss in der jetzigen Lage die Führungsrolle in Europa übernehmen. Und das aus drei Gründen: Erstens hat Orbán auf zahlreichen Treffen immer wieder darauf hingewiesen, dass er die Flüchtlingsfrage als „deutsches Problem“ betrachte. Tatsächlich haben die in Ungarn gestrandeten Menschen vor allem ein Ziel: Deutschland. Zweitens ist es Deutschland, das das umstrittene Dublin-System einst maßgeblich durchgesetzt hatte. Dieses Prinzip regelt, dass jener EU-Mitgliedsstaat, den ein Flüchtling als erstes betritt, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Verordnung – die seit 2013 mittlerweile in dritter Fassung vorliegt – hat Flüchtlinge jahrzehntelang von Deutschland abgehalten und die Last vor allem auf die EU-Außenstaaten abgewälzt. Griechenland und Italien sind damit schon seit Jahren überfordert; in Ungarn sind allein in diesem Jahr 150.000 Flüchtlinge ins Land gekommen. Deutschland trägt also eine Mitschuld an der Eskalation der Ungarnkrise. Drittens: Angela Merkel hat genau dieses Dublin-System de jure ausgehebelt, als sie die Zehntausenden Flüchtlinge aus Budapest hereinließ. Dieser ganz kurze Anflug von Menschlichkeit endete schon zu Wochenbeginn mit einer Bruchlandung. Da begann Deutschland wieder mit Grenzkontrollen. Horst Seehofer und Viktor Orbán waren voll des Lobes über das neuerliche Polizeiaufgebot. Seehofer, der Flüchtlinge gar vom Oktoberfest fern halten möchte, hatte bereits vor einem Jahr Kontrollen an der Grenze zu Österreich angeregt. Zugleich aber will der bayerische Ministerpräsident „unbedingt“ am Schengen-Abkommen festhalten. Die Freizügigkeit in der EU zu erhalten – das ist auch der Grund, warum Viktor Orbán immer höhere Zäune errichtet: „Wenn wir unsere Grenzen nicht beschützen können, kann Schengen in Gefahr geraten“, schrieb der ungarische Ministerpräsident Anfang September in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Orbán will, dass Ungarn „christlich“ bleibt. Politische Beobachter vor Ort gehen davon aus, dass der Ministerpräsident stur bleiben wird, zumal er sich innenpolitisch von der rechtsradikalen Jobbik unter Druck gesetzt fühlt. Gelänge es aber, ihn in Gesprächen mitzunehmen, könnten weitere EU-Staaten folgen, die sich momentan noch vor ihrer Verantwortung in der Flüchtlingspolitik verstecken. Merkel sagte am Dienstag zwar: „Drohungen sind nicht der richtige Weg zur Einigung.“ Doch womöglich wird man die Ungarnkrise wie die Griechenlandkrise behandeln müssen: mit Sondersitzungen und Nachtschichten, mit Angeboten und Sanktionen. Der Fehler all der EU-Gipfel bislang war, dass Orbán stets nur Teilnehmer war – und nicht Agenda. Auch der Gipfel in der kommenden Woche wird daran wohl nichts ändern. Immerhin: Für Angela Merkel wäre er ein Anlass, zu reden. Auch und vor allem mit Viktor Orbán.
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Petra Sorge
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„Wenn wir uns noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, warf Angela Merkel gereizt der CSU entgegen. Ungeachtet dessen empfängt Horst Seehofer Viktor Orbán auf Kloster Banz. Warum wir dem CSU-Chef trotzdem dankbar sein sollten
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innenpolitik
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2015-09-16T11:00:32+0200
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2015-09-16T11:00:32+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/seehofers-einladung-warum-es-richtig-ist-jetzt-mit-orban-zu-reden/59845
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Rassismus - „Ihr Scheiß Schwarzen sollt euch aus unserem Land verpissen“
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Im Rahmen der Black-Lives-Matter-Proteste haben am vergangenen Wochenende in Deutschland zehntausende Menschen demonstriert. Viele wollten sich solidarisch mit der afro-amerikanischen Community zu zeigen. Es geht uns aber auch darum aufzuzeigen, dass Rassismus gegenüber schwarzen Menschen nicht nur ein US-amerikanisches Problem ist. Er ist auch hier in der deutschen Gesellschaft und in ihren Institutionen fest verankert. Er kann brutal sein und aus dem Nichts kommen wie ein in den Rücken gerammtes Messer. Diese Form des Rassismus ist für die meisten sichtbar und am bekanntesten. Als meine Mutter mich im Kinderwagen durch die U-Bahn schob, wurde ihr gesagt: „Sie machen doch für jeden die Beine breit“. Oder: „So jemanden hätten wir früher vergast“. Diesen Rassismus erfahre ich auch an dem Tag, als mich im Supermarkt im Wedding jemand anschreit: „Ihr Scheiß Schwarzen sollt euch aus diesem Land verpissen“ und mir damit droht, mich zu verprügeln. Ich erlebe ihn auch dadurch, dass mir dann niemand um mich herum zur Hilfe kommt. Mein Bruder erfährt diesen Rassismus bei einem Fußballspiel durch einen Schlag mit einer Bierflasche auf den Kopf samt Beschimpfung mit dem N-Wort. Ich muss mich damit auseinandersetzen, wenn mich Männer als exotisch bezeichnen, mich wegen meines Aussehens sexualisieren und mich im Club fragen, ob meine Genitalien denn anders aussehen würden als die von weißen Frauen. Rassismus hat aber auch ein anderes Gesicht. Er kann subtil sein und für Außenstehende sogar freundlich wirken. Trotzdem tut er weh wie viele kleine Nadelstiche. Dieser Rassismus ist allgegenwärtig, ich begegne ihm fast jeden Tag. Ich erlebe ihn in Form von Neugierde, wenn fremde Leute ständig meine Haare anfassen wollen, sogar wenn ich ihnen noch nie vorher begegnet bin. Oder wenn mir unbekannte Menschen sagen, ich solle „mich doch nicht so anstellen und sagen, wo ich denn wirklich herkomme“, wenn ich die Frage nach meiner Herkunft zunächst mit Hamburg beantworte. Wenn ich dann ausnahmsweise mal sage, dass mein Vater aus dem Sudan stammt, folgt „Hab ich‘s doch gewusst, ich kenne jemanden, dessen Freundin stammt aus Barbados und sieht genauso aus wie Sie“. Genauso findet sich Rassismus in scheinbar „freundlichem“ Verhalten wieder. Ich habe zum Beispiel schon oft Komplimente für meine guten Deutschkenntnisse bekommen oder Lob dafür, wie gut ich mich hier in Deutschland integriert habe. Lehrer waren sehr erstaunt, als ich erzählte, dass mein schwarzer Vater studiert hat. Außerdem denken Menschen, sie seien zuvorkommend, wenn sie mich zunächst auf Englisch begrüßen oder mitten in einer Unterhaltung nachfragen, ob ich das Gesagte denn verstehen würde. Wenn Menschen so mit mir umgehen, habe ich das Gefühl, dass sie sich nicht vorstellen können, dass ich auch ein Teil dieser Gesellschaft bin. Das macht mich sehr traurig. Die Menschen sehen mich und haben schon ein Bild im Kopf, bevor ich überhaupt meinen Mund geöffnet habe. In solchen Interaktionen muss ich immer erst gegen dieses Bild ankämpfen. Das ist sehr anstrengend. Ich fühle mich auch abgewertet, weil in diesen Momenten meinem Gegenüber die Befriedigung seiner Neugierde und die Bestätigung seines Weltbildes wichtiger scheint als mein Wohlbefinden. Diese Gefühle von Minderwertigkeit und Nicht-Zugehörigkeit wurden auch durch die Strukturen meines Alltags verstärkt. So spielte ich auf Kindergeburtstagen „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?“ und malte mit Mitschülern Menschen mit „hautfarbenen“ Stiften. In der Schule gab es keine Bücher mit schwarzen Protagonisten , und im Fernsehen spielten schwarze Menschen meistens Bedürftige oder Geflüchtete. Am Flughafen musste ich mich als einzige von 200 Reisenden am Gate einer weiteren Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Dieses Gefühl der Minderwertigkeit habe ich früher so weit verinnerlicht, dass ich die Eigenschaften selbst abgelehnt habe, wegen derer ich als anders betrachtet wurde. Ich habe in meiner Jugend meine Haare mit Chemie behandelt, um sie zu glätten, und ich wollte mich nicht mehr in der Sonne bräunen, um nicht noch dunkler zu werden. Der Rassismus macht also nicht mal vor denjenigen halt, die er betrifft. Er ist allgegenwärtig, und wir wachsen mit ihm auf. Er steckt in jedem von uns. Wir arbeiten in Kindertagesstätten, Universitäten und der Justiz, und deshalb kommen in öffentlichen Institutionen zwangsläufig auch rassistische Strukturen vor. Diese Institutionen prägen unser tägliches Leben und haben deshalb eine besondere Verantwortung, Rassismus entschieden entgegenzuwirken. Dafür muss ein besseres Verständnis für Rassismus und seine verschiedenen Facetten geschaffen werden. Ich teile in diesem Beitrag meine Erfahrungen, aber ich finde, dass diese Beschäftigung auch stattfinden sollte, ohne dass Betroffene dies anstoßen. Es ist sehr schmerzhaft, über solche Erfahrungen zu sprechen. Zudem empfinde ich es als unangenehm, subtilen Rassismus im privaten Umfeld anzusprechen. Oft verstehen Menschen nicht, wenn ihr Verhalten verletzend ist. Oder sie wollen sich gar nicht mit meiner Kritik auseinandersetzen, weil sie der Rassismusvorwurf kränkt. Ich wünsche mir, dass Institutionen das Problem selbst angehen. Wir brauchen verpflichtende Diversity Trainings, besonders bei der Polizei. Hier spielen Unvoreingenommenheit und Neutralität eine sehr wichtige Rolle, weil Polizist*innen sich tagtäglich in sensiblen Situationen mit den Bürger*innen wiederfinden. Deshalb brauchen wir auch eine unabhängige Stelle für Beschwerden gegen Rassismus in der Polizei. Für gesellschaftliche Veränderungen spielt die Ausbildung junger Menschen eine besondere Rolle. Wir brauchen einen Lehrkanon, der die gesellschaftliche Diversität in Deutschland widerspiegelt. Und wir brauchen einen Geschichtsunterricht, der sich intensiv mit der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte und ihren heutigen Spuren in unserer Gesellschaft auseinandersetzt
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Sadia Khalid
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Sie war mit dabei, als am Samstag Tausende auf dem Alexanderplatz in Berlin gegen Rassismus demonstrierten. Sadia Khalid wuchs als Tochter eines Sudanesen und einer Deutschen in Hamburg auf. Hier erzählt sie, warum sie sich als Schwarze manchmal als Mensch zweiter Klasse fühlt.
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"Rassismus",
"Schwarze"
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innenpolitik
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2020-06-09T12:21:40+0200
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2020-06-09T12:21:40+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/rassismus-schwarze-diskriminierung-diversity-training-polizei
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Geflüchtete Journalisten - Ein Flickenteppich an gut gemeinten Initiativen
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In diesem und im nächsten Monat jährt sich die Ankunft vieler Flüchtlinge in Deutschland. Und da muss man schon einmal nachfragen: Sind sie eigentlich auch im Mediensystem angekommen? Und welche Initiativen gibt es für Journalistinnen und Journalisten aus Krisengebieten? Die Medienanstalt Berlin Brandenburg (mabb) hat am Freitag gleich mehrere Projekte angekündigt: Es soll ein „Willkommensportal“ geben, auf der alle digitalen Angebote für Geflüchtete, Apps, Links und beispielsweise auch die „Refugee Map“ gebündelt werden sollen. Denn bisher herrscht bei den Informationen ein ziemliches Chaos; viele Menschen wissen gar nicht, welche Angebote es überhaupt gibt. Die mabb will auch drei Volontariate bei dem offenen Kanal „Alex Berlin“ sowie weiteren Medienpartnern schaffen und Berichterstattung über Flüchtlingsthemen in lokalen Fernseh- und Radiosendern stärken. Immerhin. Vor zwei Monaten war bei derselben Medienanstalt der Versuch gescheitert, ein 24-stündiges Integrationsradio in arabischer und deutscher Sprache zu starten. Die Begründung: Keiner der Antragsteller habe „ein wirtschaftlich nachhaltiges und tragfähiges Konzept vorgelegt“. Unabhängig der Frage, ob man Geflüchtete komplett an einen Nischensender verweisen oder ihre Themen nicht lieber viel stärker in den klassischen Medien repräsentieren sollte, zeichnet sich ab: Es gibt noch viel zu wenige Angebote für die Menschen, die im vergangenen Jahr aus Kriegsgebieten nach Deutschland gekommen sind. Das ist auch das Ergebnis einer qualitativen Studie der Medienentwicklungsorganisation MiCT, die sich auch um den Betrieb des Integrationsradios beworben hatte. Darin wurden 88 syrische und irakische Flüchtlinge in Berlin nach ihrem Medienkonsum befragt. Die meisten fühlten sich vor und während ihrer Flucht erstaunlich gut informiert, wenngleich viele dieser Informationen fehlerhaft waren, etwa, was ihre Erwartungen an das Zielland betraf. Wirklich isoliert fühlten sie sich erst in Deutschland: Die Befragten gaben an, kaum Zugang zu zuverlässigen Informationen zu haben, unter anderem wegen der Sprachbarriere. Offenbar helfen da bislang auch nicht die Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender, wie der ARD-„Wegweiser für Flüchtlinge“, die Deutsche Welle Arabia, die Angebote von zahlreichen regionalen und lokalen Radios oder die preisgekrönte Reihe „Marhaba“ des n-tv. Die mabb will nun erstmals eine große, repräsentative Studie zur Mediennutzung von Geflüchteten in Auftrag geben. Denn die letzte derartige Erhebung von ARD und ZDF stammte von 2011 und betraf Migranten allgemein. Statt noch mehr über sie zu berichten und zu forschen, wäre es aber auch ein sinnvoller Schritt, stärker Journalistinnen und Journalisten in den großen Medienhäusern eine Chance zu geben. „Sie sind wichtig, um Einblicke aus ihren Regionen zu geben und sicherlich auch, um Mentalitäten und Erwartungen ihrer Landsleute zu formulieren“, sagt die Autorin Sineb El Masrar. Sie hat selbst vor Jahren ein multikulturelles Magazin gegründet, die „Gazelle“, die inzwischen online erscheint. „Diese Menschen ticken hier anders als dort zum Teil. Das macht sie für Medienhäuser interessant. Auch sprachlich.“ Die „Neuen Deutschen Medienmacher“, selbst multiethnische Journalisten, bieten Mentoringprogramme an. Der RBB moderierte im Dezember eine „Stilbruch“-Sendung mit syrischen Journalisten und Künstlern und erhielt dafür einen Preis. Es gibt sie, die Ansätze. Aber sie beschränken sich auch nach einem Jahr oft nur auf punktuelle Initiativen. Auf ehrenamtliches Engagement hier und da. So bietet die Hamburg Media School als erste ein gebührenfreies, halbjähriges Weiterbildungsprogramm speziell für Medienschaffende mit Fluchtgeschichte an. Im April starteten die ersten 13 Studenten, darunter auch Journalisten, die in ihren Heimatländern drangsaliert und inhaftiert wurden. Ein vielversprechender Ansatz: Die Kollegen lernen von hochkarätigen Dozenten, absolvieren anschließend ein Praktikum und bekommen hinterher ein Teilnehmerzertifikat. Mehrere große Medienmarken unterstützen das. Aber auch hier ist die Lehre ehrenamtlich. Dabei war die Nachfrage riesig, sagt Stefanie Kirschbaum, eine der Programmverantwortlichen: „Wir hatten 100 Anfragen.“ Sie betont, dass die Auswahl mit den Sprachkenntnissen der Bewerber „steht und fällt“ und dass ein hohes mediales Engagement erwartet werde. Nach der Ausbildung dienen die Studenten idealerweise als Mittler zwischen der deutschen Kultur und ihrer jeweiligen Fluchtgruppe. Beispielhaft macht das die arabische Zeitung „Abwab“, gegründet von dem Syrer Ramy al Asheq. Seit Februar erscheint sie gedruckt und online und richtet sich an Neuankömmlinge, die noch nicht so gut Deutsch sprechen. Die Seite versteht sich als „erste europäische Webseite, von Flüchtlingen und für Flüchtlinge“. Ein vergleichbares Programm wie das an der Hamburg Media School gibt es an öffentlichen Hochschulen aber noch nicht. Die gebührenfreie „Refugee Class“ der Universität der Künste Berlin, wo das reguläre Journalistikprogramm ebenfalls Geld kostet, hat eher Workshop-Charakter und ist auf wenige Tage beschränkt. Der Hamburger Journalistikprofessor Stephan Weichert sagt, dass es vielen öffentlichen Hochschulen „an Kreativität mangele“. Die Aufnahmeverfahren seien viel zu streng: „Dabei haben die wenigsten Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, lückenlos all ihre Zeugnisse dabei.“ Weichert findet diese Bürokratie „schräg“. Er plädiert dafür, einen „Erleichterungsparagrafen“ einzuführen, um Geflüchteten die Einschreibung für Medienstudiengänge zu erleichtern. Erhard Brunn von der Interkulturellen Kooperation in Frankfurt gibt aber noch etwas zu bedenken: Er hat zahlreiche Medienschaffende mit Fluchtgeschichte interviewt und ist in der Szene eng vernetzt. Viele seien enttäuscht gewesen, dass sie keine Jobs erhielten und die Perspektiven ungünstig seien. „Die wirtschaftlichen Bedingungen in der ganzen Branche sind schlecht. Das ist offenbar noch nicht durchgedrungen.“ Ein Problem ist auch, dass es kaum institutionelle Förderprogramme in dem Bereich gibt. Journalismus ist auch nicht als gemeinnützig anerkannt: Das hemmt viele Start-up-Projekte, Stipendiengeber und Mäzene müssen ihre Initiativen daher als Bildungsprogramme etikettieren. Etwas Gutes kann Brunn aber trotzdem berichten: Er sieht, was das Thema Diversität betrifft, einen „unglaublichen Lernerfolg in den Medien“. Syrische Flüchtlinge seien viel schneller ins System gekommen als die Nachfahren der Arbeitsmigranten vergangener Jahrzehnte. Der Weg ist also noch immer sehr lang.
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Petra Sorge
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Die Medienkolumne: Viele Projekte, Verlage und Sender sind bemüht, auch Journalisten aus Krisengebieten zu fördern. Aber wie erfolgreich sind diese Programme? Wird die Stimme der Flüchtlinge in Deutschland gehört?
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"Flüchtlinge",
"Neue Deutsche Medienmacher",
"Hochschule",
"Willkommensportal"
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kultur
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2016-07-01T14:16:41+0200
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2016-07-01T14:16:41+0200
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https://www.cicero.de//kultur/gefluechtete-journalisten-ein-flickenteppich-an-gut-gemeinten-initiativen
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Steuerentlastungen - Das Geld der Anderen
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Endlich! Der Solidarzuschlag, der nun schon seit 1991 den „Aufbau Ost” mitfinanziert, soll tatsächlich abgeschafft werden. Allerdings nicht sofort und nicht für alle. Die CDU mag ihn nur in Trippelschritten von 2020 bis 2030 von heute 5,5 Prozent auf Null herunterfahren. Die SPD will diesen Nachlass ab 2020 nur für denjenigen gewähren, der als Single weniger als 52.000 Euro im Jahr verdient. Fast soviel darf eine vierköpfige Familie heute bereits an Einkommen beziehen, ohne mit dieser Sondersteuer überhaupt belastet zu werden. Der „Soli” ist damit typisch für die deutsche Steuerdebatte: Es wird mit großen Zahlen und leeren Versprechen hantiert. Union und SPD, die sich als Volksparteien verstehen, wollen dem steuerzahlenden Volk möglichst wenig zurückgeben. Die Merkel-Partei hält es bereits für eine Großtat, die Abgabenlast nicht weiter zu erhöhen und will, wie alle Wahlen wieder, vor allem „Familien entlasten“ und die kalte Progression etwas abflachen. Die SPD lässt erst ab Seite 39 in ihrem 88 Seiten umfassenden Wahlprogramm die Katze aus dem Sack, wonach die „breiten Schultern” wieder einmal für all das aufkommen müssen, was zuvor an sozialpolitischen Großtaten versprochen wird. Nimmt man all das Wortgeklingel heraus, bedeutet das Wahlprogramm des Kanzlerkandidaten Martin Schulz: Wer ohnehin wenig zahlt, dem wird ein wenig gegeben; wer jetzt schon viel abgeben muss, dem wird noch mehr genommen. Diese Umverteilung wird als „soziale Gerechtigkeit” verkauft. Grüne und Linkspartei halten sich mit Steuersenkungen erst gar nicht auf. Einzig die FDP fordert, dass die Lastenträger der Finanzämter tatsächlich 30 bis 40 Milliarden mehr netto vom Brutto behalten dürfen. Doch das ist für FDP-Chef Christian Lindner heute nur noch „ein Programmpunkt”. Zur Grundbedingung eines Koalitionsvertrages machen die Liberalen hingegen die Homo-Ehe mit allen Rechten. Die wiederum ist SPD-Herausforderer Schulz so wichtig, dass er sie noch vor der Sommerpause im Bundestag beschließen lassen möchte. Mit der Soli-Abschaffung und anderen Steuerversprechen hat er es hingegen nicht so eilig. Denn wer gar zu hartnäckig für Steuerentlastungen eintritt, wird in Deutschland schnell des kaltherzigen Neoliberalismus gescholten, wie Lindner in einem Interview mit der sich liberal dünkenden Zeit zu spüren bekam. SPD-Herausforderer Schulz muss sich von Tina Hassel, der Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, nach dem Parteitag vom Wochenende vorhalten lassen, vor der Vermögenssteuer gekniffen zu haben. Das ist mittlerweile der mediale Sound in Deutschland: Nicht die nach Belgien zweithöchste Abgabenlast unter Industriestaaten wird thematisiert, sondern dass „die Reichen” noch immer geschont würden. Die entsprechenden Daten liefert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dessen Präsident Marcel Fratzscher sich „in nur vier Jahren zum ersten und lautstarken Claqueur der Sozialdemokraten gemausert hat”, wie Rainer Hank in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung aufschlussreich belegt. Für Ökonomen wie Fratzscher hat der Staat kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmeproblem. Was nicht maximal besteuert wird, gilt bereits als „Subvention”. Angefangen vom Diesel über das Ehegattensplitting bis zur Erbschafts- und Vermögenssteuer. Um noch höhere Abgaben zu rechtfertigen, muss stets in Bildung und Infrastruktur investiert werden. Was zwangsläufig die Frage aufwirft, warum Schulen und Straßen verlottern, obwohl die öffentliche Hand 2016 so tief wie nie zuvor in die Taschen ihrer Bürger und Unternehmen griff. Einnahmen von 1.411 Milliarden standen Ausgaben von 1.387 Milliarden Euro gegenüber. Der Überschuss von 23,7 Milliarden ist in Anbetracht der mangelnden Zukunftsvorsorge (Renten, Gesundheit, Überalterung, Sicherheit etc.) mit nicht einmal zwei Prozent eher bescheiden. Wohin geht also das ganze Geld, wenn es für „Investitionen in die Zukunft” dann doch nicht reicht? Werden etwa die 888 Milliarden Euro, die das Ministerium von Andrea Nahles (SPD) als Sozialausgaben auflistet, wirklich effizient eingesetzt? Obwohl diese nicht erst seit dem Zustrom von Flüchtlingen rasant steigen und die Sozialstaatsquote (also der Anteil am Bruttoinlandsprodukt BIP) unter Kanzlerin Angela Merkel auf bald 30 Prozent angestiegen ist, wird in Deutschland nicht über weniger, sondern über noch mehr Staat debattiert. So rechnet der Bund der Steuerzahler vor, dass allein die Wahlgeschenke Mütterrente, Rente mit 63 und deren Ost-West-Angleichung die Alterskassen bis 2030 mit 250 Milliarden Euro zusätzlich belasten. Aufzubringen ist dies letztlich von den Beitrags- und Steuerzahlern. Die aber sind schon heute hoch belastet. Die Sozialabgaben nähern sich wieder bedrohlich der 40-Prozent-Marke. Und wer als Single netto mehr als 3.000 Euro überwiesen bekommt, zählt in Deutschland bereits zu den Reichen. Zum Vergleich: 1960 zahlte den Spitzensteuersatz, wer 18 Mal mehr verdiente als der Durchschnitt; heute genügt dafür bereits das 1,4-fache. Ab 53.666 Euro im Jahr wird jeder zusätzlich verdiente Euro mit 42 Prozent besteuert. Die um drei Prozent höhere „Reichensteuer” setzt ab 256.304 Euro zusätzlich an. Plus Soli und Kirchensteuer. Die SPD will diese nun schon deutlich früher auf 49 Prozent erhöhen, um „möglichst schnell an Geld zu kommen”, wie der für Finanzen zuständige Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel unumwunden zugibt. Selbst die CDU plant nun, Gutverdiener stärker zu belasten. Wie wenig die nun von Union und SPD vollmundig angekündigten „Steuerentlastungen” von rund 15 Milliarden wert sind, verdeutlichen Berechnungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI): Würden Bürger und Betriebe belastet wie vor der Regierung Merkel, hätten sie heute 90 Milliarden Euro mehr für sich zur Verfügung. Das Münchner Ifo-Institut kalkuliert, dass allein die „kalte Progression” zwischen 2011 bis 2016 zu einer schleichenden Mehrbelastung von 70,1 Milliarden Euro geführt hat. Im Gegensatz zum DIW beklagen diese Wirtschaftswissenschaftler, dass „der Staat immer mehr von dem beansprucht, was in einem Jahr erwirtschaftet wird”. Unter Kanzlerin Merkel, deren CDU sich gerne zur Hüterin des Mittelstandes aufschwingt, sei die Steuerquote auf 22,3 Prozent geklettert, rechnet das RWI vor. Tendenz: weiter steigend. Doch damit nicht genug. Neben mehr oder weniger marginalen Verschiebungen bei den Steuertarifen und Freibeträgen haben nicht nur linke Finanzpolitiker ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten zur „Gegenfinanzierung” im Hinterkopf. Das beginnt bei der Grundsteuer, die den „tatsächlichen Werten” angepasst werden soll. Weiter geht es mit einer drastischen Erhöhung der Erbschaftssteuer, um „leistungsloses Einkommen” zu bestrafen. Und es endet noch nicht mit der Abschaffung des Ehegattensplittings, das vom DIW als 15-Milliarden-Subvention deklariert wird. 2012 hat das SPD-nahe Institut der Politik sogar eine Vermögensabgabe empfohlen, die noch lange nicht aus der Welt ist. Auch die Pkw-Maut wird nicht kostenlos zu haben sein. Derweil fressen Null- oder gar Negativzinsen die Vermögen der normalen Sparer auf. Es geht also keineswegs immer nur um das Geld der Anderen. Nur eine Berufsgruppe erlaubt sich steuerfreie Pauschalen: die Abgeordneten. Als ehemaliger EU-Parlamentspräsident zählt der SPD-Kanzlerkandidat in dieser Hinsicht sogar zu den Spitzenreitern.
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Wolfgang Bok
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In Deutschland tritt keine Partei ernsthaft für Steuerentlastungen ein. Das liegt auch an den Medien. Sie prangern hartnäckig an, dass die „die Reichen“ geschont würden, anstatt die Verschwendungsmentalität des Staates zu geißeln. Doch unter der leiden fast alle Berufsgruppen
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"Steuern",
"Steuersenkung",
"Steuererhöhungen",
"SPD",
"CDU"
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wirtschaft
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2017-06-27T10:50:30+0200
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2017-06-27T10:50:30+0200
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https://www.cicero.de/wirtschaft/steuerentlastungen-das-geld-der-anderen-
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Michel Houellebecqs Rede - Der Geist steht nicht mehr links
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Die Beunruhigung mag nicht enden. Michel Houellebecqs Berliner Rede traf einen Muskel im deutschen Bewusstseinsgewebe. Wie chirurgisch genau der Gast aus Frankreich den Gastgebern ins Innere griff, zeigen die Reaktionen in dem, was sie verschweigen oder an den Rand rücken. Natürlich blieb Houellebecq der Islamkritik treu und verlängerte das Szenario seines Romans „Unterwerfung“ auf ganz Europa. Der Kontinent als solcher begehe kulturellen wie demographischen Suizid im Angesicht eines expandierenden Islams. Und natürlich warf er sich zuverlässig machohaft für die Legalität der Prostitution in die Bresche. Vor allem aber stellte er die zwei heikelsten Fragen anno 2016: Ist die Linke nur noch ein Milieu und keine Denkweise mehr? Und ist dieses linke Milieu ein Feind der Freiheit? Schriftsteller fragen auch dann, wenn sie Aussagen formulieren. Jeder Punkt ist ein Fragezeichen, sonst gäbe es nur letzte Sätze, wäre alle Literatur Epilog. Wenn Houellebecq sich nun laut vernehmbar in der Kunst des Abschieds übte, des Abschieds vom Abendland, vom Mann und von der eigenen Zeitgenossenschaft, ist so viel Enden eine Vorbereitung zum Aufbruch. Da bricht ab, was sich aufraffen sollte. Houellebecq schloss deshalb mit dem Appell für ein „neues Denken“. Die professionellen Denker, die Intellektuellen, sollten tun, was Schriftsteller wie er vorbereitet hätten und sich ebenfalls aus der „Zwangsjacke der Linken“ befreien. Ein dezidiert anti-linkes Denken wäre die Folge. Harter Tobak, zumal in deutschen Ohren, denen der Gleichklang von Emanzipation, also Befreiung, und Linkssein ein Gassenhauer ist. Nicht so für Houellebecq. Er verweist auf die „monströse Grausamkeit der französischen Revolutionäre“ und die gegenwärtige „Rückkehr der Sozialisten an die Macht“, unter denen sich die innere Auszehrung des Westens wie auch der linken Denkungsart beschleunigt habe. Die Linke hat sich demnach zum Milieu verpuppt, hermetisch geschlossen im Inneren, „immer aggressiver und bösartiger“ nach außen. Einzelkämpfern wie ihm und seinen verstorbenen Schriftstellerkollegen Philippe Muray und Maurice Dantec sei es aufgetragen, „einzig und allein für ihre Leser“ zu schreiben, „ohne jemals an die Begrenzungen und Befürchtungen zu denken, die die Zugehörigkeit zu einem Milieu einschließt.“ Das Juste Milieu schoss zurück. Houellebecqs Rede sei eine Botschaft aus dem Führerbunker, schwer erträglich, wirr, muffig, nekrophil. Da zündle jemand und sei in seiner Unterstellung „eine Zumutung“. Das darf man so formulieren, bitte sehr. Das Entscheidende aber wird auf ein Nebengleis gerückt: Die bitterernste Anfrage des diesjährigen Trägers des Frank-Schirrmacher-Preises, ob auch hierzulande im Namen des Linken und durch Linke Freiheiten beschnitten werden. Ob sich auch im Deutschland der Regierung Angela Merkel, Heiko Maas und Manuela Schwesig Freiheitsverluste als Demokratiegewinne drapieren. Ob auch in Berlin an einer publizistischen Zwangsjacke gestrickt wird, die das Denken fesselt. Und ob auch an den deutschen Universitäten Milieutreue vor Gedankenfreiheit geht. Um „Aber nein doch!“ entgegnen zu können, muss man Optimist, Opportunist oder Linker sein. Houellebecq, gestand er nun in einem Interview mit der Schweizer Weltwoche, teilte nie die Meinungen der Linken, „in keinem Bereich“. Jedoch sei er auch „nie wirklich für die Rechte gewesen.“ Heute indes seien die Linken „verloren, weil sie keinerlei Unterstützung von der Bevölkerung haben. Das können sie kaum ändern, ihre Ideen werden großenteils abgelehnt.“ Insofern trifft die französische Provokation das deutsche Selbstverständnis ins Mark. Wenn schon in Paris der Geist nicht mehr links steht – wo steht er bei uns? Aus welchen Quellen könnte er sich erneuern? Aus jenen, die Houellebecq andeutete, aus den Quellen der literarischen Tradition, der Modernekritik und des politischen Realismus? Über diese peinliche Befragung hinwegzugehen, hieße den Ernst der Lage und den Unernst dessen zu verkennen, was wir Debatte nennen und doch oft nur Klientelpflege ist, Selbstberuhigung und Bequemlichkeit. Mit einem Wort: Dummheit.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Michel Houellebecqs Berliner Rede war eine scharfe Anfrage an die deutschen Verhältnisse und wurde missverstanden. Wer den Linken ihre Neigung zur Unfreiheit vorwirft, muss mit Widerstand rechnen. Dahinter steckt die Sorge um Machtverlust
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kultur
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2016-09-29T16:42:21+0200
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2016-09-29T16:42:21+0200
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Nahostkonflikt und kein Ende - Warum Moral nicht weiterhilft
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Die Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern intensivieren sich. Dennoch wäre es ein Fehler, dies als einen weiteren Krieg zu betrachten. Der Krieg wurde schon geführt, bevor Israel formal ein Staat war – und ging auch weiter, nachdem der Rest der arabischen Welt das Interesse an dem Konflikt verloren hatte. Jede Seite sieht sich selbst als Opfer, und stets wird darüber debattiert, wer das aktuelle Kapitel in diesem schon so lange anhaltenden Konflikt begonnen hat. Die Position der Palästinenser ist einfach: Dies ist das Land, das sie besaßen, als ausländische Siedler es ihnen wegnahmen und eine Regierung einsetzten, die sie an den Rand drängte. Die israelische Position lautet, dass man nach der Shoah nirgendwo auf der Welt hingehen konnte, wo man vor einem abermaligen Holocaust sicher sein würde – also kehrten sie in ihre alte Heimat zurück. Das moralische Argument ist mit der Zeit komplexer und bitterer geworden. Die Palästinenser argumentieren, dass sie nicht den Preis für einen europäischen Völkermord zahlen sollten. Die Israelis argumentieren, dass es so etwas wie einen palästinensischen Staat nie gegeben hat, dass er allenfalls immer eine Provinz anderer Mächte war. Diese Argumente sind nicht füreinander bestimmt, sondern für den Rest der Welt. Bei seiner Gründung brauchte Israel andere Nationen, um sein moralisches Argument zu akzeptieren und somit seine Existenz als Staat zu legitimieren. Jetzt sind es die Palästinenser, die Unterstützung von außen fordern. Beide Seiten erhielten immer wieder Unterstützung aus dem Ausland, das sich allerdings weniger um ihr jeweiliges Schicksal kümmerte, sondern seinen eigenen zynischen politischen oder geopolitischen Vorteil suchte. Es ist immer leicht, die eine oder andere Seite zu verurteilen, wenn man das Schicksal der beiden nicht teilt. Wenn der israelisch-palästinensische Krieg eine moralische Frage ist – und moralische Fragen als handlungsbestimmend angesehen werden –, dann scheint es, dass noch viele Kämpfe ausgefochten werden müssen. Moralische Haltungen, die nicht das Eingehen persönlicher Risiken beinhalten, sind das ewige, irrelevante Hintergrundrauschen der Geopolitik. Die geopolitische Frage ist einfach. Israel wurde auf Land gegründet, auf dem Palästinenser lebten; es ging um die Notwendigkeit, einen verteidigungsfähigen Standort zu finden. Die Palästinenser wollten weder enteignet werden noch das Recht auf Selbstbestimmung in einer Welt verlieren, die es angenommen hatte. Die Angst vor dem Fremden ist überall verbreitet, und in jedem Land lauert diese Angst. Moralisten, die fordern, dass diese Angst aufzugeben sei, mögen sich besser fühlen. Aber sie tragen selbst nichts zur Lösung bei. Die Angst und der Hass der Palästinenser und Israelis vor dem anderen ist real. Israel hat Palästina besetzt, weil es wenig andere Möglichkeiten hatte – und weil es dazu in der Lage war. Die Palästinenser haben sich gewehrt. Es ist schwer, sich eine zeitgenössische Nation vorzustellen, die nicht durch die Inbesitznahme eines Teils oder der Gesamtheit einer anderen Entität entstanden ist. Die Migration von Juden nach Palästina begann vor mehr als einem Jahrhundert, und der Staat wurde vor mehr als 70 Jahren gegründet. Von welchem Zeitpunkt an hat man auf Grundlage von Moral das Recht dazu, Land einzufordern? Nach einem Jahrhundert? Oder einem Jahrtausend? Von den moralischen Parolen einmal abgesehen, stellt sich die Frage, warum die Juden militärisch überlegen sind, wo sie doch in den zurückliegenden Jahrhunderten kein besonders kriegerisches Volk waren. Die Antwort ist der Kalte Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfiel das britische Empire, sodass es seine Besitzungen in Palästina aufgeben musste. Der neu gegründete israelische Staat konnte die ihn angreifenden arabischen Staaten besiegen, weil die Briten sie unorganisiert und schlecht bewaffnet zurückgelassen hatten. Nach Israels Gründung leisteten die Sowjets, die das britische Empire ersetzen wollten, militärische Hilfe für Israel, dessen führende politische Kraft eine linke Partei auf der Suche nach einem Verbündeten war. Es gelang ihr nicht, einen solchen zu finden, und als es 1956 zur Suezkrise kam, ermutigten die Briten und Franzosen einen israelischen Angriff auf den Sinai. Danach war Frankreich Israels größter Unterstützer – bis 1967, als die USA erkannten, dass Israel von Nutzen im Konflikt mit der Sowjetunion sein könnte, die in Ägypten, Syrien und im Irak als übermächtig angesehen wurde. Die Vereinigten Staaten sahen Israel als ein Gegengewicht. Ein Krieg im Jahr 1973 gegen die sowjetischen Verbündeten Ägypten und Syrien führte zu mehr US-Hilfe. Kurzum: Israel war ein Aktivposten für westliche Mächte, die andere Ziele verfolgten. Palästinensische politische Organisationen waren ägyptische Einheiten. Der spätere PLO-Führer Yasser Arafat brachte eine enge Beziehung zu den Sowjets mit. Die PLO verband sich eng mit europäischen radikalen Gruppen, die Terroranschläge in Europa gegen jüdische und andere Ziele verübten. In den 1970ern und 1980ern war die PLO die dominierende arabische Gruppe, die mit dem sowjetischen Geheimdienst verbandelt war und eher zum Terrorismus neigte, als sich auf einen Territorialkrieg vorzubereiten. Als die Sowjetunion zu kollabieren begann, war Israel dank seiner Partnerschaft mit den USA zu einer äußerst fähigen Militärmacht geworden. Die Ägypter und die Sowjets sahen in den Palästinensern ein Werkzeug, um ihre Feinde zu destabilisieren, versäumten es aber, eine moderne Armee aufzubauen, die Israel herausfordern konnte. Die Schwäche der Palästinenser besteht darin, dass keine Großmacht sie als konventionelle militärische Kraft sah – besonders, weil die arabischen Länder keine so große militärische Kraft in ihren eigenen Ländern haben wollten. Also verlegten sie sich auf Entführungen und Bombenanschläge, trainierten aber keine konventionelle Kriegsführung. Was sich heute in Gaza abspielt, ist ein modernes konventionelles Militär, das „Soldaten“ gegenübersteht, die von einer ganz anderen Kultur inspiriert sind. Die Hilfe, die Palästina heute vom Iran erhält, ändert das nicht grundlegend. Die Palästinenser können nicht gewinnen, aber sie können Israel Schaden zufügen. Das ist eine jämmerlich unzureichende Erklärung für die palästinensische Schwäche und die israelische Stärke. Es gibt kulturelle Fragen, es gibt die Sicht der arabischen Staaten auf die Palästinenser und noch vieles mehr. Aber Israels militärische Fähigkeiten waren 1948 schlecht ausgebildet. Sie entwickelten sich schnell aufgrund des sowjetischen Einflusses in den arabischen Ländern und wegen des Interesses von Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten, diesem Einfluss entgegenzutreten. Die Palästinenser werden von vielen als Opfer gesehen. Das ist hier kein praktikabler Begriff – aber wenn man ihn schon verwendet, dann waren sie nicht nur Opfer Israels, sondern auch Ägyptens, Syriens und der Sowjets, die zwar alle eine Verwendung für sie als kleine Gruppen von verdeckten Agenten hatten. Aber kein Interesse daran, dass sie eine moderne palästinensische Armee in einem Nachbarland aufbauten. Außerdem gab es kein Nachbarland, das eine solche Armee willkommen geheißen hätte. Eine Intifada mit ein paar Selbstmordattentätern wird Israel weder zu Fall bringen noch an den Verhandlungstisch zwingen. Und die Palästinenser haben keine Verbündeten, die ihnen dabei helfen würden, sie in diese Lage zu versetzen. Moralisches Empfinden ist mit vielerlei Problemen verbunden. Die Realität der Macht ist das größte davon. In Kooperation mit
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George Friedman
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Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern flammt mit aller Gewalt wieder auf. Es ist immer leicht, die eine oder andere Seite moralisch zu verurteilen, wenn man das Schicksal der beiden nicht teilt. In Wahrheit ging es schon immer um geopolitische Interessen.
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"Israel",
"Palästinenser",
"Gaza",
"Nahost-Konflikt"
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außenpolitik
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2021-05-18T16:26:30+0200
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2021-05-18T16:26:30+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/nahostkonflikt-israel-palaestinenser-moral-george-friedman
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FDP - „Der AfD nachzueifern, geht in die Irre“
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Lars Haider: Lieber Christoph, nun hatten ja alle in der FDP so auf die Wahl in Hamburg gehofft: Und jetzt liegen die Liberalen in der ersten Umfrage wieder nur bei zwei Prozent. Wer oder was kann sie noch retten?Christoph Schwennicke: Der Lindner Christian. Weil nur noch er übrig ist. Last man standing. Aber ganz ehrlich: Wenn das in Hamburg bei zwei Prozent bleibt, kann er das Licht ausmachen. Mit Hamburg sollte der Wiederaufbau beginnen. Hamburg, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, das sollte der FDP-Dreisprung zurück auf die politische Bühne werden. Haider: Wird er wohl nicht... Ich sehe nicht, wie der Lindner in Hamburg daran etwas ändern könnte. Du?Schwennicke: Schwierig bis unmöglich. Der AfD nachzueifern, geht in die Irre. Wenn Lindner den Lucke macht, gewinnt Lucke. Bürgerliche Freiheit, Freiburger Schule, das wäre ein Weg. Aber es ist nicht Lindners. Haider: Bei uns fordern Leser schon, wir mögen die FDP doch bitte so behandeln wie andere der sonstigen Parteien. Einer schrieb: „Warum berichten Sie noch über die?“Schwennicke: Das finde ich zu hart und unhistorisch. Journalistisch ist die Frage schon interessant, ob es die Apo-FDP zurück in die Parlamente schafft. Wenn sie 2017 im Bundestag wieder an der Fünfprozentmauer zerschellt, dann teile ich diese Einschätzung. Bis dahin nicht. Haider: Also würdest du vor der Hamburg-Wahl ein großes Interview mit Lindner machen? Oder doch lieber mit Kubicki?Schwennicke: Mit beiden. Obwohl: Wenn Lindner dabei ist, dann traut sich Kubicki seine innerparteilichen Unverschämtheiten nicht. Das macht er nie von Angesicht zu Angesicht. Immer nur über die mediale Bande. Das E-Mail-Pingpong ist Teil einer Kooperation mit dem Hamburger Abendblatt und erscheint dort jeden Samstag. Im Rahmen des Treueprogramms bekommen Abonnenten des Hamburger Abendblattes drei Ausgaben des Cicero geschenkt.
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Lars Haider
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Der Chefredakteur des Hamburger Abendblattes, Lars Haider, fragt. Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke antwortet. Per E-Mail. Ein Pingpong zur hoffnungslosen Lage der FDP
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innenpolitik
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2014-12-01T12:49:48+0100
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2014-12-01T12:49:48+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/fdp-lindner-kubicki-der-afd-nachzueifern-geht-in-die-irre%E2%80%9C/58561
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Offener Brief - Journalistenverbände fordern Freilassung von Deniz Yücel
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Sehr geehrter Herr Staatspräsident, wir schreiben Ihnen im Bemühen um unsere Kollegen Deniz Yücel, Meşale Tolu und alle anderen Kolleginnen und Kollegen, die aktuell in der Türkei aus politischen Gründen festgehalten werden. Die Vereine, die wir vertreten, organisieren seit Jahrzehnten Recherchereisen ins Ausland, finanzieren Recherchen in anderen Ländern und fördern Kooperationen zwischen Journalistinnen und Journalisten über Ländergrenzen hinweg. Wir legen Wert auf den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort, verfolgen keine Agenda, sondern fordern und fördern eine freie und ausgewogene Berichterstattung. Dafür müssen aber der Zugang und eine freie Recherche vor Ort möglich sein. Eine Arbeit frei von Angst vor politischer Verfolgung unserer Gesprächspartner und Kollegen. Um ausgewogen berichten zu können, müssen Journalisten die Vorstellungen und Meinungen von Akteuren aller Seiten kennenlernen, nur so können sie der Komplexität eines Landes in der Berichterstattung gerecht werden. Wir glauben daran, dass es in einer globalisierten Welt Berichterstattung aus anderen Ländern braucht, um das Verständnis füreinander, für unsere Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu stärken. Diese Arbeit braucht Mut, um hinauszugehen in die Welt und sich dieser Herausforderung zu stellen. Einen Mut, den Deniz Yücel und viele andere Kollegen jeden Tag mit ihrer Arbeit beweisen. Deshalb fordern wir Sie auf: Schützen Sie die Presse- und Meinungsfreiheit in Ihrem Land. Sie sind feste Bestandteile einer Demokratie. Gleichzeitig rufen wir Sie dazu auf, Deniz Yücel, die deutsche Journalistin Meşale Tolu und alle anderen ausländischen Gefangenen, die in Ihrem Land aus politischen Gründen festgehalten werden, umgehend freizulassen. Wir fordern außerdem, dass auch alle in der Türkei lebenden Kolleginnen und Kollegen, die aus politischen Gründen festgehalten werden, ohne weitere zeitliche Verzögerung auf freien Fuß gesetzt werden und ihr Recht auf einen fairen Prozess respektiert wird. Hochachtungsvoll,
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Cicero-Redaktion
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An seinem heutigen 44. Geburtstag sitzt der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel bereits seit 209 Tagen in der Türkei in Haft. Aus diesem Anlass drängen 14 Organisationen Präsident Erdogan, Yücel und die anderen inhaftierten Journalisten sofort auf freien Fuß zu setzen
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"Deniz Yücel",
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außenpolitik
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2017-09-07T14:05:19+0200
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2017-09-07T14:05:19+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/offener-brief-journalistenverbaende-fordern-freilassung-von-deniz-yuecel
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Dagmar Wöhrl - CSU-Abgeordnete im Dienste einer Schweizer Bank
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„Trrransparrrenz!“: Mit gerolltem R, vorgetragen in ihrem charmanten fränkischen Singsang, gehört das Wort zu den Lieblingsbegriffen von Dagmar Wöhrl. Die CSU-Bundestagsabgeordnete aus Nürnberg redet überhaupt gern von sich und ihrer Arbeit. Über ihre Homepage, Twitter und Facebook und ihren Blog namens „Wöhrl Wide Web“ versorgt sie ihre Wähler mit Kochrezepten, Literaturtipps, schreibt über ihre Liebe zum 1. FC Nürnberg und berichtet von ihrer Arbeit als Vorsitzende des Bundestagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hier liege ihr seit Jahren „die Unterstützung für die Ärmsten der Armen sehr am Herzen“, schreibt die ehemalige Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium. Weniger auskunftsfreudig wird Wöhrl, 59, wenn es um ihre Nebentätigkeit im Verwaltungsrat der Schweizer Bank J. Safra Sarasin geht. Für diesen Job als Aufseherin hat sie vergangenes Jahr laut ihrer Bundestagshomepage Einkünfte in Höhe der Stufe 6 erhalten: einen Betrag zwischen 50.000 Euro und 75.000 Euro. Vielleicht redet Wöhrl nicht so gern über ihr Engagement bei der Sarasin-Bank, weil dem Schweizer Geldinstitut wohl eher die Unterstützung für die Reichsten der Reichen am Herzen liegt. Seit einem Bericht des Stern von Ende März steht das Baseler Geldinstitut wegen Aktiengeschäften zulasten des deutschen Steuerzahlers in der öffentlichen Kritik. Es geht dabei um sogenannte Cum-Ex-Deals. Diese Geschäfte fanden im zeitlichen Umfeld jenes Tages statt, an dem für Aktien die Dividende ausgeschüttet wird. Rund um diesen Stichtag wurden mehrfach in riesigen Stückzahlen Aktien hin- und herverkauft, erst mit Dividende (cum) und anschließend – nach der Auszahlung der Dividenden – ohne (ex). Ziel der beteiligten Anleger und Banken war es, sich die nur einmal für die Dividende entrichtete Kapitalertragssteuer hinterher mehrfach erstatten zu lassen. Sie nutzten dazu eine Gesetzeslücke im deutschen Steuerrecht. Weil bei diesen Deals auch sogenannte Leerverkäufe abgewickelt wurden, bei denen zunächst nur geliehene Aktien verkauft wurden, war für die Finanzbehörden nicht ersichtlich, wer zum Zeitpunkt der Dividendenausschüttung der rechtmäßige Inhaber der Aktien war. Im Ergebnis zahlte der Staat mehr Steuern zurück als er vorher eingenommen hatte. Erst 2012 wurde die Gesetzeslücke geschlossen, von Finanzminister Wolfgang Schäuble, dem Fraktions- und Regierungskollegen von Dagmar Wöhrl. Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften ermitteln derzeit bundesweit in mehr als 50 Cum-Ex-Fällen, bei denen der Fiskus um mehr als 1,5 Milliarden Euro betrogen worden sein soll. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher. Die Sarasin-Bank wird mehrfach mit Cum-Ex-Deals in Verbindung gebracht. Zu ihren deutschen Kunden gehören der Drogerieunternehmer Erwin Müller, der Gründer des Finanzvertriebs AWD, Carsten Maschmeyer, und Schalke-Boss Clemens Tönnies, die Millionen in entsprechende Fonds investiert haben sollen. Maschmeyer sammelte zusätzlich noch Geld bei seiner Exfrau Bettina, seiner Verlobten Veronica Ferres und seinem Freund, dem HSV-Trainer Mirko Slomka, für das Investment ein. Seit diese Spezialität der Bank enthüllt ist, steht deren Verwaltungsrätin ziemlich entblößt da. Ihr Engagement für die Schwächeren in aller Welt wirkt wie Verkleidung. „Frau Wöhrl trägt eine Mitverantwortung für die Geschäfte zulasten der deutschen Steuerzahler“, sagt Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Grünen. Jan van Aken von der Linkspartei fordert Wöhrl auf, sich zu entscheiden, „ob sie eine Volksvertreterin oder Steuerflüchtlingshelferin sein will“. Wöhrl antwortet auf die Frage, ob sie nach den gegen die Bank erhobenen Vorwürfen nicht ihr Verwaltungsratsmandat niederlegen müsse: „Ein Bericht in einem Magazin ist für mich kein Handlungsgrund.“ Ihre Reaktion auf die Cum-Ex-Deals erscheint zumindest moralisch widersprüchlich. Einerseits begrüßt sie es, dass Finanzminister Schäuble die Gesetzeslücke geschlossen habe, weil man diese Deals nicht gutheißen könne. Andererseits beharrt die Rechtsanwältin auf einem juristischen Standpunkt: Sie wolle die Entscheidung des Bundesfinanzhofs abwarten, ob es sich bei den Cum-Ex-Deals im Zeitraum vor 2012 um zulässige Steuergestaltung oder rechtswidrige Steuerhinterziehung gehandelt habe. Das Urteil wird im Mai erwartet*. Ob es Konsequenzen für ihren Verbleib im Verwaltungsrat haben könnte, will sie jetzt nicht entscheiden. Das passt zum Verständnis ihrer Tätigkeit als Aufseherin der Bank, die auf ihrer Homepage nachzulesen ist: Danach versteht sie es als ihre Pflicht, kritische Anmerkungen zu machen, die sich von den Vorstellungen des Vorstands unterscheiden.
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Til Knipper
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Die CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl kleidet sich gerne als Helferin der Armen. Gleichzeitig arbeitet sie für eine Schweizer Bank, mit der Reiche den Staat schröpfen. Eine Kostprobe aus der Mai-Ausgabe des Cicero
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wirtschaft
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2014-07-11T13:50:19+0200
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2014-07-11T13:50:19+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/dagmar-woehrl-csu-abgeordnete-in-schweizer-diensten/57911
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Tunesien - Ministerin wegen Israel-Reise im Shitstorm
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Sie spricht sieben Sprachen, studierte in Deutschland, leitet seit 2007 ihr eigenes Unternehmen, schreibt nebenher an ihrer Doktorarbeit an der Universität Oxford und ist Mutter zweier Töchter. Amel Karboul ist ein Multitalent, ein äußerst erfolgreiches noch dazu. Die 40-jährige Tunesierin sammelte Berufserfahrung bei Mercedes-Benz und der Boston Consulting Group, sie beriet internationale Unternehmen. Ein Vorbild für viele junge Frauen, möchte man meinen, vor allem für junge Tunesierinnen: Karboul vereint beruflichen Erfolg und Ehrgeiz mit ihrem Familienleben – ihr deutscher Ehemann Marcus Gottschalk ist auch ihr Geschäftspartner. Normalerweise fliegen der zierlichen und stets professionell agierenden Karboul die Sympathien zu, als Unternehmens-Coach und Interviewpartnerin ist sie gleichermaßen gefragt. Nun soll Karboul als neue Tourismusministerin das angeschlagene Urlaubsland Tunesien wieder auf Vordermann bringen, am Sonntag verkündete Übergangspräsident Mehdi Jomaa die Mitglieder seines Kabinetts. Doch ausgerechnet in ihrem Heimatland schlägt der Tunesierin Karboul jetzt eine Welle der Ablehnung entgegen. Als Unternehmensberaterin arbeitete Karboul nahezu auf der ganzen Welt, das Reisen gehörte zu ihrer täglichen Arbeit. Beste Voraussetzungen für eine Tourismusministerin – doch eine der Destinationen von Karboul ruft in Tunesien nun Kritiker auf den Plan: Sie soll auch nach Israel gereist sein. Das gehe aus einem im Internet kursierenden Lebenslauf Karbouls hervor, berichteten tunesische Medien seit Montag. Übergangspräsident Mehdi Jomaa bestätigte am Dienstagabend vor Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) zwar, dass Karboul im Rahmen eines Programms der Vereinten Nationen für ein Training palästinensischer Jugendlicher über den Flughafen Tel Aviv nach Israel eingereist sei. Nach einer rund sechstündigen Befragung durch die Sicherheitsbeamten am Flughafen aber konnte besagtes Training ncht stattfinden. Der parteilose ANC-Abgeordnete Brahim Gassas hatte die designierte Tourismusministerin bereits zuvor lautstark aufgefordert: „Wenn du wirklich in den besetzten Gebieten warst – Israel erkenne ich nicht an – dann pack' deine Sachen und verschwinde!“. Gassas ist für seine temperamentvollen verbalen Ausfälle bekannt. Doch so befremdlich sein jüngster Ausbruch und dessen Begründung auch sind: Gassas ist keineswegs der einzige tunesische Politiker, der sich kritisch über die Ernennung Karbouls als Tourismusministerin äußert. Auch Issam Chebbi von der säkularen Al Joumhouri-Partei äußerte Bedenken. Es sei fraglich, ob die ANC-Abgeordneten der Übergangsregierung ihr Vertrauen aussprechen könnten, so Chebbi, dessen Kritik sich jedoch nicht nur auf Karboul beschränkt, sondern auch zwei weitere Minister betrifft. Der Abgeordnete Mourad Amdouri kritisierte in einer Rede vor der ANC deutlich, dass ein Mitglied der neuen Übergangsregierung ganz offensichtlich eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel akzeptiere. Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu hitzigen Diskussionen über das Verhältnis Tunesiens zu Israel. Seit fast 14 Jahren unterhält Tunesien, von 1982 bis 1991 vorübergehende Heimat der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, keine diplomatischen Beziehungen zum israelischen Staat. Mit der zweiten Intifada 2000 endete eine zögerliche und diskrete Entspannung der Beziehungen abrupt. Während der Verhandlungen über die neue Verfassung Tunesiens forderten einige Abgeordnete, die Normalisierung jeglicher Beziehungen zu Israel im Verfassungstext zu untersagen. Auch außerhalb der ANC wurde diese Forderung laut: So sprachen sich unter anderem Omar Chahed von der Partei El-Ghad und die Tunesische Liga für Toleranz (LTT) dafür aus, die Normalisierung der Beziehungen zu Israel in der neuen Verfassung zu kriminalisieren. Die Mehrheit der ANC-Abgeordneten lehnte dies ab, auch die islamistische Ennahda-Partei schloss sich dieser Ablehnung an. Zouheir Maghzaoui von der Bewegung Echaab, die sich für eine Kriminalisierung der Beziehungen zu Israel eingesetzt hatte, zeigte sich enttäuscht und vermutete, dass es sich dabei um „ein Diktat äußerer Kräfte“ handele. Zwar wird in der neuen Verfassung auf einen Artikel verzichtet, der die Normalisierung der Beziehungen zu Israel kriminalisiert – die Präambel jedoch schafft klare Verhältnisse: Die ANC-Abgeordneten und Repräsentanten des tunesischen Volkes, heißt es dort, „möchten alle Opfer von Ungerechtigkeit (…) und Freiheitsbewegungen unterstützen, an deren Spitze die Bewegung zur Befreiung Palästinas steht“. Allen Formen von Kolonialisierung und Rassismus widersetze man sich, fügen die Verfassungsschreiber hinzu. Am späten Dienstagabend stellte sich Übergangspräsident Mehdi Jomaa in einer ANC-Sitzung schützend vor seine Tourismusministerin Amel Karboul. Auch Teile der Zivilbevölkerung beziehen Position und riefen spontan eine Online-Petition zur Unterstützung Karbouls ins Leben. Tunesien brauche kompetente Persönlichkeiten wie Karboul, heißt es in der Petition. Der Versuch, ihre Eignung für die Übergangsregierung aufgrund beruflicher Reisen in Frage zu stellen, sei skandalös. Amel Karboul selbst bot mittlerweile ihren Rücktritt an. Tunesischen Journalisten sagte sie, um ihre Aufgabe als Ministerin zu erfüllen, brauche sie die Unterstützung aller. Dass ihr Kurztrip nach Israel einen derartigen Skandal verursachen könnte, habe sie nie für möglich gehalten. Sollte sie dennoch Tourismusministerin bleiben, will Amel Karboul hoch hinaus. „Ich möchte nicht nur die kommende Saison retten, sondern die nächsten zwanzig“, sagte sie einem tunesischen Radiosender. Das wären gute Aussichten für den angeschlagenen tunesischen Tourismussektor, der sich nach vielen Krisen nur langsam wieder stabilisiert. Das Land braucht Urlauber – und Übergangspräsident Jomaa eine weltoffene und international erfahrene Ministerin. Er lehnte Karbouls Rücktrittsangebot daher ab. Im vergangenen Sommer sprach Karboul mit dem Deutschlandradio über ihre Arbeit als Change-Management-Beraterin. Damals beschrieb sie, wie schnell sich in Zeiten des Wandels Dynamiken verselbstständigen und die Beteiligten selbst überraschen können. Damals ging es um Unternehmen. Heute geht es um ihr Heimatland. Fotos: picture alliance, change-leadership.net
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Katharina Pfannkuch
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Kaum ist die junge Regierung in Tunesien im Amt, da bläst ihr brutale Kritik entgegen: Tourismusministerin Amel Karboul hat es gewagt, nach Israel zu reisen. Hardliner fordern jetzt ihren Rücktritt
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außenpolitik
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2014-02-01T09:30:32+0100
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2014-02-01T09:30:32+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/tunesien-tourismusministerin-shitstorm-israel-reise-hardliner/56956
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Eröffnung Berlinale 2016 - Heil dem Kino
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Die Berlinale des Jahres 2016 eröffnet mit Jesus am Kruzifix und einer Hand, die den Rosenkranz umklammert: Mit diesen beiden Einstellungen beginnt die Selbstfeier des Kinos, zu der die Brüder Ethan und Joel Coen einen fulminanten Beitrag beisteuern. Fast schon traditionell ist der Eröffnungsfilm dem Augenfutter vorbehalten, so war es 2014 mit Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“, 2015 mit Isabel Coixets „Nobody wants the night“. Nun also außer Konkurrenz „Hail Caesar“, eine vorab eher mäkelig besprochene und in den USA medioker besuchte Einkehr der Traumfabrik zu sich selbst. Die Coens erzählen die fiktive Geschichte der 1950 angesiedelten Dreharbeiten zu einem Jesus- und Sandalenfilm, dem titelgebenden „Hail Caesar“, „Heil dem Caesar“. Die anfangs betenden Hände gehören dem 1963 verstorbenen Studiomanager Eddie Mannix (Josh Brolin), einem praktizierenden Katholiken, der sein Auge ruhen lässt über den Gerechten und Ungerechten der „Capitol Pictures“. Subtil nicht immer, aber konsequent deklinieren die Coens die Nachbarschaft von Kino und Religion durch. Da gibt es Liebe und Verrat, Treue und Untreue, gibt es jene, die ihr Licht auf den Scheffel stellen, und solche, die gar keins haben. Etwa im Fall des von Alden Ehrenreich wunderbar gespielten Cowboydarstellers Hobie Doyle, eines zerebral gering begabten Pferdenarren, der auf Wunsch des im Hintergrund als Deus Absconditus die Fäden ziehenden und darum bilderlos bleibenden Filmmoguls Schenck in einem Tanzfilm besetzt wird. Quälend lang bemüht Regisseur Laurence Laurentz (Ralph Fiennes) sich darum, dem geistigen Haubentaucher mit dem Stahlkinn einen schlichten Satz wie „Das ist alles nicht so einfach“ beizubringen, ohne dass die Lade kippt oder die Lippe nölt. Erfolglos. Selten wurde in einem Film derart häufig auf Armbanduhren geschaut: Hollywood, das ist auch ein Stundenplan für Kinder. Ist ein Zirkus für Menschen, die sich bezahlen lassen, damit sie nicht erwachsen werden. Auch der Hauptdarsteller des Films im Film, Baird Whitlock (George Clooney), ist ein liebenswerter Schlichtling, der keine Geschichte kennt, sondern nur Anekdoten und Lappalien. Gerade er gibt dann im „Hail Caesar“ den auf Golgatha zu Christus bekehrten römischen Tribun Autolochus Antoninus – eine Szene, die Pathos, Kitsch und Ernst unentwirrbar verknäult. Bis ein „Schnitt!“, wie immer ein „Schnitt!“, die Rolle vernichtet und die Person hervorzwingt. Für Augenblicke nur. Natürlich gibt es zu viele Zutaten im filmischen Ratatouille der Coens. Die eher unlustig geratene Verschwörung kommunistischer Drehbuchautoren, die um einen besseren Schnitt für sich ringen, zieht sich pointenschwach in die Länge. Gleiches gilt von der aufwendigst choreografierten Gesangsnummer mit steppenden Matrosen um Channing Tatum in der Hafenbar. Ja, ja, in den 50er Jahren sang und tanzte man gerne in Hollywood. Es ist ein ebenso funktionierendes wie patriarchalisches Produktionssystem, in dem Frauen der Aufhübschung (Scarlett Johanssen) oder dem Krawall dienen (Tilda Swinton in urkomischer Zwillingsrolle als Klatsch- und Gesellschaftsjournalistin, was immer der Unterschied sein mag.) Dennoch liefert „Hail Caesar“ den denkbar besten Proviant für alles, was kommen mag auf der 66. Berlinale. Aus zwei Gründen: Johanssen spricht als derbes Goldköpfchen DeeAnna Moran, ein schwimmender Esther-Williams-Verschnitt, gegenüber einem Juristen mit dem Spezialgebiet halbseidener Identitätserfindungen die allen Filmen, auch den ernstesten, zugrundeliegende Fiktion aus: „Ihre Rolle also ist die Person?“ Nur von Rollen werden wir künftig berichten, von Ausdenkungen und Eingebungen; die hier offensiv als Unmöglichkeit dargestellte Person bleibt draußen auch bei den allerrealistischsten, bittertraurigsten Spielfilmen. Zweitens ist Film zwar nicht immer, wie eine Onkelstimme aus dem Off raunt, „lindernder Balsam auf unseren Nöten.“ Immer aber geschieht da Verwandlung mit uns, den Zuschauern, und unseren Wunden, momenthaft. Womit wir wieder, wie am Ende der Geschichte um Autolochus Antoninus, auf einem künstlichen Golgatha gelandet wären. Hollywood hat für alles eine Lösung, solange der Saal dunkel und die Leinwand hell ist. Selbst aus dem Stolpersatz für den Cowboy, wonach alles nicht so einfach sei, wird schließlich ein fehlerfrei gebrummtes „Das ist kompliziert“. Film ist die Kunst, Umwege als Auswege zu verkaufen.
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Alexander Kissler
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Mit der Komödie „Hail Caesar“ der Coen-Brüder wurde die diesjährige Berlinale eröffnet. Der unterhaltsame Film mit George Clooney und Scarlett Johansson ist perfekter Proviant für alle kommenden Beiträge. Er zeigt Kino als eine große Kunst der Umwege
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kultur
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2016-02-12T09:55:52+0100
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2016-02-12T09:55:52+0100
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https://www.cicero.de//kultur/eroeffnung-berlinale-2016-heil-dem-kino/60488
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EU in der Coronakrise - Europäische Trugbilder
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Die Deutschen sind vernarrt in das Narrativ. Nur groß muss die Erzählung sein. Wenn nicht die Welt (Klima, Flüchtlinge), so sollte zumindest Europa gerettet und gegen das Gift des Nationalismus mit viel Geld immunisiert werden. Wer da kleinlich rechnet und dezent darauf verweist, dass Länder wie die Schweiz oder nun Großbritannien gut ohne die Vorgaben aus Brüssel zurechtkommen; und es sogar EU-Länder gibt, die ohne den Euro (Schweden, Dänemark) recht angenehm leben, wird unversehens in die rechte Ecke gedrängt. Vom Bundespräsidenten über die Bundeskanzlerin bis hin zu nahezu allen Medien, Kirchen und Verbänden herrscht Einigkeit: Für das Friedensprojekt Europa müssen die Deutschen eben solidarisch bis zur Schmerzgrenze sein. Frei nach Mario Draghi: „Whatever it takes“. Notfalls müssen eben die Steuern und Abgaben, die heute schon die höchsten unter den 36 OECD-Ländern sind, weiter erhöht werden, damit Rom oder Madrid dies ihren Landsleuten nicht zumuten müssen. Denn das würde im Süden nur weiteren Groll gegen Brüssel und Berlin schüren. Aber schon dieser Verweis gilt als anti-europäisch. Zu dumm nur, dass ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht daran erinnert, dass die deutsche Europa-Liebe auf Trugbildern baut: Den Bürgern wird erzählt, dass die Vertiefung vom Staatenbund zum Bundesstaat ohne Aufgabe der nationalen Souveränität zu haben sei. Auf 138 Seiten haben die Hüter der deutschen Verfassung dargelegt, wie sehr Europäische Zentralbank (EZB), Europäischer Gerichtshof und EU-Kommission den vorgegebenen Rahmen einer Vertragsgemeinschaft sprengen. Und wie leichtfertig sich das deutsche Parlament sein Königsrecht, nämlich die Etatfestsetzung, von diesen demokratisch nicht ausreichend legitimierten Institutionen beschneiden lässt. Denn wozu noch um Tausender-Beträge in Kommunen, Bezirken, Ländern und beim Bund ringen, wenn neben der EZB nun auch noch die EU die Märkte mit Abermilliarden flutet – und damit vor allem Deutschland als Hauptfinanzier gigantische Haftungsrisiken aufbürdet? Also letztlich die Etat-Hoheit ad absurdum führt. Um diese berechtigte Frage erst gar nicht diskutieren zu müssen, hat Kanzlerin Merkel bereits 2010 die Kritiker der Griechenland-Rettung mit einem Totschlagargument zum Schweigen gebracht: „Scheitert der Euro, scheitert Europa!“ Also sei es alsbald vorbei mit der Friedensunion, von der Deutschland angeblich besonders profitiert. Kein Wort davon, dass die Bundesrepublik auch schon vor dem Euro Meister des Exports war und friedlich mit den Nachbarn lebte. Oder dass die Transferbezieher weit größeren Nutzen aus der Union ziehen als der ewige Nettozahler, der seine Verkäufe indirekt selbst mit finanzieren muss. Was wiederum den Zuspruch der Wirtschaft zu Wiederaufbauprogrammen erklärt. Bis Ende Mai 2020, bis Kanzlerin Merkel zusammen mit dem französischen Präsidenten Macron ein 500-Milliarden-Paket schnürte und damit nicht nur eine 180-Grad-Wende zur Schuldenunion vollzog, wurde von Berlin auch ein zweites Trugbild gepflegt: Dass man die europäische Einigung weiter vertiefen kann, ohne erst in eine Haftungs- und dann in eine Schuldenunion zu schlittern. Dass also letztlich die ohnehin geschröpften deutschen Sparer und Steuerzahler nie und nimmer für die Banken der insgesamt gesehen wohlhabenderen Immobilienbesitzer in Italien oder Spanien einspringen müssen. Nur: Die gegenteilige Wahrheit zu sagen, traut man sich dann doch nicht. Stattdessen spricht man von Solidarität und Wiederaufbau, als habe nicht ein Pandemie die verkümmerten Gesundheitswesen bloßgelegt, sondern ein Bombengeschwader ganze Städte in Ruinenfelder verwandelt. EZB und EU-Kommission maskieren die Geldflutungen mit kruden angelsächsischen Kürzeln. Wer hinter diese Verschleierungen blickt, die einem Hütchenspieler zur Ehre gereichen, wie eben die Karlsruher Richter oder der renommierte Ökonom Hans-Werner Sinn (ehemals Ifo-Präsident), bekommt von Häme bis Hass die ganze Palette schmähender Ablehnung zu spüren. Berlin fällt sogar den „sparsamen Vier“ (Österreich, Niederlande, Dänemark, Schweden) in den Rücken, die man bislang als Verbündete einer soliden EU-Finanzpolitik gepflegt hat. Wieder werden die Fehler gemacht, die man schon in der Flüchtlingskrise oder der Zeit nach Fukushima gemacht hatte: Man behandelt das Volk, als halte man es für unmündig. Leicht verführbar von Verschwörungstheoretikern, zu denen schon zählt, wer die Lockdown-Politik für überzogen hält. Wer an der Sinnhaftigkeit der Energiewende zweifelt, ist ein Klimaleugner. Wer die Willkommenskultur kritisiert, ist Rechtspopulist oder gleich Rassist. Und wer die Geldflutung von EZB und EU für falsch hält, ist Anti-Europäer. Selbst CDU und CSU haben diesen hohen Ton der moralischen Selbstgerechtigkeit übernommen – entgegen allen bisherigen Parteitagsbeschlüssen. Sie stellen sich taub gegen das Grummeln im Volk und wollen nicht wahrhaben, dass diese Ignoranz aus EU-Skeptikern erst recht EU-Gegner macht. Die AfD ist auch deshalb keine Alternative, weil ihre Verbündeten in Rom, Paris oder Warschau zu den eifrigsten Deutschland-Hassern zählen. Dieses Europa der zornigen Nationalisten wollen auch diejenigen nicht, die lediglich darauf verweisen, dass sich die europäische Institutionen an Verträge halten und die nationale Souveränität achten sollen. Das ist in jedem europäischen Land selbstverständlich. Nur in Deutschland überwiegen die Kräfte, die das Bekenntnis zur Nation bereits als üblen Nationalismus wähnen. Gegen diesen unerhörten Verdacht muss sich nun sogar das höchste deutsche Gericht verwahren. Offenbar soll die letzte gewichtige Stimme, die sich noch für die einheimischen Steuerzahler und Sparer einsetzt, mundtot gemacht werden.
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Wolfgang Bok
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Wer Europa nicht den zornigen Nationalisten überlassen will, muss mit offenen Karten spielen. Doch in Deutschland werden die berechtigten Sorgen der Bürger hartnäckig ignoriert. Stattdessen stockt die EU ihr Anleihen-Programm um weitere 600 Milliarden Euro auf. Das schadet dem Friedensprojekt.
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außenpolitik
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2020-06-03T15:26:27+0200
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2020-06-03T15:26:27+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/coronakrise-eu-europa-trugbilder-anleihen
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Einsamkeit – die tödliche Epidemie der Moderne
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Schon wieder hat ein Jugendlicher in den USA seine Mitschüler erschossen und wie immer nach den vielen Amokläufen in den USA und anderswo lässt er außer Wut und Trauer vor allem ein großes Rätsel zurück. Wie kann es sein, dass ein offenbar privilegiert aufgewachsener Mensch sich zu einer solchen Gewalttat hinreißen lässt? Amokläufe sind ein relatives neues Phänomen, obwohl auch schon früher Waffen existierten, ob Messer, Handfeuerwaffen, Bomben oder LKW. Und auch gewalttätige und gestörte Menschen gab es schon immer. Statistisch herrscht in der Welt weniger Gewalt als früher. Doch die Amokläufe häufen sich. 18 der 30 tödlichsten Massenerschießungen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den vergangenen 10 Jahren, einschließlich der schlimmsten 5 der Geschichte. Die Motive unterscheiden sich, doch eines ist immer gleich: Die Täter waren einsam. Das hat Mark Leary, ein Psychologe und Neurowissenschaftler aus Florida in einer Studie nachgewiesen. Was sind diese anderes als grausame Schreie nach Aufmerksamkeit, verbreitet auf und befeuert von den neuen Medien? Gefilmt auf Camcordern, dann auf Handys, live miterlebt auf der ganzen Welt, gespeichert auf Wikipedia und YouTube für die Nachwelt. Wo hätte man 1990 eine Kopie eines Killer-Manifests finden können, geschweige denn ein Video? Diejenigen, deren Einsamkeit so groß ist, dass sie die Aufmerksamkeit der ganzen Welt haben wollen, können dies heute schon bekommen. Vor dem Internet ging das nicht. Nicht umsonst hat Facebook auf dem Drang nach Aufmerksamkeit sein Geschäftsmodell aufgebaut und ist zu einem der wertvollsten Unternehmen der Welt geworden. Täglich nutzen 1,3 Milliarden Menschen auf der Welt die Seite. Das sind 1,3 Milliarden mehr oder weniger laute Rufe: „Hey, ich bin hier, wer ist auch noch da?“ Die pervers überhöhte Form dieses Rufes erleben wir dann bei den Amokläufen, auch und gerade bei denen von islamistischen Terroristen. Die Dschihadisten hinterlassen auch gern Botschaften, aber ihr Anspruch ist größer, aus ihrer Sicht, als der der US-amerikanischen High-School- und College-Kids. Ihre Massenmorde, sagen sie, seien Teil eines Plans, das Paradies zu erreichen und den Triumph ihres Glaubens herbeizuführen. Doch wenn man sich die Lebensläufe der Terroristen anschaut, erkennt man schnell: Die meisten von ihnen lebten kaum so fromm, wie sie zu sterben vorgaben. Shehzad Tanweer, einer der Attentäter der Londoner U-Bahn, hatte eine geheime Freundin. Auf dem Computer von Amedy Coulibaly, der den koscheren Supermarkt in Paris angriff, wurde pädophiles Material gefunden. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass die Dschihadisten die Hingabe zum Koran gewalttätig werden ließ? Oder ist es nicht plausibler, dass ihre Gewalt, die die ganze Welt in Atem hält, ein Verlangen nach Aufmerksamkeit stillt, das sie in falschen Eifer verpacken? Natürlich aber sind nicht alle Einsamen potenzielle Amokläufer, doch gefährlich ist der Zustand auch für die Mehrheit der still Leidenden. Soziale Isolation stellt ein größeres Risiko für die Gesundheit dar als Fettleibigkeit und sogar als der regelmäßige Konsum von Alkohol und von Zigaretten. Das fand Julianne Holt-Lunstad heraus, Professorin für Psychologie an der Brigham Young University im US-Bundestaat Utah. Sie führte die Ergebnisse von hunderten Studien zusammen, in denen Millionen Menschen dahingehend untersucht wurden, welche Rolle soziale Isolation, Einsamkeit und das Allein-Leben auf die Sterblichkeit haben. Die Ergebnisse sind schockierend. Wenn man sich dauerhaft einsam fühlt, erhöht sich das Sterberisiko um 26 Prozent. Ist man sozial isoliert, steigt es sogar auf 29 Prozent. Bei Menschen, die alleine leben, sind es sogar 32 Prozent. Welches Ausmaß dieses Risiko in Deutschland haben könnte, wird klar, wenn man sich die Ergebnisse einer Studie der Psychologie-Professorin Maike Luhmann anschaut, die an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Sie fand heraus, dass sich jeder Fünfte über 85 Jahren einsam fühlt. Bei den 45- bis 65-Jährigen sei es jeder Siebte. Wer sich wirklich schon einmal einsam gefühlt hat, den dürften diese Zahlen kaum überraschen. Und damit sind nicht ein, zwei Stunden gemeint, in denen es einem nicht so gut geht und niemand zu erreichen ist. Es geht um das permanente, unbestimmt schmerzende Gefühl in der Brust, wenn man sich seit Tagen, Wochen oder sogar Monaten nicht mehr über Alltagsbanalitäten hinaus mit einem anderen Menschen unterhalten hat. Der Drang, aus dieser Einsamkeit auszubrechen, ist so überlebenswichtig, dass die Menschen, die ihn nicht hatten, ausgestorben sind. Das ist einer der Grundgedanken von John Bowlbys Bindungstheorie. Die Menschen, die sich zusammen mit anderen nicht gut fühlten oder die sich nicht schlecht fühlten, wenn sie von anderen getrennt waren, hätten nicht die Motivation gehabt, die Dinge zu tun, die notwendig sind, um ihre Gene über Generationen hinweg weiterzugeben. Die seelischen Schmerzen der Einsamkeit nimmt unser Hirn so wahr wie körperliche. Einsamkeit ist ein Warnsignal wie Hunger oder Durst, schreibt der US-Psychologe John Cacioppo in seinem Buch „Einsamkeit“. Die Einsamkeit aktiviert das „soziale Tier“ in uns und will uns zurück in die schützende Gruppe treiben. Dadurch finden die meisten Menschen tatsächlich schnell wieder Anschluss. Forscher nennen diesen Impuls „reaffiliation motive“, „Wiederangliederungsmotiv“. Doch wenn das nicht aus eigener Kraft gelingt, wird es gefährlich: Der Einsame wird immer verstörter und seine Umgebung zieht sich befremdet zurück. Und wenn das Leiden an der Einsamkeit und der Drang nach Aufmerksamkeit immer größer werden, dann kann es passieren, dass es irgendwann einmal knallt. Wie in der Schule in Florida. Was also ist zu tun? In Großbritannien hat Theresa May bereits ein „Ministerium für Einsamkeit“ gegründet, ausgerechnet dort also, wo die Sehnsucht nach der „splendid isolation“ so stark war, dass man gleich einen ganzen Kontinent zurückließ, um endlich wieder allein zu sein. Auch in Deutschland haben Union und SPD im Koalitionsvertrag beschlossen „Strategien und Konzepte (zu) entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen“. Diese Maßnahmen der Regierungen gehen sicherlich in die richtige Richtung. Aber das allein reicht nicht, genausowenig wie allein mehr Geld und mehr Personal in der Pflege –so nötig es ist. Entscheidender ist, sowohl die historischen Wurzeln der Verbreitung der Einsamkeit zu verstehen als auch die Faktoren der jetzigen Zeit. Denn Einsamkeit ist gewissermaßen die negative Begleiterscheinung des modernen Wunsches nach individueller Freiheit von den Beschränkungen und Zwängen traditioneller Institutionen und Lebensformen: sei es Religion, die Familie, die Dorfgemeinschaft oder der tyrannische Arbeitgeber. Die Menschen, zumindest in der westlichen Welt, haben historisch stets verlangt nach einer größeren Wahlfreiheit bezüglich ihrer Arbeit, ihrem Lebensmittelpunkt, ihren moralischen und politischen Überzeugungen, ihrer sexuelle Orientierung und so weiter. Daran ist zunächst nichts Schlechtes, denn so hat sich unsere Freiheit immens vergrößert. Aber es gibt eine Kehrseite, mit der immer mehr Menschen nicht zurechtzukommen scheinen. Wir sind zu mobileren, aber auch zu unruhigeren Individuen geworden, die sich aus traditionellen Gemeinschaften wie der Großfamilie, der Nachbarschaft, der Kirche oder der Gewerkschaft zunehmend zurückziehen. Nicht umsonst werden alle diese Institutionen kleiner. Doch Ersatz zu finden für diese Gemeinschaften und das Gemeinschaftsgefühl, das sie vermitteln, ist schwer, umso schwerer, wenn man allein ist. Die erhöhte Nachfrage nach individueller Freiheit führt also tendenziell zu mehr Einsamkeit. Deshalb ist es für moderne Gesellschaften so wichtig, Institutionen und Orte zu schaffen, die Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit fördern und von denen die Menschen wissen, dass sie dort ihre Einsamkeit lindern und ihren Drang nach Aufmerksamkeit stillen können, ohne ihre individuelle Freiheit zu opfern. Wie kann so ein Ort aussehen? Ein wichtiger Schritt wäre, wenn sich jeder von uns diese Frage stellt. Die Forschung bestätigt unsere tiefste Intuition: Die menschliche Bindung ist essenziell für das menschliche Wohlbefinden. Es liegt an uns allen – an Ärzten, Patienten, Nachbarschaften und Gemeinschaften – Bindungen aufrechtzuerhalten, wo sie verblassen, und sie zu schaffen, wo es sie nicht gibt. Und dazu müssen wir nicht einmal unsere Freiheit aufgeben. Der Schriftsteller David Foster Wallace, der selbst die Einsamkeit irgendwann nicht mehr aushielt und sich selbst das Leben nahm, hat es einer Rede so beschrieben: „Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und die Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.“
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Constantin Wißmann
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Der Amoklauf in Florida zeigt: Einsamkeit ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Sie verursacht grausame Schreie nach Aufmerksamkeit von Attentätern und stilles Leid von Millionen Menschen. Was ist zu tun?
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kultur
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2018-02-16T12:06:27+0100
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Rücktritt nach Thüringen - Kramp-Karrenbauer soll Parteivorsitz aufgeben
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Annegret Kramp-Karrenbauer gibt auf. Wie unter anderem „Spiegel“ und „Welt“ melden, will die CDU-Parteivorsitzende ihr Amt zur Verfügung stellen. Auch eine Kanzlerkandidatur strebe sie nicht mehr an. Demnach habe Kramp-Karrenbauer am Montag im CDU-Präsidium ihre Entscheidung mitgeteilt. Grund ihrer Entscheidung sei, dass es ein „ungeklärtes Verhältnis von Teilen der CDU mit AfD und Linken“ gebe. Die Wahl des FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD und der CDU hatte in der letzten Woche ein politisches Erdbeben ausgelöst. In Kürze mehr zum Thema bei cicero.de
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Cicero-Redaktion
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Laut verschiedenen Medienberichten gibt Annegret Kramp-Karrenbauer den CDU-Parteivorsitz auf. Auch die Kanzlerkandidatur strebe sie nicht an, heißt es aus Unionskreisen. Grund für den Rückzug ist offenbar das politische Erdbeben in Thüringen.
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innenpolitik
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2020-02-10T09:56:36+0100
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Neue Strukturen notwendig - Wie die Deutsche Bahn besser gesteuert werden könnte
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Nach gängiger Einschätzung begann die Fehlentwicklung der Deutsche Bahn AG vor etwa zwanzig Jahren mit der Vision des DB-Managements, einen internationalen, börsennotierten Mobilitäts- und Logistikkonzern zu schaffen. Zur Finanzierung des internationalen Wachstums wurden die Gewinne der Bahnsparten in Deutschland genutzt, diesen wurde ein rigider Sparkurs auferlegt. Durch den Verkauf von Vermögenswerten (Immobilien, Fährbetrieb, Datennetz) wurde eine weitere Milliarde Euro generiert. Mit diesem Geld wurden internationale Beteiligungen im Bereich Logistik und Mobilität zugekauft; allein in den Nuller-Jahren für über 5 Mrd. Euro. Die Wachstumsziele wurden nach dem Scheitern des Börsenganges beibehalten. 2012 präsentierten Vorstandschef Rüdiger Grube und sein Finanzchef Richard Lutz das Ziel, bis den Umsatz bis 2020 von 40 Mrd. Euro auf 70 Mrd. Euro zu steigern, überwiegend durch weitere Firmenkäufe. Dem Bund als Eigentümer wurden dabei deutlich steigende Gewinne in Aussicht gestellt. Tatsächlich gingen die Gewinne seit 2012 stetig zurück. 2015 musste der Konzern einige Auslandsbeteiligungen wertberichtigen und deshalb erstmals einen Milliardenverlust ausweisen. Auch in den Folgejahren kündigte die Deutsche Bahn (DB) steigende Gewinne an, die jeweils nicht erreicht wurden. Die Corona-Pandemie schließlich lieferte eine bequeme Begründung für rote Zahlen. 2020 musste die DB AG fast 2 Mrd. Euro Verlust für die internationale Sparte Arriva ausweisen, nachdem Arriva in England ein großer Vertrag wegen Schlechtleistung entzogen worden war. Wegen der hohen Corona-Verluste fiel dies kaum öffentlich auf. Auch 2022 wurden noch Verluste ausgewiesen, für 2023 sind wiederum Verluste in Aussicht gestellt. Dabei gibt es eine neue, wenig stichhaltige Begründung für die Verluste – die DB investiere für die Verkehrswende. Tatsächlich befinden sich die meisten operativen Sparten seit Jahren in den roten Zahlen, es ist nicht erkennbar, wie der Konzern ohne Staatshilfen finanziell stabilisiert werden könnte. Über viele Jahre war DB Regio eine stabile Gewinnquelle, durch zunehmenden Wettbewerb und schlechte Infrastrukturqualität gehen die Erträge der Sparte stetig zurück. Der Fernverkehr dürfte nach Corona wieder leicht profitabel werden. Die Güterverkehrssparte DB Cargo ist in desaströsem Zustand. Sie verliert Volumen in einem wachsenden Markt und erwirtschaftet hohe Verluste, mehrere Sanierungsprogramme sind verpufft. Das „#Deutschlandtempo“ kommt nicht in Gang, das #Schienennetz ist marode. Das #Bahn-Chaos wird sich in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch verschärfen, schreiben @moritz_gathmann ud @Volker_0409. https://t.co/Sbi9BxNjRH — Cicero Online (@cicero_online) March 9, 2023 Die Infrastruktursparten mit ihren regulatorisch garantierten Gewinnen haben jahrelang hohe Erträge generiert, diese sollen aber – eigentlich schon seit 2018 – nicht mehr dem Konzern zur Verfügung stehen. Etwa die Hälfte des Umsatzes stammt aus zwei Auslandssparten. Die erste, der Logistikkonzern Schenker, ist weltweit aktiv. Über Jahre war er nur mäßig profitabel und erwirtschaftete wenige Gewinn als die Wettbewerber. Während der Corona-Pandemie sind die Gewinne, wie bei allen Logistikfirmen, explodiert. Inzwischen rutscht die Branche in die Krise, die Gewinne fallen, es bleibt ein großer Teilkonzern mit wenig Synergien zum Kerngeschäft und großen Risiken. Die zweite große internationale Sparte, Arriva, die Personenverkehr in Europa betreibt, wurde von der DB lange als „Ertragsperle“ bezeichnet. Tatsächlich hat die Sparte immer nur geringe Erträge erwirtschaftet und nur in zwei der letzten elf Jahre eine geringe Dividende ausgeschüttet. Anfang 2020 verlor Arriva ein großes Franchise in England wegen Schlechtleistung, dabei entstand ein Verlust von fast 2 Mrd. Euro. Bereits 2017 hatte der DB-Aufsichtsrat den Verkauf der Sparte beschlossen, dieser war jedoch über Jahre verschleppt worden. Ende 2022 wurden erste Landesgesellschaften verkauft, im Oktober 2023 wurde der Verkauf der verbliebenen Sparte angekündigt. Insgesamt hat der DB-Konzern mit Arriva mehrere Milliarden Euro verloren. Die Sparte „Beteiligungen/Sonstiges“ enthält zum einen die Overheadfunktionen des Konzerns, zum anderen eine große Zahl heterogener Beteiligungen, über die der Konzern kaum berichtet. So hält er Beteiligungen an ca. 25 Start-Ups, er betreibt Consulting auf allen Kontinenten und hat jüngst eine neue Sparte gegründet, die auch nach dem Verkauf von Arriva internationalen Nahverkehr betreibt, unter anderem in Canberra, Delhi, Kairo und Toronto. Die Verluste der Sparte steigen seit Jahren stetig an, ab 2023 sollen die Overheadkosten auf die einzelnen Sparten verteilt und damit die Transparenz weiter gesenkt werden. Neben der wirtschaftlichen Lage wird die Qualität der Eisenbahn öffentlich zunehmend diskutiert. Die Pünktlichkeit geht seit einigen Jahren zurück, die Zahl der Zugausfälle im Personenverkehr ist dramatisch angestiegen. Neben den aktuellen Personalengpässen wird der Zustand der Infrastruktur als Hauptproblem identifiziert. Seit 2008 bezuschusst der Bund die Ersatzinvestitionen der Bahn auf vertraglicher Basis (Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, kurz LuFV). Im Gegenzug für die Bundesmittel verpflichtete sich die DB AG, bestimmte Qualitätsziele zu erreichen. In den letzten Jahren hat die DB AG die Qualitätsziele jeweils erreicht, Verkehrsministerium und Eisenbahnbundesamt haben dies überprüft und jeweils bestätigt. Mit zunehmender Diskrepanz zwischen Qualitätsberichterstattung und der von den Kunden erlebten Zuverlässigkeit änderte die DB AG Anfang 2023 ihr Narrativ. Bahnchef Lutz erklärte, die Bahn habe bereits mit der Einführung der ersten LuFV Qualitätszielwerte ausgewählt, von denen klar war, dass man sie bequem erreichen könne. Der neue Netzvorstand Philipp Nagl legte einen mit anderer Methodik erstellten Netzzustandsbericht vor, der erhebliche Defizite und Investitionsrückstände in der Infrastruktur erkannte. Auf dieser Basis stellte Mitte 2023 der Bund ca. 40 Mrd. Euro zusätzliche Finanzmittel für die Schiene bereit. Dabei gelang es DB und Ministerium, eine öffentliche Diskussion zu vermeiden, warum das System der Qualitätsberichterstattung und Kontrolle und die Messungen des Ministeriums über 15 Jahre versäumt haben, den Verfall der Infrastruktur zu erkennen. Mit der Bahnreform von 1994 wurde die damalige Bundesbahn restrukturiert und eine neue Steuerungsarchitektur eingeführt. Das übergreifende Konzept war das „Besteller-Ersteller-Prinzip“, mit welchem politische Entscheidungen und die Verwendung öffentlicher Mittel transparenter gestaltet werden sollten. Im Regionalverkehr der Eisenbahn, aber auch im kommunalen Nahverkehr (ÖPNV) wurden die Organisationen neu gegliedert. Es wurden Bestellorganisationen gegründet, die sich im öffentlichen Eigentum befanden und die politisch gewünschten Verkehrsleistungen festlegten und bestellten. Die Verkehrsunternehmen als Ersteller erbrachten die Leistungen und gaben an, welche Zuschüsse sie für diese Leistungen benötigten. Idealerweise, aber nicht zwingend, sollte die Leistungserbringung im Wettbewerb erfolgen. Auch für Eisenbahnverkehrsunternehmen, die sich im Eigentum der Öffentlichen Hand befinden, entsteht in diesem System kein besonderer Steuerungsbedarf. Sie erbringen eine Leistung auf vertraglicher Grundlage. Die Effizienz der Leistungserbringung ist das einzige Ziel dieser Unternehmen. Im ÖPNV wurde die neue Marktordnung nur begrenzt umgesetzt. Insbesondere in den großen Städten kam es kaum zu wettbewerblichen Vergaben, Aufgabenträgerstrukturen sind kaum ausgebildet, die großen kommunalen Betreiber üben großen Einfluss auf die Entscheidungen aus. Bei der Eisenbahn wurde das Prinzip insbesondere im Regionalverkehr mit erheblichem Erfolg eingeführt. Die Länder schafften starke Aufgabenträger und schrieben Verkehre aus, der Ausschreibungswettbewerb führte zu erheblichen Effizienzgewinnen und Qualitätsverbesserungen. Im Fernverkehr war mit der Bahnreform eine ähnliche Struktur vorgesehen, bis heute wurde aber das im Grundgesetz vorgesehene Fernverkehrsgesetz nicht geschaffen, es gibt bis heute keine Vertragsgrundlage zwischen Bund und DB AG für die Leistungserbringung im Fernverkehr. In der Infrastruktur wurde mit der LuFV ein Vertrag im Geist des Besteller-Ersteller Prinzips abgeschlossen. Der Bund definiert – auf aggregierter Ebene – die Netzqualität und stellt dafür Geld zur Verfügung. Die DB AG verpflichtet sich zur Erreichung der vorgegebenen Qualitätsziele. Der Aufsichtsrat der DB AG war nach der Bahnreform entsprechend vor allem mit Wirtschaftsvertretern besetzt . Die drei verantwortlichen Ministerien und der Bundestag entsandten je einen Vertreter/-in, die sechs weiteren Sitze waren von Wirtschaftsvertretern besetzt, in den ersten Jahren überwiegend Vorstände deutscher Großunternehmen. In der Mehdorn-Ära wurden weniger profilierte Aufsichtsräte berufen, die aber politisch gut vernetzt waren. Es entstand der Vorwurf, diese seien für den Vorstand bequemer zu steuern. Darüber hinaus hat die Politik seit der Bahnreform bis etwa 2015 bei der DB AG wenig steuernd eingegriffen. Außer einigen allgemeinen Aussagen in den Koalitionsverträgen hat der Eigentümer keine Ziele vorgegeben. Die Politik hat also als Prinzipal darauf verzichtet, das Management als Agent mit Zielen, Anreizen und Sanktionen zu steuern. Dies führte etwa im Falle von Börsengangprojekt und Internationalisierungsstrategie dazu, dass sich das (Bahn-)Management (mit eigenen Zielen) selbst gesteuert hat. Dies hat jeweils nachträglich zu Kritik aus Politik und Öffentlichkeit geführt. Das Versäumnis des Bundes als Eigentümer, klare Ziele für die DB AG zu setzen, wird seit Jahren auch vom Bundesrechnungshof kritisiert. In den letzten Jahren hat sich die Besetzung des Aufsichtsrates deutlich verändert, ohne dass dazu je öffentliche Debatten stattgefunden hätten. Die Wirtschaftsvertreter werden sukzessive verdrängt, inzwischen stammen vier Aufsichtsratsmitglieder aus den Ministerien, drei weitere sind Bundestagsabgeordnete. Die Verschiebung bei der Aufsichtsratsbesetzung ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen weist der Bundesrechnungshof darauf hin, dass Ministerialvertreter und Abgeordnete stets einen Interessenkonflikt hätten. In ihrer Primärfunktion seien sie dem sparsamen Umgang mit Steuermitteln verpflichtet, die DB AG hingegen wünsche maximale Steuermittel. Daraus resultiert natürlich eine Präferenz der Ministerialen für hohe Gewinne respektive niedrige Verluste für die DB AG, was im Zweifelsfalle auch eine Präferenz gegen chancengleichen Wettbewerb auf der Schiene impliziert. Die #Bahn soll Rückgrat der geplanten deutschen #Verkehrswende sein. Für die Zukunft wird eine schöne neue Bahnwelt versprochen, während in der Gegenwart mit Verspätungen und Zugausfällen an der Substanz gezehrt wird. https://t.co/i8ZiGRRq6X — Cicero Online (@cicero_online) October 30, 2023 Zum anderen droht diese Aufsichtsratsbesetzung zu Kompetenzproblemen zu führen. Staatssekretäre und Abgeordnete sind zeitlich hoch beansprucht, es ist zu bezweifeln, dass sie die Zeit aufbringen können, eine solche Steuerungsfunktion zusätzlich auszuüben. Darüber hinaus werden Ämter und Funktionen im politischen Raum oft getauscht, die durchschnittliche Amtszeit der Aufsichtsräte lag in der letzten Dekade bei weniger als zweieinhalb Jahren. Mit der Qualitäts- und Finanzkrise der DB AG hat sich die faktische Steuerung der DB AG durch die Politik verschoben. Bis vor etwa zehn Jahren respektierte die Politik den bestehenden Rechtsrahmen. Die Rolle des Eigentümers war getrennt von der Rolle des Vertragspartners. Als Eigentümer erfolgte die Einflussnahme nur über die bestellten Aufsichtsräte. Auch respektierte die Politik die Autonomie der DB AG als Leistungsersteller. Für die breite Öffentlichkeit blieb jedoch die Politik, insbesondere der Verkehrsminister, verantwortlich für die Eisenbahn. Mit der sinkenden Qualität und wirtschaftlichem Misserfolg häuften sich die nicht regelkonformen Interventionen der Politik gegenüber der Bahn. Offiziell wurde diese Entwicklung im Juni 2022, als Verkehrsminister Wissing ankündigte, im Ministerium eine Steuerungsgruppe für die DB AG aufzubauen. Mit einigen Verzögerungen ist diese Einheit inzwischen eingerichtet. Mit der Ankündigung der Steuerungsgruppe teilte der Minister auch mit, die Interessen des Eigentümers künftig stärker gegenüber dem Aufsichtsrat durchsetzen zu wollen. Über Konflikte zwischen Eigentümer und Aufsichtsrat ist öffentlich nichts bekannt. Gerüchten zufolge hat allerdings der Aufsichtsrat in zwei Fällen in den letzten Jahren Vorstandsbesetzungen gegen den Wunsch des Ministeriums entschieden, da die Vertreter der Eigentümerseite nicht einheitlich abgestimmt haben. Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften sind nicht weisungsgebunden. Üblicherweise haben AGs nur ein Ziel, nämlich Gewinnmaximierung. Daraus lassen sich eindeutige Maßstäbe für Entscheidungen des Aufsichtsrats ableiten. Mangels klarer Zielformulierung hat bei der DB AG der Aufsichtsrat keinen derartig klaren Maßstab. Das Vorgehen bei der geplanten Steuerung der DB AG bleibt allerdings vorerst unklar. Der Steuerungsprozess beginnt nach allgemeinem Verständnis mit der Festlegung von Zielen. Eine solche Zielfestlegung hat jedoch die Politik in den letzten Jahren nicht vorgenommen. Zudem sind die Instrumente der Steuerung unklar. Wie oben dargelegt, sind diese nach bestehender Rechtslage beschränkt auf die Besetzung des Aufsichtsrats und die vertraglichen Vereinbarungen bei der Infrastrukturfinanzierung. Die Infrastruktur bietet ein besonders instruktives Beispiel für die Steuerung beziehungsweise dessen Versagen: 2008 schlossen Bund und DB AG die oben bereits erwähnte Vereinbarung (LuFV) zur Finanzierung der Bestandsinfrastruktur. Der Bund stellte Geldmittel zur Verfügung und definierte Ziele für die Qualität des Netzes, bei deren Verfehlen Strafen drohen. Es gab zu dem Vertragsentwurf – und erneut bei der Vertragsfortschreibung – Expertenanhörungen im Verkehrs- und im Haushaltausschuss des Bundestages. Die Experten kritisierten den Entwurf recht einhellig, Messmethoden und Zielwerte seien deutlich zu unscharf. Trotzdem wurde die LuFV verabschiedet, inzwischen hat Bahnchef Lutz die damaligen Kritikpunkte bestätigt – in einer normalen AG wäre es wohl kaum vorstellbar, dass sich ein Vorstand ungestraft öffentlich damit brüsten würde, seinen Eigentümer ausgetrickst zu haben. Die seit 2008 jährlich von der DB erstellten Infrastrukturzustandsberichte berichteten stets von einem soliden Zustand der Infrastruktur. Das Eisenbahnbundesamt hat die Berichte geprüft und abgenommen. Das Verkehrsministerium hat ein Millionenbudget für eigene Messungen. Auch hier wurden nie Probleme erkannt oder öffentlich benannt. Die Frage, warum diese Instrumente versagt haben, soll in diesem Aufsatz nicht weiter behandelt werden. Auf jeden Fall ermöglichten sie der DB AG das Narrativ, der schlechte Zustand der Infrastruktur sei eine neue Erkenntnis, die vor 2023 nicht sichtbar gewesen sei. Dies trifft nicht zu, die Verschlechterung des Infrastrukturzustands ist seit Jahren offensichtlich und bekannt. Die Alterung der Infrastruktur ist im Zustandsbericht dokumentiert, ist aber keine pönalisierte Kennzahl. Der Netzbeirat hat in einigen seiner jährlichen Berichte auf den kritischen Zustand hingewiesen, auch der Bundesrechnungshof hat Warnungen ausgesprochen. Schließlich hat das Ministerium selbst 2020 und 2021 in Antworten auf Kleine Anfragen des Bundestages Rückstände bei den Ersatzinvestitionen von 30 – 50 Mrd. Euro bestätigt. Die Erkenntnisse führten, soweit öffentlich bekannt, bis Anfang 2023 weder im Bundestag noch im Ministerium zu besonderen Aktivitäten. Das Thema wurde erst breit diskutiert, als die DB AG selbst die Probleme öffentlich machte. Bemerkenswert ist, dass die Vorstände der DB Netz AG selbst für 2022 noch Boni erhielten, obwohl zum Beschlusszeitpunkt der dramatische, zuvor verschleierte Zustand der Infrastruktur bereits bekannt war.Anders als Abgeordnete und Ministerien, die nur einer politischen Kontrolle unterliegen, haften die Organe einer Aktiengesellschaft, Vorstand und Aufsichtsrat, bei Pflichtverletzungen persönlich. Der Verfall der Infrastruktur stellt für die DB AG ein existenzbedrohendes Risiko dar, über das der Vorstand den Aufsichtsrat zu informieren und Gegenmaßnahmen zu entwickeln hätte. Öffentlich ist nicht bekannt, ob der Vorstand diese Schritte unternommen hat. Zu vermuten ist aber auch, dass der Eigentümer kein Interesse daran haben dürfte, ein möglichen Fehlverhalten zu verfolgen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Kontrollsysteme für den Zustand der Infrastruktur versagt haben. Der Eindruck ist, dass keiner der politischen Akteure bereit ist, dieses Versagen vertieft zu analysieren, um daraus Erkenntnisse zur künftigen Steuerung abzuleiten Auf der Suche nach Lösungsansätzen können Strukturen bei Bahngesellschaften im Ausland und in anderen Branchen herangezogen werden. Allerdings ergibt eine Analyse keine klare Lösungsskizze für die Situation der Eisenbahn in Deutschland. Verschiedene Untersuchungen aus anderen Ländern zeigen keine klare Vorteilhaftigkeit bestimmter Strukturmodelle. Auch die Steuerungsstrukturen sind vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rechtsformen öffentlicher Betriebe nicht direkt nutzbar. Allerdings sind einzelne Erkenntnisse und Bausteine auch für Deutschland relevant. Ein eindeutiger Befund ist aber der, dass Politik und Eigentümer klare Ziele formulieren sollten. Wichtig ist neben der Klärung der Ziele das Aufsetzen eines Steuerungs-, Anreiz- und Regulierungsapparates, der sowohl zielekompatibel ist, als auch diskretionäre Eingriffe verhindert. Die Steuerung von Organisationen erfolgt auf Basis der Strukturen und Aufgabenzuweisungen. Wenn ein Besteller, sei es gesetzlich oder vertraglich, einem Ersteller detaillierte Verpflichtungen auferlegt und die Bezahlung des Erstellers geregelt ist, ist der Steuerungsaufwand für das Ersteller-Unternehmen gering. In diesem Fall verbleibt für die Politik nur die Rolle als Eigentümer. Entsprechend kann die Steuerung, zum Beispiel im Aufsichtsrat, professionellen Aufsichtsräten überlassen werden. Gibt es keine klare Trennung zwischen den Rollen des Bestellers und Erstellers, steigt der Steuerungsbedarf für die Politik deutlich an. Wenn ein Unternehmen bestellend agiert, nimmt es damit quasi Aufgaben der Verkehrspolitik ein, oft geht damit einher auch ein weitgehender und nicht klar vertraglich geregelter Zugriff auf öffentliche Mittel. In dieser Konstellation wird die Politik den Anspruch erheben, verstärkt steuernd einzugreifen. Aus Autorensicht wäre es die beste Lösung, das Besteller-Ersteller-Prinzip bei der Eisenbahn zu stärken. Gesetzlich ist diese Aufgabentrennung angelegt, das grundgesetzlich vorgesehene Fernverkehrsgesetz allerdings wurde bis heute nicht eingerichtet. Die bestehenden Leistungs- und Finanzierungsverträge für die Infrastruktur bedürften dafür nur einer begrenzten Nachschärfung. In der bestehenden politischen Konstellation steht nicht zu erwarten, dass eine solche klare Aufgabenstrukturierung durchsetzbar ist. Deshalb beruhen die nachfolgenden Überlegungen auf der Prämisse, dass es nicht gelingen wird, eine klare Trennung der Funktionen von Besteller und Ersteller zu vorzunehmen. Wie die Forschung zeigt, stellt das Fehlen klarer Ziele ein Problem dar, das die Leistung von Unternehmen beeinträchtigen kann. Bei der DB AG hat der Eigentümer, wie oben dargelegt, weder für die Verkehrspolitik noch für das Unternehmen Ziele gesetzt. Wie der Vergleich mit anderen Ländern und anderen Politikfeldern zeigt, hat die Politik im Allgemeinen wenig Neigung, quantifizierbare Ziele zu formulieren, an deren Erreichung die Verantwortlichen später gemessen werden könnten („Selbstverpflichtung“). Für eine Steuerung des Unternehmens DB AG scheint es aber geboten, dass der Bund als Eigentümer klare Ziele vorgibt. So könnten zum Beispiel der Infrastrukturgesellschaft Ziele zur Steigerung der Transportleistungsmengen vorgegeben werden. Diese würden in Zielvereinbarungen für das Management mit Boni umgesetzt. Zugleich wäre auch die Erreichung von Kapazitätsvorgaben und Qualitätszielen zu vereinbaren. Insgesamt geht es, wie aus der Überlegung zur Infrastrukturgesellschaft deutlich wird, um die Trade-Offs zwischen unterschiedlichen Zielgrößen. Bei der DB AG geht es zum einen um wirtschaftliche Ziele (Gewinn), zum anderen um die verkehrspolitischen Ziele (zum Beispiel Verkehrsleistung, Marktanteil). Lange Zeit hat die DB AG, vom Eigentümer unbehelligt, den Gewinn und internationales Wachstum als Hauptziele festgelegt. Inzwischen hat der Bund klar formuliert, dass die verkehrlichen Ziele im Vordergrund stehen, laut aktuellem Koalitionsvertrag soll der Marktanteil im Güterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigen, die Verkehrsleistung im Personenverkehr soll sich verdoppeln. Umgekehrt sind keine Ergebnisziele mehr formuliert. Als Konsequenz zeichnet sich ab, dass bei der DB AG zugunsten der Verkehrsleistung jetzt die Kosten nicht mehr beachtet werden. Der Overhead steigt stetig an, Maßnahmen zur Kostensenkung werden verschoben. Deshalb wäre es zur Balancierung der Trade-Offs sinnvoll, der DB AG auch ein Ergebnisziel vorzugeben. Ein denkbarer Maßstab für die Gewinnfestlegung sind die Refinanzierungskosten des Eigenkapital, also der Zinssatz des Bundes. Der Bund sollte auch weitere strategische Eckpunkte festlegen, zum Beispiel Vorgaben für Beteiligungen außerhalb des Bahnsektors. Diese Vorgaben wirken in einer AG rechtlich nicht unmittelbar gegenüber dem Vorstand, sie wären aber Leitlinien für den Aufsichtsrat. Um den im besten Falle zielkompatiblen und nicht diskretionären Durchgriff des Eigentümers auf das Unternehmen zu verbessern, käme auch eine Umwandlung der Rechtsform in Frage. Das Grundgesetz verlangt die Führung der Bahn als Wirtschaftsunternehmen, denkbar wäre aber eine Firmierung als GmbH, in der der Eigentümer etwas mehr Durchgriff nehmen könnte. Mehr zum Thema: Unabhängig von der Wahl der Rechtsform kann der Eigentümer den Einfluss auf sein Unternehmen weitgehend nur über den Aufsichtsrat ausüben. Insofern besteht ein kaum auflösbarer Widerspruch zwischen der Rechtslage und dem Anspruch des Verkehrsministers, die Bahn diskretionär stärker aus dem Ministerium heraus zu steuern. Die naheliegende Lösung, Aufsichtsräte abzuberufen, die nicht im Sinne des Eigentümers agieren, steht dem Minister nicht zur Verfügung, da das Besetzungsrecht gemäß Koalitionsvereinbarung unterschiedlichen Ministerien und Fraktionen zusteht. Dabei ist die Besetzung des Aufsichtsrats mit Vertretern der Ministerien und mit Parlamentariern, wie ober bereits erläutert, wegen der Interessenkonflikte umstritten. Die Bundesregierung ignoriert diese Kritik seit Jahren. Es fehlen allerdings auch überzeugende Alternativen: Traditionell wurden oft erfahrene Manager-/innen mit begrenztem Zeitbudget benannt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist in Deutschland ein Pool von „Berufsaufsichtsräten“ entstanden, die über die erforderliche Sachkunde verfügen und auch das für dieses Amt erforderliche Zeitbudget bereitstellen können. Allerdings ist diese Gruppe oft auch von den Einnahmen dieser Tätigkeit abhängig, das könnte sie anfällig machen für Druck des Eigentümers. Auf Sicht der Politik sind solche Aufsichtsräte ein Risiko, gerade wenn sie nicht steuerbar sind. Gegenüber den interessengebundenen und weisungsaffinen Ministerialvertretern stellen Berufsaufsichtsräte trotzdem eine Verbesserung des Steuerungssystems dar, sofern es gelingt, innerlich unabhängige Aufsichtsräte zu identifizieren und durchzusetzen. Eine weitere Schwäche in der bisherigen Steuerung der DB AG ist die geringe Bereitschaft des Eigentümers, Fehlverhalten zu ahnden. Dieser Punkt wurde bereits oben beschrieben. Weder Bundestag noch Verkehrsministerium haben auf die wiederholten kritischen Berichte des Bundesrechnungshofes reagiert, ebenso wenig auf Hinweise zur verfallenden Bahninfrastruktur. Auch in der Rolle als Eigentümer lässt der Bund Konsequenz vermissen. So ist beispielsweise die jahrelange Verfehlung der wirtschaftlichen Ziele ohne personelle Konsequenzen geblieben. Auch die Unternehmensorgane könnten bei Fehlverhalten in die Haftung genommen werden. Obwohl es einige Indizien für solches Fehlverhalten gibt, zum Beispiel bei der verzögerten Meldung der Kostensteigerungen beim Münchener Tunnel, gibt es – soweit bekannt – keine Verfahren. Allerdings ist kaum ein formales Instrument vorstellbar, mit welchem gegenüber dem Parlament, Ministerium oder Aufsichtsrat ein konsequenteres Verhalten eingefordert oder durchgesetzt werden könnte. Ein Baustein, der zu einer besseren Steuerung beitragen könnte, ist öffentliche Kontrolle. Voraussetzung dafür wäre mehr Transparenz. Zum einen sollte die Regierung ihre Ziele hinsichtlich Verkehrspolitik und Bahn öffentlich formulieren. Zum anderen sollte die DB AG verpflichtet werden, der Öffentlichkeit mehr und bessere Daten zur Verfügung zu stellen. Solche Vorgaben wären sowohl in der Politik als auch beim DB-Management wenig populär, aber vielleicht lässt sich im Rahmen der anstehenden Reformen ein solches Transparenzpaket durchsetzen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keine Wunderlösung erkennbar ist, mit der die aktuellen Steuerungsprobleme gelöst werden können. Vielmehr bedarf es der Reform vieler kleiner Bausteine, um eine bessere Steuerung der DB AG zu erreichen. F. J. Radermacher im Gespräch mit Daniel GräberCicero Podcast Wirtschaft: „Wir werden noch über viele Jahrzehnte fossile Energieträger brauchen“
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Thomas Ehrmann, Christian Böttger
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Die Deutsche Bahn AG ist in eine tiefe Krise gerutscht. Der Bund als Eigentümer hat keine Ziele festgelegt. Außerdem sind die Instrumente der Steuerung des Staatskonzerns unklar. Doch viele Probleme werden öffentlich kaum diskutiert.
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"Deutsche Bahn",
"Verkehrswende"
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wirtschaft
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2023-12-07T13:06:18+0100
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2023-12-07T13:06:18+0100
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https://www.cicero.de/wirtschaft/deutsche-bahn-strukturen-analyse
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Dirk Niebel - Putschist will Minister bleiben
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Einst war er mit einem klapprigen Auto in Israel angekommen, um in einem Kibbuz zu arbeiten; gleich nach Abschluss der Schule war das. Jetzt landet er in einem schicken Regierungsjet in Tel Aviv. Ein Moment der Nostalgie muss das für Dirk Niebel sein, denn es ist das letzte Mal, dass er als Minister den Nahen Osten im Airbus der Luftwaffe bereisen darf. Oder doch nicht? Beim Dreikönigstreffen im Januar hat der Entwicklungsminister zum Putsch gegen FDP-Parteichef Philipp Rösler aufgerufen. Ein neues Führungsteam müsse her. „Es zerreißt mich innerlich, wenn ich den Zustand meiner Partei sehe“, schleuderte er Rösler entgegen. Von da an ging’s bergab. Nicht mit Rösler, sondern mit Niebel. Denn Rainer Brüderle verweigerte sich dem Putschisten, und die Partei strafte Niebel ab. Beim Parteitag im März flog der ehemalige Fallschirmjäger aus der Führungsriege der FDP. Dem „Dirk“ als Minister werde dort „keiner eine Träne nachweinen“, meint einer aus der FDP-Spitze. Sein Nachfolger im FDP-Präsidium Wolfgang Kubicki sagt sarkastisch, er bewundere Niebels Geschichtskenntnisse, weil er doch mit seiner Fallschirmjägermütze auf Kreta und in Namibia aufgetreten sei – beides Orte blutiger deutscher Militäraktionen. „Auf die Idee muss man kommen“, ätzt Kubicki. Im Bus vom Flughafen nach Jerusalem gibt es sie wieder als Souvenir für die Mitreisenden: eben diese Fallschirmjägermütze, sein Markenzeichen, das Original hat er dem Haus der Geschichte in Bonn vermacht. Ein Abschiedsgeschenk? Nicht, wenn es nach Dirk Niebel geht, der auf dieser Reise auf einen breitkrempigen Sonnenhut ausgewichen ist. Bei politischen Gesprächen, einer Grundsteinlegung für eine Schule, der Eröffnung eines Klärwerks im Westjordanland und einem Frühstück mit israelischen Wirtschaftsbossen bringt er immer wieder eine Botschaft unter, die mindestens so an die Delegation der deutschen Mitreisenden wie an seine lokalen Gesprächspartner gerichtet ist: Mit mir ist noch zu rechnen, eine Kampfansage Richtung Berlin. Ganz so aussichtlos ist Niebels Lage nicht mehr. Er hat sich zum Spitzenkandidaten der Liberalen in Baden-Württemberg für die Bundestagswahl hochgekämpft. Die Südwest-FDP ist zwar tief zerstritten, hat aber als zweitgrößter Landesverband einigen Einfluss in der Partei. Auch Niebel glaubt freilich nicht an Wunder. Nein, ein Ergebnis von 18,8 Prozent wie 2009 in Baden-Württemberg werde es wohl nicht wieder. Aber: „Zweistellig muss es in jedem Fall werden.“ Er sei überzeugt, dass er im Ländle mit einem guten Ergebnis dazu beitragen werde, eine Mehrheit für Schwarz-Gelb zu erreichen. „Und ich sehe nicht, dass gute Leistung dann nicht auch entsprechend belohnt werden sollte.“ Mit anderen Worten: Wer käme an Niebel als Minister vorbei? Rösler etwa? Da wird Niebel trotzig: „Ich bin überzeugt, dass Philipp Rösler genau weiß, wer gute Arbeit geleistet hat. Und welche Landesverbände er braucht, um eine vernünftige Regierungspolitik zu betreiben, die liberal unterlegt ist.“ Noch Fragen, Herr Rösler? Nun gibt es noch die Chefin im Ring. Warum sollte Angela Merkel den Liberalen – falls es erneut für Schwarz-Gelb reicht – noch einmal fünf Ministerien zubilligen, wenn die FDP um mehr als die Hälfte schrumpft? Selbst an der FDP-Spitze rechnet man fest mit nur drei Ressorts: Außenpolitik, Justiz und Wirtschaft, sprich Westerwelle, Leutheusser-Schnarrenberger und Rösler. Auch da gibt sich der Fallschirmjäger-Hauptmann der Reserve kämpferisch: „Wenn man die Alternativen der Union betrachtet, muss man zur Kenntnis nehmen, dass bei einer sogenannten Großen Koalition natürlich viel mehr Minister abgegeben werden müssten als bei der Fortsetzung dieser erfolgreichen Regierung. Es spricht also nichts gegen die Beibehaltung der bisherigen Aufteilung.“ In seiner eigenen Partei sehen ihn dagegen manche nur noch in einer „gehobenen Funktion in der Fraktion“. Den Vorsitz der FDP im Bundestag dürfte Brüderle behalten. Ein Ausweg wird gesucht: Weg mit Niebel zu einer internationalen Organisation ist ein Modell. Ein anderer Ausweg wäre, so räsoniert einer in der FDP-Spitze, vielleicht doch die Zusammenlegung von Außen- und Entwicklungsministerium, mit einem Dirk Niebel als Staatsminister unter Westerwelle. Wäre das nicht genau das, was er früher gefordert hat – die Auflösung eben des Entwicklungsministeriums? Heute will Niebel daran nicht erinnert werden. Im Gegenteil. Warum möchte er ausgerechnet in diesem Amt weitermachen? „Weil ich noch nicht fertig bin.“Nach außen hat er in seiner Amtszeit Schlagzeilen gemacht, weil er einen Teppich im BND-Flugzeug von Afghanistan unverzollt nach Deutschland bringen ließ (für den dann gar kein Zoll fällig war) und weil er auch FDP-Parteifreunde in seinem zuvor tiefroten Ministerium unterbrachte. Seine Reformen, die Zusammenlegung der Entwicklungshilfegesellschaften, finden auch bei der Opposition Anerkennung. Nun will er endlich die Reformen im internationalen Bereich angehen. Niebel will’s noch mal wissen. Wenn sie ihn lassen würden. „Wenn ich nicht Optimist wäre, wäre ich nicht in der FDP.“ Dass er sich für hohe Ämter berufen hält, wird klar, wenn man in seinem Noch-Ministerium anruft. Die Musik in der Warteschleife kommt von Tim Bendzko: „Muss nur noch kurz die Welt retten …“
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Dirk Niebels Aufstand in der FDP ging daneben. Bleibt er Minister? Er meldet schon mal Ansprüche an
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innenpolitik
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2013-09-17T14:22:03+0200
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2013-09-17T14:22:03+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ein-einsamer-putschist/55846
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Von Dichtern und Musen – „Durch dich will ich die Welt sehen“
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Sie war blond und langmähnig und vor allem jung. Er war ein
alter Mann. Aber dafür berühmt, einflussreich, wohlhabend. Max
Frisch und seine amerikanische Freundin Alice Locke-Carey. Der alte
Mann und seine Trophäe. Seine Muse? Höchstens ein fader Abklatsch.
In Frischs autobiografischer Erzählung „Montauk“ von 1975 heißt sie
Lynn, diese späte Liebe. In den posthum veröffentlichten Entwürfen
zu einem dritten Tagebuch (2010) zeigt sich, wie die Dinge wirklich
lagen. „Unsere Paarschaft ist ohne Zukunft“, heißt es da gleich auf
den ersten Seiten über Alice-Lynn. Sie besitze zwar die Gabe der
Unbeschwertheit, interessiere sich jenseits von Kreuzworträtseln
und Psycho-Workshops aber für kaum etwas. Im Grunde haben sich Max
Frisch und die Amerikanerin nichts zu sagen. Für eine Beziehung auf
Augenhöhe, wie mit Ingeborg Bachmann, hatte der Anfang 70-Jährige
vermutlich keine Kraft mehr. Also nahm er, was sich ihm anbot. Auch die großen alten Männer der deutschen Gegenwartsliteratur,
von Günter Grass bis zu Martin Walser, machen weniger durch
Abenteuer mit Musen von sich reden als vielmehr durch die üblichen
Ehen, Nebenbeziehungen und Seitensprünge auf Vorabendserienniveau.
Jakob Augstein entpuppte sich kürzlich als Ergebnis einer
Sommerliebe Martin Walsers mit der Ehefrau seines Freundes Rudolf
Augstein. Mit einer anderen Verflossenen lieferte er sich ein
kleines literarisches Scharmützel: 2003 schrieb die
Fernsehredakteurin Martina Zöllner den Schlüsselroman „Bleibtreu“,
und Walser parierte 2008 mit dem sehr viel besseren Buch „Der
Augenblick der Liebe“. Musen haben ausgedient, denn junge Künstler
wollen einen Partner und tun sich zu inspirierenden
Lebensgemeinschaften zusammen. Statt Musen, so scheint es, gibt es
heute Groupies. Groupies passen in die Konsumgesellschaft, in der
Sex ein Fetisch ist und wie eine Ware vertrieben wird. Ihre Hochkonjunktur hatte die Figur der Muse um 1900, als
Sigmund Freud das Unbewusste entdeckte, die Sexualität als zentrale
Triebkraft ins Spiel brachte und Frauen wie Lou Andreas-Salomé,
Eleonora Duse oder Alma Mahler-Werfel einer Reihe von Dichtern den
Kopf verdrehten. Die Muse bedeutete damals beides: Hingabe und
Verweigerung. Aber auch die umschwärmten Fin-de-siècle-Damen
standen in einer langen kulturgeschichtlichen Tradition. In der Antike rief man die neun Musen als Schutzgöttinnen der
Künste an und erbat ihre Hilfe. Im „Museum“, dem Musentempel,
huldigen wir ihnen bis heute. Während die sogenannte „invocatio“
bei Vergil als Verzierung des Gedichtes galt und Höhepunkte
vorbereitete, machte sich schon Horaz über das hochgestimmte Pathos
lustig und parodierte den literarischen Musenanruf. Im Mittelalter,
erklärt der Romanist Ernst Robert Curtius in seinem kanonischen
Musenaufsatz, verbannten die christlichen Dichter die als heidnisch
verschrienen Geschöpfe und vertrauten sich eher dem Heiligen Geist
an. Erst Dante hatte wieder die Größe, den Musen den ihnen
gebührenden Platz zu verschaffen. Er nannte sie „unsere Ammen“,
welche die Dichter mit ihrer süßen Milch ernähren. An allen
entscheidenden Wendepunkten der „Göttlichen Komödie“ bittet er um
ihre Inspiration. Gleichzeitig betrieb er aber eine
Spiritualisierung der Liebe. In Dantes Beatrice vermischen sich
ebenso wie in Petrarcas Laura die Sphären der Religion und der
Liebe. Von nun an wurden Frauen aus Fleisch und Blut zu Musen
auserkoren, ohne ihren Status als Göttinnen zu verlieren. Sie waren
nie ganz von dieser Welt. So flößten Johann Wolfgang von Goethe vor allem diejenigen
Frauen Inspiration ein, die er nicht haben konnte. Ohne Charlotte
Buff gäbe es den „Werther“ nicht, der Bankiersgattin Marianne von
Willemer verdanken wir den „West-östlichen Divan“. „Nicht
Gelegenheit macht Diebe/ sie ist selbst der größte Dieb/ denn sie
stahl den Rest der Liebe/ die mir noch im Herzen blieb“, beschwor
Goethe sie. Und als die 19-jährige Ulrike von Levetzow 1823 den
Heiratsantrag des hochbetagten Dichterfürsten ablehnte, entstanden
die „Marienbader Elegien“. Außerhalb von Ehen hatten Frauen nur selten eine Chance.
Mitunter gelang es ihnen, ihre Rolle als Muse an den Nagel zu
hängen und zum Führungspersonal zu avancieren. Das war in der
deutschen Romantik der Fall. Bettina von Arnim etwa, Caroline
Schlegel, Karoline von Günderrode oder Rahel Varnhagen präsidierten
in Salons, gründeten Lebensgemeinschaften und schrieben selbst. Was
nicht hieß, dass die alten Muster überwunden waren. Ätherische
Mädchen, Kindsmusen, ließen ihre Kollegen weiterhin zu
Höchstformen auflaufen. Novalis jugendliche Braut Sophie von Kühn
gehörte zu dieser Kategorie. Er brauchte 1794 nur fünf Minuten, um
dem zarten Wesen zu verfallen. Die knapp 13-Jährige willigte in das
Verlöbnis ein, nannte seine Briefe „angenehm“, aber reagierte auf
überschwängliche Liebesbekenntnisse mit einem stoischen „Sie“. Zwei
Jahre später verstarb Sophie an einem Leberleiden. Außer sich vor
Schmerz, verklärte Novalis sie in den „Hymnen an die Nacht“ (1800)
als Mittlerin eines neuen, inneren Erlebens. Die Muse kann man nicht besitzen – der Tod treibt diese
Erfahrung auf die Spitze. Edgar Allen Poes „childwife“, seine
13-jährige Cousine Virginia Clemm, wurde zur Heldin angstvoller
Todesvisionen und kam als „dark lady“ in mehreren unheimlichen
Geschichten ums Leben, bevor sie auch in Wirklichkeit 1847 mit
Mitte zwanzig starb. In einer der Erzählungen heiratet der Held
seine Cousine Berenice und erlebt sie „nicht als ein irdisches
Wesen von Fleisch und Blut, sondern als Abstraktion eines solchen
Geschöpfes, nicht als Gegenstand der Bewunderung, sondern als ein
Objekt der Analyse, nicht als ein Wesen geschaffen zur Liebe“. Wieder ein typischer Museneffekt: Die Erotik ist mehr ein
Versprechen als Wirklichkeit. Der unbewusste Liebreiz der
Kindfrauen, ihr spielerisches Wesen und die nur in Andeutungen
vorhandene Weiblichkeit scheinen besonders geeignet, einer
bestimmten Sorte von Schriftstellern neue Ideen einzuflößen. Es
sind die, die vor einem Zuviel an Wirklichkeit eher in Deckung
gehen. Anders als erwachsene Frauen mit Ansprüchen emotionaler,
materieller und sexueller Natur haben diese Musen nichts
Furchteinflößendes, sondern eignen sich besonders gut als
Projektionsfläche. Sie bleiben passiv, Knetmasse für Fiktionen. Die
oft zitierte Alice Liddell, Adressatin des berühmten Kinderbuchs
„Alice im Wunderland“ (1865), ist dafür ein Beispiel. Das Bündnis
mit dem Verfasser empfand die Umgebung schon damals als
befremdlich, zumal Lewis Carroll eine Fülle dezent erotischer
Fotografien seiner kleinen Freundin anfertigen ließ. Immerhin
schien er zur Sublimation fähig und überführte sein Begehren in
Literatur. Als Alice in die Pubertät eintrat, entließ er sie in ein
normales Frauenleben. Umgekehrt konnte aber auch die Beherrschung durch eine
übermächtige Muse etwas Lustvolles entfalten. Musen hielten sich
nicht an gesellschaftliche Regeln. Der Fantasie waren keine Grenzen
gesetzt, und wem gefiel das besser als Schriftstellern? Ihre
größten Triumphe feierten die Musen auch deshalb in der Belle
Époque, weil sich die bürgerliche Ehe oft als ein Gefängnis
entpuppte, und gleichzeitig Liebe und Erotik als Befreiung von
allen Zwängen des industriellen Zeitalters dienen sollten. Der Kult
um die Liebe ließe sich als Reaktion auf die zunehmende
Fremdbestimmung durch die äußeren Verhältnisse deuten, in denen
sich die Frauen überhaupt erst einen Platz erobern mussten. Musen
versprachen Erlösung. Lou Andreas-Salomé, 1861 als Tochter eines Generals in Sankt
Petersburg geboren, hielt über Jahre Männer wie Friedrich
Nietzsche, Paul Rée und Frank Wedekind in Schach. Alle suchten ihre
Nähe. Gerhart Hauptmann bettelte: „Liebe und teure Frau, ich muss
kommen dürfen!“ Nichts. Die brillante Essayistin markiert auch
deshalb eine Schnittstelle, weil sie mit ihrem scharfen Verstand
den Verheißungen der Liebe nicht traute. Erotik auszustrahlen, aber
Sex nicht zuzulassen, schien ihr zunächst ein Mittel, sich vor
Abhängigkeiten zu schützen. „Von welchen Sternen sind wir einander
zugefallen?“, sprach Nietzsche 1882 die damals 21-Jährige in Rom
an. „Grüßen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgendeinen Sinn
hat“, schrieb er wenig später an den gemeinsamen Freund Paul Rée,
ebenfalls Philosoph und Arzt. „Ich bin nach dieser Gattung von
Seelen lüstern. Ja, ich gehe nächstens auf Raub danach aus – in
Anbetracht dessen, was ich in den nächsten zehn Jahren tun will,
brauche ich sie.“ Aus seinen benutzerischen Absichten machte er
keinen Hehl. Frauen waren schließlich dazu da, Männern zu dienen.
Beide Freunde umgarnten Lou, und sie spannte die Professoren vor
ihren Karren. Wortwörtlich. Damals entstand ein vielsagendes Foto,
aufgenommen in Luzern; die Anregung kam von Nietzsche. Seine
„Herrin“ Lou hockt in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid mit
weißem Spitzenkragen auf einem Leiterwagen, in der einen Hand
schwingt sie eine Peitsche, in der anderen hält sie die Zügel. Im
Geschirr sind die beiden Galane, der Blick Nietzsches schweift in
die Ferne, während Paul Rée ergeben wie Schlachtvieh in die Kamera
schaut. Im Hintergrund ist das Jungfraujoch zu sehen, was kein
Zufall gewesen sein dürfte. Rée machte ihr einen Heiratsantrag. Sie
wies ab. Nietzsche machte ihr auch einen. Sie wies wieder ab. Aber
für den schnurrbärtigen Philosophen blieb Lou „scharfsinnig wie ein
Adler, mutig wie ein Löwe“, ein „Ideal auf Erden“, eine „Vision“ –
Eigenschaften einer Göttin. „Wen er liebt, den lockt er gerne/ Weit
hinaus in Raum und Zeit – / Über uns glänzt Stern bei Sterne,/ Um
uns braust die Ewigkeit“, dichtete er für sie. Lou zog mit Rée
zusammen, teilte Arbeits- und Wohnzimmer, aber nicht das Bett. Als
sie den Orientalisten Friedrich Carl Andreas heiratete, nahm sie
ihm das Versprechen ab, die Ehe nie zu vollziehen. Ihre strenge Askese, der sie nach eigener Überzeugung
intellektuelle Höchstleistungen verdankte, überwand erst Rainer
Maria Rilke 1897, innerhalb von 14 Tagen. Der damals 21-jährige
Nachwuchsdichter drehte den Spieß um und gab sich sehr weiblich.
Briefe, Gedichte, schwärmerische Verehrung und bedingungslose
Hingabe waren seine Rezepte. „Lösch mir die Augen aus: ich kann
Dich sehn/ Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören/ Und ohne Fuß
noch kann ich zu Dir gehn/ Und ohne Mund noch kann ich Dich
beschwören.// Brich mir die Arme ab: ich fasse Dich/ Mit meinem
Herzen wie mit einer Hand/ Reiß mir das Herz aus: und mein Hirn
wird schlagen/ Und wirfst Du mir auch mein Hirn in den Brand/ So
will ich Dich auf meinem Blute tragen//“, schrieb er nach einer
Liebesnacht. Schon nach einigen rauschhaften Monaten begann
allerdings das alte Spiel. Lou Andreas-Salomé tat das, was alle
Musen auszeichnet, und entzog sich. Rilke betete die Freundin aus
der Ferne an, erhöhte und idealisierte sie. „Ich hab Dich nie
anders gesehen, als so, dass ich hätte beten mögen zu Dir. Ich hab
Dich nie anders gehört, als so, dass ich hätte glauben mögen an
Dich. Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, dass ich hätte
leiden mögen um Dich. Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, dass
ich hätte knien dürfen vor Dir. Durch Dich will ich die Welt sehen;
denn dann sehe ich nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich,
Dich!“, hieß es in einem Brief. 1900, kurz nach dem Ende der
stürmischen Beziehung zu Rilke, veröffentlichte Lou Andreas-Salomé,
die später bei Sigmund Freud auf der Couch lag und
Psychoanalytikerin wurde, eine wissenschaftliche Studie. Der Titel:
„Das Liebesproblem“. In dem Moment, in dem „der geliebte
Gegenstand“ – also der andere Mensch – sich als „unendlich bekannt
und verwandt und vertraut“ erweise, komme „der eigentliche
Liebesrausch zum Abschluss“, konstatierte sie nüchtern. Indirekt
sprach sie dabei auch von sich selbst. Das Verführerische der Muse ist gerade ihre Fremdheit, ihre
Distanz und ihre Unerreichbarkeit. Idealtypisch verwirklichte dies
die drei Jahre ältere Eleonora Duse. Die „femme fragile“ mit dem
leidenden Gesichtsausdruck riss eine ganze Generation zu
Verzückungen hin – dass Rilke darunter war und ihr das Gedicht
„Bildnis“ widmete, verwundert nicht weiter. Sie war eine Muse der
Massen, eine Folie für alle Wünsche. Abend für Abend trat sie als
Kameliendame, Hedda Gabler oder Nora auf die Bühne, und zwar
überall in Europa, den USA und Südamerika. Sie wusste genau, woraus
sich ihre Wirkung speiste. Sosehr sie in ihren Rollen seelische
Nöte zur Schau stellte, so strikt achtete sie darauf, nichts von
ihrem Inneren preiszugeben – sie lehnte Interviews ab, mied
Empfänge, ließ niemanden in ihre Garderobe vor und nahm keine
Mahlzeiten außer Haus ein. Ihre Liebschaft mit dem eher
mittelmäßigen Schriftsteller Arrigo Boito hielt sie geheim. Aber
als der fünf Jahre jüngere, legendenumwitterte Dichter Gabriele
D’Annunzio die weltberühmte Schauspielerin 1894 zu seiner Muse
machte, war es mit der Diskretion vorbei. Die turbulente Liaison
beschäftigte halb Europa. Ein weiterer Schritt – die Muse wurde zum
Medienphänomen. D’Annunzio kam die öffentlichkeitswirksame Affäre
sehr zupass, denn Eleonora Duse sollte seine Stücke auf die Bühne
bringen. Sie tat es, auch mit großem finanziellen Engagement. „Da
Du die einzige Offenbarung bist, die eines Dichters würdig ist, und
da ich ein großer Dichter bin, ist es notwendig – vor den heiligen
Gesetzen des Geistes –, dass Du Deine Kraft meiner Kraft übergibst
– Du Eleonora Duse mir Gabriele D’Annunzio“, umschmeichelte der in
Schulden ertrinkende Vielschreiber seine Geliebte und gebärdete
sich wie ein Renaissancefürst. Was passiert, wenn eine Muse allzu
irdisch wird und sich als gewöhnliche Liebende Blöße gibt, zeigt
sich in D’Annunzios pathostrunkenem Roman „Das Feuer“ (1900). Er
porträtierte die Freundin in der unterwürfigen Foscarina, die
alternd alle Reize verliert und dem stählernen Dichterjüngling
Stelio in ihrer Hingabe bald zur Last wird. Als vitaler
„super-uomo“ mit „bestialischer Wildheit“ kann Stelio, hinter dem
sich natürlich D’Annunzio selbst verbirgt, unmöglich auf die junge
Rivalin Foscarinas verzichten. Duses Impresario bat sie, die
Veröffentlichung zu verbieten. „Ich kenne den Roman, und ich werde
den Druck nicht verhindern“, erwiderte sie. „Mein Leiden zählt
nicht, wenn es darum geht, der italienischen Literatur noch ein
Meisterwerk zu schenken. Und dann … ich bin vierzig und ich liebe!“
Als D’Annunzios sinnliche Unersättlichkeit sich dann aber allzu
sehr auf die jüngere Konkurrentin konzentrierte, kam es 1904
endgültig zum Bruch. „Du hast mich wie ein Instrument der Kunst
behandelt, das man nimmt und wegwirft“, empörte sie sich. Plötzlich
waren die Musen zu einem Gebrauchsgegenstand geworden, dessen man
sich mechanisch bedient. Die Aura drohte zu verfliegen. Eine Tabuzone der bürgerlichen Gesellschaft um die
Jahrhundertwende war immer noch die Homosexualität. Hier musste das
Musengeschäft ganz im Geheimen stattfinden. „Um mir eine Verfassung
zu geben“, habe er Katia geheiratet, ließ Thomas Mann verlauten.
Als er 1911 mit seiner Frau und seinem Bruder Heinrich im Grand
Hôtel des Bains am Lido von Venedig Quartier nahm, machte ihm die
Libido einen Strich durch die Rechnung. Seine Muse war ein dunkel
gelockter, elfjähriger Knabe: Wladyslaw von Moes, Sohn eines
polnischen Barons. Ein Ephebe, wegen seiner prekären Gesundheit
zart wie ein Mädchen. Tag für Tag fieberte der Schriftsteller
Begegnungen im Fahrstuhl oder am Strand entgegen und beobachtete
fasziniert, wie sich Wladyslaw mit seinem Freund Janek raufte. Auch
Katia fiel das auf. Der polnische Knabe habe ihren Ehemann in
melancholisches Grübeln verfallen lassen, bemerkte sie in ihren
Memoiren. Der Schriftsteller zog sich zurück und überließ sich
seinen Fantasien. Echte Nähe wollte er gar nicht: „Ich – und einem
geliebten Jungen irgendetwas zumuten! Undenkbar!“, setzte sich
Thomas Mann später von dem offen pädophilen André Gide ab.
Stattdessen schrieb er binnen Jahresfrist „Der Tod in Venedig“
(1912). Dem Lyriker und Essayisten Carl Maria Weber gegenüber
bemerkte er: „Sagen Sie mir, ob man sich besser ,verraten‘ kann.
Meine Idee des Erotischen, mein Erlebnis davon ist hier vollkommen
ausgedrückt.“ Erst 1926 stieß eine Cousine von Moes auf die Novelle
und wies Wladyslaw auf das Porträt hin. Er fühlte sich
geschmeichelt, immerhin war Thomas Mann ein Schriftsteller von
Weltrang. Die Muse trat für Thomas Mann als „élan vital“ in Aktion – und
wirkte aus dem Verborgenen, was den Reiz noch steigerte. Das pure
Gegenteil galt bei einer weiteren gefeierten Frau des Fin de
siècle. Alma Mahler-Werfel setzte das Musenrepertoire bewusst ein
und münzte ihre überbordende Sinnlichkeit sogar in ein
emanzipatorisches Instrument um. Intellektuell bescheidener als Lou
Andreas-Salomé oder die Duse, war sie ebenso wenig greifbar wie
ihre Musengenossinnen. Auf theatralische Eroberungen und Ehen
folgten noch theatralischere Ehebrüche. Alma besaß ein großes
soziales Talent, führte ein mondänes Haus und entlockte ihren
Männern Höchstleistungen. Die 1879 geborene Wienerin schlug eine
halbe Künstlerkompanie in den Bann: Gustav Klimt, Alexander von
Zemlinsky, Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, Walter Gropius und
schließlich Franz Werfel, um nur die Wichtigsten zu nennen. Mahler
widmete ihr die 8. Sinfonie, als er sie an Gropius verloren
glaubte. Nach Mahlers Tod war Kokoschka von der trauernden Witwe
betört: „Wie schön sie war, wie verführerisch hinter ihrem
Trauerschleier. Ich war verzaubert von ihr!“ Seine Mutter schien
skeptischer: „Wie ich diese Person hasse, das glaubt mir kein
Mensch. So ein altes Weib, die schon ein elfjähriges Familienleben
hinter sich hat, hängt sich an so einen jungen Buben …“ Aber
Kokoschka hielt an ihr fest, porträtierte sie auf unzähligen
Gemälden und bat sie: „Du musst mich in der Nacht wie ein
Zaubertrank neu beleben.“ Es sind die altbekannten Hoffnungen: Inspiration, Originalität,
omnipotente Kreativität, alles sollten Frauen spenden. Alma dachte
nicht daran. Ihr hysterisches Begehren verlangte nach Liebhabern in
Serie. Nachdem sie 1929 Franz Werfel geheiratet hatte, trieb sie
ihn zu seinen Erfolgsromanen an, auch weil der aufwendige Wiener
Lebensstil Unmengen von Geld verschlang. Sie trank gern, tratschte
viel und befehligte noch im amerikanischen Exil über die
Emigranten. Aber ohne sie wäre der „hässliche, verfettete Jude“,
wie sie Werfel unverblümt antisemitisch titulierte, 1938 vermutlich
nicht über die Pyrenäen gekommen. Alma Mahler-Werfel treibt das
alte Musenideal auf die Spitze – und wird zu einer Art
Göttinnenschlachtross. Während für Lou Andreas-Salomé und Eleonora
Duse der Musenstatus an Attraktivität verlor und beide sich ihren
eigenen schöpferischen Kräften zuwandten, hielt Alma eisern daran
fest. Sie schoss jede Form von Moral in den Wind, erkämpfte sich
Autonomie und praktizierte eine private sexuelle Revolution avant
la lettre. Die Rollenbilder waren längst ins Wanken geraten, und spätestens
im 20. Jahrhundert sind die Musen vor allem ein Materiallager.
Jemand, der Musen, sosehr er sie verehrt, krude instrumentalisiert,
ist Truman Capote. Seine Freundinnen mussten nicht nur schön und
schlagfertig sein, sondern am besten auch noch reich. Erotische
Erfahrungen lebte der elfenhafte Capote mit seinen Liebhabern aus;
Frauen dienten ihm als Studienobjekt. Die Bankiersgattin Gloria
Guinness, das Harper’s-Bazaar-Model Slim Hayward, Babe Paley,
verheiratet mit dem Gründer des Fernsehsenders CBS, Oona Chaplin,
Jackie Kennedy, die Frau des Fiat-Besitzers Marella Agnelli oder
die Erbin Gloria Vanderbilt gingen mit ihm in Nachtclubs oder luden
ihn zum Lunch ein. Er selbst trat als beste Freundin dieser Damen
in Aktion, machte sich unentbehrlich für Aussprachen jeder Art, war
verständnisvoller als die viel beschäftigten Ehemänner. Er mochte
ihre Eleganz, ihren Stil, ihren Klatsch und überbot sie noch darin.
Sie brachten ihm bei, wie man sich kleidete und einrichtete. Und
Capote reüssierte. Er bekam 1955 den Auftrag für eine
prestigeträchtige Reportage über Gershwins Tournee mit „Porgy and
Bess“ nach Leningrad und Moskau. Ein russischer Funktionär zitierte
immer wieder den lateinischen Ausspruch „Inter armas silent Musae“
mit der Anmerkung, dass man nach dem Kanonendonner des Zweiten
Weltkriegs nun ein Ohr für Musen habe. Für Capote eine
Steilvorlage. „The Muses Are Heard“ nannte er seinen ironischen
Reisebericht, der 1956 mit großem Erfolg im New Yorker erschien.
Aber das neue Wunderkind von Manhattan zog seine Privatmusen vor.
1958 erfand Capote die bildhübsche, witzige, sexuell freigebige
Holly Golightly, in der sich jede seiner Freundinnen
wiedererkannte. Tatsächlich hatte er sie aus sechs oder sieben
seiner Musen zusammengesetzt. Der melancholische, federleichte
Kurzroman „Frühstück bei Tiffany“ huldigte genau wie sein erst 2004
entdeckter Erstling „Sommerdiebe“ einer verschwenderischen Art von
Weiblichkeit. Aber ausgerechnet mit seinen vermögenden Freundinnen, die ihn
Jahr für Jahr in Sommerhäuser und auf Jachten einluden, rechnete er
Ende der siebziger Jahre in „Erhörte Gebete“ harsch ab, unter
Klarnamen. Die Musen wurden von ihrem Thron gehoben. „Altes
texanisches Sprichwort: Frauen sind wie Klapperschlangen – zuletzt
stirbt der Schwanz. Einige Frauen sind ihr Leben lang dazu bereit,
für einen Fick alles in Kauf zu nehmen; und Miss Langman blieb, wie
ich höre, eine Enthusiastin, bis ein Schlaganfall sie umbrachte.
Oder wie Kate McCloud gesagt hat: ‚Eine wirklich gute Nummer ist
eine Reise um den Globus wert – in mehr als einer Beziehung‘. Und
Kate McCloud hat, wie wir alle wissen, zu diesem Thema einiges zu
sagen: wenn aus ihr so viele Stängel herausstehen würden, wie in
sie hineingesteckt worden sind, dann würde die gute Kate aussehen
wie ein Stachelschwein.“ Capote ist der Materialist unter den
Musenanrufern. Nachdem er sie ausgequetscht hat, lässt er sie über
die Klinge springen. Bei ihm haben sich die Musen in ordinäre
Frauenzimmer verwandelt und sind endgültig tot. Oder anders
ausgedrückt: Sie unterscheiden sich kaum mehr von Männern. Der Realitätsschub hat aber auch sein Gutes. Er zeigt den Grad
an Trivialisierung. Keine Musen nämlich, sondern Groupies treiben
heute ihr Unwesen. In einer Welt, in der Liebe und Sexualität frei
zur Verfügung zu stehen scheinen und bürokratisch über Facebook
verwaltet werden, müsste es gelten, das Geheimnis zu schüren. Als
Rückzugsort bleibt die Fantasie. Vielleicht gar kein schlechter
Moment, um die Schutzgöttinnen der Antike um Beistand zu
bitten. Maike Albath ist Literaturkritikerin, unter anderem beim
Deutschlandradio. Zuletzt erschien ihr Sachbuch „Der Geist von
Turin“ (Berenberg)
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Früher gehörten sie zum Leben der Schriftsteller wie Feder, Schreibmaschine und Papier. Nicht nur Goethe, Rilke, Werfel und Capote verfielen ihrem Charme. Bereits in der Antike riefen die Dichter ihre Musen in jedem Drama und jedem Epos an, das sie schrieben. Erinnerungen an eine in Vergessenheit geratene Figur.
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kultur
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2011-08-04T10:41:24+0200
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2011-08-04T10:41:24+0200
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https://www.cicero.de//kultur/durch-dich-will-ich-die-welt-sehen/42511
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Kai Hermann – Auch Punks und Junkies haben eine Geschichte
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Die Kai Hermann Road ist kurz. Das Straßenschild liegt vergessen
neben dem Bretterzaun am alten Holzhaus seiner Familie. Die
Arbeiter hatten es nicht wieder angebracht, als sie den schmalen
Weg asphaltierten, der zu dem eleganten Neubau führt. Hermann hat
das weiße Haus auf Stelzen selbst entworfen. Eine große Holztreppe
führt in den Eingangsbereich, am First befinden sich traditionelle
thailändische Schnitzereien. Zur Einweihung kamen die
einflussreichsten Mönche aus der 70 Kilometer entfernten
Provinzhauptstadt Chiang Rai. Seit zehn Jahren lebt Kai Hermann, 74, Journalistenlegende und
Autor des Weltbestsellers „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, während der
Wintermonate hier im Goldenen Dreieck, in der Hochebene von Thoeng.
Die Landschaft, die man einst das „Königreich der Millionen
Reisfelder“ nannte, ist von Flüssen durchzogen; hinter den grünen
Bergen am Horizont liegt Laos. Ein Zufall hat Hermann hierhin
verschlagen, andere mögen es Liebe nennen. Schon früher zog er sich zum Schreiben gern nach Thailand
zurück. Er arbeitete gerade an seinem Drehbuch zu dem Film „Engel
und Joe“, der auf seinem gleichnamigen Roman beruhte. Auf einer
Party lernte er seine zweite Frau Waewdow kennen. Nachdem sie ihn
zu Hause in Jasebeck, im Wendland, besucht hatte, schrieb sie ihm,
ihre Mutter sei im Krankenhaus: „Please send money!“ Das schien ihm
sämtliche Klischees zu bestätigen, die man so gerne hegt über junge
thailändische Frauen und ältere deutsche Männer. Aber sie blieb
hartnäckig – und gelassen genug, seine Rückzüge zu ertragen. Hermanns Zurückhaltung wird ihm immer wieder als
Verschlossenheit ausgelegt. Doch dahinter verbirgt sich nur eine
fast schon krankhafte Neugier, eine Sucht nach den Geschichten der
anderen. „Jeder hat eine Geschichte, einen Lebensentwurf, von dem
es sich zu erzählen lohnt“, sagt er. Und kaum jemand hat einen
besseren Blick für diese Lebensentwürfe: Ob es um das Mädchen
Christiane F. geht, das durch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu einer
Ikone wurde, um Hexe und Zottel, die Punker vom Alexanderplatz,
über die er eine mit dem Kisch-Preis ausgezeichnete Reportage
machte, oder um all die anderen. Er schrieb Udo Lindenbergs
„Autobiografie“, wich für eine Stern-Serie Wochen nicht von der
Seite Franz Beckenbauers und verbrachte einige Monate in Kanada
beim Waffenhändler Karlheinz Schreiber. Er lebte unter
Straßenkindern und trank mit Massenmördern wie Klaus Barbie und
Radovan Karadži? Tee. Der Name Waewdow bedeutet „kleines Sternchen“. So weit habe er
es nun gebracht, lacht Hermann, „vom ehemals großen Stern zum
kleinen Sternchen“. Er sitzt allein beim Essen an dem großen
Teaktisch vor der Küche, mit dem Rücken zu seiner lärmenden Familie
– Waewdow und ihre Eltern, eine Nichte und zwei kleine Jungen,
Kinder eines Verwandten. Er hat sich vergeblich bemüht, die Sprache
mit ihren vielen Vokalen und der schwierigen Betonung zu lernen.
Und er liebt seine Ruhe. Ob Punks, Junkies oder Franz Beckenbauer, jeder hat eine
Geschichte zu erzählen An den Nachmittagen zieht sich Kai Hermann meist mit seinem iPad
auf die Terrasse zurück, um an seinem Roman weiterzuschreiben,
einem Thriller über das organisierte Verbrechen. Oder er verfolgt
die Nachrichten und schaut auf seinen tropischen Garten mit den
Bananenstauden und Obstbäumen, den Bougainvilleen und
Drachenblumen. Manchmal beobachtet er dort die Vögel, wie zu Hause
im Wendland. Dorthin zog Hermann schon im Jahr 1972. Die alten Bauernhäuser nahe der Zonengrenze waren billig. Im
Landkreis Lüchow-Dannenberg hatten sich Künstler und Schriftsteller
angesiedelt wie der Maler Uwe Bremer oder die Autoren
Hans-Christoph Buch, Reinhard Lettau und Nicolas Born. Ihnen
folgten die Reporter und Redakteure der Hamburger Magazine, mit
ihren Kindern und Krisen. Psycho-Pannenberg hat man den Landkreis
damals spöttisch genannt. Eine kleine Wohnung an der Reeperbahn hat
er jedoch immer noch, nicht weit vom „Goldenen Handschuh“, seiner
Stammkneipe seit mehr als 50 Jahren. Früher las der Frauenmörder
Fritz Honka hier seine Opfer auf, heute versaufen die
Drei-Tage-Millionäre hier ihr Hartz-IV-Budget. Außenseiter haben Hermann immer interessiert. Er selbst lebte,
als er eigentlich in Vancouver studieren sollte, ein Jahr auf
Amerikas Straßen, den Beatniks Jack Kerouac und Allen Ginsberg auf
der Spur. Für seine Berichte über die Studentenrevolte bekam er
zusammen mit Günter Grass die Carl-von-Ossietzky-Medaille, eine von
vielen Auszeichnungen für sein journalistisches Werk. Seine Kunst
als Reporter bestand immer darin, eine Projektionsfläche für die
Geschichten der anderen zu sein: Er schaut, beobachtet und hört zu,
sehr lange und immer wieder. Bescheidenheit gehört dazu,
Selbstbeschränkung in Ausdruck und Auftreten, die Fähigkeit, sich
dem Zufall hinzugeben. Horst Rieck, der Koautor von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, ruft
öfter aufgeregt in Thoeng an. Es geht um Verträge, Tantiemen,
falsche Abrechnungen. Nach ein paar Gin Tonic zitiert Hermann ein
Gedicht: „Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein
Mensch kennt den andern, jeder ist allein.“ Diese Zeilen Hermann
Hesses haben ihn schon als Schüler beeindruckt, erzählt er, „und
irgendwie ist das noch immer so etwas wie mein Lebensmotto“.
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Er ist Journalistenlegende und Autor des Weltbestsellers "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo": Kai Hermann. Seit zehn Jahren lebt er im tropischen Domizil in der Hochebene von Thoeng. Ein Zufall hat ihn hierhin verschlagen, andere mögen es Liebe nennen
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kultur
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2012-04-06T09:48:51+0200
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2012-04-06T09:48:51+0200
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https://www.cicero.de//kultur/auch-punks-und-junkies-haben-eine-geschichte/48841
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Siemens und Thyssen-Krupp - Gerhard Cromme, über Fehler erhaben
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Die Liste seiner Opfer ist lang. Sehr lang. Kajo Neukirchen (Ex-Hoesch) und Dieter Vogel (Ex-Thyssen) stehen darauf, Heinrich von Pierer und Klaus Kleinfeld (beide Ex-Siemens) mussten dran glauben, zuletzt erwischte es die drei Thyssen-Vorstände Olaf Berlien, Edwin Eichler und Jürgen Claassen. Allesamt in den zwangsweisen Ruhestand befördert. Derjenige, der diese mehr oder weniger verdienten Herrschaften (und noch einige mehr) aus dem Job jagte, sitzt noch immer auf seinem Posten: Gerhard Cromme, Aufsichtsratsvorsitzender bei Thyssen-Krupp und Siemens. Eine seit nunmehr fast drei Jahrzehnten prägende Gestalt in Corporate Germany. Einer, der dank seiner Körpergröße wie seiner Selbsteinschätzung meist auf seine Umgebung herabschaut; einer, für den eine Grundregel kapitalistischen Wirtschaftens außer Kraft gesetzt scheint: Dass man für die Folgen seines Tuns oder Unterlassens haften muss. Seit über drei Jahrzehnten kennt Cromme das Stahlgeschäft; er hat vielfältige Kontakte in das Innere von Thyssen-Krupp, um stets erstklassig informiert zu werden. Dennoch will er nicht gewusst haben, wie die Kollegen im Schienen- und Aufzugsbereich mit Kartellen die Kunden ausnahmen; dennoch besteht er darauf, für das Desaster zweier Stahlwerksneubauten in Brasilien und den USA keine Verantwortung zu tragen. Fünf Milliarden Euro Verlust schrieb der Konzern im vergangenen Geschäftsjahr, das war existenzgefährdend. Der frühere Chef Ekkehard Schulz verlor seinen Sitz im Aufsichtsrat und in der Krupp-Stiftung, die drei Vorstände mussten gehen. Cromme aber bleibt. Gepatzt haben immer die anderen; oder es waren nicht zu beeinflussende unglückliche Umstände. „Selbstkritik, die inneren Fragen nach eigener Schuld und eigenem Versagen sind ihm fremd“, schrieb einmal Diana Maria Friz, eine Nichte von Alfried Krupp, über ihn. Er befindet sich da in guter Gesellschaft. Während in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft Versagen inzwischen schnell abgestraft wird, gelingt es einigen Managern, sich diesem Trend souverän zu entziehen. Leute wie Martin Blessing oder Klaus-Peter Müller, der eine Vorstands-, der andere Aufsichtsratsvorsitzender der Commerzbank, die erst das Geldhaus in die Fastpleite geführt haben und bis heute ohne Erfolg beim Comebackversuch operieren. Oder Anshu Jain von der Deutschen Bank, dessen Investmentbank-Sparte in kaum noch zu überschauende Prozesse und Skandale verwickelt ist, und der dennoch zum Kochef des größten deutschen Geldhauses befördert wurde. Oder Peter Löscher, der von Cromme ausgewählte Siemens-Chef, der im Konkurrenzvergleich schlecht aussieht und einräumen musste, hinter den „eigenen selbst gesetzten Ansprüchen zurückgeblieben“ zu sein. Oder Daimler-Chef Dieter Zetsche, unter dessen Ägide Audi und BMW an den Stuttgartern vorbeizogen, ohne dass er deswegen seinen Stuhl hätte räumen müssen. Geradezu vorbildhaft für diese Überlebenskünstler unter den Unternehmensführern muss Ferdinand Piëch sein. Der VW-General überstand den Datendiebstahl bei General Motors/Opel genauso wie den Korruptions- und Sexskandal der Wolfsburger. Was langfristig angelegte Herrschaftsausübung angeht, können es nur wenige Wirtschaftsgrößen mit dem Österreicher aufnehmen, und zu denen gehört sicherlich Gerhard Cromme (auch wenn ihm Piëchs Menschenverachtung fehlt). Wie der Automanager ließ sich Cromme in seinem Machtanspruch nie von externer Kritik beeindrucken. Nachdem er im Dezember seine Säuberungsaktion bei Thyssen-Krupp durchgezogen hatte, forderten selbst wirtschaftsnahe Blätter wie die FAZ seinen Rücktritt. Doch Cromme schien unbeeindruckt. Wer ihm in jener Phase begegnete, erlebte einen heiteren, wie immer verbindlichen Mann. Vielleicht hat er es wieder so gehalten wie Ende der Achtziger, als er, bei Krupp gerade an die Spitze der Stahl-Tochter gekommen, das Stahlwerk Rheinhausen stilllegte. Monatelang widersetzten sich die betroffenen Stahlarbeiter mit Demonstrationen, mit Straßen- und Brückenblockaden; Politiker aller Farben zeigten sich mit den Werktätigen solidarisch. Und was tat Cromme? Jahre später erzählte er, wie er dem Druck standgehalten hatte: Er las über Wochen keine gedruckten Blätter mehr, ließ Fernseher und Radio ausgeschaltet. Seite 2: Cromme hat gelernt, zu lenken „Ich habe in meinem Leben nur das getan, was ich für richtig gehalten habe“, sagte Cromme jüngst in einem Gespräch. Und viele seiner Entscheidungen erwiesen sich in der Sache als richtig. Cromme war es, der Deutschlands Stahlwirtschaft in den Neunzigern für die neue Zeit aufstellte. Er hatte erkannt, dass der Krupp-Konzern ohne Partner nicht überlebensfähig war. Aber er wollte agieren und nicht reagieren; Jäger sein, nicht Gejagter. Wollte vor allem eins: bei allen Umwälzungen und Verwerfungen an der Spitze bleiben. Und so griff er 1991 nach dem Dortmunder Wettbewerber Hoesch, die erste feindliche Übernahme in Deutschland. Der nicht minder robuste Hoesch-Chef Kajo Neukirchen musste weichen. Crommes Meisterwerk aber folgte sechs Jahre später, der Angriff auf die stolze, fast um ein Drittel größere Thyssen AG. Es war das, was die Amerikaner einen „reverse takeover“ nennen – der Kleinere will den Größeren schlucken. Die Thyssen-Truppe, angeführt von Crommes Duzfreund Dieter Vogel, wehrte sich verzweifelt gegen die „überfallartige“ (Vogel), bestens vorbereitete Attacke. Im zweiten Anlauf obsiegte der Krupp-Anführer, „ohne einen Pfennig Eigenkapitaleinsatz“, wie Vogel später beklagte. Der Thyssen-Chef musste gehen. Diesem wenig einfühlsamen Stil blieb Cromme auch in den folgenden Jahren treu. Schnell merkte er, dass im fusionierten Konzern die Doppelherrschaft mit dem Thyssen-Abkömmling Schulz nicht funktionierte. So beförderte er sich zwei Jahre später selbst in den Vorsitz des Aufsichtsrats; verbunden mit einem nicht unerheblichen Einkommensverlust. Nun kontrollierte er den Mann, neben dem er vorher als Gleichberechtigter gearbeitet hatte. Den Zenit erreichte er 2007, als er auch noch Aufsichtsratsvorsitzender eines anderen deutschen Vorzeigekonzerns wurde, der Siemens AG. Der Mann von der Ruhr sollte die in München aufgedeckten Korruptionspraktiken aufarbeiten und leistete ganze Arbeit. Nachdem er das Siemens-Denkmal Heinrich von Pierer aus dem Aufsichtsrat verdrängt hatte, feuerte er bis auf den Finanzchef den gesamten Vorstand. Natürlich hatte Cromme von den Bestechungsusancen bei Siemens nichts geahnt. Obwohl er schon vier Jahre im Aufsichtsrat gesessen hatte, zwei Jahre sogar als Vorsitzender des Prüfungsausschusses. Obwohl in der gesamten deutschen Industrie wie bei den Fachjournalisten bekannt war, dass erstens in dem Großanlagen-Business viele Geschäfte gar nicht ohne Schmiergeld laufen, und dass, zweitens, speziell die Siemens AG in diesem Fach besondere Meisterschaft erworben hatte. Den Aufsichtsräten, sagt er, seien nur Einzelfälle berichtet worden. Wer ist dieser Mann, der sich so gekonnt aller Haftung für sein Tun entzieht? Cromme stammt aus Vechta, die Herkunft aus Westfalen prägt seine Sprache. Ein Mann mit randloser Brille und gewelltem Haar, der stets die Form wahrt, seine Gäste nach dem Gespräch meist persönlich an den Fahrstuhl bringt; der auch bei kritischsten Journalistenfragen höflich bleibt und selbstironische Bemerkungen platziert; der von Mitarbeitern als fairer Vorgesetzter geschätzt wird und bei der eigenen Honorierung nicht zu den Raffgierigen zählt. Seite 3: Beitz' Schützling hat wenig zu fürchten Das Manager-Gen und den Machtinstinkt kann er nicht geerbt haben. Sein Vater war Gymnasiallehrer für Griechisch und Latein; einer der Brüder wurde Arzt, der andere Professor und die Schwester Studienrätin. Cromme studierte Jura, heuerte dann aber beim Deutschland-Ableger des französischen Baustoffkonzerns Saint-Gobain an und stieg rasch auf. Von dort holte ihn Berthold Beitz zu Krupp. Beitz und Cromme sind seither ein festes Gespann. Der auf Lebenszeit bestellte Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung, der am 26. September seinen 100. Geburtstag feiern will, ist der Einzige, den ein Cromme zu respektieren hat. Mit über 25 Prozent der Aktien von Thyssen-Krupp hält die Stiftung eine Sperrminorität. Daher ist der börsennotierte Konzern eine Art Familienfirma, mit Beitz als klassischem Patriarchen, der nicht loslassen kann. Bis Cromme kam, hatte Beitz keine glückliche Hand bei der Wahl der Krupp-Vorsteher. Nun aber schien er die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wie sich der relativ junge Vorstandsvorsitzende – er wurde mit 43 Jahren Chef von Krupp-Stahl – bei Rheinhausen, Hoesch und Thyssen durchsetzte, fand Beitz’ Anerkennung. Fast unvermeidlich war dann, dass er Cromme seine Nachfolge an der Spitze der Krupp-Stiftung zusicherte: eine Perspektive, die Cromme dauerhaften Machterhalt sichert. Und die ihn auftreten lässt wie einen Eigentümer oder Erben des Konzerns. Cromme weiß: Solange Beitz seine schützende Hand über ihn hält, kann ihn bei Thyssen-Krupp keiner stürzen. Und Beitz steht zu Cromme. Weil er über keinen anderen Nachfolger verfügt; und weil er ihm zu verdanken hat, dass es überhaupt noch ein Unternehmen gibt, das den Namen Krupp trägt. Wer aber kontrolliert einen wie Cromme? Die Wahrheit ist: niemand. Aufsichtsratsvorsitzende in Deutschland werden selten haftbar gemacht, wenn die von ihnen beaufsichtigten Unternehmen schlecht laufen. Laut Aktiengesetz ist allein der Vorstand für die laufenden Geschäfte verantwortlich. Die Kontrolleure können immer auf die exekutiv Verantwortlichen verweisen. Oder entschuldigen sich damit, zu spät oder unzureichend informiert worden zu sein. Der Nachweis unzureichender Kontrolle ist nur schwer zu führen. Die Deutschland AG – jenen informellen, erlesenen Kreis einiger Banker und Manager von Großkonzernen – gibt es nicht mehr. Aber manche Elemente dieses Gebildes haben überlebt. So der kleine Zirkel von Chefaufsehern, die sich regelmäßig in Aufsichtsräten, Vorstandszirkeln oder bei privaten Gelegenheiten begegnen – neben Cromme Männer wie Manfred Schneider, der Ex-Chef von Bayer und Chefkontrolleur von RWE; oder Jürgen Hambrecht, ehemals BASF-Chef und zukünftig dort Aufsichtsratsvorsitzender; oder Jürgen Weber, Aufsichtsratschef der Lufthansa und in diversen anderen Gremien; oder Werner Wenning, Chefkontrolleur bei Bayer und bei Eon. Alles Herren in fortgeschrittenem Alter, die ein informelles Netzwerk bilden. Auffällig ist: Banker spielen – nach dem Verkauf ihrer Industrieanteile und dem anhaltenden Niedergang der Branche – in dieser Liga keine Rolle mehr; auch die Versicherer sind kaum noch präsent. Die Industrie rechnet sich zu Recht die ökonomischen Erfolge Deutschlands in den vergangenen Jahren zu; sie beansprucht in Corporate Germany die Meinungsführerschaft. Die Mitglieder dieses Herren-Clubs haben ihre Verdienste. Sie leben zumeist in ihrer eigenen Welt, gut abgeschirmt vom Leben Normalsterblicher. Außenstehenden, ob aus Medien oder Politik, billigen sie daher nicht das Recht zu, über einen der ihren ein Urteil zu fällen. So hält es auch Cromme, der zwar einige Jahre der Kommission für Corporate Governance vorsaß, aber im Zweifelsfall dem eigenen Vorteil den Vorrang einräumt. So sorgte er mit dafür, dass bei Siemens die Altersgrenze von 70 Jahren für Aufsichtsräte abgeschafft wurde. Begründung: Siebzigjährige seien heute viel fitter als früher. Und da schließt sich der 69-Jährige natürlich mit ein. Die Liste seiner Opfer wird sicherlich noch länger. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
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Wolfgang Kaden
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Um ihn herum herrscht ein reges Kommen und Gehen, Gerhard Cromme aber hält an seinen Posten in den Aufsichtsräten bei Siemens und Thyssen-Krupp fest. Obwohl er als oberster Kontrolleur mit im Boot saß, als Fehler begangen wurden, werden sie ihm nicht angelastet
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wirtschaft
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2013-03-02T11:29:18+0100
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2013-03-02T11:29:18+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/gerhard-cromme-ueber-fehler-erhaben/53564
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Meyers Blick auf... - ... die Hofberichterstattung deutscher Journalisten | Cicero Online
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Frank A. Meyer
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https://www.cicero.de//innenpolitik/meyers-blick-auf-die-hofberichterstattung-deutscher-journalisten
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Sibylle Bergs letzte 24 Stunden - Sterben, ein Scheißdreck
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Dieser Text ist eine kostenlose Leseprobe aus dem Cicero. Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Ich weiß nicht, was das ist, Tod. Ich war noch nicht tot. Wie alle, die noch nicht gestorben sind, habe ich nur eine Idee. Meine ist, dass der Tod sich vielleicht so anfühlt wie die Zeit vor der Geburt. Also nichts ist da. Ein absolutes, allgleiches Nichts. Wenn wir nicht selbstbestimmt sterben können – was ja immer noch keine Option ist, es aber unbedingt sein müsste –, ist die Idee des letzten Tages ein Quatsch. Ich bin absolut und uneingeschränkt für das Recht, selbstbestimmt zu sterben und die dazu nötigen Mittel in der Apotheke erwerben zu können. Dann möchte ich gerne im Tessin sterben, in einem Waldstück über Tegna, ein wenig von der Sonne beschienen und zusammen mit meinem geliebten Menschen. Musik ist mir nicht wichtig, es sollte nur bitte nicht regnen. Aber wenn ich es mir aussuchen kann – und ich bin mir sicher, Sie können mir den Wunsch erfüllen –, möchte ich vielleicht eher gar nicht sterben und miterleben, was mit der Welt weiter passiert. Vielleicht wird es einmal eine völlige Gleichberechtigung aller Geschlechter geben? Vielleicht werden großartige Dinge erfunden, die Menschen 500 Jahre alt werden lassen (dann würde das Anhäufen von Milliarden endlich sinnvoll und nicht obszön sein). Ach, Sterben ist ein Scheißdreck. Es gibt nichts, was noch ein letztes Mal gemacht, gedacht oder ausgesprochen werden müsste. Was man bis zum Ende nicht gemacht, gedacht oder ausgesprochen hat, ist dann auch nicht mehr wichtig. Wem sollte ich auch etwas beichten? Und das Entschuldigen für Unachtsamkeiten erledige ich ebenfalls lieber jetzt. Die absolut unangenehme Idee der Vergänglichkeit versuche ich immer mit einzubeziehen. In jeder Sekunde, bei allem, was ich tue. Es gelingt nicht immer. Vorbereiten kann man sich auf so was schlecht, vielleicht bei einer langen Krankheit, aber da fehlt mir die Erfahrung. Einmal hatte ich einen Unfall mit klinischem Tod. Sagt man das so? Das kam völlig unerwartet und war nicht besonders schrecklich.Ab und zu habe ich Eitelkeitsattacken, ärgere mich über angebliche Missachtung und sehe mir doch dabei zu und finde mich lächerlich. Im Allgemeinen versuche ich aber, mich immer mit Güte zu behandeln. Einer muss das ja erledigen. Ich bin sehr nachsichtig mit mir. Ich habe ein sehr schönes, sehr angenehmes Leben. Ich habe viel Glück gehabt, mit dem Ort meiner Geburt und mit meiner Gesundheit. Den Rest habe ich selber zu verantworten. Die Menschen verbessern zu wollen, war eine irrsinnige Arroganz, die meiner Jugend geschuldet war. Wer bin ich, jemanden erziehen zu können? Ich ärgere mich immer noch über nicht zu Ende Gedachtes, über Arroganz, Dummheit, über Religionen und deren Sexismus. Ich ärgere mich über das Elend, das wir uns selbst bereiten, und über mich, dass mich das alles ärgert. Darüber ärgere ich mich auch. Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert.
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Sibylle Berg
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Die Autorin Sibylle Berg verbringt ihre letzten 24 Stunden im Tessin, in einem Waldstück über Tegna, von der Sonne beschienen, und ärgert sich noch einmal tüchtig über sich selbst
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kultur
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2013-05-12T07:01:22+0200
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https://www.cicero.de//kultur/die-letzten-24-stunden-sterben-ist-ein-scheissdreck/54398
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Zum Tod von Diego Maradona - Wie unfassbar ist das eigentlich?
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Das Schlimmste am Netz ist ja, dass ständig sofort alle ein Foto rauskramen, wenn jemand gestorben ist. Ich und der Tote und dann eine Geschichte posten, das kommt gut und bringt kurzen Ruhm und Reichweite. Ich mache das nicht mit. Aber ich würde natürlich, nur dass ich eben Maradona nie selbst gegenübergestanden bin. Ich bin ihm mal nahe gekommen, ja, 2000 beim Abschiedsspiel von Lothar Matthäus im Münchner Olympiastadion stand er nur noch ein paar Meter weg von mir, und das hat schon gereicht, dass ich sehr aufgeregt war, denn Maradona, das ist bekanntermaßen der beste Spieler aller Zeiten, zu Leb- und zu Totzeiten. Und hört mir jetzt bloß auf mit Pelé oder Messi. Manche Nachrichten treffen einen hart. Dass also Maradona im Alter von 60 Jahren gestorben ist, das ist so eine Nachricht. Der kleine Mann war ein Genie und ein Leidender, und er hat zu wenig zurückbekommen für das, was er uns gegeben hat. Also gut, dann eben doch eine Geschichte mit ihm und mir. Sie ist etwas über ein Jahr alt, eine Sternstunde des Weltfußballs, diesmal war er mir sogar noch näher als bei Lothars Abschiedsspiel, ich saß nämlich in Reihe drei eines Hamburger Kinos – man muss in Hamburg ins Kino gehen, um guten Fußball zu sehen –, und er auf der Leinwand als Hauptdarsteller der Dokumentation „Diego Maradona“. Das war ein besonderer Moment für mich, denn ich habe tatsächlich Fußball mit meiner Freundin Nina geguckt, die sich nicht die Bohne für Fußball interessiert, und zum ersten Mal fanden wir beide gleichzeitig etwas mit Fußball wahnsinnig gut. Ich glaube, das wird es nie wieder geben zwischen uns, und ich habe es Diego Armando Maradona zu verdanken. Ich wollte gerade schreiben, dass ich diesen Menschen nach dieser Doku ganz anders sah als vorher, aber ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob Mensch überhaupt die richtige Bezeichnung ist, Maradona war ja eher so eine Art Zwischengott; wie der in Neapel verehrt wurde, das ist nicht zu fassen, der Film zeigt es unerbittlich deutlich, sein Foto hing neben Gottesbildern und Marienbildnissen, er war also kein richtiger Mensch, eher ein bisschen der Cousin von Jesus, der war ja auch erst der Heilsbringer, und am Ende haben sie ihn ans Kreuz genagelt. Mich hat schon zu Reporterzeiten fasziniert, was Fußballprofis durchmachen, wenn sie auf ihre Fans stoßen, aber was ich in dem Film gesehen habe, das sprengt alles selbst Gesehene, dagegen sind Begegnungen von Bundesligaspielern mit Fans kleine, nette Familienabende. Was Maradona aushalten musste, wie sie alle an ihm zerrten, und was für ein lieber Kerl der im Grunde war, und dass das alles nicht zusammenpassen und gut gehen konnte, das zeigt der Film ganz wunderbar, man windet sich fast vor Pein und Fremdschämen in manchen Szenen, wenn nämlich die Menschen in ihn hineinzukriechen versuchen vor Bewunderung und Anbetung. Ja, selbst seine Mitspieler haben ihn vergöttert und sogar Lieder auf ihn gesungen, wie unfassbar ist das eigentlich? Wie soll man damit leben? Man sieht in dem Film natürlich auch, was für ein unfassbar guter Fußballer der Argentinier war, so gut, dass seinen Gegenspielern meistens nichts anderes übrigblieb, als ihn umzulegen, aber das wusste man ja schon vorher; besonders faszinierend fand ich, wie Maradona immer wieder aufgestanden ist, und wie aufopferungsvoll er trainiert hat trotz des ganzen Trubels und der Sauferei und der Drogen, und besonders lustig ist natürlich, dass man sieht, dass in den 80ern schon prämodern intervalltrainiert wurde: Der Fitnesstrainer stoppt mit seiner kleinen goldenen Casio die Zeit und misst Maradonas Puls mit den Händen am Hals. Das ist Lauf-App mit Pulsgurt, Version Nullpunkteins. Traurig ist der Film natürlich trotzdem die ganze Zeit, man weiß ja, dass es nicht gut ausgehen wird, also damals schon nicht, die Hand Gottes hin, der WM-Titel her, und jetzt wissen wir es endgültig. Ich wünschte mir jedenfalls schon beim Gucken des Filmes Tarantino her, der hätte einfach ein Happy End hintendran getackert. Aber am Ende sitzt Maradona komplett verfettet und fast nicht wiederzuerkennen in einem TV-Studio, und Tränen laufen sein aufgeschwemmtes Gesicht hinunter, und ich hatte letztes Jahr in diesem Moment selber einen dicken Kloß im Hals und wollte ihn nur in den Arm nehmen und sagen: Komm', wir machen das ganze nochmal ganz von vorn, aber diesmal helfe ich dir, und alles wird gut. Aber nichts wird mehr gut.
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Alex Steudel
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Zum Tod von Diego Maradona, dem Jahrhundert-Fußballer aus Argentinien, muss man sich fragen: Ist Mensch überhaupt die richtige Bezeichnung für diesen außergewöhnlichen Mann. Für Alex Steudel jedenfalls war er mindestens eine Art Zwischengott. Ein Nachruf.
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"Diego Maradona",
"Fußball",
"Argentinien",
"Nachruf"
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kultur
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2020-11-25T19:36:26+0100
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2020-11-25T19:36:26+0100
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https://www.cicero.de//kultur/diego-maradona-tod-gestorben-nachruf/plus
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Griechenland-Krise - Der deutsche Kurs ist krachend gescheitert
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Wann ist eine Haltung dogmatisch? Wenn man nicht mehr darüber reden kann. Genau das scheint das Problem mit der deutschen Haltung gegenüber Griechenland zu sein. Man kann nicht darüber reden, denn alles andere würde europäische Prinzipien und Verträge verletzen – sagt jedenfalls Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Merkwürdig nur, dass die meisten EU-Politiker das völlig anders sehen. In Brüssel behauptet niemand, dass die in Griechenland besonders umstrittene Troika in den EU-Verträgen verankert sei. In Brüssel hat auch noch niemand ein Prinzip entdeckt, das es verbieten würde, über Schulden zu reden, oder über eine Umschuldung. Im Gegenteil: Sie reden miteinander, die Herren Tsipras, Juncker, Tusk und Schulz. Am Mittwoch haben sie sich in Brüssel getroffen und in aller Freundschaft, mit Wangenkuss und Schulterklaps, über die Probleme und Wünsche Griechenlands diskutiert. Tabus hat es dabei, so weit erkennbar, keine gegeben. Ganz im Gegenteil. EU-Kommissionspräsident Juncker hat sich bereits für eine Abschaffung der Troika ausgesprochen. Parlamentspräsident Schulz stimmt Tsipras zu, dass die neue Regierung in Athen nun auch einmal die Reichen zur Kasse bitten sollte. Und Ratspräsident Tusk hat Gespräche über eine Umschuldung zumindest nicht ausgeschlossen. Geht doch! All das und noch viel mehr sollte auch in Berlin gehen, wenn der griechische Finanzminister Varoufakis seinen Amtskollegen Schäuble trifft. Schließlich liefert Varoufakis eine Steilvorlage: Nie und nimmer wolle Athen sein Konto überziehen, die Zeiten des Budgetdefizits seien ein für allemal vorbei, sagte er in einem „Zeit“-Interview. Das ist voll auf Schäuble-Linie - wie auch viele andere Äußerungen des neuen griechischen Kollegen. Innerhalb nur einer Woche hat Varoufakis bereits viel Kreide gefressen; mit seinem Interview ist er auf Schäuble zugegangen. Nun sollte sich auch der deutsche Kassenwart bewegen und seine dogmatische Haltung überwinden. Denn eins ist doch wohl klar: Der deutsche Kurs in Griechenland ist krachend gescheitert. Nicht nur Tsipras und die neue Linksregierung fordern einen Kurswechsel. Auch schon sein Amtsvorgänger Samaras wollte die Zwangs-Finanzierung durch die Euroretter beenden und die Troika loswerden. Das hat Samaras sogar monatelang angekündigt. Doch beim Eurogruppen-Treffen im Dezember musste Samaras klein beigeben – Schäuble bestand auf einem neuen Hilfsprogramm und weiteren Kontrollen der Troika. Berlin trägt also eine direkte Mitverantwortung am Sturz der alten, willfährigen Regierung und am Machtwechsel in Athen. Höchste Zeit, sich das endlich einzugestehen. Höchste Zeit auch, die gescheiterte deutsche Politik gegenüber Griechenland zu korrigieren. Was spricht denn dagegen, die Schulden weiter zu strecken? Wo ist das Problem, wenn der Schuldendienst künftig an das Wachstum gekoppelt wird – und man so einen Anreiz für beide Seiten schafft, die griechische Wirtschaft flott zu kriegen? In Brüssel werden diese und viele andere Ideen bereits diskutiert. Sogar in Frankfurt, am Sitz der Europäischen Zentralbank, scheint ein Umdenken einzusetzen. Nur in Berlin hält man an den alten Denk- und Sprechverboten fest. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern auch kontraproduktiv. Deutschland wirkt zunehmend isoliert. 2010 war das übrigens schon einmal so. Damals, zu Beginn der Schuldenkrise, verweigerte Berlin monatelang seine Solidarität. Erst in letzter Sekunde stimmte Deutschland einem Hilfsplan zu – und machte die Griechenland-Rettung damit unnötig teuer. In Brüssel will man alles tun, um eine Wiederholung zu verhindern. Und in Berlin?
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Eric Bonse
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Déjà-vu in der Griechenland-Krise: Wie schon 2010 sträubt sich Deutschland gegen Hilfe. Das kann nicht gut gehen
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außenpolitik
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2015-02-04T16:47:00+0100
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2015-02-04T16:47:00+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/griechenland-krise-der-deutsche-kurs-ist-krachend-gescheitert/58826
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Terror in Nizza - Frankreich kommt nicht zur Ruhe
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In der Basilika Notre-Dame de l'Assomption im Zentrum von Nizza hat erneut ein wohl terroristischer Anschlag stattgefunden. Mit einem Messer bewaffnet, griff ein Mann wahllos Besucher und Gläubige an. Mindestens drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann, wurden dabei getötet. Weitere dem Vernehmen nach verletzt. Der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, erklärte via Twitter, der mutmaßliche Täter habe mehrfach „Allahu Akbar“ gerufen. Er sei dann vor Ort von der Polizei ruhiggestellt und verhaftet worden. Er sei bei der Festnahme verletzt und in ein Krankenhaus gebracht worden. Unterdessen hat die Pariser Anti-Terror-Staatsanwaltschaft den Fall an sich gezogen. Es gebe wenig Zweifel daran, dass es sich erneut um einen islamistisch motivierten Anschlag handele. Gerüchte, eine der beiden getöteten Frauen sei – wie der Lehrer Samuel Paty vor zwei Wochen – ebenfalls enthauptet worden, haben weder Polizei noch Staatsanwaltschaft bislang bestätigt. Der Anschlag in Nizza fand statt, während Premierminister Jean Castex in der Pariser Nationalversammlung den Maßnahmenkatalog für den erneuten Lockdown wegen der Covid-Pandemie verkündete. Die Sitzung wurde für zwei Schweigeminuten unterbrochen. Präsident Emmanuel Macron ist mit seinem Innenminister Gérard Darmanin auf dem Weg nach Nizza, um sich vor Ort einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Eine Pressekonferenz ist für den späteren Nachmittag angekündigt. Darmanin hatte in den vergangenen Tagen mehrfach gewarnt, es drohten weitere Terroranschläge. Hintergrund sind die Ankündigungen von Macron, mit aller gebotenen Härte gegen Islamisten vorzugehen. Der türkische Präsident Erdogan hatte daraufhin, wie auch ultraorthodoxe Muslime in anderen Staaten, zum Boykott französischer Waren aufgerufen und Macrons Politik als faschistisch gebrandmarkt. Die französische Rechte wirft dem Präsidenten dagegen vor, viel zu spät und zu lasch gegen Islamisten vorzugehen. Marine Le Pen äußerte sich bereits kurz nach dem heutigen Attentat in diesem Sinne. Und sie ist nicht die Einzige. Die Nerven liegen nach diesem erneuten Mordanschlag bei vielen Franzosen blank. Der konservative Bürgermeister Estrosi wird mit den Worten zitiert: „Nizza und Frankreich zahlen einen hohen Tribut an den Islamo-Faschismus. Es wird Zeit, dass Frankreich sich von Regeln befreit, die es hindern, den Islamo-Faschismus auszurotten.“ Und Éric Ciotti, ebenfalls konservativer LR-Abgeordneter aus der Region Alpes-Maritimes rund um Nizza, erklärte: „Zum ersten Mal seit der deutschen Besatzung ist unser Land nicht mehr frei. Frankreich ist im Krieg. Wir sind im Krieg.“ Auch die beiden ehemaligen Präsidenten der Republik, Nicolas Sarkozy und Francois Hollande fanden deutliche Worte. Sarkozy erklärte: „Es ist jetzt weder die Zeit für Polemik, noch die Zeit für Politik. Jetzt ist die Zeit des Kampfes gegen die Barbarei und für unsere Zivilisation“. Hollande sagte, ganz Frankreich sei angegriffen: „Ich möchte, dass wir in dieser Periode die Kraft für Einheit und Zusammenhalt finden, um gemeinsam die nötigen Antworten geben zu können.“ Inzwischen wurde in ganz Frankreich die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen, nachdem es auch in Avignon zu einem Zwischenfall kam, bei dem die Polizei einen bewaffneten Man erschossen hat. Ob es einen Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen gibt, ist derzeit noch nicht ermittelt.
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Kay Walter
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Schon wieder ein Attentat in Frankreich, nur 13 Tage nach dem brutalen Mord an Samuel Paty. Im Zentrum von Nizza hat ein Mann mindestens drei Menschen mit einem Messer getötet. Der Tatverdächtige wurde festgenommen. Die Nerven in Frankreich liegen blank.
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"Frankreich",
"Islamistischer Terror",
"Nizza",
"Emmanuel Macron"
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außenpolitik
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2020-10-29T13:39:25+0100
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2020-10-29T13:39:25+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/terror-nizza-frankreich-islamistischer-anschlag-messer-avignon-emmanuel-macron
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Rechtsextremismus im Internet - ... und täglich grüßt die Killerspiel-Debatte
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Sicher kennen Sie den Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Genau, das ist der Film, in dem Bill Murray denselben Tag immer wieder aufs Neue durchleben muss. In eine solche Zeitschleife fühlte auch ich mich erst kürzlich wieder versetzt. Im Zusammenhang mit dem Anschlag von Halle ließ sich Innenminister Seehofer zu der Aussage hinreißen, viele der Täter und potentielle Täter kämen aus der Gamerszene. Damit hat er eine uralte Debatte um einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen Terror und sogenannten Killerspielen wieder einmal aus der Mottenkiste geholt. Es ist zudem eine Debatte, die seit jeher mit der gleichen Oberflächlichkeit und Polemik geführt wird. Natürlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass rechtsextreme Gesinnung auch auf Gaming-Plattformen verbreitet ist, denn die Szene ist ein Spiegel der Gesellschaft. Es mag durchaus zutreffend sein, dass der Attentäter von Halle den Ablauf der Tat auf perfide Weise einem Spiel nachempfunden hat. Dennoch wäre es grotesk anzunehmen, dass eine Computersimulation beim Täter den letztendlichen Entschluss hervorgerufen hat, einen Anschlag in die Realität umzusetzen. Wer wirklich dazu bereit ist, in der echten Welt zu töten, der wird nicht erst durch ein Spiel dazu motiviert. Daneben gibt es konkrete Hinweise darauf, dass sich der Attentäter vom Olympia-Einkaufszentrum in München über das Forum „Anti-Refugee-Club“ auf der Gaming-Plattform „Steam“ mit Gleichgesinnten weltweit vernetzt hat. Dennoch wäre es naiv anzunehmen, dass man der virtuellen Vernetzung von Extremisten endgültig und vollständig Einhalt gewähren kann, wenn man sich einzig auf Gamer fokussiert. Selbstverständlich ist es Aufgabe der Gaming Community und der Plattformbetreiber wachsam zu sein. Aber Radikalisierung findet im Internet in vielen Formen und auf unterschiedlichten Plattformen statt. Deshalb hat die interfraktionelle Parlamentsgruppe eSports & Gaming, dessen Vorsitzender ich bin, kürzlich eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht und sich dabei klar gegen Behauptungen positioniert, die eine grundsätzliche Affinität zwischen Gaming und rechtsextremen Gefährdern suggerieren. Pauschale Vorverurteilungen, die – abseits von Fakten – Vorbehalte und Unverständnis gegenüber einer gesamten Kulturszene schüren, sind nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Solche undifferenzierten Äußerungen werden den mehr als 30 Millionen Bürgerinnen und Bürgern nicht gerecht, die in Deutschland regelmäßig am Smartphone, an der Konsole oder am PC Games spielen. Diejenigen, die solche undiffernzierten Äußerungen kundtun, provozieren damit eine gesellschaftliche Spaltung zwischen Gamern und Nicht-Gamern. Es ist allzu offensichtlich, dass die Scheindebatte um Killerspiele immer wieder aus demselben Grund hervorgeholt wird: Es geht einzig und alleine darum, vom eigentlichen Kernproblem abzulenken: Extremismus und Fremdenfeindlichkeit sind realer Bestandteil unserer Gesellschaft, den es dort zu bekämpfen gilt! Rechte Gewalt ist genauso real wie etwa linke Gewalt und im Osten ebenso verbreitet wie im Westen. Viel zu lange wurde dieses Problem aber politisch kleingeredet, und viel zu lange wurde der Bevölkerung vorgegaukelt, der Staat würde die rechte Szene unter Kontrolle haben. Aber nicht erst seit den NSU-Morden wissen wir, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr wird immer deutlicher, dass (rechts-)extreme Gesinnung schon lange und tief in der Gesellschaft verwurzelt ist und dass sich dieses Problem nicht durch einen simplen Fingerzeig in Richtung Games lösen lässt. So wie Bill Murray die Zeitschleife durchbrechen konnte, indem er sein Verhalten reflektiert und geändert hat, müssen auch die Innenminister in Deutschland Ihren Umgang mit dieser Problematik reflektieren und ändern. Eine Instrumentalisierung der Gamerszene ist weder fair noch zielführend. Hate Speech, Extremismus und Radikalisierung muss gesamtgesellschaftlich bekämpft werden. Der radikalen Gesinnung muss dort entgegengetreten werden, wo sie entsteht; nicht erst dort, wo sie ausgelebt wird
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Manuel Höferlin
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Nach dem Anschlag von Halle hat Innenminister Horst Seehofer angekündigt, die Polizei werde Gaming-Portale wie die ins Visier nehmen, die Stephan B. zu seinem Attentat inspiriert hatten. Für den digitalpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Manuel Höferlin, läuft dieser Vorstoß ins Leere
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"Rechtsextremismus",
"Internet",
"Gaming-Plattformen",
"Halle"
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kultur
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2019-11-12T15:55:27+0100
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2019-11-12T15:55:27+0100
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https://www.cicero.de/kultur/rechtsextremismus-internet-halle-stephan-gamer-szene
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Wahlkampf in Polen - Rechtspopulisten als Königsmacher?
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In Europa befinden sich rechtspopulistische Parteien offenkundig im Aufwärtstrend. In Deutschland verzeichnete die AfD zuletzt Rekordwerte der bundesweiten Zustimmung. Auch im benachbarten Polen verzeichnen Parteien im rechten politischen Spektrum Zuwachs. In diesem Oktober steht Polen vor den zehnten Parlamentswahlen seit der historischen Wende im Jahr 1989. Die politische Situation im Land ist angespannt und der Ausgang der Wahl bleibt ungewiss. Seit 2015 prägt die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Koalitionsregierung. Aktuelle Umfragen deuten jedoch darauf hin, dass weder die PiS noch die Oppositionspartei der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO) voraussichtlich eine klare Mehrheit im Sejm, dem polnischen Parlament, erreichen werden. Ein möglicher Koalitionspartner für den Machterhalt der PiS könnte die Konfederacja Wolność i Niepodległość – Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit – sein, ein Bündnis konservativ-libertärer Parteien aus dem rechten bis rechtsextremen politischen Umfeld. Die Umfragewerte der Konfederacja liegen derzeit bei bemerkenswerten 13 Prozentpunkten. Die Partei könnte somit gemeinsam mit der PiS, die in den Umfragen bei 36 Prozentpunkten liegt, eine absolute Mehrheit im Parlament erreichen. Für Beobachter in Warschau ist ein solches Szenario nicht unwahrscheinlich, weshalb ein genauerer Blick auf die Partei lohnt. Die Folgen einer solchen Konstellation für Europa, aber auch für Polen, sind bislang zu wenig diskutiert. Ähnlichkeiten zwischen der Konfederacja in Polen und anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa, wie der Alternative für Deutschland (AfD), sind unverkennbar. Beide Parteien teilen rechtspopulistische bis rechtsextreme Ansichten, stehen der Europäischen Union äußerst skeptisch bis ablehnend gegenüber und lehnen eine grüne Transition europäischer Volkswirtschaften sowie eine liberale Migrations- und Flüchtlingspolitik ab. Bei genauerer Betrachtung der Konfederacja stellt sich die Frage, inwiefern sich weitere Parallelen zur AfD ziehen lassen und ob sie die Rolle als Königsmacher für die PiS in den bevorstehenden Wahlen spielen könnte. Erst im Jahr 2019 gegründet, hat die Konfederacja in kürzester Zeit Erfolge erzielt. Bereits im selben Jahr gelang es ihr, mit 6,8 Prozent der Stimmen und 11 Mandaten in den Sejm einzuziehen. Seitdem steigt die Partei in Umfragewerten. Nach internen Auseinandersetzungen und einem Führungswechsel Anfang 2023 unter dem jungen Ökonomen Slawomir Mentzen und Krzysztof Bosak gelang es der Partei, eine einheitlichere Stimme zu finden. Damit verbesserte sie ihre Außendarstellung erheblich. Der Erfolg der Konfederacja beruht zum Teil auf ihrem jungen Führungsteam mit Mentzen (36) und Bosak (41), denen es gelungen ist, die Popularität der Partei zu steigern. Im Vergleich zu den älteren Vorsitzenden anderer Parteien wie Donald Tusk (66) von der PO und Jarosław Kaczyński (74) von der PiS bildet die Konfederacja-Führung einen Kontrast. Dies spiegelt sich auch in der Demografie ihrer Wählerschaft wider. Besonders bei jungen Männern, die in Kleinstädten und ländlichen Gebieten leben, erfährt die Konfederacja breite Unterstützung. Laut einer im März 2023 durchgeführten Umfrage (von Ipsos für das Portal OKO.press) unterstützen 27% der Unter-40-jährigen die Konfederacja. Unter jungen Männern beträgt dieser Anteil sogar 37%, bei jungen Frauen sind es bis zu 11%. Ganz sicher hat dieser Zuspruch auch mit geschickter Präsenz der Partei in den Sozialen Medien zu tun. Angesichts der zunehmenden Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Medien durch die amtierende Regierungspartei müssen Oppositionsparteien in Polen alternative Wege finden, um ihre Botschaften zu vermitteln. Hierbei ist die Konfederacja erfolgreich und kann durch ihre Kritik am Establishment und kurzen ironischen Videos in Sozialen Netzwerken punkten. Co-Parteivorsitzender Slawomir Mentzen verzeichnet 780.000 Follower auf TikTok, 480.000 auf Facebook sowie jeweils über 330.000 auf Twitter und Instagram. Seine „Bier mit Mentzen“-Kampagne, bei der er durch das Land reist, Bier trinkt und Gespräche führt, hat zusätzlich dazu beigetragen, eine unmittelbare Nähe zu seiner Wählerschaft aufzubauen. Während Wahlveranstaltungen im Jahr 2019 noch präsentierte Mentzen fünf Kernziele der Konfederacja, die er damals als „ein Polen ohne Juden, Homosexuelle, Abtreibungen, Steuern und Europäische Union“ zusammenfasste. In jüngerer Zeit hat er eine Distanzierung von der Radikalität dieser Äußerungen erkennen lassen und meidet vergleichbare Formulierungen in der Öffentlichkeit. Heute scherzt er dagegen in seinen Videos, sein Plan für die Zukunft sei „Bier, Steuern, Sozialabgaben, Inflation und Linke auf Null setzen“. Wirft man einen Blick in das Wahlprogramm der Konfederacja und auf ihre Standpunkte, zeigen sich Parallelen zur AfD. In ihrer außenpolitischen Ausrichtung legt die Konfederacja besonderen Wert darauf, ihre Unabhängigkeit von anderen Ländern und der EU zu bewahren. Diese libertäre Grundhaltung spiegelt sich auch in ihrem Blick auf die Europäische Union (EU) wider. Die Partei unterstützt einen „Polexit“ und betont die Priorität nationaler Interessen gegenüber überstaatlichen Institutionen. Hierbei lehnt sie vor allem die zunehmende Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen in Brüssel ab und setzt sich für mehr Autonomie Polens innerhalb der EU ein. Die Konfederacja äußerte ebenfalls Kritik an der großzügigen Unterstützung, die Polen der ukrainischen Regierung seit Ausbruch des Konflikts gewährt hat. Obwohl sie den Angriffskrieg Russlands grundsätzlich ablehnt, vertritt sie die Ansicht, dass die Interessen Polens nicht zwangsläufig mit jenen der Ukraine in Einklang stehen und dass Polen sich in unangemessener Weise am Kriegsgeschehen beteiligt. Sie protestierte auch gegen umfangreiche Hilfen für die zahlreichen ukrainischen Flüchtlinge, die über die Grenze nach Polen gekommen sind, und sah darin eine Belastung der polnischen Gesellschaft. Allerdings stieß diese Haltung auf wenig Verständnis in der polnischen Öffentlichkeit, die die Flüchtlinge aus der Ukraine überwiegend unterstützt. Damit ist die Konfederacja bisher die einzige größere politische Gruppierung in Polen, die die Unterstützung für die Ukraine in Frage stellt. Mehr zum Thema Polen: Die Konfederacja zeichnet sich weiterhin durch eine ausgeprägt libertäre Ausrichtung in ihren wirtschaftspolitischen Ansichten aus, worin sich teilweise von der AfD unterscheidet. In ihrem Streben nach wirtschaftlicher Freiheit streben die polnischen Rechtspopulisten eine Senkung des Steuersatzes auf 12% für alle an. Darüber hinaus setzen sie sich für die Abschaffung der obligatorischen Renten- und Krankenversicherung ein. Ein weiteres Ziel ist die drastische Reduzierung staatlicher Regulierungen und bürokratischer Hindernisse, um die unternehmerische Freiheit zu stärken und damit verbundene Erleichterungen für Betriebe zu ermöglichen. Weiterhin setzt die Konfederacja sich energisch für die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Vermögenswerte ein, um die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Bewahrung der nationalen Währungssouveränität und betrachtet die mögliche Einführung des Euro in Polen sehr kritisch. Vergleicht man die Positionen der Konfederacja mit denen der deutschen AfD, fallen in vielen Punkten Ähnlichkeiten auf. Die AfD betont die Souveränität Deutschlands und plädiert für eine Stärkung der nationalen Identität und Eigenständigkeit. Einige einflussreiche Mitglieder der AfD sprechen sich zusätzlich für einen möglichen Austritt Deutschlands aus der EU (Dexit) aus, wenngleich diese Position auf dem jüngsten Europaparteitag abgeschwächt wurde. Die Partei steht auch weiteren Schritten zur EU-Integration skeptisch gegenüber und betrachtet die gemeinsame Währung Euro mit Vorsicht. Ähnlich wie die Konfederacja in Polen, äußert sich die AfD kritisch gegenüber der deutschen Unterstützung für die Ukraine und tritt neuerdings vermehrt als „Friedenspartei“ auf. In einem Interview mit der Sendung Kontraste warnt AfD-Chef Chrupalla vor einer Eskalation der Beziehungen zu Russland und äußert Bedenken hinsichtlich einer möglichen Bundeswehrbeteiligung am Konflikt. Ebenso werden kritische Stimmen über die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine laut und es werden historische Parallelen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gezogen. Die AfD vertritt hierbei eine antiwestliche und pro-russische Haltung, die Parallelen zu den Ansichten der Konfederacja aufweist. Unterschiede zwischen der AfD und der Konfederacja finden sich bei wirtschaftspolitischen Positionen, aber insbesondere im Alter ihrer Wählerschaft. Zwar ist auch die Mehrheit der AfD-Wähler, nämlich zwei Drittel, männlich. Am erfolgreichsten ist die AfD jedoch bei Wahlen bei den 35- bis 59-Jährigen, wo sie 2017 auf 15 Prozentpunkte und 2021 auf 13 Prozentpunkte kommt. Weniger erfolgreich ist sie bei den 18- bis 24-Jährigen und den über 70-Jährigen, wo sie bisher nur neun bzw. sechs Prozent erreicht. Derzeit bestreiten sowohl die PiS als auch die Konfederacja, nach den Wahlen im Oktober eine Koalition eingehen zu wollen. Es bleibt jedoch fraglich, ob beide Akteure an dieser Position festhalten, wenn sie eine gemeinsame Mehrheit erreichen. Die Möglichkeit, dass die Konfederacja nach den Wahlen die PiS in der Regierung hält, kann nicht ausgeschlossen werden. Politische Beobachter weisen derzeit vermehrt darauf hin, dass eine Koalitionsbildung beider Kräfte trotz erkennbarer Unterschiede sogar sehr wahrscheinlich ist. Auch die Option einer Minderheitsregierung der PiS mit Tolerierung durch die Konfederacja wäre theoretisch denkbar. Für den Ausgang der Parlamentswahlen in Polen wird es wichtig sein, sich nicht nur auf das Duopol PiS-PO zu fokussieren. Die Parteienlandschaft unseres östlichen Nachbarn ist in Bewegung.
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David Gregosz, Charlotte Hübner
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Die „Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit“ liegt in Umfragen bei 13 Prozent. Nicht unwahrscheinlich, dass sie nach den Wahlen im Oktober Teil einer Regierungskoalition wird. Aber wie viel hat sie wirklich mit der deutschen AfD gemeinsam?
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außenpolitik
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2023-08-29T14:08:39+0200
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2023-08-29T14:08:39+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/wahlkampf-in-polen-rechtspopulisten-konfederacja
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Deutschland wächst - Die Politik sollte besser vorbereitet sein
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1. Bisher schien es unabwendbar, dass die deutsche Bevölkerung in den kommenden Jahren stark schrumpft. Doch jetzt schafft die unerwartet starke Einwanderung eine neue Lage. Trotz niedriger Geburtenzahlen ist Schrumpfung kein unabwendbares Schicksal oder Naturgesetz. 2. Die Bevölkerung ist entgegen den Prognosen in den letzten beiden Jahren wieder gewachsen. Es gibt starke Indizien dafür, dass sich diese hohe Zuwanderung dauerhaft fortsetzen kann und für längere Zeit über den bisher erwarteten Zahlen liegt. Deutschland steht in Europa wirtschaftlich ausgesprochen gut da. Das Land bietet ein im EU-Vergleich sehr gutes Ausbildungs- und Forschungssystem, eine breit aufgestellte, wettbewerbsfähige Wirtschaft und eine insgesamt hohe Lebensqualität. 3. Es sollte auch weiterhin kein explizites staatliches Ziel geben, wie groß die Bevölkerung sein sollte. Aber Politik und Gesellschaft in Deutschland können daran arbeiten, dass die vielbeschworene "Willkommenskultur" Wirklichkeit wird. [[nid:54498]] 4. Es gibt gute Indizien dafür, dass sich weitere demografische Faktoren positiv ändern: Investitionen in Kinderbetreuung, ein neues Rollenverständnis von Vätern sowie ein sich ausbreitender allgemeiner Optimismus machen es möglich, dass in Deutschland wieder mehr Kinder zur Welt kommen als bisher erwartet. Auch Skandinavien und Frankreich erlebten eine Trendwende bei den Kinderzahlen. Gesündere Lebensstile und medizinischer Fortschritt könnten die Lebenserwartung stärker steigen lassen als erwartet. Wenn Deutschland wirtschaftlich stark bleibt, dürfte zudem die Zahl der Auswanderer zurückgehen – und die Anzahl der Rückkehrer steigen. Die Politik sollte auch auf ein Szenario gut vorbereitet sein, bei dem sich bisherige Annahmen als falsch erweisen. 5. Schrumpfungsprognosen dürfen keine eigene, negative Kraft entfalten. Sonst drohen weitere Wohnungsknappheit und Engpässe in der Infrastruktur. Wenn etwa in Sachsen-Anhalt die Wissenschaftsausgaben explizit wegen angeblicher sinkender Bevölkerungszahlen gekürzt werden, obwohl eine traditionsreiche Universitätsstadt wie Halle wächst, ist das bedenklich. 6. Ein mögliches Bevölkerungswachstum ändert nichts an zwei Entwicklungen – die Zahl der alten Menschen in Deutschland wird stark zunehmen und abgelegene Regionen werden sich zugunsten von Ballungsräumen leeren. Das sind und bleiben große Herausforderungen. Aber sie lassen sich leichter bewältigen, wenn die Gesamtgröße der Bevölkerung nicht sinkt.[[nid:54498]] 7. Deutschland hat eine besondere gesamteuropäische Verantwortung. Es braucht Zuwanderung wegen des erwarteten Fachkräftemangels. Und es hat Verantwortung dafür, dass sich auch andere EU-Staaten nach der Krise wieder positiv entwickeln. Dies wird der eigentliche Balanceakt für die deutsche Politik werden. 8. Die Demografie-Debatte sollte wieder lebendiger werden. Statt nur die erwartete generelle Schrumpfung vorzubereiten, sollten auch andere Optionen für die Zukunft debattiert werden. Dass Deutschland zu einem Magneten für junge, talentierte Menschen aus ganz Europa und anderen Weltregionen geworden ist, bietet eine große Chance für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und demografische Zukunft. 9. Das aktuelle Ergebnis des Zensus, dass in Deutschland 2011 – also vor dem Beginn des neuen Zuwanderungsbooms – 1,5 Millionen Menschen weniger lebten als gedacht, ist nicht sonderlich überraschend. Die aktuellen Zahlen zeigen nur noch stärker, wie plausibel es ist, demographisches Wachstumspotential und die aktuelle Dynamik positiv auszunutzen. _________________________________________________ [[{"fid":"53715","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":1025,"width":750,"style":"width: 140px; height: 191px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Den kompletten Beitrag zum Thema finden Sie in der Juni-Ausgabe des Magazins Cicero:Hurra, wir wachsen! Das Demografie-Wunder: Deutschland auf dem Weg zum 100-Millionen-VolkMit einer Titelgeschichte von Andreas Rinke und Christian Schwägerl, einer Fotoreportage über Einwanderer und einem Interview mit CDU-Vize Armin Laschet über den Magnet Deutschland und die Integration von Einwanderern. Die Juni-Ausgabe des Cicero – am Kiosk und im Online-Shop erhältlich. ________________________________________________
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Christian Schwägerl
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Deutschland wird älter, Deutschland schrumpft - überall hört man den pessimistischen Abgesang auf unseren Bevölkerungsstand. Acht Thesen für eine lebendigere Demographie-Debatte
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innenpolitik
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2013-05-30T13:01:45+0200
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2013-05-30T13:01:45+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/deutschland-waechst-die-politik-sollte-besser-vorbereitet-sein/54573
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US-Wahlkampf – Streiten sich zwei, freut sich Virgil Goode
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Es ist durchaus möglich, dass der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf von Virgil Goode entschieden wird. Von wem? Virgil Goode! Den 66-jährigen schlanken, schlagfertigen Mann kennt zwar kaum einer in Amerika – und erst recht nicht außerhalb von Amerika –, doch in jenen Teilen Virginias, wo die Herzen meist konservativ schlagen, ist der eigenwillige Politiker ein Begriff. Denn auch er will Präsident werden. Als Spitzenkandidat der Verfassungspartei steht er in Virginia ebenso wie Barack Obama und Mitt Romney auf dem Wahlzettel. Virginia wiederum ist einer von acht „swing states“. Um die Wähler in diesen Bundesstaaten buhlen Obama und Romney besonders intensiv. Und während Obama in Ohio, Florida und New Hampshire leicht in Führung gegangen ist, liefert er sich in Virginia ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Romney. Für den indes ist klar: Ohne die 13 Wahlmännerstimmen aus Virginia, das traditionell zwar republikanisch wählt, aber vor vier Jahren mehrheitlich demokratisch votierte, hat er kaum eine Chance, Präsident zu werden. Romney braucht Virginia. Hier geht es für ihn um jede einzelne Stimme. Auftritt Virgil Goode: Der Mann kennt Virginia wie seine Westentasche. In Richmond wurde er geboren, 24 Jahre lang saß er im Senat des Bundesstaates, erst für die Demokraten, dann für die Republikaner. Rechts war er eigentlich immer schon. Als Demokrat stritt er für die Tabakindustrie, die Waffenlobby und das Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Bill Clinton. Als Republikaner kam der Kampf gegen illegale Immigranten, die Abtreibung und die hohe Staatsverschuldung hinzu. Goode war für den Afghanistan- und Irakkrieg, für den Patriot Act und gegen die Rettung von General Motors und Chrysler mit Hilfe von Steuergeldern. Vor zwei Jahren trat Goode in die Verfassungspartei ein, im Februar dieses Jahres wurde er zu deren Spitzenkandidat gewählt. Die Verfassungspartei wurde 1991 ursprünglich als Steuerzahlerpartei gegründet, 1999 nannte sie sich um. Sie ist christlich ausgerichtet, gegen Einwanderung, für einen extrem schlanken Staat, strikt gegen Sterbehilfe, Abtreibung, Pornografie und Homo-Ehe. In ihrer Präambel heißt es, man anerkenne „dankbar den Segen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus als Schöpfer, Bewahrer und Herrscher des Universums und der Vereinigten Staaten“. Natürlich kann ein erzreaktionärer Kandidat wie Goode nicht amerikanischer Präsident werden. Aber aus seiner Sicht verhalten sich Obama und Romney wie „Tweedledum and Tweedledee“. Beide seien viel zu lasch in Sachen Staatsverschuldung, Einwanderung und gleichgeschlechtlicher Ehe. Außerdem will Goode die Entwicklungshilfe streichen und die Zusammenarbeit der USA mit allen multinationalen und internationalen Organisationen aufkündigen. Raus aus der Uno, aus Nafta (der nordamerikanischen Freihandelszone), aus Gatt (General Agreement on Tariffs and Trade), aus der Welthandelsorganisation (WTO), aus der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond. Persönlich ist Goode bescheiden. Parteispenden von mehr als 200 Dollar lehnt er ab. Er hat nur vier Mitarbeiter, einen davon in Vollzeitbeschäftigung. Als begnadeter Populist, der seine Zuhörer elektrisieren kann, tingelt er durchs Land. Ende April kam Goode in Virginia in einer Umfrage auf fünf Prozent Zustimmung, Mitte Juli bereits auf neun Prozent. Besonders christliche Rechte und Tea-Party-Anhänger schlagen sich auf seine Seite. Jede Stimme mehr für Goode bedeutet in der Regel eine Stimme weniger für Romney. Deshalb beobachtet dessen Team die Entwicklung in Virginia mit allergrößter Sorge. Sollte ausgerechnet ein Reaktionär den Republikanern am 6. November die Show stehlen und ihrem Kandidaten den Einzug ins Weiße Haus vermasseln? Es wäre zumindest eine Pointe.
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Es gibt jemanden, der Romney den Einzug ins Weiße Haus vermasseln könnte. Nicht Barack Obama, nein: Virgil Goode. Zwar kennt kaum ein Amerikaner den erzreaktionären Kandidanten und auch für die Präsidentschaft reicht es wohl kaum, aber zum Stimmenklau
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außenpolitik
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2012-09-14T15:21:55+0200
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2012-09-14T15:21:55+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/virgile-goode-us-wahlkampf-streiten-sich-zwei-freut-sich-ein-dritter/51838
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Autobahnmaut - Freie Fahrt für Seehofer
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Die Koalitionsverhandlungen laufen noch, aber einer kann sich schon mal freuen: Horst Seehofer. Die Pkw-Maut für Ausländer ist wahrscheinlich wie nie. Denn der EU-Verkehrskommissar Siim Kallas hat erklärt, dass er eine Maut für rechtens hält, die In- und Ausländer entrichten müssen. Kallas sagt auch gleich, wie das geht: Die Inländer sollten zusätzlich eine niedrigere Kfz-Steuer zahlen, da sie ja die Straßen häufiger nutzen. [[{"fid":"59030","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":102,"width":85,"style":"width: 100px; height: 120px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Damit wäre der Weg frei für das Lieblingsprojekt des bayerischen Ministerpräsidenten, das bisher weder Bundeskanzlerin Angela Merkel noch die SPD wollten. Maut für alle und niedrigere Kfz-Steuern für die Deutschen – das widerspreche grundsätzlich nicht dem Verbot in der EU, Bürger wegen ihrer Staatsangehörigkeit zu benachteiligen, heißt es in Kallas’ Antwort auf eine Anfrage des Grünen Europaparlamentariers Michael Cramer. "Je stärker auf die Verhältnismäßigkeit der Mautsysteme geachtet wird, desto eher entsprechen sie dem Nutzerprinzip (‚Nutzer zahlt’) und desto weniger diskriminierend sind sie." Verhältnismäßigkeit der Mautsysteme – das sollte kein Problem sein, in anderen Ländern gibt es längst Vignetten, die nur für kurze Transitfahrten gültig und deshalb günstiger sind. CDU und SPD können nun ihr Argument, eine Maut sei mit EU-Recht unvereinbar, im Grunde vergessen. Merkel wird sich über jenen Satz ärgern, den ihr beim TV-Duell am 1. September Stefan Raab entlockt hat und der für sie untypisch klar war: „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“ Gerade weil dieser Satz sich eingeprägt hat, wäre eine Maut für Seehofer auch eine Machtdemonstration im Verhältnis zur CDU-Vorsitzenden: Kommt die Gebühr, wäre es eine Art Nebenkanzlerkür. Seehofers Prinzip, dem Volk aufs Maul zu schauen, hätte sich ausgezahlt. Denn eine Maut ist gerade im Freistaat sehr beliebt. Die Bayern fahren häufig nach Österreich, Slowenien und Italien und regen sich auf, wenn sie dort Gebühren zahlen müssen. Kein Wunder, dass die Forderung nach einer Maut im bayerischen Wahlkampf ein Schlager war. Auch Seehofers Prinzip, ungestüme Risikosätze auszustoßen, würde sich auszahlen. „Ich unterschreibe als CSU-Vorsitzender nach der Bundestagswahl keinen Koalitionsvertrag, in dem die Einführung der Pkw-Maut für ausländische Autofahrer nicht drin steht“, hatte er am 11. August in der „Bild am Sonntag“ verkündet. [[{"fid":"59027","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":878,"width":639,"style":"width: 140px; height: 192px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]„Ein Bayer regiert Deutschland“ – diese Prognose auf dem aktuellen Cicero-Titel bestätigt sich. Wie es Seehofer geschafft hat, zum Mann neben Merkel aufzusteigen, erzählt die aktuelle Titelgeschichte des Magazins.
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Georg Löwisch
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Er wollte sie unbedingt, sie wollte sie auf keinen Fall: Die Autobahnmaut für Pkw war ein Armdrücken von Merkel und Seehofer. Jetzt hilft dem Bayern die EU
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innenpolitik
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2013-10-31T11:33:10+0100
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2013-10-31T11:33:10+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/autobahnmaut-freie-fahrt-fuer-seehofer/56269
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Paleo-Diät - Steinzeiternährung im 21. Jahrhundert
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[[{"fid":"59492","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":130,"width":196,"style":"margin: 5px 10px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]An erdig verputzten Wänden hängen Tierfelle und Geweihe, auf den Tischen stehen Tongefäße mit Zweigen und getrockneten Blüten, Kerzen sorgen für eine schummrige Atmosphäre, in der Luft hängt ein intensiver, würziger Duft. Keine Frage: Im Berliner Restaurant 'Sauvage' geht es recht archaisch zu. Dennoch hat es sich zum angesagten Szene-Treffpunkt entwickelt, oder treffender: Genau deswegen. Denn das Sauvage ist kein gewöhnliches Restaurant, sondern das erste 'Paleo-Restaurant' der Welt. 'Paleo' ist eine Ernährungsform, die sich an den Produkten der Altsteinzeit orientiert. Das bedeutet: Hier kommt nur auf den Tisch, was bereits unseren prähistorischen Vorfahren gut geschmeckt hat. Also vor allem viel Fleisch und Fisch, Gemüse, Nüsse und Beeren. Getreide, Milchprodukte oder auch Zucker sucht man hingegen vergeblich. Darben muss man deswegen trotzdem nicht. Die Karte liest sich abwechslungsreich und vor allem erstaunlich modern. Als Vorspeise werden beispielsweise Cracker gereicht, die nicht aus Mehl, sondern aus Nüssen und Samen bestehen und mit einer Oliven-Paste serviert werden. Der Kräuterkäse für den Rote-Bete-Salat mit Balsamico-Dressing wird eigens aus Kokosmilch hergestellt. Darauf folgt ein Wildschweingulasch mit Beerenchutney, zum Dessert lockt gar ein Zwetschgenkuchen, selbstverständlich ohne Mehl oder Backpulver. Aber Moment einmal: Oliven-Paste? Balsamico-Dressing? Schwer vorstellbar, dass die Steinzeitmenschen in ihren Höhlen bereits über solche kulinarischen Raffinessen verfügten, zumal sie Lebensmittel wie Oliven noch gar nicht kannten. Und auch bei der Zubereitung möchte man im Sauvage nicht ganz auf die Errungenschaften der Moderne verzichten. Anstatt über loderndem Feuer wird auf einem handelsüblichen Elektroherd gekocht. Der Besitzer des Restaurants, der 30-jährige Belgier Boris Leite-Poço erklärt: „Wir wollen nicht die Steinzeit nachahmen.“ Schließlich habe es die meisten Früchte und Gemüsesorten, die wir heute kennen, in der Steinzeit noch nicht gegeben. Ziel sei es vielmehr, Gerichte zu erschaffen, die den modernen Gast ansprechen und gleichzeitig den steinzeitlichen Bedürfnissen des Körpers entsprechen. Denn dass die Steinzeit-Kost die optimale Ernährungsform darstellt, davon ist Leite-Poço überzeugt. Er selbst hält sich seit vier Jahren streng an diese Diät. In seiner Kindheit litt er unter starkem Asthma und Hautaussschlägen. „Seitdem ich Paleo esse, ist das weg“ sagt er. Aber auch das allgemeine Wohlbefinden werde spürbar verbessert. Mehr Energie, ein stärkeres Immunsystem und eine gesteigerte Libido werden auf der Website des 'Sauvage' versprochen. Außerdem sei die Küche ein wahres Schönheitselixier: Reinere Haut, glänzendes Haar, sogar die Figur soll sie trimmen. Die Theorie dahinter ist nicht ganz neu: Bereits in den 1970er Jahren kursierten entsprechende Konzepte. Seitdem hat die Paleo-Bewegung viele Anhänger gefunden, darunter auch prominente Beispiele wie der britische Sänger Tom Jones. Die 'Steinis' glauben, dass sich das menschliche Erbgut seit der Steinzeit nicht verändert habe. Folglich sei die steinzeitliche Ernährung die einzig „artgerechte Ernährung“ des Menschen, an die sich der menschliche Organismus im Laufe von Millionen Jahren perfekt angepasst habe. Spätere Erzeugnisse wie Brot und Milch könnten die Menschen deswegen nur schlecht verarbeiten. Die Folge: Wir werden dick und krank. Ein Argument, was wissenschaftlich jedoch so nicht haltbar ist. „Das ist Quatsch“, meint Prof. Dr. Andreas Pfeiffer, Direktor der Abteilung Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin an der Berliner Charité: „Es gibt kein genetisches Programm, das uns eine bestimmte Ernährungsform vorgibt.“ Ist die Paleo-Diät als Ernährungskonzept deswegen durchgefallen? Keineswegs. Zwar warnt der Experte vor übertriebenen Heilsversprechen, persönliche Erfolgsgeschichten wie bei Leite-Poço hält er aber dennoch für möglich: „Der Placebo-Effekt ist hier nicht zu unterschätzen, gerade Atemwegserkrankungen und Hautprobleme haben oft eine psychische Komponente.“ Solange man also persönlich gute Erfahrungen mit dieser Ernährung mache, müsse man auch nichts ändern, so Pfeiffer. Einzig der hohe Anteil an tierischen Fetten macht ihm Sorgen. Ansonsten habe die Steinzeit-Kost durchaus gesundheitliche Vorzüge. Einer davon ist der Verzicht auf industriell verarbeitete Lebensmittel. „Ein Vitaminmangel ist somit trotz der eingeschränkten Lebensmittel nicht zu erwarten,“ meint der Experte. Auch eine Gewichtsreduktion hält er für plausibel, vor allem durch das Weglassen von Getreideprodukten: „Wann immer man Kohlenhydrate reduziert, nimmt man ab.“ Ob man dieses Prinzip jedoch langfristig tatsächlich durchhält, das ist eine ganz andere Frage. Damit hat man auch noch im 'Sauvage' so seine Probleme. Nicht alle im Team sind so konsequent wie ihr Chef. Restaurant-Managerin Anne Christin Rommel schafft es jedenfalls noch nicht, voll auf Paleo umzusteigen. „Ab und an ein Teller Pasta oder ein Snickers, ganz ohne schaffe ich es noch nicht.“ Wenn sie 'sündigt', dann aber lieber mittags, als abends. „Mit Paleo am Abend schläft es sich einfach besser.“ Wie dem auch sei, ob Vollblut-Paleo oder nur ab und zu, das Berliner Restaurant kann sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen. Gerade erst hat Leite-Poço ein zweites Lokal im angesagten Bezirk Prenzlauer Berg eröffnet. Hier sind die Produkte noch ungewöhnlicher, die Zubereitung noch aufwendiger. Das hat seinen Preis. Trotzdem sind die Gäste, eine bunte Schar von jungen Touristen, Szenegängern und ernährungsbewussten Berlinern meistens sehr angetan. „Eine eigenwillige, aber sehr gute Küche“ lobte jüngst auch ein angesehener Restaurantkritiker. Was also von der Paleo-Theorie zu halten ist, bleibt letztlich jedem selbst überlassen. Feststeht aber: Die Logik unserer modernen Nahrungsmittelindustrie zu hinterfragen, ist nicht das Verkehrteste. Auch Ötzi, der Mann aus der Frühsteinzeit hat das wilde Essen nicht mehr kennen gelernt. Über ein „Sauvage“ in der Nähe wäre er aber sicherlich sehr dankbar gewesen. Wie sich herausgestellt hat, litt er nämlich an Laktoseunverträglichkeit.
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Katharina Dippold
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In einem Restaurant in Berlin wird nach dem Speiseplan der Höhlenmenschen gekocht. Die Steinzeit-Diät hat weltweit Anhänger gefunden
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außenpolitik
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2013-11-18T15:16:24+0100
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2013-11-18T15:16:24+0100
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https://www.cicero.de//stil/moderne-ernaehrung-steinzeit-diaet-unvertraeglichkeiten/56430
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Fußballbrüder – Guter Boateng, böser Boateng
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Ob Kain gegen Abel, Romulus gegen Remus oder Eteokles gegen
Polyneikes: Der Bruderkampf gehört zu den thrilling moments der
abendländischen Mythologie. Doch auch in seiner profanen Version garantiert er eine
Extraportion Dramatik. So zumindest am 23. Juni 2010 im
südafrikanischen Johannesburg, als sich die Sportpresse überschlug,
weil erstmals bei einer Fußball-WM zwei Brüder gegeneinander
antraten: Jérôme Boateng auf deutscher, Kevin-Prince Boateng auf
ghanaischer Seite. Der ungewöhnlichen Familiengeschichte hinter
diesem Duell, die von Berlin-Wedding bis auf die Weltbühne des
Fußballs führt, ist Michael Horeni, Sportredakteur der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“, nun in einem Buch nachgegangen. Es geht ihm jedoch nicht bloß um die beiden prominenten
Nationalspieler, sondern zunächst um George, den älteren Bruder.
Auch er, hoch talentiert, auch er, einer der Besten in der
Jugendabteilung von Hertha BSC. Jede freie Minute kicken er und
Kevin in einem kargen Fußballkäfig am Panke-Kanal im rauen Wedding.
Später darf dann der Halbbruder Jérôme mitkommen. Buchstäblich
spielerisch wachsen die drei auf dem Fußballplatz zusammen. „Die Panke“, dieser graue, von Gitterstäben umzäunte Flecken
Asphalt, der einem jedoch mehr Technik, Härte und Ausdauer
abfordert als jede Grünfläche, wird den Boatengs zum Fundament
ihrer Dribbelkünste und zum gemeinsamen Zuhause. Denn nach Abpfiff
trennen sich ihre Wege. Während George und Kevin um die Ecke
wohnen, fährt Jérôme zurück ins gutbürgerliche Wilmersdorf. Ein
ghanaischer Vater und zwei deutsche Mütter: zwei grundverschiedene
Welten. Milieus, die die jeweiligen Karrieren der drei prägen
werden. George, der heute Kampfhunde züchtet und noch im Amateurbereich
spielt, verbringt seine Zeit bald immer weniger auf dem Bolzplatz
und dafür immer öfter mit den falschen Leuten. Bevor die
Profikarriere beginnen kann, ist sie in der JVA Moabit auch schon
zu Ende. Zurück aus dem Gefängnis, versucht er seine Brüder vor Ähnlichem
zu bewahren. Jérôme, der als besonnener Kopf porträtiert wird,
fällt das nicht schwer. Zwar muss er den Traum vom Profifußball
gegen die bildungsbeflissene Mutter oder den alltäglichen Rassismus
auf deutschen Fußballplätzen verteidigen. Doch spielt er sich mit
Ehrgeiz und Disziplin in die Abwehr des FC Bayern München und der
Nationalmannschaft, er wird zum Musterprofi, von Fans und
Funktionären geschätzt. Jérôme, das ist der nice guy. Ganz anders Kevin, der bad guy. Obwohl er, kräftig und technisch
versiert, als eine der größten Hoffnungen des deutschen Fußballs
galt, blieb er doch stets das „Ghetto-Kid“ aus dem Wedding. Prince,
wie er sich jetzt nannte, galt schon bald als unberechenbarer
Treter. Vom Boulevard bereits zum „RAMBOateng“ abgestempelt, flog
er wegen Disziplinlosigkeit aus der deutschen
U21-Nationalmannschaft und entschied sich, künftig für Ghana zu
spielen. Und dann das Foul: Ein Tritt gegen Michael Ballacks
Knöchel, der im Jahr 2010 die WM-Träume des DFB-Kapitäns
schlagartig platzen ließ.Kevin war nun der„Staatsfeind Nr.1“. Horeni zeigt aber auch, dass dass viele ihn genauso sehen
wollten: als den „hässlichen Deutschen aus der Unterschicht“.
Blickt man aber hinter das Bild vom unsozialisierbaren Halbstarken,
findet man einen Jungen, der von ehemaligen Lehrern und Trainern
als klug, höflich und etwas schüchtern beschrieben wird und sich
nach unzähligen Karriererückschlägen vor allem danach sehnt,
endlich aus dem Schatten der Panke zu treten. Mit seinem Wechsel
zum AC Mailand, wo er jüngst eine überragende Saison spielte,
scheint ihm dies nun gelungen zu sein. Sehr einfühlsam dokumentiert Michael Horeni in diesem Buch drei
ungleiche Schicksale im Bann des Profifußballs und wirft einen
differenzierten Blick auf das Integrationsversprechen des
Leistungssports. Denn einerseits verkörpert Jérôme jenen Traum vom rasanten
gesellschaftlichen Aufstieg, den so viele junge Migranten träumen:
Eine Karriere wie aus einem Werbefilmchen des DFB. Andererseits
erweist sich die alte meritokratische Vision des Fußballs („Was
zählt, is’ auf’m Platz“) in Kevins Fall als brüchig. Jedes Foul, jede Geste galt bei ihm als Beweis des Vorurteils.
Heute, wo bruchlose Bilderbuchkarrieren in den Komfort-Zonen
ultramoderner Vereinsinternate geplant werden, steckt auch der
Profisport in einem konformistischen Korsett, das Andersartigkeit
unter Verdacht stellt. Özil, Khedira und Co. sollten die Hymne
deshalb immer doppelt laut singen. Denn offenbar beruht gerade die vielbeschworene
Integrationskraft des Fußballs auf der Macht des Ressentiments.
Kurz gesagt: Der gute Boateng ist nur um den Preis des schlechten
zu haben.
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In „Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren“ dokumentiert Michael Horeni, Sportredakteur der FAZ, sehr einfühlsam die ungleichen Schicksale dreier Profifussballer und wirft dabei einen differenzierten Blick auf das Integrationsversprechen des Leistungssports
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kultur
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2012-06-09T10:57:04+0200
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2012-06-09T10:57:04+0200
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https://www.cicero.de//kultur/guter-boateng-boeser-boateng/49627
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Auslandseinsätze der Bundeswehr - „Ein Versagen deutscher Außenpolitik“
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Erich Vad war General der Bundeswehr, langjähriger militärpolitischer Berater der Bundeskanzlerin und ist jetzt Unternehmensberater und Dozent an mehreren Universitäten im In- und Ausland. Herr Vad, warum wurde die deutsche Bundesregierung dermaßen überrascht vom Vormarsch der Taliban? Ich kritisiere die Informationspolitik des Auswärtigen Amts. Die Lageberichte der Botschaft in Kabul, die die Lage realistisch schilderten, wurden in Berlin nicht hinreichend ausgewertet. Deshalb sind sie auch nicht eingeflossen in Regierungshandeln. Und insbesondere im Hinblick auf die Evakuierung hat das die dramatischen Folgen, die wir nun beobachten können. Aber auch aus den Geheimdiensten kamen ja offenbar keine Warnungen. Das ist richtig. Auch der Bundesnachrichtendienst hat im Sommer ein geschöntes Bild von der Kampfkraft der afghanischen Streitkräfte gezeichnet – da stand etwa, dass diese bis 2023 durchhalten könnten. Das hat sich als völlig unrealistisch herausgestellt. Es ist deshalb etwas misslich, die Regierungschefin zu kritisieren, wenn Angela Merkel derartige Lagebilder bekommt. Das Auswärtige Amt ist federführend für die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Warum hat Heiko Maas nicht ernst genommen, was sein Botschafter geschrieben hat? Dann hätte man die Evakuierung schon viel früher einleiten können. Das ist ein Versagen deutscher Außenpolitik. Warum zeichnet der BND geschönte Bilder? Auch die amerikanischen Dienste sind ja offenbar nicht davon ausgegangen, dass die Taliban das Land so schnell zurückerobern würden? Generell laufen Geheimdienste immer Gefahr, Wunschdenken zu betreiben: Sie kommen zu oft zu Ergebnissen, die die Regierungspolitik unterstützen. Ganz krass hat man das im Vorfeld des Irak-Kriegs gesehen: Die CIA hat damals Beweise für Massenvernichtungswaffen geliefert, um einen Kriegsgrund gegen Saddam Hussein zu haben. Damals war der BND zurückhaltender. Was bedeutet das im Fall von Afghanistan? Hier haben sich die Dienste offenbar mit Lagebildern zurückgehalten, die konträr zu den politischen Absichten standen. Die Amerikaner haben politisch entschieden: Wir verlassen Afghanistan. Wenn nun die Dienste gemeldet hätten, dass dann alles zusammenbricht, wäre das auf den ersten Blick politisch kontraproduktiv gewesen. Aber was wir nun sehen, bestätigt mich in meiner Überzeugung: Die Dienste sollen berichten, was ist, und nicht, was sein soll. Das ist wichtig für richtiges Regierungshandeln. Es ist die Lehre aus diesem Fiasko. Schauen wir auf andere Auslandseinsätze der Bundeswehr. Seit 2013 sind wir mit zwei Missionen und über tausend Soldaten in Mali aktiv. In Mali sollen staatliche Strukturen gestützt, soll die Armee kampffähig gemacht werden. Inwiefern ist das, was dort geschieht, vergleichbar mit Afghanistan? Da gibt es gewisse Parallelen. Ähnlich wie in Afghanistan sind wir dort in einer Trainings- und Ausbildungsmission – Kampfeinsätze machen die Franzosen. Ganz allgemein sollte die nächste Bundesregierung bei unseren Auslandseinsätzen realpolitisch einschätzen: Sind unsere Ziele realisierbar? Wann und unter welchen Bedingungen gehen wir da wieder raus? Sind unsere Interessen gewahrt? Mali läuft Gefahr, eine unendliche Geschichte zu werden. Allein in diesem Jahr gab es dort zwei Putsche. Der deutsche Mali-Einsatz wurde in diesem Frühjahr noch einmal bis 2022 verlängert. Gibt es denn im Fall von Mali klar definierte Ziele? Die gibt es, und die gab es auch in Afghanistan, aber sie werden im Laufe des Einsatzes immer wieder verändert: Zuerst ging es darum, gegen Terroristen zu kämpfen und ihnen die Rückzugsräume zu nehmen. Dann ging es um Demokratieaufbau, Menschenrechte, Frauenrechte. Die Aufträge werden immer mehr erweitert. Innenpolitisch lassen die sich immer gut verkaufen: Wer hat schon was gegen Demokratisierung und Frauenrechte? Aber in Afghanistan war das am Ende eine Überforderung für uns. Und in Mali? In der Sahelzone haben wir ein Interesse, Teil der Mission zu sein, weil es darum geht, Flüchtlingsströme zu stoppen und als Partner von Frankreich Flagge zu zeigen. Aber man muss die Frage stellen: Ist das realistisch? Hängt das ab von den paar hundert Mann, die dort Ausbildung betreiben? Ich will nicht sagen, dass man möglichst schnell nach Hause soll. Aber man darf nicht Gefahr laufen, in ein ähnliches Fiasko zu geraten wie in Afghanistan. Gleichzeitig ist es seit etwa zwei Jahrzehnten in weiten Teilen der Politik verbreitet, davon zu sprechen, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht werden muss. Und nicht nur, wie in den ersten 50 Jahren der Existenz der Bundesrepublik, Geld zu zahlen und die anderen die Drecksarbeit machen zu lassen. Diese Rhetorik hört man ja seit Jahren. Es ist richtig, dass wir uns von der Scheckbuchdiplomatie fortbewegt haben hin zu Truppenstellern, die Soldaten entsendet haben. Aber in der Normalität sind wir nicht angekommen: Von echten Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Ausland wollen wir nichts wissen. Da muss man sich die Frage stellen: Wozu entsenden wir dann überhaupt Streitkräfte ins Ausland? In Afghanistan sind wir auch erst sehr spät in echte Kampfeinsätze hineingeschlittert, aber ohne dass wir das wollten. So kam es, dass in Kundus deutsche Fallschirmjäger kämpften und starben, und man gleichzeitig in Deutschland diskutierte, ob das nun ein Krieg ist oder nicht. Aber ist die deutsche Öffentlichkeit denn zu mehr bereit? Selbst diese Kampfeinsätze, die nicht so genannt werden sollten, haben ja schon für große Diskussionen gesorgt. Nein, sie ist nicht bereit dazu. Deshalb sollten wir das auch nicht machen. Dann sollte man überlegen, ob man nicht lieber das Technische Hilfswerk schickt und Brunnen bohrt. Daran schließt sich die Überlegung an: Wozu brauchen wir überhaupt die Bundeswehr, wenn wir eigentlich nicht bereit sind, sie als Streitkraft in Kampfeinsätze zu schicken? Dann kann man die 46 Milliarden pro Jahr auch woanders hinstecken. Was passiert denn in Mali, wenn sich die Situation dort verschlechtert und die Bundeswehr wider Willen in Gefechte gerät? Wenn es zu Kämpfen in Mali käme und zu toten Soldaten, dann würden die Deutschen aus Mali abziehen, das steht außer Zweifel. Ganz allgemein ist es ein Problem westlicher Streitkräfte, dass wir mit solchen Einsätzen nicht mehr unsere politischen Ziele erreichen können. In Afghanistan sind wir von einer Bauernarmee, von Moped-Guerillas mit Kalaschnikows und Turnschuhen aus dem Land getrieben worden. Vielleicht auch, weil die wussten, wofür sie kämpfen, und wir nicht? Richtig. Peter Struck hat ja mal gesagt, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt. Aber so richtig überzeugend war das nicht. Und mit jedem Jahr wurde es weniger überzeugend. Das Gespräch führte Moritz Gathmann.
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Moritz Gathmann
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Wer ist verantwortlich für das Fiasko in Afghanistan – und warum haben die Geheimdienste versagt? Der ehemalige General und Berater von Kanzlerin Angela Merkel spricht im Interview über die Lehren, die unsere nächste Bundesregierung für Mali und andere Auslandseinsätze ziehen sollte.
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"Afghanistan",
"Taliban",
"Mali",
"Bundeswehr"
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außenpolitik
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2021-08-17T16:43:35+0200
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2021-08-17T16:43:35+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/auslandseinsatze-der-bundeswehr-die-dienste-sollen-berichten-was-ist-erich-vad
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Haushaltsstreit in der Großen Koalition - Die Profilierungsschlacht
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Die Null ist in Berlin derzeit in aller Munde. Die schwarze Null sei „keine sozialdemokratische Null“, sagt SPD-Vize Ralf Stegner. Die Neuverschuldungsnull habe „keine Farbe“, entgegnet CDU-Generalsekretär Peter Tauber und nennt Stegner zugleich eine „rote Null“. Von einer schwarz-roten Null spricht die Arbeitsgruppe Haushalt der Unionsabgeordneten. Schließlich habe die Union den ausgeglichenen Haushalt gemeinsam mit der SPD-Fraktion auf den Weg gebracht. In der Union ist man genervt bis sauer. Ein Haushalt ohne neue Schulden ist ihr wichtigstes, ja das einzige Prestigeprojekt in der großen Koalition. Das will sie sich nicht zerreden lassen. Zumal CDU und CSU artig die SPD-Prestigeprojekte Mindestlohn und die Rente mit 63 mitgetragen haben. Doch kaum hat der Finanzminister feierlich verkündet, dass Deutschland ab 2015 keine neuen Schulden mehr machen werde, mäkeln die ersten Ökonomen und Unternehmer daran herum – und eben auch viele Sozialdemokraten. Die wollen lieber investieren und notfalls dafür neue Kredite aufnehmen. Bisher sind es zwar nur SPD-Linke, die eine „schwarze Null als Selbstzweck“ ablehnen, und damit angesichts schlechter Konjunkturaussichten und schlechter Umfragewerte die Gelegenheit nutzen wollen, um sich von der Union abzugrenzen. Nun schlägt die Union zurück und verweist ebenfalls auf die drohende Wirtschaftsflaute. Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer sagte, es dürfe nun keine „weitere Belastung der Wirtschaft durch die Frauenquote“ geben. Der CSU-Politiker Peter Ramsauer forderte gar, den Mindestlohn oder die Rente mit 63 auszusetzen. Genau das haben die SPD-Oberen befürchtet. Sie wissen, dass ihre Partei bei der Union in der Kreide steht. Um wieder aus der innerkoalitionären Schuld herauszukommen, muss der ausgeglichene Haushalt im November im Bundestag verabschiedet werden. Deshalb wurden die SPD-Linken auch sogleich zurückgepfiffen. Zum jetzigen Zeitpunkt gebe es keinerlei Grund, vom Ziel einer Haushaltskonsolidierung abzuweichen, erklärte Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Ein Haushalt ohne Neuverschuldung lasse sich trotz der schwächeren Wachstumsprognosen erreichen, betonte der Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und warnte seine Partei vor „ideologiegeschwängerten Debatten“. Doch Gabriel wird es kaum gelingen, seine diskutierfreudigen Genossen auf die Linie der Parteiführung einzuschwören. Zumal der Koalitionsvertrag durchaus Raum für Diskussionen lässt. Nur vorsichtig wird darin formuliert, „wir wollen nachhaltig ausgeglichene Haushalte“. Gleichzeitig wird von einer „stabilitäts- und wachstumsorientierten Haushalts- und Finanzpolitik“ gesprochen. Nur an einer Stelle ist im Koalitionsvertrag davon die Rede, man wolle die Einnahmen und Ausgaben des Bundes so gestalten, dass der Bund „beginnend mit dem Jahr 2015 einen Haushalt ohne Nettoneuverschuldung“ aufstellt. Dumm nur, wenn es aufgrund ausbleibender Steuereinnahmen wenig zu gestalten gibt. Der SPD- Haushaltsexperte Carsten Schneider erklärte schon einmal vorsorglich, er sei bereit, „einen Nachtragsetat zu schnüren“, sollte Deutschland 2015 in die Rezession rutschen. Die Befürworter zusätzlicher Investitionen können sich zudem auf einen weiteren Punkt im Koalitionsvertrag stützen. Der ausgeglichene Haushalt für 2015 gehört nicht zu den sogenannten „prioritären Maßnahmen“ im Koalitionsvertrag. Das sind solche Maßnahmen, „die nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen“. Sollten sich also die Aussichten für die deutsche Wirtschaft verdüstern und damit Steuereinnahmen zurückgehen, könnte der ausgeglichene Haushalt womöglich gekippt werden. Taktikfuchs Sigmar Gabriel will genau dies der Union überlassen, um dieser keinen Vorwand zu bieten, die sozialdemokratischen Projekte der Großen Koalition zu torpedieren. Laut „Süddeutscher Zeitung“ sagte er in der Fraktionssitzung, der Koalitionspartner solle selbst das eigene Prestigeobjekt drangeben müssen. Und eben nicht die SPD.
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Vinzenz Greiner
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Die ersten SPD-Politiker wollen nun doch, wenn nötig, künftige Investionen über Schulden finanzieren. Ein Angriff auf den ausgeglichenen Haushalt 2015 – das zentrale Wahlversprechen der Union, die sofort empört zurückschlägt. Doch die Debatte zeigt vor allem, wie sich die Koalitionspartner gegenseitig belauern
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innenpolitik
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2014-10-15T16:37:44+0200
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2014-10-15T16:37:44+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/haushaltsstreit-der-grossen-koalition-die-profilierungsschlacht/58354
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Europaparlament - Konterrevolution in der EU
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Vor fünf Jahren war die Welt zwar nicht in Ordnung, aber wenigstens in der EU die Machtfrage geklärt. Die deutsche Kanzlerin galt als die ungekrönte Königin der europäischen Politik. Die Bundestagswahl hatte Angela Merkel phänomenal gewonnen. Die Eurokrise schien eingedämmt, nicht zuletzt wegen der faktischen Entmachtung der Bundesbank. Die Europäische Zentralbank unter ihrem Präsidenten Mario Draghi machte das Gegenteil von dem, was deutsche Ökonomen in ihrer überwältigenden Mehrheit für richtig hielten. Griechenland und andere Krisenstaaten wurden zwar mit einer rigiden Austeritätspolitik überzogen, aber dafür interessierte sich kaum ein Wähler im prosperienden Deutschland. Trotzdem hatte es die AfD als Vereinigung orthodoxer Ökonomen nicht in den Bundestag geschafft. Die FDP erlitt das gleiche Schicksal, wenn auch aus anderen Gründen. Außerdem war Frankreich unter seinem Staatspräsidenten François Hollande wieder in den alten Krisenmodus zurückgefallen, was seine europapolitische Position empfindlich schwächte. Die Welt war zwar nicht in Ordnung, aber aus der Perspektive der Bundeskanzlerin bemerkenswert gut sortiert. Vor diesem Hintergrund fanden 2014 die Europawahlen statt. Mit José Manuel Barroso gab es seit zehn Jahren einen schwachen EU-Kommissionspräsidenten, der kaum mehr war als der Erfüllungsgehilfe der Bundeskanzlerin. Einen ähnlich farblosen Nachfolger zu finden, lag in ihrem machtpolitischen Interesse. Im europäischen Rat als Organ der Mitgliedsstaaten hätte sie niemand daran hindern können. Nun ist die europäische Politik mit ihrem institutionellen Aufbau für Außenstehende weitgehend unverständlich. Die EU-Kommission ist als Hüterin der europäischen Verträge keine Regierung und damit nicht dem Parlament verantwortlich. Letzteres kann lediglich die Kommission auf Vorschlag des Rates bestätigen oder ablehnen. So fragten sich findige Menschen in den Hinterzimmern des Parlaments, wie man seine Rolle machtpolitisch aufwerten kann. Es entstand die Idee des Spitzenkandidaten für den Kommissionspräsidenten. Martin Schulz (Sozialdemokraten) und Jean-Claude Juncker (EVP) brachten in dieser Rolle zwei machtpolitische Voraussetzungen mit: Ihre Fraktionen hatten im Parlament eine solide Mehrheit – und beide standen nicht in Verdacht, Erfüllungsgehilfen der Bundeskanzlerin zu sein. Die EVP wurde trotz Stimmenverluste zur stärksten Fraktion. Damit galt Juncker als designierter Kommissionspräsident. Es fehlte lediglich noch die formelle Nominierung durch den Rat. Dort versuchten es die Regierungen mit der bewährten Obstruktionspolitik. Der Philosoph Jürgen Habermas bewertete in einem FAZ-Interview den Widerstand gegen Juncker als „Symptom der Verunsicherung.“ Die Bundeskanzlerin wolle zudem „das Fenster, das sich mit der frischen Luft der Europawahl für einen solchen Politikwechsel geöffnet hat, möglichst schnell wieder schließen.“ Schließlich sprach sich noch Matthias Döpfner in der Bild-Zeitung unmissverständlich für Juncker als Kommissionspräsidenten aus. Mit dieser Intervention des einflussreichsten deutschen Medienmanagers war dieser Streit im fernen Brüssel endgültig in der deutschen Innenpolitik angekommen. Angela Merkel musste den Aufstand im Europäischen Parlament fürchten. Schließlich hatten EVP und Sozialdemokraten selbst ohne die deutschen EVP-Abgeordneten eine Mehrheit. So akzeptierte Merkel angesichts einer drohenden Niederlage notgedrungen den früheren Luxemburger Premierminister. Im Machtkampf zwischen Parlament und Rat schien eine Zeitenwende angebrochen zu sein. Die ging schneller vorbei als gedacht. Fünf Jahre später gab es wieder Wahlen mit den Spitzenkandidaten der großen europäischen Parteienfamilien. Die kannte zwar kaum ein Wähler, was aber schon im Jahr 2014 niemanden stören musste. Sozial- und Christdemokraten sind heute nach dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit im Parlament die großen Wahlverlierer. Während deren Abgeordneten noch ihre Wunden leckten, schritten die Regierungen zur Konterrevolution. An die Spitze der Bewegung setzte sich Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Er gilt zwar in Deutschland wegen einiger pathetischer Reden als Mustereuropäer, bewegt sich aber realpolitisch offenbar in der Tradition eines Charles de Gaulles. So kaperte er zuerst mit seiner Macron-Partei das liberale Parteienbündnis Alde. Anschließend machte er sich an das Werk, die Königin zu entmachten. Da störte das Beharren auf einen Spitzenkandidaten als zukünftigen Kommissionspräsidenten. Für einen Macron sind Parteien und Parlamente nur Erfüllungsgehilfen. Das sieht er nicht anders als die alt gewordene Monarchin. So drohte er sogar, einen Hardliner aus den Brexit-Verhandlungen als Kommissionspräsidenten zu nominieren. Ob Macron mit einem Michel Barnier glücklich geworden wäre, ist zwar zu bezweifeln. Aber dessen Inthronisierung war auch nicht das Ziel, sondern einen Kommissionspräsidenten mit eigener Machtbasis zu verhindern. Das konnten lediglich die beiden Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) und der Niederländer Frans Timmermans (PvdA) sein. Macron fand günstige Rahmenbedingungen vor. Die Amtszeit der Bundeskanzlerin geht unwiderruflich zu Ende und die Selbstentmachtung der SPD ist unübersehbar. Einen deutschen Juso-Vorsitzenden verspeist ein französischer Staatspräsident machtpolitisch zum Frühstück. Zudem ist für die Salvinis und Orbans im Rat ein schwaches Parlament mit einer schwachen Kommission ein gefundenes Fressen. So kam es, wie es kommen musste. Die Regierungen einigten sich auf das Personalmenü mit Ursula von der Leyen als Hauptgang. Sie erfüllt alle machtpolitischen Voraussetzungen: Ohne Machtbasis in Brüssel oder Berlin gilt sie als das Geschöpf der Bundeskanzlerin. Nach deren Abgang ist von von der Leyen wenig zu erwarten. Timmermans und die aus Dänemark stammende Alde-Spitzenkandidatin Margrethe Vestager werden mit einem Vizepräsidentenposten vertröstet. Und Weber könnte notfalls EU-Gesandter in Bayern werden, falls er zur Mitte der Legislaturperiode noch nicht einmal Parlamentspräsident werden sollte. So ist das Fenster wieder geschlossen, das Habermas vor fünf Jahren diagnostizierte. Nicht für eine andere Politik, sondern für eine Machtverschiebung im Institutionengefüge der EU zugunsten des Parlaments. Es gab die Chance, das Vorschlagsrecht des Rates zur europarechtlichen Fassade werden zu lassen. Vergleichbar mit den Wahlmännern in den Vereinigten Staaten, die bis heute formal den amerikanischen Präsidenten wählen. Es aber nie wagen, das Wählervotum zu missachten: Noch nicht einmal bei einem Donald Trump. Dafür hätte man im Parlament die machtpolitische Kaltschnäuzigkeit eines Macron oder der früheren Merkel haben müssen. Deren Lust am Hinterzimmergeklüngel und die Bereitschaft, notfalls wie Macron mit Populisten zu dinieren. Stattdessen diskutieren wir über die angeblich fehlende Qualifikation der bisherigen Verteidigungsministerin. Andere fragen sich ernsthaft, ob das Ergebnis ein letzter Triumph der Kanzlerin sei. Außerdem ist die SPD beleidigt, weil sich niemand mehr für sie nach der Proklamierung eigener Irrelevanz interessiert. Dafür bedauern immerhin Leitartikler mit europapolitischen Pathos den vermeintlich gebrochenen Wählerwillen. Als wenn es sich bei den Spitzenkandidaten nicht um biedere Berufseuropäer, sondern um begeisternde Charismatiker gehandelt hätte. Tatsächlich kannte sie kaum ein Wähler. Dagegen wirkten Juncker und Schulz vor fünf Jahren fast schon wie ein Traumduo. So sind die Konterrevolutionäre im Rat die Sieger. Das Parlament hatte diesen Machtkampf schon verloren bevor er überhaupt begonnen hatte. Es darf die kommenden fünf Jahre am Katzentisch speisen. Trostloser geht es wirklich nicht.
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Frank Lübberding
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Vor fünf Jahren galt Angela Merkel noch als die Königin europäischer Politik. Nach der Europawahl 2019 starteten die Regierungen jedoch die Konterrevolution mit Emmanuel Macron an der Spitze. Eine Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen ohne Machtbasis spielt ihnen in die Hände
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"Emmanuel Macron",
"Von der Leyen"
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außenpolitik
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2019-07-04T12:09:23+0200
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2019-07-04T12:09:23+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/europaparlament-eu-merkel-emmanuel-macron-von-der-leyen
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Meistgelesene Texte 2017 – AfD – Projekt 18?
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Es ist, als hätten sich alle wohlmeinenden demokratischen Kräfte darauf verständigt, der Alternative für Deutschland auf den letzten Metern der Regatta um die Bundestagswahl nach Kräften Wind in die Segel zu pusten. Ungewollt, versteht sich. Aus Versehen. Man kann sogar sagen: Kontraintentional. Angefangen beim statthaften Versuch, blinde Flecken auf der glatten Oberfläche der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel zu finden. Zum einen ist in der Welt eine Mail obskuren Inhalts von vor einigen Jahren aufgetaucht, die laut Mailkopf von Weidel stammen soll und die sie mit ihrem Spitznamen gezeichnet hat. Und dann soll sie nach Recherchen der Zeit in ihrem Domizil in der Schweiz eine syrische Haushaltshilfe für 25 Franken die Stunde schwarz beschäftigt haben. Jenseits der Hoffnung, dass im Fall der Mail (die sind leicht zu fälschen) alle journalistische Sorgfaltsstandards eingehalten wurden vor der Veröffentlichung. Jenseits des Umstands, dass der Inhalt peinlich verquastes, völkisch raunendes Verschwörungsgeschwurbel ist: Sind das wirkliche Dinge von der Dimension, die geeignet sind, das Bild von Alice Weidel bei Menschen ins Wanken zu bringen, die damit liebäugeln, sie zu wählen? Sind das journalistische Blattschüsse? Oder Knallerbsen, bei denen man sich hinterher, wenn es kurz Peng gemacht hat, fragt, ob nicht eine gewisse Asymmetrie zwischen Vorwurf und Vergehen auf der einen Seite und medialem Eifer auf der anderen Seite festzustellen ist? Wenn Letzteres der Fall ist, dann kann man von einem Sieferle-Prinzip sprechen, das am Ende auch Frau Weidel zugute kommen könnte. Als der Spiegel versucht hat, einem ihm ungenehmen Buch des Historikers Rolf Peter Sieferle weitere Käuferschaft zu versagen, indem er es kurzerhand aus seiner Bestsellerliste strich, ging das Werk erst so richtig durch die Decke. Wenn die dagegen sind, muss das was für mich sein. Das ist der dahinterstehende Reflex. Den alle unterschätzen, die glauben, Weidel und die AfD mit solchen Wattebäuschchen erschlagen zu können. In einem Essay des meistens lesenswerten britischen Magazins New Statesman wird dieser Tage über den für manche unerklärliche Erfolg des Labour-Chefs Jeremy Corbyn jemand wie folgt zitiert: „The elites said: ,Don‘t vote Brexit‘, and people voted for Brexit. They said: ,Don‘t vote Trump‘, and they voted Trump. And now 12 million people voted for Jeremy Corbyn.“ Dieser Tage sprach Jean-Claude Juncker, oberster Elite-Europäer, zur Lage der Supra-Nation Europa. Juncker dachte, dem großartigen Projekt der Europäische Union in dieser krisenhaften Lage nach dem Brexit-Votum einen Gefallen zu tun, indem er den Euro für alle forderte und dafür plädierte, umgehend munter weiter zu erweitern. Um Rumänien und Bulgarien namentlich. Junckers Worte waren noch nicht ganz verklungen, da konnte man das Klatschen auf die eigenen Schenkel aus der Wahlkampfzentrale der AfD beinahe durch ganz Berlin hallen hören. Die selbstentrückte Rede des Luxemburgers, das ist genau der Stoff, den die AfD braucht, um Wahlkampfmunition für die letzten zehn Tage zu gießen. Man sieht Thor Kunkel, den Kampagnenmann, förmlich vor sich, wie er daraus seine Slogans baut. Die schreiben sich fast von selbst. Schließlich hat sich dieser Tage auch noch der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk zu einer im Prinzip begrüßenswerten Transparenzoffensive durchgerungen und die Gehälter der Intendanten und Redakteure und Moderatoren veröffentlicht. Seither weiß man, dass die Intendanten der ARD zwischen 275.000 und knapp 400.000 Euro im Jahr verdienen. Die ARD hat neun Intendanten. Auf die Gefahr des kollektiven Aufschreis: Die Zahlen sind die für die dahinterstehenden Jobs gar nicht so horrend hoch. Aber es handelt sich eben um gebührenfinanziertes Fernsehen und Radio, also um Gehälter, die von der Haushaltsabgabe und ehemaligen GEZ-Gebühr, bezahlt werden, denen man sich nicht entziehen kann und die die AfD abschaffen möchte. Nochmal feinster Stoff für den Apparat des AfD-Kampagnen-Kopfes Thor Kunkel. Wie zu hören ist, möchte die CSU kommende Woche zu einer Anti-AfD-Offensive blasen. Auch das kann nochmal für das eine oder andere Prozent bei den Blauen gut sein. Projekt 18 hatte sich mal einer für die FDP vorgenommen. Im Moment arbeiten alle Kontrahenten der AfD ungewollt an einem ähnlichen Projekt für den gemeinsam verhassten Wettbewerber. Der sich derweil weiter seiner vierten Mutation entgegen entwickelt. Bei der AfD ist es so: Der Keim der nächsten Daseinsform steckt immer schon in der vorigen, und die Entwicklung ist stramm-linear. In Bernd Luckes Anti-Euro-AfD war schon Frauke Petry mit ihrer nationalkonservativen, in Petry schon Alexander Gaulands verschärfte Form dieser Richtung. Die dritte Verpuppung findet gerade statt. In der Gauland-AfD ist schon die Höcke-AfD. Björn Höcke, das wäre AfD 4.0. Höcke redet im Ton des Sportpalasts. Und so denkt er auch. Das muss jenen klar sein, die der AfD gerade in ihrem antifaschistischen Eifer helfen. Aber auch jenen, die sich an der Verharmlosung dieser Partei versuchen.
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Christoph Schwennicke
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Kurz vor der Bundestagswahl lag die AfD Umfragen zufolge bei zwölf Prozent. Es wurden sogar noch mehr. Im September schrieb Christoph Schwennicke darüber, ob vielleicht deren Gegner der Partei auf den letzten Metern Rückenwind gaben
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"AfD",
"Wahlkampf",
"Bundestagswahl",
"Journalisten"
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innenpolitik
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2017-09-15T10:43:50+0200
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2017-09-15T10:43:50+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/afd-projekt-18
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EU-Kommissar Günther Oettinger – „Deutschland ist kein Musterbeispiel“
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Herr Oettinger, der Bundestag hat am Donnerstag ein Gesetz zur Abscheidung und unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid (CCS) beschlossen. Wie beurteilen Sie das Gesetz? Ich hoffe, dass die CCS-Technologie in Deutschland künftig in einem großen Projekt verfolgt wird. Zudem setze ich darauf, dass dafür mit Vattenfall und dem Land Brandenburg auch weiterhin zwei Partner bereit stehen. Die großtechnische Erprobung von CCS ist notwendig. Wenn jetzt in Deutschland im Zuge des Atomausstiegs verstärkt auf Gaskraftwerke gesetzt wird und Kohle im Energiemix eine größere Rolle spielt, dann bekommt die Speicherung von Kohlendioxid eine noch größere Notwendigkeit. Mit dem CCS-Gesetz setzt der Bundestag eine Brüsseler Richtlinie um. Droht aber Deutschland wegen der Ausstiegsmöglichkeit der Bundesländer nicht dennoch im Vergleich zu anderen EU-Staaten weiter zurückzufallen, wenn es um die Erprobung dieser Technologie geht? Deutschland ist in der Umsetzung der EU-Vorgaben in der Tat kein Musterbeispiel. Die EU-Kommission fördert insgesamt sechs Projekte zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung in den EU-Mitgliedstaaten, mit insgesamt einer Milliarde Euro. Es ist jetzt höchste Zeit, mit entsprechenden Projektentscheidungen voranzukommen, wenn die EU-Mittel noch abgerufen werden sollen. Das ist für Deutschland wichtig.[gallery:Von Photovoltaik bis Geothermie – Erneuerbare Energiequellen im Überblick] Im Zuge des deutschen Atomausstiegs hat der Bundestag Ende Juni eine Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet, mit dem der Anteil des Ökostroms bis 2020 wie gehabt auf 35 Prozent erhöht werden soll. Genügt die Novelle den Brüsseler Anforderungen an fairen Wettbewerb bei der EU-weiten Förderung der Erneuerbaren Energien? Das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz war sicherlich im Vergleich zu den Fördergesetzen anderer EU-Staaten in der Vergangenheit ein gutes Instrument. Es wird aber jetzt in den nächsten Jahren darum gehen, wie wir die Erneuerbaren Energien und ihre Förderung europäisch koordinieren. Ein Beispiel: Wenn der Strom aus Offshore-Windparks in der Nordsee außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes in der Form von Wasserkraft in Norwegen gespeichert wird und anschließend in den deutschen Energiemarkt fließt, dann kann man nicht von deutscher Windkraft sprechen. Aber es ist im deutschen Interesse, sie zu bekommen. Dasselbe gilt für Solarstrom im europäischen Süden. Deshalb bin ich auch dem deutschen Finanzminister Schäuble dankbar, dass er gemeinsam mit meinen Fachleuten derzeit für den Entwicklungsplan Griechenlands über den Aufbau von Solarfabriken für die Stromproduktion in Griechenland nachdenkt. Hat Griechenland wirklich auch eine realistische Chance, zum Exporteur von Solarstrom zu werden? Ja. Die Zahl der Jahressonnenstunden, die man für die Stromproduktion nutzen kann, ist in Griechenland mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Der Energiebereich kann zu einem Sektor werden, in dem Griechenland seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – neben bestehenden Branchen wie dem Tourismus und der Landwirtschaft – deutlich erhöhen kann. Bundesaußenminister Westerwelle hat eine Beschleunigung der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei angemahnt. In der Energiepolitik hat die Türkei eine wichtige Rolle als Transitland für Gaslieferungen Richtung Europa. Ist eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei also auch aus Ihrer Sicht erstrebenswert? Ich würde es begrüßen, wenn wir in den nächsten Jahren mit der neuen Regierung von Premierminister Erdogan die Öffnung weiterer Kapitel bei den EU-Verhandlungen beschließen würden. Der Prozess, mit dem man überhaupt eine Grundlage für eine Entscheidung über eine türkische Vollmitgliedschaft schaffen kann, stockt ja. So ist das Energiekapitel geschlossen, es wird nicht verhandelt. Ich wünsche mir, dass die offenen Fragen zwischen dem EU-Mitglied Zypern und der Türkei geklärt werden können, damit wir eine vertiefte Prüfung der EU-Fähigkeit der Türkei angehen können. In jedem Fall ist eines richtig: In unserer Politik zur Schaffung ,Energie-Europas’ spielt die Türkei eine wichtige Rolle, und die Türken sind verlässliche Partner der europäischen Energiepolitik. Kommen wir zum Thema des EU-Haushalts. Stellen Sie sich eigentlich darauf ein, dass Sie in den nächsten Monaten demnächst häufiger aus Berlin den Hinweis zu hören bekommen könnten, Deutschland sei der Zahlmeister Europas? Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas und eine der stärksten. Deshalb trägt Deutschland einen nennenswerten Anteil zum europäischen Haushalt bei. Das ist nur gerecht und wirkt sich auch für Deutschland positiv aus. Übrigens tragen die Deutschen pro Kopf längst nicht am meisten zum EU-Haushalt bei. Im kommenden Jahr wird ein harter Poker zwischen den europäischen Mitgliedstaaten und der Brüsseler Kommission über das EU-Budget für die Jahre von 2014 und 2020 erwartet. Die Bundesregierung verlangt, dass die EU-Kommission in ihrem Sieben-Jahres-Budget 110 Milliarden Euro weniger ausgibt, als von Brüssel veranschlagt. Unser Entwurf für die mittelfristige Finanzplanung ist sachgerecht und maßvoll. Der vorgestellte Haushaltsplan liegt bei nur knapp über einem Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Mit diesem Prozent wird die Wettbewerbsfähigkeit Europas gestärkt. Der Etat ist deshalb ein Beitrag für Wachstum, aber auch zur Haushaltskonsolidierung in den Mitgliedstaaten. Und dabei liegen unsere Verwaltungsausgaben prozentual weit niedriger als in vielen europäischen Regierungen und internationalen Organisationen. Wie viel Geld muss nach Ihrer Ansicht im nächsten EU-Etat für den Ausbau grenzüberschreitender Strom- und Gasnetze zur Verfügung stehen? Wir stehen vor einem weitreichenden Umbau der Strom- und Gasnetze. Wir glauben, dass ein europäisches Förderprogramm für den Ausbau von Grenzkuppelstellen, aber auch für die Integration kleinerer europäischer Mitgliedstaaten richtig ist. Mit etwa 1,3 Milliarden Euro pro Jahr könnten wir wirkungsvoll dort Projekte kofinanzieren, wo ohne eine solche Kofinanzierung der Ausbau nicht vorankommt und wo die Stromkunden vom Ausbau zu hart getroffen werden. Das Gespräch führte Albrecht Maier.
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Frage des Tages: EU-Kommissar Günther Oettinger im Interview über die CCS-Technologie, Europas Energiewende und grenzüberschreitende Netze.
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außenpolitik
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2011-07-09T09:33:30+0200
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2011-07-09T09:33:30+0200
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https://www.cicero.de//weltbuhne/%E2%80%9Edeutschland-ist-kein-musterbeispiel%E2%80%9C/42329
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Facebooks Börsengang – „Zuckerberg ist ein Hütchenspieler“
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Herr Müller, haben Sie heute schon eine Facebook-Aktie
gekauft? Nein, das habe ich nicht und ich werde auch
keine kaufen. Warum
nicht? Sind Ihnen die 38 Dollar zu teuer? Vollkommen
überteuert! Dieser Börsengang dient allein dazu, den Alteigentümern
die Kassen zu füllen. Facebook braucht kein Geld für seine weitere
Expansion. Die haben mehr als genug! Zuckerberg, seine Partner und
Freunde haben Millionen und Abermillionen Aktien in ihren Depots
liegen. Diese Aktien hatten bisher keinen Wert, weil ein
entsprechender Börsenkurs fehlte. Die Banken konnten zwar schätzen,
aber vernünftig anfangen ließ sich damit nichts. Nun hat man einige
wenige Aktien dem Markt übergeben, um die sich die gesamte
Facebook-Fangemeinde reißen soll, um den Kurs hochzutreiben – mit
Erfolg wie wir sehen. Der Börsenkurs wird also derzeit nur durch den Hype
befeuert? Ja, und das gelingt sehr gut! Der Kurs wird
schon ziemlich bald beim doppelten oder sogar noch höher liegen.
Alle Aktien werden mit diesem hohen Kurs bewertet und in Amerika
gibt es dann einige Multimilliardäre mehr, finanziert durch die
Facebook-Fans, die diesen hohen Preis zahlen. Das heißt, hier ist
ein Unternehmen am Start, das einen Börsenwert von 100 Milliarden
Dollar hat. Das ganze bei einem Gewinn von 1 Milliarde und einen
Umsatz von 3,5 Milliarden – eine mehr als sportliche Bewertung. Ob
Facebook in den nächsten Jahren so viel verdienen wird, um diesen
Preis zu rechtfertigen, bleibt zu bezweifeln. Selbst wenn das
gelingt, fragt sich, wo dann die Euphorie und die Käufer herkommen
sollen, um den Kurs zu halten oder noch höher zu treiben. Erweist sich Facebooks Börsengang dann als gigantische
Fehlspekulation? An der Börse ist alles möglich!
Halbiert sich der Kurs, so halbieren sich auch die Depotwerte.
Zuckerberg & Co haben also ein großes Interesse daran, dass der
Kurs durch das ganze Geld, das die Aktienverkäufe einbringen, hoch
bleibt. Das ist durchaus denkbar. Aber das sind Zockereien,
Finanzspielereien, die nichts mit dem wirtschaftlichen Erfolg von
Facebook und dem künftigen Wachstums des Unternehmens zu tun haben.
Ich kann den Anlegern empfehlen: Wir haben so viele spannendere
Unternehmen an der Börse, deren Aktien man erwerben kann, die
wesentlich interessantere Bewertungen aufweisen. Zuckerberg ist ein
Hütchenspieler. Dann kann man auch gleich in die Spielbank gehen –
da hat man wenigstens einen schönen Abend. Aber entspricht diese hohe Bewertung an der Börse dem
tatsächlichen Wert des Unternehmens? Der Wert eines
Unternehmens ist immer der, den die Menschen bereit sind, dafür zu
bezahlen. Im Vergleich zu anderen Unternehmen ist diese Bewertung
meines Erachtens allerdings viel zu hoch. Facebook verzeichnet mit
seinem Kurs an der Börse einen 100-fachen Gewinn. Bei Google war es
gerade mal das 15-Fache. Da sehen Sie den ganzen Wahnsinn. Facebooks Investoren werden sich nun die drängende Frage
stellen: Wie nachhaltig ist dieses Geschäftsmodell?
Facebook muss sich überlegen, wie sie mit ihren Usern nachhaltig
mehr Geld verdienen. Ob über Werbung, Käufe und Verkäufe innerhalb
des Facebook-Systems, über kostenpflichtige Sonder-Logins – vieles
ist denkbar. Aber natürlich birgt dieses Geschäftsmodell auch
gigantische Risiken. Da muss nur ein Datenschutzbeauftragter ein
Urteil sprechen und schon ist Facebook akut gefährdet. Auch
Urheberrechtsklagen sind denkbar. Es ist ein sehr einseitiges
Geschäftsmodell, verbunden mit sehr vielen juristischen
Unwägbarkeiten. Darüber sollten sich die Investoren im Klaren
sein. Seite 2: Müssen wir uns künftig von aggressiver Werbung
tyrannisieren lassen? Kann es sich Facebook denn überhaupt erlauben, ihre
Nutzer mit aggressiver Werbung zu tyrannisieren?
Facebook kann sich viel erlauben, und sie werden weiter versuchen,
aus den Nutzern so viel Geld wie möglich rauszupressen. Doch wir
sehen auch an der Entscheidung von General Motors (die die zehn
Millionen Dollar, die sie in ihre Facebook-Kampagne investiert
haben und nun wieder einsparen), dass der Werbeeffekt offenkundig
durchaus überschaubar ist. Einige Unternehmen, wie Ben & Jerrys beispielsweise,
scheinen sehr wohl Gewinne durch Werbung zu verbuchen.
Wenn man selbst im Netz aktiv ist, kommt es darauf an, sich zu
überlegen, wie sehr die Werbung, die einem entgegenkommt, das
eigene Kaufverhalten verändert. Haben Sie tatsächlich schon einem
auf so einen Werbebutton geklickt oder vielleicht doch nur aus
Versehen, weil Sie das X nicht gefunden haben? Das eine ist, welche
Werbung ich schalte und wie viel Geld ich dafür ausgeben will. Das
andere ist: Wie effizient ist diese Werbung letztendlich wirklich?
Und wenn es nichts bringt, wie im Falle von GM, dann lässt man es
eben. Dem Unternehmen steht nun ein Strategiewechsel bevor.
Bisher war es Zuckerbergs oberste Priorität, möglichst viele Nutzer
zu gewinnen – mittlerweile immerhin gut 900 Millionen. Nach dem
Börsengang verschiebt sich sein Fokus auf neue Einnahmequellen.
Wird er dem wachsenden Druck standhalten? Der Druck
lastet nicht auf Zuckerberg, sondern auf seiner Stellvertreterin
Sheryl Sandberg, eine ausgesprochen ausgebuffte Nase mit viel
Erfahrung. Früher war sie Topstrategin bei Googel und Stabschefin
des amerikanischen Finanzministers Larry Summers. Sie ist das
eigentliche Hirn hinter den finanziellen Aktivitäten von Facebook.
Zuckerberg ist nur der Idealist, der mit den Visionen für die
technische und gesellschaftliche Zukunft von Facebook. Und wie wird diese Zukunft auf der Börse aussehen? Der
Kundenkreis von Facebook zerfällt derzeit in zwei Lager: In
Euphoriker und Skeptiker. Wo stehen Sie? Ich bin
skeptisch. Es kann funktionieren, das ist nicht ausgeschlossen.
Aber vor lauter Euphorie und Optimismus werden die Risiken, die
dieses Unternehmen birgt, unterschätzt. Daher halte ich mich aus
der Nummer raus! Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Sarah Maria Deckert Dirk Müller wird oft als "das Gesicht der Börse" bezeichnet.
Er ist Börsenmakler, Bankkaufmann und Buchautor und betreibt das
Portal cashkurs.com
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Facebook stemmt derzeit den bislang größten Börsengang eines Internet-Unternehmens. Cicero Online sprach mit Börsen-Experte Dirk Müller über einen vollkommen überteuerten Kurs, tyrannische Werbung und Zuckerbergs einseitiges Geschäftsmodell
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wirtschaft
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2012-05-18T16:26:04+0200
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2012-05-18T16:26:04+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/zuckerberg-ist-ein-huetchenspieler/49373
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Bildung - Weg mit dem Dünkel, her mit dem Zentralabi!
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Deutschland im Bildungsreformwahn. Genauer gesagt: die Bundesländer. Mit Staunen betrachtet man, wie an Bezeichnungen herumgedoktert, Schulformen zusammengeschweißt, gestreckt und gekürzt werden. Vom G9 zum G8 und wieder zurück. An die Abschlüsse aber trauen sich die Kultusminister nicht heran. Hier sollte sich spätestens das Staunen in Empörung wandeln. Denn es gibt weiterhin kein Zentralabitur, sondern einzelne Bundesländer-Abiture. Sie sind aber unzeitgemäße Ausschussprodukte föderalistischen Dünkels. Wenn es um diesen geht, sind die Bayern immer vorne mit dabei. Zwischen Coburg und Lindau sind schließlich nicht nur die Wiesen grüner und das Bier schmackhafter; sondern eben auch das Abitur anspruchsvoller. Doch das hat Nebenwirkungen. ‚Himmelhergottsakramentkreuzkruzifixhalleluja‘, dürfte sicher dem ein oder anderen bayerischen Studienbewerber durch den Kopf schießen, wenn er knapp am NC seines Traumstudiums vorbeisegelt. Und das, während ein minimal besserer Konkurrent aus Hamburg seine Bewerbungsunterlagen in eine Immatrikulationsbescheinigung eintauschen darf. Der hat aus bajuwarischer Perspektive ja allenfalls einen Realschluss in der Tasche. Unterschiedliche Abiture für die gleiche Hochschulreife. Ist das unfair? Ob das bayerische so viel schwieriger ist als das Hamburger Abi, lässt sich kaum messen. Aber in der Gesellschaft geht es ohnehin nicht um reale, sondern um gefühlte Ungerechtigkeit. Aber warum sind eigentlich die Abiturprüfungen, die Teil des föderalistischen Bildungsdschungels sind, unterschiedlich? Das Grundgesetz sagt: Weil Bildung Ländersache ist. Die politische Antwort ist: Weil es in der Bildungspolitik um Symbole geht. Es gibt genau zwei Rechtfertigungsgründe für unterschiedliche Abiturprüfungen: Erstens können sie Ausdruck eines Schulsystems sein, das regionale Gegebenheiten wie Flora und Fauna oder Geschichte berücksichtigt. Zweitens sind sie Marken in einem innerdeutschen Wettbewerb um das bessere Bildungssystem. Beide Argumente zerplatzen, wenn man hineinsticht. Ein deutsches Zentralabitur könnte sehr wohl Raum für länderspezifische Gepflogenheiten bieten. Schwerer wiegt jedoch, dass die Länder verkennen, dass ihr Wettbewerb einer ohne Markt ist. Welche Familie sollte die finanziellen und logistischen Möglichkeiten haben, in ein anderes Bundesland wegen des Abiturs der Kinder umzuziehen? Allenfalls diejenigen, die an Ländergrenzen wohnen. Es bleibt also nur noch das Landes-Abitur als Symbol, das einem bundesdeutschen Zentralabitur entgegensteht. Es könnte Tausende Lehrer entlasten, die Aufgaben erstellen und einsenden müssen. Es trüge dem Zeitgeist Rechnung, der sich von Regionalismen verabschiedet. Es würde (gefühlte) Ungerechtigkeiten bei der Studienplatzvergabe beseitigen. Und es würde die föderale Gewaltenteilung im Bildungsbereich entkarikieren. Dabei müsste nicht einmal eine Verfassungsänderung her, sondern in der Kultusministerkonferenz schlicht eine vertraglich gesicherte Angleichung der Abituraufgaben und Bildungsstandards in der Oberstufe. Die Kultusminister aber dümpeln dünkelnd weiter vor sich hin. Zwar gibt es schon jetzt bundesweite gymnasiale Bildungsstandards für Deutsch, Mathe, Englisch und Französisch, außerdem sollen ab 2016 die Bundesländer aus einem gemeinsamen Aufgabenpool schöpfen und die Prüfungen dadurch „bundesweit besser vergleichbar sein“. Mut, ein Zentralabitur einzuführen, sieht anders aus.
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Vinzenz Greiner
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Die Bundesländer schmücken sich mit eigenen Abituren und verwehren sich einer einheitlichen Prüfung. Dieser Dünkel ist nicht nur unzeitgemäß, sondern eine Karikatur des Föderalismus. Schon längst ist es Zeit für ein deutsches Zentralabitur
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innenpolitik
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2014-04-04T17:20:00+0200
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2014-04-04T17:20:00+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/zentralabitur-weg-mit-dem-duenkle-her-mit-dem-zentralabi/57350
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Rot-Grüne Steuerpläne - Ein Schritt in die richtige Richtung
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Als Wissenschaftler, der sich mit öffentlichen Finanzen beschäftigt, reibt man sich unwillkürlich die Augen, wenn man sich den Wandel der steuerpolitischen Konzepte der Grünen und der SPD anschaut. Schließlich war es 1998 die erste rot-grüne Bundesregierung, die eine Einkommensteuerreform mit umfangreichen Steuererleichterungen verabschiedete, von der insbesondere Deutschlands Einkommensmillionäre profitierten: Ihre Einkommen stiegen durch die Reform um gut ein Fünftel. Die Normalverdiener mussten sich mit fünf Prozent begnügen. Es war damals ein großer Fehler, eine regressive Steuerreform einzuführen, obwohl sich bereits seit der Wiedervereinigung die ungleiche Verteilung der Markteinkommen zuspitzte. Die strukturellen Effekte der Globalisierung – der gewaltige Lohndruck auf die Geringqualifizierten bei gleichzeitiger Eröffnung hochrentabler Geschäftsfelder für Topmanager, Unternehmer und Financiers – ließen erwarten, dass die Marktkräfte dauerhaft noch mehr Ungleichheit hervorrufen würden. In dieser Situation hätte die rot-grüne Koalition mit mehr Steuerprogression entgegensteuern müssen, um das eherne Prinzip des deutschen Steuersystems, das 1893 der preußische Finanzminister Johannes von Miquel eingeführt hatte, zu verteidigen: Je mehr Geld ein Mensch verdient, desto größer ist der Anteil, den er davon an den Staat abgeben muss. Denn die steuerliche Progression tut ihren Dienst umso besser, je ungleichmäßiger der Markt die Einkommen verteilt. Diese verteilungspolitische Regel wurde damals missachtet. Die Folge war nach einer Untersuchung der OECD eine in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmalige Steigerung der Ungleichheit der verfügbaren Einkommen. Ihren Fehler von damals wollen beide Parteien 15 Jahre später offenbar dringend korrigieren: In ihren Wahlprogrammen fordern sowohl die Grünen als auch die SPD ein mehr an Steuerprogression. Dies soll vor allem durch eine stärkere Belastung der Besserverdienenden erreicht werden. Die Grünen wollen den Spitzensteuersatz auf 49 % erhöhen und zwar ab einem Einkommen von 80.000 Euro. Die SPD schlägt den gleichen Spitzensteuersatz ab einer Einkommensgrenze von 100.000 Euro vor. Neue wissenschaftliche Untersuchungen über die Einkommensverteilung und die wirtschaftlichen Reaktionen der Steuerzahler auf Änderungen bei den Steuersätzen zeigen, dass Grüne und SPD sich diesmal in die richtige Richtung bewegen. Um dem Auseinanderklaffen zwischen arm und reich erfolgreich entgegen zu wirken, wäre allerdings ein etwas höherer Spitzensteuersatz ab einem deutlich höheren Einkommensniveau optimal: Unter Berücksichtigung seiner Anreizwirkung sollte der Spitzensteuersatz in Deutschland erst ab einem Einkommen von ca. 350.000 Euro greifen und oberhalb von 50 Prozent liegen, wenn man ein maximales Steueraufkommen generieren will. Ein Teil der Steuerlast würde dadurch von den Gutverdienern zu den Millionären verschoben, in dreifacher Hinsicht ein Vorteil: Erstens wäre ein solcher Tarif besser geeignet, um die Einkommenskonzentration in den Händen des reichsten Tausendstels der Bevölkerung zu verringern, die im internationalen Vergleich in Deutschland besonders hoch ist. Zweitens wäre eine solche Staffelung der Steuersätze die bessere Antwort im internationalen Wettbewerb um die besten Fachkräfte. Denn der Vorschlag der Grünen würde dagegen Einkommenseinbußen von 2,8 Prozent bis 6,6 Prozent für die Einkommensgruppe zwischen 80.000 und 160.000 Euro verursachen, in die viele Ingenieure, Wissenschaftler und Ärzte fallen. Drittens würde eine Verschiebung der Steuerlast von den Gutverdienern zu den Topverdienern die berufliche Attraktivität des öffentlichen Dienstes steigern. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre – vor allem die Finanzkrise und die Skandale bei großen Infrastrukturprojekten – haben gezeigt, wie dringend es ist, dass sich mehr der besten Köpfe dazu entschließen, die Effektivität der öffentlichen Verwaltung zu erhöhen, anstatt am Tische des internationalen Finanzkasinos Platz zu nehmen. Neben der Einkommensteuer sind die Erbschaftsteuer und die Besteuerung der Kapitaleinkommen am besten geeignet für eine gerechtere Verteilung der Vermögen zu sorgen. Zu Recht wollen SPD und Grüne auch hier die Bürger stärker in die Pflicht nehmen, weil Erbschaften und Schenkungen sehr ungleichmäßig verteilt sind und die Ungleichheit in Zukunft noch massiv verstärken könnten. Aktuelle demografische und makroökonomische Trends sprechen ebenfalls für eine Ausweitung der Erbschaftsteuer. Die jährliche Erbschaftssumme nimmt in Relation zum Volkseinkommen zu und macht die Erbschaftsteuer zu einer potenziell ergiebigen Einnahmequelle. Dabei steigt im Durchschnitt der Anteil des geerbten Vermögens an den gesamten Ressourcen, die einem Individuum während seines gesamten Lebens zur Verfügung stehen. Grob zeichnet sich folgender historischer Wandel ab: Während für die Generationen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurden, das eigene Arbeitseinkommen eine wesentlich größere Bedeutung spielte als das geerbte Vermögen, leitet sich der Wohlstand der nachfolgenden Generationen zunehmend von Erbschaften ab und gleichzeitig sind ihre Arbeitseinkommen viel ungleichmäßiger verteilt. Die Grünen streben in ihrem Programm an, das Aufkommen der Erbschaftssteuer zu verdoppeln. Das soll insbesondere dank der Abschaffung der volkswirtschaftlich schädlichen Begünstigung des Betriebsvermögens gelingen. Dies hat kürzlich auch der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums vorgeschlagen. Dabei zeigt sich der Beirat progressiver als die SPD, die sich auf ihrem Parteitag im Dezember 2011 für eine Steuerbefreiung der Unternehmenserben bei Weiterbeschäftigung der Betriebsmitarbeiter ausgesprochen hat und daran auch in Zukunft festhalten will. Mut zu mehr Progression bringen die Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel auch in Bezug auf die Besteuerung der Kapitaleinkommen auf. Die SPD plant die Erhöhung der Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkommen, während die Grünen diese Einkommen wieder im Rahmen des persönlichen Einkommens besteuern wollen. Für welchen der beiden Wege man sich entscheidet ist am Ende nicht so wichtig. Sinnvoll ist es aber in jedem Falle der derzeitigen Diskriminierung des Arbeitseinkommens, das deutlich höher besteuert wird als Kapitaleinkünfte, entgegen zu wirken. Die jetzige Praxis kollidiert mit weit verbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen. Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist eine solche Diskriminierung falsch: Spätestens seit der Finanzkrise leuchtet es immer weniger ein, weshalb man Spekulationsgewinne steuerlich belohnen sollte. Die neuen Möglichkeiten der internationalen Kooperation bei Datenabgleich und Steuerfahndung entkräften ein weiteres Argument für eine Begünstigung der Vermögenseinkommen. Sie ist trotz der weltweiten Mobilität nämlich längst nicht mehr so leicht zu unterziehen wie früher. Überflüssig ist dagegen die von SPD und Grünen geplante Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder gar die Idee einer zeitlich befristeten Vermögensabgabe. Die dahinter stehende Absicht kann bereits mit heute existierenden Steuern erreicht werden. Man braucht nicht das Vermögen extra zu besteuern, wenn man das Kapitaleinkommen besteuert. Findet man die steuerliche Belastung der Vermögensbesitzer zu gering, kann man einfach die Steuersätze existierender Steuern erhöhen und ihre Bemessungsgrundlage verbreitern. Anstatt neue Steuergesetze zu produzieren, wäre es klüger, sich die extrem hohen Verwaltungskosten einer neuen Vermögensteuer zu sparen und die Arbeit des fachkundigen Personals des Staates auf die Optimierung des heutigen Steuersystems zu konzentrieren. Die einzigen Gewinner einer Vermögenssteuer wären die Vertreter der volkswirtschaftlich unproduktiven Steuervermeidungsindustrie, weil die Bewertung von Vermögensbestandteilen sowie ihre Erfassung jenseits nationaler Grenzen extrem schwierig sind. Wenn sich dadurch die zynische Einstellung verbreitet, dass nur der „Dumme“ Steuern zahlt, nimmt der Bürokratieüberdruss zu, die Steuermoral dagegen ab. Vergiftete gesellschaftliche Verhältnisse und sinkendes Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit des Staates wären die zu erwartende Folge.
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Giacomo Corneo
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Die Steuerreform der Regierung Schröder hat 1998 Deutschlands Millionäre noch reicher gemacht. Der Finanzökonom Giacomo Corneo hat für Cicero die aktuellen Steuerpläne von Rot-Grün analysiert
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innenpolitik
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2013-09-17T10:40:47+0200
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2013-09-17T10:40:47+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/rot-gruene-steuerplaene-zeit-von-oben-nach-unten-zu-verteilen/55799
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Rolle der Militärexperten im Ukraine-Krieg - Das Versagen der deutschen Lehnstuhlstrategen
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Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Sicherheitspolitik wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Seit der Nachrüstungsdebatte der frühen 1980er Jahre wurde in Deutschland nicht mehr so ausgiebig über sicherheits- und militärpolitische Fragen diskutiert. Entsprechend groß ist der Bedarf an sicherheitspolitischer Expertise – ein Bedarf, der von zahlreichen Wissenschaftlern aus den einschlägigen deutschen Forschungsinstituten und Universitäten gedeckt wird. Das altbewährte „Lodenmantelgeschwader“ aus pensionierten Generälen kommt immer seltener zu Wort. An ihrer Stelle erklären nun selbstbewusste junge Frauen und Männer aus den „Denkfabriken“ einem breiteren Publikum den Verlauf des Krieges oder spekulieren über die militärischen Optionen der Kriegsparteien. Die „Zeitenwende“, so scheint es, war der dringend nötige Adrenalinschub, der die deutsche „strategic community“ aus ihrem Schattendasein heraus- und in die Talkshows hineinkatapultiert hat. Doch wie steht es um die Qualität der feilgebotenen Expertise? Von militärischen Dingen versteht die Zunft jedenfalls nicht allzu viel. Und warum sollte sie auch? Bis zum Februar 2022 wurde sie schließlich nie gefragt. Man gibt folglich das wieder, was man sich vermutlich kurz vor seinem Fernsehinterview aus den Beiträgen amerikanischer und britischer Experten auf dem Internet zusammengegoogelt hat. So ist man dem Publikum immer eine Twitter-Länge voraus, bleibt aber analytisch auf sicherem Boden. Lässt man sich dennoch einmal zu einer Voraussage hinreißen, wird die Luft hingegen dünn. Bislang haben sich nämlich nahezu alle Voraussagen deutscher oder in Deutschland ansässiger Experten über den wahrscheinlichen Kriegsverlauf als falsch herausgestellt. Die ukrainische Offensive hat nicht die prognostizierte Wende des Kriegsverlaufs herbeigeführt, die Krim ist nach wie vor in russischer Hand, und Russland sind bislang weder die Soldaten noch das Kriegsgerät ausgegangen. Der Hinweis, die prekäre Lage sei vor allem die Schuld des Bundeskanzlers, der aufgrund seiner unbegründeten Angst vor einer Eskalation nicht den Mut aufbringe, der Ukraine das Waffensystem X oder Y zu liefern, wirkt vor diesem Hintergrund nur noch wie eine weitere Bestätigung des begrenzen militärischen Sachverstandes. Diese Waffen mögen neue militärische Möglichkeiten eröffnen; einen ukrainischen Sieg führen sie nicht herbei. Mehr noch. Je länger der Krieg dauert, umso stärker vermischen sich Analysen mit Durchhalteparolen. Die hartgesottenen Experten verzieren ihre Twitter-Einlassungen inzwischen gerne mit der ukrainischen Flagge oder enden ihre Ausführungen mit einem trotzigen „Slava Ukraini“ (Ruhm der Ukraine). Die ukrainischen Soldaten werden zu „Helden“ – ein Begriff, dessen Verwendung trotz aller Bewunderung für die Leistung dieser Menschen jeden Wissenschaftler eigentlich desavouieren müsste. Und da es schließlich um Fragen von Leben und Tod geht, darf der Mitarbeiter einer deutschen Denkfabrik die zögerlichen europäischen Politiker auch mal als „Hosenscheißer“ titulieren. Umgekehrt werden Russland immer häufiger imperiale Ambitionen zugeschrieben, die weit jenseits der gegenwärtigen oder absehbar künftigen Fähigkeiten dieses Landes liegen. Nur ein Sieg der Ukraine, nämlich die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität in den Grenzen vor 2014, so wird suggeriert, könne Putin noch davon abhalten, in Richtung Berlin zu marschieren oder sich zumindest einen Teil des Baltikums einzuverleiben. Dass ein Angriff Russlands auf die Nato, anders als auf die Ukraine, einen Krieg mit 30 Staaten, einschließlich den USA, zur Folge hätte, scheint in diesen Analysen keine Rolle mehr zu spielen. Das könnte Sie auch interessieren: Wo solche Szenarien das Denken bestimmen, ist auch keine intelligente Auseinandersetzung über die Konturen einer Nachkriegsordnung mehr möglich. Da bereits die bloße Andeutung eines Kompromissfriedens dem russischen Narrativ in die Hände spielen könnte, weigert man sich, eine solche Diskussion überhaupt erst zuzulassen. Noch genießt die deutsche „strategic community“ ihren neu gewonnen Einfluss und ihre mediale Omnipräsenz. Doch der immer rauer werdende Ton deutet an, dass sich ihre „15 Minuten des Ruhms“ (Andy Warhol) dem Ende zuneigen. Die „Zeitenwende“ stockt – nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo. Die deutsche „strategic community“, die sich richtigerweise mehrheitlich hinter den ukrainischen Überlebenskampf gestellt hat, muss inzwischen fürchten, dass Kiew trotz der zahlreichen Probleme in den russischen Streitkräften am Ende unterliegen könnte – und dass damit auch sie selbst scheitert. In immer dramatischeren Worten warnt man deshalb vor den Konsequenzen eines Nachlassens der westlichen Unterstützung für die Ukraine und fordert die Regierung auf, entschlossener zu handeln. Die nüchtern-distanzierte Analyse weicht endgültig dem politischen Werben um die bessere Sache; die wissenschaftliche Studie ist nur noch ein notdürftig getarnter moralischer Appell. Jetzt wäre eigentlich die Zeit für abgewogene Analysen über die Optionen, die Deutschland und dem Westen in dieser schwierigen Lage zur Verfügung stehen. Und natürlich gibt es solide Experten, die solche Papiere zu schreiben vermögen. Doch der Großteil von ihnen kommt aus den USA oder Großbritannien, deren „strategic communities“ eine wesentlich größere militärische Sachkenntnis besitzen. Auch in diesen Ländern geht die Sorge um, die westliche Hilfe für die Ukraine könnte nachlassen und Russlands brachiale Politik dadurch belohnt werden. Und natürlich sind auch dort die Experten nicht frei von Emotionen oder einer politischen Agenda. Dennoch gelingt es ihnen zumeist besser als ihren deutschen Kollegen, Fakten und persönliche Meinung voneinander zu trennen. Viele deutsche Denkfabriken werden dagegen weiterhin das tun, was sie bereits seit Monaten getan haben: mit wenig Analyse aber viel Empörung Unterstützung für die Ukraine einfordern, den real weiter sinkenden deutschen Verteidigungshaushalt beklagen und über russische Welteroberungspläne spekulieren. Dieses Repertoire ist allerdings zu schlicht, um die „Zeitenwende“ – und damit zugleich die eigene Popularität – retten zu können. Bald wird es daher wieder heißen: Studierstube statt Talkshow. Die Zeit der Lehnstuhlstrategen könnte ebenso schnell vorbei sein, wie sie gekommen ist.
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Michael Rühle
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Bislang haben sich nahezu alle Voraussagen deutscher Experten über den Kriegsverlauf als falsch herausgestellt. Das wird die Denkfabriken jedoch nicht davon abhalten, weiterhin das zu tun, was sie bereits seit Monaten tun: mit wenig Analyse und viel Empörung Unterstützung für die Ukraine einfordern.
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außenpolitik
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2023-12-29T10:57:33+0100
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2023-12-29T10:57:33+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/militarexperten-im-ukraine-krieg-versagen-michael-ruhle
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Emmanuel Macron - Vom Leitstern zur Sternschnuppe
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Emmanuel Macrons Aufstieg mutete märchenhaft an. Dem charmanten, wohlhabenden und intelligenten Mann wollte einfach alles gelingen. Schon als Jugendlicher hatte er nach Höherem gestrebt, mit 16 erklärt, er werde seine Theaterlehrerin heiraten. Was er dann auch tat. Seine Vorhersage, er werde einmal Staatspräsident seines Landes werden, hielt er ebenfalls. Das Glück ließ ihn nie im Stich: Wie durch ein Wunder schalteten sich seine Widersacher, ob nun Alain Juppé, François Fillon oder François Hollande, eigenhändig aus. Und als zum Schluss nur noch die böse Hexe Marine Le Pen übrig blieb, flogen die Herzen dem wackeren Mann scheinbar fast von selbst zu. Dieses Märchen konnte weiter gehen, als Emmanuel Macron bereits König in seinem Schloss, dem Elysée-Palast war. Mit flammenden Europareden in Athen und an der Pariser Sorbonne-Universität wurde der Staatschef gerade jenseits der Landesgrenzen und insbesondere in Deutschland zum Heilsbringer des Kontinentes verklärt. Der neue Fixstern am europäischen Himmel verkündete eine „kopernikanische Revolution“, deutsche Medien entdeckten einen „Visionär“. In Frankreich hingegen herrschte weniger Euphorie. Aber man ließ den gewählten Präsidenten zunächst gewähren, als er die angekündigten Reformen – zuerst des Arbeitsmarktes, dann des hoch symbolischen Eisenbahnerstatuts – souverän durchzog. Schon in jenem Sommer 2017 gab es aber, wenn man genau hinhörte, verstörende Signale. Der linke Abgeordnete François Ruffin, ein rauer Rebell, ein Robespierre der neuen Zeit, schrieb in einer Kolumne: „Sie sind verhasst, verhasst und nochmals verhasst – bei den Rechtlosen, den Vergessenen, den Leuten ohne Rang.“ Macron hörte darüber hinweg. Lieber theoretisierte er über die „Vertikalität“ des Staatsaufbaus, natürlich mit ihm zuoberst. Ab und zu begab er sich unter das Volk, zum Beispiel in einen Bahnhof, „wo man Leute kreuzt, die Erfolg haben, und andere, die nichts sind“. Er hatte nicht gesagt: die nichts haben, sondern: die nichts sind.
Der Satz war Macron rausgerutscht, so wie er auch schon Schlachthofarbeiterinnen als „Analphabetinnen“ bedauert hatte. Die Franzosen dachten sich ihren Teil, sagten aber nichts. Schließlich wollten sie, dass ihr Präsident verwirklichen konnte, was er versprochen hatte: mit dem alten Frankreich aufräumen, eine neue Epoche jenseits der alten Rechts-Links-Querelen einweihen. Macron hatte Mut, er hatte Schneid, und er tat Gutes: Zum Beispiel verkleinerte er die Zahl der Schüler in jenen Vorstadtklassen, wo blutjunge Banlieue-Bewohner rasch einmal auf die schiefe Dschihadisten-Bahn geraten, wenn sich ihnen keiner annimmt. Gewiss, als Macron die Vermögenssteuer auf den Immobilienbesitz reduzierte, schluckten viele Citoyens. Doch Macron erklärte ihnen, das geschehe, um die Leute mit Geld im Land zu behalten und mit ihren Investitionen Jobs zu schaffen. Einige seiner Berater fragten ihn, ob man im Gegenzug nicht auch den Geringverdienern ein Steuergeschenk machen müsse – vor allem auch, weil im Land nun Rufe erschallten, Macron sei der „Präsident der Reichen“. Der Schlossherr hatte anderes zu tun. Er konzentrierte sich auf den Handshake mit Donald Trump, beeindruckte Wladimir Putin im Spiegelsaal von Versailles, bemühte sich um Angela Merkel und ihre Antwort zu seinen Europa-Ideen. Die Affäre um seinen Leibwächter Alexandre Benalla unterschätzte er, weil er die politische Sprengwirkung der Konstellation – hier die Pariser Privilegienreiter, dort die fernen Provinzproleten – in seinem Palast missachtete. Ab und an äußerte er sich aus der Distanz noch über seine Landsleute; den Dänen erzählte er etwa von den „widerspenstigen Galliern“. Wieder zu Hause, bedeutete er denselben, sie sollten sich „weniger beklagen“; denn in Frankreich brauche man, wie er ein andermal tönte, „nur über die Straße zu gehen, um einen Job zu finden“. Drei Millionen Arbeitslose, die vom Existenzminimum leben, dankten für die Aufklärung. Die anderen Franzosen, die, die hart arbeiten, aber am Ende des Monat trotzdem vor einem leeren Konto stehen, stieß Macron dann mit seiner Benzinsteuererhöhung vor den Kopf. Die Steuer, begründet unter anderem mit Umweltschutz, wird jedoch nicht zweckgebunden verwendet und ist insofern wiederum auch schlecht mit Umweltschutz begründbar. Dieses Kernfrankreich, bestehend aus Globalisierungsverlierern an den Stadträndern und der tiefen Landesprovinz, holte die Warnwesten aus ihren Autos und schreit nun im Chor das, was Ruffin schon im Sommer 2017 geschrieben hatte: Macron, wir haben genug von den Steuern, genug von dir! Einmal, auf dem Höhepunkt der Benalla-Affäre im Sommer 2018, erklärte der Präsident seinen Citoyens: „Sollen sie mich doch holen kommen!“ Jetzt sind sie gekommen. Vergangene Woche musste Macron 89.000 Polizisten im Land aufbieten, 8000 allein in Paris, damit sie ihn nicht im Elysée holen konnten, wo er sich mit ein paar Getreuen verschanzt hielt. Einer der wenigen Parteigänger, die ihm noch die Wahrheit zu sagen wagen, bedeutete ihm ohne Umstände: „Sie wollen Ihren Kopf auf der Lanze sehen.“ Erst jetzt schien bei Macron der Groschen zu fallen. Einen Tag später trat er vor die TV-Kameras und verschenkte mit samtweicher Stimme Sozialmaßnahmen im Wert von mehr als zehn Milliarden Euro. Das Volk zu beschwichtigen, die Revolte zu ersticken, die ihn auf dem falschen Fuß erwischt hat. Aber es ist zu spät. Die Franzosen, die sich insgeheim nichts so sehnlich wünschen wie einen „homme de providence“, einen Mann der Vorsehung à la Ludwig XIV., Napoleon oder de Gaulle – sie träumen wieder von Königsmord. „Macron, schau auf deine Rolex – es ist Zeit zu gehen“, hatte auf den Champs-Elysées einer auf den Rücken seiner gelbe Weste geschrieben. Und das ist noch einer der freundlichen Sprüche, die Macron als Emmanuel I. karikieren, und Brigitte als Marie-Antoinette. Die Wut der Franzosen auf Macron ist eine Mischung persönlicher, sozialer und politischer Aversionen. Alles wendet sich nun gegen den Präsidenten. Gegen seinen Dünkel, den der Pariser Eliten, denen er seit dem Besuch des Nobel-Gymnasium Henri-Quatre angehört, gegen den Abbau der Vermögenssteuer. Er büßt auch für die Versäumnisse anderer: Auf einem Verkehrskreisel in Orléans sagte eine „gilet jaune“, sie rebelliere gegen „dreißig, vierzig Jahre verfehlter Politik“. So lange steigt die Arbeitslosigkeit schon. So lange hat Frankreich kein ausgeglichenes Haushaltbudget mehr zustande gebracht, obwohl die Steuern und Abgaben mittlerweile 46 Prozent des Bruttosozialproduktes erreichen – europäischer Rekord. Und das Volk, es soll dazu nichts sagen. Es bekommt nur die Folgen zu spüren: Seine Kaufkraft stagniert, und zugleich steigen die Steuern, sodass den wackeren Kleinbürgern unterm Strich immer weniger bleibt. Dabei hat sich Macron mit acht neuen Steuern und Abgaben im Vergleich zu seinen Vorgängern noch zurückgehalten. Dennoch ist er unpopulärer als Nicolas Sarkozy und François Hollande – und das will etwas heißen. Nach dem Hochmut der Fall: Macrons himmelhoher Politanspruch weit über den Parteien schrumpft nun zum bloßen Kampf um das eigene Überleben. Er, der im Präsidentschaftswahlkampf selber davon profitiert hatte, dass die Franzosen alle Rechts- und Linkspolitiker auf den Mond wünschten, wird nun selber von dieser „Hau ab“-Welle (auf Französisch: „dégagisme“) eingeholt. Der Glückspilz wird zum Pechvogel. Macrons ehrgeizige Europa-Pläne prallen an Vorgängen außerhalb Frankreichs ab: In Deutschland zieht Angela Merkel nicht mit, und in Italien ist Macron statt des erhofften Alliierten ein neuer Gegner in der Person von Matteo Salvini erwachsen. Bei den Europawahlen von 2019 wollte der 40-jährige Franzose einen dritten Mitteblock zwischen Konservativen und Sozialisten zimmern. Aber auch bei den Liberalen, wie der deutschen FDP, stößt er auf heftigen inhaltichen Widerspruch, obwohl er sich mit Ihnen für die Europawahlen nun verbündet hat. Es könnte eine Schicksalsgemeinschaft werden, die sich beide Seiten ganz anders vorgestellt hatten. Langsam lahmt auch Frankreichs Konjunktur, die nach Macrons Wahlsieg vor anderthalb Jahren noch von der guten ökonomischen Weltlage profitiert hatte. Die Bilder von Chaos und Gewalt zerstören die Anstrengungen des Präsidenten, Frankreich als modernen, attraktiven Standort zu präsentieren. „France is back“, hatte er noch anfang des Jahres in Davos deklamiert – angesichts der Gelbwestenproteste sagen nun sogar Touristen ihre Frankreichreisen ab. Die Investoren haben sich vom Abbau der Vermögenssteuer bisher auch nicht bezirzen lassen. Dafür ist der Präsident nun als „neoliberal“ verschrien. Dabei trifft das nicht einmal zu: Macron verhält sich in vielem konservativ und tritt für einen starken Staat ein. Dessen Ausgaben hat er in seinen ersten Haushalt trotz anderslautender Wahlversprechen sogar noch erhöht. Das war, noch bevor er den Gelbwesten Geldgeschenke von mehr als zehn Milliarden Euro machte. So handelt schon Jacques Chirac vor zwanzig Jahren. Den Ruf eines Erneuerers hat Macron damit weitgehend eingebüßt. Aber ist er auch politisch bereits erledigt, obwohl er noch bis 2022 gewählt ist? Die Stellung des französischen Präsidenten ist zwar verfassungsmäßig beinahe unanfechtbar. Aber ohne das Volk kann Macron nicht regieren, noch weniger reformieren: Politisch isoliert zwischen den Blöcken, ohne Rückhalt durch seine ebenso unerfahrene Partei „La République en marche“ (LRM), ist Macron sogar mehr denn je auf diese Volksgunst angewiesen, die er nie in vollem Umfang hatte, und die nun auch bei den eigenen Anhängern verliert. Seine am schwierigsten durchzusetzende Reform, die der so unterschiedlichen Rentensysteme, von denen viele Franzosen profitieren, steht ihm noch bevor. Er hatte sie für Anfang 2019 angekündigt. Derzeit kann er aber nicht einmal daran denken, die Vorlage zu präsentieren. Selbst populäre Vorhaben wie die Reduktion der Zahl der Abgeordneten (von 577 auf 404) musste er bereits mehrfach aufschieben. Macron hat noch mehr als drei Jahre vor sich im Elysée-Palast. Die französische politische Stimmung ist wankelmütig, heute zudem extrem schnelllebig. Einer geschickten Hand ist es möglich, die Stimmung in Frankreich zu wenden, die Franzosen auf die eigene Seite bringen. Dazu muss sich Macron aber zuerst selber läutern. Er muss vom hohen Ross steigen und den Franzosen den Sinn seiner Politik nahebringen. Wenn er es schafft, seinen fast autistisch anmutenden Starrsinn in eine politische Hartnäckigkeit zu verwandeln, ohne die Leute vor den Kopf zu stoßen, kann er auf Reformkurs bleiben. Vielleicht ist das zu optimistisch. Aber Macron hat gar keine Wahl. Sonst kann der erklärte Reformer gleich zum Daumendrehen übergehen. Und zusehen, wie er, der angebliche Leitstern am europäischen Himmel, als bloße Sternschnuppe verglüht.
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Stefan Brändle
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Emmanuel Macron galt als Hoffnungsträger Europas. Jetzt droht der französische Präsident mit seinem politischen Projekt zu scheitern. Eine Chance aber bleibt ihm noch
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außenpolitik
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2018-12-17T09:16:59+0100
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2018-12-17T09:16:59+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/emmanuel-macron-gelbwesten-praesident-frankreich-elite-reichtum-armut
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Junge Union zur Europawahl - „Danke für nichts!“
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Wer am Sonntag als einfaches Mitglied von CDU und Junge Union (JU) die Reaktionen aus der CDU auf das Wahlergebnis verfolgte, dürfte einigermaßen überrascht gewesen sein: Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer redeten davon, man habe „Ziele erreicht“. Klar, es gab auch Zähneknirschen, aber eine Botschaft blieb beim Zuschauer hängen: „Wir haben irgendwie gewonnen!“ Es gibt selten Anlässe, sich als einfaches Mitglied einer Partei so weit entfernt von der Führung zu fühlen, wie nach einer solchen Klatsche und solchen Reaktionen. Ich war: fassungslos! Wer zu diesem Zeitpunkt dachte, schlimmer könne es nicht mehr gehen, der wurde spätestens am Montagmorgen eines besseren belehrt: Laut einer internen Analyse der CDU-Parteizentrale sei – neben einer Handvoll anderer Faktoren – vor allem ein „vermeintlicher Rechtsruck der Jungen Union“ Schuld am Wahlergebnis. Mit anderen Worten: Die Junge Union hat es verbockt. So etwas ist dann doch bemerkenswert. Ich kenne viele JU-ler, die in den vergangenen Wochen und Monaten fast täglich für diese Partei im Wahlkampf unterwegs waren. An Wahlständen, in Fußgängerzonen, in Sitzungen und, und, und. Die mit Bürgern gesprochen haben, deren Frust abbekamen – und sich dennoch immer weiter eingesetzt haben: für diese Partei und ihre Idee von Europa. Leute, die das nicht für Posten oder Ämter tun, sondern aus Überzeugung und Pflichtbewusstsein. Weil ihnen Europa und diese Partei wirklich etwas bedeuten. Und dann dieser „vermeintliche Rechtsruck“ – was für ein seltsamer Blick auf die Dinge. Ja, die JU ist inhaltlicher Motor unserer Partei. Aber dabei geht es nie um einen „Rechtsruck“, sondern darum, sich den eigenen, zutiefst bürgerlichen Kernthemen wieder stärker zu widmen. Wenn man in den zurückliegenden Jahren sehr viele Schritte nach links gegangen ist, dann sind ein paar deutliche Schritte hin zu unseren Wurzeln ganz sicher kein „Rechtsruck“, sondern eine gebotene, maßvolle Kurskorrektur. Und dafür steht auch unser neuer Bundesvorsitzender, der – in meinen Augen – einen wirklich guten Job macht. Angesichts dieses Engagements vieler JU-ler und der inhaltlichen Akzente dürften viele, als sie von der Analyse aus der Parteizentrale hörten, gedacht haben: „Danke für nichts!“ Dabei war es vor allem die Parteiführung, die in den vergangenen Tagen agierte, als sei „dieses Internet“ ein Trend, der quasi über Nacht aus Kalifornien zu uns herübergeschwappt wäre. Man wartete ja fast auf den Hinweis, das alles würde sich „eh nicht durchsetzen“. Doch plötzlich war es da, und niemand war drauf vorbereitet. Ein YouTube-Video mit Millionen Klicks, und die Antwort der CDU? Eine 11-seitige pdf-Datei! Wahnsinn. Eigentlich war man fast froh, dass die pdf-Datei nicht auch noch ausgedruckt und gefaxt wurde. Viele in der JU waren schlichtweg fassungslos. Für mich ganz persönlich zeigt sich darin mehr als ein bloßes Augenblicksversagen, sondern ein grundsätzliches Problem: Eine Sprachlosigkeit in der Parteiführung angesichts völlig neuer Kommunikation und politischer Meinungsbildung. Und anstatt da auf die JU zu hören, macht man lieber: nichts. Oder sogar besser: Man gibt der JU noch eine Mitschuld. Naja. Dabei wäre es doch ein leichtes, wenn die Partei den Nachwuchs viel stärker einbinden würde. Keine teuren Workshops und Grafiken mit irgendwelchen hippen Berliner Werbeagenturen oder Meinungsforschern, sondern der direkte Draht zum eigenen Nachwuchs, der doch Teil dieser jungen Generation ist. Die können das. Man muss ihnen nur besser zuhören. Das wäre ein echter Neuanfang. Leider scheint man das in Berlin noch immer anders zu sehen: Zwar hat sich die Parteivorsitzende – gottseidank – von der These, die JU sei schuld, distanziert. Aber nun hört man stattdessen, man wolle jetzt grüne Themen stärker besetzen. Ansonsten – so jedenfalls der Eindruck – solle alles beim alten bleiben. Mehr grüne Themen also? Obwohl doch jeder weiß, dass der Wähler am Ende das Original wählt. Für mich wäre dieses Kopieren grüner Themen kontraproduktiv und das genaue Gegenteil von „Wir haben verstanden“. Dass man mit einer starken Einbindung der Parteijugend und einem strikt bürgerlichen Kurs, einer Besinnung auf die eigenen Wurzeln, sehr wohl Wahlen gewinnen kann, das zeigt dieser Tage einer: Sebastian Kurz mit der ÖVP. Die haben am Sonntag das beste Ergebnis aller Zeiten bei einer Europawahl eingefahren. Da können wir noch viel von lernen.
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Thorben Meier
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Nur 28,9 Prozent holten CDU und CSU am Sonntag bei der Europawahl. Die CDU-Führung macht für das schlechte Ergebnis auch ihre Jugendorganisation verantwortlich. Hier nimmt ein Mitglied der Jungen Union Stellung zu den Vorwürfen
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2019-05-28T10:49:17+0200
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2019-05-28T10:49:17+0200
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