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202
SPD - Sigmar Gabriel will nicht mehr
Bei der Bundestagswahl 2017 könnte die SPD erstmals unter die 20-Prozent-Marke rutschen. Bisher sieht alles danach aus, als ob es am Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel liegt, diese Niederlage auszubaden. Denn außer ihm findet sich in der Partei niemand, der es als Kanzlerkandidat mit Merkel aufnehmen würde. Doch Gabriel denkt über einen Ausstieg nach. Ob er den Absprung noch rechtzeitig schafft und wer seinen Platz als Parteivorsitzender einnehmen könnte, lesen Sie in der Mai-Ausgabe des Cicero. Die neue Ausgabe des Cicero ist am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhältlich. Sie können diesen Artikel auch einzeln über den Online-Kiosk Blendle kaufen.
Cicero-Redaktion
Die SPD steht vor dem Abgrund. Ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel aber findet niemanden, der 2017 statt ihm als Kanzlerkandidat gegen Merkel in den Wahlkampf ziehen würde. Nur sein Pflichtgefühl hält ihn noch vom Rücktritt ab
[ "Sigmar Gabriel", "SPD", "Bundestagswahl" ]
innenpolitik
2016-05-06T10:34:19+0200
2016-05-06T10:34:19+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-sigmar-gabriel-will-nicht-mehr
re:publica 2014 - Erst kommt das Fressen, dann der Datenschutz
Es hat mittlerweile Tradition. Einmal im Jahr versammelt sich in Berlin die Netzgemeinde. Aus der bescheidenen Bloggerkonferenz ist mittlerweile ein Megaevent geworden. Man trifft sich, fühlt sich gut und feiert sich als gesellschaftliche Avantgarde. Diskutiert wird auch, aber irgendwie gerät das auf der re:publica zur Nebensache. Letztendlich geht es dort zu wie auf dem Kirchentag: Gefühl gut, Glaube fest, Botschaft Nebensache. Natürlich markieren die Enthüllungen des Edward Snowden für alle, die sich mit dem Internet beschäftigen und mit ihm arbeiten, eine Zäsur. Natürlich ist der NSA-Skandal, die globale Überwachung der gesamten digitalen Kommunikation durch westliche Geheimdienste, deshalb auf der re:publica 2014 allgegenwärtig. Auch für diejenigen, die das Netz lange als Ort der Freiheit gefeiert haben, hat dieses endgültig seine Unschuld verloren, darin sind sich die Macher der re:publica einig. Sie beklagen den „Angriff auf die Gesellschaft“, sehen die Demokratie in Gefahr und rufen dazu auf, das Netz „den kriminellen Geheimdiensten“ wieder zu entreißen, „zurückzuerkämpfen“. „Das Internet ist kaputt“, so formuliert es Sascha Lobo. Akribisch und bis zur eigenen Ermüdung referierte der Vordenker der Bewegung am Dienstag in seiner schon traditionellen re:publica-Rede die einzelnen Stationen bei der Aufdeckung der NSA-Affäre. Von den ersten Meldungen im Juni 2013 bis zur Enthüllung im Dezember, dass die NSA in der Lage sei, den gesamten Handy-Verkehr weltweit abzuhören. Und auch auf billige Lacher bei der Erwähnung der Namen Pofalla, Friedrich und Merkel verzichtete er nicht. Nur ein Datum ließ Lobo aus: den 22. September 2013. Die Bundestagswahl endete bekanntermaßen mit einem überragenden Wahlsieg derjenigen, über die sich die Netzgemeinde so gerne erhebt und lustig macht. Fast hätte Merkel sogar die absolute Mehrheit gewonnen, während die FDP, die in der schwarz-gelben Bundesregierung immerhin die Einführung der Vorratsdatenspeicherung verhindert hatte, an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. „Erst kommt das Fressen, dann der Datenschutz“, so lautet die Botschaft, die frei nach Bertolt Brecht von dem Wahlergebnis ausgeht und die Merkel auch recht gelassen auf den NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages blicken lässt. Bürgerrechte waren auch in der analogen Vergangenheit in der Regel Minderheitenthemen. Aber so marginalisiert wie derzeit waren deren Anwälte schon lange nicht mehr. Nicht das Internet ist kaputt, sondern der Diskurs über die Demokratie nach der digitalen Revolution. Und daran sind nicht nur die Geheimdienste und ihre Helfershelfer in der Politik schuld. Da müssen sich die Netzpolitiker auch an die eigene Nase fassen. Doch Selbstkritik ist ihre Stärke nicht. Die Frage, warum einerseits die eigenen Klagen über das Ende des freien Internets und die Bedrohung der digitalen Demokratie immer schriller werden und andererseits die Menschen immer desinteressierter, stellten sich die Macher der re:publica allenfalls am Rande. Der Tatsache, dass die Piraten als Partei der digitalen Gesellschaft grandios gescheitert sind, nehmen sie achselzuckend zur Kenntnis, dem Dialog mit Sicherheitspolitikern gehen sie aus dem Weg. Man bleibt lieber unter sich. Die Netzgemeinde ist eben nicht nur Avantgarde, sondern auch eine selbst ernannte Bohème, die mit gewisser Überheblichkeit auf die Politik und die Mühen des politischen Alltags herabblickt. Sie ist nicht nur weit weg von den Problemen vieler Menschen, sondern zudem auch wenig an ihnen interessiert. Innere Sicherheit ist für sie kein Wert in der Demokratie, sondern allenfalls ein notwendiges Übel. Doch mit der Tatsache, dass für die meisten Internetnutzer die Angst, Opfer von Terroristen oder Cyberkriminellen zu werden, wesentlich größer ist als die Angst, in den Fängen der NSA zu landen, sollte man sich zumindest auseinandersetzen. Die Netzneutralität ist im Allgäu und in Nordfriesland darüber hinaus allein deshalb kein Thema, weil sich die Menschen dort ohne schnelles Internet eh keine Filme bei YouTube ansehen können. Vor allem aus einem Dilemma können sich die Netzaktivisten nicht befreien: Sie sind mit den mächtigen, weltweit agierenden Konzernen, die neben den Geheimdiensten die Demokratie bedrohen, groß geworden. Sie haben diese Konzerne viel zu lange als Motor des vermeintlich herrschaftsfreien Internets gefeiert und sehen bis heute darüber hinweg, dass dort schon jetzt persönliche Daten in riesigem Umfang auf Vorrat gespeichert werden, Missbrauch eingeschlossen. Ohne Google, Facebook und Twitter hätte die digitale Bohème jedoch keine Bühne. Und auch kein Geld. Dazu passt es, dass sich die re:publica zwar über die NSA empört, aber zugleich von Microsoft sponsern lässt und damit von einem global agierenden Konzern, der nicht nur auf die Daten seiner Nutzer scharf ist, sondern auch eifrig mit der NSA kooperiert hat. Die Glaubwürdigkeit der Vorkämpfer eines überwachungsfreien und demokratischen Internets erhöht dies nicht. Bertolt Brecht hätte sicher auch dafür die rechten Worte gefunden.
Christoph Seils
Auf der re:publica 2014 feiert sich die Netzgemeinde und protestiert gegen die Geheimdienstüberwachung. Dabei hat Europas größte Bloggerkonferenz ein Glaubwürdigkeitsproblem
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innenpolitik
2014-05-07T14:22:51+0200
2014-05-07T14:22:51+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/republica-2014-erst-kommt-das-fressen-dann-der-datenschutz/57534
Hamburger Reeder Peter Krämer – „Kampf dem Feudalismus“
Herr Krämer, wann haben Sie das erste Mal öffentlich gefordert, dass die Reichen in Deutschland, zu denen Sie als Hamburger Reeder auch gehören, höhere Steuern zahlen sollen? Im November 2005 habe ich während der Koalitionsverhandlungen für die Große Koalition einen offenen Brief an Angela Merkel und Franz Müntefering geschrieben. Passiert ist bis heute nichts. Dabei zeigt der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass den obersten zehn Prozent mittlerweile 53 Prozent des Nettovermögens gehören. Wundert Sie die Unentschlossenheit der Politik bei diesem Thema? Mittlerweile nicht mehr, man kann sich nicht sieben Jahre lang über etwas wundern. Die Reichen dieser Republik scheinen aber über eine sehr gut funktionierende Lobby zu verfügen. Immerhin haben die von der SPD und den Grünen regierten Bundesländer angekündigt, einen Gesetzesentwurf zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer über den Bundesrat einzubringen. Das kann man machen, das ist auch ein richtiger Ansatz, aber ich halte das für etwas lahme Symbolpolitik, wenn das der einzige Schritt wäre. Ähnliches gilt für die Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Alle Berechnungen zeigen, dass dadurch höchstens vier Milliarden Euro zusätzlich in die Staatskasse fließen. Wie sähe Ihr Wunschsteuerkonzept aus? Wenn die Politik mutig wäre, würde sie die Erbschaftssteuer in Deutschland auf britisches Niveau anheben. Dort müssen 40 Prozent abgeführt werden, unabhängig davon, an wen man sein Vermögen vererbt. Wir hätten dann nicht mehr ein Erbschaftssteueraufkommen zwischen zwei und vier Milliarden Euro jährlich, sondern etwa 30 Milliarden Euro. Das wäre der sinnvollste Schritt, um die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen. Wichtig ist, dass es vernünftige Freibeträge gibt, weil niemand an Oma ihr klein Häuschen will. Und es darf nur das Privatvermögen besteuert werden. Warum soll das Betriebsvermögen ausgenommen werden? Es darf nicht sein, dass durch einen solchen Schritt mittelständische Unternehmen stärker belastet werden als bisher. Sie stellen immer noch 70 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland. Da sie häufig über wenig Eigenkapital verfügen, wäre eine höhere Besteuerung falsch, weil man damit Arbeitsplätze gefährdet. Allerdings muss man den Begriff Privatvermögen schon weit fassen. Die 40 Prozent der BMW-Aktien, die der Familie Quandt gehören, sind für mich Privatvermögen, weil sie das Unternehmen nicht selbst leiten wie ich meine Reederei. Bringt denn eine Vermögenssteuer aus Ihrer Sicht nichts? Doch, wir haben das mal für Hamburg ausrechnen lassen. In Hamburg betrugen die Einnahmen aus der Vermögenssteuer 1996 etwa 200 Millionen D-Mark. Danach wurde sie vom Bundesverfassungsgericht ausgesetzt. Dadurch sind Hamburg seit 1997 insgesamt Einnahmen von etwa drei Milliarden Euro verloren gegangen. Wichtig ist hier ebenfalls, dass zwischen Betriebs- und Privatvermögen sauber unterschieden wird. Ich würde einen Vermögenssteuersatz von bis zu 1 Prozent auf Privatvermögen mittragen. In Frankreich werden 2,5 Prozent erhoben. Das führt bei dem derzeitig äußerst niedrigen Zinsniveau zu einem realen Vermögensverlust. So weit würde ich nicht gehen, weil die Substanz erhalten bleiben sollte. Bis zu 1 Prozent lässt sich aber über die Zinserträge wieder hereinholen. Seite 2: Der Staat könnte Vermögen abschöpfen, ohne dass das Arbeitsplätze kostet Was halten Sie von der Forderung der bundesweiten Initiative „Umfairteilen“, zwei Jahre in Folge eine Vermögensabgabe in Höhe von 5 Prozent zu fordern? Auch hier gilt: Soweit sich eine solche Abgabe auf Betriebsvermögen erstreckt, bin ich dagegen. Es ist weltfremd zu verlangen, bei Unternehmen in diesen Zeiten zusätzlich zwei Jahre 5 Prozent des Vermögens abzuschöpfen. Nehmen Sie die deutschen Reedereien: Sie schreiben seit 2009 tiefrote Zahlen. Mein Unternehmen hat einen erheblichen Teil seines Wertes in dieser Zeit eingebüßt, wie auch die meisten anderen deutschen Reedereien. Wenn ich da jetzt noch Geld entnehmen sollte, um eine Vermögensabgabe zu zahlen, das wäre Wahnsinn. Um den Maßnahmenkatalog ganz abzuhandeln: Nach einem Vorschlag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wird auch über eine Zwangsanleihe diskutiert, womit man die Reichen zur Staatsfinanzierung zwingen will. Das ist völlig absurd. Der Staat verfügt über genügend steuerliche Möglichkeiten, Vermögen dort abzuschöpfen, wo es keinerlei Arbeitsplätze kostet. Haben Sie keine Angst davor, dass die Reichen dann Deutschland verlassen? Nein, einige, wie Herr Müller, der ehemalige Eigentümer von Müllermilch, oder einige Sportstars, denen die Steuern hier zu hoch sind, sind ohnehin schon ins Ausland gegangen. Ansonsten sind die Deutschen genauso heimatverbunden wie die Briten und die Franzosen auch. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung wird das Vermögen der reichen Deutschen aber wesentlich geringer besteuert als in den meisten anderen Staaten Westeuropas, und das finde ich skandalös. Warum sollte der Staat überhaupt noch mehr Geld erhalten? Die S teuereinnahmen in Deutschland sind bereits auf Rekordniveau, und trotzdem bekommt die Bundesregierung keinen ausgeglichenen Haushalt zustande. Es geht mir darum, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht noch größer wird. Es wird einen Punkt geben, an dem sich die Leute das nicht mehr gefallen lassen. Das sieht man an den Konflikten in Griechenland, Spanien oder beim Hochkommen der Occupy-Bewegung. Ich will damit gar nicht jede Form dieser Proteste gutheißen, aber ich glaube, dass Stéphane Hessel mit seinem Buch „Empört euch!“ viele richtige Ansätze liefert. Daraus folgt auch, dass die Bürger den Staat besser kontrollieren müssen. Damit Steuergelder nicht sinnlos verschwendet werden, sollte der Bundesrechnungshof in begrenztem Umfang Exekutivgewalt in seiner Kontrollfunktion erhalten. Seite 3: Wir brauchen ein einheitliches europäisches Steuersystem Warum wollen Sie nicht selbst entscheiden, was Sie mit Ihrem Geld machen? Ich setze mich für eine stärkere Besteuerung der Reichen ein, weil ich eine neue Spielart des Feudalismus ablehne. Es kann nicht sein, dass es einen Machttransfer auf die Reichen gibt, bei dem sie nach eigenem Gusto ohne demokratische Legitimation alleine entscheiden, was förderungswürdig ist in unserer Gesellschaft. Deshalb stehe ich auch der Aktion „Giving Pledge“ der US-Milliardäre Bill Gates und Warren Buffett, die die reichsten Menschen der Welt dazu bewegen wollen, Großteile ihrer Vermögen für philanthropische Zwecke zur Verfügung zu stellen, äußerst kritisch gegenüber. Buffett fordert inzwischen gleichzeitig auch höhere Steuern für Reiche. Aber hat dieses Engagement in den USA nicht eine ganz andere Tradition, weil der Staat dort weniger Aufgaben übernimmt? Sicherlich, ich möchte den Beteiligten gar nicht ihren guten Willen absprechen, aber ich möchte das in Deutschland nicht haben. Stiftungsarbeit ist auch hier wichtig, sollte aber bei der Erfüllung gesellschaftspolitischer Aufgaben an zweiter Stelle hinter den notwendigen staatlichen Abgaben stehen. In den USA ist das Stiftungsrecht sehr viel großzügiger als hier, weil der Begriff der Gemeinnützigkeit viel weiter gefasst wird. Da können Sie für die Erhaltung der Fischgründe vor Alaska kämpfen, Golfplätze bauen oder Aids-Forschung unterstützen. Da man diese Ausgaben teilweise noch direkt von der Steuer abziehen kann, haben reiche Amerikaner dann selbst die Wahl: Baue ich einen Golfplatz oder zahle ich Steuern? Das finde ich völlig inakzeptabel. Es sind doch die Reichen, denen viel an einem starken, sicheren Staat liegt, weil sie am meisten zu verlieren haben. Dann müssen sie aber auch bereit sein, für die notwendigen staatlichen Aufgaben Steuern zu zahlen. Könnte es sein, dass sich diese Diskussion bald erübrigt, wenn die weltweit hohen Staatsschulden uns in eine noch heftigere Krise stürzen? Ich habe inzwischen den Eindruck, dass Politiker und Sachverständige selbst nicht wissen, wie wir aus dieser Krise herauskommen sollen. Das beunruhigt mich zutiefst. Meines Erachtens brauchen wir in Europa neben der gemeinsamen Währung auch ein einheitliches Steuersystem. Anders lässt sich der Euro nicht aufrechterhalten. Sollte die nächste Krise noch heftiger ausfallen, gerät unser gesamtes Wirtschaftssystem in Gefahr. Vielleicht realisieren die Staats- und Regierungschefs der G 20 dann endlich, was die Stunde geschlagen hat, und reformieren einheitlich das Finanz- und Steuersystem. Vielleicht gehen Sie selbst in die Politik. Ich bin politisch sehr stark engagiert, investiere sehr viel Zeit und eigenes Geld für das Projekt „Schulen für Afrika“, das ich zusammen mit Nelson Mandela und Unicef ins Leben gerufen habe. Es ist die weltweit wichtigste Privatinitiative im Bildungssektor. Demnächst weihen wir unsere 1000. Schule ein. Bildung ist der Schlüssel zur Demokratisierung. Für deutsche Parteipolitik bin ich aber zu ungeduldig. Es würde mich aber reizen, Spitzenpolitiker in gesellschaftspolitischen Fragen zu beraten, weil die Gerechtigkeitsdebatte das zentrale Thema der kommenden Jahre sein wird. Peter Krämer ist ein Hamburger Reeder und Millionär, der sich für eine gerechtere Verteilgung der Finanzen in Deutschland und Europa einsetzt. Er plädiert für eine höhere Besteuerung der Reichen und ist Mitbegründer der Hamburger Gesellschaft zur Förderung der Demokratie und des Völkerrechts e. V. Seine Schiffe benennt er nach Widerstandskämpfern Das Interview führte Til Knipper
Die Staaten werden ärmer, die Reichen immer reicher. Peter Krämer, Reeder aus Hamburg, will das ändern
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wirtschaft
2012-11-17T10:29:53+0100
2012-11-17T10:29:53+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/hamburger-reeder-peter-kraemer-kampf-dem-feudalismus/52542
Brüderle-Debatte - Eine journalistische Kurvendiskussion
Der Sinn einer Debatte besteht darin, dass die Teilnehmer ihre Argumente austauschen und hinterher schlauer sind als vorher. Wird die Debatte öffentlich geführt, entstehen – ökonomisch gesprochen – positive externe Effekte, weil die Zuschauer sämtliche von den Debattenteilnehmern angeführten Argumente auf sich wirken lassen können und danach ebenfalls schlauer sind als zuvor. Bei der überaus öffentlich geführten „Brüderle-Debatte“ haben wir es dagegen mit einem Meinungsaustausch der besonderen Art zu tun, denn die Auslöser der Debatte haben sich selbst entweder gar nicht (Brüderle) oder von Anfang an total abwiegelnd (Stern-Reporterin) an ihr beteiligt. Deswegen frage ich mich, ob man in diesem Fall tatsächlich von „Debatte“ sprechen sollte, oder ob nicht ein anderer Begriff für so etwas gefunden werden muss. Zum Beispiel „Debatte zweiten Grades“ oder noch besser: „Erste Ableitung einer Debatte“. Das klingt zugegebenermaßen etwas kompliziert, aber das Leben ist ja auch nicht immer ganz einfach – besonders, wenn Männer und Frauen mit im Spiel sind. Die Ableitung ist ein Terminus aus der Differenzialrechnung und entspricht geometrisch der Tangentensteigung einer Funktion. Die Funktion ist also in gewisser Weise die Ausgangsgrundlage; in der hier zu untersuchenden Causa handelt es sich um das Geplänkel zwischen einem FDP-Politiker (Achtung, negatives Vorzeichen!) und der Journalistin eines Massenblatts (mathematisch interessant wegen des sogenannten Stern-Multiplikators) zu vorgerückter Stunde in einer Stuttgarter Hotelbar. Das Koordinatensystem besteht aus den Maßeinheiten „Alkoholkonsum“ auf der Abszisse (auch „Brüderle-Achse“ genannt) sowie „Anquatschbereitschaft“ auf der Ordinate (in Wissenschaftskreisen als „Himmelreich-Linie“ bekannt). Der Verlauf des Hotelbar-Geplänkels lässt sich nun als eine Kurve abbilden, die mit zunehmender Anquatschbereitschaft und steigendem Alkoholkonsum eine mutmaßlich konkave Krümmung zeigt (Fachleute bezeichnen dies als den „Dreikönigs-Pfad“). So weit noch alles klar? Gut. Nächste Seite: Je steiler, desto geiler Im nächsten Schritt picken wir uns irgendeine besonders steil anmutende Stelle auf dem sogenannten Dreikönigs-Pfad heraus – beispielsweise jenen Moment, in dem der FDP-Politiker während seines Gesprächs mit der Stern-Reporterin darüber räsonniert, ob sein Gegenüber „auch ein Dirndl ausfüllen“ könne. Wenn man an diesen Dirndl-Punkt eine Tangente legt, ist es eigentlich schon vollbracht: Angelehnt an ein albernes Hotelbar-Gespräch (dargestellt durch eine Kurve), beschreibt diese Gerade den exakten Verlauf der aufgeregten Brüderle-Debatte (die, wie wir jetzt gelernt haben, gar keine echte Debatte ist, sondern nur der entsprechende Differenzialquotient). Im debattenaffinen Journalismus ist die Bezeichnung „Tangente­“ denn auch sehr geläufig: Man meint damit – grob gesagt – die Kunstfertigkeit, aus einem beliebigen Ereignis ­irgendwelche Massenphänomene abzuleiten. Wenn sich etwa herausstellen sollte, dass ein Spitzenpolitiker mit seiner Sekretärin fremdgeht, lautet die journalistisch korrekte Ableitung: „Volkskrankheit Seitensprung – Warum wir nicht mehr treu sein können“. Benimmt sich beispielsweise ein berühmter Filmschauspieler in der Öffentlichkeit mal daneben, weil er zu viel getrunken hat, ergeben sich gleich mehrere Optionen: „Rüpelrepublik Deutschland“ oder „Alkohol – die geheime Droge der Stars“, um nur zwei Varianten zu nennen. Was den Neigungswinkel der Tangente angeht, gilt der einfache Grundsatz: je steiler, desto geiler. Daraus wird zwar am Ende niemand klüger, aber immerhin ein gewisser Unterhaltungswert ist der Brüderle-„Debatte“ nicht abzusprechen. Ob das deren Namensgeber genauso sieht, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Alexander Marguier
Worum handelte es sich bei der Sexismus-Diskussion um Rainer Brüderle eigentlich? Eine „Debatte zweiten Grades“ oder besser noch: Die „erste Ableitung einer Debatte“? Eine Kurvendiskussion zwischen „Brüderle-Achse“, „Himmelreich-Linie“ und „Dirndl-Punkt“
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innenpolitik
2013-04-14T10:40:20+0200
2013-04-14T10:40:20+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/bruderle-debatte-eine-journalistische-kurvendiskussion/54133
Thomas de Maizière - Wenn Blut die Journalisten lockt
Die Fährte wird deutlicher. Das Opfer verliert Blut, mehr Blut. Die Wunden sind jetzt klarer zu erkennen. Aber es gibt sich kräftig, lebenswillig. Das liegt nicht zuletzt an der Leitwölfin. Sie kann sich kein angeschlagenes Herdentier erlauben, nicht in dieser Situation, in der ihr die anderen auf den Fersen sind. Angela Merkel ist noch lange nicht so weit, dass sie ihrem Verteidigungsminister Thomas de Maizière das so gefürchtete Vertrauen ausspricht. An ihrer vorsichtigen Formulierung erkennt man die Stoßrichtung:  Thomas de Maizière nähme sich lediglich die notwendige Zeit, um dem Bundestag „eine möglichst umfassende Übersicht über den Sachverhalt geben zu können“, sagte sie jüngst dem Spiegel. Es geht immerhin um mehrere Hundertmillionen Euro, es mussten schon Minister für kleinere Vergehen ihren Hut nehmen. Gäbe es den „Straftatbestand der Veruntreuung von Steuergeldern“, de Maizière hätte sich sicher schuldig gemacht, kommentierte Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke vor einigen Tagen. Dass der haushaltspolitische Sprecher der SPD, Carsten Schneider, nach der Linken jetzt auch den Rücktritt des Verteidigungsministers fordert, ist da nicht verwunderlich. De Maizière aber gibt sich selbstsicher und deutlich: Angeschlagen sei er, ja. Aber er hege keinen Gedanken an etwaige Rücktritte – zumindest nicht in Bezug auf seine Person. Dabei ist die Nummer mit dem Rücktritt für de Maizière kein Schreckgespenst. Tatsächlich hatte der jetzt in Bedrängnis Geratene noch vor einem Jahr erklärt, dass man Folge zu leisten habe, „wenn die Bundeskanzlerin einen Minister um seinen Rücktritt bittet“. Damals ging es um den bockigen Norbert Röttgen, der sich noch ein paar Tage an sein Amt als Bundesumweltminister klammerte, bevor die Kanzlerin ihn gekonnt des Platzes verwies. Noch hat die Jagd auf de Maizière nicht begonnen, noch knurren die Hunde lediglich an den Leinen. Jeder, der ein solches Amt innehat, wisse, dass es nur ein Amt auf Zeit ist. Das erziehe hoffentlich alle Beteiligten zu einer gewissen Demut, hat de Maizière einmal gesagt. [gallery:Kleine Bildergeschichte der Minister-Rücktritte aus 63 Jahren Bundesrepublik] Es sind Sätze wie diese für die Medienvertreter den trocken-unaufgeregten Minister respektieren. Sie haben Skrupel, anzugreifen. Vielleicht sind sie auch müde. Es waren viele Treibjagden in den vergangenen Monaten. Guttenberg, Wulff, Brüderle, Schavan. Es ist nicht schön, ständig Blutgeschmack am Maul zu haben. Man ist es auch irgendwann leid. Thomas de Maizière startet mit einem kräftigen blauen Auge in die neue Woche. Gleich am Montag wird er im Verteidigungsausschuss befragt. Die Opposition wird weiter versuchen, Merkels angeschlagenen Wolf vom Rudel zu isolieren und in die Enge zu treiben. Wenn er weiter Blut verliert, wird die Journalistenschar die Fährte aufnehmen. Sie kann nicht anders, es übernimmt der Instinkt. Dann geht sie los, die Jagd. Vielleicht aber kommt ihr Opfer noch einmal davon und kann seine Wunden umringt von seinen Herdenmitgliedern lecken. Die Meute zieht weiter.
Marie Amrhein
Thomas de Maizière ist angeschlagen, er verliert Blut. Aber noch ist der Jagdinstinkt der Journaille nicht geweckt
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innenpolitik
2013-06-09T11:00:02+0200
2013-06-09T11:00:02+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/thomas-de-maiziere-wenn-blut-die-journalisten-lockt/54643
Julian Assange - Gericht genehmigt Berufungsantrag des Wikileaks-Gründers
Im juristischen Tauziehen um den Wikileaks-Gründer Julian Assange hat sich am heutigen Montag entschieden, ob der Rechtsstreit um seine Auslieferung in die USA in die nächste Instanz geht. Der High Court in London teilte am Vormittag mit, dass er der Argumentation von Assanges Anwälten folgt, die vor den britischen Supreme Court ziehen wollen, und damit dem Berufungsantrag zustimmt. Nun muss der Supreme Court entscheiden, ob eine Auslieferung Assanges an die US-Behörden rechtmäßig wäre. Assanges Verlobte, Stella Moris, wollte eine persönliche Erklärung abgeben. Die US-Justiz will Assange wegen Spionagevorwürfen den Prozess machen. Dem gebürtigen Australier drohen dort bei einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft. Vorgeworfen wird ihm, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen und veröffentlicht und damit das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Seine Unterstützer sehen in ihm dagegen einen investigativen Journalisten, der Kriegsverbrechen ans Licht gebracht hat. Der 50-Jährige sitzt seit mehr als zwei Jahren im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Haft. Zu Beginn des Jahres hatte ein britisches Gericht die Auslieferung Assanges in die USA mit Blick auf seine psychische Gesundheit untersagt. Die USA hatten entsprechende medizinische Gutachten jedoch angezweifelt, Berufung eingelegt und damit auch Erfolg gehabt. Ein Berufungsgericht hatte das Auslieferungsverbot im vergangenen Dezember aufgehoben. Diese Entscheidung will Assange nun beim obersten britischen Gericht, dem Supreme Court, überprüfen lassen. Assanges Angehörige, vor allem seine Verlobte, machen sich Sorgen um seine Gesundheit. Bislang stand sein psychisches Wohlergehen im Vordergrund, doch die Situation scheint ihm auch immer stärker körperlich zuzusetzen. Kurz nach dem jüngsten Urteil teilte Moris mit, Assange habe einen kleinen Schlaganfall erlitten. (Quelle: dpa)
Cicero-Redaktion
Seit Monaten kämpfen die USA vor britischen Gerichten um die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange. Der Londoner High Court hat am heutigen Montag eine wegweisende Entscheidung getroffen. Jetzt geht der Fall bis vor den Supreme Court.
[ "Julian Assange", "Wikileaks", "Whistleblower" ]
außenpolitik
2022-01-24T12:13:46+0100
2022-01-24T12:13:46+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/julian-assange-high-court-berufungsantrag-wikileaks-whistleblower
Google-Urteil - Recht auf Vergessenwerden ist Erinnerungsverbot
Sie haben in Ihrer Vergangenheit Dinge getan, oder Meinungen vertreten, auf die Sie heute nicht unbedingt stolz sind? Macht nichts. Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes können Sie nun Google dazu zwingen, missliebige öffentliche Informationen über Sie aus dem öffentlichen Gedächtnis zu streichen, ganz egal, ob diese nun wahr oder falsch sind. Der EuGH nennt das „Schutz der Privatsphäre“. Ich nenne das „Leitfaden für die digitale Erstellung geschönter Bastelbiographien“. Denn was ist es anderes, wenn Menschen sich künftig ihrer öffentlich dokumentierten Vergangenheit entweder komplett entledigen oder sie aber so umgestalten können, dass sie ihnen heute gefällt? Wie gerne hätte Norbert Blüm sich auf so elegante Weise seiner ihm bis heute nachhängenden Aussage, die Renten seien sicher, entledigt? Oder Anton Hofreiter seiner Wahlkampfaussagen zur Steuerehrlichkeit? Historische Beispiele gibt es zuhauf: In Stalins Sowjetunion wurden zahlreiche Fotografien im Nachhinein korrigiert, weil sie Menschen zeigten, die in Wirklichkeit gar nicht da waren. Nun ist so etwas keine Geschichtsfälschung mehr, sondern ein vom EuGH verbriefter Sieg für die Bürgerrechte. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ein passionierter Anhänger des Schutzes der Privatsphäre, und ich wehre mich nachdrücklich gegen jede unzulässige Form der Einmischung der Öffentlichkeit oder des Staates in das Privatleben von Menschen. Und natürlich sind Veröffentlichungen unvorteilhafter Fotografien in sozialen Netzwerken bestenfalls peinlich und schlimmstenfalls rufschädigend, gerade angesichts der Neugier vieler Unternehmen, die insbesondere bezüglich eigener Belegschaften oder potenzieller Mitarbeiter schon jetzt oftmals den Schutz der Privatsphäre missachten. Die Privatsphäre vor solchen Übergriffen zu schützen, ist dringend notwendig. Hierzu ist es aber sinnvoll, sich erst einmal darüber klar zu werden, was eigentlich „privat“ und „öffentlich“ bedeutet, gerade heute, wo diese Unterscheidung immer stärker verwässert wird. Wenn ich öffentlich handele oder etwas sage, so ist das eben keine Privatangelegenheit mehr, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Dies ist manchmal für die betreffende Person unangenehm, aber manchmal ist es dennoch richtig. Wenn jede Woche auf Facebook Fotos von mir veröffentlicht würden, die mich in öffentlichen Saufgelagen oder ähnlichen Situationen zeigen, so wäre das sicherlich für mich ein Problem. Ich kann diese Gefahr aber dadurch minimieren, dass ich mich nicht in solche Situationen bringe. Wäre ich dazu nicht in der Lage, läge die Schuld nicht allein bei der zu neugierigen Öffentlichkeit. Alles, was öffentlich geschieht, geht die Öffentlichkeit etwas an. Das ist die Grundlage, auf der die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum überhaupt Sinn macht. Der EuGH gibt mir nun das Recht, die Öffentlichkeit gewissermaßen per Mausklick wissen zu lassen, dass ich Sachen, die ich einst öffentlich gesagt oder getan habe, in Wirklichkeit gar nicht gesagt oder getan habe. Das Gericht bezeichnet das als das „Recht auf Vergessenwerden“ – ich nenne das „Erinnerungsverbot“. Jeder Mensch bekommt nun die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu „blitzdingsen“, wie es die „Men in Black“ in den gleichnamigen Filmen tun, um die Öffentlichkeit vor unangenehmen Wahrheiten zu beschützen. Natürlich ist es heute chic, Google anzugreifen. Wenn Google meine privaten Daten ohne meine Zustimmung für eigene Zwecke nutzt, so ist die Kritik daran völlig berechtigt. Doch interessanterweise geht es in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes gar nicht darum, nicht-öffentliche Daten von Menschen vor fremdem Zugriff zu schützen. Wäre das das Ziel, gäbe es viele Baustellen und gängige Praktiken, deren Bearbeitung viel zielführender wäre als die Maßregelung von Google. Stattdessen aber zwingt das Gericht Suchmaschinen nun dazu, Informationen, die zu Recht öffentlich zugänglich sind, auf Wunsch nicht mehr anzuzeigen und somit dem kollektiven Vergessen zu überantworten. Wir haben es also nicht mit dem grundsätzlich zu begrüßenden Schutz der Privatsphäre zu tun, sondern mit einer Beschneidung von legitimen Informationsrechten der Öffentlichkeit. Aber auch noch in einer anderen Hinsicht wirft das Urteil Fragen und Probleme auf: Wenn ich öffentlich handele oder meine Meinung sage, muss ich mir der Tatsache bewusst sein, dass dies Konsequenzen hat, manchmal auch solche, die ich vielleicht vorher nicht absehen kann. Andererseits bezwecke ich mit meinem öffentlichen Handeln aber auch etwas, ich beeinflusse ja nicht nur mein eigenes Leben, sondern auch das Leben anderer – ganz gleich, ob ich einen Artikel schreibe, mich in der U-Bahn daneben benehme, eine Bank ausraube oder sonst etwas tue. Deswegen hat öffentliches Agieren auch etwas mit Ernsthaftigkeit und auch damit zu tun, dass ich Verantwortung übernehmen muss und entsprechend auch zur Verantwortung gezogen werden kann. Auch deswegen ist das heute vielfach festzustellende Verschwimmen von „öffentlich“ und „privat“ so gefährlich. Ich habe das Recht, mich in meiner Privatsphäre wie ein Hampelmann aufzuführen, ohne mich dafür öffentlich rechtfertigen oder erklären zu müssen. Ich darf das natürlich auch in der Öffentlichkeit, jedoch hat diese dann ebenso das Recht, mein Verhalten zu kommentieren und ihre eigenen Rückschlüsse daraus zu ziehen. Anstatt aber diese Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit im Hinblick auf die Verantwortung des Einzelnen stärker zu betonen, verwischt das EuGH-Urteil diesen Unterschied: Es deklariert also nicht nur rechtmäßiges öffentliches Wissen über eine Person zu ihrer Privatsache, sondern es untergräbt die hohe Relevanz verantwortlichen öffentlichen Agierens – und damit letztlich die gesellschaftliche Bedeutung von Öffentlichkeit. Es ist ein hohes soziales und auch demokratisches Gut, dass die Öffentlichkeit in der Lage ist, sich auf Basis von zu Recht öffentlichen Informationen ein eigenes Bild von der Realität zu machen, von gesellschaftlichen Zusammenhängen wie auch von Personen. Opferten wir diese Meinungsbildung nun aber einem falsch verstandenen Schutz der Privatsphäre, würde dies die Basis für das gesellschaftliche Funktionieren im Großen wie im Kleinen gefährden. Wenn künftig sowohl Gesellschaften als auch Individuen mit getunten und geschönten Bastelbiographien bar jeder Realität hantierten und kritisches Nachfragen Gefahr liefe, als Bedrohung der Privatsphäre eingestuft zu werden, verlören wir jede Grundlage für das Entstehen von Vertrauen, sowohl öffentlich als auch privat. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ sagt in der Regel jemand, der sich nicht ernst nimmt. Wenn aber niemand mehr für seine eigene Vergangenheit, seine tatsächliche Biographie und sein „Geschwätz von gestern“ geradestehen müsste, bräuchte sich auch niemand mehr ernstzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. Da aber die Privatsphäre nicht privat, sondern nur in der Öffentlichkeit verteidigt werden kann, entstünde ein doppelter Schaden.
Matthias Heitmann
Google zu zwingen, den Zugang zu öffentlichen Informationen zu unterbinden, schützt nicht die Privatsphäre, sondern erklärt Öffentlichkeit zur Privatsache und Wahrheit zur Streich- und Wunschliste
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kultur
2014-05-17T10:42:54+0200
2014-05-17T10:42:54+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/google-urteil-was-kuemmert-mich-mein-geschwaetz-von-gestern/57584
100 Jahre polnische Unabhängigkeit - Fest des Zwiespalts
„Noch ist Polen nicht verloren.“ Die bekannten Anfangszeilen der polnischen Nationalhymne, die 1797 als Kampflied der polnischen Legionen in Italien entstanden, werden am Sonntag im ganzen Land erklingen. An diesem 11. November feiert Polen den 100. Jahrestag der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Ein Ziel, für das sie in mehreren Aufständen einen hohen Blutzoll bezahlten und mit dem Ende des 1. Weltkrieges nach 123 Jahren endlich erreichten. Das Ende des vier Jahre andauernden Gemetzels war für die Polen auch das Ende der Fremdherrschaft durch das Russische Reich, das Deutsche Kaiserreich und die österreichische Habsburgermonarchie, die Polen im 18. Jahrhundert stückweise wie einen Kuchen unter sich aufgeteilt hatten. Doch wer glaubt, dass dieser 100. Jahrestag ein harmonisches Fest ist, der irrt. Davon konnten sich sogar die Berliner Ende Oktober selbst überzeugen. Bei einem Konzert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt riefen plötzlich vier Personen „Konstytucja – Verfassung“. Was war geschehen? Das Konzert war von der polnischen Botschaft organisiert worden, im Beisein von Staatspräsident Andrzej Duda und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Als Duda zu seiner Rede ansetzen wollten, protestierten die Vier gegen die Justizreformen der Regierung, mit der die Verfassungsrichter entmachtet wurden. Als Reaktion auf die Protestaktion riefen Anhänger der nationalkonservativen Regierung in Warschau den Namen des polnischen Präsidenten. Es war ein Eklat, der nicht nur viel aussagt über die politische Situation in Polen, sondern auch über die Stimmung rund um den 100. Jahrestag. Das eigentlich freudige Ereignis wird überschattet von einem politischen Disput, bei dem mittlerweile so tiefe Gräben entstanden sind, dass die politische Elite des Landes den Jahrestag nicht mal gemeinsam begehen kann. Bei den offiziellen staatlichen Feierlichkeiten bleiben die Vertreter der regierenden Nationalkonservativen unter sich. Lediglich Donald Tusk, ehemaliger Ministerpräsident und heutiger EU-Ratspräsident, der sich seit Jahren in einem schon fast hasserfüllten Zwist mit der PiS befindet, wird am Sonntag bei einem Staatsakt vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten in Warschau einen Kranz niederlegen. Andere namhafte Vertreter der Opposition wie der heutige Vorsitzende der Bürgerplattform, Grzegorz Schetyna, begehen den Tag bei unterschiedlichen Veranstaltungen im ganzen Land verteilt. Dabei riefen sowohl Staatspräsident Duda als auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bereits vor Monaten alle politischen Parteien dazu auf, diesen Tag gemeinsam zu begehen. „Lasst uns gemeinsam unter der weiß-roten Flagge an dem Unabhängigkeitsmarsch teilnehmen", appellierte beispielsweise Andrzej Duda. Und es gab es auch tatsächlich Gespräche über einen gemeinsamen Unabhängigkeitsmarsch, wie Oppositionschef Grzegorz Schetyna vor einigen Wochen in einem Interview zugab. Dieser sollte jedoch von der Präsidialkanzlei gemeinsam mit nationalistischen Gruppen organisiert werden, was der Opposition verständlicherweise missfiel. Seit 2009 veranstalten die rechten Organisationen Allpolnische Jugend, das Nationalradikale Lager (ONR) und die Nationale Bewegung den Unabhängigkeitsmarsch, der vergangenes Jahr weltweit für Schlagzeilen sorgte. 60.000 Menschen zog die Veranstaltung an, bei der fremdenfeindliche und rassistische Symbole zu sehen und Parolen zu hören waren. Dass der Marsch so viele Teilnehmer hatte, ist auch der nationalkonservativen PiS geschuldet. Trotz der rechten Organisatoren, fremdenfeindlichen Parolen, rassistischen Symbolen und auch der Gewalt, die allesamt feste Bestandteile der ersten Unabhängigkeitsmärschen waren, verharmloste sie das Ereignis stets als einen „Marsch von Patrioten“. Damit trug sie dazu bei, dass diese Veranstaltung gesellschaftsfähig wurde und viele Menschen gemeinsam mit Rechtsradikalen marschierten. Erst jetzt, als die Präsidialkanzlei von den Organisatoren nicht die Garantie bekommen konnte, dass auf dem Marsch nur die weiß-roten Nationalfahnen zu sehen sein werden, distanzierten sich sowohl der Staatspräsident, die polnische Regierung als auch die PiS von dem Unabhängigkeitsmarsch. Trotzdem dominiert er die Schlagzeilen. Denn die Vorbereitungen waren chaotisch. Am Mittwoch untersagte das Warschauer Rathaus den Marsch zunächst. Als Reaktion beschlossen noch am selben Tag Staatspräsident Duda und Ministerpräsident Morawiecki, dass auf der Trasse des Unabhängigkeitsmarsches ein staatlicher „Weiß-Roter Marsch“ unter der Schirmherrschaft des Präsidenten stattfinden solle. Am Donnerstagabend kippte jedoch ein Gericht die Entscheidung des Rathauses. Nun besteht die Gefahr, dass am Sonntag der von Rechten organisierte Unabhängigkeitsmarsch mit dem staatlichen „Weiß-Roten Marsch“ kollidiert. Manche Experten fürchten gar gewalttätige Ausschreitungen, welche den 100. Jahrestag überschatten könnten. Es wäre jedoch zu einfach, die fehlende Bereitschaft, diesen besonderen staatlichen Feiertag gemeinsam zu begehen, nur auf den umstrittenen Unabhängigkeitsmarsch zurückzuführen. Auch die aktuelle Politik der PiS mit ihrer umstrittenen Justizreform, die eine Gefahr für die Rechtstaatlichkeit bedeutet, dem Umbau der öffentlich-rechtlichen Medien in ein Propagandaorgan der PiS und die EU-Politik der nationalkonservativen Regierung, die nach Ansicht vieler Experten sogar zu einem „Polexit“ führen könnte, spielen eine Rolle. Noch mehr aber sind es die offenen Animositäten und verletzten Eitelkeiten, die ein gemeinsames Feiern des Jahrestages unmöglich machen. Der politische Streit zwischen der nationalkonservativen PiS und der wirtschaftsliberalen Bürgerplattform, den dominierenden politischen Parteien, wird seit 2005 so erbittert geführt, dass zwischen beiden Seiten nur noch offener Hass herrscht. Angefangen mit dem „Opa aus der Wehrmacht“, mit dem die PiS im Präsidentschaftswahlkampf 2005 Donald Tusk zu diskreditieren versuchte und aufhörend bei den „PiSlamisten“, wie die Bürgerplattform und ihr nahestehende Medien über Jahre die Nationalkonservativen beschimpften. Es ist ein „polnisch-polnischer Krieg“, der sich nicht nur auf die politischen Eliten beschränkt. Der politische Streit führte zu einer Spaltung der Gesellschaft, die bis tief in die Familien reicht. Bekanntestes Beispiel dafür sind die Brüder Jaroslaw und Jacek Kurski. Während Jaroslaw stellvertretender Chefredakteur der linksliberalen Gazeta Wyborcza ist, wurde Jacek Kurski, der sich in der Vergangenheit als „Bullterrier Kaczynskis“ schimpfte, mit dem Wahlerfolg der PiS 2015 Intendant des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVP. Und solche Fälle finden sich in zig anderen polnischen Familien. Doch die Chance, den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit zumindest als Zeichen der Annäherung für die zerstrittenen Familien und die gespaltenen Gesellschaft gemeinsam zu begehen, haben die politischen Eliten versäumt.
Thomas Dudek
Polen feiert an diesem Sonntag den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch darüber, wie der Tag begangen werden soll, ist die Politik tief zerstritten. So wird eine große Chance vertan, die gespaltene polnische Gesellschaft zu versöhnen
[ "Polen", "Unabhängigkeit", "Marsch", "Andrzej Duda", "Warschau" ]
außenpolitik
2018-11-09T18:34:57+0100
2018-11-09T18:34:57+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/polen-unabhaengigkeit-marsch-andrzej-duda-warschau
Kurt Krömer – „Ich würde überall dort rauchen, wo es verboten ist“
Na jut. 24 Stunden also. Ganz klar. Ich würde überall dort rauchen, wo es verboten ist. Und ich würde spazieren gehen. Im Grunewald. Den Tag, den ich dann noch zu leben hätte, möchte ich für mich haben. Teilweise würde ich den Leuten gar nichts sagen. Die Mitleidsschiene brauch ich nicht. Was mir auf den Sack gehen würde, wären Leute, die sagen, „Oh, dit is ja traurig. Kieck ma, 17 Stunden noch, ach dit is ja schade, wa? Wir leben alle weiter und du musst jehn.“ Nein. Ich würde all das machen, was man nicht machen darf: So richtig viel essen, viel saufen, mit dem Auto übern Ku’damm fahren. Ich hab ja keinen Führerschein. Also alles auf die Spitze treiben. Obwohl. Vielleicht sollte ich nicht ganz so viel trinken, sonst vergisst man ja wieder alles. Und dann vergesse ich vielleicht, dass ich nur noch 15 Stunden zu leben hätte, und am Ende verpasse ich dann den eigenen Tod. In meine letzte Sendung würde ich all die Leute einladen, die bis jetzt nicht gekommen sind. Denen würde ich sagen: „Ick hab nur noch einen Tag zu leben und denn muss ick qualvoll sterben. Können Se nich kommen, Herr ­Adorf.“ Oder Udo Lindenberg. Ich würde sagen: „Udo, komm ma morgen, ick hab nich mehr so lang.“ Nach der Show würden wir dann einen trinken gehen. Zwei große Bier und dann vom Tresen fallen. „Lasst mich liegen, trinkt weiter uff mein Wohl!“, würde ich rufen. Und die Rechnung bliebe auch aus. Vielleicht könnte ich mich auch mit Heinz Buschkowsky versöhnen. Meine Harmoniebedürftigkeit würde vermutlich durchschlagen. Obwohl. Er hat ja angefangen, mich zu beleidigen. Für sein gutes Gewissen würde ich es tun. Nicht, dass er am Ende von meinem Tod aus der Zeitung erfährt und sich sagt: „Mensch, der Krömer, mit dem hatte ich mich doch gestritten und jetzt isser tot. Mensch, hätt ick mal …“ Ich würde in sein Büro gehen, ihm die Hand reichen und sagen: „Buschkowsky, ick nehm dit uff meene Kappe, es war meine Schuld, ick entschuldige mich in aller Form bei Ihnen.“ Beim Rausgehen würde ich dann denken, was ich für den Blödmann alles gemacht habe, das geht auf keine Kuhhaut, und dann treff ich mich mit Udo. Davon darf Buschkowsky aber nichts erfahren. Wie viele Stunden hab ick noch? Oh. Ich würde noch mal gern jemanden zusammenschlagen, mal so richtig ohrfeigen. Ich prügele mich ja nie. Einmal rausfinden, wie das ist. Am besten in meiner Sendung. Und die Intendantin sagt dann: „Ab morgen können Sie sich einen neuen Arbeitsplatz suchen, Herr Krömer.“ Es müsste auf jeden Fall einer sein, der es verdient hat. Einer, bei dem alle sagen: Jawohl. Es dürfte auch niemand sein, der einen Kopf kleiner ist. Und es müsste jemand sein, bei dem man weiß, wenn man den schlägt, dann ist dit übel … Aber den Namen nehme ich mit ins Grab. Echt. Man muss, auch wenn man tot ist, noch Geheimnisse haben. Ich schreibe den Namen dann auf ein Zettelchen, der kommt in einen Umschlag, den ich in der ausgestreckten Hand halte. Und dann geht die Kiste zu. Klappe zu, Affe tot. Aufgeschrieben von Timo Stein
Klappe zu, Affe tot: Warum sich Komiker Kurt Krömer vor seinem Tod noch  mit Heinz Buschkowsky versöhnen würde
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kultur
2012-10-07T10:49:20+0200
2012-10-07T10:49:20+0200
https://www.cicero.de//kultur/die-letzten-24-stunden-kurt-kroemer-mensch-haett-ick-mal/52030
Konjunkturprognose des ifo-Instituts - Der Ausblick für 2021 ist schlechter als erwartet
Alle Vierteljahre wieder kommt das ifo-Institut. Das Münchener Wirtschaftsinstitut veröffentlicht einmal im Quartal seine Konjunkturprognose für die deutsche Volkswirtschaft. Anlässlich des nahenden Jahresendes wurde heute Bilanz für 2020 gezogen und ein Ausblick auf 2021 gewagt. Vor allem dieser Ausblick auf 2021 ist es, der vielen die Laune vermiesen dürfte. Eigentlich hatte man bisher gehofft, dass 2021 das Jahr der Erholung nach dem Negativ-Jahr 2020 wird, doch auch für das nächste Jahr musste die Prognose stark nach unten korrigiert werden. Für seine Wirtschaftsprognosen betrachtet das ifo-Institut die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Die gern als BIP abgekürzte Wirtschaftszahl ergibt sich aus der Summe des privaten Konsums aller Haushalte, den Staatsausgaben, den Investitionen der Unternehmen und der Differenz aus Export und Import. Die letzte Konjunkturprognose aus dem September lief noch unter dem Titel „Herbst 2020: Deutsche Wirtschaft weiter auf Erholungskurs“. Jetzt heißt es: „Winter 2020: Das Coronavirus schlägt zurück“. Wegen des Lockdown-Light im November sei die konjunkturelle Erholung, die davor langsam begann, wieder im Keim erstickt worden. Der harte Weihnachtslockdown floss noch nicht einmal komplett in die Betrachtung ein. Die Lasten des Corona-Einbruchs waren dabei alles andere als „fair“ verteilt. Während die Industrie stabil arbeiten konnte und kaum betroffen war, ist die Wertschöpfung im Gastgewerbe und bei sonstigen Dienstleistern um zweistellige Prozentraten eingebrochen. Dass die privaten Haushalte ihren Konsum nicht noch stärker gesenkt haben, sei übrigens auf die temporär gesenkte Mehrwertsteuer zurückzuführen. Diese habe bei Verbrauchern längerfristig angelegte Kaufentscheidungen wie etwa größere Elektronikgeräte spürbar nach vorne gezogen. Alles in allem ergibt sich für dieses Jahr ein Einbruch der Wirtschaftsleistung um 5,1 Prozent. Dieser Wirtschaftseinbruch wurde bereits im Herbst ziemlich genau prognostiziert. Allerdings musste die Prognose für das folgende Jahr stark nach unten korrigiert werden. Hatte man im Herbst noch damit gerechnet, dass die Corona-Delle im im kommenden Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 5,1 Prozent wieder ausgeglichen werden kann, geht man mittlerweile nur noch von einem Wachstum von 4,2 Prozent in 2021 aus. Die Prognose wurde damit um fast einen Prozentpunkt nach unten korrigiert. Was nach wenig klingt, sind jedoch bei großen Volkswirtschaften wie etwa der deutschen schnell zweistellige Milliardenbeträge. Ein kleiner Lichtblick dürfte immerhin sein, dass die Prognose für 2022 entsprechend nach oben korrigiert wurde. Die Wirtschaftswissenschaftler gehen also davon aus, dass die Erholung lediglich verschoben wurde. Auch die Arbeitslosenquote soll erst 2022 wieder sinken, nachdem sie dieses und nächstes Jahr mit 5,9 Prozent hoch liegen wird. Ein Wirtschaftseinbruch um 5,1 Prozent hat historische Ausmaße und kommt glücklicherweise nur selten vor. Jedoch ist es auch kein Novum. Bereits in der Finanzkrise 2008/09 ist das BIP in Deutschland 2009 um 5,6 Prozent geschrumpft. Aufgrund der Zyklik unseres Wirtschaftssystems wird früher oder später auch zukünftig wieder ein vergleichbarer Einbruch kommen. Übrigens: Das ifo-Institut veröffentlicht regelmäßig eine Gegenüberstellung seiner Prognosen zu den später veröffentlichten amtlichen Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes. Dabei zeigt sich, dass der Prognosefehler bei kurzfristigen Prognosen häufig verschwindend gering ist. Längerfristige Prognosen wie die für 2022 sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu genießen. Die komplette Konjunkturprognose können Sie hier lesen.
Jakob Arnold
Das ifo-Wirtschaftsinstitut hat heute seine Konjunkturprognose veröffentlicht. Der Wirtschaftseinbruch für dieses Jahr fällt wie erwartet drastisch aus. Doch nun musste auch die Prognose für 2021 noch einmal stark nach unten korrigiert werden.
[ "Corona", "Konjunktur", "Wirtschaft" ]
wirtschaft
2020-12-16T16:05:09+0100
2020-12-16T16:05:09+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/corona-konjunktur-prognose-ifo-institut-einbruch-wachstum-2020
Ministeramt – Aus Müllers Schatten – AKK, die Neue fürs Saarland
Akten zeichnet sie mit „AKK“. Auch der örtliche Ableger der Bild-Zeitung in Saarbrücken verwendet lieber das politische Härte suggerierende Kürzel, zumal ihr Doppelname für Boulevardschlagzeilen nicht taugt. Annegret KrampKarrenbauer ist seit zwölf Jahren eine feste politische Größe im Saarland. Eine Frau, die hier fast jeder kennt. An der Seite ihres Förderers und Weggefährten Peter Müller ist die Arbeits- und Familienministerin zur beliebtesten Politikerin des kleinsten deutschen Flächen­lands aufgestiegen. Als Nachfolgerin des nach Karlsruhe strebenden saarländischen Ministerpräsidenten wird man die 48 Jahre alte Christdemokratin vom Sommer an auch bundesweit wahrnehmen – im „Reich“, wie Rest-Deutschland an der Saar auch 44 Jahre nach dem Beitritt zur Bundesrepublik immer noch genannt wird. Von dem sieben Jahre älteren Müller, aber auch von dessen Vorvorgänger Oskar Lafontaine hat die Politikwissenschaftlerin gelernt, zum richtigen Zeitpunkt den Mund aufzumachen und mit gezielten, manchmal auch provokanten Einwürfen in überregionalen Medien präsent zu sein. Allerdings will sie ihre Wortmeldungen etwa zur Reform der Hartz-IV-Gesetze „klug dosieren“. Nur um bundespolitische Aufmerksamkeit zu erregen, werde sie nicht den Platz in den Medien suchen. Wenn sie jedoch der Auffassung sei, „das Thema ist wichtig“, werde man von ihr hören. In der Bundespartei ist sie als stellvertretende Bundesvorsitzende der Frauen-Union schon seit Jahren gut vernetzt, sie gehört jedoch nicht zum sehr übersichtlichen „Girls camp“ von Angela Merkel und vermeidet, wie der Andenpaktbruder Peter Müller, eine allzu große Nähe zur Kanzlerin. Zuletzt wurde dies sichtbar in der Debatte über die Einführung einer Frauenquote in den Vorstandsetagen deutscher Unternehmen. Da warb AKK, wie ihre Parteifreundin Ursula von der Leyen, für eine gesetzlich verpflichtende Mindestbeteiligung von Frauen. Merkel hingegen schlug sich auf die Seite ihrer Familienministerin Kristina Schröder, die gegen eine „Zwangsquote“ ist und der Wirtschaft noch etwas Zeit einräumen will. Für die stets pragmatisch denkende Politikerin von der Saar kein Beinbruch. Besser eine „FlexiQuote“, die Chancen hat, auch von der FDP akzeptiert zu werden, als die bisherige, komplett freiwillige Lösung, die den verschwindend geringen Frauenanteil nicht gesteigert hat: „Hauptsache es gibt eine Quote.“ Die Tochter eines Sonderschulrektors aus Völklingen hat den Aufstieg an die Spitze ohne Quote, aber mit männlicher Hilfe geschafft. „Ich habe das Glück, einen Mann zu haben, der sehr familienorientiert ist.“ Mit ihm, einem Bergbauingenieur, traf sie Ende der achtziger Jahre nach der Geburt des ersten von drei Kindern – zwei Söhne und eine Tochter – eine Absprache, die auch heute noch in den meisten Familien Seltenheitswert hat: „Wer im Moment mehr verdient, geht ganztägig arbeiten.“ Nach dem CDUWahlsieg 1999 fand der im katholischen Saarland ungewöhnliche Rollenwechsel im Hause KrampKarrenbauer statt. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Parlamentarische Geschäftsführerin, in der sie souverän die CDU-Fraktion managte, stieg Müllers einstige persönliche Referentin 2000 zur ersten Innenministerin Deutschlands auf. Sieben Jahre führte sie das als klassische Männerdomäne geltende Ressort mit einem kommunikativen Führungsstil, gepaart mit Durchsetzungsstärke. 2007 wechselte sie auf Wunsch Müllers an die Spitze des neu zugeschnittenen Bildungsministeriums. Dieser Posten bescherte ihr als Vorsitzende der Kultusministerkonferenz eine willkommene Fortbildung in der Moderation schwieriger Führungsrunden. In der von ihr und Müller mit dem ausgebufften Grünen-Chef Hubert Ulrich eingefädelten „Jamaika“-Koalition übernahm die CDU-Frau das neue Querschnittsministerium für Arbeit, Familie, Prävention, Soziales und Sport. „Ich bin die Azubiene der Landesregierung“, scherzt die leidenschaftliche Karnevalistin im singenden Tonfall ihrer saarländischen Heimat über ihre drei Ausbildungsstationen zur künftigen Ministerpräsidentin. Zusammen mit Müller, der die junge Frau 1984 als seine Stellvertreterin in die Spitze der Jungen Union holte, hat sie die SaarCDU in dem strukturell sozialdemokratischen Bundesland auf einem sozial ausgerichteten Kurs gehalten. Es ist ein moderater Linkskurs mit konservativ-christlichen Einsprengseln, ohne den der Wahlsieg über die von Lafontaine geprägte SPD nicht möglich gewesen wäre. „Der politische Weg hat uns geprägt, wir haben unsere gemeinsamen Erfahrungen in der JU und in der Opposition gemacht.“ Die im Laufe der Jahre immer dominanter gewordene Stellung Müllers in der Saar-CDU hat seine Lieblingsministerin nie infrage gestellt: „Bei allem Freiraum, den ich bei Peter Müller im Kabinett hatte, war immer klar: Er ist der Chef.“ Das heißt aber nicht, dass sich Annegret KrampKarrenbauer als Geschöpf Müllers sieht, dem sie allein die Berufung zur designierten Regierungschefin verdankt. Selbstbewusst klingt es, wenn sie mit ironischem Understatement auf die Frage nach ihrer Qualifikation für das Amt antwortet: „Es hat ja einiges für mich gesprochen.“
Sie übernimmt das Steuer in Saarbrücken. Nach der Sommerpause löst Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ihren Förderer Peter Müller ab. Als seine Ministerin stieg die künftige Landeschefin zur beliebtesten Politikerin im Saarland auf.
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innenpolitik
2011-05-25T11:13:51+0200
2011-05-25T11:13:51+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/aus-mullers-schatten-%E2%80%93-akk-die-neue-furs-saarland/42001
Fünf-Sterne-Bewegung - Wahlsieg ohne Wirkung
Und wieder haben die unbelehrbaren Italiener nicht auf die guten Ratschläge der deutschen Korrespondenten gehört. Obwohl die Welt vor dem „italienischen Klamauk“ warnte und wusste, dass die Mehrheit der Italiener „einen schwierigen Aufbruch“ gar nicht wollte, Spiegel Online das Schreckgespenst der „Clowns an der Macht“ beschwor, angeführt von Chef-Clown Beppe Grillo („langhaarig, faltig, bärtig, meist vorsätzlich schlecht gelaunt und bekannt für unflätige, meist schreiend vorgetragene Reden, Parteigründer und oberster Chef im Hause“) und beschied, dass die Fünf-Sterne-Bewegung nicht regieren könne. Die Süddeutsche Zeitung die Gefahren beschwor, die vom „todernsten Geifer-Clown“ ausgehen und sich im SZ-Podcast einen Sieg von Renzis Partito Democratico (PD) wünschte. All das konnte nicht verhindern, dass es zum Triumph der Fünf-Sterne kam: Hochrechnungen zufolge wurde die Fünf-Sterne-Partei mit mehr als 32 Prozent zur stärksten Partei – und erreichte in Süditalien sogar mehr als 40 Prozent der Stimmen. Im Rechtsbündnis überrundete die von Matteo Salvini geführte Lega Berlusconis Forza Italia: Die Lega erreichte 18 Prozent, fünf Prozent mehr als die von einem senil wirkenden Berlusconi geführte Forza Italia. Salvini, der sich als Trump für Arme gerierte, wurde dafür belohnt, seine Partei auf Rechtskurs gebracht zu haben: Mit seinem Trump-artigen „Italien zuerst“ sprach er vielen Italienern aus der Seele. Renzis PD ist mit knapp 19 Prozent der Stimmen der Verlierer – weshalb selbst Renzis Hausblatt Repubblica spekuliert, dass die PD schnellstmöglich „entrenzisiert“ werden sollte – ungeachtet der Tatsache, dass die Süddeutsche Zeitung noch vor wenigen Tagen die großen Mühen lobte, mit der Renzis sozialdemokratische Partito Democratico Reformen in die Wege geleitet habe, wofür die Partei aber, wie es aussieht, leider, leider nicht von den italienischen Wählern belohnt wurde. Was jetzt passiert? Wenn alles mit rechten Dingen zugehen sollte, müsste Staatspräsident Sergio Mattarella der Fünf-Sterne-Partei einen Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Die aber ist denkbar schwierig. Dank des neuen Wahlrechts, das von der alten parlamentarischen Mehrheit durchgesetzt wurde, kommt nun wohl keine parlamentarische Mehrheit zustande. Keine Partei, nicht mal ein Parteienbündnis erreichte die vorgeschriebenen 40 Prozent. Operation gelungen – Patient tot. Jetzt wird gerechnet: Rein theoretisch könnten die Fünf-Sterne mit dem Erzfeind Partito Democratico eine Regierung bilden – falls sich die PD tatsächlich „entrenzisieren“ kann und zusammen mit der linken Splitterpartei „Frei und gleich“, die sich von Renzis PD abgespalten hat, zu einer Koalition mit den Fünf-Sternen bekennen sollte. Der Ableger besteht aus altbekannten Gesichtern, darunter der ehemalige Kommunistenchef Massimo D’Alema, seit über vierzig Jahren Berufspolitiker, der Silvio Berlusconi als „ernsthaften Reformator“ rühmte und als Ministerpräsident in schönster Eintracht mit ihm regierte. Er machte sich nützlich, indem er mit Berlusconi das Mafia-Kronzeugengesetz abschaffte, das ein Stachel im Fleisch der Mafia war – also auch nicht unbedingt die erste Wahl für die Fünf-Sterne. Außerdem: Warum sich ausgerechnet mit den Verlierern zusammentun? Es bleibt spannend. Auch was die deutsche Berichterstattung darüber betrifft. Denn das Italien-Bashing deutscher Qualitätsmedien hat eine lange Tradition und wird so schnell nicht aufgegeben werden. Schon als 2013 gewählt wurde, ging der Ausspruch von Kanzlerkandidat Peter Steinbrück durch die Presse: Er zeigte sich entsetzt, dass in Italien „zwei Clowns gewonnen haben“. In der FAZ war zu lesen: „Wir alle wollen nur stabile Verhältnisse in Italien und, frei nach Schäuble, Politiker, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Und wenn nicht, dann sind sie halt Clowns“. Ähnlich erschüttert kommentierte damals der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die italienischen Wahlen in der Welt: „Es fällt schwer, in diesem Ergebnis die Klugheit des Wählers zu erkennen.“ Ja, die Klugheit, die Klugheit! Verflixt und zugenäht! Offenbar ist sie nur in deutschen Köpfen zu finden, vor allem in den Köpfen der Leitartikler und Kommentatoren. Wir Deutschen sind ja bekanntlich die besseren Italiener, weshalb nicht erstaunt, dass zwei deutsche Korrespondenten namens Tobias und Udo seit den Zeiten der Eurokrise zu Stammbesetzung in italienischen Talkshows zählen, wo sie mit Ratzinger-Akzent (wer gemein ist, nennt es „Sturmtruppen-Akzent“: die Sturmtruppen sind eine legendäre italienische Comicreihe über eine ebenso tatkräftige wie glücklose deutsche Militäreinheit, die aus lauter Ottos, Hans’ und Franz’ besteht, und ein deutsch anmutendes Italienisch spricht) den Italienern Nachhilfe geben – in Demokratie, Wirtschaftsfragen, Europa und darüber, wie man sich in Talkshows zu benehmen hat: „In unserem Land lässt man den Gegner ausreden.“ Von dieser hohen Warte aus geraten Petitessen schnell aus dem Blick. Etwa, dass die 66 italienischen Nachkriegsregierungen kein Ausdruck mediterranen Wankelmuts, sondern die Verkörperung der Maxime aus Tomasi di Lampedusas Roman „Der Gattopardo“ sind: „Alles ändert sich, damit alles bleibt, wie es ist.“ Die Namen der Parteien ändern sich, die Protagonisten bleiben dieselben. Auch wenn Berlusconis Forza Italia vorübergehend Popolo della Libertà hieß, und die Demokratische Partei ihren Namen erst trägt, seitdem sich die aus der kommunistischen Partei hervorgegangenen Linksdemokraten Democratici di Sinistra 2007 mit den ehemaligen Christdemokraten Ulivo und Margherita arrangieren konnten. Es gilt: Wer einmal in das italienische Parlament eingezogen ist, bleibt dort sitzen, bis er das Zeitliche segnet. Die Regierungen in Italien haben sich geändert, aber die Gesichter sind seit dreißig Jahren die gleichen. Das Zauberwort der italienischen Politik heißt „Trasformismo“. Was klingt wie eine Zeitenwende, bedeutet das Gegenteil: Scheinwandel. Bis auf die von den deutschen Medien verdammte Fünf-Sterne-Bewegung spiegeln die anderen politischen Parteien genau diesen Scheinwandel wieder: Bei Silvio Berlusconi wissen alle, was das bedeutet, nämlich seine persönlichen Interessen und die seiner Klientel (Mafiosi, Steuerhinterzieher, Freimaurer) durchzusetzen und mit Ad-Personam-Gesetzen für Straffreiheit zu sorgen. Sein Bündnis mit der rechtslastigen Lega und den „Brüdern Italiens“ ist sehr fragil, zumal Berlusconis Ego es kaum ertragen könnte, sich mit der Rolle als Juniorpartner von Matteo Salvini zu begnügen. Auch die von Berlusconi angedachte Rolle für seinen einstigen Sprecher und EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani als Regierungschef in weite Ferne gerückt. Tajani ist ein politisches Chamäleon, das sich bei Berlusconi damit verdient gemacht hat, den später ermordeten Antimafia-Staatsanwalt Giovanni Falcone schon zu Lebzeiten diffamiert zu haben. Salvini gelang es, vergessen zu machen, wie verhasst die Lega bei ihren Unterstützern wurde, als heraus kam, wie wohl sich ihre Abgeordneten und Minister im Schoß des „räuberischen Roms“ fühlten und sich an der Parteikasse bedienten. Vom Separatismus spricht bei der Lega schon lange niemand mehr. Auch nicht vom Steuerförderalismus – das Geld bleibt da, wo es verdient wird – der einst wie das goldene Vlies gepriesen wurde, während sich Berlusconi mit Unterstützung der Lega ein Gesetz nach dem anderen schmiedete, um Bilanzfälschung als Delikt abzuschaffen, Verjährungsfristen für Korruptionsdelikte zu verkürzen und Gerichte für befangen zu erklären. Der von den deutschen Qualitätsmedien verehrte Super-Renzi schweigt – auch weil seine Auftritte mehr Schaden anrichten als Hagelschauer im Sommer, weshalb stets der farblose und damit weniger angreifbare Premier Paolo Gentiloni vorgeschoben wird. So gesehen, mag es nicht verwundern, dass viele Italiener sich danach sehnen, dieser Endlosschleife endlich zu entkommen. Schon 2013 war das so. Aber der damalige Staatspräsident Giorgio Napolitano, der „weise, alte Mann vom Quirinalshügel“ (Süddeutsche Zeitung) hielt die große italienische Koalition, das herrschende Machtgefüge zwischen der Demokratischen Partei und Berlusconi, gegen den Willen der italienischen Wähler am Leben: Um zu verhindern, dass die Fünf-Sterne-Bewegung zusammen mit Teilen der Demokratischen Partei für Stefano Rodotà stimmen würde, einem unabhängigen Geist, Gründervater der italienischen Linken und Kenner der italienischen Verfassung – erklärte sich Napolitano überraschend bereit, sein Amt weiter auszuüben. Im Grunde war das nichts anderes als ein stiller Staatsstreich. Dass bei diesen Wahlen viele Italiener ihre Hoffnungen auf die Fünf-Sterne-Bewegung gesetzt haben, verwundert nicht: Sie ist die einzige Partei, die auf 48 Millionen Euro Parteienfinanzierung verzichtet hat und deren Abgeordnete sich ihre Diäten selbst gekürzt haben: Am Ende der Legislaturperiode haben die 130 Abgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung 23 Millionen Euro in einen Fonds für kleine und mittlere Unternehmen eingezahlt, dank dem 7.000 Startups gegründet wurden. Der Unterschied zwischen den Fünf-Sternen und den anderen italienischen Parteien besteht darin, dass Korruption oder die Nähe zur Mafia für sie kein Empfehlungsschreiben ist. Das mag banal klingen. Ist in Italien aber revolutionär. Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikel war von Tomasi di Lampedusas Roman „Der Gepard“ die Rede. Dies haben wir korrigiert. Bis 2004 war der Roman zunächst als „Der Leopard“ übersetzt worden.
Petra Reski
Nach den Wahlen in Italien dürfte erstmals die Fünf-Sterne-Bewegung einen Regierungsauftrag erhalten. Nur weil ihnen ein Partner fehlt, scheint dies kaum möglich. Es bleibt kompliziert. Schuld sind aber nicht die Wähler
[ "Italien", "Parlamentswahlen", "Fünfsterne", "Beppe Grillo", "Silvio Berlusconi", "Matteo Renzi" ]
außenpolitik
2018-03-05T11:34:39+0100
2018-03-05T11:34:39+0100
https://www.cicero.de//fuenf-sterne-bewegung-wahlausgang-italien-lega-silvio-berlusconi-renzi
Die EU und ihre Balkan-Strategie - Konflikte ohne Ende
Am 29. September wurde bekannt, dass die Europäische Union den sechs Balkanländern, denen ein Platz in der Union versprochen worden war, womöglich keine künftige Mitgliedschaft mehr garantieren wird. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union diskutieren denn auch von heute an bei einem Gipfel in Slowenien nicht nur über ihr Verhältnis zu den USA, sondern ebenfalls über die Beitrittsperspektive für Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien und Nordmazedonien. Bei dieser Gelegenheit wird sich zeigen, was Sache ist. Sollten sich die Berichte über zunehmende Skepsis hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft bestätigen, würde dies der bisherigen Balkanstrategie der EU widersprechen – zumal sich die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo auf dem tiefsten Punkt seit einem Jahrzehnt befinden. Der Kosovo hat 2008 einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt, wird aber von der Regierung in Belgrad noch immer nicht anerkannt. Die Aussicht auf einen EU-Beitritt ist praktisch der einzige Grund dafür, dass überhaupt (von der EU vermittelte) Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen geführt werden. Seit letzter Woche haben die Nato-Friedenstruppen (bekannt als KFOR) ihre Patrouillen an der Nordgrenze des Kosovo zu Serbien verstärkt. Lokalen Medienberichten zufolge überfliegen KFOR-Hubschrauber die Grenzübergänge Brnjak und Jarinje, Gebiete im Norden des Kosovo, die hauptsächlich von ethnischen Serben bewohnt werden. Dies geschah, nachdem Serbien beschlossen hatte, seine Truppen in den Garnisonen Raska und Novi Pazar in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, gepanzerte Fahrzeuge an die Grenze zum Kosovo zu schicken und Militärflugzeuge darüber fliegen zu lassen. Am Wochenende zogen sich die serbischen und kosovarischen Streitkräfte aus dem Gebiet zurück, nachdem am Donnerstag in Brüssel eine Einigung erzielt worden war, und am Montag wurde der Verkehr an der Grenze wieder normalisiert. Die EU-Mission im Kosovo wird den Abzug jedoch überwachen, und die KFOR wird noch zwei Wochen lang in der Region stationiert bleiben. Die jüngsten Entwicklungen waren das Ergebnis von Protesten der serbischen Gemeinden im Kosovo gegen die Entscheidung der Regierung, ein zehn Jahre altes Abkommen mit Serbien über Autokennzeichen nicht mehr anzuerkennen und nur noch Nummernschilder zu akzeptieren, die mit den Buchstaben RKS (Republik Kosovo) anstelle von KS (Kosovo) beginnen, welche von den Vereinten Nationen ausgegeben und von Kosovo und Serbien anerkannt wurden. (Die Maßnahme verlangte außerdem, dass serbische Autos, die die Grenze überqueren, eine Gebühr von etwa sechs Dollar entrichten müssen). Am 20. September – dem Tag, an dem die Entscheidung in Kraft trat – schickte die Regierung in Pristina bewaffnete Polizisten an die beiden wichtigsten Grenzübergänge zu Serbien, um die Entscheidung durchzusetzen. Da wir uns auf dem Balkan befinden, ist eine scheinbar einfache Regelung für Autokennzeichen in Wirklichkeit äußerst komplex. Die Mehrheit der serbischen Gemeinschaft im Norden des Kosovo betrachtet die Verwendung von RKS-Kennzeichen als eine Beleidigung ihrer ethnischen Identität. Aus diesem Grund bezeichnete Belgrad, der selbsternannte Beschützer der serbischen Minderheiten, die Entscheidung des Kosovo als Provokation und schickte ebenso wie Pristina bewaffnete Polizisten und gepanzerte Fahrzeuge an die Grenze. Nach Verhandlungen am 30. September erklärten sich beide Seiten bereit, ihre Streitkräfte unter der Voraussetzung abzuziehen, dass eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der EU, Serbiens und des Kosovo gebildet wird, um eine dauerhafte Lösung für die Kennzeichenfrage zu finden. (Die Arbeitsgruppe sollte unter dem Vorsitz der EU stehen und am 2. Oktober gebildet werden – dem Tag, an dem sich sowohl die serbischen als auch die kosovarischen Streitkräfte von der Grenze zurückzogen.) Sie haben auch ein „Aufkleber-Regime“ eingeführt, bei dem ein serbisches Wappen auf Autos geklebt wird, die in den Kosovo einreisen – und so die Einreisegebühr vermieden wird. Es ist nicht ungewöhnlich, dass auf dem Balkan, einer ethnisch und religiös vielfältigen und daher stark umkämpften Region, Konflikte aufflammen. Die Wurzeln der aktuellen Spannungen liegen im Zerfall der Sowjetunion. Nach ihrem Zusammenbruch kam es zu einer Reihe von Konflikten entlang der Bruchlinien zwischen dem Westen und der Sowjetunion (und ihren verschiedenen Verbündeten). Besonders heftig waren sie auf der Balkanhalbinsel. Die westlichen Balkanstaaten, die sich jetzt um die EU-Integration bemühen, waren Teil des föderalen Staates Jugoslawien, der 1992 inmitten einer Reihe von Kriegen entlang ethnischer, nationalistischer und religiöser Linien zerbrach. Der Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien ist noch nicht ausgestanden. Mehr als 20 Jahre nach der Nato-Intervention von 1999 zur Beendigung der serbischen Aggression gegen die Kosovo-Albaner und mehr als ein Jahrzehnt nach Pristinas Unabhängigkeitserklärung von 2008 betrachten Belgrad und Dutzende anderer Staaten, darunter fünf EU-Mitglieder, das Kosovo offiziell immer noch als abtrünniges Gebiet. Gleichzeitig hofft Serbien immer noch, mehr Rechte für die in Serbien lebende serbische Gemeinschaft und mehr Autorität über den Norden des Kosovo zu erlangen, in dem sich eine große Gemeinschaft ethnischer Serben und mehrere serbisch-orthodoxe religiöse Stätten befinden. Der Prozess der Nationenbildung, den das Kosovo seit Anfang der 2000er-Jahre durchlaufen hat, hat die lokalen Gemeinschaften zum Schlüssel für die Entwicklung und Stabilität des Staates gemacht. Doch der Krieg hat Narben hinterlassen, die kaum zu übersehen sind. Die Einheimischen sprechen von einer zunehmenden Distanz zwischen den ethnischen Gemeinschaften; die Dörfer werden immer homogener. Und obwohl viele dieser Orte im Norden Kosovos innerhalb der Grenzen des Kosovo liegen, sind sie mehr mit Serbien als mit dem Kosovo verbunden. Die meisten Einheimischen gehen in Serbien zur Schule oder arbeiten dort. Aufgrund ihres Erbes und ihrer Identität haben sie die Unabhängigkeit des Kosovo nicht angenommen und lehnen die Autorität der Regierung in Pristina ab. Dies ist natürlich nicht nur im Kosovo der Fall. Auch die in der bosnisch-herzegowinischen Republika Srpska lebenden Serben sind von der serbischen Wirtschaft abhängig – der größten und am stärksten diversifizierten Wirtschaft der Region. Die Pandemie hat die Volkswirtschaften der westlichen Balkanländer besonders hart getroffen, was zum Teil auf ihre Abhängigkeit vom Dienstleistungssektor zurückzuführen ist. In Serbien entfallen 57 Prozent der Arbeitsplätze auf den Dienstleistungssektor; im Kosovo beschäftigt der Dienstleistungssektor mehr als 70 Prozent der Arbeitskräfte, während in Bosnien der Dienstleistungssektor von der öffentlichen Verwaltung dominiert wird, die etwa neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und mehr als 50 Prozent der Arbeitskräfte bindet. Auch in Serbien, das dank seiner Fähigkeit, Steuergelder zu mobilisieren, nur einen mäßigen Wirtschaftsabschwung verzeichnete, hat die Pandemie viele Menschen arbeitslos gemacht. Abgesehen von seinem ethnischen und wirtschaftlichen Einfluss hält Serbien seine Macht über die serbischen Gemeinschaften durch einzigartige politische Beziehungen aufrecht. Nehmen wir zum Beispiel Bosnien. Nach dem Ende des Krieges im Jahr 1995 wurde das Land in zwei verschiedene Einheiten aufgeteilt: Die Föderation von Bosnien und Herzegowina, die zu etwa 70 Prozent von muslimischen Bosniaken bewohnt wird, und die Republika Srpska, deren Bevölkerung zu etwa 80 Prozent serbisch und christlich-orthodox ist. Jede Entität ist autonom und hat mit der Zeit ihre eigenen Beziehungen zu den Nachbarstaaten entwickelt. Die Republika Srpska unterhält gute Beziehungen zu Belgrad, und ihr wirtschaftlicher Fortschritt und ihre Infrastruktur sind größtenteils mit der serbischen Wirtschaft verbunden. Im Gegensatz zum Nordkosovo verfügt die Republika Srpska über lokale Gesetzgebungsbefugnisse, und ihr gewählter Anführer, Milorad Dodik, hat sich serbischer nationalistischer Rhetorik bedient, um seine Wiederwahl zu sichern. Dodik hat die Idee unterstützt, dass die Republik ein Referendum über die Unabhängigkeit abhalten und damit den Weg für eine Abspaltung von Bosnien ebnen sollte. (Die Pandemie hat die diesbezüglichen Bemühungen der Organisation beeinträchtigt.) Im Hinblick auf die im nächsten Jahr anstehenden Parlamentswahlen hat Milorad Dodik die jüngsten Ereignisse an der Grenze genutzt, um Pläne für eine „Armee der Republika Srpska“ zu verkünden. In der Tat lassen sich fast alle jüngsten Spannungen in der Region auf die bevorstehenden Wahlen zurückführen. Die Kommunalwahlen im Kosovo werden am 17. Oktober abgehalten. Die derzeitige Regierung wurde im Februar vorigen Jahres eingesetzt und muss ihre Unterstützung ausbauen, um effektiv regieren zu können. Seit seiner Wahl hat sich der kosovarische Premierminister Albin Kurti kritisch zu den Verhandlungen mit Serbien geäußert – er gewann die Wahl mit dem Versprechen, den Kosovo mit Serbien gleichzustellen. Die Einführung der Kfz-Kennzeichen war also eine Art selbsterfüllende Prophezeiung – Kurti wusste, dass er damit einen Konflikt mit Serbien heraufbeschwören und die Wählerschaft des nördlichen Kosovo verprellen würde. Sowohl die kosovarische als auch die serbische Regierung profitierten von dieser Situation, da sie sich in einer ähnlichen Lage befanden. Serbien bereitet sich auf die Parlamentswahlen im Jahr 2022 vor – die Ereignisse der vergangenen Woche ermöglichen es der derzeitigen Regierung, ihr Engagement für den Schutz der serbischen Gemeinschaft im Kosovo zu zeigen, ohne einen internationalen Konflikt zu riskieren. Das Interesse des Kosovo wiederum besteht darin, seine Grenzen zu schützen und gleichzeitig die internationale Anerkennung anzustreben. Serbiens unmittelbares Interesse hingegen ist es, ein Gleichgewicht zwischen ausländischen Mächten herzustellen, um bestmöglich Geschäfte machen zu können und gleichzeitig den Einfluss auf die serbisch dominierten Gebiete außerhalb Serbiens zu erhöhen. Indem sie Stärke und Verhandlungsbereitschaft zeigen, können beide Regierungen im Wahlkampf der kommenden Wochen und Monate die nationalistische Karte ausspielen. Nationalismus ist immer ein wichtiges politisches und wahltaktisches Thema auf dem Balkan – das war selbst zu Zeiten so, als eine potenzielle EU-Mitgliedschaft glaubwürdig erschien, obwohl sie nicht unmittelbar bevorstand. Aber der Nationalismus wird als politisches Instrument besser funktionieren, wenn die EU die Erweiterung der Region nicht mehr in Betracht zieht, wie es jetzt der Fall zu sein scheint. Die Spannungen werden zunehmen, insbesondere an den Grenzen. Und in einer Region, die tief in verschiedenen kulturellen Identitäten verwurzelt ist, können die Spannungen im Handumdrehen in Konflikte umschlagen. In Kooperation mit
Antonia Colibasanu
An diesem Dienstag startet ein EU-Gipfel in Slowenien, bei dem es um die Mitgliedschaft von sechs Balkan-Ländern in der Union geht. Ursprünglich galt deren Aufnahme als sicher, doch inzwischen wächst die Skepsis. Zumal soeben ein Konflikt zwischen Serbien und Kosovo an den Rand der Eskalation geriet. Worum geht es?
[ "EU", "Westbalkan", "Serbien", "Kosovo" ]
außenpolitik
2021-10-05T11:33:53+0200
2021-10-05T11:33:53+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/eu-balkan-strategie-konflikte-ohne-ende-kosovo-serbien
Peter Maffay – „Rumänien macht einen Rückschritt“
Herr Maffay, im Moment steht Rumänien für Chaos, für Krise. Sie engagieren sich schon lange in Ihrer alten Heimat. Was hat sich seit 1989 verändert? Eine Diktatur ist einer Gesellschaft gewichen, die demokratische Züge hat. Das war die Voraussetzung für eine Annäherung an Europa. Das Land hat neue Impulse bekommen, Industrie aus dem Ausland hat sich angesiedelt, die Menschen auf der Straße sind befreit von jahrzehntelanger Angst, wegen einer eigenen Meinung Repressalien ausgesetzt zu sein. Im Moment muss man an der Demokratiefähigkeit der Rumänen zweifeln. Dieser Zweifel ist berechtigt und angebracht. Das Ausland muss mäßigend auf Rumänien einwirken. Aber versuchen Sie sich zu vergegenwärtigen, wie undenkbar dieser Prozess unter Ceauşescu gewesen ist. Jetzt aber macht Rumänien einen Rückschritt. Da ist es Aufgabe der anderen Gesellschaften in Europa, die Rumänen daran zu erinnern, dass es so nicht geht. War Rumänien wirklich reif dafür, in die EU aufgenommen zu werden? Aus meiner Sicht ist es richtig gewesen, Rumänien abzuholen. Aber jetzt darf man es nicht allein lassen. Gleichzeitig ist es richtig, Rumänien zu mahnen, sich an die Kriterien zu halten, unter denen es in die EU aufgenommen wurde. Haben Sie den Eindruck, dass die EU entschlossen agiert? Nein. Es werden Vorbehalte geäußert, und es gibt Versuche, auf Rumänien einzuwirken. Aber das müsste noch viel deutlicher geschehen. Wir können es uns nicht leisten, Staaten wie Rumänien und Bulgarien aus unserem Verbund zu verlieren. Das würde die EU wie ein Bumerang treffen. Was läuft falsch? Wir dürfen nicht von zu hoher Warte auf Rumänien blicken. Das ist nicht gut, schon gar nicht vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Es gäbe sofort Gegenreaktionen, die zum Teil schon einsetzen. Wir müssen verstehen, welche Strecke Rumänien schon zurückgelegt hat. Rumäniens Schwierig­keiten – ethnisch, politisch, wirtschaftlich – sind nicht so schnell zu überwinden, wie wir es gerne hätten. Wären dann nicht gerade die rumänischen Künstler gefordert? Es gibt eine ganze Reihe vorzüglicher Köpfe – Musiker, Schriftsteller. Das im Westen geläufige Handwerk aber, wie sich dieser Teil der Gesellschaft organisieren kann, muss erst wieder erlernt werden. Nach 50 Jahren Kommunismus und nur 20 Jahren Demokratie ist viel verlernt. Nehmen Sie das Stiftungswesen, das Kultur aus privater Initiative schafft und das im Westen so wesentlich ist. In Rumänien verfügt man nicht über das Wissen, wie man Stiftungen gründen und verwalten kann. Welche Kraft privates Engagement entfaltet. Sie haben Rumänien als 16-Jähriger verlassen. Was verbindet Sie heute noch mit dem Land? Was verbindet einen Sohn mit seiner Mutter? Das erfasst man nur gefühlsmäßig. Diese allerersten Impulse, die ein Mensch wahrnimmt, das sind alles bestimmende Einflüsse, die nie verloren gehen. Diejenigen, die vorgeben, dass ihnen das nichts mehr bedeutet, belügen sich selbst. Die Fragen stellte Judith Hart. Was wirklich hinter den politischen Verwerfungen in Rumänien steckt, erfahren Sie in der September-Ausgabe des Magazins Cicero. Ab sofort am Kiosk oder gleich bestellen im Online-Shop!
Der Musiker Peter Maffay macht sich Sorgen um sein Heimatland Rumänien und ruft das Ausland im Gespräch mit Cicero zu mehr Engagement auf
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außenpolitik
2012-08-31T15:21:04+0200
2012-08-31T15:21:04+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/peter-maffay-europa-muss-maessigend-einwirken/51697
SPD-Zentrale Willy-Brandt-Haus - Ein Hort des Schreckens
[[{"fid":"60231","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":871,"width":638,"style":"width: 140px; height: 191px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen. Was für eine Kraft dieses Gebäude ausstrahlt. Wie ein Schiffsbug pflügt es die Wilhelmstraße zur einen und die Stresemannstraße zur anderen Seite. Die Kuppel oben auf der Nase des Bugs sieht aus wie eine Kommandobrücke, von der aus der Kapitän dieses Schiff durch die Straßenzüge Berlins steuert. Oben weht die rote Fahne der SPD im Herbstwind. Da liegt die Parteizentrale der Bundes-SPD: Das Willy-Brandt-Haus in Berlin, der Name soll Tradition und Kraft signalisieren. Aber wenn man einmal drum herum geht und in die Fenster schaut, dann hält das mächtige Gebäude vor allem Komik bereit. Im Bürgerbüro Kreuzberg-Friedrichshain sitzt ein grau melierter Mann im Ringelpulli an einem Bistrotischchen vor seinem aufgeklappten Laptop, einer Kaffeekanne und einer Bierflasche. Das Bistro „Willy’s“ hat schon geschlossen, aber die Leuchtreklame des Reisebüros daneben – ein SPD-Emblem auf einem weißen Koffer – leuchtet noch über einem Plakat der MS Azores, die „Reisen mit persönlicher Note“ verspricht. Links davon liegen auf einem Grabbeltisch des „Image-Shops“ SPD-rote Wurstbrotdosen („Ganz mein Geschmack“) neben roten Badelatschen, die für 3,99 Euro zu haben sind – wie jemand mit einem roten Filzstift auf eine Ringbucheinlage geschrieben hat, die am Grabbeltisch pappt. Von hier aus wollte die SPD die Macht in Deutschland erringen. Von diesem Ort der pompösen Piesepampeligkeit wollte sie das Kanzleramt erobern. In Wahlkampfzeiten verwandeln sich Parteizentralen von einem Verwaltungsapparat in Kampfmaschinen. Jedenfalls, wenn alles richtig läuft. Bei der SPD ist nicht alles richtig gelaufen, das kann man bei einem Wahlergebnis von 25,7 Prozent ohne Risiko sagen. Manche sagen sogar, es ist der schlechteste Wahlkampf gewesen, den in der Bundesrepublik je eine Partei geführt hat. „Welcher Wahlkampf?“, fragt einer, der hinter diesen Mauern arbeitet und durch die gläserne Drehtür geht. Es sei Zeit, fügt er hinzu, die Niederlage ehrlich zu analysieren, statt bei den Fehlern des Kandidaten stehen zu bleiben. Denn es ist viel mehr schiefgelaufen. „Aber zu der Analyse wird es wieder nicht kommen“, sagt er. Dieser Jemand darf wie alle Gesprächspartner aus diesem Haus keinen Namen und kein Gesicht haben. Denn so ehrlich läuft die Aufarbeitung nicht, dass jemand, der die Dinge beim Namen nennt, nichts zu befürchten hätte. Eine Zentrale ist strukturell ein schwieriges Gebilde. „Bullshit Castle“ hat der frühere Daimler-Boss Jürgen Schrempp einmal den Firmensitz seines Unternehmens genannt. Schrempp kannte nicht das Zuhause der ältesten Partei Deutschlands. Die Beschreibung trifft aber auch auf die Behausung der SPD zu. Im Willy-Brandt-Haus spiegeln sich alle Probleme der Partei. Hier haben sich die Sedimente der zuletzt häufig wechselnden Parteivorsitzenden abgelagert und sind zu Gestein ausgehärtet. Knapp 200 Leute haben es sich in diesem Haus eingerichtet. In einer Parteizentrale sollten Ideen, Stimmungen und Wünsche aus den Gliederungen der Partei zusammentreffen, damit daraus Politik entsteht. Hier müsste die Politik zu einer schlagkräftigen Strategie werden. Den Landesverbänden und Unterbezirken würde die Zentrale helfen, zu planen, zu organisieren, sich auszurüsten, auf dass man gemeinsam in See sticht. Vorneweg das stolze Flaggschiff mit der stärksten Mannschaft, bei der jeder Handgriff sitzt und in der jeder für den anderen einsteht. Aber so ist es nicht. Die Zentrale der SPD gleitet wie ein Geisterschiff dahin, das keinen klaren Kurs hat, sondern einer seltsamen, jenseitigen Logik folgt. Niemand will ihm zu nahe kommen. Alle Versuche, es mit Leben zu füllen, es neu zu bauen, scheitern seit Jahrzehnten. Selbst der Umzug nach Berlin 1999 konnte daran nichts ändern. Dabei wurde fast die Hälfte des Personals ausgetauscht, aber irgendwie blieb die Parteizentrale immer die „Baracke“, die sie vor Jahrzehnten in Bonn buchstäblich war. Die Schlagzeilen aus der guten alten Zeit, als noch ausgeschnitten und auf Papier archiviert wurde, sind vergilbt, aber sie lesen sich wie frisch gedruckt. „Blühender Frust“, „Engholms schwieriger Start in der SPD-Baracke“, „Die ausgezehrte Bonner SPD-Baracke“. Man könnte meinen, die fehlende Schlagkraft dieser Parteizentrale ist eine Erbkrankheit, die von Bonn mit nach Berlin genommen wurde. Einzig die Zeit, als Franz Müntefering die Zentrale führte, wird von vielen Insassen und vor allem von jenen, die dem Haus achselzuckend den Rücken gekehrt haben, als Phase wahrgenommen, in der sich die Kraft einigermaßen entfaltete. 1996 hatte Müntefering als Bundesgeschäftsführer in Vorbereitung auf den Wahlkampf 1998 sogar den Klassenfeind ins Haus geholt. Eine Zürcher Unternehmensberatung nahm sich die Parteizentrale ein Jahr lang vor. Arbeitsauftrag: „Die Aufgaben einer modernen Parteizentrale zu definieren und Vorschläge zu entwickeln, wie diese Aufgaben möglichst optimal erfüllt werden können.“ Gleichzeitig quartierten Müntefering und seine engsten Mitarbeiter, allen voran der heutige thüringische Wirtschaftsminister Matthias Machnig, die Wahlkampfzentrale vorsichtshalber aus der Bonner Baracke aus. 100 Meter weiter nahm die „Kampa“ ihre Arbeit auf, an der Fassade des Hauses zählte eine große Digitaluhr die Tage, die Helmut Kohl bis zur Abwahl blieben. Es folgten Jahre, in denen die SPD in der Lage war, Wahlen zu gewinnen. 2002 war die Partei längst von Bonn nach Berlin gezogen, aber Münteferings Strategen schätzten die Kraft des Neuanfangs im neuen Haus so nüchtern ein, dass sie eine Kampa 02 für nötig hielten. Sie wurde an der Oranienburger Straße errichtet, im vibrierenden Berlin-Mitte, fern vom muffigem Parteigeruch. Dort sollten junge Leute Rot-Grün gegen Edmund Stoiber verteidigen. Aus dieser Zeit ist die Erkenntnis geblieben, dass Erfolge der Partei woanders organisiert werden müssen, möglichst weit weg vom Willy-Brandt-Haus. Im Kanzleramt, in einer Staatskanzlei oder eben in einer Kampa. Die Münte-Boys von damals hat es in alle Winde verstreut. Sie reden heute noch mit leuchtenden Augen von diesen Zeiten und bekommen matte Blicke, wenn sie über das Heute reden. „Die sind in der Birne nicht klar gewesen“, seufzt der eine und meint die Leute in der Parteizentrale. Es habe ein gebrochenes Verhältnis zu den elf Jahren Regierungszeit und zur Agenda 2010 gegeben, konstatiert ein anderer. Außerdem habe sich das Haus seit jeher lieber als Denkfabrik verstanden – man könnte auch sagen: Bedenkenträgerfabrik. Das Adenauer-Haus der CDU dagegen funktioniere als Dienstleister: „Da steckste oben einen Befehl rein, dann rennen die!“ Als Beleg wird eine Szene des Buchautors und FAZ-Journalisten Nils Minkmar angeführt, der Peer Steinbrück über ein Jahr begleitet hat. Einmal bekam er einen Anruf aus dem Büro des Kanzlerkandidaten im Willy-Brandt-Haus. Eine Dame fragte ihn nach seiner E-Mail-Adresse. Das ist allein schon ein sonderbares Zeichen, weil solche Adressen bekannter „Kunden“ eigentlich in einem gut organisierten Haus für alle Wahlkämpfer zugänglich sein sollten. Dann aber bat die Dame Minkmar zu dessen Erstaunen auch noch um eine Handynummer – die Nummer jenes Handys, auf dem sie ihn gerade erreicht hatte. So etwas ist ein Indiz für große Versäumnisse. Dafür, dass hier jeder vor sich hin arbeitete. Dazu kam etwas, das ein Kundiger einen „Bandsalat im Brandt-Haus“ nennt. Bandsalat, das meint die wechselseitige Lähmung der drei bis vier Kraftzentren im Haus.Da sei zum einen der Vorsitzende Sigmar Gabriel, dessen Sprunghaftigkeit und Lust am Alleingang dem ganzen Haus den letzten Nerv rauben. Gabriel habe permanent neue Arbeitsaufträge vergeben, die ihn kurz danach schon nicht mehr interessierten. Dazu das „Lauerverhältnis“ zur Generalsekretärin Andrea Nahles, die ihm so wenig über den Weg traut wie er ihr. Das Misstrauen führte dazu, dass sich die beiden nicht einmal auf einen Bundesgeschäftsführer einigen konnten. Diese Schlüsselposition ist seit Jahren unbesetzt. So zehrte Nahles ihre Kräfte erstens damit auf, dem Aktionismus des Vorsitzenden hinterherzuräumen, und zweitens, das Haus nach innen zu führen. Was eigentlich die Aufgabe des Bundesgeschäftsführers wäre. Das Durcheinander verstärkte sich, weil Peer Steinbrück eigene Leute mit an Bord brachte. Sie wurden von der Stammbesatzung teils wie Aussätzige behandelt, der Steinbrück-Berater Roman Maria Koidl war in Kürze erfolgreich vergrämt. In drei Lager zerfiel so das Haus. Als einzig wirkliche Macht im Wirrwarr erwies sich die Schatzmeisterin Barbara Hendricks. Sie habe in Wahrheit durch ihre Geldvergabe den Laden gesteuert, resümiert ein Zeuge die Ereignisse. Man müsse ins Gelingen verliebt sein, hat Gerhard Schröder seiner Partei immer gesagt. Weil er ihr Wesen so genau kannte. Denn auf eine Art ist es mit der Zentrale der SPD wie mit ihrem ganzen Gestus: Sie leidet lieber, als dass sie sich ein Herz fasst, sich hinter dem Kanzlerkandidaten schart und ihn zum Wahlsieg trägt. Wenn die Generalsekretärin Andrea Nahles Ministerin wird, steht ihr Nachfolger vor einer Aufgabe in diesem Haus, so gewaltig wie der Bug, der durch die zwei Straßen von Berlin pflügt.
Christoph Schwennicke
An Bord sind sie ins Scheitern verliebt. Das Berliner Willy-Brandt-Haus der SPD: Zentrale der Lähmung und des Schreckens
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innenpolitik
2013-12-17T15:05:59+0100
2013-12-17T15:05:59+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-machtzentrale-ein-zentrum-des-schreckens/56680
SPD - Letzte Ausfahrt Linksfront
Montag. 9:00 Uhr. Sigmar Gabriels Telefon klingelt. Die Kanzlerin ist am Apparat. Der SPD-Vorsitzende aber ist verhindert. Er ruft sie zwei Stunden später zurück, warum er Angela Merkel warten lässt, bleibt sein Geheimnis. Gabriel vertröstet schließlich Merkels Sondierungsbestreben. Seine Partei müsse am Freitag erst einen Parteikonvent abhalten. Dort werde das weitere Vorgehen beschlossen. Vorher könne er keine Aussagen machen. Angela Merkel zeigt Verständnis. Die Stimme des Parteivorsitzenden ist frei jedweder Angriffslust. Er wirkt müde. Gemeinsam mit Spitzenkandidat a.D., Peer Steinbrück, stellt sich Gabriel der Presse im Willy-Brandt-Haus, dem Hauptquartier der deutschen Sozialdemokratie. Beide reden, ohne wirklich etwas zu sagen. Wie zwei Nachlassverwalter in schwarzen Anzügen rekapitulieren sie das erneute Scheitern der Sozialdemokratie. Es ist der Tag nach dem Tag X. Aus der Hoffnung hat sich die Erkenntnis geschält: Die SPD ist aus eigener Kraft nicht konkurrenzfähig. Merkel ist eine Überkanzlerin. [[nid:55884]] Der erste Schrecken ist einer Ohnmacht gewichen. Der Ball liege bei Angela Merkel, sagen sie. Vorerst dürfen Gabriel und Steinbrück nun nicht mehr mitspielen. Das liegt Ihnen nicht. Steinbrück nicht und Gabriel noch viel weniger. Es gebe keinen Automatismus, der die SPD in eine Große Koalition führe, wiederholen beide. Die Frage, wie hoch der Preis für eine Große Koalition der SPD sei, wo denn die roten Linien für eine Regierungsbeteiligung mit der CDU liegen, beantworten sie nicht. Ein Satz von Peer Steinbrück aber lässt tief blicken: Man bewerbe sich nicht darum, nachdem Merkel den bisherigen Koalitionspartner ruiniert habe, dessen Nachfolge anzutreten. Bereits in der Elefantenrunde am Wahlsonntag gibt Steinbrück zu Protokoll, dass er seiner Partei kein Bündnis mit Merkel empfehlen wird. Die FDP als lebendes Negativbeispiel dafür, keinen Tanz mit der Superkanzlerin zu wagen. Zu schmerzhaft und frisch sind auch die Erinnerungen der SPD selbst an die Phase der Großen Koalition, als man in der Rolle des Juniorpartners das Land regierte. Der Preis damals: Tiefstwerte in der Wählergunst bei gleichzeitiger Stärkung der buckligen Verwandtschaft von der Linkspartei. Zwar sind die Zeichen nun andere. Die SPD ist nicht mehr die SPD von 2005. Sie ist besonders in den Ländern stark. Aber die Erinnerungen an 2005 sind noch zu lebendig, als dass man nun blindlings in ein neues Bündnis rennen könnte. Heißt: Parteikonvent. Heißt: Zeit gewinnen. Sollte Merkel doch erst mit den Grünen verhandeln, ein Scheitern schwarz-grüner Gespräche würde den Preis der SPD für eine Koalition weiter in die Höhe treiben. Allmählich aber begreift die SPD, dass es für sie langfristig keine Machtoption ohne die Linken gibt. Spätestens am Sonntag ist dies auch dem allerletzten Sozialdemokraten klar geworden. Der Versuch, die Partei nach links zu positionieren, um die Linke aus dem Spiel zu nehmen, ist abermals und wohl endgültig gescheitert. Nicht einmal aus dem Westen ist die ungeliebte Konkurrenz wieder verschwunden. Eine neue Strategie muss her. Will die SPD die Konkurrentin Linkspartei langfristig ausschalten, führt wohl kein Weg an einer herzlichen Umarmung vorbei. Zu Tode umarmen sozusagen. Auch das hat Merkel vorgemacht. Zum jetzigen Zeitpunkt aber ist dies keine Option, weil die SPD zu jeder Zeit und ohne große Not ein rot-rotes Bündnis ausgeschlossen hat. Und Wortbrüche mögen Wähler nicht. Doch mit Blick auf 2017 wird diese rote Linie der SPD fallen. Fallen müssen. Stoisch blicken Gabriel und Steinbrück ins Atrium des Willy-Brandt-Hauses. Träge, fast teilnahmslos lassen sie letzte Fragen über sich ergehen. Steinbrück wird sich wohl schon bald aus der großen Politik zurückziehen, vielleicht wieder Vorträge halten. Doch Sigmar Gabriel will weiter mitspielen. „Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder“, sagt Gabriel abschließend und lächelt dann doch noch. Vermutlich, weil er weiß, der Ball könnte bald wieder in seinem Spielfeld liegen. Ein Ball in den Farben Rot-Rot-Grün. Nach der Wahl - Analysen, Kommentare, Reportagen – Was der 22. September für Deutschland bedeutet. Das Wahl-Spezial von Cicero liegt der Oktober-Ausgabe des Magazins bei und ist ab Donnerstag am Kiosk und in unserem Online-Shop erhältlich
Timo Stein
Der SPD und Peer Steinbrück sitzt der Schreck noch in den Gliedern. Wieder hat sich die Sozialdemokratie als nicht konkurrenzfähig erwiesen. Die Erkenntnis reift, dass die SPD ohne die Linke keine wirkliche Machtoption hat
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innenpolitik
2013-09-23T17:12:57+0200
2013-09-23T17:12:57+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-rot-rot-gruen/55899
Strategische Kooperationen in der Golfregion - „Eine gewisse politische Borniertheit“
Der 20 Jahre dauernde militärische, humanitäre und diplomatische Einsatz des Westens in Afghanistan ist gescheitert. Doch das ist nicht alles: Der überstürzte Abzug vom Hindukusch und die dramatischen Bilder des Evakuierungseinsatzes aus Kabul haben nicht nur gezeigt, dass der Westen Afghanistan verloren hat, sondern auch, wie schnell das Machtvakuum durch andere gefüllt wird. Peking hat der neuen afghanischen Regierung bereits humanitäre Nothilfe und Impfstoffe im Wert von 200 Millionen Yuan zugesagt, umgerechnet rund 26 Millionen Euro, und will sich umfassend am Wiederaufbau beteiligen. Dass Peking grundsätzlich bereit ist, eine Taliban-Regierung zu unterstützen, hatte sich bereits bei einem Treffen mit hochrangigen Taliban-Vertretern im Juli in der ostchinesischen Hafenstadt Tianjin angedeutet. Während der Westen in Afghanistan eine moderne, freie Gesellschaft aufbauen wollte, sind die Interessen Chinas in Afghanistan vor allem geoökonomischer Natur. Peking wird weder die Ideologie oder die repressiven Methoden der Taliban in Frage stellen noch sich für Menschenrechte oder speziell die Rechte der Frauen einsetzen. Dies bedeutet einen weiteren dramatischen Verlust an Boden für den Westen, die USA und für die Werte, an die wir glauben. Tatsächlich haben die Taliban den Chinesen einiges zu bieten, von Sicherheitsgarantien bis zu Bodenschätzen. Dazu gehören neben klassischen Ressourcen wie Erdöl auch die kritischen Rohstoffe Lithium und Kobalt, die in immer größeren Mengen für die aufstrebende Digitalwirtschaft und elektrische Mobilitätsindustrie benötigt werden. Mindestens ebenso wichtig wie die Sicherung von Rohstoffvorkommen sind für Peking die Stabilität innerhalb Afghanistans sowie die Sicherheit an der Grenze zwischen beiden Staaten. Dort sollen die auf chinesischer Seite ansässigen und zunehmender Repression unterworfenen, muslimischen Uiguren unter Kontrolle gebracht werden, um aus Sicht Pekings separatistische und extremistische Bestrebungen zu verhindern. Für Peking hat es oberste Priorität, dass die Taliban den Uiguren keinerlei diplomatische Unterstützung oder gar Zuflucht auf afghanischem Territorium gewähren. Auch Russland, das sich hinter China zwar zurückhaltender zeigt, verfolgt mit seinem Engagement in Afghanistan wirtschaftliche, aber vor allem auch geopolitische Interessen. Nämlich eine Schwächung des Westens und der USA in dieser Region und damit in der ganzen Welt. Ein Afghanistan, das von China und Russland dominiert wird, bedeutet nicht nur verlorenen Boden für den Westen. Es ist auch ein Ort, von dem wieder eine islamistisch-terroristische Sicherheitsbedrohung ausgehen kann. Außerdem droht es zum Schauplatz für einen erneuten Kalten Krieg zwischen China, Russland und dem Westen zu werden. Für Deutschland, Europa, den Westen insgesamt bedarf dieses neue geopolitische Lagebild eines Paradigmenwechsels, um aus einer aktuellen Situation der Schwäche wieder zu neuer Stärke zu gelangen. Es erfordert künftig eine strategisch kluge und taktisch offenere Politik in der gesamten Region, die auf neue Partner setzt, um eine weitere Erosion des Westens und seiner Werte auf dem Schachbrett der Geopolitik zu verhindern. Der Fall Afghanistan zeigt, dass neue Akteure wie die Golfstaaten längst das Spielfeld der internationalen Diplomatie betreten haben und im globalen Kontext zunehmend einen wichtigen strategischen Schnittpunkt zwischen Europa, Asien und Afrika einnehmen. Sie sind ein neuer Partner auf Augenhöhe und sollten vom Westen auch als solcher behandelt werden. Katar zum Beispiel hat sich auf dem Höhepunkt der jüngsten Afghanistan-Krise für den Westen als glaubwürdiger Vermittler und treuer Verbündeter erwiesen. Das kleine Emirat am Golf, das zwei Nato-Militärbasen beherbergt, hat bei den Evakuierungsoperationen zahlreicher Nato-Länder in Afghanistan eine entscheidende Rolle gespielt und tausende von Schutzbedürftigen aus Afghanistan in Sicherheit gebracht, sie versorgt und vielen von ihnen in den eigens für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 errichteten Fan- und Mannschaftsunterkünften ein vorläufiges Zuhause gegeben. Dies sollte vor allem den Kritikern der WM 2022 zu denken geben. Angesichts des jüngsten Engagements Katars in der Afghanistan-Krise wirken ihre Boykottaufrufe deplatziert und ehrabschneidend für eine ganze Region, die mit großem Stolz auf dieses sportliche Großereignis blickt. Wie im Falle Afghanistans kann der Westen von der moderierenden Rolle Katars profitieren, die übrigens auf Bitten der USA zustande kam und die nicht nur darauf hinwirkt, den Taliban eine moderatere Geisteshaltung zu verpassen, sondern sich auch auf die bislang ungelösten Konflikte im Jemen, Libyen oder Syrien positiv auswirken kann. Die deutsche Außenpolitik, ebenso Europa und die USA sollten eine langfristige strategische Kooperation mit Partnern in der Golfregion, die bereits auf ausgeprägten Handelsbeziehungen beruht, weiter festigen und ausbauen. Denn ohne eine aktivere Außenpolitik droht dem Westen in der Golfregion eine zunehmende politische Bedeutungslosigkeit. Diese neuen realpolitischen Tatsachen, die nicht jedem gefallen mögen, die aber auch durch eine gewisse politische Borniertheit des Westens begünstigt wurden, sollten Anlass genug geben, um die eigene Haltung gegenüber neuen aufstrebenden Mächten wie Katar und möglichen weiteren Staaten zu überdenken. Sie sind für den Westen ein neuer Partner, um zu verhindern, dass Länder wie China und Russland, deren demokratische Ambitionen gering sind, die weder die Rechte von Frauen und Kindern noch das Leben von Minderheiten verteidigen werden, die vorherrschenden Akteure auf der geopolitisch wie geostrategisch so wichtigen Bühne werden. Die USA haben das erkannt und frühzeitig auf Katar als neutrale diplomatische Plattform gesetzt, was sich in der jüngsten Afghanistan-Krise als strategisch klug erwiesen hat. Dieser Realpolitik, die auch die Golfstaaten als gleichberechtigte Partner mit einbezieht, müssen wir uns endlich ehrlich stellen, wenn Deutschland und Europa auch künftig eine weltpolitische Gestaltungsrolle einnehmen und nicht als Zaungast der Weltpolitik enden wollen.
Peter Ramsauer
Nach dem Rückzug des Westens aus Afghanistan könnte von diesem Land wieder eine islamistisch-terroristische Bedrohung ausgehen. Auch droht es zum Schauplatz für einen kalten Krieg zwischen China, Russland und dem Westen zu werden. Das erfordert eine taktisch offenere Politik in der Region, die auf neue Partner setzt.
[ "Taliban", "Afghanistan", "USA", "China", "Russland", "Katar" ]
außenpolitik
2021-09-22T14:30:57+0200
2021-09-22T14:30:57+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/kooperationen-golfregion-europa-westen-usa-katar-afghanistan
Oliver Sacks über Halluzinationen - Drachen, Dämonen und Doppelgänger
Dass sich unser Unbewusstes seinen Weg durch das Normalbewusste auf Schleichwegen sucht, um dann in Gestalt von peinlichen Versprechern, verräterischen Erinnerungslücken und Projektionen in Erscheinung zu treten, weiß man aus Sigmund Freuds im Jahr 1901 erschienener Studie „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“. Einmal führt sich der Übervater der Psychoanalyse darin selbst als Exempel an: „Zur Zeit, als ich, als junger Mann, allein in einer fremden Stadt lebte, habe ich oft genug meinen Namen von einer unverkennbar teuren Stimme rufen gehört.“ Doch auch nach gründlichem Umsehen blieb die Stimme körperlos. Hinter dem Appell steckte niemand anderer als Freuds eigener Wunsch, in der Fremde kein völlig Fremder zu sein. Diesen Fall erwähnt der New Yorker Neurologe Oliver Sacks als  „häufigste akustische Halluzination“ in seinem Buch „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“. Allerdings unterscheidet sich der Freud’sche Verhörer in einem wesentlichen Punkt von den meisten übrigen Beispielen, mit denen Sacks veranschaulicht, in welch sagenhaftem Ausmaß uns nicht nur die Ohren etwas vorgaukeln können, sondern ebenso Augen, Nase, Mund und Hände. So stand hinter der Sinnestäuschung des jungen Freud eine klare psychologische Motivation. Sacks hingegen geht es in seinem mit Patientenschicksalen, Fachwissen und historischen Mini-Exkursen randvollen medizinischen Prosaband hauptsächlich um Halluzinationen, die einer psychologisierenden Deutung unzugänglich sind. Für den 1933 geborenen Mediziner lassen die meisten Liliputaner, unheimlichen Stimmen und pelzigen Monster, also jene Halluzinationen, deretwegen er seit Jahrzehnten konsultiert wird, gerade keine Rückschlüsse auf geheime Wünsche und Charaktereigenschaften des Betroffenen zu. Dafür wird der Ursprung dieser Wahrnehmungs-Illusionen eindeutig im Gehirn verortet: Eine Vielzahl der angeführten Halluzinationen beruht auf einer hirnphysiologischen Veränderung, wie sie unter anderem bei Parkinson oder Migräne auftritt. Andere fallen unter die Rubrik „organische Psychose“ und sind für einen Drogenrausch ebenso typisch wie für den Kalten Entzug. Beides kennt Sacks nicht nur von seinen Patienten. Als Medizinstudent experimentierte er mit LSD und Cannabis. Per Gedankenübertragung einigte er sich mit seinem Freund, wer mit Bierholen dran ist. Dann sah er zum ersten und letzten Mal im Leben Indigoblau – „die Farbe des Himmels, um die sich Giotto sein Leben lang vergebens bemüht hat“. Als junger, gestresster Assistenzarzt half er während der wenigen Stunden, die ihm zum Schlafen blieben, mit einer ordentlichen Dosis Chloralhydrat nach. Eines Abends waren seine Vorräte aufgebraucht. Sein Puls begann zu rasen, Passanten blickten ihn mit bedrohlichen Insektenaugen an, darunter schlängelten sich obszöne Riesenrüssel. Sacks war überzeugt, er sei verrückt geworden, bis eine Kollegin ihn aufklärte, dass er unter lebensbedrohlichen Entzugssymptomen litt: „Ich war unendlich erleichtert – tausendmal lieber ein Delirium tremens als eine schizophrene Psychose.“ Als Kenner der Hirnchemie weiß Sacks, wie man menschenfreundlichen Arzt- und analytischen Expertenblick, autobiografische Bekenntnisfreude und fachübergreifende Gelehrsamkeit mischen muss, um Leser-Rezeptoren zu bedienen. Der typische Sacks-Sound, der sich nicht nur in Bestsellern wie „Der Mann, der seine Frau mit seinem Hut verwechselte“ bewährt hat, führt durch insgesamt fünfzehn Kapitel. Sacks’ Begeisterung für sein Thema ist grenzenlos. Unter all den Dingen, mit denen es ein Neurologe im Lauf seines Berufslebens zu tun bekommt, scheint die Halluzination für ihn das Faszinosum schlechthin zu sein, eine Art Allrounder, der nicht bloß Aufschluss über sämtliche Funktionsweisen des Gehirns gibt, sondern eine „ganz besondere Kategorie des menschlichen Bewusstseins“ ist und aus Geschichte und Kultur nicht wegzudenken. Dennoch bietet dieses Buch eher didaktischen Unterhaltungswert als großen Erkenntnisgewinn. Oliver Sacks schaut zwar über den Tellerrand des Mediziners, scheint aber fast ängstlich da¬rauf bedacht zu sein, sich ja nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Statt auf greifbare Thesen baut er ganz auf Beschreibungen des Phänomens und fächert eine beachtliche Bandbreite des halluzinatorischen Erlebens in detailversessener Ausführlichkeit auf. Manchmal haben ihm Kollegen die Arbeit schon abgenommen. Eine regelrechte Schatzkiste, in der unzählige Halluzinationen beschrieben wurden, sind für Sacks die Aufzeichnungen des kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield. Ende der 1930er-Jahre entwickelte dieser die sogenannte Montreal-Methode und revolutionierte damit die Möglichkeiten der Epilepsie-Behandlung. Penfield ließ seine Patienten bei klarem Bewusstsein, während er ihnen unter örtlicher Betäubung zunächst die Schädeldecke entfernte. Dann tastete er mit einer Elektrode die freiliegenden Hirwindungen ab, um die spezifische Wahrnehmungshalluzination zu provozieren, die in der Regel mit dem Beginn eines epileptischen Anfalls einhergeht. So war es bei einem Patienten der Geruch von verbranntem Toast, der einen Krampf ankündigte, ein anderer hatte dabei Beethovens Fünfte im Ohr, und ein dritter sah sich in ein Tanzlokal versetzt, kurz bevor sein Gehirn begann, sich zu entladen. Sobald ein Patient, der auf Penfields OP-Tisch beständig Rückmeldung über sein Befinden geben musste, von seiner anfallsspezifischen Halluzination befallen wurde, wusste der Operateur, dass die Elektronadel sich direkt auf dem Epilepsie-Herd befand. Nach dem Motto „no brain is better than bad brain“ wurde die Stelle weggeschnitten. [[nid:53827]] Hätte Penfield ein knappes Jahrhundert zuvor in Russland praktiziert, wäre die Weltliteratur heute vielleicht um einen ihrer eindrucksvollsten Protagonisten ärmer. Denn Fürst Myschkin aus „Der Idiot“ ist nicht nur der berühmteste Epileptiker der Literaturgeschichte, er liefert auch die präziseste Vorstellung vom Leiden seines Schöpfers. Dostojewski lässt ihn jene Transzendenz-Erfahrungen und mystischen Visionen durchleben, die auch sein eigenes Anfallsleiden begleiteten. Ein klarer Fall von „Temporallappenepilepsie mit ekstatischen Auren“, spezifiziert Sacks die allgemein bekannte Diagnose und wundert sich nebenbei ein wenig über Penfield, in dessen Operationsprotokollen ausgerechnet die ekstatischen Halluzinationen fehlen. Offensichtlich hat dessen Elektrode niemals jenen Bereich des Gehirns gefunden, in dem das neuronale Sub¬strat für unsere Gottesvorstellung wohnt. Die Frage, ob Gott noch eine andere Entsprechung hat als nur ein Stückchen Hirnsubstanz, klammert Sacks explizit aus. Und ganz offenbar scheint bereits die Aktivierung dieses Areals bei Epilepsie zu genügen, damit nicht nur die Literatur, sondern auch die Weltgeschichte in Bewegung gerät. So litt Johanna von Orleans vermutlich ebenfalls unter Temporallappenepilepsie mit ekstatischen Auren. Zumindest scheint dies für Sacks die plausibelste Erklärung für den bis heute rätselhaften Fall eines ungebildeten Bauernmädchens, das vor sechshundert Jahren Tausende von Männern mit ihrem religiösen Sendungsbewusstsein ansteckte, die ihrem Kommando in der Schlacht gegen den Feind gehorchten. Kurz vor ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen im Jahr 1431 gab Johanna vor Gericht zu Protokoll, dass sie ihren göttlichen Auftrag bereits im Alter von dreizehn Jahren erhielt. Sie hörte eine Stimme, die sie beim Namen rief. Vielleicht, so ließe sich die Epilepsie-These mit Freud ergänzen, hatte sie sich gerade das gewünscht. Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Rowohlt, Reinbeck 2013. 352 S., 22,95 €
Marianna Lieder
Der Neurologe Oliver Sacks erzählt von den Halluzinationen seiner Patienten, als handele es sich um phantastische Prosa
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kultur
2013-04-04T17:12:39+0200
2013-04-04T17:12:39+0200
https://www.cicero.de//kultur/oliver-sacks-uber-halluzinationen-die-monstren-des-geistes/53919
Linke Gewalt gegen die CDU - „Eine unzumutbare Entgrenzung“
Lukas Krieger ist Rechtsanwalt und Direktkandidat der CDU im Berliner Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf. Herr Krieger, am späten Donnerstagnachmittag haben Linksextreme ein Büro des CDU-Kreisverbands Charlottenburg-Wilmersdorf besetzt. Wie haben sich die Randalierer Zutritt verschafft? Die vermummten Randalierer sind plötzlich von allen Seiten gekommen. Es gibt zwei Türen, und sie sind in die Geschäftsstelle geströmt. Die Gruppe bestand aus ungefähr 40 Personen, die meisten waren vermummt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich zwei Mitarbeiter in unserem Büro. Wie sind die Mitarbeiter mit der Situation umgegangen? Sie waren verständlicherweise völlig schockiert und überfordert. Die Randalierer haben peinliche Befragungen mit den Mitarbeitern durchgeführt, warum sie denn Faschisten seien und warum sie mit Faschisten paktieren würden. Das ist sehr unanständig, denn bei den zwei Mitarbeitern handelt es sich um einfache Arbeitnehmer und keine Parteifunktionäre. Sie kandidieren nicht für ein öffentliches Amt und sind trotzdem Ziel der Radikalen geworden. Wie haben die Mitarbeiter das Verhalten der vermummten Randalierer wahrgenommen? Sie haben sich sehr angsteinflößend verhalten. Mit ihrer Physis und mit lauten Parolen haben sie meine Kollegen in die Ecke gedrängt. Auf ihren Plakaten standen Slogans wie „Asylrecht verteidigen, Merz und AfD abschaffen“ oder „Konservative helfen den Nazis an die Macht“. Das war ein Versuch der Einschüchterung, anders kann ich es nicht beschreiben. Es ist ein erheblicher Sachschaden entstanden. Eine der Türen wurde zerstört, und sämtliche Wahlkampfmaterialien sind durch die Gegend geflogen und beschädigt worden. Außerdem ist unser CDU-Schriftzug gestohlen worden. Wie konnte die Besetzung der Linksextremen beendet werden? Nur durch das Hinzutreten der Polizei konnte die Situation aufgelöst worden. Die Vermummten waren ungefähr 40 Minuten in unserem Büro. Als die Polizei eintraf, haben die Randalierer schnell die Flucht ergriffen. Vor der Geschäftsstelle bildeten sie noch einen Blockadering, allerdings konnten sie von der Polizei zurückgedrängt werden. In Charlottenburg-Wilmersdorf treten Sie mit Lisa Paus und Michael Müller gegen prominente Politiker an. Haben Sie bereits Solidaritätsbekundungen erfahren? Ich vermisse jede Solidarität seitens meiner direkten politischen Mitbewerber: Sowohl Lisa Paus als auch Michael Müller haben sich nicht bei mir gemeldet. Auch die Kreisverbände der Grünen und der SPD schweigen bislang. Das steht wohl für sich. Wissen Sie bereits, aus welchen Kreisen die Besetzer kamen? Konnten Personalien festgestellt werden? Die Polizei kommunizierte mit einem ihrer Sprecher. Außerdem konnten ein oder zwei Personen identifiziert werden. Wir haben es mit der linksradikalen Szene zu tun, die insbesondere der Seebrücke-Initiative nahesteht. Sie treten dafür ein, den unbegrenzten Zustrom von Flüchtlingen und Migranten aufrechtzuerhalten. Haben Sie das Gefühl, dass sowohl die SPD als auch die Grünen in den letzten Tagen für das politisch vergiftete Klima in unserem Land mitverantwortlich sind? Solche Taten, wie Sie und Ihre Mitstreiter sie erfahren mussten, geschehen nicht in einem politisch luftleeren Raum. Es ist eine unzumutbare Entgrenzung, wenn Politiker aus der SPD und den Grünen nun Vergleiche mit 1933 äußern. Wir erleben gerade den Versuch, die CDU auf eine Stufe mit der AfD zu stellen. Auch der Nazi-Vorwurf ist in diesen Tagen allgegenwärtig. Das erschwert die politische Auseinandersetzung in der demokratischen Mitte natürlich ungemein. In dem Moment, in welchem einen CDUler vorgeworfen wird, er sei ein Nazi, muss man sich massiv dagegen wehren. Das ist mein großes Problem an der moralisch aufgeladenen Debatte: Wir reden in diesen Tagen überhaupt nicht über all die großen Fragen, die für unser Land wichtig sind. Wie reagieren die Bürger in Charlottenburg-Wilmersdorf in den letzten Tagen auf die Asyl-Initiative von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz? Ich habe in den letzten Tagen in Bürgergesprächen einen unglaublichen Zuspruch erfahren. Zahlreiche Bürger fordern uns an den Infoständen und in Telefonaten auf, dass wir durchalten und dem Gegenwind standhalten sollen. Die Bürger haben keine Lust mehr auf die ständigen Debatten darüber, wer nun ein Nazi sei. Die haben Sorgen und Nöte und wollen Lösungen dafür sehen. Das ist das, was die Menschen umtreibt. Viele Bürger haben in den letzten Jahren das Vertrauen in die Politik verloren, weil diese Sorgen ignoriert wurden. Deswegen ist es jetzt umso wichtiger als CDU, den von Merz eingeschlagenen Kurs in der Migrationspolitik weiterhin umzusetzen. Aus vielen Gesprächen konnte ich erfahren, dass die Bürger eben vor allem in der Migrations- und Wirtschaftspolitik Veränderungen möchten. Ich bin schockiert, dass sowohl von der SPD als auch von den Grünen kein einziger vernünftiger Vorschlag hierzu kommt. Das geht bei all den unverschämten Nazi-Vorwürfen der letzten Tage völlig unter. Das Gespräch führte Clemens Traub.
Clemens Traub
Linksradikale überfallen ein Büro des CDU-Kreisverbands Charlottenburg-Wilmersdorf und beschimpfen Mitarbeiter als Nazis. Für den Charlottenburger CDU-Direktkandidaten Lukas Krieger ist das Verhalten von SPD und Grünen in der Migrationsdebatte mitverantwortlich für die Gewalteskalation.
[ "CDU", "Linksradikalismus", "Migrationspolitik" ]
innenpolitik
2025-01-31T13:22:11+0100
2025-01-31T13:22:11+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/linke-gewalt-gegen-die-cdu-eine-unzumutbare-entgrenzung
Streitgespräch - „Subventionierte Arbeitsplätze sind keine Dauerlösung“
Marquardt: Im Wahlprogramm der Union heißt es: „CDU und CSU machen nur Zusagen, die wir auch einhalten können. Das ist eine zentrale Frage der politischen Glaubwürdigkeit und unterscheidet uns von manchen Mitbewerbern.“ Gleichzeitig verspricht die Union im Wahlprogramm die Vollbeschäftigung bis 2025. Das ist ein Witz. Die CDU/CSU hat bis jetzt alles behindert, um zum Beispiel die Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verringern. Sie will weder einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt, noch vernünftige Löhne oder gute Arbeit. Müller-Vogg: Ganz so ist es ja nicht. Die CDU/CSU sagt, sie setze sich „ein ehrgeiziges Ziel“ und wolle „bis spätestens 2025 Vollbeschäftigung für ganz Deutschland“. Was soll daran falsch sein, sich Vollbeschäftigung als Ziel vorzunehmen? Was die Methoden betrifft: Die SPD würde am liebsten Langzeitarbeitslose in 100 verschiedene Fortbildungs-, Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen stecken. So entstehen keine Arbeitsplätze, deren Ertrag die Kosten deckt. Hoch subventionierte Arbeitsplätze helfen niemandem. Marquardt: Richtig, Subventionen sind keine Dauerlösung. Die Arbeitswelt ändert sich rasant. Wir alle müssen offen für Veränderung sein. Eine moderne Arbeitsmarktpolitik gestaltet den Wandel durch eine gute Balance zwischen sozialer Sicherheit und flexiblen Arbeitsmodellen. Bei der CDU/CSU heißt das Konzept die Steuern „für alle fair und gerecht“ senken und Vollbeschäftigung. Wir brauchen jedoch Einnahmen, um diese Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Sorry, aber was die CDU/CSU da im Angebot hat, kann nicht eingehalten werden. Ich kann da keinen konkreten Plan erkennen. Müller-Vogg: Steuern sind ein gutes Stichwort. Die SPD will die Reichensteuer auf 48 Prozent erhöhen. Zusammen mit dem Soli sind das dann 50,6 Prozent. Dieser Steuersatz trifft Handwerker, Selbstständige, alle Personengesellschaften und somit gerade die Unternehmen, die die meisten Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Wenn man diesen unternehmerischen Männern und Frauen immer weniger vom Gewinn lässt, dann beschneidet man die Investitionsmöglichkeiten und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Gerhard Schröder wusste das. Mit seiner Steuerreform im Jahr 2000 hat er für mehr Jobs gesorgt. Martin Schulz hat das leider vergessen. Marquardt: Martin Schulz vergisst vor allem nicht, dass wir Investitionsmöglichkeiten nur mit einer gerechten Steuerpolitik schaffen können. Im Übrigen wollen wir den Solidaritätszuschlag für untere und mittlere Einkommen ab 2020 abschaffen. Gerade Selbstständige oder Arbeitsplatz schaffende Unternehmen profitieren davon. Und ja, geplante Steuerentlastungen wollen wir unter anderem mit einem höheren Spitzensteuersatz gegenfinanzieren. Was ist falsch daran, Entlastung gleichzeitig mit mehr Gerechtigkeit zu verbinden? Die Message der Union lautet: Steuern bedrohen das individuelle Wohlbefinden und gehören überall gesenkt. Aber wer so denkt, verhindert eine gerechte Verteilung der Steuerlast. Das ist sicher konsequent konservativ, aber keine Antwort darauf, wie der Balanceakt zwischen Einnahmen und Ausgaben gestaltet werden soll. Müller-Vogg: Also, wie die Abschaffung des Solis für untere und mittlere Einkommen die Investitionsneigung bei Selbstständigen und den insgesamt drei Millionen Personengesellschaften erhöhen soll, erschließt sich mir nicht. Das ist weder Angebots- noch Nachfragepolitik: das ist reine Hoffnungs-Ökonomie. Und was die Gerechtigkeit betrifft: Die oberen 10 Prozent der Einkommenssteuerzahler versteuern mehr als 81.000 Euro im Jahr. Doch diese kleine Gruppe bringt 55 Prozent der gesamten Einkommensteuer auf. Wenn das keine Umverteilung ist, was dann? Ich glaube, für Sie ist Gerechtigkeit erst hergestellt, wenn noch mehr Menschen noch mehr vom Staat weggenommen wird. Schade, dass die SPD steuerpolitisch wieder in der Vor-Schröder-Ära gelandet ist – direkt in den Armen der Linkspartei. Noch eine Anmerkung zu unserem letzten „Duell“: Ihr SPD-Fraktionschef scheint uns zu lesen. Er plädiert plötzlich für „Öffnungsklauseln“ in Koalitionsverträgen, um bei bestimmten Themen wechselnde Mehrheiten zu ermöglichen. Ein Punkt für Sie. Dies ist der dritte Teil einer Serie von Streitgesprächen zwischen der linken SPD-Politikerin Angela Marquardt und dem konservativen Publizisten Hugo Müller-Vogg. Trotz der politischen Unterschiede verbindet beide eine Freundschaft. Bis zur Bundestagswahl werden sie regelmäßig das Politgeschehen kommentieren.
Hugo Müller-Vogg, Angela Marquardt
Kolumne: Lechts und Rinks. Die Union tritt mit ihrem Wahlprogramm für Steuersenkungen und eine Vollbeschäftigung bis 2025 ein. Die SPD-Politikerin Angela Marquardt hält das für einen Witz. Der Publizist Hugo Müller-Vogg verteidigt das Ziel
[ "Streitgespräch", "Union", "SPD", "CDU", "CSU", "Steuern", "Wahlprogramm" ]
innenpolitik
2017-07-06T17:23:35+0200
2017-07-06T17:23:35+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/streitgespraech-subventionierte-arbeitsplaetze-sind-keine-dauerloesung
Rundfunkgebühren - Warum man den Zuschauern nichts erstatten sollte
Hat man so etwas schon einmal erlebt: Da könnte eine Institution viel Geld bekommen. Doch vorher nimmt man es ihr weg. Und dann bezeichnet der Chef dieser Institution das als „eine gute Nachricht für alle“. So etwas gibt es nur in Absurdistan – oder bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Mit diesen Worten und wenigen Einschränkungen nämlich kommentierte der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor die geplante Senkung der Rundfunkgebühren. Sein Kollege, ZDF-Intendant Thomas Bellut, war sogar noch überschwänglicher: Die Reduzierung sei „ein positives Signal für alle Beitragszahler“ und stärke „die Akzeptanz für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk“. Die neue Haushaltsabgabe spült ARD, ZDF und Deutschlandradio bis 2016 rund 1,15 Milliarden Euro mehr in die Kassen als bisher erwartet. Das hat die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) in dieser Woche errechnet. Zugleich empfahl die KEF, den Überschuss wieder an die Gebührenzahler auszuschütten. Die Abgabe solle demnach von 17,98 Euro auf 17,25 Euro sinken. Jeder betroffene Haushalt könnte also 73 Cent zurückbekommen. Dass Marmor und Bellut diesen Vorschlag nun so enthusiastisch begrüßen, ist purer Populismus. Sie stehlen sich feige aus ihrer Verantwortung, das meiste für ihre Sender und ihre Zuschauer herauszuholen. Statt den erwarteten Überschuss zu verteidigen, anschließend sinnvoll zu investieren und ihre Dudelapparate zum Weltklasse-Rundfunk weiterzuentwickeln, setzen die Fernsehzaren auf den billigen Applaus ihres Publikums, der im Übrigen ohnehin nicht kommen wird. [gallery:20 Gründe für einen Sonntag ohne Tatort] Denn was sind schon 73 Cent? Die Rundfunkteilnehmer werden den Unterschied auf ihrem Konto praktisch nicht wahrnehmen. Und jene Haushalte, die ihn spüren würden, weil sie arm sind, sind aufgrund der Sozialklausel ohnehin von der Abgabe ausgenommen. Ein Intendant sollte nicht vor seinen Kritikern einknicken. Nicht vor Politikern, die Geldgeschenke verteilen wollen. Und auch nicht vor notorischen Quartalsnörglern, die das öffentlich-rechtliche System am liebsten gleich in seiner Gänze zertrümmern würden. Woher kommt nur dieser Wahn, den ersten richtig schönen Mehrbetrag für öffentlich-rechtlichen Journalismus in Deutschland wieder zu verteilen? Der Gesundheitsfonds und die Krankenkassen verzeichnen einen Überschuss von über 27 Milliarden Euro. Und ist da irgendjemand auf die Idee gekommen, das Geld wieder an die Beitragszahler auszuschütten? Nein. Natürlich nicht! Die Kassen haben Rückstellungen gebildet. Damit sie auch in Zukunft für die Gesundheit der Patienten da sind. Wie es sich gehört. Doch wenn es um die geistige Gesundheit dieses Landes geht, kümmert das plötzlich niemanden mehr. Freilich, man kann hier und da am öffentlich-rechtlichen Programm meckern. Was Medienkritiker ja auch fortlaufend tun. Ob es die siebenundneunzigste Ausgabe von Achims Hitparade oder die fuffzigste Talkshow braucht: geschenkt. Auch muss die Verschwendung bei Sportrechten – besonders im Fußball – einen jeden Gebührenzahler regelmäßig zur Weißglut treiben. Aber muss man deswegen sofort wieder alles zurückdrehen, was man mit der Haushaltsabgabe erst mühsam eingerenkt hat? Mindestens aus zwei Gründen sollten die Bundesländer noch einmal nachdenken, bevor sie der Gebührensenkung der KEF zustimmen. Erstens ist die Lage in den Rundfunkanstalten längst nicht so rosig, wie vielseits angenommen. Etwa in der Personalpolitik: Festanstellungen gibt es – besonders im Ost-Sender MDR – kaum noch. Viele Journalisten verharren in prekärer, de facto sittenwidriger fest-freier Position,  mit Fristverträgen und miserablen Honoraren. Oder in der Programmpolitik: Sparfixierte Manager wollen allerorten das Niveau rasieren. So will SWR-Intendant Peter Boudgoust 2016 die drei beachtlichen Radio-Sinfonieorchester in Stuttgart, Baden-Baden und Freiburg zwangsfusionieren. Anschließend will er „2+Leif“, die einzige Talkshow-Perle im Südwesten, einstampfen. Kein Wunder, dass Boudgoust in der Januar-Ausgabe des Magazins Cicero zum „Salon-Absteiger des Jahres“ gekürt wurde. [[nid:56704]] Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weshalb man vom öffentlich-rechtlichten Gebührentopf lieber die Hände lassen sollte. Der Journalismus vor Ort geht gerade den Bach runter. Lokalzeitungen schließen. Dort, wo Medien vor Ort verschwinden, breitet sich der Rechtsextremismus aus. Experten fragen sich, wie sich kritische Recherche in Zeiten der Umsonstkultur noch finanzieren lässt. Nordrhein-Westfalen hatte da eine Idee: eine Stiftung, die sich für Qualitätsjournalismus und Forschung einsetzt. Angesiedelt wird sie bei der Landesanstalt für Medien, finanziert über die Rundfunkgebühr. Das Ganze hat nur einen Schönheitsfehler. Stipendien soll die Stiftung nicht vergeben, auch eine dringend benötigte Professur für Lokaljournalismus wird es dort nicht geben. All das könnte man doch aber andernorts machen. Um damit Qualitätsjournalismus im Lokalen zu fördern. 1,6 Millionen Euro soll der Etat der NRW-Stiftung betragen – nicht auszudenken, was man mit einer ganzen Milliarde anstellen könnte. Für eine kritische, demokratische Kontrolle vor Ort. Dort, wo die dritten Rundfunkanstalten nicht hinkommen. Auch so ließe sich ein öffentlich-rechtlicher Informationsauftrag begründen. Auch dafür könnten Leute wie Marmor und Bellut kämpfen. Ganz edel, ganz uneigennützig. Ganz für den Journalismus. Noch wäre das Geld dafür da.  Wenn man es aber erst einmal unter den Massen verteilt hat, ist es nahezu unmöglich, es ihnen wieder wegzunehmen.
Petra Sorge
Die Milliardeneinnahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollen wieder an die Haushalte ausgeschüttet werden. ARD und ZDF spenden Applaus – purer Populismus. Das Geld sollte lieber einbehalten werden, um damit Sinnvolles zu tun
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wirtschaft
2013-12-20T10:38:13+0100
2013-12-20T10:38:13+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/rundfunkgebuehren-warum-die-zuschauer-kein-geld-zurueck-kriegen-sollten/56731
Parteien in der Krise – Ypsilanti und der Realitätsverlust von Politikern
Der Unmut über die Art und Weise, wie manche politische Akteure Politik betreiben, nimmt in den letzten Jahren stetig zu. So ist der Anteil derer, die den Zustand der Parteien und vieler ihrer Repräsentanten sogar als eines der größten Probleme in Deutschland einschätzen, nach der abrupten Kehrtwende in der Energiepolitik von 10 Prozent im Jahr 1994 auf 35 Prozent  angestiegen. Diese wird von der Mehrheit der Bürger als wenig glaubhaften, weitgehend opportunistisch motivierten, völlig überzogenen, hektischen und in dieser Form nicht als erforderlich bewerteten. Gespeist wird dieser zunehmende Unmut vor allem von Politikern, die sich vom Urteil der Menschen wenig beeindruckt zeigen. So ließ sich zum Beispiel Wolfgang Jüttner bei der Landtagswahl in Niedersachsen Anfang 2008 zum Spitzenkandidaten seiner Partei aufstellen, obwohl ihn die niedersächsischen Bürger schon immer für einen der unfähigsten Politiker des Landes hielten. Jüttner dezimierte dann im Januar 2008 auch die Wählersubstanz der SPD in Niedersachsen um die Hälfte: Die Sozialdemokraten wurden nicht mehr wie unter Schröder von zwei, sondern nur noch von einer Million Wählern gewählt. Ralf Stegner in Schleswig-Holstein ist ein anderes Beispiel: Obwohl er schon zu Simonis Zeiten der unbeliebteste Politiker im Land war, klebt er bis heute an seinem Amt als Landesvorsitzender seiner Partei. Damit und mit seinen öffentlichen Auftritten verhindert er aber, dass Torsten Albig, der als Kieler Oberbürgermeister durchaus Anerkennung erhält, als Ministerpräsidentenkandidat bei der kommenden Landtagswahl im Mai Konturen gewinnen kann, um wirklich erfolgreich zu sein. Ein besonders schwerer Fall totaler Uneinsichtigkeit aber ist Andrea Ypsilanti. Sie, die ihre Partei im einstigen sozialdemokratischen Muster- und Vorzeigeland Hessen in den Abgrund führte (bei der Landtagswahl 2009 wurde die SPD nur noch von 14 von 100 Wahlberechtigten gewählt), meinte vor ein paar Tagen in einem Interview mit dem STERN: „Wir haben damals einen Schritt nach vorne gewagt“. Sie behauptet zudem ernsthaft: „Hannelore Kraft hat von meinen Erfahrungen profitiert“ und glaubt, dass sich heute noch Leute dafür interessierten, was sie „zur politischen Zukunft“ denke. Ihrer Partei droht sie zudem an: „Ich habe noch was zu sagen; warum sollte ich das der Parteiführung ersparen?“. Und von Peer Steinbrück sagt sie: „Ich habe mit Kopfschütteln wahrgenommen, wie er sich inszeniert, obwohl er weiß, dass er keine Mehrheit in der Partei findet“. Dabei verdrängt sie völlig, dass sie sich in Hessen in Form eines psychopathologische Züge tragenden Ego-Trips „inszeniert“ hat, obwohl die übergroße Mehrheit der Hessen dies nicht wollte. Ypsilantis totaler Realitätsverlust begann schon mit der Überschätzung ihres Wahlergebnisses vom Januar 2008, das sie als Mandat für einen totalen Politikwechsel interpretierte. In Wirklichkeit aber hatte sie schon 2008 mit einem Anteil von 23 Prozent aller Wahlberechtigten ihrer Partei das schlechteste Ergebnis in der hessischen Wahlgeschichte seit 1949 beschert. Die Landtagswahl 2008 war ja keine Pro-Ypsilanti sondern eine Anti-Koch-Wahl. Roland Koch hatte damals ein an sich richtiges Thema - Jugendgewalt – so im Wahlkampf behandelt, dass er nicht nur Teile der CDU-Sympathisanten gegen sich aufbrachte, sondern auch viele SPD-Anhänger zur Wahl motivierte, die große Bedenken gegen Ypsilanti hatten und deshalb bei anderen Konstellationen der Wahl ferngeblieben wären. Ohne Rücksicht auf den Wählerwillen (schließlich wollte die große Mehrheit der Hessen – 77 Prozent – 2008 keine Politikwende à la Ypsilanti und ihrer Kumpanen) wollte sie sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lassen. Dass 72 Prozent der Hessen insgesamt, aber auch 65 Prozent der Wähler der SPD vom Januar 2008 dagegen waren, hielt sie ebenso wenig von ihrem Kurs ab wie die Tatsache, dass die Weigerung von vier SPD-Landtagsabgeordneten, dem Bündnis mit der Linke in Hessen zuzustimmen, von drei Vierteln der Hessen und zwei Dritteln der SPD-Wähler für richtig befunden wurde. Ypsilanti hat aber nicht nur die SPD in Hessen in eine Katastrophe geführt, sondern auch den Absturz der SPD bei der Bundestagswahl 2009 in hohem Maße zu verantworten. Ihr Wortbruch und ihre von Kurt Beck (aber auch von anderen SPD-Granden) nicht gestoppte Gier nach der Macht kostete die SPD 2009 jedwede Glaubwürdigkeit und letztlich 10 Millionen Wähler, die noch 1998 für eine sozialdemokratische Modernisierungs- und Erneuerungspolitik mit Gerhard Schröder gestimmt hatten. Das alles aber ficht Ypsilanti auch heute nicht an: Sie wirbt mit ihrem Institut „Solidarische Moderne“ unverdrossen für eine „rot-rot-grüne Politik in Land und Kommunen“ und bezeichnet sich als immer noch „empathischen“ Menschen, also jemanden, der die „Bereitschaft und die Fähigkeit hat, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen“ (so die Definition des Duden). Doch von einer Partei, die eine derartige „Empathie“ duldet, wenden sich die Menschen voller Grausen.
Mißlungene Personalpolitik der Parteien schadet dem politischen System, der Vertrauensverlust ist nachhaltig. Manche Politiker leiden gar unter totalem Realitätsverlust, schreibt unser Kolumnist, Forsa-Chef Manfred Güllner.
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innenpolitik
2012-03-01T10:39:19+0100
2012-03-01T10:39:19+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/ypsilanti-und-der-realitaetsverlust-von-politikern/48489
SPD - Peer Steinbrück ist nicht das größte Problem
Das hatten die Sozialdemokraten sich ganz anders gedacht. Selbstbewusst und geschlossen wollten sie ins Bundestagswahljahr 2013 starten. Der Kanzlerkandidat sollte erst den Wahlkämpfern in Niedersachsen zusätzlichen Schub geben. Vor allem deshalb hatte die SPD die Kür von Peer Steinbrück um vier Monate vorgezogen. Anschließend wollten die Sozialdemokraten mit einem rot-grünen Sieg in Hannover im Rücken selbstbewusst die schwarz-gelbe Bundesregierung herausfordern. Und jetzt? Der Kanzlerkandidat ist angeschlagen, die Stimmung in der Partei ist schlecht, die Zweifel an einer erfolgreichen Wahlkampagne wachsen. Gleichzeitig scheint die CDU in der Wählergunst unaufhaltsam enteilt. Vor allem Kanzlerin Angela Merkel ist bei den Deutschen beliebter denn je. Weder die Eurokrise noch das schwarz-gelbe Dauergezänk im Kabinett können ihr etwas anhaben. [gallery:20 Gründe, warum Merkel Kanzlerin bleiben muss] Nun droht der SPD am kommenden Sonntag ein weiterer Rückschlag. Der fest eingeplante Wahlsieg in Niedersachsen könnte Rot-Grün noch aus den Händen gleiten. Im Sommer lagen SPD und Grüne in allen Umfragen zusammen deutlich vor CDU und FDP, die Liberalen drohten gar aus dem Landtag zu fliegen. Die Stimmung hat sich gedreht. Der Vorsprung von Rot-Grün vor Schwarz-Gelb ist auf ein bis zwei magere Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Die Liberalen haben zudem wieder die Fünf-Prozent-Hürde im Blick. Der Wahlabend in Hannover wird spannend. Es ist allerdings ziemlich billig, Peer Steinbrück zum alleinigen Sündenbock zu machen und ihm ganz alleine die Schuld an der misslichen Lage der SPD zu geben. Sicher hat der Kandidat Fehler gemacht, sicher fehlt ihm gelegentlich das sozialdemokratische Taktgefühl, seine Äußerungen über das niedrige Kanzlergehalt waren alles andere als hilfreich. Tatsächlich jedoch gibt es eine ganze Reihe von Gründen dafür, warum die SPD im Wahljahr 2013 nicht in die Offensive kommt. Nächste Seite: Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Genossen ihr Heil in einem neuen Kanzlerkandidaten suchen Niedersachsen wird für die Sozialdemokraten nun zur Schicksalswahl. Gelingt es, zusammen mit den Grünen, den Vorsprung im Landtag in Hannover ins Ziel zu retten, dann werden sich sie sich wohl zusammenraufen und der Kanzlerkandidat wird einen Neustart ausrufen. Verliert die SPD hingegen die kleine Bundestagswahl zwischen Elbe und Ems, dann ist die sozialdemokratische Not riesengroß. Die Genossen werden Peer Steinbrück eine Mitschuld geben, die Zweifel an dem Kanzlerkandidaten werden lauter werden und innerparteilichen Konflikte wieder aufbrechen. Viele Genossen werden sich ihrer Neigung zu Selbstzweifeln und Selbstzerfleischung hingeben. Sie könnten die Bundestagswahl verloren geben, bevor die heiße Wahlkampfphase überhaupt richtig begonnen hat. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Genossen ihr Heil in einem neuen Kanzlerkandidaten suchen. Dabei bleibt den Sozialdemokraten gar nichts anderes übrig, als die Nerven zu behalten, endlich ihre politischen Hausaufgaben zu machen und Peer Steinbrück den Rücken zu stärken. Selbst dann, wenn die Schicksalswahl in Niedersachsen schlecht ausgeht. Alles andere würde das sozialdemokratische Dilemma noch erheblich vergrößern. Ein Wechsel des Kanzlerkandidaten wäre reines Harakiri. Peer Steinbrück ist bei Weitem nicht das größte Problem der SPD. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
Christoph Seils
Den Auftakt des Superwahljahres hatte sich die SPD ganz anders vorgestellt. Doch es wäre fatal, jetzt den Kanzlerkandidaten zum alleinigen Sündenbock zu machen. Es gibt viele Gründe, warum die Partei nicht in die Offensive kommt
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innenpolitik
2013-01-14T11:20:40+0100
2013-01-14T11:20:40+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/peer-steinbrueck-ist-nicht-das-groesste-problem/53139
Wahlwerbespots - Krieg oder Kalauer im Wohnzimmer?
Schluss mit Casting-Models, Schauspielern und unwirklichen Darstellern. Ganz normale Menschen will der Kanzlerkandidat zeigen. Deswegen kommen im Werbespot dieser Volkspartei Bürger zu Wort. Bodenständig. Na klar. Nein, die Rede ist nicht vom 79-sekündigen Wahlwerbespot der SPD. Es geht um drei CSU-Filme zur Bundestagswahl aus dem Jahre 1980. In jenem Jahr waren die Rollen von Regierungschef und Herausforderer vertauscht: Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef-Strauß trat als Unions-Kanzlerkandidat gegen SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine sozialliberale Koalition an. In einem der drei CSU-Spots ist Lina Wilfingseder zu sehen – eine Münchner Rentnerin mit Dauerwelle und Hornbrille. Sie rührt in ihrem Kochtopf, neben ihr hockt ein Dackel. In der nächsten Szene sitzt sie in Strauß‘ Büro. Das kuschlige Bürgergespräch artet jedoch zur weichgezeichneten Apokalypse aus: „Herr Ministerpräsident, kriegen wir jetzt wieder einen Krieg?“ Ganz so düster sind die Sorgen der Bürger im SPD-Wahlspot, der in den kommenden Tagen überall im Fernsehen zu sehen ist, freilich nicht. Da ist die tätowierte Mutter, die keinen Kita-Platz findet, der Handwerker an der Werkbank, der einen gerechten Lohn fordert oder die Mittelständlerin, die die Zwei-Klassen-Medizin „unmenschlich“ findet. [video:SPD-TV-Spot zur Bundestagswahl] Die Ankündigung der SPD, in ihrem Wahlspot mal etwas anderes zu machen und die Sorgen und Ängste von Repräsentanten aus dem Volk zu zeigen, ist längst nicht neu. Im Gegenteil – wenn es darum geht, Wählerstimmen zu gewinnen, greifen die Parteien auch mal Ideen aus dem gegnerischen Lager ab. Der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim beobachtet, dass die gleichen Stilmittel stets dort eingesetzt würden, „wo es passt“. Zum Beispiel da, wo es charismatische Führungspersönlichkeiten gibt. „Das Merkel-Video hat mich etwa an die Darstellung Gerhard Schröders 1998 erinnert.“ Der aktuelle CDU-Wahlspot: 90 Sekunden Angela Merkel, nah, in Halbtotale auf einem Balkon, dann seeehr nah. In ihrem Gesicht zeichnen sich die Spuren der Kanzlerschaft ab. Personalisierung total. Der SPD-Wahlspot von 1998: Gerhard Schröder spaziert am Nordseestrand entlang, eine Idylle wie in der Jever-Werbung. Brettschneider hält den Spot von Angela Merkel durchaus für zielführend: „Er betont so die Stärken der CDU: Stabilität, Ruhe, Vernunft. Alles Dinge, die man braucht, um die Eurokrise zu meistern.“ Während der SPD-Spot witzfrei bleibt, traut sich die Kanzlerin wenigstens einmal an einen Gag. Mit Anspielung auf ihre jüngste Bemerkung zum Internet sagt sie: „Manchmal betreten wir auch Neuland.“ [video:TV-Spot der CDU zur Bundestagswahl] Kampagnenmacher zerbrechen sich regelmäßig darüber den Kopf, was beim Wähler besser ankommt: Humor oder Ernsthaftigkeit? Christian Ude, SPD-Kandidat bei der bayerischen Landtagswahl, hat sich für ersteres entschieden. In seiner Wahlwerbung seufzt eine ältere Dame mit Perlenkette: „Jetzt wählts ‘n halt, damit a Ruah is.“ In einer anderen Szene wagt sich Ude an den Ultra-Kalauer. Er hält das Wort „Wort“ in den Händen – in großen, roten Lettern. „Ob er sich einen Gefallen getan hat mit diesem Wortwitz, ist allerdings fraglich“, bemerkt Brettschneider. Der Experte hält das für eine „Infantilisierung des Wahlkampfes“. Derartige Selbstironie könne einem Politikerimage auch schaden. „Sie ist eher da angebracht, wo Kandidaten unbekannt sind und sich durch solche Aktionen erst einmal ins Gerede bringen.“ Nach dem Motto: besser schlechte Schlagzeilen als gar keine. Nach diesem Prinzip gestaltete etwa Hartmut Koschyk aus dem fränkischen Forchheim seinen Kinospot zur Bundestagswahl 2009. Eigentlich war nicht er es, sondern seine Hündin Nora. Der Labrador-Retriever kläffte für sein Herrchen: „Bürgernah. Zuverlässig. Kompetent. Wuff. Am 27. September: Hartmut Koschyk. Macht nicht nur Hunde glücklich.“ Das tierische Gebell kam von einem regionalen Radiomoderator. Während die Republik über den Provinzpolitiker lachte, waren die Menschen vor Ort begeistert. Viele luden sich das „Whouuuuuuuu“ sogar als Klingelton fürs Handy herunter. Koschyk wurde nicht nur wiedergewählt. Der vormalige CSU-Geschäftsführer im Bundestag wurde nach der Wahl auch zum parlamentarischen Staatssekretär im Bundesfinanzministerium erhoben. Tierisch geht es auch im diesjährigen Wahlspot der Grünen zu. William Cohn, bekannt aus der Serie Roche & Böhmermann , vergleicht als Zoologe die Regierungskoalition mit einer Schnecke. Während seiner Erläuterungen laufen Bilder von schwarz-gelben Spitzenpolitikern. Die Gastropoda orientiere sich „aufgrund ihres fehlenden Rückgrates nicht an einem inneren Kompass“, sondern drehe ihre Fühler „ganz einfach nach dem Wind“. Während im Hintergrund Horst Seehofer zu sehen ist, erläutert Cohn, dass es sich um ein „äußerst gemächliches Kriechtier“ handle, das „eine ausgeprägte Vetternwirtschaft“ betreibe. [video:Grüner Werbespot 2013: Neues aus dem schwarz-gelben Tierreich] Derartiges negative campaigning, das „augenzwinkernd“ daherkomme, könne durchaus erfolgreich sein, ist Kommunikationsforscher Brettschneider überzeugt. Allerdings: Die Grünen wenden sich nicht nur mit ihrem Wahlwerbespot, sondern auch mit ihren hippen, alternativen „Anders“-Plakaten an die immer gleiche Zielgruppe – den Hipster. Wo bleibt die bürgerlich-konservative Gruppe, die die Basis doch mit der Nominierung Katrin Göring-Eckardts erreichen wollte? Wo bleiben die grünen Inhalte? Die CDU-Strategen haben da wohl tatsächlich die Nase vorn. Klare Botschaften für die eigene Klientel, Personalisierung für politikferne Schichten und eine Portion Selbstironie für die eher linksgerichtete Netzgemeinde. Vor allem aber: Harmonie. Mit Angstmache lässt sich kein Blumentopf gewinnen. Das musste auch Franz Josef-Strauß mit seinem Rentnerinnen-Spot 1980 erleben. Der CSU-Kandidat verlor die Wahl. Helmut Schmidt wurde als sozialliberaler Kanzler bestätigt.
Petra Sorge
Dieser Tage werden Wahlwerbespots wieder so manches Fernsehvergnügen unterbrechen. Parteistrategen zerbrechen sich regelmäßig den Kopf, was beim Wähler eher ankommt: Humor oder Ernsthaftigkeit? Ein Blick auf die Clips der Bundestagswahl
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innenpolitik
2013-08-23T17:25:51+0200
2013-08-23T17:25:51+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/wahlwerbespots-krieg-oder-kalauer-im-wohnzimmer/55523
Flüchtlingsdebatte und Terror - Jetzt fallen die letzten Tabus
Von wem stammt der folgende Satz über die von Flüchtlingen verübten Attentate in Würzburg, Reutlingen und Ansbach? „Niemand darf sich etwas vormachen, wir haben offenbar einige völlig verrohte Personen importiert, die zu barbarischen Verbrechen fähig sind, die in unserem Land bislang kein Alltag waren. Das muss man klar und tabulos benennen. Zu dieser Klarheit zählt auch, dass wir uns offensiv mit dem Thema Islamismus auseinandersetzen. Ansonsten riskiert die Politik, dass sie als realitätsfremd wahrgenommen wird.“ Nein, es ist kein AfD-Hinterbänkler aus irgendeinem Landesparlament, der das gesagt hat. Sondern Berlins CDU-Innensenator und Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, Frank Henkel, übrigens auch Landesvorsitzender seiner Partei. Für Henkel, der gern den starken Mann markiert, sind Flüchtlinge demnach eine Art Importware, die „wir“ (ob er damit die CDU, die Bundesregierung oder ganz Deutschland meint, lässt er offen) offenbar irgendwo bestellt haben und von denen sich jetzt einige als gefährlich erweisen. Es ist wohl eher die Tabulosigkeit seiner den miserablen Umfragewerten geschuldeten Wortwahl, die dazu führt, dass Politik „als realitätsfremd wahrgenommen wird“. Denn wer als für die Polizei zuständiger Minister insinuiert, dass Axtattentate und Machetenattacken inzwischen zum deutschen Alltag gehörten und daraus folgert, „wir“ müssten uns jetzt „offensiv mit dem Thema Islamismus auseinandersetzen“, dem sollten seine Parteifreunde am besten mal ein paar Tage Auszeit gönnen, bevor er nach der Wahl im September dann endgültig in Politrente geht. Die Gelegenheit, sich offensiv mit dem Thema Islamismus auseinanderzusetzen, hat Frank Henkel dann als Innensenator fünf Jahre lang gehabt. War zeitlich wohl zu knapp. Die Unkonditioniertheit in der Zuwanderungspolitik spiegelt sich längst in einer entgrenzten Debatte, in der wahlweise Einzelfälle zu allgemeinen Phänomenen überhöht oder umgekehrt verbreitete Verhaltensmuster zu Individualdefekten verniedlicht werden. Erstaunlicherweise sind es aber ausgerechnet Politiker, die das Spiel der Wirklichkeitsverdrehung betreiben. Die meisten Bürger dieses Landes aber haben ein sehr gutes Sensorium für notorische Schönredner auf der einen genauso wie für Demagogen oder Opportunisten vom Schlage Henkels auf der anderen Seite. Genau deswegen nehmen übrigens viele Menschen in diesem Land die Politik als „realitätsfremd“ wahr. Da kann dem Berliner Innensenator im Wahlkampf noch so lange auffallen, dass „wir“ dieses oder jenes aber endlich mal „tabulos benennen“ müssen. Ein anderes Beispiel ist Sahra Wagenknecht. Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei hat aus den Attacken von Würzburg, Reutlingen und Ansbach den Schluss gezogen, „dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges ‚Wir schaffen das‘ uns im letzten Herbst einreden wollte“. Eine nüchterne Feststellung, die schon vor den jüngsten Gewaltakten schwerlich widerlegt werden konnte – aber im Wirklichkeitsverweigerungskosmos der deutschen Politik sogleich den üblichen Shitstorm nach sich zog. Eine Thüringische Landtagsabgeordnete der Linken etwa schäumte über vor Wut ob des vermeintlich „puren, widerwärtigen Rechtspopulismus“ Wagenknechts; auch Bundestagsabgeordnete der Grünen verbreiteten unverzüglich ihre Abscheu auf dem intellektuellen Schnellschussmedium Twitter: Wagenknecht könne „doch auch die Partei wechseln, wenn sie AfD-Position so toll findet“ (Hashtag: #Pfuideibel), so der Berliner Grünen-MdB Özcan Mutlu. Wenn Idealismus aber zur Ideologie und aus Denunziantentum eine politische Tugend wird, riskiert die Politik nicht nur, als „realitätsfremd“ wahrgenommen zu werden. Sie ist dann vielmehr eine gefährliche Täuschung. Auf Dauer kann das nicht gutgehen.
Alexander Marguier
Hier die gefährliche Pauschalisierung, dort der Shitstorm: Die Reaktionen vieler Politiker auf die jüngsten blutigen Gewalttaten zeigen, dass die Zuwanderungsdebatte endgültig aus dem Ruder gelaufen ist
[ "Terror", "Flüchtlinge", "Würzburg", "Reutlingen", "Ansbach", "München", "Islamismus" ]
innenpolitik
2016-07-26T17:51:08+0200
2016-07-26T17:51:08+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/fluechtlingsdebatte-islamismus-terror-jetzt-fallen-die-tabus
Harvey Weinstein - Leider kein Dinosaurier
Noch bevor sie sich weigerte, ihn weiter zu vertreten, sagte die Anwältin Lisa Bloom über ihren Ex-Mandanten Harvey Weinstein, er sei eben ein „alter Dinosaurier, der sich an eine neue Zeit gewöhnen muss“. Sie hätte ihm erklären müssen, dass in seiner Machtposition des Chefs eines der großen Filmstudios einige seiner Worte und Taten auf andere „unangemessen“ wirken könnten. In der New York Times oder in dieser verstörenden Reportage im New Yorker (geschrieben vom Sohn von Mia Farrow und Woody Allen) kann man gerade nachlesen, wie dieses „unangemessene“ Verhalten dann offenbar aussah. Eine nicht enden wollende Reihe von Schauspielerinnen (darunter Superstars wie Angelina Jolie oder Gwyneth Paltrow) bezichtigt Weinstein, sie sexuell belästigt zu haben, drei Frauen werfen ihm sogar eine Vergewaltigung vor. Das Muster der mächtigen Männer, die ihre Machtposition missbrauchen, um Frauen sexuell zu belästigen, ist bekannt. Der Moderator Bill O’Reilly wurde dafür von US-amerikanischen Fernsehsender Fox TV gefeuert, später dessen Chef Roger Ailes. Bevor er zum US-Präsident gewählt wurde, wurde Donald Trump dabei erwischt, wie er angab, dass man als Star Frauen einfach zwischen die Beine greifen könne. Beim jüngst verstorbenen Playboy-Gründer Hugh Hefner war es schon lange ein offenes Geheimnis, dass er seine „Bunnies“ mehr oder weniger wie sexuelle Sklavinnen behandelte, die in seiner Mansion kaum anders als im offenen Vollzug einer Strafanstalt lebten. Der Extremfall ist der des Komikers Bill Cosby (Die Bill-Cosby-Show). Er hat in zahlreichen Fällen außergerichtliche Einigungen mit Frauen erzielt, die ihm vorwerfen, sie unter Drogeneinfluss vergewaltigt zu haben, ein Gerichtsverfahren ist noch anhängig. So sehr sich die Fälle ähneln, so ähnlich klingt die „Entschuldigung“ der Männer. Irgendwann wurden die Regeln geändert, aber sapperlot, niemand habe es ihnen gesagt. Was in „ihren Zeiten“ eben „unschuldiges Flirten“ gewesen wäre, sei heutzutage schon „sexuelle Belästigung“, woher hätten sie das wissen sollen? Das ist natürlich Quatsch. Sexuelle Belästigung ist niemals „angemessen“ und Männer wie Weinstein oder Hefner sind oder waren keine „alten Dinosaurier“, sondern einfach Widerlinge. Natürlich ist die Tradition der Casting-Couch – ein Regisseur oder ein Produzent, der eine Schauspielerin ins Bett nimmt im Austausch für eine Filmrolle – mindestens so alt wie das Kino. Aber das macht es nicht besser. Weinstein zum Beispiel war offenbar sehr bewusst, dass das, was er tat, alles andere als angemessen war. Wie eine der Mitarbeiterinnen, die ihm Belästigung vorwirft, berichtet, hätte Weinstein ihr während des Vorgangs gesagt, dass er nie so etwas wie Bill Cosby habe tun müssen. Als ob Weinstein stolz darauf wäre, dass die Frauen, die er belästigte, nicht währenddessen auch noch von Drogen sediert waren. Warum konnten Männer wie Weinstein so lange unbehelligt agieren? Die offensichtliche Antwort ist, natürlich, Macht. Weinstein konnte Karrieren in Gang bringen oder beenden. Roger Ailes konnte bei Fox News entscheiden, ob eine Frau eine Zukunft in seinem Sender haben würde. Außerdem können sie die besten Anwälte bezahlen, die jede Frau, die es wagt, etwas zu sagen, mit Klagen überziehen. Also sollte sich niemand darüber wundern, warum so viele Frauen nie an die Öffentlichkeit gegangen sind oder es erst dann tun, wenn es andere getan haben. Geld ist Macht und einen schlimmeren Gegner als einen reichen Soziopathen kann man nicht haben. Ein wichtiger Faktor ist aber die gesellschaftliche Toleranz, die generell Männern entgegengebracht wird, die irgendwie als „brillante Scheusale“ gelten. Das muss nicht zwingend einen sexuellen Kontext haben. Man denke nur an deutsche Theaterregisseure, die sich selbst ganz offen Diktatoren nennen. Claus Peymann, bis vor kurzem Intendant des Berliner Ensembles, sagte 1988 in einem Interview, er sei „ein Vergewaltiger auf der Probe. Wenn in den Kopf eines Schauspielers nicht hineinwill, was ich mir vorgestellt habe, wende ich die bedingungsloseste und brutalste Gewalt an. Das geht von Gebrüll bis zu Mord und Totschlag. Ich breche den Widerstand, und ich weiß, dass es andere Regisseure genauso machen.“ Darüber wurde dann kurz gesellschaftlich gelacht, „Visionäre“ wie Peymann seien eben kompliziert, die soziopathische Missachtung ihrer Mitmenschen wird sogar als Beweis für ihr Genie ins Feld geführt. Bemerkenswerterweise ist das nur bei männlichen oft selbst ernannten Genies so. Intendantinnen wie Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich oder Karin Beier am Schauspielhaus Hamburg kriegen es offenbar hin, Theater auch ohne „brutalste Gewalt“ zu leiten. Wenn aber Männer mit Macht sich wie Rüpel ohne Rücksicht benehmen können, dann verwundert es nicht, dass sie auch im Falle der sexuellen Belästigung kein Gespür mehr für die Grenzen haben. Wie fast jede Frau berichten kann, existieren noch immer viel zu viele „Dinosaurier“ wie Harvey Weinstein. Hoffnung macht, dass wir offenbar in ein Zeitalter kommen, in dem so ein Verhalten immer weniger akzeptiert wird und in dem Vorgesetzte aufgrund dieses Verhaltens ihren Job verlieren. Aber es ist weiterhin noch gang und gäbe, dass Chefs ihre Macht gegenüber Angestellten schonungslos ausnutzen und das Gefühl haben, machen zu können, was sie wollen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Der Fall Weinstein verdeutlicht in krasser Weise: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das zu ändern. Aber jeder Mann, egal wie berühmt und mächtig, sollte sein Verhalten auf den Prüfstand stellen. Wenn diese Art Mann ausstirbt, ist die Welt ein besserer Ort.
Constantin Wißmann
Männer wie Harvey Weinstein rechtfertigen ihre sexuellen Übergriffe damit, dass die Zeiten sich verändert haben. Diese Entschuldigung ist kaum minder scheußlich als ihr Verhalten. Was sich verändern muss, ist die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Männern, die ihre Machtposition schamlos ausnutzen
[ "Harvey Weinstein", "sexuelle Belästigung", "Hollywood", "Bill Cosby", "Hugh Hefner" ]
kultur
2017-10-12T10:20:47+0200
2017-10-12T10:20:47+0200
https://www.cicero.de/kultur/harvey-weinstein-leider-kein-dinosaurier
Andreas Altmann - „Ein Leben als Versager hätte ich nicht ausgehalten“
Herr Altmann, wann haben Sie zuletzt ein Buch geklaut?Das war bei meiner letzten Lesetour. Ich stand schon an der Kasse, aber die Kassiererin konnte den Strichcode nicht ablesen und bat mich, ein anderes Exemplar zu holen. Ich bin zwar noch rüstig – aber die Zeit habe ich nicht. Da habe ich es eben mitgenommen. Sie haben es eingesteckt?Vorher habe ich noch nachgeschaut, ob eine Metallsonde drin war. In Ihrem neuen Buch „Dies beschissen schöne Leben“ berichten Sie von jahrelangem Bücherklau. Wie ist es dazu gekommen?Weil ich kein Geld hatte. Das ist keine Rechtfertigung – aber vielleicht eine Erklärung. Außerdem habe ich nur die großen Buchhändler beklaut. Hat der Diebstahl einen besonderen Reiz?Ja, klar! Weil: Was mache ich, wenn sie mich erwischen? Denken Sie mal an die Schlagzeilen: „Autor Altmann beim Klauen erwischt!“ Großartig! Der Reiz des Verbotenen?Natürlich. Wie sagte Billy Wilder: Volksschullehrerinnen sind nicht fotogen; böse Menschen schon. Fürs Bücherklauen hatten Sie einen speziellen Mantel mit eingenähten Taschen.Ein Mantel und ein dickes Harris Tweed Sakko. Beide hatten vier spezial erweiterte Inntaschen. Der Mantel war ein Nazimantel, so ein schwarzer, ganz schwerer. Den haben die Bücher nicht ausgebeult. Raffiniert!Das kommt alles noch vom Briefmarkenklauen in meiner Jugend. Da habe ich das entdeckt, diesen Thrill, diese Freude. Eigentlich wollen wir das doch alle. Die meisten trauen sich bloß nicht. Ziehen Sie die geklauten Bücher den gekauften vor?Nein, das hat sich immer so ergeben. Was mir der Markt angeboten hat, das habe ich genommen. Ich wüsste heute auch nicht mehr bei jedem einzelnen Buch, ob ich es geklaut habe oder nicht. Als erfolgreicher Schriftsteller stehen Sie heute auf der anderen Seite.Ja, heute sind alle Buchhändlerinnen meine Freundinnen. Dieser Tage beginnt Ihre Lesetour mit „Dies beschissen schöne Leben“. Könnten Sie es einem Leser nachsehen, wenn er Ihr Buch bei einer Lesung klaute?Ich habe neulich einem zugeschaut! Als Ex-Klauer hat man dafür ein Auge. Wenn einer noch nicht ganz Profi ist, macht er ein paar Bewegungen, die man nicht machen sollte. Ich habe gleich gesehen, dass der Typ im Begriff war, eine Missetat zu begehen. Nach erfolgreich begangener Tat wollte ich zu ihm gehen und mich bedanken. Und?Er hat es dann  doch gekauft. Woran haben Sie ihn erkannt?Er hat anscheinend überlegt, ob es in seine Tasche passen könnte. Er war so wie ich am Anfang. Hat sich umgeschaut. Das sollte man nicht machen. Sind Sie beim Bücherklauen jemals erwischt worden?Nicht ein einziges Mal. Nächste Seite: „Banker riechen Geld, Nutten riechen Freier und ich rieche Stories” Das spricht für Ihr kriminelles Talent.Profis wissen einfach, wann sie aufhören müssen. Amateure nicht. Das habe ich in Casinos gelernt. Wenn Sie Ihre Arbeit als Reporter beschreiben, verwenden Sie häufig Wörter, mit denen man auch das Diebeshandwerk beschreiben könnte: Da ist von „Beutezügen“ die Rede; Sie „verführen“ Menschen dazu, Ihnen ihre Geschichten zu erzählen. Ist der Reporter ein Geschichten-Dieb?Klar, manche Menschen sagen: Ich stehle die Geschichten, ich nehme sie den Menschen weg, ich gebe ihnen dafür nichts, nur meine Aufmerksamkeit. Ich meinte das durchaus positiv. An einer Stelle beschreiben Sie einen langen Recherchetag und schließen mit dem schönen Satz: „Wie schwer beladene Goldgräber schlichen wir davon.“ Der Reporter ist auch einer, der sucht, sammelt, ordnet.Ja, das kennen Sie ja auch! Sie wollen auch Leute treffen, die etwas zu sagen haben! Banker riechen Geld, Nutten riechen Freier und ich rieche Stories. Ich kann nichts anderes. In Ihrem Buch …… das Sie hoffentlich nur in Begleitung eines Erwachsenen gelesen haben! … beschreiben Sie allerhand Grenzüberschreitungen – Betrug, Drogen, Impotenz, eine Abtreibung …… Homo-Sex … … obwohl Sie gar nicht homosexuell sind.Ich wollte bi werden. Was für eine Auswahl hätte ich dann gehabt! Hat leider nicht geklappt. Das Buch trägt den Untertitel „Geschichten eines Davongekommenen“. Damit schließt es an ihr vorletztes Buch „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ an, in dem Sie ihre unglückliche Kindheit im bayerischen Wallfahrtsort Altötting beschreiben. Der Protagonist der „Scheißjugend“ ist einer, dem das Leben widerfährt, der in weiten Teilen nur reagiert. Der Protagonist im neuen Buch ist dagegen einer, der agiert, der seiner Neugier folgt, der seinen Weg selbst bestimmt.Ich wollte einfach kein Opfer mehr sein. Sartre hat einmal gesagt: Ich kann weder gehorchen noch befehlen. Das unterschreibe ich. Ich will für das, was ich tue, verantwortlich sein – und nur dafür. Dazu scheint eine gewisse Unbedingtheit zu kommen.Wenn Sie als Kind so gedemütigt werden wie ich – es ging ja schon los mit einer Erstickungsattacke nach der Geburt –, dann bauen Sie einen gewaltigen Narzissmus auf. Weil Sie das, was Freud das Urvertrauen nannte, nie bekommen haben. Sie müssen ununterbrochen dafür kämpfen, dass die Welt Sie liebt. Und damit sie das tut, müssen Sie eben etwas Besonderes machen. Jetzt können Sie natürlich sagen: Viele Leute haben diesen Narzissmus, aber nicht viele Leute haben die Kraft, die es braucht, um dann etwas Besonderes zu leisten. Naja, die Kraft habe ich eben auch gehabt. Das ist nicht mein Verdienst. Das ist einfach da. Ein Leben als Versager hätte ich nicht ausgehalten. Ich habe ja großmäulig behauptet, ich hätte mir das Leben genommen, wenn ich es bis 40 zu nichts gebracht hätte. An einer Stelle schreiben Sie über Menschen, die ihre Träume verloren haben: „Aus Ex-Träumern werden Tote, diese Scheinlebendigen, die uns jeden Tag über den Weg laufen. Eher friedliche Zombies, die nichts mehr befeuert. Keine Vision, kein Taumel, kein Hunger, kein Sehnen nach einem anderen Dasein. Sie sterben jetzt, mitten im Leben, werden sacht und beständig vom Verlangen nach Bravsein und Mittelmaß erledigt.“ Ist das der größte Horror für Sie – keine Träume mehr zu haben?Furchtbar! Wer kennt sie nicht, die Taxifahrer, die einem erzählen, was sie eigentlich mal machen wollten. Aber ich schreibe das nicht mit erigiertem Zeigefinger. Wenn einer die Kraft nicht gehabt hat, dann ist das eben so. Auch für mich gilt: Wenn Sie mir mein Talent nehmen, dann bleibt nichts. Sie bereisen seit über 25 Jahren als Reporter und Schriftsteller die Welt. Was treibt Sie an?Ich bin närrisch verliebt in die Sprache. Außerdem möchte ich meinen Lesern etwas bieten. Immerhin geben sie mir die zwei wertvollsten Dinge, die sie haben: Erstens Knete, zweitens Lebenszeit. Meine Bücher sollen die Leser bereichern und auf intelligente Weise unterhalten. Was haben Sie eigentlich gegen Alltag?Kein Thrill. Nichts, das mich erregt. Nichts, wo ich denke: Tolle Geschichte, was für eine Frau, was für ein Mann, was für eine Geste! Es gibt einen sehr guten amerikanischen Schriftsteller, George Saunders. Der hat dazu einen schönen Satz gesagt: Was mich wachhält, ist, dass ich immer offen bin für Schönheit, Grausamkeit, menschliche Dummheit und „unexpected grace“ – unerwartete Anmut. Sie haben einmal angedeutet, Sie könnten sich gut vorstellen, dauerhaft nach Vietnam oder Kambodscha zu ziehen. Gilt das immer noch?Ich war gerade in Kambodscha. Aber nur zum Schreiben, in einem Hotel. Da habe ich gedacht: Dieser Wunsch hat abgenommen. Ich bin halt Europäer. Ich mag diese Cafés in Paris, die Kinos, den geistigen Imput... Auf der anderen Seite ist Europa natürlich auch stressig, oft unfreundlich. Wohin mit mir? Keine Ahnung. „Dies beschissen schöne Leben“ erscheint am 12. März im Piper Verlag. Das Gespräch führte Christophe Braun.
Christophe Braun
Seit über 25 Jahren bereist der Reporter und Schriftsteller Andreas Altmann die Welt, kommende Woche erscheint sein neues Buch „Dies beschissen schöne Leben”. Im Interview spricht Altmann über Bücherklau, Narzissmus und den Wunsch, bisexuell zu sein
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kultur
2013-03-04T12:36:46+0100
2013-03-04T12:36:46+0100
https://www.cicero.de//kultur/ein-leben-als-versager-haette-ich-nicht-ausgehalten/53677
Bayern - Seehofer gewinnt mit Merkelstrategie
Zurück zur Normalität. Zur bayerischen Normalität. Die CSU herrscht wieder allein in Bayern, bei der Landtagswahl an diesem Sonntag hat sie die absolute Mehrheit zurück gewonnen. Vergessen ist der historische Absturz von 2008. Damals hatten die Christsozialen ihre bereits als selbstverständlich geltende absolute Mehrheit erstmals seit dem Jahr 1962 eingebüßt. Fünf Jahre lang mussten sie daraufhin in einer Koalition mit der FDP regieren. [[nid:55718]] Doch in Wirklichkeit gab es in der letzten Legislatur in dem Freistaat nur einen Alleinherrscher: Horst Seehofer. Die CSU war dem sprunghaften Ministerpräsidenten hörig. Die FDP nahm kaum jemand als Regierungspartei wahr. Seehofer regierte mit seiner CSU im Alleingang. Er umarmte die bayrische FDP quasi zu Tode. Gerade einmal drei Prozent reichen ihr nicht, um wieder in den Landtag einzuziehen. „In Bayern ticken die Uhren anders“, versuchte Philipp Rösler die Niederlage zu beschwichtigen. Dass es für die FDP allerdings auch im Bund längst fünf vor zwölf ist, dürfte nun endgültig in der Partei angekommen sein. Die Bayern mögen klare Verhältnisse. Gerade einmal vier Parteien werden im neuen Landtag vertreten sein: So schafften es neben der CSU und der SPD, nur die Grünen und die Freien Wähler. Die Grünen seit 1986 im Freistaat parlamentarisch vertreten, konnten zumindest den in den Umfragen kolportierten Abwärtstrend stoppen. Zum anvisierten Regierungswechsel reicht dies indes nicht. Auch, weil der bei der SPD erhoffte Ude-Effekt ausblieb. Magere 21 Prozent stehen bei der SPD auf der Habenseite. Magere zwei Prozent Zugewinn im Vergleich zur letzten Landtagswahl. Wenn Andrea Nahles hier von einem „guten Ergebnis“ spricht, dann sagt das viel über den derzeitigen Zustand der Sozialdemokratie auch über die bayrischen Landesgrenzen hinaus aus. Doch was bedeutet der Wahlausgang für die anstehende Bundestagswahl in einer Woche? Im Grunde nicht viel: Bayern ist Bayern und bleibt Bayern. Das Wahlergebnis ist beileibe keine Blaupause für den Bund. Dafür sind die politischen Verhältnisse im Freistaat zu speziell und die politische Konkurrenz im Bund stärker. Und dennoch lässt sich eines ablesen: Die Wähler lieben jenen alles überragenden Politikertyp, den alles absorbierenden Opportunisten an der Macht. Dies ist in Bayern nicht anders als im Bund. Seehofer machte die Merkel. Und gewann. Seehofer stibitze den anderen Parteien ihre Themen, er war stets bemüht, die Bürger nicht mit Inhalten zu überfordern, und er trug dabei ein stetes, süffisantes Lächeln vor sich her. Auch politische Turbulenzen, wie die jüngsten Skandale rund um Vetternwirtschaft im Landtag, perlten einfach an ihm ab. Der Herausforderer Christian Ude hatte in Bayern ein ähnliches Problem, wie es im Bund Peer Steinbrück hat. Beide gelten als zu intellektuell, beide sind vor allem Kandidaten für die Städte. Beiden fehlt ein Thema, das die Leute politisiert. Und in Bayern und im Bund fehlt Ihnen für eine erfolgreiche Kandidatur vor allem eines: die Wechselstimmung. Angela Merkel wird mit dem Rückenwind aus Bayern nun noch ein bisschen staatsweibischer und präsidialer in die Endphase des Wahlkampfes schweben. Seehofer, der seine uneingeschränkte Macht einer tiefen Krise der CSU verdankt, hat seiner Partei wieder ein Alleinstellungsmerkmal verpasst: sich. Auch das ist eine Parallele zur Kanzlerin, die letztlich ebenfalls ein Krisenprodukt ihrer Partei ist und nun das alleinige Programm stellt. Für Bayern hat das gereicht. Ob das auch im Bund genügt, entscheidet sich in sieben Tagen.
Timo Stein
Die CSU erobert die absolute Mehrheit in Bayern zurück. Horst Seehofer gewinnt die Landtagswahl mit der Strategie, mit der die Kanzlerin in einer Woche auch die Bundestagswahl gewinnen will: mit der politischen Zuspitzung auf sich selbst. Ein Kommentar
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innenpolitik
2013-09-15T19:28:41+0200
2013-09-15T19:28:41+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/bayern-der-alleinherrscher-heisst-seehofer/55779
Bundeswehr, Bundeshaushalt, Bürgergeld - Einfach wieder mal Bodenhaftung!
Vor nicht allzu langer Zeit gab es nicht wenige Unternehmen in Deutschland, die verkündeten, dass sie keine Geschäftsbeziehungen mit Rüstungsunternehmen eingehen – passend zum Saubermann-Image, das in den letzten 20 Jahren voll im Trend lag. Egal ob bei der Energiewende, der Bundeswehr oder nun beim Bürgergeld: Die „Guten“ waren gegen Atomkraft, gegen höhere Rüstungsausgaben und für möglichst leistungsunabhängige Transferleistungen. Wer anderer Meinung war, war im günstigeren Fall ein verkappter Konservativer, häufig aber ein Ewiggestriger, der die Signale der Zeit nicht erkannt hat. Aufgrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine hat sich das Bild gewandelt: Plötzlich sind 69% der Befragten dafür, dass man deutlich mehr Geld für Rüstung ausgeben sollte (ARD-Deutschland-Trend 03/22). Und nachdem (fast) alle entdeckt haben, dass Energie doch ein knappes Gut ist, können sich aktuell auch wieder 59% der Menschen in diesem Land den Betrieb von Kernkraftwerken (ARD-Deutschlandtrend 04/23) vorstellen. Was doch die Angst um die eigene Sicherheit respektive eine warme Wohnung alles auslösen kann! Vor kurzem hat der Bundesverteidigungsminister – ein Politikertyp, der anpackt und nicht nur verwaltet – geäußert, die Bundeswehr müsse „kriegstüchtig“ gemacht werden. Und sofort kamen die gewohnten Reflexe, die ihm die Verwendung von „Kriegsvokabular“ vorwarfen. Die Bundeswehr muss kriegstüchtig sein. Ja, was denn sonst? Natürlich ist die Bundeswehr eine Friedensarmee. Dies kann aber leider auch bedeuten, dass man einen Krieg führen muss, um Frieden zu erreichen. Die Bundeswehr war weit über zehn Jahre mit viel Einsatz in Afghanistan und Mali. Aber nicht, um dort den Verkehr zu regeln, sondern um mit militärischen Mitteln in einem (Bürger-)Krieg mit alliierten Kräften gemeinsam Frieden zu erreichen – wenn auch leider vergebens. Und gerade wir Deutsche sollten doch wissen, dass manchmal der Friede am Ende einer wenn auch noch so sinnlosen kriegerischen Auseinandersetzung steht. Selbstverteidigung erfordert, wie man aktuell in Israel sehen kann, leider manchmal auch den Einsatz von Gewalt! Ein weiteres aktuelles Thema, bei dem sich zunehmend der Blick auf die Realität einstellt, ist das Thema Bürgergeld. Derzeit gibt es in Deutschland neben 2,6 Millionen Arbeitslosen rund 3,9 Millionen Bezieher von Bürgergeld im erwerbsfähigen Alter. In Summe also rund 6,5 Millionen Arbeitskräfte, die aktuell allerdings nicht in Arbeit sind. Gleichzeitig kämpfen Staat und Wirtschaft mit einem akuten Mangel an Arbeitskräften. In der Zwischenzeit sprechen wir hier bei weitem nicht mehr nur von Fachkräften, sondern auch von angelernten Arbeitskräften wie etwa in der Gastronomie, in Freizeiteinrichtungen oder beim Be- und Entladen von Flugzeugen an deutschen Flughäfen – um nur wenige Beispiele zu nennen. Gleichzeitig verknappen Maßnahmen wie die Viertagewoche oder die nahende Pensions- und Rentenphase der Babyboomer-Jahrgänge das Angebot an Arbeitskräften in Relation zu deren Nachfrage zusätzlich. In der Folge verstärkt sich immer mehr der Ruf nach ausländischen Arbeitskräften. Doch wäre es nicht viel naheliegender, sich zunächst einmal um diese 6,5 Millionen Arbeitskräfte zu kümmern, die in Deutschland leben und erwerbsfähig sind, dem Arbeitsmarkt aktuell jedoch nicht zu Verfügung stehen, keine Steuern und Sozialabgaben bezahlen, dafür aber in hohem Maße von staatlichen Transferleistungen profitieren? Das könnte Sie auch interessieren: Um nicht missverstanden zu werden: Die Grundidee des Bürgergeldes stelle ich nicht infrage. Jeder von uns kennt Schicksale, bei denen man sich wünscht, dass der Sozialstaat noch etwas mehr tun könnte. Aber trotzdem muss gelten: Wer morgens aufsteht und arbeiten geht, muss abends mehr in der Tasche haben als der- bzw. diejenige der/die liegenbleibt. Andernfalls wird für viele das Arbeiten auf Dauer nicht attraktiv sein! Und genau hier liegt das Problem des Bürgergeldes, wie eine Berechnung des Bundesfinanzministeriums zeigt, die kürzlich in der FAZ veröffentlicht wurde: Ein Paar mit zwei Kindern über 14 Jahren hat Anspruch auf 1742 € im Monat. Im Januar 2024 wird dieser Betrag um 12% steigen! Hinzu kommen Beihilfen für die Miete von 938 € und Heizung in Höhe von 251 € – macht in Summe 2931 €. Dies entspricht einem Bruttogehalt von ca. 4000 € pro Monat! Bei solchen Zahlen muss man keiner bestimmen Partei zuneigen, um zu sehen, dass da etwas nicht stimmen kann. Im Zuge des Warnstreiks der Lokomotivführer konnten wir lesen, dass ein solcher pro Monat durchschnittlich rund 3600 € brutto verdient. Zuzüglich 500 € Kindergeld bleibt der Familie also pro Monat wenig mehr im Geldbeutel übrig als einem Bezieher von Bürgergeld. Und wenn man im Netz mittels Gehaltscheck andere Lohn- und Gehaltsstrukturen nachvollzieht wie z.B. bei Arzthelfern, Bäckern, Kassierern, Malern und anderen mehr, wird klar: Rein rechnerisch gesehen lohnt sich Arbeit in Deutschland nur bedingt! Die Konsequenz: Wenn derjenige der Dumme ist, der sich reinhängt, dann ist es mit dem Sozialen relativ schnell vorbei. Da stehen am Ende nicht die wirklich Bedürftigen im Mittelpunkt staatlicher Hilfen, sondern die „Cleveren“. Und auch finanzpolitisch ist dies der Supergau: Denn der Bürgergeldempfänger „kostet“ nicht nur staatliche Transferleistung, sondern er zahlt auch keine Steuern und Sozialabgaben. Kosten in 2023 nur für dieses Bürgergeld: 27,25 Milliarden € – Tendenz deutlich steigend! Vor diesem Hintergrund wird schnell klar: Das aktuell diskutierte Problem des Bundeshaushaltes ist nicht primär den zu geringen Einnahmen geschuldet, sondern den zu hohen Ausgaben, die leistungsfeindlich sind und in der Folge dazu führen, dass noch weniger Einnahmen entstehen. Eine Volkswirtschaft generiert Wachstum und Wohlstand jedoch aus Leistung und nicht aus Leistungsfeindlichkeit. Insofern braucht es keine apokalyptischen Untergangsszenarien oder Verfassungsänderungen, damit man die Schuldenschleuse wieder richtig aufmachen kann. Es reicht schon aus, wieder etwas mehr Bodenhaftung und Realismus als Basis für vernünftiges Wirtschaften an den Tag zu legen.
Stefan Mappus
Beim Thema Verteidigungsfähigkeit ist in jüngster Zeit allmählich ein gewisser Realismus eingekehrt: Die Bundeswehr muss kampftüchtig sein. Zeit, dass dieser Realismus sich auch beim Bürgergeld und anderen verschwenderischen Staatsausgaben einstellt.
[ "Bundeswehr", "Bürgergeld", "Haushalt", "Sozialstaat", "Einwanderung" ]
innenpolitik
2023-12-05T10:49:14+0100
2023-12-05T10:49:14+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/bundeswehr-bundeshaushalt-burgergeld-stefan-mappus
„Super Tuesday“ in den USA - Trump auf Erfolgskurs
Im US-Präsidentschaftswahlkampf steht an diesem Dienstag der nächste große Meilenstein an. Am „Super Tuesday“ halten die Republikaner und Demokraten in mehr als einem Dutzend Bundesstaaten parteiinterne Vorwahlen ab, unter anderem in Alabama, Kalifornien, Colorado, Maine, Minnesota, North Carolina, Texas und Virginia. Abgestimmt wird dort darüber, wer für die beiden Parteien jeweils bei der Präsidentenwahl Anfang November als Kandidat ins Rennen gehen soll. Bei Parteitagen im Sommer werden die Kandidaten dann offiziell gekürt. Bei den Republikanern liefern sich der frühere Präsident Donald Trump und die ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, ein Duell um die Nominierung ihrer Partei. Trump liegt dabei haushoch in Führung, hat bislang fast alle Vorwahlen mit Leichtigkeit gewonnen und ist auch bei den weiteren Abstimmungen der klare Favorit. Haley hatte am Sonntag zwar erstmals eine der Vorwahlen für sich entschieden: allerdings lediglich im Hauptstadtdistrikt Washington, der als Hochburg von Trump-Gegnern gilt und zahlenmäßig in dem Rennen nicht sehr ins Gewicht fällt. Trump liegt in Umfragen vorn. Der 52 Jahre alten Haley werden keine Chancen eingeräumt, noch nennenswerte Erfolge einzufahren oder gar die Kandidatur ihrer Partei zu gewinnen. Für die Demokraten möchte Amtsinhaber Joe Biden für eine weitere Amtszeit kandidieren. Der 81-Jährige hat in dem internen Rennen seiner Partei keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Derzeit deutet also alles darauf hin, dass am Ende erneut Biden und Trump gegeneinander antreten dürften. Seinen jüngsten Sieg fuhr Trump am Montagabend (Ortszeit) wie erwartet bei der Vorwahl im Bundesstaat North Dakota ein. Der 77-Jährige siegte nach Prognosen der Sender Fox News und NBC in dem Bundesstaat im Norden der USA klar. Trump kam nach Auszählung fast aller Stimmen auf knapp 85 Prozent, seine als etwas gemäßigter geltende Konkurrentin Nikki Haley auf gut 14 Prozent. Weitere Stimmen entfielen auf andere Kandidaten. Passend zum Thema: Der ländliche Bundesstaat mit der Hauptstadt Bismarck ist konservativ geprägt und hat rund 775 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Im Rennen um die Kandidatur hat North Dakota keine herausgestellte Bedeutung. Es gibt nur 29 der 2429 Delegierten zu gewinnen. Sollte Trump am Ende der Auszählung noch immer mehr als 60 Prozent der Stimmen hinter sich versammelt haben, werden alle Delegiertenstimmen des Bundesstaats an ihn gehen. Es wurde nicht klassisch in Wahllokalen, sondern bei kleinen Parteiversammlungen abgestimmt – sogenannten Caucus-Treffen. Und noch einen bedeutenden Erfolg konnte Trump am Montag für sich verbuchen. Der Republikaner wehrte erfolgreich Versuche seiner Gegner ab, ihn aus dem Rennen um die Präsidentschaft auszuschließen. Der Supreme Court entschied einstimmig, dass Colorado und andere Bundesstaaten keine Befugnis haben, den Republikaner vom Wahlzettel der parteiinternen Vorwahlen zu streichen. Diese liege stattdessen beim US-Kongress. Dieser Teil der Entscheidung wurde nicht mehr einstimmig getroffen. Vier Richterinnen ging diese Festlegung zu weit. Mit der Entscheidung schaffte das Gericht kurz vor dem wichtigen Vorwahltag „Super Tuesday“ Klarheit. Die Entscheidung war zwar keine Überraschung, aber dennoch von großer Tragweite. Kläger versuchten seit einiger Zeit in verschiedenen Bundesstaaten, Trumps Teilnahme an den Vorwahlen zu verhindern und den Namen des 77-Jährigen von Wahlzetteln streichen zu lassen. Hintergrund der Auseinandersetzung ist der beispiellose Angriff auf den US-Parlamentssitz vor fast genau drei Jahren. Anhänger Trumps hatten am 6. Januar 2021 gewaltsam das Kapitol in Washington gestürmt. Dort war der Kongress zusammengekommen, um den Sieg des Demokraten Biden bei der Präsidentenwahl von 2020 formal zu bestätigen. Den erkennt Trump bis heute nicht an. dpa
Cicero-Redaktion
Der „Super Tuesday“ gilt als wichtige Wegmarke im US-Präsidentschaftswahlkampf. Doch diesmal ist der Abstimmungsmarathon etwas weniger spannungsreich. Denn das Ergebnis zeichnet sich schon länger ab.
[ "Donald Trump", "USA", "Joe Biden" ]
außenpolitik
2024-03-05T13:23:57+0100
2024-03-05T13:23:57+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/super-tuesday-in-den-usa-trump-auf-erfolgskurs
Grand Budapest Hotel - Kitsch-Nachbau des alten Europas
Die Berlinale ist ein an mühsam zu guckenden Filmen nicht armes Festival. Das kann man bei aller Liebe sagen. Die Mühsal liegt oft in der Ehrlichkeit und im Anspruch der gezeigten Filme, die - auf die Lebensmittelbranche übersetzt - tendenziell eher in den Biomarkt als in den Tengelmann gehören. Wenn aber ein Festival wie die Berlinale von einem Film „Grand Budapest Hotel“ von Wes Andersons eröffnet wird, dann ist das, als stünde an der Reformhaustüre ein gigantischer Turm rosaroter Petit Fours. Herrlich, zum Reinsetzen schön. Die Filme des Wes Anderson, das gilt spätestens seit seinem zweiten Film „Rushmore“ (1998), dienen auf eine Weise der Zuschauerfreude, die im Kino heute praktisch unvergleichlich ist, in jedem kleinsten Setdetail, jedem Kostümschnörkel, jedem liebevoll designten Buchstaben in Vor- und Abspann. Die Freude darüber ist nicht verwandt mit der Befriedigung von plumper Sensationsgeilheit oder der emotionalen Pornographie vieler Hollywoodproduktionen. Es ist die Freude der Genießer wahrer Raffinesse, Anderson serviert Filme für cineastische Gourmets. „The Grand Budapest Hotel“ ist in vieler Hinsicht wie geschaffen für die diesjährige Berlinale. Nicht nur, weil er zu großen Teilen in Görlitz gedreht wurde, oder wie er der Eröffnungsfeier ein Star-Ensemble beschert hat wie kein zweiter Film. Auch weil er 2014, im Jahr des Gedenkens an den ersten Weltkrieg, auf dem Höhepunkt der EU-Verdrossenheit, in seinem Film ein uraltes, mythisches, nostalgisch aufbereitetes Postkarteneuropa heraufbeschwört. Der Film spielt in einem fiktiven Ungarn des frühen 20ten Jahrhunderts, und erzählt die Geschichte des Hotelpagen Zero (Tony Revolori) und seinem Chef, dem Conscierge Monsieur Gustave (Ralph Fiennes). Dieser ist ein parfumierter Schwerenöter mit vollendeten Manieren und mit einer Vorliebe für alte Damen, der in einen Mordkomplott gerät, nachdem ihm eine dieser Damen ihr wertvollstes Gemälde vermacht. Dabei begegnen wir all den klassischen Anderson-Motiven, die wir aus Filmen wie den „Royal Tennenbaums“ oder „Fantastic Mr. Fox“ kennen: Die großen Verbrüderungen, die Suche nach der Vaterfigur, die theatralisch ausgeheckten Pläne samt ihrer slapstickartigen Durchführung, eine kindlich unschuldige Liebesgeschichte. Aber wir lernen auch einen neuen, besseren, größeren Anderson kennen. Einen, dem es gelingt einer ganzen Basketballmannschaft von Weltstars ihr teilweise großes komödiantisches Talent abzuringen: Von Jude Law und Edward Norton über Tilda Swinton, Willem Dafoe, Adrien Brody oder Bill Murray bis zu Owen Wilson und Léa Seydoux. Vor allem aber erleben wir einen Anderson, dem sein erster Epochenfilm gelungen ist, und der erste, der in Europa spielt. Weder die Epoche, noch den Kontinent des Filmes hat es so jemals gegeben. Die schnarrenden Soldaten tragen grauen Loden, und eine faschistoide, komplett erfundene Rune. Die Torten vom Hofbäcker „Mendl“ sind genauso rosarot wie das Hotel, dessen bestes Zimmer die „Prince Heinrich Suite“ ist, und die aristokratischen Gäste ein „Taxis“ oder „Henckel“ im Namen tragen. „The Grand Budapest Hotel“ ist ein liebevoller, vollkommen faszinierender Kitsch-Nachbau des alten Europas wie Amerikaner es träumen. Es verhält sich zur tatsächlichen Historie wie ein Bilderbuch zur Wirklichkeit. Die Welt nach Wes Anderson ist ein Ehrenmal für eine Zeit, die es so nur in Kinderbüchern gegeben haben kann, eine Verbeugung vor Gestalten, die nur auf der Bühne je gelebt haben können. Auf der Pressekonferenz nach der Filmvorführung wirkte Anderson in seinem Tweedanzug, dem langen Haar und dem merkwürdig aristokratischen Gesicht ein wenig wie ein irrer Puppenspieler. Tatsächlich gibt es heute kaum Filmemacher wie Anderson, die wie er als Produzent, Drehbuchschreiber und Regisseur in einer Person so kompromisslos und versponnen ihre Visionen umsetzen können. Das hat er zuletzt auch seinem Mäzen und Förderer, dem Milliardär Steven Rales, zu verdanken. Was den glücklich von der Bühne grinsenden Anderson sicher nicht zufällig zum Artverwandten seiner Hauptfigur macht, dem schließlich alten, zerzausten Pagen Zero, dem eine reiche Gönnerin das Hotel vermacht, in dem er gerne einfach nur sitzt, und zufrieden die Gestalten und Kuriositäten seines eigenen Reiches betrachtet.
Constantin Magnis
Mit dem Film „Grand Budapest Hotel“ wurde die diesjährige Berlinale eröffnet. Der Regisseur Wes Anderson verbeugt sich vor einer Welt, die nur auf der Bühne existieren kann. Berlinale Tagebuch, Teil 1
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kultur
2014-02-07T09:05:58+0100
2014-02-07T09:05:58+0100
https://www.cicero.de//kultur/grand-budapest-hotel-liebevoller-kitsch-nachbau-des-alten-europas/57000
Künstler Anthony McCall – Ästhetischer Kampf gegen den Krebs
Im Dezember 1915 stellte Kasimir Malewitsch in St. Petersburg zum ersten Mal sein „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ aus. Er befestigte es an der Stelle des Museumsraums, wo in russischen Haushalten die Heiligenikone hing, und stellte damit unmissverständlich klar, wie man sein Werk und die abstrakte Malerei, die es begründete, zu sehen hatte: Nicht mehr um die Welt der Gegenstände sollte es gehen, sondern um das Reich des Geistes. Kunst sollte von nun an eine Sache des Glaubens sein. Anthony McCall kann man sich ruhig als den Gegensatz zum sendungsbewussten Malewitsch vorstellen. Der 66-jährige Brite mit dem gut geschnittenen Anzug wirkt bescheiden. Wir fahren zusammen durch Berlin, um uns seine frühen Performancefilme in der Galerie Sprüth Magers anzuschauen und seine Ausstellung „Five Minutes of Sculpture“ („Fünf Minuten reiner Skulptur“) im Hamburger Bahnhof, seine erste Einzelschau in einem Museum überhaupt. Viele Menschen haben eine spirituelle Erfahrung, wenn sie seine Arbeiten sehen. McCall schüttelt freundlich, aber bestimmt den Kopf. „Das freut mich natürlich“, sagt er. „Aber ich selbst habe kein Konzept, von dem ich erwarte, dass es vom Publikum wiedererkannt wird.“ „Five Minutes of Sculpture“ ist eine Offenbarung. In das neoklassizistisch verstrebte Hallengewölbe des Museums ergießt sich ein Meer feinnebliger Dunkelheit. Haushohe Kegelfiguren aus Licht thronen in diesem Meer und verändern wie in Zeitlupe ihre Form. Steht man inmitten einer dieser Lichtschleier und schaut nach oben, glaubt man, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Unendlichkeit aussieht. Stärker kann man die Kunst nicht vom Gewicht der Dinge befreien. Hier scheint sie nur aus Empfindung und Leere zu bestehen. Die Verehrung, die McCall entgegengebracht wird, ist enorm, und sie hat viel mit Arbeiten zu tun, die vor beinahe vier Jahrzehnten entstanden sind. Allen voran mit „Line describing a cone“ („Linie, die einen Kegel darstellt“), einem 16-Millimeter- Film, den er zum ersten Mal im August 1973 in New York zeigte. Ein Projektor wirft darin das Bild eines in herkömmlicher Stop-Motion-Technik animierten weißen Punktes auf eine schwarze Leinwand. Im Laufe von 30 Minuten verlängert sich dieser Punkt zu einer Linie und wird schließlich zu einem vollständigen Kreis. Das eigentliche Ereignis des Filmes aber ist der fragile Lichtkegel, der vom Projektor aus in den Raum strahlt. In gewisser Hinsicht war „Line describing a cone“ ein Produkt seiner Zeit. In den New Yorker Galerien hatte sich der Minimalismus als prägende Stilrichtung durchgesetzt, und an den Kunsthochschulen wurde Strukturalismus unterrichtet. Doch zugleich weist die Arbeit weit über die Epoche hinaus, in der sie entstand. Sie reduziert Film auf die Elemente von Licht, Präsenz und Raum. Sie ist reine kinematografische Essenz. [gallery:LITERATUREN – Die besten Romane für den Sommer] McCall muss lachen, wenn er sich an jene Zeit erinnert. „Man kannte seine Zuschauer. Es gab gerade mal 15 von ihnen.“ Sechs ähnlich gestaltete Werke schuf er damals und nannte sie „Solid Light Films“. Das Publikum bestand fast immer aus anderen experimentellen Künstlern und Filmemachern. „Wir teilten einen Diskurs“, sagt McCall. „Unsere Kunst machten wir in gewissem Sinn für uns selbst.“ Nach New York gezogen war McCall nur wenige Monate, bevor „Line describing a cone“ entstand. Aufgewachsen war er in den südlichen Vororten von London, als zweites von vier Kindern, seine Mutter war Hausfrau, sein Vater ein Versicherungsstatistiker. Am Ravensbourne College of Art hatte er Grafikdesign, Kunstgeschichte, Fotografie und Philosophie studiert. „Kunststudent in London der sechziger Jahre zu sein, war fantastisch“, sagt er. Mode, Rock ’n’ Roll und Pop-Art brachten die ganze Stadt zum Vibrieren. Seite 2: Mit dem Krebs änderte sich McCalls Gefühl für die Zeit 1971 lernte McCall die Performancekünstlerin Carolee Schneemann kennen, heute selbst eine Legende, und zog mit ihr zusammen. Auch er inszenierte zunächst Performances, allerdings ging es ihm dabei eher um den Film, auf dem er sie festhielt. Nach Amerika wollte das Paar, weil dort Künstler wie John Cage, Allan Kaprow oder Yvonne Rainer arbeiteten, die Malerei und Skulptur für Happening, Fluxus und Film hinter sich gelassen hatten. Ein gemeinsames Projekt von McCall und Schneemann, das ihr kompliziertes Zusammenleben dokumentieren sollte, scheiterte – ebenso wie ihre Beziehung. Sechs Jahre lang waren sie zusammen. Freunde sind sie bis heute geblieben. Zur selben Zeit traf Anthony McCall eine folgenschwere Entscheidung: Er wollte eine Pause machen von der Kunst. Er war Anfang 30 und wusste nicht, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte. Kein Galerist, kein Kunstsammler interessierte sich für seine Filme. So gründete er eine Grafikdesignfirma, die Kunstbücher und Kataloge für die aufstrebende Galerienszene New Yorks entwarf und im Laufe der Zeit sehr erfolgreich wurde. Zu seinen Klienten zählten die Pace Gallery und Mary Boone, später auch das Whitney Museum und das Museum of Modern Art. Dass die Screenings seiner Solid-Light-Filme von Mal zu Mal enttäuschender wurden, trug auch zu seiner Entscheidung bei. „Ich stellte plötzlich fest, dass ich noch ein anderes Medium gehabt hatte“, sagt er, „den Staub der Lofts und den Zigarettenrauch der Zuschauer.“ Beides gab es in den Museen nicht, die begonnen hatten, ihn einzuladen. Anstelleder Lichtstrahlen, dem springenden Punkt seiner Arbeiten, sah man nur die Linien, die diese auf die Leinwand projizierten. Seine Kunst war unsichtbar geworden. Die kurze Pause, die er hatte machen wollen, dauerte 25 Jahre. In gewissem Sinne erfordert zeitgenössische Kunst mehr Glauben als die Religion: Sie soll Sinn stiften, sie soll heilen, sie soll Erfahrungen liefern, die ihr Publikum aus dem Alltäglichen entrücken. Und sie hat heute mehr Jünger denn je. In den 25 Jahren, in denen Anthony McCall nicht als Künstler arbeitete, seine Grafikdesignfirma betrieb, seine Frau Anabel, eine britische Innendesignerin, kennenlernte und mit ihr eine Familie gründete, verwandelte sich die zeitgenössische Kunst in ein Phänomen für ein weltweites Millionenpublikum. Aus den Zusammenkünften kleiner Zirkel begeisterter Anhänger wurde ein Reigen von Biennalen, Kunstmessen und Blockbusterschauen. Eine neue Generation von Künstlern begann, sich mit Film und Video auseinanderzusetzen und stieß dabei nicht nur auf Künstler wie Yoko Ono, Dan Graham oder Michael Snow, sondern auch auf Anthony McCall. Kuratoren kontaktierten ihn, um seine alten Arbeiten in Ausstellungen aufzunehmen, Kunsthistoriker besuchten ihn, um über ihn zu schreiben. Ein Vierteljahrhundert ist eine lange Zeit, um die Augen davor zu verschließen, dass man eigentlich ein anderes Leben führen möchte. „Ich habe immer versucht zu vergessen, dass ich einmal Kunst gemacht habe“, erzählt er. „Das war unheimlich schwierig.“ Einmal traf er einen jungen Künstler bei einer Ausstellungseröffnung, der ihm sagte, er habe immer gedacht, es gäbe zwei Anthony McCalls: den, der die Filme gemacht hatte, und den, der die Ausstellungskataloge gestaltet. „Das dachte ich eigentlich auch immer“, schoss es damals aus ihm heraus. Es fällt McCall schwer, darüber zu reden, was ihn zur Rückkehr in die Kunst veranlasste. „Ende der neunziger Jahre habe ich Krebs bekommen“, sagt er leise, dann räuspert er sich. „Da wusste ich, dass ich sofort aufhören musste mit dem, was ich machte. Ihr Gefühl für Zeit ändert sich, wenn Sie krank werden.“ Er zog sich aus seiner Designfirma zurück und begann, Pläne für eine neue Arbeit zu zeichnen, die er „Doubling back“ nannte, „Kehrtwende“. Anabel, seine Frau, unterstützte seine Entscheidung. Er war 54. Seite 3: „Ich hatte so viel Glück“ 22 Lichtskulpturen hat er seither entworfen, fast viermal so viele wie in seiner ersten Schaffensperiode. Sie alle sind das Ergebnis minutiöser, zeichnerischer Planungen, komplizierter Computeralgorithmen und exakt austarierter digitaler Videoprojektionen. Dank Nebelmaschinen, die es in den siebziger Jahren noch nicht gab, sind ihre vom Licht entworfenen Raumfiguren deutlicher zu sehen, als es McCall jemals für möglich hielt. Die Kunstwelt empfing den heimgekehrten Sohn mit offenen Armen. „Ich hatte so viel Glück“, sagt er. „Doubling back“ befindet sich gleich links am Eingang der Ausstellung im Hamburger Bahnhof. Das Licht seiner Skulpturen steht McCall gut. Er sieht zufrieden aus. Immer wieder blickt er auf die Zuschauer, die mit den Lichtschleiern spielen, sich von ihnen einhüllen lassen, sie mit ihren Händen unterbrechen oder langsam über die auf den Boden projizierten Linien schreiten. Einige von ihnen sehen so aus, als meditierten sie. Es gibt verschiedene Arten der Andacht. [gallery:Abschiedsbilder – Emigranten von Oppenheim bis Adorno] Seine Werke funktionieren. McCalls früheres Interesse an Formen ist einer Beschäftigung mit dem menschlichen Körper gewichen, mit dessen Sterblichkeit und dessen Bedürfnis nach Intimität. Seine neuen Arbeiten tragen so suggestive Titel wie „Coupling“ („Kopplung“) oder „Between You and I“ („Zwischen dir und mir“). Viele von ihnen scheinen regelrecht zu atmen. „Ich bin sicher, dass das etwas mit meiner Krankheit zu tun hatte“, sagt er. Eine der berührendsten Lichtskulpturen der Ausstellung heißt „Leaving (with Two-Minute Silence)“, „Verlassen (mit zweiminütiger Stille)“. Im Hintergrund ist leise Verkehrsrauschen zu hören, durchsetzt vom Klang sporadischer Nebelhörner, die Geräusche des New Yorker West Side Highways. Zwei in die Waagerechte projizierte Lichtkegel verändern in einem 16‑Minuten-Zyklus gegenläufig ihre Form. Während der eine abnimmt, nimmt der andere zu – so lange, bis einer der Partner im Nichts verschwindet. In diesem Moment ist der Museumsraum totenstill. Während Fernsehen und Popmusik dafür sorgen, dass sich ihr Publikum lebendig fühlt, erinnert gute Kunst wie die von McCall ihre Zuschauer oft an ihre Sterblichkeit. Das ist eine der Funktionen, die Religion früher hatte. Hört man Anthony McCall zu, wenn er über seine Arbeit spricht, fällt es schwer zu glauben, dass sie nicht aus einem spirituellen Ort in ihm selbst kommt. Sein bisher spektakulärstes Projekt wird diesen Aspekt noch betonen. Während der Olympischen Sommerspiele wird er eine fast fünf Kilometer hohe, sich im Wind wiegende Säule aus Licht und Wolken über Liverpool aufsteigen lassen. Eigens entworfene Maschinen wirbeln dafür Wasserdampf aus dem Mersey-Fluss auf. Die impressionistischen Entwürfe erinnern an biblische Säulen aus Rauch und Feuer. Sie wirken, als versuchte McCall die Welt auf ihre Grundelemente zu reduzieren, auf das Licht, die Luft und das Wasser. Für einen Künstler, der sich gegen den Glauben wehrt, kommt er damit dem Himmel ziemlich nahe. Anthony McCalls Ausstellung „Five Minutes of Sculpture“ ist noch bis zum 12. August im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart in Berlin zu sehen. Fotos: picture alliance
Die Berliner Ausstellung „Five Minutes of Sculpture“ zeigt exemplarisch, wie ein legendärer Künstler nach einer 25-jährigen Pause wieder zu seiner Arbeit fand
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kultur
2012-07-01T12:18:22+0200
2012-07-01T12:18:22+0200
https://www.cicero.de//kultur/aesthetischer-kampf-gegen-den-krebs/49868
Politiker in der Flüchtlingskrise - Die Angst vor der Verantwortung
Der Journalist Robin Alexander dokumentiert für sein Buch „Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht“ die Hilflosigkeit deutscher Spitzenpolitiker in der Flüchtlingskrise. Folgen wir der beredten Chronologie: Am 4. September 2015 öffnete in einer einsamen Entscheidung die Bundeskanzlerin die deutsche Grenze für 10.000 Flüchtlinge, die in Ungarn festsaßen. Sie begründete ihre Entscheidung mit humanitären Gründen und vor allem damit, dass dies eine Ausnahme wäre und die Grenzen wieder geschlossen werden würden. Damit ließ die Kanzlerin, über die ihr gewogene Journalisten verbreitet hatten, dass sie alles gründlich vom Ende her bedenke, den Geist aus der Flasche, ohne die geringste Vorstellung davon zu besitzen, wie sie ihn wieder zurückbekommen würde. Nach Alexanders Recherchen fand am 12. September um 17.30 Uhr eine Telefonkonferenz zwischen Angela Merkel, Peter Altmaier, Thomas de Maizière, Horst Seehofer, Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel statt, in der beschlossen wurde, dass ab dem 13. September die Grenzkontrollen wieder eingeführt werden sollten und alle Flüchtlinge „auch im Falle eines Asylgesuches“ zurückzuweisen wären. Die Beteiligten stimmten darüber ein, dass die Grenzen geschlossen werden könnten und das zum Staatswohl sogar dringend geboten sei. Die Einsatzbefehle wurden geschrieben und weitere Bundespolizisten mit Bussen und Hubschraubern an die Grenze verlegt. Doch in einer Beratung im Innenministerium äußerten einige Beamte, die nicht für Sicherheit, sondern für Migration zuständig waren, rechtliche Bedenken, die, als es zu spät war, sich als falsch, vielleicht sogar als vorgeschoben erwiesen. Verstöße gegen das Grundgesetz und die Sorge um die Sicherheit Deutschlands bewegte diese Beamten offenbar nicht. Es kam in der Folge zu mehreren Telefonaten zwischen Merkel, Gabriel, Steinmeier und de Maizière. Schließlich verlangte die Bundeskanzlerin vom Innenminister die Garantie dafür, dass die Regelung vor den Gerichten bestand habe und dass es „keine öffentlich schwer vermittelbaren Bilder vom Einsatz der Bundeswehr gegen Flüchtlinge geben“ werde. Es liegt im Wesen der Sache, dass diese Garantie niemand geben konnte. Daraufhin erfolgte die 180°-Wendung: Der Einsatzbefehl wurde ins Gegenteil verkehrt, denn jetzt erging der Befehl, dass zwar Kontrollen stattfinden, sie aber keine Konsequenzen haben sollten, weil „Drittstaatsangehörige ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise“ zu gestatten sei. Im Klartext: Jeder, der an der Grenze das Zauberwort „Asyl“ fallen ließ, wurde eingelassen, auch wenn er sich nicht ausweisen konnte, und hatte Anrecht auf Sozialleistungen des deutschen Staates. Die Öffentlichkeit rieb sich verwundert die Augen über den Widersinn, dass Grenzkontrollen eingeführt wurden, die keine wirklichen Kontrollen waren und vor allem nicht die Möglichkeit der Zurückweisung beinhalteten – ein teurer Placebo. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dass inzwischen weniger Flüchtlinge ankommen, liegt nur daran, dass andere Staaten taten, wozu sich Deutschland nicht in der Lage sah. Die beschlossene Grenzschließung wurde nicht verwirklicht, so zeigt es Alexanders Recherche, weil sich am 13. September 2015 alle führenden Politiker vor der Verantwortung drückten. Die negativen Bilder sollten dennoch entstehen, zwar nicht an der Grenze, sondern in Köln und zu Weihnachten 2016 am Berliner Breitscheidtplatz. Nach der Rücknahme der Entscheidung gingen dieselben Politiker dazu über, die offenen Grenzen als alternativlos zu bezeichnen und sie moralisch zu überhöhen. Robin Alexander bemerkt in seinem Buch, dass genau das, was gerade noch vereinbart war, nämlich die Schließung der Grenzen, nun plötzlich nicht mehr möglich sein sollte. Merkel verkündete ihr berühmt-berüchtigtes „Wir schaffen das“ und es klang damals schon für diejenigen, die weiterhin dem politischen Rationalismus verpflichtet blieben, wie das Pfeifen im Wald. Denn nun musste geschafft werden, was eigentlich nicht zu schaffen ist, und es wurde hierfür eine beispiellose Rechtfertigungskampagne in Gang gesetzt, die um so irrationaler wurde, je weniger sie sachlich begründet war. Journalisten verlernten das kritische Nachfragen, weil sie nicht mehr nur berichten wollten, sondern sich in den Dienst eines „aktiven Journalismus“ stellten. Aktiver Journalismus, wie es sich dann zeigte und wofür sich Giovanni di Lorenzo im Cicero entschuldigte, bedeutete, dass man nur darüber berichtete, was der moralischen Überhöhung der offenen Grenzen und der Willkommenskultur diente, dass man sich nicht scheute, von der Meinungsmache zur Nachrichtenmache überzugehen. Wer die DDR noch erlebt hatte, dem kamen bald schon öffentlich-rechtliche Nachrichtensendungen wie Tagesschau und Heute, Magazine wie Tagesthemen und Heute Journal als eine Wiederkunft der Aktuellen Kamera und Claus Kleber als verjüngter und smarter Karl Eduard von Schnitzler vor. Diejenigen jedoch, die sich nicht am neuen deutschen Moralismus berauschten und sich statt von politischer Romantik weiterhin vom politischen Rationalismus leiten ließen, wurden marginalisiert und, ganz gleich, wo sie tatsächlich politisch verortet waren, in die rechte Ecke gedrängt. Wobei die noch vor Kurzem normale politische Kennzeichnung „rechts“ synonym gesetzt wurde mit „rechtsradikal“, „rechtspopulistisch“ oder nur „populistisch“, „fremdenfeindlich“, „islamophob“, „nationalistisch“. Die damalige Generalsekretärin der SPD, Yasmin Fahimi, sprach von „wahnsinnigen Faschisten“, als ob Faschisten nicht schon schlimm genug wären, mussten sie noch dazu „wahnsinnig“ sein. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, forderte alle, die kritische Anfragen hatten, auf, aus dem Weg zu treten und nicht bei der großen Aufgabe zu stören. Wer drauf hinwies, dass unter unkontrolliert einreisenden Menschen, denen man die positiv besetzte Sammelbezeichnung „Flüchtlinge“ gab, sich auch Terroristen befinden, wurde vom Justizminister an den Pranger gestellt. Bis auf den heutigen Tag sind Politik und Teile der Medien bewusst oder unbewusst damit beschäftigt, die Folgen der Entscheidung vom 13. September 2015 zu verschleiern. Zu diesen Folgen gehört, dass der deutsche Steuerzahler jährlich 21 Milliarden Euro ausgeben muss für die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Der Familiennachzug ist in diese Zahl nicht eingerechnet. Aus der Rücknahme der Entscheidung zur Schließung der Grenzen resultieren eine Erosion der öffentlichen Sicherheit, eine nicht tragbare Belastung der Gesundheits- und Rentenkasse, eine Verschärfung auf dem Wohnungsmarkt und die Herabsenkung des Bildungsniveaus – und das vor allem für Kinder, deren Eltern auf öffentliche Schulen angewiesen sind. Die SPD hatte die soziale Frage vergessen, an die sich aus sehr durchsichtigen Gründen ihr Kanzlerkandidat nun mühsam zu erinnern sucht, der damals mit Verve die Politik der Grenzöffnung mitvertreten hat. Zu den Folgen gehören weiterhin eine tiefgespaltenes Land und eine starke AfD, die Vergiftung des demokratischen Diskurses, eine neue Lust an der Denunziation und das Schwelgen in den Gefilden der politischen Romantik, die in der deutschen Geschichte zu Katastrophen führte, ob sie nun von links oder von rechts daherkam. Die Regierung und die sie in dieser Frage unterstützenden Parteien, die Grünen und die Linken, haben bis heute weder ihre Positionen in der Flüchtlingskrise argumentativ begründen, noch ein stichhaltiges Konzept vorweisen können. Wenn es stimmt, wie Robin Alexander schreibt, dass die Grenzen offen blieben, weil „sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand“ fand, „der die Verantwortung für die Schließung“ der Grenzen übernahm, dann stellt sich auch die Frage, wie es zu Entscheidungen wie dem Atomausstieg oder der Griechenlandhilfe kam, wie zum verhängnisvollen Deutschland-Türkei-Pakt in der Flüchtlingskrise. Und wie werden künftig in existentiellen Problemfeldern Entscheidungen gefällt? Nach Maßgabe der politischen Opportunität? Der Bilder? Der Vermeidung von Verantwortung? Was die von Robin Alexander recherchierte Chronologie der Ereignisse so brisant macht, ist, dass die Politiker in ihr ein Bild von „Getriebenen“ abgeben. Sie folgen in einem von den Bürgern abgekoppelten Bereich spätbyzantinischen Spielregeln, vor allem darauf bedacht, persönliche Risiken und mithin auch Verantwortung wie der Teufel das Weihwasser zu meiden. Das Fallbeispiel beunruhigt. Für den Bürger könnte sich von nun an die Frage erheben, wie er dieser Politik Vertrauen entgegenbringen kann. Sollte es dazu kommen, dann droht unsere Demokratie in eine Krise zu stürzen.
Klaus-Rüdiger Mai
Nach den Recherchen des Journalisten Robin Alexander sollte die Grenzöffnung vom 4. September schon wenige Tage später zurückgenommen werden. Nur die Furcht vor „schwer vermittelbaren Bildern“ hielt die Regierung davon ab
[ "Flüchtlingskrise", "Grenzöffnung", "Angela Merkel" ]
innenpolitik
2017-03-06T10:42:28+0100
2017-03-06T10:42:28+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/buch-zur-grenzoeffnung-aus-angst-vor-verantwortung
Green Primary - Die List des Reinhard Bütikofer
Reinhard Bütikofer wurmt es, immer nur die Nummer zwei zu sein. Der gemütliche 60-Jährige, Brille, grau meliertes Haar, schwarz-grün gestreifte Krawatte, hatte seine beste Zeit vor einigen Jahren. Von 2002 bis 2008 war er grüner Parteichef, genau sechs Jahre lang. Damals war das noch Rekord; kein Parteimitglied hatte vor ihm so lange auf dem Chefsessel gesessen wie er. Doch damals interessierte das keinen so richtig, weil alle auf Joschka Fischer hörten. Später zog die quirlige Claudia Roth alles Medieninteresse auf sich – die langjährige Bundesvorsitzende überholte Bütikofer sogar noch bei der Amtsdauer. Der passionierte Realo gab nicht auf. Ende 2012 wurde er zum Vorsitzenden der Europäischen Grünen Partei gewählt. Wenn er die Sache gut anstellt, könnte er in Europa endlich die Nummer eins sein. Doch dafür steht ihm noch eine Frau im Weg: Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament. Die 57-Jährige ist mit der Anti-Atomkraft-Bewegung groß geworden. Sie gründete die Bürgerinitiative „Umweltschutz Lüchow-Dannenberg“ im Wendland, protestierte gegen das geplante Gorleben-Endlager. Sie kämpft für einen besseren Klimaschutz, eine europäische Energiewende, reiste in der Finanzkrise mehrmals nach Griechenland. Seit sich ihr Co-Fraktionsvorsitzender Daniel Cohn-Bendit gegen Pädophilievorwürfe erwehren muss, leuchtet Harms‘ Stern umso heller. Wenn eine das Zeug zur grünen Nummer eins in Europa hat, dann sie. Reinhard Bütikofer und Rebecca Harms waren bei der Europawahl 2009 das gemeinsame Spitzenduo der deutschen Grünen. Beide bewerben sich bei der Bundesdelegiertenkonferenz im Februar wieder um vordere Plätze auf der grünen Europaliste. Nur mit der Gemeinsamkeit wird das diesmal nichts werden. Denn Bütikofer und Harms sind Kontrahenten. Rebecca Harms  muss nicht nur ihre Truppen in Deutschland hinter sich bringen, sondern sich seit November noch einem äußerst zweifelhaften, europaweiten Wahlverfahren stellen. Einem Verfahren, das zahlreiche Grüne selbst für undemokratisch halten. Sie sitzt in einer Falle, die Reinhard Bütikofer für sie aufgestellt hat. Das Verfahren hat der Grünen-Chef erfunden: eine europaweite Onlineabstimmung, mit der die Grünen ihr Spitzenduo für die Europäischen Parlamentswahlen küren. Bütikofers „Green Primary“ soll sich an den präsidentiellen Vorwahlen in den USA orientieren. Mit einigen Unterschieden: An der Abstimmung auf www.greenprimary.eu können nicht nur grüne Parteimitglieder teilnehmen, sondern alle, die in der EU wohnen und mindestens 16 Jahre alt sind. Die Bewerber für die grüne Doppelspitze stellen sich am Samstag in Berlin persönlich vor: Neben Rebecca Harms sind das die Italienerin und Co-Parteichefin Monica Frassoni, der Franzose José Bové und die Brandenburgerin Franziska (Ska) Keller. Bütikofer selbst hat auf eine Kandidatur bei der Primary verzichtet. Auf Cicero-Online-Anfrage ließ er offen, warum. Man könnte spekulieren, dass Bütikofer die Merkel-Taktik fährt: anderen den Vortritt lassen, warten und später selbst zuschlagen. Spitzenkandidaten sind ja per definitionem nur bis zum Wahltag (am 25. Mai) in dieser Position. Danach können die Karten neu gemischt werden. Als Parteichef werden Bütikofer auch nicht die massiven Einwände gegen ein solches Vorwahlverfahren entgangen sein. Einerseits dürften die vier grünen Kandidaten der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sein. Seit dem offiziellen Beginn der Onlineabstimmung im November hat sich das übrigens nicht wesentlich geändert. Es ist auch unklar, wie viele EU-Bürger sich bis zum 28. Januar überhaupt an der Primary beteiligen werden. Ab 100.000 Stimmen, heißt es bei den Grünen, gilt der Versuch als erfolgreich. Aber ist ein solches Ergebnis bei 375 Millionen wahlberechtigten EU-Bürgern überhaupt repräsentativ? Wer an der Abstimmung teilnehmen will, muss dem Wahlautomaten seine E-Mail-Adresse und seine Handynummer verraten. Und das, obwohl sich die Grünen als Datenschützer und Netzpartei profilieren wollen. Die Organisatoren müssen sich allein darauf verlassen, dass das spanische Unternehmen Scytl, das die Onlineabstimmung durchführt, die Daten der Bürger vor Hackerangriffen schützt. Ein riskantes Unterfangen, zumal die NSA-Affäre sicher auch im Europawahlkampf eine Rolle spielen wird. Die Grünen in Berlin hatten in letzter Minute noch verhindert, dass für die Teilnahme auch noch das Geburtsdatum abgefragt wird. Damit allerdings wird das Wahlalter ab 16 zur Farce: Wie kann dann überhaupt noch kontrolliert werden, dass nicht auch 14- oder 15-Jährige mitmachen? Schwerer noch wiegen die demokratietheoretischen Bedenken, die etwa der Netzpolitiker Heiko Wundram in seinem Blog veröffentlicht hat. Aus seiner Sicht verletzt die Abstimmung erstens die Gleichheit der Wahl, weil man sich über verschiedene Handys auch mehrfach an der Primary beteiligen kann. Zweitens benachteilige sie jene Menschen, die weder über einen Computer mit Internet-Zugang noch über ein Mobiltelefon verfügten und verstoße somit gegen die Allgemeinheit der Wahl. Drittens sei das digitale Wahlverfahren nicht transparent, weil die Ergebnisse auf dem Server des privaten Anbieters bleiben und nicht durch unabhängige Beobachter kontrolliert werden können. Schließlich liege es nur im Ermessen des Veranstalters und nicht etwa einer neutralen Wahlleitung, dass eine Zuordnung von Stimme zu Person und Mobilnummer nicht möglich ist. Wundram sieht dadurch das Wahlgeheimnis insgesamt bedroht. Sein Fazit: „Es gibt technisch kein digitales Internet-Abstimmungsverfahren, was alle Grundsätze einer demokratischen Wahl erfüllen würde.“ All diese Bedenken haben die österreichischen Grünen dazu veranlasst, an der Primary gar nicht erst teilzunehmen. Reinhard Bütikofer störte das nicht, als er die Green Primary im November vorstellte. Der Parteichef verkaufte seine Idee als „paneuropäische“ Basisdemokratie. Die meisten grünen Parteien in den 28 EU-Staaten waren begeistert von Bütikofers Idee. Nicht aber die Leute um Rebecca Harms: Mehrere Abgeordnete aus der Europa-Fraktion hatten versucht, das Verfahren anders zu gestalten, um zum Beispiel besser geschützt zu sein gegen Betrug oder Hackerangriffe. Harms räumt ein, „dass es bei diesem E-Voting Grenzen gibt“. Auf europäischer Ebene sei es bisher leichter, für Themen zu werben statt für Köpfe. So hätten viele Europäer unterschrieben, als es gegen die Wasserprivatisierung ging. Und wenn es um Personen geht? Für Harms sind die Primaries ein „echt ambitioniertes Experiment“. Das ist diplomatisch ausgedrückt. Es scheint bei den Grünen eine gewisse Tradition zu haben, dass Herren den Damen den Vortritt lassen, wenn es darum geht, sich um einen Posten zu raufen. Bei der grünen Urwahl im November 2012 war Jürgen Trittin als einziger Spitzen-Mann gesetzt; um den zweiten Führungsposten kämpften Claudia Roth, Renate Künast und Katrin Göring-Eckardt. Parteichef Cem Özdemir verzichtete damals auf eine Kandidatur beim Basisentscheid. Die Folge: Er wurde erneut Parteichef. Und aus dem Gerangel um die beiden Führungsposten in der Bundestagsfraktion ging nach der Wahl erneut ein Mann als Sieger hervor: Anton Hofreiter. Bei der Primary ist die Geschlechterfrage immerhin nicht ganz so akut. Zwar kann die Doppelspitze bei den europäischen Grünen auch aus zwei Frauen bestehen – aber sie darf nicht mit zwei Kandidaten besetzt werden, die das gleiche Land repräsentieren. Damit ist klar: Ein Führungsduo mit den beiden Deutschen Rebecca Harms und Ska Keller ist ausgeschlossen. Keller ist also die einzige, die Harms den Sieg bei den Primaries wegschnappen könnte. Denn die 32-Jährige, die 2009 mit dem Motto „Nicht nur Opa für Europa“ ins Europaparlament einzog, ist die gemeinsame Kandidatin der Grünen Jugend in Europa. Bei dem digitalen Format könnte sie besonders punkten. Junge Menschen nutzen häufiger das Internet und Mobiltelefone. 97 Prozent der 14- bis 29-Jährigen besitzen ein Handy; bei den über 65-Jährigen ist es nur jeder zweite. Bei den Jüngeren geht der Trend sogar zum Zweit- und Dritt-Handy. Junge Internet-User könnten also auch zwei- oder dreimal für ihre Favoritin Ska Keller votieren – unbemerkt. Sollte Keller Harms auf diesem Weg tatsächlich überholen, hieße der eigentliche Gewinner: Reinhard Bütikofer. Denn für Rebecca Harms wäre die Niederlage gegen die junge Konkurrentin ein Rückschlag. Vielleicht sogar eine Blamage. So weit will Harms natürlich nicht denken. „Ich bin die Kandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, das ist genauso eine Bank wie die Vereinigung Junger Europäischer Grüner“, sagt sie Cicero Online. Sollte sein möglicher Plan aber aufgehen, hätte Bütikofer mehreres zugleich erreicht: Harms zu schwächen. Ihr vielleicht sogar eine Niederlage beizubringen. Und der als bescheiden da stehende Vordenker der europaweiten Basisdemokratie hätte sich selbst in eine bessere Position gerückt. Um irgendwann doch noch die Nummer eins zu werden. Info: Die Primary-Debatte am Samstag, den 11. Januar, findet in der Neuen Mälzerei, Friedenstr. 91, Berlin statt. Beginn ist um 14 Uhr.
Petra Sorge
Für die Europawahl suchen die Grünen einen gemeinsamen Spitzenkandidaten – per Onlineabstimmung. Während vordergründig Basisdemokratie gespielt wird, geht es hinter den Kulissen um die Macht: Europas Grünen-Chef Reinhard Bütikofer zwingt seine Konkurrentin Rebecca Harms in ein hanebüchenes Demokratieexperiment
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innenpolitik
2014-01-09T11:31:23+0100
2014-01-09T11:31:23+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/green-primaries-die-list-des-reinhard-buetikofer/56796
Corona-Erreger - Das Angstvirus
In Deutschland grassiert ein Virus. Nein, von „Grassieren“ kann beim Coronavirus 2019-nCoV hierzulande nicht die Rede sein. Bis zum 5. Februar hatten sich insgesamt 13 Deutsche mit dem Virus infiziert. Einen Todesfall hat es zum Glück noch nicht gegeben. Mit Sicherheit wird die Zahl der Infizierten auch hierzulande ansteigen. Und die Zahl der Opfer, die das Virus vor allen Dingen auf dem chinesischen Festland fordert, ist schon jetzt schrecklich. Das Virus, der in Deutschland grassiert, ist gefühlter Natur. Es besteht aus Angst, gepaart mit Unwissenheit und einem über Jahre antrainierten Präventionsimpuls, und es lässt die Menschen in die Apotheken strömen, um dort Gesichtsmasken zu erwerben. Sollen die Menschen doch ihr Geld dafür ausgeben, könnte man meinen. Es gibt Schlimmeres. Doch die Angst verbreitet sich: In fast schon unbewussten Übersprungshandlungen wechseln Menschen die Straßenseite oder den S-Bahnwagen, wenn ihnen asiatisch aussehende Menschen entgegenkommen. Eigene Beobachtungen lassen vermuten, dass dies öfter geschieht, wenn diese Menschen selbst Mundschutz tragen. So funktioniert die irrationale Angstkultur: Präventiver Infektionsschutz wird gedeutet als Beleg für eine real existierende Gefahr, die noch mehr Prävention erfordert usw. – ein moralisches Perpetuum mobile. Schon verbreiten sich Theorien über aus geheimen Laboren entfleuchte Viren, es werden Phantom-Erinnerungen an europäische Grippe-Epidemien von vor über 100 Jahren geweckt, die sich fast geräuschlos in die heutige Untergangsstimmung einreihen, die bis vor Kurzem noch durch den ausbleibenden Winter, die Buschbrände in Australien und sonstige Katastrophen angeheizt wurde. Auf dem Blog des World Wide Fund for Nature (WWF) wird darauf hingewiesen, dass durch die Veränderung der Umwelt durch den Menschen „auch Krankheitserreger ins Ungleichgewicht [geraten]: Menschliche Aktivitäten führen zu neuen Dynamiken von Infektionskrankheiten und neuen Ausbreitungsmustern.“ Zu gut passen derlei „Erkenntnisse“ in unser Angstnarrativ, als dass sich hier noch der gesunde Menschenverstand einschalten und womöglich rebellieren würde. Die Antwort ist in jedem Fall „Ja, der verdammte Mensch!“ – ganz gleich, wie die Frage lautet. Die eigentlich urwüchsige menschliche Empathie mit Kranken und der daraus entstehende Impuls zu helfen schafft es immer seltener, den Fluchtreflex zu überdecken. Woher stammt dieses Narrativ? Im Gegensatz zur Frage nach der Herkunft des Coronavirus könnte die Antwort auf diese Frage tatsächlich lauten „Aus dem Labor!“ Denn seit vielen Jahren üben sich Vertreter der Wissenschaften darin, nicht nur neueste Erkenntnisse oder Vermutungen in der Öffentlichkeit zu verbreiten, sondern sich zugleich auch als praktische und autoritative Ratgeber für Politik, Gesellschaft und Individuum zu präsentieren. Und Aufmerksamkeit ist ihnen sicher: Gerade in Zeiten, in denen Menschen wenig Vertrauen in Politik, in große Ideale, in Systeme und ihre Mitmenschen haben, erfährt der Wissenschaftler einen enormen Reputationszuwachs. „Die Wissenschaft hat festgestellt…“ ist nicht nur der Standardeinstieg in nahezu jede politische Entscheidungsbegründung, sondern schrittweise auch zum Ersatz für eine solche Begründung und zum rational anmutenden Stoppschild für kontroverse Diskussionen geworden. Der Machtzuwachs der Wissenschaften als Folge der Implosion politischer Ideen und Visionen hat nicht zu einer stärker wissenschaftlich orientierten Realpolitik geführt, wie man es hätte vermuten können. Im Ringen um Aufmerksamkeit und Machtmittel hat stattdessen eine Politisierung der öffentlich beachteten und populären Wissenschaften stattgefunden. Dramatisierung, Leugnung, einseitige Fakteninterpretationen, ja sogar Zensur, üble Nachrede und das klassische Totschweigen haben Hochkonjunktur. Die „Politisierung der Wissenschaft“ lässt sich besonders drastisch überall dort erkennen, wo Dissens – ohne den Wissenschaft nicht existieren kann – über den Umweg der „Mehrheitsmeinung führender Wissenschaftler“ quasi weggewischt wird. Zusätzliche Autorität erhält die Wissenschaft über die allzu große öffentliche Bereitschaft davon auszugehen, dass Bakteriologen oder Meteorologen auch dafür geeignet sind, die für komplexe menschlichen Gesellschaften am besten geeigneten Handlungsanweisungen zu formulieren. Wir sind mittlerweile daran gewöhnt, dass Wissenschaftler als öffentliche Mahner und Warner auftreten und der Politik in Sachen Meinungsstärke und Glaubwürdigkeit den Rang abgelaufen haben. Das Problem daran ist: Naturwissenschaftler haben weder Gesellschaftsgestaltung studiert, noch haben sie sich Menschen gegenüber demokratisch zu verantworten. Das inhaltliche Vakuum der etablierten Politik sorgt dafür, dass Wissenschaftler in diesen besonders beachteten Disziplinen in den Gesellschaftsbetrieb hineingesogen werden, in dem sie eigentlich nichts zu suchen haben. Je stärker heute ein Wissenschaftler sich als lautstarker Mahner und Warner an die Menschen wendet, desto glaubwürdiger erscheint er. Dieser Aufmerksamkeitsbonus für wissenschaftlich verbrämten Alarmismus spiegelt sich auf der Weltbühne in Organisationen wider, die jenseits demokratisch legitimierter Regierungen mit scheinbar wissenschaftlicher Legitimation rein politisch operieren. Kaum jemand würde Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) demokratieferne Ziele und Praktiken unterstellen – dabei sind genau das die Markenzeichen ihres Handelns. Der öffentliche Fokus auf Bedrohungen und Gefahren hat in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Inflation der Risiken geführt. Dass die Welt in Wirklichkeit in den letzten Jahrzehnten für immer mehr Menschen immer sauberer, gesünderer und sicherer geworden ist, spielt im Risiko- und Angstnarrativ kaum eine Rolle. Umgangen wird dieser Widerspruch durch das Betonen der Präventionspolitik, die das Ausbleiben der Katastrophe als Bestätigung ihrer eigenen autoritären Erziehungspolitik umdeutet. Und genau hier entsteht nun angesichts des Coronavirus ein Problem. Erstarrt vor Angst und Unwissenheit blickt die weltweite Öffentlichkeit auf die Ereignisse in China wie ein Kaninchen auf die Schlange. Es ist offensichtlich, dass es schwerfällt, nach Jahren der permanenten Krisenbeschwörung nun tatsächlich schnell den Hebel umzulegen und aus der Passivität erzeugenden moralisierenden Belehrungsautomatik herauszukommen. Gerade in Situationen, in denen der Fokus auf schnelle globale wissenschaftliche Kooperation gelegt werden müsste, zeigt sich die Gefahr dieser Paranoia am deutlichsten. Während in China innerhalb weniger Tage ein Krankenhaus mit 1000 Betten sprichwörtlich aus dem Boden gestampft wurde, ringt die westliche Welt immer noch mit den eigenen Panikattacken und der Unfähigkeit, schnelle effiziente Maßnahmen zu ergreifen oder aber die Bevölkerung wenigstens mit sinnvollen Informationen zu versorgen. Und nicht nur das: Anstatt die Kraftanstrengungen der Chinesen als notwendig und vorbildlich zu beschreiben, hebt man den moralischen Zeigefinger und erklärt die Handlungsfähigkeit chinesischer Baubehörden mit ihrer diktatorischen Machtfülle. Anstatt also selbst Effizienzsteigerungen und eine schnelle Reaktionsfähigkeit anzustreben, gelten eben diese Fähigkeiten zunehmend als inkompatibel mit offenen Gesellschaften. Hier zeigt sich einmal mehr, wie tief das Selbstbewusstsein des Westens mittlerweile erschüttert ist. 30 Jahre nach dem Sieg im Kalten Krieg der Systeme scheint die westliche Welt sich selbst als dirigistischen und undemokratischen Systemen unterlegen einzustufen. Wurde einstmals der Triumph über den starren und planwirtschaftlich gelähmten Sozialismus eben gerade mit dem Verweis auf die eigene Offenheit, Demokratie, Flexibilität und Zukunftsoffenheit erklärt, so hat sich offensichtlich das westliche Selbstverständnis pulverisiert. Sogar das Anstreben von Effizienz, wie sie China offensichtlich anstrebt, kann inzwischen als totalitär und demokratiegefährdend wahrgenommen werden. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der politische und ökonomische Effizienz als totalitär gelten; deren eigene Wirtschaft für weniger Wachstum plädiert, deren Wissenschaftselite in die Rolle des staatlich sanktionierten Warners halb strömt, halb sich drängen lässt. Hier hätte ein gefährlicher Virus tatsächlich leichtes Spiel. Zum Glück hat das Coronavirus dazu nicht das Zeug. Das Problem ist nicht das Virus, sondern die wachsende Unfähigkeit, globale Herausforderungen überhaupt und gemeinsam anzugehen. Diese Unfähigkeit müssen wir überwinden – am besten, bevor wir einer wirklich globalen Herausforderung gegenüberstehen.
Matthias Heitmann
Der internationale Gesundheitsnotstand, ausgerufen von der WHO, löst allgemeine Sorge aus. Es ist an der Zeit, eine Lanze zu brechen für die mutige Globalisierung – als Impfstoff gegen ein Virus namens globale Angstkultur
[ "Coronavirus", "Angst", "gesellschaft" ]
kultur
2020-02-07T16:28:54+0100
2020-02-07T16:28:54+0100
https://www.cicero.de/kultur/corona-erreger-angstvirus-china-quarantaene-hysterie
Wettstreit auf dem Meer – Flaggen am Grund des Ozeans
Die Kriegsschiffe, die am Royal Victoria Dock in London auf der Themse schaukeln, locken Messebesucher aus aller Welt an. Schwitzende Offiziere in bunten Uniformen, Männer in dreiteiligen Anzügen mit Aktenordnern und Diplomaten von der arabischen Halbinsel in weißen Gewändern drängen sich auf die Fregatten und Korvetten. In der britischen Hauptstadt hat Mitte September die Defence & Security Equipment International (DSEi), die größte Rüstungsmesse der Welt, ihre Tore geöffnet. Neben Drohnen, unbemannten Flugzeugen, sind Kriegsschiffe eines der wichtigsten Themen der Waffenschau. Die Messezeitung DSEi Daily berichtet am zweiten Tag auf der Titelseite, dass Großbritannien nach Partnern für eine Fregatte der nächsten Generation suchen. Brasilien habe Interesse bekundet, ebenfalls Indien, die Türkei, Australien und Neuseeland. Ab 2020 sollen die ersten Fregatten vom Typ 26 in Dienst gestellt werden. Das Programm wird Milliarden kosten und zwingt die Briten wegen der Kosten zu Kooperationen. Im maritimen Bereich kratzen selbst die von der weltweiten Finanzkrise gebeutelten Staaten ihr Geld zusammen um aufzurüsten. Die Ozeane gewinnen für Politiker und Militärs stark an Bedeutung. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Erdöls. Um den Rohstoff, der die Industrienationen am Laufen hält, wurden Kriege geführt, politische Morde begangen, diplomatische Krisen in Kauf genommen. Das 21. Jahrhundert werde ein maritimes Jahrhundert sein, prophezeiten Experten zum Millenniumswechsel – und sie scheinen Recht zu behalten. Der Wettstreit um die Meere wird immer härter, dafür gibt es mehrere Gründe: Das Eis der Arktis schmilzt zunehmend und in den nächsten Jahrzehnten werden neue Schifffahrtsrouten durch die Arktis entstehen. Bereits heute sind wichtige Passagen zeitweise eisfrei. Neue Fördertechnik ermöglicht zudem, Rohstoffe vom Meeresboden zu holen. Der steigende Ölpreis lässt auch das Bohren in großen Tiefen lukrativ werden – trotz aller Gefahren für die Umwelt sollen weitere Ölplattformen entstehen. Mit Offset-Windanlagen vor den Küsten wollen künftig zahlreiche Staaten einen Teil ihrer Stromversorgung sichern. Durch die fortschreitende Globalisierung wird die Verzahnung der Weltwirtschaft immer enger und der Transport immer wichtiger. Lesen Sie auf der nächsten Seite über den Stellenwert der Seewege Exportnationen wie Deutschland, die viele Waren ausführen, aber kaum über Rohstoffe verfügen, sind auf sichere und schnelle Handelswege angewiesen. Die Piraten an den afrikanischen und asiatischen Küsten sind da nur ein Problem. Auch das Großmachtstreben mancher Nation, die Anspruch auf internationale Seewege erhebt, besorgt die Internationale Gemeinschaft. So drohte der Iran im Sommer, die Straße von Hormus für die arabischen Staaten zu sperren. Sie verbindet den Persischen Golf mit dem Golf von Oman, dem Arabischen Meer und dem Indischen Ozean. Sollte Teheran seine Drohung in die Tat umsetzen,  dann kämen in Europa und den USA keine Gas- und Öllieferungen aus der Region mehr an. Die Regierung Ahmadinedschad erklärte außerdem den gesamten Persischen Golf zum eigenen Hoheitsgebiet. Saudi-Arabien und die anderen Nachbarn des Iran akzeptieren diesen Schritt nicht, sie sprechen auch nicht vom Persischen, sondern vom Arabischen Golf. Auch China agiert vor der eigenen Haustür immer aggressiver. Ein chinesischer Tauchroboter hisste die rote Fahne seines Heimatlandes auf dem Meeresboden des Südchinesischen Meeres. 80 Prozent dieses internationalen Gewässers reklamiert Peking für sich. Seine Interessen setzt die Volksrepublik auch mit Gewalt durch: So beschossen chinesische Patrouillenboote in den vergangenen Jahren vietnamesische Fischerboote. Und chinesische Kriegsschiffe drangen in japanische Hoheitsgewässer ein. Viele Staaten in der Region suchen nun den Schutz der USA – sogar Vietnam, das einst Amerikas Feind war, unternimmt heute gemeinsame Flottenmanöver mit Amerika. Die Bundesregierung setzt bei der Lösung maritimer Fragen vor allem auf die internationale Gemeinschaft. Die Versorgung mit Ressourcen und Energie, die Sicherheit von Handelswegen müssten künftig noch stärker im internationalen Rahmen angepackt werden, sagte der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Interview mit dem Fachmagazin wehr technik. Doch viele Staaten verfolgen bei diesen Themen ganz unterschiedliche Ziele, vor allem die Vetomächte im Weltsicherheitsrat, so dass die Vereinten Nationen teilweise gelähmt sind. Lesen Sie auf der nächsten Seite vom Wettrüsten für die Weltmeere Wie wichtig die Ozeane manchen Staaten sind, lässt sich auch an deren Rüstungsausgaben ablesen.  Die USA, China, Russland, Indien, Brasilien und einige wenige europäische Staaten investieren trotz meist sinkender Verteidigungsbudgets gewaltige Summen, um ihre Kriegsflotten aufzurüsten. Die Regierung in Peking hat im August feierlich den ersten Flugzeugträger eingeweiht. Diese riesigen Schiffe, von denen Jets und Helikopter starten können, waren zuvor vor allem die Domäne der Vereinigten Staaten. Sie gelten in Friedenszeiten als Prestigeobjekte, im Krieg ermöglichen sie den Einsatz von Bombern und Kampfjets tausende Meilen entfernt von den Luftwaffenstützpunkten. Nur wenige europäische Länder wie die einstigen Großmächte Großbritannien und Frankreich leisten sich noch die teuren Träger. Paris und London haben jüngst vereinbart, gemeinsam einen Flugzeugträger zu bauen. Russland, das in den Jahren nach Ende des Kalten Krieges seine Schwarzmeer Flotte von einem Feind besiegt sah, dem ohne Millionen Rubel nicht beizukommen war - dem Rost, investiert nun in neue Schiffe und lässt alte Zerstörer überholen. Mit einer waghalsigen Aktion zeigte der Kreml, dass er künftig zur See wieder mitreden will. Ein Spezial-U-Boot rammte 2007 die russische Flagge in den Boden unter der Arktis – in 4.000 Meter Tiefe. Doch auch Norwegen und Kanada erheben Anspruch auf die Arktis. Auch andere Staaten interessieren sich wieder für das einst Ewige Eis. Denn die neuen Routen durch die Arktis werden die internationale Schifffahrt verändern. Eine neue Verbindung von Europa und Nordamerika nach Asien könnte so entstehen, eine Strecke, die nicht von Piraten bedroht wird. Die somalischen Seeräuber kapern seit Jahren im Golf von Aden und auf dem Indischen Ozean  Frachter -  trotz aller Kriegsschiffe, die dort kreuzen. Zwar arbeiten die USA, Europäer, Russen und Chinesen bei der Bekämpfung der Piraterie vor Somalia zusammen. Doch beim Streit um Seewege und Bodenschätze geben sich die Vereinigten Staaten und die aufstrebenden Staaten unerbittlich. Der Wettkampf zur See geht weiter.
Das 21. Jahrhundert wird eine maritime Epoche. Aufstrebende Staaten konkurrieren mit der Supermacht USA um Seewege und Bodenschätze auf dem Meeresboden
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außenpolitik
2011-10-28T11:35:26+0200
2011-10-28T11:35:26+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/flaggen-am-grund-des-ozeans/46224
Präsidentin Malawis – „Ich bin es gewohnt, per Anhalter zu reisen“
Ihren Erfolg hat Joyce Banda niemand anderem, schon gar nicht Männern zu verdanken. Wäre es nach ihrem Vorgänger Bingu wa Mutharika gegangen, säße die zweite Staatschefin in der Geschichte Afrikas heute nicht auf dem Präsidentenstuhl, sondern läge im Grab: Mutharika soll versucht haben, seine unbequeme Stellvertreterin auf mörderische Weise loszuwerden. Ein mysteriöser Unfall vor zwei Jahren, bei dem ein Lastwagen in ihren Konvoi raste, sei in Wahrheit ein Mordanschlag gewesen, gab die 62-Jährige kürzlich bekannt: Die Beweise dafür seien ihr im neuen Amt zugänglich gemacht worden. Dass der Mordanschlag misslang, lag lediglich daran, dass sie im letzten Moment das Fahrzeug wechselte. Nicht weniger dramatisch verlief Joyce Bandas finaler Schritt zur Macht. Erneut war es ein Mann, diesmal Mutharikas Bruder, der ihre Ernennung zur Präsidentin des südafrikanischen Kleinstaats Malawi mit allen Mitteln zu verhindern suchte – denn Peter Mutharika wollte selbst an den Drücker. Als sein 78-jähriger Bruder im April überraschend starb, ließ der Außenminister dessen Tod mehrere Tage lang leugnen und seinen Leichnam sogar nach Südafrika und wieder zurückfliegen, nur um Zeit für ein Komplott zu gewinnen, mit dem die von der Verfassung vorgesehene Amtsübernahme seitens der Stellvertreterin vereitelt werden sollte. Doch die smarte Vizepräsidentin manövrierte den Möchtegern-Putschisten aus und wurde schließlich zur Staatschefin gekürt. Bandas Triumph war auch ein Glücksfall für ihr Land: „Das Beste, was Malawi im vergangenen halben Jahrhundert zugestoßen ist“, sagt ein Gesandter in der Hauptstadt Lilongwe. Bandas Vorgänger Mutharika hatte sich darangemacht, eine der ärmsten Nationen der Welt vollends zugrunde zu richten: Der einstige Ökonom der Weltbank suchte eine Familiendynastie zu errichten, ließ oppositionelle Studenten niederkartätschen und verdarb es mit den westlichen Gebernationen, die angesichts der Kapriolen des Präsidenten ihre Hilfe einstellten. Als Mutharika im April einen Herzinfarkt erlitt, gab es im Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde, keine Medikamente mehr, die ihn hätten retten können – genauso wenig wie es an den Tankstellen noch Benzin oder in den Supermärkten noch volle Regale gab. Das Land stand vor dem Untergang. Joyce Banda blieb nicht viel Zeit. Sie musste ihre Macht gegenüber dem Mutharika-Clan sichern, die zerrütteten Beziehungen zu den Gebernationen kitten und die Landeswährung vom Wechselkursdiktat zum Dollar befreien: Letzteres war für den maroden Zustand der malawischen Wirtschaft in erster Linie verantwortlich. Wofür andere Staatschefs ganze Legislaturperioden brauchen, schaffte „Mama Malawi“ in weniger als 100 Tagen. „Sie verfügt über den Mut und die Hartnäckigkeit, Dinge auf den Weg zu bringen“, schwärmt Erieka Bennet vom Diasporaforum der Afrikanischen Union. „Sie repräsentiert einen Führungsstil, den Afrika im 21. Jahrhundert braucht.“ Seite 2: Beinhart: Banda drohte dem sudanesischen Präsidenten mit Verhaftung Mit der Abwertung des „Kwachas“ sorgte die Präsidentin dafür, dass an Malawis Tankstellen wieder Benzin zu haben ist. Sie versöhnte sich mit den Repräsentanten der Gebernationen und gab den Malawiern ihre alte Landesflagge mit der aufgehenden Sonne zurück, die Mutharika mit einer prallen Sonne ersetzen ließ, weil Malawi unter ihm angeblich seinen Zenit erreicht hatte. Schließlich schrieb die Staatschefin den zehn Millionen Euro teuren Präsidentenjet sowie 60 Untertürkheimer Limousinen aus dem Fuhrpark der Regierung zum Verkauf aus: „Ich bin es gewohnt, per Anhalter zu reisen“, scherzte die unprätentiöse Erste Frau im Staat. Und damit nicht genug. Kurz vor dem Gipfel der Afrikanischen Union, der im Juli dieses Jahres in Malawi hätte stattfinden sollen, drohte die frisch gekürte Staatschefin dem wegen Kriegsverbrechen angeklagten sudanesischen Präsidenten Omar al Baschir mit der Verhaftung: ein Sakrileg im Club der „Big Men“ Afrikas, die ihren blutbesudelten Kollegen vor einem Prozess vor dem Haager Strafgerichtshof stets peinlichst zu beschützen suchen. Der Gipfel wurde daraufhin nach Äthiopien verlegt. Schließlich kündigte Banda sogar an, die heimischen Gesetze zur Bestrafung Homosexueller einer Revision zu unterziehen: Auch das ein Schritt, der unter Durchschnittsafrikanern auf wenig Gegenliebe stieß. Kritiker werfen der Präsidentin denn auch vor, das alles nur zu tun, um die Gebernationen gnädig zu stimmen: Dem „Call Girl“ der westlichen Industrienationen gehe es vor allem um die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe, heißt es. Wer Joyce Banda, die heute in zweiter Ehe mit dem obersten Richter des Landes verheiratet ist, kennt, weiß, wie falsch diese Unterstellung ist. An ihrer Integrität besteht kein Zweifel. Tatsächlich setzt die einstige Menschenrechtsaktivistin das um, was sie denkt, zumindest seit sie den Mut fand, sich von ihrem ersten Mann zu trennen – einem nach Kenia entsandten alkoholkranken Diplomaten, der die damalige Mutter von drei Kindern regelmäßig verprügelte. Von der kenianischen Frauenbewegung ermutigt, kehrte die 25-Jährige ihrem Peiniger den Rücken: „Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich den Schritt nicht früher gewagt habe“, sagt sie heute.
Joyce Banda hat sich als Präsidentin Malawis behauptet – und greift nun entschieden durch  
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außenpolitik
2012-11-10T12:03:13+0100
2012-11-10T12:03:13+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/ich-bin-es-gewohnt-anhalter-zu-reisen/52513
Terrororganisation - Innenministerin Faeser verbietet Hamas und Netzwerk Samidoun
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat die islamistische Palästinenserorganisation Hamas und das pro-palästinensische Netzwerk Samidoun verboten. Das teilte sie am Donnerstag in Berlin mit. Die Hamas habe als Terrororganisation zum Ziel, den Staat Israel zu vernichten, erklärte Faeser in einer Mitteilung. „Samidoun verbreitete als internationales Netzwerk unter dem Deckmantel einer "Solidaritätsorganisation" für Gefangene in verschiedenen Ländern israel- und judenfeindliche Propaganda.“ Im Fall von Hamas und den ausländischen Strukturen von Samidoun geht es um ein sogenanntes Betätigungsverbot, für die deutschen Strukturen von Samidoun zudem um ein Vereinsverbot. Die Folgen sind ähnlich. Eventuelles Vermögen wird eingezogen, Internetauftritte und Aktivitäten in sozialen Medien werden verboten. Wer weiter für die Organisationen aktiv ist, macht sich strafbar. Die Hamas ist von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft. Hinter ihr stehen nach Schätzungen des Verfassungsschutzes in Deutschland rund 450 Menschen, von denen viele deutsche Staatsbürger sind. Einen offiziellen Ableger der islamistischen Gruppierung gibt es hierzulande aber nicht. Vereine, die der Bewegung nahestanden, wurden vor einigen Jahren bereits verboten. Als zusätzliche Maßnahme bleibt damit nun ausgesprochene Betätigungsverbot. Samidoun ist eine Gruppe, die sich selbst als „palästinensisches Gefangenensolidaritätsnetzwerk“ bezeichnet. Nach Einschätzung von Verfassungsschützern gehört Samidoun zur radikalen Palästinenserorganisation PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) und ist israelfeindlich. Die PFLP selbst propagiert den bewaffneten Kampf gegen Israel, ist aber im Gegensatz zur Hamas nicht religiös geprägt. Samidoun hatte schon wenige Stunden nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober für Entrüstung gesorgt, weil Mitglieder des Netzwerks zu Ehren der Hamas Süßigkeiten auf der Sonnenallee im Berliner Bezirk Neukölln verteilten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits kurz nach dem Terrorangriff ein Betätigungsverbot für die beiden Organisationen in Aussicht gestellt. Eine solche Ankündigung im Vorfeld eines Verbots ist sehr ungewöhnlich. dpa
Cicero-Redaktion
Deutschland reagiert auf den Hamas-Terror gegen Israel. Innenministerin Faeser verbietet die Palästinenserorganisation und ein weiteres Netzwerk. Wer sich künftig dort engagiert, muss mit Konsequenzen rechnen.
[ "Hamas", "Nancy Faeser" ]
innenpolitik
2023-11-02T10:40:22+0100
2023-11-02T10:40:22+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/hamas-samidoun-faeser-verbot
Kolonialismus-Raubkunst in Frankreich - Zurückgeben oder Zurückkrebsen?
Über eines herrscht Einigkeit: Die Empfehlungen sind radikal. Zwei von Präsident Emmanuel Macron eingesetzte Kunstexperten verlangen nichts weniger als die umfassende „Restitution afrikanischen Kulturerbes“ an die Ursprungsländer. So lautet auch der Titel ihres Regierungsberichts, der nun in Buchform erschienen ist. Betroffen davon sind in Frankreich schätzungsweise 90.000 Kunstobjekte aus der Kolonialzeit. Zwei Drittel davon befinden sich im Pariser Völkerkundemuseum Quai Branly, das zu dem Bericht bislang elegant schweigt. Dabei sind die Empfehlungen kulturpolitisches Dynamit: Schon die Rückgabe auch nur einzelner Stücke, so 2009 im Fall antiker Fragmente an Ägypten oder 2012 von Maori-Köpfen an Neuseeland, hatte in Frankreich hitzige Polemiken ausgelöst. Macron will aber offenbar reinen Tisch machen. Nachdem er die Kolonialzeit bereits einmal eher beiläufig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet hatte, versprach er 2017 in einer Uni-Aula in Ouagadougou (Burkina Faso) einen neuen Zugang zu der weitreichenden Frage, wie sein Land mit Raubkunst umgehen solle. Um eine Entscheidungsgrundlage zu haben, berief der Staatschef dann ein Expertenduo ein, von dem er wusste, dass es zur Sache gehen würde. Der senegalesische Wirtschaftstheoretiker Felwine Sarr (46) ist mit dem Werk „Afrotopia“ (das Buch erscheint Anfang 2019 in deutscher Übersetzung im Matthes-&-Seitz-Verlag) aufgefallen und der Sicht der vom Kolonialismus betroffenen Staaten zugetan. Die gleichaltrige Französin Bénédicte Savoy lehrt an der Technischen Universität Berlin Kunstgeschichte. 2017 war sie ist als Beirat des Humboldt-Forums mit Knalleffekt zurückgetreten. Dort gab es ebenfalls heftige Raubkunst-Diskussionen. Die Vorschläge der beiden Experten sind deshalb radikal, weil sie mit dem französischen – und in sich kolonialistischen – Prinzip der „Unveräußerlichkeit“ musealer Kunstobjekte aufräumen wollen. Das würde eine Gesetzesänderung erfordern. Der Bericht fordert zweierlei: Die Ausbeute von Kriegen und Kolonialexpeditionen sei ohne weiteres zurückzugeben. Das verstehe sich von selbst, meinen die beiden Autoren: Diese Kunstobjekte wiesen einen offensichtlichen „Mangel zu Zustimmung“ auf. Die übrigen Kunstgegenstände, die in der Kolonialzeit (1885 bis 1960) namentlich aus Zentral- und Westafrika nach Frankreich gekommen sind, soll Frankreich aufgrund bilateraler Abkommen an die afrikanischen Museen zurückerstatten. Eine Ausnahme bestünde dann, wenn die Bezieher den Nachweis erbringen können, dass sie das Objekt „aus freien Stücken“ – zum Beispiel als Geschenk für den französischen Präsidenten – erhalten haben. Wie brisant diese Vorschläge sind, zeigen die kritische Reaktionen in Paris: Selbst linke Magazine wie L'Obs reduzieren den Bericht auf eine „Auslegeordnung“ und fragen unumwunden: „Können die afrikanischen Museen sie (die Kunstobjekte) überhaupt aufnehmen?“ Auch unterstellt die Zeitschrift, die Rückgabe von Raubgütern an die einzelnen Staaten würde zur Bildung „nationaler“ Kunstsammlungen führen, was dem Prinzip universeller Museen zuwiderlaufe. Das könnte sich letztlich auf Museen in ganz Europa auswirken. Die beiden Autoren des Berichts kontern solche Argumente zornig: Sie hätten auf vorbereitenden Reisen in Afrika 500 aufnahmebereite Museen ausgemacht, die auch große Skulpturen oder wertvolle Objekte wie etwa den Goldschatz von Ségou (Mali) aufnehmen könnten, sagt Felwine Sarr. Die betroffenen Konservatoren wollten die zurückerhaltenen Stücke keineswegs in ihre Museen einschließen, sondern sie zirkulieren lassen, sagt Sarr. Deshalb sei es „dumm“ zu befürchten, der Westen werde seine afrikanischen Sammlungen verlieren: „Es geht nicht darum, die französischen Museen zu leeren!“ Bénédicte Savoy macht zudem klar, dass nur öffentliche Museen von ihren Empfehlungen betroffen wären, nicht Privatsammlungen. Macron scheint die Tragweite des Berichts erst jetzt richtig zu erfassen. Der anfangs so wagemutige Präsident will den Bericht nun ohne TV-Kameras in seinem Büro entgegennehmen. Und er zieht inzwischen auch bloß „temporäre“ Rückgaben, also Leihgaben, in Betracht. Das nennen Savoy und Sarr in ihrem Bericht einen Widerspruch in sich. Die negativen Reaktionen und das absehbare Zurückkrebsen des politisch geschwächten Präsidenten machen klar: Die Rückgabe kolonialer Raubgüter in Frankreich ist noch nicht wirklich spruchreif. Solange Napoleons Raubzug durch die ägyptische Antike in französischen Schulbüchern nach wie vor als „Wissenschaftsexpedition“ ausgegeben wird, dürfte der neue Regierungsbericht faktisch wenig bewegen. Wenn man die Raubkunst-Debatte um das Humboldt-Forum als Psychogramm Deutschlands bezeichnen will, dann besteht Frankreichs Psychogramm darin, seine weniger glorreichen Geschichtskapitel massiv zu verdrängen.
Stefan Brändle
Emmanuel Macron versprach es, ein Regierungsbericht verlangt es nun: Frankreich soll geraubte Kunstgüter aus der Kolonialzeit an die betroffenen Staaten zurückgeben. Das könnte europaweit Auswirkungen haben
[ "Kolonialismus", "Raubkunst", "Emmanuel Macron", "Museen" ]
außenpolitik
2018-11-26T12:43:57+0100
2018-11-26T12:43:57+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/kolonialimus-raubkunst-frankreich-emmanuel-macron-humboldt-forum
Kreativ-Protest in Tunesien - Ein Gläschen gegen den Ramadan
Eine junge Frau blickt über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg direkt in die Kamera. Ihr Blick ist ernst, das Bild hat sie selbst mit einer Handykamera aufgenommen. Ein unspektakuläres Motiv, dazu noch in schlechter Qualität  – und doch klickten innerhalb kürzester Zeit 260 Menschen den „Gefällt mir“-Button, als sie das Bild am vergangenen Donnerstag bei Facebook entdeckten. In über 130 Kommentaren liefern sich vor allem junge Tunesier eine leidenschaftliche Diskussion. Von wüsten Beschimpfungen über Aufrufe zur Mäßigung bis hin zu Ermutigungen für die Kaffee trinkende Frau auf dem Foto ist jede Meinung vertreten. Denn das auf den ersten Blick so harmlose Motiv gleicht in Tunesien einem Tabubruch: Es wurde zu Beginn des Fastenmonats Ramadan aufgenommen – Essen und Trinken in der Öffentlichkeit sind für Muslime in dieser Zeit verpönt. Die Frau auf dem Foto ist zudem nicht nur der tunesischen Öffentlichkeit wohlbekannt: Niemand geringeres als Lina Ben Mhenni, Bloggerin, Schriftstellerin und für den Friedensnobelpreis 2011 nominierte Aktivistin, deren Blog „A Tunisian Girl“ maßgeblich zur Dokumentation der tunesischen Revolution beitrug, bricht auf diesem Foto das Fasten. Lina Ben Mhenni ist nicht die Einzige: Ihr Foto reiht sich ein in eine täglich wachsende Galerie von Selbstporträts und anderen Motiven, mit denen junge Tunesier ihre Botschaft verbreiten: Es ist Ramadan, aber wir essen, trinken und genießen – wann und wo wir wollen. „Fattara“ werden die Nicht-Fastenden in Tunesien genannt. Jeder weiß, dass es sie gibt, doch noch immer gilt es als Provokation, sich außerhalb der eigenen vier Wände über das Gebot des Fastens hinwegzusetzen. Mit ihrem öffentlichen Bekenntnis reagieren die Fattara auf eine Forderung des salafistischen Predigers Adel Almi, der schon im Fall der tunesischen Femen-Aktivistin Amina internationale Aufmerksamkeit erlang. Für ihren barbusigen Protest solle Amina nicht nur mit hundert Peitschenhieben bestraft werden, sondern auch gesteinigt werden, forderte Almi im März. In der vergangenen Woche rief er anlässlich des bevorstehenden Ramadan die Tunesier in der Zeitung As-Sabah dazu auf, jeden zu fotografieren, der beim Essen, Trinken oder Rauchen ertappt werde. Auch das Baden am Strand gehöre sich nicht während des Fastenmonats. Die Fotos solle man anschließend auf Netzwerken wie Facebook veröffentlichen – Adel Almi will das Internet zum öffentlichen Pranger für Ramadan-Sünder machen. Doch einige Fattara kommen ihm nun zuvor und gehen in die Offensive: Auf der Facebook-Seite „Fotos aus dem Ramadan für Adel Almi“ veröffentlichen bekennende Nicht-Fastende Bilder, auf denen sie beim Essen, Trinken, Rauchen oder am Strand zu sehen sind. „Wir erleichtern Adel Almi und seinen Kollegen die Arbeit“, kommentieren die Facebook-Fattara gleichermaßen spöttisch und mutig. Die Resonanz ist gewaltig: Am 9. Juli ging die Seite online, nach 24 Stunden hatte sie bereits über 6000 Fans. Mittlerweile folgen über 10.000 Menschen der Seite, nahezu stündlich kommen neue Unterstützer hinzu, im Minutentakt werden neue Bilder veröffentlicht. „Auf dein Wohl, Adel Almi“ ist über dem Foto eines jungen Mannes zu lesen, der mit einer Dose Bier in die Kamera prostet. Die meisten Bilder stammen aus Tunesien, doch auch aus Dubai, Marokko und Algerien treffen Fotos ein. Nicht nur in den nordafrikanischen Medien ist der öffentliche Tabubruch der tunesischen Fattara ein viel beachtetes Thema: Auch in der Schweiz und in Frankreich wird bereits über den virtuellen Befreiungsschlag für viele junge Muslime berichtet. Auch abseits von Facebook sind jene aktiv, die während des Ramadan nicht fasten wollen: Auf Twitter tauschen sich Fattara unter dem Hashtag #fater – Tunesisch für „ich faste nicht“ – darüber aus, welche Restaurants und Cafés während des Fastenmonats auch tagsüber geöffnet sind; eine interaktive Landkarte weist den Weg zu den Lokalen. Denn sobald der Ramadan beginnt, gestaltet es sich für die Tunesier schwierig, außerhalb der Touristenzentren oder der eigenen vier Wände einen Kaffee zu trinken oder sich zum Mittagessen zu treffen. Vor dem offiziellen iftar, dem Fastenbrechen bei Sonnenuntergang, trifft man sich allenfalls hinter den halb heruntergelassenen Rollläden in einem der wenigen geöffneten Lokale. Und das, obwohl in Tunesien – anders als etwa in Marokko – öffentliches Essen und Trinken während des Ramadan nicht unter Strafe steht, wie der ehemalige Richter Ahmed Rahmouni bestätigt. Dennoch ließ es sich Nourddine Khademi, Minister für religiöse Angelegenheiten, nicht nehmen, die Ramadan-Debatte zusätzlich anzuheizen: Er rief Restaurant- und Cafébetreiber öffentlich auf, ihre Lokale während der Fastenzeit tagsüber zu schließen. [gallery:20 Gründe, warum wir auf Religion nicht verzichten können] Zwar betonte Premierminister Ali Laarayedh im Interview mit dem TV-Sender France 24, dass es die persönliche Entscheidung eines jeden Tunesiers sei, ob er während des Ramadan fasten wolle oder nicht. Doch die gesellschaftlichen Spannungen, die Sorge um die wirtschaftliche Lage Tunesiens und die Unzufriedenheit über die politische Entwicklung des Landes entladen sich immer wieder in Auseinandersetzungen über traditionelle und religiöse Fragen. Wie schon im Falle der Femen-Aktivistin Amina heizen islamistische Kräfte die Debatten zusätzlich an. Das zeigt sich auch an den hitzigen Diskussionen auf der Facebook-Seite der Gegner des selbsternannten Sittenwächter Adel Almi. „Wenn du so weitermachst, verbrennst du dir deine Lippen, deine Zunge und deine Eingeweide“, lautet ein wütender Kommentar unter dem Foto eines jungen Mannes, der lächelnd in einem Café sitzt. An anderer Stelle hofft ein Gegner der Seite, dass den Fattara eine „Kugel in den Kopf gejagt“ wird. Doch es werden auch versöhnliche Töne angeschlagen: So schreibt Assia, dass sie selbst zwar fastet, aber dennoch die Seite unterstützt: „Ihr leistet Widerstand gegen diejenigen, die meinen, euch ihr Gesetz aufzwingen zu können. Bravo!“ Von der Gelassenheit eines Habib Bourguiba ist im Tunesien derzeit wenig zu spüren. Bourguiba, der erste Präsident der unabhängigen Republik Tunesien, ließ bis in die Mitte der siebziger Jahre die Lokale des Landes auch während des heiligen Monats ihre Türen öffnen. Unvergessen ist auch, wie Präsident Bourguiba im Ramadan des Jahres 1964 im tunesischen Staatsfernsehen demonstrativ einen Schluck Wasser nahm: „Der Ramadan ist nicht besonders gut vereinbar mit dem modernen wirtschaftlichen Leben“, bemerkte der Präsident trocken und beruhigte die Tunesier: „Arbeitet und esst ruhig. Ich arrangiere mich schon mit Gott“.
Katharina Pfannkuch
In Tunesien droht ein Imam öffentlich Menschen, die im Ramadan nicht fasten. Die Jugend des Landes wehrt sich bei Facebook und Twitter – ein Tabubruch
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außenpolitik
2013-07-15T10:00:19+0200
2013-07-15T10:00:19+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/kreativ-protest-tunesien-ein-glaeschen-gegen-den-ramadan/55056
SPD-Parteikonvent - Mindestlohn ja, aber keine Steuererhöhungen
Ausgemacht ist das Zustandekommen einer Großen Koalition auch nach diesem Sonntag nicht. Zwar haben die 229 Delegierten des SPD-Parteikonvents ihrer Führung das „Go“ für Verhandlungen mit Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) mehrheitlich gegeben. Nur 31 waren dagegen, zwei enthielten sich. Das letzte Wort über die Koalitions- und damit die Regierungsbildung haben aber die Mitglieder der SPD. Ihnen muss Parteichef Sigmar Gabriel den ausgehandelten Vertrag zur Prüfung vorlegen, womöglich noch im November, wahrscheinlich aber erst im Dezember. „Weihnachten muss ja auch mal gut sein“, frotzelte Gabriel, „und Zeit zum Geschenkekaufen braucht man auch.“ Jedes SPD-Mitglied darf dann sein Votum abgeben. Erst wenn die Mitglieder mehrheitlich positiv abstimmen, kann die SPD den Koalitionsvertrag unterschreiben. „Es wird auf die Inhalte ankommen.“ Diesen Satz hörte man am Sonntag besonders häufig, als die Delegierten des Parteikonvents gegen Mittag das Willy-Brandt-Haus, die Parteizentrale, betraten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Gabriel dem Parteivorstand bereits ein zweiseitiges Papier zur Abstimmung vorgelegt, das man als so etwas wie das Pflichtenheft für die anstehenden Koalitionsverhandlungen verstehen kann. Darin festgehalten sind die inhaltlichen Punkte, die es in den Gesprächen mit der Union festzuschreiben gilt. [[nid:54455]] Der SPD-Vorsitzende hat zehn Punkte formuliert, auf die es aus seiner Sicht ankommt. Zwar heißt es in der Präambel: „Auf das Wahlprogramm kommt es an.“ Doch die Kernforderungen des sozialdemokratischen Wahlprogramms finden sich nicht in allen Teilen und schon gar nicht so konkret im Verhandlungspapier wieder. Der Grund: In den Verhandlungen will die Führung flexibel bleiben können. Stehen zu konkrete Forderungen im Beschlusspapier des Konvents, wächst die Gefahr, dass die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag womöglich nicht zustimmen, weil sie die konkreten Inhalte des Konventsbeschlusses darin nicht eingelöst sehen. Überraschend ist gewiss für viele Sozialdemokraten: Die Parteispitze hat in ihren Forderungskatalog weder die Anhebung von Steuern noch die Einführung einer einheitlichen Krankenversicherung hineingeschrieben. In dem Papier heißt es lediglich, dass die SPD „in den Koalitionsverhandlungen auf einer verlässlichen, soliden und gerechten Finanzierung aller Projekte“ bestehen werde und „soziale Kürzungen“ ausschließt, also den Griff in Renten- und Gesundheitskassen. Dass die Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent aus dem SPD-Bundestagswahlprogramm nicht mehr erhoben werden soll, stieß zunächst auch auf Kritik. Aber Gabriel konterte, man müsse realistisch bleiben, das Wahlergebnis und den Wunsch des Wahlsiegers, der Union, respektieren. Im Vordergrund steht für die Parteiführung der Mindestlohn. Die Durchsetzung eines „flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohnes von 8,50 Euro“ ist für die SPD Kern einer gemeinsamen Regierung. Wobei sich die Parteispitze nicht festlegt, wann dieser Mindestlohn gelten soll. „Gerechte Löhne für gute Arbeit“ heißt die Forderung der Sozialdemokratie an die eigene Verhandlungsführung – ohne Unterschied in Ost und West. Dazu soll auch der Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen eingedämmt werden. In einem zweiten Punkt geht es um die Zukunft der Rente. „Altersarmut soll dauerhaft verhindert werden“, heißt es. Wer 45 Jahre in die Kasse eingezahlt hat, soll ohne Abschläge in Rente gehen können. „Nach einem langen Arbeitsleben muss eine gute Rente ohne Abzüge stehen“, heißt es. Die SPD will die Absicherung erwerbsgeminderter Menschen verbessern und die Rentensysteme in Ost- und Westdeutschland angleichen. Im Bereich der Pflege soll es sowohl um die Situation von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen als auch um diejenigen gehen, die in der Pflege arbeiten. „Um diese Ziele zu erreichen, wollen wir den Beitrag zur Pflegeversicherung anheben.“ Bei der Gleichstellung von Frauen und Männern bleiben die Sozialdemokraten vage. Sie soll „in allen Bereichen verbessert werden“. So soll unter anderem dem Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche und gleichwertige Arbeit“ auch zwischen Frauen und Männern Geltung verschafft werden. Außerdem will die SPD in den Koalitionsverhandlungen „verbindliche Regelungen für mehr Frauen in Führungspositionen“ durchsetzen. Der Begriff „Frauenquote“ taucht allerdings nicht auf. Eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften wurde in den Forderungskatalog aufgenommen. Indirekt wird in dem Papier die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft gefordert. Deutschlands Kinder sollten deutsche Staatsbürger bleiben, heißt es darin: „Deshalb wollen wir den Optionszwang abschaffen und Mehrstaatigkeit hinnehmen.“ Im Punkt 6 geht es um die finanzielle Besserstellung der Kommunen. Nachdem die Union die Finanzierung der Grundsicherung komplett von den Kommunen übernommen hatte, geht es nun um die Hilfen für Behinderte. „Wir wollen die Kommunen finanziell stärken und von Kosten sozialer Leistungen nachhaltig entlasten.“ Im Bereich Investitionen will sich die SPD auf „zusätzliche Anstrengungen“ konzentrieren, die Infrastruktur „zu erhalten und auszubauen“. Wobei das Betreuungsgeld für Kinder, die keine Kita besuchen, als „falscher Pfad“ bezeichnet, seine Abschaffung allerdings nicht gefordert wird. Zum Bildungssystem heißt es: „Im schulischen und vorschulischen Bereich soll es so gestaltet werden, dass individuelle Förderung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden.“ Bei der Finanzpolitik legt die SPD Wert darauf, dass Finanzmärkte wirksam reguliert werden, eine Finanztransaktionssteuer eingeführt und Steuerbetrug stärker bekämpft wird. In der Europapolitik will die SPD Wachstum und Beschäftigung in Europa sichern und gegen Jugendarbeitslosigkeit verstärkt vorgehen.
Antje Sirleschtov
Die zehn Forderungen der SPD für Koalitionsgespräche mit der Union ermöglichen vor allem eines: Flexibilität. Was wollen die Sozialdemokraten?
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innenpolitik
2013-10-21T08:15:13+0200
2013-10-21T08:15:13+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-parteikonvent-sondierungen-mit-cdu-union-sigmar-gabriel-mindestlohn-steuererhohungen-/56168
Parteiensystem – Wem der Untergang der Piraten nützt
Vor einem Jahr zogen die Piraten mit 9 Prozent Wähleranteil ins Berliner Abgeordnetenhaus. Welch ein Sieg! Welch ein Bohei um die neue Partei! Dann die Erfolge in Nordrhein-Westfalen, in Schleswig-Holstein, im Saarland! Die Neuen aus dem Nichts pflügten im Nu die Parteienlandschaft um. Mühelos, wie es scheint. War da was? Nach neueren Umfragen dümpeln die Piraten unter der parlamentarischen Wahrnehmungsschwelle von 5 Prozent: in Niedersachsen bei 3 Prozent, in Hessen wie auf Bundesebene bei 4. Aus solcher Untiefe kriegt man kein Schiff mehr flott. Also nichts gewesen, nicht einmal Spesen? Doch, denn das Wiederabtauchen der Piraten hinter ihre Laptops ist bedeutender als ihr unerwartetes Auftauchen vor Jahresfrist. Es signalisiert das Ende der Schimäre von einer Ich-Gesellschaft. 1968 schmachteten radikale Bürgersöhnchen noch nach Revolution. 2012 wollen die Piraten nur spielen: Kita-Kids des World Wide Web, das die Welt per Mausklick als Game auf ihren Bildschirm zaubert, gegenstandslos, geräuschlos, geruchlos und gratis. Angeblich geht es in diesem Reich ohne Sonnenuntergang um „communities“, „social networking“ und „liquid democracy“, um virtuelle Gesellschaften also. In Wirklichkeit geht es nur um den vereinzelten Einen, der mit all den anderen Vereinzelten nichts gemeinsam hat als das verspielte Herumpalavern im Netz. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat es – lang vor Internet und Piraten – so formuliert: „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Einzelne.“ Damit beschrieb die kalte Königin des Marktradikalismus ziemlich präzis die Kommunikationskakophonie, die heute der wirklichen Welt aus den binären Gefilden des Shitstorms entgegenschwappt. Die Piraten verkörpern die deutsche Vollendung der fatalen Vision: Nerds nennen sie sich, Narzissten sind sie – „Ich, ich, ich!“ lautet ihr Schlachtruf. Die Flüchtigkeit ihrer politischen Existenz ist Folge dieses Narzissmus. Die Piratenpartei besteht aus Parteien, und zwar aus exakt gleich vielen, wie sie Mitglieder hat: jeder Pirat seine eigene Partei – Auflösung als Lösung. Ihr Pech, sie operieren in einer Phase des globalen Paradigmenwechsels: vom Ich zum Wir, vom egoistisch getrimmten Homo oeconomicus hin zur solidarischen Gesellschaft. In den USA siegte gerade der Präsident, dem Gemeinsinn und Gemeinschaft zentrales Anliegen sind. Barack Obama behauptete seinen Wertekanon gegen einen Kandidaten, der die 47 Prozent sozial schwächerer Amerikaner als Staatsschmarotzer verunglimpfte. Und in Deutschland? Hier wendet sich das Volk wieder verstärkt den Parteien zu, deren Mitglieder die ganze Gesellschaft abdecken. Seien sie nun sozial oder christlich oder grün: Volksparteien mit Flügeln links und rechts. Parteien dagegen, die auf Egozentrik und Egoismus fokussieren, verlieren an Boden: neben den Piraten auch die Steuersenkungspartei FDP, die ihr einst sozialliberales Credo auf den marktradikalen Liberalismus verengt hat. Seite 2: Die Bürger sehnen sich nach etwas ganz und gar anderem – nach Demokratie Amerika verändert sich. Deutschland verändert sich. Die demokratische Welt wird von einer Wende erfasst. Die Mär vom üppig gedeckten Tisch der Reichen, deren Brotkrumen auch das einfache Volk darunter nähren, hat ihren Zauber verloren. Sie ist entlarvt als das perverse Abendmahl neoliberaler Apostel. Gleichzeitig erleben wir eine Renaissance der Politik, eine Wiedergeburt der Demokratie. Bürgerinnen und Bürger, angewidert vom Machtgebaren der Marktfetischisten, nehmen ihr Schicksal in die eigenen Hände: Gesellschaft statt Markt. Ja, es wird ein mühseliges Unterfangen. Besonders angesichts einer Zeit, die geradezu rast, da das Netz die Lichtgeschwindigkeit bereitstellt, mit der finanzwirtschaftliche Fakten vor allen anderen geschaffen werden können – und die Demokratie zeitaufwendig ihre dicken Bretter bohren muss. Der Spekulant ist schnell, netzschnell – der Bürger ist langsam. Doch die Entschleunigung gehört zum Wesen des Wertewandels. Die bewährten demokratischen Institutionen repräsentieren das große Ganze in all seinen Widersprüchen. Und sie funktionieren nach der Vorstellung des Philosophen Karl Popper von der offenen Gesellschaft: Versuch und Irrtum und Entscheidung und erneuter Versuch und erneuter Irrtum. Aufwendig ist dieses Verfahren, aber auch lustvoll, sogar unterhaltend, Demokratietheater wie aus der Feder des Dramatikers Friedrich Dürrenmatt. Das Erwachen der Gesellschaft ist das Ende der Täuschung, wonach ein jeder seines Glückes Schmied sei, also auch seines Unglückes Schmied – und daher selber schuld an Bedürftigkeit und Armut. Es ist das Ende der Täuschung, wonach eine Zivilisation der Vereinzelung keine Parteien der Versammlung mehr benötige. Die klassischen Parteien der bürgerlichen Demokratie – gibt’s eine unbürgerliche? – bilden nach wie vor die Agora der modernen Gesellschaft, auch der computergestützten. Zwar versuchen die Illusionskünstler der elektronischen Medien mit ihren Talks und Chats und Blogs diese Rolle zu substituieren. Doch das Parlieren vor der Kamera oder auf der Tastatur ist noch lange nicht die politische Arbeit. Selbst wenn sich das Publikum nur allzu gern dem Trugschluss hingibt, geredet sei gehandelt, gesagt sei getan. Auch hier naht das Ende der Täuschung, der zufolge die rhetorischen Regatten auf Schaumkrönchen der elektronischen Windmacher bereits reine, weil unmittelbare Politik seien. Was Hand und Fuß hat, wird in Parteigremien entworfen, auf Parteitagen debattiert und vom Parlament beschlossen, diesem Stiefkind journalistischer Aufmerksamkeit. Angela Merkel sehnte sich völlig demokratievergessen nach „marktkonformer Demokratie“. Die Piraten sehnen sich nach laptopkonformer, nach „flüssiger“ Demokratie. Aus all dem aber wird wohl nichts. Denn die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich nach etwas ganz und gar anderem – nach Demokratie.
Die demokratische Welt wird von einer Wende erfasst. Dem Höhenflug der Ego-Parteien folgt eine Renaissance der Volksparteien. Das ist eine gute Nachricht für die Demokratie. Ein Kommentar
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innenpolitik
2012-12-30T12:49:28+0100
2012-12-30T12:49:28+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/wem-der-untergang-der-piraten-nuetzt/52970
EU-Fiskalpakt – Stellen sich Hollande und SPD gegen Merkel?
Es ist keine ganz zufällige Doppelung der Ereignisse: Am Dienstagabend trifft Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin den neuen französischen Staatspräsidenten François Hollande, einen entschiedenen Kritiker des geplanten Fiskalpakts. Bereits am Vormittag hatten die drei Anwärter auf die Kanzlerkandidatur der SPD, Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, in Berlin ihren Forderungskatalog an den Fiskalpakt vorgestellt – unter Bezug auf Hollande. Was eine Art Sozialistische Internationale in Sachen Europapolitik ist, soll den Druck auf die Kanzlerin erhöhen, sich für Wachstum in den Euro-Staaten stark zu machen. Wie will die SPD-Troika den europäischen Fiskalpakt verändern? Die Sozialdemokraten warnen davor, dass ein rigider Sparkurs in Europa die Nachfrage abwürgt und das Steueraufkommen mindert, also das Ziel der Etatsanierung verfehlt und die Schuldenkrise noch verschärft. Das Ungleichgewicht in Europa schade Deutschland langfristig, weil eine Rezession in anderen EU-Ländern deutsche Exporte gefährde. Zudem würden die sozialen Kosten der Krise vor allem im Süden Europas die Akzeptanz von EU und Demokratie untergraben. Deshalb fordert die SPD, den Fiskalpakt zu ergänzen durch einen Pakt für Wachstum und Beschäftigung in Europa. Dazu gehören ein Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, die Förderung von innovativen Sektoren, ökologische Erneuerung sowie mehr öffentliche und private Investitionen in die Wirtschaft. [video:Merkel und Hollande - Wie steht es um die deutsch-französische Harmonie?] Ihr Programm, so behauptet die SPD, lasse sich ohne neue Schulden finanzieren. „Es geht nicht um einen Rückweg in die Verschuldung, sondern um eine Ergänzung“, sagt Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Das Programm wollen die Sozialdemokraten finanzieren durch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, bislang nicht genutzte Mittel aus EU-Strukturfonds und eine Kapitalerhöhung bei der Europäischen Investitionsbank, die damit in die Lage versetzt werden soll, mehr Kredite zu vergeben. Wie haben sie sich dabei mit Frankreichs neuem Präsident Hollande abgestimmt? „Wir haben Hollande getroffen, bevor Frau Merkel das angemessen fand“, giftete Parteichef Sigmar Gabriel in Anspielung darauf, dass die Kanzlerin auch noch in der Stichwahl auf einen Sieg des Konservativen Sarkozy gesetzt hatte. Hollande hatte schon im Dezember 2011 den SPD-Parteitag in Berlin besucht, Anfang des Jahres traf ihn Gabriel in Paris. Seither, so betont die SPD-Spitze, hält sie in europapolitischen Fragen engen Kontakt mit dem Politiker, der vor zehn Tagen zum Präsidenten gewählt wurde. Die Europapolitik Merkels und Sarkozys sei „auf ganzer Strecke gescheitert“, kritisierte Gabriel. Mit Hollande aber gebe es nun die Chance „auf eine echte Wende“. Lesen Sie weiter, was Hollandes Vorstellungen für Deutschland bedeuten... Was will Hollande in der Europapolitik erreichen – unterscheidet es sich von den Vorstellungen der SPD in Deutschland? Im Kern ähneln Hollandes Forderungen denen der SPD: auf Wachstumsimpulse setzen, dazu so genannte „Projektbonds“ schaffen, um europäische Infrastrukturprojekte zu finanzieren, eine Finanztransaktionssteuer einführen. Hollande will auch das Kapital der Europäischen Investitionsbank (EIB) um zehn Milliarden Euro erhöhen, um damit kleine und mittelständische Unternehmen zu fördern. Im Wahlkampf hatte Hollande bewusst offengelassen, in wie weit er den von Merkel initiierten Fiskalpakt genau verändern will. Während er zunächst von einer „Neuverhandlung“ gesprochen hatte, relativierte er dies später. Möglicherweise wird er auch in den nächsten Wochen seine Karten nicht komplett auf den Tisch legen – schon deshalb, weil seine sozialistische Partei bei den Parlamentswahlen im Juni von einer möglichst harten Verhandlungslinie gegenüber der Bundeskanzlerin profitieren dürfte. [video:Merkel und Hollande - Wie steht es um die deutsch-französische Harmonie?] Was bedeuten die Forderungen für Angela Merkel? Von zwei Seiten steht die Kanzlerin unter Druck: Sie muss Hollande entgegenkommen, wenn sie den deutsch-französischen Motor weiter als Antreiber Europas in Schwung halten und innerhalb der EU Einfluss ausüben will. Und sie braucht die größte deutsche Oppositionspartei, weil nur eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages den Fiskalpakt in Kraft setzen kann. Hollande und die SPD ziehen an einem Strang. Schon vor der Präsidentschaftswahl veränderte Merkel ihre eigene Botschaft und rückte europäische Wachstumsinitiativen stärker ins Zentrum. Ohnehin nimmt die Bundesregierung für sich in Anspruch, auf EU-Ebene schon seit vergangenem Jahr an entsprechenden Programmen zu arbeiten. Schwieriger wird es für Merkel bei der Finanztransaktionssteuer, wo die FDP entschieden bremst. Mit einer Ablehnung des Fiskalpakts drohten die SPD-Politiker am Dienstag nicht. „Die Lage ist doch ganz einfach für uns“, sagte Gabriel. Am Ende werde Merkel „einer Veränderung ihrer bisherigen Politik nicht entgegenstehen“. Was hat der Auftritt der SPD-Troika über das Kandidatenrennen ausgesagt? Wenig. Sinn der Inszenierung war es gerade, Zweifel am Funktionieren der Troika zu widerlegen. Jeder der potenziellen Kanzlerkandidaten spielte seine Rolle: Gabriel ritt rhetorisch die schärfsten Angriffe gegen Merkel, wie es sich für einen Parteichef gehört. Steinbrück verwies auf die historische Dimension der Krise und präsentierte im Stakkato- Tempo komplizierte Instrumente zur Regulierung der Finanzmärkte. Steinmeier stellte wie gewohnt das Wohl des Landes über taktische Vorteile für seine eigene Partei : „Wir sind nicht die Linkspartei. Die SPD trägt auch Verantwortung in der Opposition, weil wir uns darauf vorbereiten zu regieren.“ Das freilich ist eine Botschaft, die vor allem auf dem linken Flügel der Partei Widerspruch hervorrufen dürfte.
Die SPD-Troika und der französische Präsident Hollande haben dieselbe Botschaft: Wachstum in Europa stärker fördern. Wie soll das funktionieren?
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außenpolitik
2012-05-16T09:01:19+0200
2012-05-16T09:01:19+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/stellen-sich-hollande-und-spd-gegen-merkel/49343
Empathie-Debatte - "Mitleid ist mit Egoismus durchsetzt"
Karl Kraus, sonst nicht für überschwängliches Lob bekannt, nannte Oscar Wildes Essay über den „Sozialismus und die Seele des Menschen“ von 1891 „das Tiefste, Adeligste und Schönste“ und „das wahre Evangelium modernen Denkens“. In der Tat hält der Text, im Kern ein Plädoyer für einen libertären Sozialismus, einige Erkenntnisse bereit, die sich lesen, als seien sie im Lichte des politischen Debatte im Hier und Heute aufgeschrieben. Jüngst hatte Alexander Kissler an dieser Stelle über Empathie in der Politik geschrieben. Bei Wilde heißt Empathie noch Mitleid und Mitgefühl. Die Passagen verstören möglicherweise, gerade im jenem Geisteslager, dem sich Wilde zugehörig fühlte. Aber ohne verstörende Disruption gibt es keinen Erkenntnisgewinn: Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand, und (...) Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falschgerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit. Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, daß sie den Armen am Leben halten; oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, daß sie für seine Unterhaltung sorgen. Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert. Gerade wie die schlimmsten Sklavenhalter die waren, die ihre Sklaven gut behandelten und so verhinderten, daß die Gräßlichkeit der Einrichtung sich denen aufdrängte, die unter ihr litten, und von denen gewahrt wurde, die Zuschauer waren, so sind in den Zuständen unserer Gegenwart die Menschen die verderblichsten, die am meisten Gutes tun wollen; und wir haben es schließlich erlebt, daß Männer, die das Problem wirklich studiert haben und das Leben kennen – gebildete Männer, die im Londoner Eastend leben – auftreten und die Gemeinschaft anflehen, ihre altruistischen Gefühle und ihr Mitleid, ihre Wohltätigkeit und dergleichen einschränken zu wollen. Das tun sie mit der Begründung, daß solches Wohltun herabwürdigt und entsittlicht. Sie haben völlig recht. Mitleid schafft eine große Zahl Sünden. (...) Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl verwirklichen und es frei und ungehemmt walten lassen. Bis jetzt hat der Mensch das Mitgefühl überhaupt kaum geübt. Er hat bloss Mitgefühl mit Leiden, und das ist nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form. Es ist mit Egoismus durchsetzt. Es kann leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm ein gewisses Element der Angst um unsere eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst könnten so werden, wie der Aussätzige oder der Blinde, und es kümmerte sich dann niemand um uns. Es ist auch seltsam beschränkt. Man sollte mit der Ganzheit des Lebens mitfühlen, nicht bloss mit den Wunden und Krankheiten des Lebens, sondern mit der Freude und Schönheit und Kraft und Gesundheit und Freiheit des Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist, um so schwerer ist es natürlich. Es erfordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder kann die Leiden eines Freundes mitfühlen, aber es erfordert eine sehr vornehme Natur – es erfordert eben die Natur eines wahren Individualisten – den Erfolg eines Freundes mitzufühlen. In dem Gedränge der Konkurrenz und dem Ellbogenkampf unserer Zeit ist solches Mitgefühl natürlich selten und wird auch sehr erstickt durch das unmoralische Ideal der Gleichförmigkeit des Typus und der Fügsamkeit unter die Regel, das überall so sehr vorherrscht und vielleicht am schädlichsten in England ist. Mitleid wird es natürlich immer geben. Es ist einer der ersten Instinkte des Menschen. Die Tiere, die individuell sind, das heisst die höheren Tiere, haben es wie wir. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass – während die Mitfreude die Summe der Freude, die es in der Welt gibt, erhöht – das Mitleid die Menge des Leidens nicht wirklich vermindert.
Christoph Schwennicke
Von keinem Geringeren als Oscar Wilde stammt eine Erkenntnis von 1891, wonach Mitleid das Übel der Welt sogar schlimmer machen kann. Sein Essay wirkt erstaunlich aktuell, als habe er ihn zur heutigen Empathie-Debatte geschrieben
[ "Mitleid", "Mitgefühl", "Oscar Wilde" ]
kultur
2018-07-23T12:33:53+0200
2018-07-23T12:33:53+0200
https://www.cicero.de//kultur/empathie-mitleid-mitgefuehl-oscar-wilde-essay-1891
Wahlen in Taiwan - Der Hongkong-Effekt
Vor zwei Jahren war Tsai Ing-wen eigentlich schon abgewählt. Eine herbe Niederlage bei den Lokalwahlen 2018 zwang die Präsidentin Taiwans sogar, den Vorsitz ihrer Demokratisch-Progressiven Partei abzugeben und sich einzugestehen, dass sie kaum mehr Rückhalt hatte. Zuviel habe sie versprochen, hieß es, ihre Vision von einem unabhängig von Festlandchina agierenden Taiwan seien zu weit entfernt von der Realität. Zwar hatte Tsais Versprechen eines autarken Taiwans noch 2016 für einen krachenden Wahlsieg gesorgt. Doch als sich die Taiwaner ob der daraufhin rauer gewordenen Beziehungen zu Festlandchina zusehends international marginalisiert sahen, verging den Menschen die Lust am Streit. So schienen die Tage von Tsai Ing-wen als Präsidentin gezählt. Heute sieht wieder alles anders aus. In Umfragen liegt Tsai nun mit rund 30 Prozentpunkten vor ihrem stärksten Konkurrenten Han Kuo-yu von der nationalchinesisch-konservativen Kuomintang-Partei (KMT) und noch deutlicher vor James Soong, dessen People First Party sich einst von der KMT abspaltete. Vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl diesen Samstag ist mittlerweile nicht mehr die Frage, ob die einstige Juraprofessorin Tsai auch in Zukunft regieren wird. Man fragt sich nur noch, wie hoch ihr Sieg ausfallen wird. Tsais klarer Vorsprung in den Umfragen liegt nur indirekt in der Politik begründet, für die sie steht. Insbesondere wirtschafts- und geopolitisch steht sie in der Kritik der Opposition, die viel eher als Tsai die Nähe zur festlandchinesischen Regierung in Peking als Partner sucht. Seit nämlich Tsai verkündete, man wolle sich nicht von China vereinnahmen lassen, begannen Großunternehmen wie der Elektronikkonzern Foxconn zu protestieren, dass man Tsai nicht seine Stimme geben solle. Schließlich ist China der wichtigste Handelspartner Taiwans. Zudem gingen auf Drängen Chinas mehrere Staaten auf diplomatischen Distanz zu Taiwan. Es schien so, als sei ein zu aufmüpfiges Taiwan in seinem Wohlstand und in seiner ganzen Existenz mittelfristig ohnehin nur von Festlandchina abhängig. Und als würde sich nur an dieser Frage auch die nächste Wahl entscheiden. Seit aber im vergangenen Sommer in Hongkong einmal mehr großangelegte Proteste gegen den Einfluss Festlandchinas begannen, sind die ausgesprochenen Chinakritiker auch in Taiwan wieder populärer geworden. Während Umfragen noch im Juli den Herausforderer Han Kuo-yu als Favoriten in der nun anstehenden Wahl vermuten ließ, änderte sich die Lage umso rasanter, je deutlicher sich die Lage in Hongkong zuspitzte. Han, der mehr Nähe zu China befürwortet, wird mittlerweile dafür verdächtigt, aus Peking finanziert zu werden. Das tut seinem Image bei den Taiwanern nicht gut. Tsai steht nun wie die aufrechte Patriotin da. Die Wahl ist längst ein Votum für die Autarkie Taiwans geworden. Seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs 1949 ist dieses Thema eine wiederkehrende Frage. Damals flohen die geschlagenen Truppen der nationalchinesischen Kuomintang auf die Insel Taiwan, während die Kommunisten auf dem Festland die Macht übernahmen. In Peking erkennt man Taiwan bis heute nicht als Staat an, sondern sieht es nur als abtrünnige Provinz. Mit Xi Jinping als chinesischem Präsidenten sind die Worte zuletzt auch wieder deutlicher geworden, dass sich Peking ein allzu lautes Taiwan auch notfalls einverleiben könnte. Diese Drohungen haben einen anderen Klang erhalten, seit sich beobachten lässt, wie chinatreue Polizisten und Sicherheitskräfte in Hongkong gegen Menschen vorgehen, die sich für demokratische Rechte einsetzen. Auch deshalb hat sich Tsai Ing-wen deutlich mit Hongkong solidarisiert. Wer vor festlandchinesischen Kräften aus Hongkong flieht, kann sich in Taiwan derzeit in Sicherheit wähnen. Touristenvisa von Menschen mit Hongkonger Pässen werden seither unbürokratisch verlängert. So ist es für das politische Überleben von Tsai Ing-wen ein Glücksfall, dass in Hongkong seit Monaten Abertausende auf der Straße sind und ihre Gesundheit riskieren. Die Geschichte der Präsidentin, der Regierung in Festlandchina sei nicht zu trauen, erscheint den Wählern mittlerweile höchst plausibel. Doch von totaler Konfrontation ist Tsai abgerückt. „Wir wollen beständige und berechenbare Beziehungen mit China pflegen“, hat ihr Generalsekretär Joseph Wu im Vorfeld der Wahl verlauten lassen. Jetzt, wo der Sieger schon fast feststeht, muss offenbar nicht mehr ganz so sehr polarisiert werden.
Felix Lill
Lange schien es so, als würde die pro-chinesische Partei in Taiwan die Oberhand gewinnen bei den Präsidentschaftswahlen. Doch seit im Sommer vergangenen Jahres die Proteste in Hongkong andauern, kann Taiwans Präsidentin wieder punkten. Die Furcht vor Festland-China ist zu groß
[ "Taiwan", "Hongkong", "Hongkong-Proteste", "China", "Tsai Ing-wen" ]
außenpolitik
2020-01-10T11:10:18+0100
2020-01-10T11:10:18+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/taiwan-wahlen-tsai-ing-wen-hongkong-china
Hillary Clinton - Hirn statt Personenkult
Es gibt kein Entrinnen. Diese Frau ist überall. Man schaltet den Fernseher an, man schlägt die Zeitung auf. Hillary Clinton auf allen Kanälen. Am Morgen plaudert sie in Berlin in der Oper mit dem Chefredakteur des Magazins einer großen Wochenzeitung. Die Fragen sind freundlich, die Antworten ausweichend, der Applaus überschwänglich. Der beflissene Günther Jauch drapiert ihren Auftritt am Abend in seiner Talkshow mit Ursula von der Leyen und Margot Käßmann als politische Petersilie. Am Morgen danach lacht sie einem schon wieder prominent platziert aus den großen Tageszeitungen entgegen. Was ist passiert? Hillary Clinton hat ein Buch geschrieben, das sie vermarktet. Und: Hillary Clinton will in zwei Jahren erste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika werden. Das Buch heißt „Hard Choices“. Es soll aber dem Vernehmen nach in Abweichung vom Titel eher softe Anekdoten aneinanderreihen. Die Rezensenten jedenfalls haben keine gesteigerte Lust auf die Lektüre gemacht. Dass Frau Clinton Präsidentin der Vereinigten Staaten werden möchte, ist ihr gutes Recht. Sie kennt sich aus im Weißen Haus, sie hat politische Gaben und die nötige persönliche Härte. Wenn sie sich durchsetzt auf dem harten Kandidatenweg, dann haben wir alle noch genug Zeit, uns anzuschauen, ob sie ihr Ziel erreicht. Aber was soll dieses Bohei, jetzt und hier? Sollte die deutsche Öffentlichkeit nicht ein wenig gelernt haben aus den vergangenen Jahren. Erstens: Amerikanische Präsidenten werden immer noch in den USA gewählt und nicht an deutschen Buchtheken. Meistens sind es am Ende nicht die Lieblinge der Europäer geworden. Zweitens: Wenn es dann doch einmal ein Liebling der Europäer geworden ist, dann hat sich dieser Liebling oft als riesengroße Enttäuschung erwiesen. Die größte sitzt im Moment im Weißen Haus. Und was wurde hierzulande ein nachgerade messianischer Kult um Barack Obama betrieben! Also: etwas weniger besinnungsloser Personenkult, etwas mehr politische Vernunft bitte. Und ein Blick auf die Fakten: In den USA verkauft sich das Buch viel schlechter als erwartet, trotz der unbestreitbaren PR-Qualitäten der Hillary Rodham Clinton. Unser Klischee von den Amerikanern besagt, dass sich die Menschen in diesem schönen, großen weiten Land mit einer guten Kampagne und ein paar Beine schwingenden Cheerleadern allzu leicht in eine Menge hirnloser Fähnchen wedelnder Anhänger verwandeln lassen. Vielleicht sind wir hierzulande in dieser Hinsicht inzwischen amerikanischer als die Amerikaner.
Christoph Schwennicke
Die Deutschen haben einen neuen amerikanischen Liebling. Sie liegen Hillary Clinton so besinnungslos zu Füßen wie einst Barack Obama. Ein Kommentar 
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außenpolitik
2014-07-08T10:39:26+0200
2014-07-08T10:39:26+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/hillary-clinton-usa-hirn-statt-personenkult/57896
Olafur Eliassons EU-App – Ist das Kunst oder Steuerverschwendung?
Kunst ist eine Frage des Kontextes. Als etwa Cosimo de' Medici die Hauskapelle seines Palazzos mit Werken von Fra Filippo Lippi und anderen Großkünstlern seiner Epoche schmücken ließ, ging es dem florentinischen Bankier wohl eher um die Besänftigung seiner katholischen Höllenängste als um ungefilterten Kunstgenuss. Andererseits, es war auch nicht erst Marcel Duchamp, der mit seinen legendären Objet trouvés darauf verwies, dass sich das interesselose Wohlgefallen vor allem und zu allererst am Rahmen festmachen lässt. Und so ein Kunstrahmen kann gerade heute mannigfaltig sein: ein Museum, eine Galerie, eine Autohauseröffnung... – seit vergangenem Mittwoch sogar eine Smartphone-App. Mit einer solchen nämlich haben jetzt besonders junge Menschen die Möglichkeit bekommen, ihre ungezählten Sorgen in Sachen Klimaschutz und Zukunftsfragen in ihr Handy einzusprechen, um ihre Aufnahme anschließend bei lustig dreinschauenden Bäumen oder Blumen inmitten einer Augmented Reality zu vergraben. Später dann kann die kleine Message von anderen besorgten Kindern wieder aufgefunden und abgespielt werden. Kunst als virtuelle Spielerei. Zugegeben, in der Renaissance wird das noch kein großes Thema unter Ästheten gewesen sein, für uns Heutige aber verspricht solch digitaler Budenzauber das nächste heiße Ding in der Kunst. Bei dem kleinen Tool mit Namen „Earth Speakr“ nämlich handelt es sich um nicht weniger als um den kulturellen Teil der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Und programmiert hat den bunten Erdlautsprecher der dänisch-deutsch-isländische Star-Künstler Olafur Eliasson. Der will seine App als eine Art Malkasten zum intereuropäischen „Mitdaddeln“ verstanden wissen: Kinder und Jugendliche hätten hier künstlerische und spielerische Möglichkeiten bekommen, um sich kreativ auszudrücken, so Eliasson in einem Interview mit der Zeitung Kunst und Politik. Michelle Müntefering, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, ist rundum begeistert: „Earth Speakr“, so die SPD-Politikerin in einem Beitrag für den Deutschen Kulturrat, stehe im Zentrum des Kulturprogramms der EU-Ratspräsidentschaft. Sie sähe in dem neuen Eliasson nicht weniger als „einen Blick in die Zukunft Europas und etwas davon, was Kunst beitragen kann, um einen europäischen Öffentlichkeits- und Kulturraum zu schaffen.“ Während sich die Politik selbst also mit Sprachgirlanden und Kuratorenprosa behängt, scheint der Künstler selbst noch Zweifel zu haben. Mit der endgültige Einordnung seines Werkes, so Eliasson, wolle er lieber noch warten: „Oft ist es bei mir so, dass ich bei Kunstwerken nicht genau weiß, ist das jetzt Kunst oder nicht.“ Für den einen ist „Earth Speakr“ also vielleicht nur eine App, für den anderen Grundlage eines riesigen Kulturraums, wenn nicht gar das virtuell ausgelagerte Europa der Kinder. Gekostet hat das übrigens sieben Millionen Euro – und damit mehr als zwei Drittel des gesamten Kulturprogramm-Etats..Der Rest geht an Musik, Häppchen und stimmungsvolle Umrahmung. Bei den Kosten spricht also einiges dafür, dass es sich bei „Earth Speakr“ tatsächlich um echte Hochkultur handeln könnte. Anders als zu den Zeiten der Mediceer muss die heute ja nicht notgedrungen erbauen oder ergreifen, oft reicht es schon, wenn es irgendwo leuchtet oder aufregend blinkt. Solange „Earth Speakr“ nicht zwischen Yoga- und Corona Warn-App im Google Play Store angeboten wird, ist selbst die Kontextfrage relativ sicher. Man möge es nicht falsch verstehen: Niemand will dem international angesehenen Post-Land-Art und Klimakünstler Olafur Eliasson den aufrechten Willen absprechen, mit Mitteln der Kunst auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren. Sein künstlerisches Sozialprojekt „Little Sun“ etwa, mit dem er seit einigen Jahren Solarlicht in jene Toten Winkel der Erde bringt, in denen es nicht erst nach Sonnenuntergang zapppenduster ist, ist noch immer eine beeindruckende Schnittstelle zwischen Kunst, Design und Engagement. Indes, sieben Millionen Euro Steuergeld für die fragwürdige App eines Künstlers, der seit Jahren den siebten Platz im Kunstkompass der Zeitschrift Capital belegt, hat in Zeiten des Corona-Notprogramms „Neustart Kultur“ für viele aus dem neuen Kunstprekariat ein Geschmäckle. Auch wenn Außenminister Heiko Maas das Werk bereits im Oktober 2019 persönlich bei Eliasson in Auftrag gab, so wäre gerade jetzt ein vielstimmigeres Kulturprogramm wünschenswert gewesen. Keine Frage, einer wie Cosimo de' Medici – ein Pater patriae – hätte sich „Earth Speakr“ längst downgeloaded. In demokratischeren Kulturräumen indes darf es gerne auch mal weniger paternalistisch zugehen. Um das ökologische Bewusstsein unserer Kinder müssen wir uns vermutlich ohnehin keine Sorgen machen; unser eigener Wunsch indes, mit ein paar Apps alles wegzudaddeln, was selbst in nachchristlichen Zeiten noch Höllenängste bereiten kann, ist da beileibe weit bedenklicher.
Ralf Hanselle
Im Zentrum des Kulturprogramms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft steht eine App von Olafur Eliasson. Während der darüber nachdenkt, ob es sich dabei tatsächlich um Kunst handelt, ist die Politik begeistert. Aber ist die App ihre sieben Millionen Euro wert?  
[ "Olafur Eliasson", "EU-Ratspräsidentschaft", "Michelle Müntefering" ]
kultur
2020-07-05T13:33:56+0200
2020-07-05T13:33:56+0200
https://www.cicero.de//kultur/olafur-eliiasson-app-eu-ratsprraesidentschaft-kunst-heiko-maas-steuerverschwendung
Debattenkultur - Entpören Sie sich!
Kennen Sie das? Nach ein paar ruhigen Tagen über Weihnachten ohne allzu viele schlechte Nachrichten (ok, da war die Helene-Fischer-Show, aber die blende ich aus) möchte man sich wieder in die aktuelle Nachrichtenlage einfinden. Doch das ist schwieriger als gedacht, denn Nachrichten in Reinform tauchen ja kaum mehr auf. Was man sieht, sind die Empörungswellen und wie diese schäumend an den Ufern des Mainstreams aufrollen, um sich sofort wieder zurückzuziehen und der nächsten Welle Platz zu machen. Und die Wellen folgen einander ohne Unterlass. Das Jahr hat kaum begonnen, da fällt es schon schwer, den Überblick zu behalten, denn: Die Auslöser dieser Wellen sind immer seltener ausformulierte Inhalte tatsächlicher Debatten, sondern sie agieren nur noch als Schlagwortgeber. Es sind also oft nur wenige Informationen, die darüber entscheiden, ob und wenn ja wie stark man als Einzelner nun in die eine Empörung einsteigt, während man eine andere vorbeiziehen lässt. Man kann ja schließlich nicht auf jeden Zug aufspringen. In der Regel wählt man eine gewisse politische Richtung oder einen bestimmten Themenbereich, dessen Erregung man aufgreift. Doch selbst diese oberflächliche Entscheidung wird zunehmend schwieriger, denn ob eine Welle nun gefühlt eher „von links“ oder „von rechts“ kommt, ist kaum noch zu unterscheiden. Als „rechte“ Empörungswellen gelten gemeinhin all jene, die sich durch fast allergische Reaktionen auf Personen wie Greta Thunberg, Angela Merkel, Heiko Maas, Annalena Baerbock und Robert Habeck oder auf Schlüsselbegriffe wie Feinstaub, Tempolimit, Veganer, divers-sexuelle Menschen, Migranten und auf Straftäter auszeichnen, deren Nationalität in der Berichterstattung nicht erwähnt wird. Ebenso gereizt reagieren sie auf Kritik an der AfD sowie auf Satire im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sofern sie das eigene Weltbild attackiert. Hinzu kommen vermeintliche Panikattacken wegen immer neuer Flüchtlingsströme, Steuererhöhungen und der unaufhaltsam voranschreitenden globalen Mullah-Verschwörung, die uns angeblich alle versklaven wird. Als „links“ werden Empörungswellen eingestuft, die eher durch Naturgewalten wie den Klimawandel, Donald Trump, Boris Johnson oder Dieter Nuhr ausgelöst werden, durch Nazis hinter jeder Häuserecke, durch planetenmordende Dieselfahrer, Fleisch-Fetischisten und durch alte weiße Männer, die Kinder und Jugendliche lieber auf der Schulbank als auf den Straßen sähen. Angereichert werden diese Wellen durch die entsprechend selektierte Weltsicht: Alles brennt vor Hitze, gleichzeitig ersaufen alle im polaren Schmelzwasser, und wenn wir nicht an Umweltverpestung, Online-Mobbing oder medialer Reizüberflutung sterben, dann nächste Woche im Dritten Weltkrieg, und zwar nicht durch iranische, sondern durch amerikanische Bomben. Ohne Empörung geht nichts mehr. Und wer sich nicht empört, gilt als naiver und gefährlicher Verharmloser, egal von was. Und da dieser Druck, gefälligst mitzuereifern, so stark ist, ist die Empörung mittlerweile an die Stelle des Engagements getreten. Die Aufregung an den Gestaden des Mainstreams gilt als Indiz für dessen Vielfalt, Aufgewühlt- und Wildheit. Die öffentlichen Erregungszustände werden interpretiert als Folge einer tiefen Spaltung der Gesellschaft entlang altbekannter politischer Trennlinien. Nach langen Jahren der politischen Alternativlosigkeit vermischt sich hier die Furcht vor einer stärkeren Polarisierung mit dem Wunsch nach grundlegenden Veränderungen. Beide, sowohl die Furcht als auch der Wunsch, sind aber eher unbegründet. Denn obgleich viel Getöse die politische Landschaft aufwühlt, so ist die Empörung doch überaus volatil, haltlos und oberflächlich. Viel spannender und auch entscheidender sind nicht die vermeintlich extremen Gegensätze, sondern deren Gemeinsamkeiten. Sie nutzen Inhalte als Sprungbretter in die emotionalisierte Polit-Arena der Empörungskultur. Hier duelliert man sich dann mit alten und hohlen Phrasen und großer Klappe, jedoch fast ohne ernstzunehmende Substanz. Was allein zählt, ist die Macht des Augenblicks, der kurzfristige Imagegewinn und das Spektakel, das nur solange hält wie der Schaum vor den Mündern der Aufgepeitschten. Die Empörungskultur hat zwar verschiedene Ausprägungen, sie ist aber im Kern eben gerade weder links noch rechts. Tatsächlich ist sie das Resultat des völligen Einsturzes von ehemals „rechten“ und „linken“ Visionen und Weltbildern. Wir haben es nicht mit einem politischen Verdrängungskampf zu tun, in dem eine dynamische politische Kraft Veränderungen einfordert. Wir sehen heute eher die Implosion der alten Politik. Was übrigbleibt in ihren Ruinen, sind Wehleidigkeit und Opferhaltung und daraus resultierend desorientierte Paranoia und Hass gegenüber Abweichlern. Auf diesem Niveau angekommen, sind politisches Erbe und ideologische Herkunft faktisch irrelevant. Die Empörungskultur zeigt weder nach rechts noch nach links, sie weist den Weg zurück in Zeiten, in denen es rechts und links als politische Parameter noch gar nicht gab, sondern die Meinung von Hetzern, Ketzern, Predigern, Aufwieglern und Abergläubigen gemacht wurde. Sie ist gewissermaßen voraufklärerisch, sie tarnt sich je nach Vorliebe als identitär und individualistisch, zugleich als globalisiert, kultursensibel und umweltbewusst. Und sie ist alles andere als vielfältig, denn sie straft jede Abweichung sofort und unwiderrufbar mit Exkommunizierung. Diese „emotionale Demokratie“ ist keine, denn sie nimmt politischen Dissens persönlich und verneint die Möglichkeit, dass Menschen unterschiedlicher Meinung sein können, ohne sich die Schädel einzuschlagen. Diese Empörungsspirale kennt kein natürliches Ende. Und es ist auch kein Privileg religiös motivierter Empörung, die eigene Position mit Gewalt durchzusetzen. Fünf Jahre nach dem islamistischen Attentat auf die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ ist klar: Unsere Gesellschaft ist seitdem keineswegs weniger emotional geworden, im Gegenteil. Ihre Paranoia gegenüber Abweichlern nimmt so beständig zu wie die Bereitschaft, vor Intoleranz einzuknicken. Was sind die Ursachen für das Erstarken dieser Empörungskultur? Sie ist eine Folge des jahrelangen Fehlens ernsthafter politischer Alternativen und des daraus resultierenden argumentativen Wettstreitens. Die „GroKo der Alternativlosigkeit“, die seit vielen Jahren immer mehr Menschen in die Politikverdrossenheit vertrieb, hat dazu geführt, dass Menschen die Rolle von politischer Debatte und Argumentation geringschätzen. In der Alltagskultur ist derlei kaum noch vorhanden. Insofern ist es kein Wunder, dass nun, wo dieser Konsens immer mehr zerbröselt, die Gesellschaft darauf nicht mit einer politisch aufgeklärten Haltung reagiert, sondern emotional und panisch. Was hilft: Luftholen und nachdenken Das Positive daran: Die alten politischen Parameter „links“ und „rechts“ existieren tatsächlich nur noch als Ballons. Je mehr heiße Luft hineingeblasen wird, desto mehr verlieren sie an Bodenhaftung. Unsere Empörungskultur macht deutlich, wie wenig Relevanz diese alten Kategorien noch haben. Wir sollten die Größe der Ballons nicht mit deren Bedeutung verwechseln, sondern immer und wo es eben geht, mit Nadelstichen die Luft herauslassen, um sie auf ihre wahre Größe herunterzuholen. Empörung ist kein Ersatz für Politik, auch wenn sie sich so nennt. Emotionalisierung und Personalisierung verhindern, dass Politik sich erneuert. Mich interessiert nicht mehr, ob sich jemand links oder rechts nennt. Mich interessiert, wie ruhig und rational jemand in einer Debatte seinen Standpunkt vertritt. Nur von denen ist tatsächlich Substanzielles, Konkretes und Kontroverses zu erwarten. Genug der oberflächlichen Empörung, es ist Zeit für Entpörung! Eine Auswahl von Texten dieser Kolumne aus den letzten beiden Jahren hat Matthias Heitmann in seinem Buch „Schöne Aussichten. Die Welt anders sehen“ veröffentlicht (154 S., EUR 9,99). Es kann hier bestellt werden.
Matthias Heitmann
Empörung ist kein Ersatz für Politik, auch wenn sie sich so nennt. Emotionalisierung und Personalisierung verhindern, dass Politik sich erneuern kann. Dabei wäre genau das im Augenblick dringend erforderlich
[ "Umweltsau", "Nazis", "politische Kultur" ]
innenpolitik
2020-01-10T11:14:45+0100
2020-01-10T11:14:45+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/debattenkultur-empoerung-umweltsau-nazis-afd-politik/plus
Sachsens Ministerpräsident Tillich zur Flüchtlingsdebatte: - „Wir haben die Grenzen des Machbaren erreicht“
Der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat sich für eine „deutliche Reduzierung“ des Flüchtlingszustroms ausgesprochen. „Wir haben die Grenzen des Machbaren erreicht, auch mit den freiwilligen Helfern“, sagte der CDU-Politiker in einem Interview des Magazins Cicero (Januarausgabe). „Ich kenne Landkreise, die haben 3000 oder 4000 Flüchtlinge aufgenommen, bekommen aber nur 80 Deutschkurse angeboten“, sagte Tillich. Wenn viele Menschen über Monate in Zelten untergebracht werden, sei an Integration nicht zu denken. „Da stoßen wir an Grenzen, und da müssen wir uns als Gesellschaft eingestehen, dass das in dieser Dimension einfach nicht zu leisten ist.“ Eine numerische Obergrenze lehnte Tillich jedoch ab. „Wir haben es ja mit Flüchtlingen und Asylbewerbern zu tun. Da kann und will ich mich nicht auf eine bestimmte Zahl festlegen lassen.“ Sein Amtskollege aus Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, forderte eine solche Obergrenze im Vorfeld des CDU-Bundesparteitags am Montag: Mehr als 12.000 Flüchtlinge pro Jahr könne das Bundesland demnach nicht aufnehmen und integrieren. Tillich sprach sich stattdessen für wirksame Grenzkontrollen aus. „Wir müssen wissen, wer da zu uns kommt und sich wo und wie bewegt.“ Viele Bundespolizisten seien regelrecht verzweifelt darüber, dass sie an den Grenzen ihre eigentliche Arbeit nicht machen dürften. Das sei „bitter“ und nicht gerade ein Beleg für die Handlungsfähigkeit des Staates. Der sächsische Ministerpräsident forderte zudem eine Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex: „Da könnte die Bundesrepublik ein Zeichen setzen und stärker vorangehen.“ Für eine erfolgreiche Integration sei es nicht nur geboten, dass die Flüchtlinge die Regeln und Gesetze in Deutschland akzeptierten. Sie müssten auch „anerkennen, dass bei uns keine Religion über dem Gesetz steht. Und zwar mit allen Konsequenzen“. Umgekehrt müsse Deutschland mit Sprach- und Arbeitsangeboten die Voraussetzung zur Integration schaffen. Auf ihrem Bundesparteitag wird die CDU am Montag in Karlsruhe über einen Leitantrag des Vorstands zur Reduzierung des Flüchtlingszuzugs abstimmen. Die Januarausgabe des Magazins Cicero erscheint am kommenden Donnerstag, den 17. Dezember.
Cicero-Redaktion
Vor dem CDU-Bundesparteitag fordert Sachsens Landeschef Stanislaw Tillich eine „deutliche“ Reduzierung des Flüchtlingszustroms. Auf eine zahlenmäßige Obergrenze will er sich aber nicht festlegen
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innenpolitik
2015-12-11T11:49:03+0100
2015-12-11T11:49:03+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/sachsens-ministerpraesident-tillich-zur-fluechtlingsdebatte-wir-haben-die-grenzen
Österreich – Magna-Milliardär will rechte Partei gründen
Frank Stronach ist zurück. Nicht als gemütlicher Privatier mit prallem Portemonnaie, wie man es von einem eben 80 Jahre alt gewordenen Herrn erwarten könnte. Nein, der gebürtige Steirer, der als einfacher Werkzeugmacher in den fünfziger Jahren nach Kanada emigrierte und dort mit seinem Autozuliefererimperium Magna zum Selfmade-Milliardär wurde, ist als grauer Politikpanther heimgekehrt. Mit einer großen Mission im Gepäck. Er will Österreich optimieren. Mit einer „Revolution des Denkens“, angeführt vom Wertedreigestirn „Wahrheit, Transparenz und Fairness“, jene drei Schlagwörter, die der immer ein wenig erhitzt wirkende Senior bei jedem seiner Auftritte in seinem charakteristischen Franko-Deutsch aufzählt. Ende September soll die Frank-Stronach-Partei offiziell vorgestellt werden, Umfragen sehen ihn bei 6 bis 10 Prozent der Wählerstimmen bei den Nationalratswahlen im Herbst 2013. Für den Einzug ins Parlament würden bereits 4 Prozent reichen. Fein, könnte man als Österreicher nun sagen. Langweilige Berufspolitiker hat das Land schließlich genug, endlich mischt einer die Szene ein wenig auf. Aber Stronach ist kein zweiter George Soros, dem die Zivilgesellschaft in seiner Heimat am Herzen liegt. Er ist auch kein Karl Schwarzenberg, der vermögende tschechische Außenminister, der sich seinem Land in der Tradition des Staatsdieners zur Verfügung stellt. Stronach sieht sich eher als die Superversion des reichen Onkels aus Amerika, dessen Familie sich nun brav für seine Mitbringsel zu bedanken hat. Sein Parteiprogramm zielt allerdings ganz auf Österreichs politisches Protestmilieu ab und zwar das auf der rechten Seite. Anders als in Deutschland ist dort offensichtlich noch reichlich Platz für eine weitere Partei rechts der Mitte. Raus aus der Eurozone, zurück zum Schilling, fordert Stronach etwa. Genauso wie die FPÖ unter Heinz-Christian Strache und das BZÖ, jene Partei, die der verstorbene Jörg Haider nach dem Bruch mit den Freiheitlichen quasi als Privatverein gegründet hatte. Raus aus dem traditionellen Parteienstaat und dessen Strukturen, das ist Stronachs zweite Parole. Dem späten Heimkehrer sind Verbände, verstaatlichte Firmen, Kammern und Sozialpartnerschaft verhasst. Im Magna-Konzern gibt es statt Betriebsräten oftmals „Fairness-Komitees“, über den Rauswurf von unliebsamen Mitarbeitern ließ er auch schon mal die Belegschaft abstimmen. „Diktatur der Tüchtigen“ nannte das sein österreichischer Biograf Norbert Mappes-Niediek einmal. In einem Unternehmen mag das funktionieren, aber in der Politik? „Wer das Gold hat, macht die Regeln“, lautet Stronachs Antwort auf seine Zweifler. Diskussionen sind offensichtlich seine Sache nicht, was er in einem mittlerweile legendär gewordenen „ZiB 2“-Fernsehinterview bewies. Dort redete er die Moderatorin nieder, um ihr am Ende vorzuwerfen: „Also, Sie wollen streiten mit mir?“ Da geht Stronach lieber politisch shoppen. Sein Privatvermögen wird auf 1,5 Milliarden Euro geschätzt, dafür bekommt man in Österreich schon einiges. Die Gunst des Boulevards etwa, über Inserate. Oder das glücklose Bündnis Zukunft Österreich. 500.000 Euro bot er für die Haider-Politkonkursmasse, der aktuelle Parteichef lehnte ab. Vier Parlamentarier hat er sich auf diese Art aber schon geangelt. Politiker auf die Gehaltsliste zu nehmen, war immer eine von Stronachs Strategien. Im Magna-Konzern wimmelt es nur so von ehemaligen kanadischen und österreichischen Ministern. Dass Politik und Geschäft in der meritokratischen Gedankenwelt der Stronachs nahe beieinanderliegen, bewies auch seine Tochter Belinda im Jahr 2005. Damals sicherte die Abgeordnete den kanadischen Liberalen als Überläuferin von den Konservativen die Parlamentsmehrheit und bekam als Dank einen Ministerposten. Zuletzt machte Stronach Schlagzeilen, weil er die reformbedürftigen staatlichen Österreichischen Bundesbahnen übernehmen möchte – und Österreichs Regierung einfältig genug ist, auf dieses populistische Angebot einzusteigen. Aber nicht immer reichte Stronachs Geld aus, um seine Version der Wahrheit durchzusetzen. Vor drei Jahren scheiterte er mit seinem Übernahmeangebot für Opel. Ein Erlebnispark mit einer 80 Meter hohen, begehbaren Weltkugel namens „World of Wonder“ im Süden Wiens wurde nie verwirklicht. Auch über „Frank’s Energy Drink“ (Werbeslogan: „Keeps you yodeling all night long“) spricht niemand mehr. Ebenso wenig über seine ersten politischen Gehversuche in Kanada. Ende der achtziger Jahre wollte Stronach bei den Liberalen andocken, blieb aber trotz teurem Wahlkampf samt Slogan „Let’s be Frank“ erfolglos. Stronach sei eben „eine Art Genie und dabei auch immer ein bisschen Clown“, schreibt sein kanadischer Biograf Wayne Lilley. Offenbar einer mit immensem Sendungsbewusstsein, überbordender Eitelkeit – und einem ganz und gar nicht lustigen politischen Programm.
Frank Stronach brachte einst den Autozulieferer Magna zum Erfolg. Jetzt will er Österreich optimieren: Er versucht die Politik mit einer neuen Partei aufzumischen und fischt dabei am rechten Rand
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außenpolitik
2012-11-13T12:18:38+0100
2012-11-13T12:18:38+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/magna-milliardaer-will-rechte-partei-gruenden/52543
Europapolitik - Schwarz-Rot tanzt nach Merkels Pfeife
Angela Merkel ist auf der europäischen Bühne eine Ausnahmeerscheinung. Während die Euro-Krise in den vergangenen Jahren einen Regierungschef nach dem anderen – zum Beispiel José Luis Rodriguez Zapatero in Spanien oder Silvio Berlusconi in Italien – politisch dahinraffte, tritt die Kanzlerin in Berlin gerade ihre dritte Amtszeit an. Vom Wählerwillen gestärkt, dürfte Merkel mehr noch als in der vergangenen Legislaturperiode zur treibenden Kraft Europas werden. Ihre Position ist auch dadurch gestärkt, dass sie in der Europapolitik mindestens drei Viertel der Koalitionsabgeordneten von Union und SPD hinter sich weiß. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD bleibt in vielen Punkten hinreichend vage, um den drei Parteien im demnächst beginnenden Europawahlkampf ausreichend Beinfreiheit zu lassen. Wer wollte schließlich etwas dagegen sagen, dass Deutschland als Gründungsmitglied der EU auch künftig „eine verantwortungsvolle und integrationsfördernde Rolle in Europa wahrnehmen“ müsse? [[nid:56657]] Der Europawahlkampf könnte in Deutschland so aussehen: Die CDU profiliert sich als Gralshüterin der Interessen deutscher Steuerzahler auch in Zeiten der abklingenden Euro-Krise, die CSU zeigt dem Brüsseler Regulierungs-Betrieb die Grenzen auf, und die SPD gibt den Fürsprecher der arbeitslosen Jugendlichen im Süden Europas. Wobei Merkel kein Interesse daran hat, dieses Thema allein den Sozialdemokraten zu überlassen. Sonst hätte sie in ihrer Regierungserklärung zum bevorstehenden Brüsseler EU-Gipfel vor dem Bundestag am Mittwoch die Jugendarbeitslosigkeit wohl kaum als „eine der zentralen Herausforderungen“ für die Europäer bezeichnet. Allerdings ist der Koalitionsvertrag in einem Punkt sehr deutlich. „Jede Form der Vergemeinschaftung von Staatsschulden würde die notwendige Ausrichtung der nationalen Politiken in jedem einzelnen Mitgliedstaat gefährden“, heißt es in dem Papier. Sprich: Euro-Bonds, wie sie in der SPD immer wieder gefordert wurden, wird es mit Merkel nicht geben. Doch aufgrund dieser Formulierung im Koalitionsvertrag müssen die notleidenden Südländer nicht unbedingt befürchten, dass „Merkel III“ ihnen gegenüber besonders hartherzig auftreten wird. Im Gegenteil: Zunächst einmal dürfte sich an der europapolitischen Rhetorik der neuen Bundesregierung einiges ändern. Waren FDP-Vertreter wie der frühere Wirtschaftsminister Philipp Rösler noch mit Äußerungen aufgefallen, wonach beispielsweise eine Griechenland-Pleite ihren „Schrecken verloren“ habe, so dürften derartigen Drohgebärden an die Adresse der Krisenländer in Zukunft eher selten vorkommen. Und auch in der Substanz – also auf der finanziellen Seite – wird Merkel den notleidenden Ländern in der Euro-Zone einiges liefern wollen, das die Kanzlerin in ihrer dritten Amtszeit im Süden Europas in einem milderen Licht erscheinen lässt. Als Anti-Krisen-Instrumente werden im Koalitionsvertrag unter anderem Darlehen der Europäischen Investitionsbank (EIB) für kleine und mittlere Betriebe ausdrücklich erwähnt. Grundsätzlich dürfte sich aber am europapolitischen Merkel-Mantra – trotz der Regierungsbeteiligung der SPD – wenig ändern: Finanzielle Hilfen für die Krisenstaaten sind nur eine Seite der Medaille. Die notwendigen Reformanstrengungen der betroffenen Länder sind die andere Seite. Zwar wüsste man in den 27 Hauptstädten der übrigen EU-Staaten gerne, ob die neue Bundesregierung nun ein größeres Gewicht auf die Solidität der Krisenstaaten oder auf die Solidarität mit den von der Rezession betroffenen Griechen oder Italienern legen wird. Bis mehr Klarheit über den europapolitischen Berliner Kurs herrscht, muss der Rest Europas nach der Prognose von Manuel Sarrazin, des europapolitischen Sprechers der Grünen im Bundestag, noch „mindestens bis zur Europawahl warten“. Neben der Diskussion über Europas künftige Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Lage in der Ukraine und die Erweiterung der EU steht beim Gipfel an diesem Donnerstag und am Freitag ein Thema auf der Agenda, das Merkel schon bei den zurückliegenden Spitzentreffen mäßig erfolgreich angesprochen hatte: die sogenannten Reformverträge. Staaten der Euro-Zone sollen sich nach Absicht der Bundesregierung künftig gegenüber der EU-Kommission zu Reformen verpflichten, damit finanzielle Schieflagen wie in Griechenland oder in Spanien gar nicht erst wieder entstehen können. Merkel nannte am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie die Funktionsfähigkeit der Verwaltungen als Felder, auf denen sich die Euro-Staaten zu konkreten Reformfortschritten verpflichten sollen. Im Gegenzug zu den Reformen winken finanzielle Anreize aus der EU-Kasse. Im Entwurf der Abschlusserklärung für den Gipfel heißt es, dass nach dem Treffen weiter ausgelotet werden soll, ob die Finanzhilfen nun in der Form von Darlehen, Zuschüssen oder Garantien gewährt werden. Auch wenn es am Mittwoch aus Berliner Regierungskreisen hieß, dass beim Gipfel die „wichtigsten Merkmale“ der von Merkel gewünschten Reformverträge definiert werden sollten, dürfte die Kanzlerin mit ihrem Projekt kaum vorankommen – schon im Vorfeld des Treffens gab es große Widerstände der EU-Partner. [[nid:56662]] Nicht schlecht stehen dagegen die Chancen, dass die Staats- und Regierungschefs einem wesentlichen Bestandteil der Bankenunion ihren Segen geben können. Dabei geht es unter anderem um einen von den Euro-Finanzministern – und damit auch vom alten und neuen deutschen Ressortchef Wolfgang Schäuble (CDU) – vorgeschlagenen Fonds aus Bankengeldern in Höhe von 55 Milliarden Euro, der in den nächsten zehn Jahren zur Abwicklung von Finanzhäusern aufgebaut werden soll. In Oppositionszeiten haben die Sozialdemokraten eine Verbindung in den Elysée-Palast in Paris aufgebaut, wo seit Mai 2012 der sozialistische Präsident François Hollande regiert. Der neue Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) war am Mittwochabend auch der Seite von Angela Merkel, deren erste Auslandsreise im Amt traditionsgemäß an die Seine führte. Nach dem Treffen mit Hollande erklärte Merkel, sie hoffe auf eine „neue Etappe“ in den deutsch-französischen Beziehungen. Doch auch wenn sich Steinmeier in Oppositionszeiten vehement für Konjunkturimpulse in Europas Süden einsetzte, wird er sich nun kaum dazu berufen fühlen, die europapolitische Linie der Kanzlerin zu durchkreuzen – weder im Verhältnis zu Frankreich noch insgesamt. Einen neuen Akzent könnte es im deutsch-französischen Verhältnis angesichts des Wechsels von Ursula von der Leyen vom Arbeits- ins Verteidigungsministerium geben. Mehr noch als im alten Amt wird sie es im neuen Ressort mit Europafragen zu tun bekommen. Dass sie fließend Französisch spricht, ist hilfreich.
Albrecht Meier
Angela Merkel hat – frisch vereidigt – ihre erste Regierungserklärung zu europäischen Fragen abgegeben. Auch in der neuen schwarz-roten Regierung gibt sie in der Europapolitik den Ton vor
[]
innenpolitik
2013-12-19T09:24:37+0100
2013-12-19T09:24:37+0100
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Wahlprogramm der Grünen - Neues Deutschland
„Wir legen das Programm in einer Zeit vor, in der eine politische Ära zu Ende geht und eine neue beginnen kann“: Mit diesen Worten eröffnete der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck die Präsentation der 136 Seiten umfassenden Agenda zur bevorstehenden Bundestagswahl. Der unter dem Titel „Deutschland. Alles ist drin.“ verfasste Programmentwurf hat es in sich – es handelt sich um ein teilweise radikales Manifest für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau der Bundesrepublik. Natürlich wird nicht alles davon Realität werden. Aber weil mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass die Grünen an der nächsten Bundesregierung beteiligt sind, lohnt es sich doch, genauer hinzuschauen – insbesondere für die wahrscheinlichen Koalitionspartner von CDU und CSU. Die haben zwar selbst noch kein Wahlprogramm, wissen aber jetzt immerhin, was da auf sie zukommt. Ob die Unionsparteien und die Grünen wirklich miteinander kompatibel sind, daran könnten bei einem Blick auf die Auswahl der hier dokumentierten Anliegen von Bündnis 90/Die Grünen gewisse Zweifel aufkommen. Andererseits hat sich die Union in den vergangenen anderthalb Dekaden stets als sehr flexibel erwiesen. Man darf gespannt sein, was (und ob) die Christdemokraten dem entgegenzusetzen haben. „Nicht nur der Strom, auch das Benzin in unseren Autos, das Kerosin im Flugzeugtank, das Öl für die Heizung und das Gas im Industriebetrieb müssen auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Das ist nichts weniger als eine Energierevolution. Dazu braucht es zuallererst eine massive Ausbauoffensive für die Erneuerbaren. Daran hängt die Zukunft unseres Industriestandortes und unsere Versorgungssicherheit. Mit einer umfassenden Steuer- und Abgabenreform wollen wir dafür sorgen, dass die Sektorenkoppelung vorankommt und Strom zu verlässlichen und wettbewerbsfähigen Preisen vorhanden ist.“ „Es braucht in der ökologischen Transformation ein noch viel besseres Angebot an Weiterbildung und Qualifizierung. Dazu wollen wir ein Recht auf Weiterbildung einführen und mit einem Weiterbildungsgeld auch für Erwerbstätige in Qualifizierungsphasen eine soziale Absicherung schaffen. Mit einem Qualifizierungs-Kurzarbeitergeld ermöglichen wir Unternehmen, in Phasen der Transformation ihre Beschäftigten im Betrieb zu halten und nachhaltig zu qualifizieren.“ „Wir werden das ungenügende Klimaschutzgesetz und den Klimaschutzplan überarbeiten und – im Einklang mit dem höheren neuen europäischen Klimaziel – das deutsche Klimaziel 2030 auf -70 Prozent anheben. Nur so kann es gelingen, dass wir Europäer*innen deutlich vor Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden.“ „Wir wollen die Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro auf das Jahr 2023 vorziehen. Danach soll der CO2 -Preis so ansteigen, dass er im Konzert mit den Fördermaßnahmen und ordnungsrechtlichen Vorgaben die Erfüllung des neuen Klimaziels 2030 absichert.“ „Dazu streben wir neben der Senkung der EEG-Umlage ein Energiegeld an, das jede*r Bürger*in erhält. Über das Energiegeld geben wir alle zusätzlichen CO2-Einnahmen an die Menschen zurück, und zwar fair aufgeteilt pro Kopf. So kann man mit Klimaschutz Geld verdienen und es findet ein sozialer Ausgleich im System statt. Unterm Strich werden so Geringverdiener*innen und Familien entlastet und vor allem Menschen mit hohen Einkommen belastet. Bezieher*innen von Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe profitieren ebenfalls, da das Energiegeld nicht auf die Grundsicherung angerechnet werden soll.“ „Nach dem Willen der Großen Koalition werden in Deutschland Kohlekraftwerke noch bis 2038 dem Klima und unserer Gesundheit schaden. Das ist mit den Klimazielen nicht vereinbar. Wir setzen uns dafür ein, den Kohleausstieg bis 2030 zu vollenden. Um nicht erneut den Kohlekonzernen Milliarden an Steuergeldern zu schenken, wollen wir die massiven Klimaschäden der Kohleverstromung einpreisen. Das ist am sinnvollsten über den EU-Emissionshandel zu regeln – mit einem lenkenden CO2 -Preis, der dem neuen EU-Klimaziel entspricht.“ „Unser Ziel sind 1 Million neue Solardächer in den kommenden vier Jahren. Deshalb werden wir Solardächer fördern und zum Standard machen.“ „Auch beim Ausbau der Windkraft müssen wir schneller vorankommen. Unser Ziel ist ein jährlicher Zubau von 5 bis 6 GW Wind an Land, bei Wind auf See wollen wir 35 GW bis 2035 erreichen. Beim Windausbau gilt es den Konflikt mit Natur- und Artenschutz zu minimieren, Anwohner*innen zu schützen und die Verfahren zur Genehmigung zu beschleunigen. In einem ersten Schritt wollen wir die erneuerbaren Energien als zwingend für die Versorgungssicherheit definieren und dafür 2 Prozent der Fläche bundesweit nutzen.“ „Neue Erdgas-Pipelines wie Nord Stream 2 zementieren auf Jahrzehnte Abhängigkeiten von klimaschädlichen Ressourcen und konterkarieren die Energiewende. Sie sollten daher – im konkreten Fall von Nord Stream 2 – auch aus geopolitischen Gründen gestoppt werden.“ „Die Sanierungsquote muss deutlich gesteigert werden. Für den Bestand muss gelten: Sobald ein Eigentümerwechsel erfolgt, wird ein Sanierungsfahrplan erstellt. Wenn im Gebäudebestand ein Heizungsaustausch ansteht oder umfassend saniert wird, sollen Erneuerbare, wo immer möglich, verbindlich zum Einsatz kommen. Wir legen dazu ein Investitionsprogramm für 2.000.000 Wärmepumpen bis 2025 auf.“ „Busse und Bahnen sind für alle da, bieten preiswerte Mobilität und verringern den Autoverkehr. Wir wollen die Fahrgastzahlen im ÖPNV bis 2030 verdoppeln.“ „Ab 2030 sollen deshalb nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden, zum Beispiel durch eine ansteigende nationale Quote für emissionsfreie Autos.“ „Die Städte sollen mehr Möglichkeiten bekommen, regulierend in den Autoverkehr einzugreifen und öffentlichen Raum neu aufzuteilen, zum Beispiel indem Autos nicht mehr überall, sondern nur noch auf gekennzeichneten Plätzen parken dürfen.“ „Nach der Pandemie wollen wir kein Zurück zum blinden Wachstum des Luftverkehrs, sondern diesen am Ziel der Klimaneutralität ausrichten. Kurzstreckenflüge wollen wir bis 2030 überflüssig machen, indem wir die Bahn massiv ausbauen. Die Zahl von Langstreckenflügen gilt es zu vermindern und das Fliegen gleichzeitig zu dekarbonisieren. […] Umweltschädliche Subventionen im Flugverkehr sind abzubauen und Finanzhilfen für unwirtschaftliche Regionalflughäfen zu beenden. Neben einer Reduktion des Fluglärms durch weniger und bessere Flugzeuge braucht es ein echtes Nachtflugverbot.“ „Wir wollen den Ausstieg aus der Pestizidabhängigkeit unserer Landwirtschaft schnell und machbar gestalten: durch eine systematische Pestizidreduktionsstrategie, ein Sofortverbot für besonders umwelttoxische Wirkstoffe und das besonders häufig eingesetzte Pestizid Glyphosat.“ „Um den Wohlstand von morgen zu sichern, brauchen wir eine neue Gründer*innenwelle. Mit einem unbürokratischen Gründungskapital, das Gründer*innen einen Einmalbetrag bis maximal 25.000 Euro sicherstellt, wollen wir dafür sorgen, dass keine gute Idee an zu wenig Eigenkapital scheitert.“ „Obwohl Frauen mindestens gleich gut qualifiziert sind wie Männer, fehlen sie dort. Freiwillige Regelungen haben nichts gebracht. Deshalb soll zukünftig mindestens ein Drittel der Vorstandssitze größerer und börsennotierter Unternehmen bei einer Neubesetzung an eine Frau gehen.“ „Einwanderung in unser Land erleichtern wir mit der Einführung einer Talentkarte und einer schnelleren Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse, auch wechselseitig in der EU. Geflüchtete sollen die Möglichkeit zum Spurwechsel bekommen, der ihnen während Ausbildung, Studium und Arbeit mehr Rechtssicherheit und damit eine berufliche Perspektive in Deutschland ermöglicht.“ „Das riskante Investmentgeschäft muss vom Einlagen- und Kreditgeschäft getrennt werden (Trennbankensystem). Es braucht eine starke Fusionskontrolle und zu große Banken sollen entflochten werden. Für kleine Banken, von denen kein Risiko für das Finanzsystem ausgeht, sollten hingegen einfachere Regeln gelten. Spekulation und Kurzfristorientierung werden wir, unter anderem durch eine europäische Finanztransaktionssteuer mit breiter Bemessungsgrundlage, unattraktiv machen.“ „Wir wollen dafür Sorge tragen, dass die EU ein Instrument für eine dauerhafte, eigene Fiskalpolitik erhält, dessen Einsatz im Krisenfall nicht durch einzelne Länder blockiert werden kann, sondern das den gemeinsamen europäischen Institutionen untersteht. Der Europäische Stabilitätsmechanismus wird zu einem europäischen Währungsfonds weiterentwickelt.“ „Wir wollen die Schuldenbremse im Grundgesetz zeitgemäß gestalten – um die so dringenden Investitionen zu ermöglichen. Bei konsumtiven Ausgaben bleibt es bei den derzeitigen strikten Regelungen; bei Investitionen, die neues öffentliches Vermögen schaffen, erlauben wir eine begrenzte Kreditaufnahme.“ „Heute aber tragen die obersten 10 Prozent der Einkommen über Steuern und Abgaben relativ weniger bei als die mittleren Einkommen. Das ändern wir, indem wir den Grundfreibetrag der Einkommensteuer erhöhen, um kleine und mittlere Einkommen zu entlasten. Im Gegenzug wollen wir den Spitzensteuersatz moderat anheben. Ab einem Einkommen von 100.000 Euro für Alleinstehende und 200.000 Euro für Paare wird eine neue Stufe mit einem Steuersatz von 45 Prozent eingeführt. Ab einem Einkommen von 250.000 bzw. 500.000 Euro folgt eine weitere Stufe mit einem Spitzensteuersatz von 48 Prozent. Zusätzlich werden hohe Managergehälter oberhalb von 500.000 Euro nicht mehr zum Abzug als Betriebsausgaben zugelassen. Die Abgeltungsteuer für Kapitalerträge schaffen wir ab und besteuern diese Einkommen wieder progressiv.“ „Die Einführung einer neuen Vermögensteuer für die Länder ist unser bevorzugtes Instrument. Die Länder sollten die Einnahmen dieser Steuer für die Finanzierung der wachsenden Bildungsaufgaben einsetzen. Die Vermögensteuer sollte für Vermögen oberhalb von 2 Millionen Euro pro Person gelten und jährlich 1 Prozent betragen. Begünstigungen für Betriebsvermögen werden wir im verfassungsrechtlich erlaubten und wirtschaftlich gebotenen Umfang einführen.“ „In Europa führen wir eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Unternehmenssteuern und einen Mindeststeuersatz von mittelfristig 25 Prozent ohne Ausnahmen ein. Google, Facebook und Co. werden mit einer Digitalkonzernsteuer endlich angemessen besteuert. Banken und Steuerberater*innen verbieten wir, Geschäfte in Steuersümpfen zu tätigen oder dorthin zu vermitteln.“ „Den gesetzlichen Mindestlohn werden wir sofort auf 12 Euro anheben. Für weitere Erhöhungen soll die Mindestlohnkommission den Auftrag bekommen, dass der Mindestlohn wirksam vor Armut schützen und mindestens der Entwicklung der Tariflöhne entsprechen muss.“ „Wir werden ein effektives Entgeltgleichheitsgesetz einführen, das auch für kleine Betriebe gilt und die Unternehmen verpflichtet, von sich aus über die Bezahlung von Frauen und Männern und über ihre Maßnahmen zum Schließen des eigenen Pay-Gaps zu berichten.“ „Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Teilhabe, auf ein würdevolles Leben ohne Existenzangst. Deswegen wollen wir Hartz IV überwinden und ersetzen es durch eine Garantiesicherung. Sie schützt vor Armut und garantiert ohne Sanktionen das soziokulturelle  Existenzminimum. Sie stärkt so Menschen in Zeiten des Wandels und kann angesichts großer Veränderungen der Arbeitswelt Sicherheit geben und Chancen und Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben eröffnen. Die grüne Garantiesicherung ist eine Mindestsicherung, die nicht stigmatisiert und die einfach und auf Augenhöhe gewährt wird. Sie schafft durch die Abschaffung der bürokratischen Sanktionen Raum und Zeit in den Jobcentern für wirkliche Arbeitsvermittlung und Begleitung. Dafür wollen wir die Regelsätze schrittweise anheben, sodass sie das soziokulturelle Existenzminimum verlässlich sicherstellen.“ „In einem ersten Schritt zu einer Bürgerversicherung sorgen wir dafür, dass anderweitig nicht abgesicherte Selbständige, denen sonst Altersarmut droht, und Abgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden. Um Altersarmut zu verhindern, werden wir die Grundrente reparieren und zu einer echten Garantierente weiterentwickeln. Grundsätzlich halten wir an der Rente mit 67 fest. Wir wollen es Menschen aber leichter machen, selbst darüber zu entscheiden, wann sie in Rente gehen wollen.“ „Wir wollen die Riester-Rente durch einen öffentlich verwalteten Bürgerfonds ersetzen und in diesen überführen. Durch den Bürgerfonds profitieren die Menschen am Wertezuwachs der Wirtschaft. Der Fonds kann langfristig orientiertes Eigenkapital für die Wirtschaft bereitstellen. In den Bürgerfonds zahlen alle ein, die nicht aktiv widersprechen.“ „Gesetzlich Versicherte warten länger auf Termine bei Fachärzt*innen, und viele privat Versicherte können sich die hohen Prämien nicht mehr leisten. Von dieser Zwei-Klassen-Medizin profitieren wenige, zum Nachteil vieler. Unser Ziel ist eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung, in der jede*r unabhängig vom Einkommen die Versorgung bekommt, die er oder sie braucht. Die Bürgerversicherung bezieht alle in die Finanzierung eines leistungsstarken Versicherungssystems ein.“ „Das Verbot von Cannabis richtet mehr Schaden an, als dass es nützt. Wir setzen auf wirksame Prävention, auf Entkriminalisierung und Selbstbestimmung. Deshalb werden wir mit einem Cannabiskontrollgesetz das bestehende Cannabisverbot aufheben und einen kontrollierten und legalen Verkauf von Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften ermöglichen.“ „Unser Ziel sind deshalb faire und bezahlbare Mieten und starke Rechte für Mieter*innen. Konkret wollen wir Mietobergrenzen im Bestand mit einem Bundesgesetz ermöglichen und die Mietpreisbremse entfristen und nachschärfen. Reguläre Mieterhöhungen sollen auf 2,5 Prozent im Jahr innerhalb des Mietspiegels begrenzt werden.“ „Wir werden verbindliche Zielvorgaben zur Erhöhung des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund einführen. Das „Diversity-Budgeting“, also den Einsatz und die Evaluierung von Haushaltsmitteln in einer Vielfalt besonders fördernden Weise, wollen wir voranbringen.“ „Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, wollen wir die verschiedenen gesellschaftlichen Themen, die die Teilhabe an der offenen und vielfältigen Einwanderungsgesellschaft betreffen, bei einem Ministerium bündeln und diese Themen aus dem Innenministerium herauslösen. Für mehr Repräsentanz und Teilhabe werden wir ein Partizipations- und Teilhabegesetz vorlegen und das Bundesgremiengesetz reformieren. Alle, die dauerhaft ihren Lebensmittelpunkt hier haben, sollen ein kommunales Wahlrecht erhalten.“ „Wir wollen den Schutz vor und die Beseitigung von Diskriminierungen und strukturellem Rassismus mit einem staatlichen Gewährleistungsanspruch in der Verfassung verankern, ergänzend zur überfälligen Ersetzung des Begriffs „Rasse“ sowie der expliziten Benennung von Diskriminierung aufgrund sexueller Identität. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) muss unabhängiger und wirkmächtiger werden – mit mehr Personal, Budget und Kompetenzen. Zudem wollen wir eine*n weisungsunabhängige*n und finanziell gut ausgestattete*n Antirassismusbeauftragte*n einsetzen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz soll zu einem echten Bundesantidiskriminierungsgesetz weiterentwickelt werden. Das Netz zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen soll flächendeckend ausgebaut und in den Institutionen sollen Anlaufstellen geschaffen werden. Wir werden die Forschung zu Diskriminierung und Rassismus ausbauen, insbesondere Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten erheben und unabhängige wissenschaftliche Studien in Bezug auf staatliche Institutionen durchführen. Antirassismus, Antidiskriminierung und Postkolonialismus wollen wir in Lehrplänen verankern.“ „Wir unterstützen Staatsverträge mit islamischen Religionsgemeinschaften, die in keiner strukturellen Abhängigkeit zu einem Staat, einer Partei oder politischen Bewegung und deren oder dessen jeweiliger Regierungspolitik stehen und sich religiös selbst bestimmen. Für die eigenständige und selbstbewusste Religionsausübung von Muslim*innen ist eine Imam-Ausbildung in Deutschland dringend notwendig. Dafür wollen wir islamisch-theologische und praxisorientierte Aus- und Weiterbildungsprogramme für Imame und islamische Religionsbedienstete in Kooperation mit den Instituten für islamische Theologie bundesweit etablieren und unterstützen.“ „Wenn Jugendliche in ihrem Lebensalltag demokratische Erfahrungen machen und ihre Rechte wahrnehmen können, stärkt das die Demokratie und macht sie zukunftssicherer. Darum werden wir uns dafür einsetzen, das Wahlalter für Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre abzusenken.“ „Wer in Deutschland geboren wird, soll die Möglichkeit erhalten, deutsche*r Staatsbürger*in zu werden, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Für Menschen, die hier jahrelang leben und Teil dieser Gesellschaft geworden sind, sollen Einbürgerungen früher möglich werden. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland sollen alle einen Antrag auf Einbürgerung stellen können. Den Optionszwang im Staatsangehörigkeitsrecht wollen wir abschaffen und Mehrstaatigkeit anerkennen. Die vorgenommenen Aushöhlungen des Staatsangehörigkeitsrechts wollen wir zurücknehmen. Hindernisse bei der Identitätsklärung, die nicht in der Hand der Einzubürgernden liegen, dürfen ihnen nicht angelastet werden.“ „Wir wollen das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen und damit eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Geflüchteten, die ein echtes Ankommen und Teilhabe erschwert. Integrationsfeindliche gesetzliche Regelungen wie Arbeitsverbot und pauschale Wohnsitzauflage schaffen wir ab. Die in den vergangenen Jahren vorgenommenen Aushöhlungen des Asylrechts wollen wir zurücknehmen. Die Ausrufung „sicherer“ Herkunfts- oder Drittstaaten lehnen wir ab – auch auf europäischer Ebene.“ „Nicht zu wissen, ob Deutschland wirklich Heimat wird, erschwert die Integration massiv. Wir wollen die Anzahl der Menschen, die sich von Duldung zu Duldung hangeln müssen, deshalb möglichst auf null reduzieren. Für diese Menschen braucht es nach fünf Jahren Aufenthalt ein sicheres Bleiberecht. Heranwachsende, Jugendliche und Familien mit minderjährigen Kindern sollen nach drei Jahren einen Aufenthaltstitel bekommen.“ „Abschiebungen in Kriegs- und Krisenländer wollen wir beenden, den Abschiebestopp nach Syrien und Afghanistan wieder einsetzen.“ „Um queere Jugendliche zu schützen und zu stärken, wollen wir mit einer bundesweiten Aufklärungskampagne für junge Menschen über die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten informieren und bezüglich Homo- und Transphobie sensibilisieren. Wir werden uns gemeinsam mit den Ländern dafür einsetzen, dass sich geschlechtliche Vielfalt und Diversität in den Lehr- und Bildungsplänen wiederfinden.“ „Unser Ziel ist, die europäische parlamentarische Demokratie zu stärken: mit einem Parlament, das in allen Bereichen gleichberechtigt mit dem Rat entscheidet, ein vollwertiges Initiativrecht für die Gesetzgebung und ein starkes Haushaltsrecht erhält. Es soll die Kommission auf Vorschlag des Kommissions-Präsidenten bzw. der Kommissions-Präsidentin wählen sowie durch ein konstruktives Misstrauensvotum entlassen können. Für die Wahlen zum Europäischen Parlament setzen wir uns dafür ein, dass die Bürger*innen mit ihrer Stimme für einen Spitzenkandidaten bzw. eine Spitzenkandidatin der Parteien auch die/den nächste*n Präsident*in der EU-Kommission bestimmen.“ „Der Blockade einer gemeinsamen und humanen Flüchtlingspolitik zwischen den Mitgliedstaaten begegnen wir mit folgendem Plan: In gemeinschaftlichen von den europäischen Partnern geführten Einrichtungen innerhalb der EU an den rechtsstaatlich und europäisch kontrollierten EU-Außengrenzen sollen die Geflüchteten registriert werden und einen ersten Sicherheitscheck durchlaufen. So wissen wir, wer zu uns kommt, und werden zugleich unserer humanitären Verantwortung gerecht. Die Menschen, die nach Europa kommen, müssen medizinisch und psychologisch erstversorgt und menschenwürdig untergebracht werden. Unter Berücksichtigung persönlicher Umstände wie familiärer Bindungen oder der Sprachkenntnisse bestimmt die EU-Agentur für Asylfragen den Aufnahme-Mitgliedstaat. Der zugrunde liegende Verteilmechanismus stützt sich zunächst auf die Bereitschaft von Regionen und Städten, Geflüchtete freiwillig aufzunehmen. Wer das tut, erhält Hilfe aus einem EU-Integrationsfonds. Reichen die Aufnahmeplätze nicht aus, weiten alle Mitgliedstaaten im Verhältnis von Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerungsgröße verpflichtend ihr Angebot aus oder leisten einen mindestens gleichwertigen Beitrag zu den Gesamtkosten. Das Asylverfahren findet im aufnehmenden Mitgliedstaat statt. Die Kommission stellt sicher, dass die gemeinsamen Regeln und Mindeststandards eingehalten werden. Wir werden mit handlungswilligen Ländern und Regionen vorangehen, um die derzeitige katastrophale Situation an den Außengrenzen zu beenden. Geschlossene Lager, Transitzonen oder europäische Außenlager in Drittstaaten lehnen wir ab.“ „Im Globalen Pakt für Flüchtlinge ist die Weltgemeinschaft übereingekommen, das Resettlement zu verstärken. Doch faktisch sinkt die Zahl der Aufnahmeplätze seit Jahren. Wir schlagen vor, zusammen mit der neuen US-Administration und Kanada sowie anderen in einer globalen humanitären Partnerschaft die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Geflüchteter aus dem Resettlement-Programm deutlich auszubauen.“ „Länder und Kommunen sollen mehr Mitsprache- und Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, wenn es um die humanitäre Aufnahme Geflüchteter geht. Mit einer Änderung der Zustimmungsregel zwischen dem Bundesinnenministerium und den Ländern von Einvernehmen in Benehmen wollen wir klarstellen, dass sich Bundesländer künftig über den Königsteiner Schlüssel hinaus selbständig und frei für die Aufnahme von Geflüchteten entscheiden können. Der Bund soll weiter die finanziellen und infrastrukturellen Aufgaben erfüllen.“ „Wir wollen, dass die Seenotrettung explizit ins Aufgabenprofil von Frontex aufgenommen wird, und setzen auf eine europäische Grenzkontrolle, die den gemeinsamen Schutz der Menschenrechte zur Grundlage hat und wichtige grenzpolizeiliche Aufgaben wahrnimmt, ohne sie zur Fluchtabwehr zu missbrauchen. Das moderne Asylrecht beruht auf der Einzelfallprüfung, das völker- und europarechtlich verbriefte Nichtzurückweisungsgebot gilt immer und überall. Die Genfer Flüchtlingskonvention gilt uneingeschränkt. Ihre Aushöhlung führt weder zu mehr Sicherheit noch zu mehr europäischer Handlungsfähigkeit in der Flüchtlingspolitik. Völkerrechtswidrige Pushbacks, von nationalen Grenzpolizeien oder Frontex begangen, müssen geahndet werden.“
Cicero-Redaktion
Knallhartes Klimaprogramm, erleichterte Einwanderung, Schuldenbremse aufweichen, Vermögenssteuer und bedingungsloses Grundeinkommen einführen: Bündnis90/Die Grünen haben an diesem Freitag ihre Agenda zur Bundestagswahl vorgestellt. Wir dokumentieren auszugsweise die wohl heikelsten Punkte.
[ "Annalena Baerbock", "Robert Habeck", "Bundestagswahl", "Grüne" ]
innenpolitik
2021-03-19T16:59:19+0100
2021-03-19T16:59:19+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/wahlprogramm-gruene-baerbock-habeck-bundestagswahl
Nationalratswahlen in Österreich - Wieviel Höcke steckt in Kickl?
Wer Herbert Kickl mit Björn Höcke vergleicht, muss in Österreich mit Widerspruch rechnen. Gleiches gilt für den Vergleich zwischen der AfD und ihrer rechtspopulistischen Schwester FPÖ, deren Vorsitzender – oder Obmann, wie es in Österreich heißt – Herbert Kickl ist. Tatsächlich gibt es offensichtliche Unterschiede zwischen beiden Parteien. Während die AfD und ihre Erfolge in Deutschland ein relativ neues Phänomen sind, war der Rechtspopulismus in Österreich mit Jörg Haider schon vor der Jahrtausendwende erfolgreich – so erfolgreich, dass es bereits im Jahr 2000 für eine Beteiligung seiner FPÖ an der Bundesregierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel reichte. Damals sorgte die Koalition aus Christdemokraten und Freiheitlichen noch europaweit für Aufregung, und Österreich stand eine Zeit lang weitgehend isoliert da. Dass die erste Koalition mit der FPÖ auf Bundesebene bereits 1983 von den österreichischen Sozialdemokraten geschmiedet wurde, interessierte dagegen schon damals niemanden mehr. Heute, ein knappes Vierteljahrhundert nach Schüssel I, schickt sich die FPÖ mit Herbert Kickl an, zum ersten Mal überhaupt stärkste Partei bei einer Nationalratswahl zu werden. Schon bei der Europawahl im Juni landete sie österreichweit auf Platz eins, und auch in Umfragen für die Wahl am 29. September liegt die FPÖ seit Monaten vorn. Das Szenario einer von der FPÖ geführten Regierung unter Bundeskanzler Herbert Kickl ist insofern nicht ganz abwegig – aber ist es auch realistisch? Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP, der seit 2021 gemeinsam mit den Grünen regiert, nennt Kickl „rechtsextrem“ und hat eine Koalition mit dem Vorsitzenden der FPÖ kategorisch ausgeschlossen – mit der FPÖ als Partei dagegen nicht. Dass der selbst für sozialdemokratische Verhältnisse sehr weit links stehende SPÖ-Vorsitzende Andreas Babler ein Bündnis mit Kickl eingehen würde: kaum vorstellbar. Und ein rechnerisch ebenfalls mögliches Dreierbündnis aus FPÖ, Grünen und den liberalen Neos ist eben nur das: eine rein rechnerische Option. Dass Kickl nach der Wahl Bundeskanzler wird, ist insofern nicht sehr wahrscheinlich, ausgeschlossen ist es nicht. Beobachter gehen davon aus, dass Österreich von Oktober an ein schwieriger und extrem langwieriger Regierungsbildungsprozess bevorsteht. Dabei kommt dem Bundespräsidenten, der im österreichischen System mit deutlich mehr Macht ausgestattet ist als im deutschen, eine zentrale Rolle zu. Bei der Regierungsbildung ist er allein Herr des Verfahrens. Er entscheidet frei, wen er mit der Regierungsbildung beauftragt und zum Bundeskanzler ernennt. Vom Parlament gewählt werden muss der österreichische Bundeskanzler dagegen nicht. In der Praxis war es bisher üblich, den Vorsitzenden der stärksten Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen und bei erfolgreicher Partnersuche auch zum Bundeskanzler zu ernennen. Alexander van der Bellen, der das Amt des Bundespräsidenten seit 2017 ausübt, hat allerdings – bewusst oder unbewusst – mehrfach Zweifel gesät, ob er an dieser Praxis auch im Fall eines Wahlsiegs der FPÖ festhalten würde. Täte er es nicht, hätte dies unter Umständen eine ernste Verfassungskrise mit ungewissem Ausgang zur Folge. Zu den Unwägbarkeiten der kommenden Monate zählt auch, dass die Protagonisten des Wahlkampfes von heute nicht zwingend auch die Protagonisten der Regierungsbildung von morgen sein müssen. Ein Ergebnis, das deutlich hinter den Erwartungen der jeweiligen Partei zurückbleibt, könnte an mehreren Stellen für wackelnde Stühle sorgen. Keineswegs ausgeschlossen also, dass Herbert Kickl im Oktober ganz anderen Verhandlungspartnern gegenübersitzt als jenen, die einer Zusammenarbeit bisher eine Absage erteilt haben. Womit wir beim Vergleich zwischen österreichischen und deutschen Rechtspopulisten wären. Widerspruch zu diesem Vergleich wird in Österreich üblicherweise mit dem Verweis auf die Einstufung der AfD als „rechtsextremistischer Verdachtsfall“, einzelner Landesverbände als „gesichert rechtsextrem“ begründet. Dass eine solche Einstufung für die FPÖ nicht existiert, hat allerdings bei genauerem Hinsehen mehr mit den Unterschieden in der Arbeitsweise des österreichischen und deutschen Verfassungsschutzes zu tun und weniger mit Unterschieden zwischen den beiden Parteien. Eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Wien in Auftrag gegebene Studie zum Vergleich zwischen AfD und FPÖ kommt deshalb auch zu dem Ergebnis, dass die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien deutlich größer sind als die Unterschiede. In den wiederkehrenden innerparteilichen Konflikten der jüngeren Vergangenheit haben sich hier wie da die jeweils radikaleren Akteure durchgesetzt. Die Positionen beider Parteien zu Migration und EU sowie das Ausmaß des Populismus unterscheiden sich kaum, und beide Parteien nehmen innerhalb ihres Parteiensystems hierbei die jeweils radikalste Position ein. Beide Parteien zeigen eine offene Affinität für rechtsautoritäre Regierungen anderer Staaten sowie eindeutige personelle Überschneidungen mit dem rechtsextremen Milieu. Dort, wo Unterschiede im Hinblick auf Programmatik und Wählerstruktur zutage treten, sind sie in der Regel marginal und lassen sich wohl vor allem darauf zurückführen, dass es der FPÖ im Unterschied zur AfD gelungen ist, sich als weitgehend „normaler“ Akteur im österreichischen Parteiengefüge zu etablieren. Hier liegt denn auch der tatsächlich gravierende Unterschied zwischen Österreichs FPÖ und Deutschlands AfD: im gesellschaftlichen Umgang mit der jeweiligen Partei. Während die AfD in Deutschland bis heute ein Paria-Dasein fristet, ist die FPÖ in Österreich längst salonfähig geworden. Während die AfD trotz immer größerer Zustimmung an den Wahlurnen, vor allem im Osten Deutschlands, nach wie vor von jeder Regierungsbildung ausgeschlossen wird, kann die FPÖ auf mittlerweile jahrzehntelange Beteiligung an Landes- und Bundesregierungen zurückblicken. An all das, was im deutschen Diskurs rund um die AfD nach wie vor für helle Aufregung sorgt, hat man sich in Österreich weitgehend gewöhnt. So unterschiedlich der österreichische Umgang mit der FPÖ im Vergleich zum deutschen Umgang mit der AfD ist, so ähnlich und damit ernüchternd ist das Ergebnis. Die Entdämonisierung der FPÖ hat jedenfalls genau so wenig zum Erfolg geführt wie die Dämonisierung der AfD. Im fortwährenden Streit um den richtigen Umgang mit der rechtspopulistischen Herausforderung liefern deshalb weder das deutsche noch das österreichische Beispiel ein Patentrezept. Beide Fallbeispiele zeigen jedoch, dass Parteien wie FPÖ und AfD mit unterkomplexen Strategien wie Einbindung oder Ausgrenzung allein nicht beizukommen ist. Die im Text erwähnte Studie „Nicht gleich, aber sehr ähnlich! Die Alternative für Deutschland (AfD) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ): Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier rechtspopulistischer Parteien“ wurde vom Autorenteam Dr. Eric Miklin, Dr. Martin Dolezal und Prof. Dr. Reinhard Heinisch (PhD) von der Universität Salzburg im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung Wien verfasst.
Sebastian Enskat
Die rechtspopulistische FPÖ unter Führung von Herbert Kickl könnte bei der anstehenden Nationalratswahl stärkste Partei werden. Vergleiche zwischen der FPÖ und der AfD drängen sich auf. Was verbindet diese Parteien?
[ "Österreich", "AfD", "FPÖ" ]
außenpolitik
2024-09-25T11:05:15+0200
2024-09-25T11:05:15+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/nationalratswahlen-in-osterreich-wird-osterreichs-bjorn-hocke-kanzler
Türkischer Militärgruß - Fans für den Feldzug
Der Torjubel von Fußballern hat sich mittlerweile zu einem eigenen Genre entwickelt. Da werden nach erfolgreichen Torschüssen pantomimisch Babys geschaukelt, Herzen verteilt, die Säge rausgeholt, Saltos gesprungen oder Comic-Helden imitiert. Jetzt haben die Spieler der türkischen Nationalmannschaft bei ihren jüngsten Länderspielen eine politische Aktion daraus gemacht: Sie salutierten in Reih' und Glied, so wie in der Armee üblich. Es war ein solidarischer Gruß an die türkischen Truppen, die wenige Tage zuvor in Nordsyrien einmarschierten. Für alle Sportfreunde und Gegner dieser Invasion war das eine Provokation. Fußball sei unpolitisch, ist oft das Argument. Das ist eine berechtigte, aber auch naive Aussage, denn der Sport und vor allem der kommerzielle Fußball sind auch Faktoren der nationalen Identitätsstiftung geworden. Dass sich der Fußballverband nun mit diesem Regelverstoß beschäftigt und ihn vielleicht sanktioniert, ist reine Symbolpolitik. Aber was steckt hinter dem Salut der Nationalspieler? Der Gruß der Spieler zeigt beispielhaft, was unter türkischer Identität verstanden wird. Kemal Atatürk, vor fast hundert Jahren der Begründer der Republik Türkei, und auch seine Nachfolger im Präsidentenamt haben dem Land eine bürgerliche, säkulare Verfassung gebracht. Aber sie haben die Türkei auch nach militärischen Prinzipien organisiert: An der Spitze steht der Oberbefehlshaber, dem die Industrie, die Landwirtschaft, das Erziehungs- und Bauwesen bereitwillig folgen. Die Herrschaft des Militärs begann erst im Jahre 2002 zu bröckeln, als der jetzige Präsident Erdogan an die Macht kam. Diese Entwicklung endete vorerst mit dem gescheiterten „Putsch“ im Jahr 2016. Die Mentalität eines soldatischen Gehorsams, bei gleichzeitiger Überhöhung der eigenen Stellung, grub sich im Laufe der Zeit tief in das türkische Selbstverständnis ein. Selbst der wöchentliche Fahnenapell an den Schulen wird wie ein militärisches Ritual inszeniert. Deshalb hält wohl auch der türkische Botschafter in Deutschland, Ali Kemal Aydin, Kritik am militärischen Gruß für ungehörig, denn die Nähe zum Militär gehört zum republikanischen Verständnis der Türkei. Dies zu kritisieren, grenze „wirklich an Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus“, so Aydin. Der Salut der Fußballer ist auch ein Ausdruck der breiten Zustimmung der türkischen Bevölkerung bezüglich der Invasion in Syrien, dessen Ziel es sein soll, die syrischen Flüchtlinge umzusiedeln und gleichzeitig zu verhindern, dass sich ein selbstverwaltetes kurdisches Gebiet, ein kurdischer Staat, etabliert. Auch wenn es in Deutschland kaum vorstellbar ist, eint Erdogan mit der Militäraktion die meisten Türken: Alle Parteien, von den MHP-Faschisten über die Islamisten der AKP, bis zu der republikanischen CHP haben dem Einmarsch zugestimmt. Die einzige Partei, die nicht dabei ist, ist die von Kurden dominierte HDP. Die Invasion mag die Mehrheit Türken hinter Erdogan, dem Kämpfer für die Sache Gottes, eine Zeit sammeln. Das Volk der Türkei könnte aber trotzdem tiefer denn je gespalten werden. Denn die Kurden, fast 15 von über 80 Millionen Staatsbürgern, werden von diesem Gemeinschaftsgefühl ausgeschlossen. Es sind Kurden, gegen die in Syrien gekämpft wird, es sind die Kurden, die verjagt werden sollen. Dies ist ein politischer und militärischer Feldzug gegen ihre Bestrebungen, einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. Der Gründer der republikanischen Türkei, Kemal Atatürk, wollte die Völker Anatoliens – die Griechen, Türken, Armenier, Tscherkessen, oder Kurden – unter einer Flagge vereinen. Der Preis war die Vertreibung und Unterdrückung derjenigen, die sich nicht fügten. Geeint hat es das Land damals nicht. Die Mehrheit der Kurden hat sich nicht, wie die Tscherkessen, zur Türkei bekannt. Denn viele Kurden glaubten damals an Atatürks Zusage, ihr Volk würde Autonomie erhalten – doch sie wurden enttäuscht. Viele lebten weiter in ihren Stammesstrukturen, wandten sich gegen Reformen der Republik. Eine separatistische Gruppe von Kurden radikalisierte sich und bildete die PKK, ein gefährliches Organ der kurdischen Identität. Die Abneigung ging so weit, dass die Kurden einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat führten. Von der Türkei selbst kam meist auch nur Misstrauen und Antipathie. Dass Erdogan jetzt nach der islamischen Karte, die nationalistische Karte spielt, zeigt wie dünn der Firnis der Einheit ist. Wenn sich jetzt die türkische Öffentlichkeit einig ist, dass die Kurden aus der Grenzregion in Nordsyrien vertrieben werden müssen, um das eigene Land vor Terror zu schützen, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist der Wunsch im Land, dass die ehemals als „Brüder und Schwestern“ begrüßten und nun für viele zur Belastung gewordenen Syrer auf Kosten der in Nordsyrien lebenden Kurden umgesiedelt werden sollen. Dann hätte Präsident Erdogan mit der Militäroffensive zwei Probleme auf einmal gelöst.
Necla Kelek
Mit exzessiv zur Schau gestellten Militärgrüßen kehrt ausgerechnet unter Recep Tayyip Erdogan die Symbolik soldatischen Gehorsams zurück. Tatsächlich war das militärische Moment der Türkei nie wirklich weg. Aber der türkische Präsident schürt bewusst einen provozierenden Nationalismus
[ "Kurden", "Türkei", "Erdogan", "Syrien", "Fußball" ]
außenpolitik
2019-10-18T12:39:44+0200
2019-10-18T12:39:44+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/militaergruss-tuerkei-salut-kurden-syrien/plus
Ablösung von BND-Chef Gerhard Schindler - Der Mann, der den Geheimdienst öffnete
BND-Chef Schindler muss gehen. Im Kanzleramt ist diese Entscheidung gefallen. Warum, das muss dort weder intern noch öffentlich erläutert werden. Denn Gerhard Schindler ist ein politischer Beamter. Er kann ohne Angabe von Gründen in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Schindler kann sich dagegen nicht wehren. Aber er kann sich weigern, freiwillig zu gehen. Nach Informationen von Cicero ist ihm nahegelegt worden, zurückzutreten. Mit 63 Jahren und nach einigen Wochen, die er jüngst krankgeschrieben war, hätte er leicht gesundheitliche Gründen dafür anbringen können. Aber das will er nicht. Schindler ist Fallschirmspringer. Doch er springt diesmal nicht auf Kommando, sondern wartet, bis er gestoßen wird. Gut möglich, dass die Regierung seine Gesundheit – zumindest intern – als Grund nennt. Die Süddeutsche Zeitung, die als erste vom anstehenden Abgang Schindlers schrieb, nannte eine „Kombination unterschiedlicher Ursachen“: Der NSA-Untersuchungsausschuss habe offenbart, dass einige Referate im Dienst ein Eigenleben geführt hätten. Es sei zu Mängeln bei Kontrolle und Aufsicht gekommen, was zwar schon bei früheren Präsidenten ähnlich gewesen wäre. Doch habe man nun eine Zäsur für notwendig gehalten. Denn der volle Umzug des größten Teils des BND von Pullach und auch innerhalb der Hauptstadt steht bevor. Bis jetzt sind im mächtigen Neubau in Berlin-Mitte, in dem am Ende 6000 Menschen arbeiten sollen, erst einige wenige Abteilungen eingezogen. Der BND solle fortan auch verstärkt auf Cybersicherheit setzen. Hinzu kommt, dass für dieses Jahr noch ein neues BND-Gesetz geplant ist. Darauf haben sich Regierung und Opposition bereits im November grundsätzlich geeinigt. Der Geheimdienst soll reformiert und durch einen voraussichtlich hauptamtlichen Beauftragten besser kontrolliert werden. Ein Neuanfang durch und durch also, für den Schindler nicht mehr als der richtige Mann gesehen wird. Wegen des Prism-Skandals und der NSA-Affäre stand er vor drei Jahren unter Beschuss. Doch da war er noch der Neue, im Amt erst seit 2012, der hier vor allem mit den Säumnissen und Altlasten seiner Vorgänger aufräumen musste. Der Volljurist widerstand dem Druck und wurde, obwohl seit Studientagen FDP-Mitglied, auch nach der Abwahl von Schwarz-Gelb nicht ausgewechselt. Vor einem Jahr jedoch wurde der BND ungewöhnlich scharf vom Kanzleramt attackiert, und das auch noch öffentlich. Der Dienst wurde angewiesen, „technische und organisatorische Defizite“, wie damals Regierungssprecher Seibert sagte, „unverzüglich“ zu beheben. Der amerikanische Geheimdienst, so der Verdacht, habe dem deutschen Partnerdienst jahrelang IP-Adressen und Handynummern geliefert. Und der BND habe diese offenbar gutgläubig und gezielt in seine Systeme zur Überwachung des Globus eingespeist. Denn der BND ist ein reiner Auslandsgeheimdienst. Den Amerikanern sei es aber darum gegangen, auf diese Weise selbst Informationen über Freunde zu bekommen, etwa über den Rüstungskonzern EADS, über das Unternehmen Eurocopter oder über französische Behörden. Erst als 2013 die Ausmaße der Spionage der NSA auch in Deutschland deutlich wurden, soll der BND diese Adresslisten, die sogenannten Selektoren, einmal genauer geprüft, die Erkenntnisse aber nicht ans Kanzleramt weitergeleitet haben. Schindler überstand als Zeuge in einem Untersuchungsausschuss. Doch gegenseitiges Misstrauen zwischen dem B-9-Beamten und seinen Weisungsbefugten im Kanzleramt scheint geblieben zu sein. Beim BND selbst wird der Chef loyal verteidigt als derjenige, der sich an die „Spitze der Aufklärung“ im eigenen Haus gestellt habe. Unbestreitbar hat Schindler die Phase der Öffnung des BND begonnen. „No risk, no fun“, das nannte er als sein Motto zum Einstieg, was vielen etwas zu lässig erschien. Damit meinte Schindler jedoch, dass der BND operativer, sprich: mutiger als bisher auch in terroristische Netzwerke einsteigen müsse, um zu wissen, was dort geschieht. Mehr Mut zum Risiko, das wird wohl bleiben von ihm, sozusagen als Vermächtnis. Als zweites: bessere Technik. Schindler hat erreicht, dass der traditionell als etwas verschnarcht geltende BND bis 2020 300 Millionen Euro in neueste Technik für seine Informationsbeschaffung investieren darf. Der dritte Punkt ist mehr internationale Zusammenarbeit. Beim BND wird stolz darauf hingewiesen, dass man mit 451 Nachrichtendiensten in 167 Staaten zusammenarbeite. Solcher Austausch bewährt sich in Krisenfällen, etwa wenn Deutsche im Jemen entführt oder anderswo bedroht oder verschollen sind. Da spielt dann keine Rolle, ob die Helfer Geheimdienste lupenreiner Demokratien sind oder nicht. Schindlers sichtbarste Maßnahme jedoch war: mehr Transparenz schaffen. Sein Ziel lautet, dass der Bundesnachrichtendienst eine wichtige Institution in der Demokratie ist und sich nicht dafür schämen solle, was er treibt. Also: Raus aus dem Verborgenen, soweit das geht bei einem Geheimdienst. Außenstellen wurden „de-legendiert“, wie das amtlich heißt. Schilder, auf denen irgendwelche Pseudo-Institute standen, wurden abgeschraubt und ersetzt. Dort steht nun „BND“. Es soll auch für die Mitarbeiter keine Tarnnamen und zweite Identitäten mehr geben. Auch sollen seit Schindler immer mehr Menschen über die Arbeit des BND informiert werden. Als er vor vier Jahren begann, gab es ganze zwölf Vorträge vor Besuchergruppen im Übergangsdienstsitz des BND in Berlin-Lichterfelde. Im letzten Jahr waren es 270. In Berlin-Mitte wird nun eigens ein Besucherzentrum gebaut. Dort erfahren die Bürger dann von freundlichen Öffentlichkeitsmitarbeitern: Der BND arbeite nicht für den Panzerschrank, sondern als Dienstleister für Regierung wie Opposition. Hunderte Berichte im Monat würden erstellt über die Hintergründe der Krisen dieser Welt. Das wird auch ohne Schindler so weiter laufen. Sein Nachfolger soll Bruno Kahl werden, Volljurist wie Schindler und derzeit Abteilungsleiter im Bundesfinanzministerium. Er war schon ein enger Vertrauter von Wolfgang Schäuble, als der noch Bundesinnenminister war. Aus dieser Zeit kennt ihn auch noch Schäubles einstiger Staatssekretär Peter Altmaier. Und der kann nun als Kanzleramtschef Schindlers Nachfolger ernennen.
Wulf Schmiese
Kolumne: Leicht-gesagt. BND-Chef Gerhard Schindler wird abgelöst. Zuvor hatte die Bundesregierung ihm nach Cicero-Informationen einen freiwilligen Rücktritt nahegelegt. Was wird bleiben vom Mann an der Spitze des Nachrichtendienstes?
[ "Gerhard Schindler", "BND", "Rücktritt", "Bundesnachrichtendienst" ]
innenpolitik
2016-04-27T09:57:13+0200
2016-04-27T09:57:13+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/ruecktritt-von-bnd-chef-gerhard-schindler/60835
Pressekonferenz des Gesundheitsministers - Jens Spahn: Ab nächster Woche wird BioNTech rationiert
„Diese Woche wird noch alles, was an BioNTech-Impfstoff bestellt wurde, an die Ärzte ausgeliefert. Ab der kommenden Woche müssen wir die Lieferungen vorübergehend begrenzen.“ Das sagte der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Montag auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz in Berlin. Spahn hält dies aber „nicht für die entscheidende Botschaft“. Viel wichtiger sei doch, dass „insgesamt“ ausreichend sehr guter und wirksamer Impfstoff zur Verfügung stehe. Dies und nichts anderes gelte es ab sofort, nach den verwirrenden Informationen vom Wochenende, „gemeinsam zu kommunizieren“. Der Minister erwartet von den Journalisten, ihn in seinem Bemühen zu unterstützen, der Frage „BioNTech oder Moderna?“ die Schärfe zu nehmen und der ganzen Angelegenheit medial einen neuen Dreh zu geben. Überhaupt gelte doch: „Wenn BioNTech der Mercedes ist unter den Vakzinen, dann ist Moderna der Rolls-Royce. So muss man das doch sehen!“. Er „spüre“ ja den Ärger der Ärzte, „das ist ja auch okay“. Bis vor einer oder zwei Wochen sei die Nachfrage nach Booster-Impfungen aber noch „sehr, sehr verhalten gewesen“. Dass diese nun nach dem Start der eigenen Booster-Kampagnen so stark angezogen habe, mit Bestellungen von sechs Millionen Dosen innerhalb von 14 Tagen, sei nicht vorherzusehen gewesen. Er begrüße das natürlich sehr – nur führe das eben nun zu Einschränkungen bei der Auswahl. Spahn: „Wir halten nichts zurück. Alles, was wir haben, liefern wir auch aus.“ Der amtierende Minister deutete eine gewisse Mitschuld der Ärzte an der entstandenen Mangelsituation an. Diese neigten – ohne dass er diese Formulierung verwendet hätte – ein wenig zum Hamstern. Dadurch entstehe jetzt „ein gewisser Puffer“; die Kühlschränke würden gefüllt. Auch die Medien hätten, so Spahns zweite Andeutung, wohl nicht richtig zugehört, als er selbst am Freitag „proaktiv“ angekündigt habe, nun müsse aber auch verstärkt Moderna verabreicht werden. Auf Nachfrage wurde in der Pressekonferenz allerdings bestätigt, dass es bei der Empfehlung bleibe, Unter-30-Jährigen ausschließlich BioNTech zu spritzen. Hintergrund sind Studien, die für junge Leute bei Verwendung von Moderna ein leicht erhöhtes Risiko von Herzentzündungen anzeigen. Trotzdem gelte: „Es ist genug für alle da. Insgesamt werden für Deutschland bis Jahresende 50 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen.“ Zu Berichten, nach denen der Mainzer Hersteller Biontech SE der Bundesregierung am Wochenende erhebliche außerplanmäßige Zusatzlieferungen angeboten habe, äußerte sich Jens Spahn ausweichend. Er wolle jetzt nicht neue Zahlen in die Welt setzen und die Verwirrung dadurch noch vergrößern. Sein Haus sei mit der Firma aber „dauernd im Gespräch“. Von einer staatlichen Impfpflicht will der geschäftsführende Gesundheitsminister, wie er betonte, nach wie vor nichts wissen. Sollte allerdings die künftige Regierungskoalition ein entsprechendes Gesetz in den Bundestag einbringen, werde er sich nicht verweigern, sondern noch vor dem Regierungswechsel einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten lassen und zur Verfügung stellen. Er persönlich sehe Impfen als „moralische Verpflichtung“. Es gebe, so Spahn, eine „solidarische Pflicht, sich impfen zu lassen“. Impfen sei keine Frage, die nur einen selbst etwas angehe. Professor Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, ergänzte, er habe für den Streit um den richtigen Impfstoff keinerlei Verständnis: „Verglichen mit der Lage in vielen anderen Ländern der Welt leben wir hier im Schlaraffenland.“
Jens Peter Paul
Gesundheitsminister Jens Spahn scheint über den Erfolg seiner eigenen Impfkampagne verwundert zu sein. Auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz verkündete er, dass das Vakzin von BioNTech ab kommender Woche rationiert werden muss. Einer Impfpflicht erteilt er nach wie vor eine Absage, hält es aber für eine „moralische Pflicht“, sich impfen zu lassen.
[ "Impfstoff", "Jens Spahn", "Covid-19", "Corona", "Biontech", "Moderna" ]
innenpolitik
2021-11-22T13:07:36+0100
2021-11-22T13:07:36+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/pressekonferenz-des-gesundheitsministers-jens-spahn-ab-nachster-woche-wird-biontech-rationiert
Fifa-Kritiker: - „Das ist das Cosa-Nostra-Prinzip“
Der Investigativjournalist Jens Weinreich sieht klare Anzeichen für Bestechung bei der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 in Katar. „Alle Indizien weisen darauf hin, dass wir es mit millionenschwerer Korruption in einem nie da gewesenen Maße zu tun haben“, sagte er Cicero und schloss sich damit dem kritischen Aufruf von elf Prominenten in der Oktober-Ausgabe des Magazins an. Man müsse davon ausgehen, dass sich die Fifa-Verantwortlichen „die Weltmeisterschaften erkauft haben“, sagte der Cicero-Autor Weinreich, der für seine Recherchen zahlreiche Auszeichnungen erhielt, unter anderem den Wächterpreis der Deutschen Tagespresse, den Grimme Online Award für seinen Korruptionsblog und den Titel „Sportjournalist des Jahres“ 2013. Die Fifa vergleicht er mit einer mafiösen Familie. „Das ist das Cosa-Nostra-Prinzip: Du folgst dem Familienoberhaupt, du schweigst und unterdrückst deine Meinung.“ Hier gebe es keine Debatte. Alle, die bei der Fifa mit drin hingen, seien Nutznießer des Systems, erklärte Weinreich. Das sei ein in Beleg dafür, warum sich niemand öffentlich äußern wolle. „Jeder denkt: Wie könnte mir das vielleicht langfristig schaden?“ Die Generationenherrschaft bei der Fifa mache für Weinreich deutlich: „Bist du einmal dagegen, bist du für immer raus. Die Sportler halten sich deshalb doppelt zurück, auch weil sie sich denken: Was geht mich das an? Dabei kann gerade diese Debatte, auf die die Welt jetzt drei Jahre lang geschaut hat, an niemandem spurlos vorbeigegangen sein, der auch nur ab und zu Medien konsumiert.“ Fifa-Präsident Sepp Blatter will Ende Mai für eine fünfte Amtsperiode kandidieren. Er ist seit 1998 Fifa-Chef. Bislang lehnt er es ab, den Ermittlungsbericht der Ethikkommission zu den Korruptionsvorwürfen zu veröffentlichen. Cicero sammelt weitere Stimmen gegen die Fifa und die WM in Russland und Katar. Wenn Sie sich den Kritikern anschließen möchten, schreiben Sie uns unter [email protected]. Die Redaktion behält sich eine Veröffentlichung vor. In der Oktober-Ausgabe des Cicero schildert Jens Weinreich die Geschichte hinter dem Fifa-Korruptionsskandal. Die digitale Ausgabe des Magazins für politische Kultur erhalten Sie ab sofort bei iTunes (iPad-App) oder im Online-Kiosk. Das gedruckte Heft erhalten Sie am Kiosk.
Cicero-Redaktion
Millionenschwere Korruption, ein Präsident, der an seinem Stuhl klammert: Cicero-Autor Jens Weinreich bezeichnet die Fifa als „mafiöse Familie“. Das System halte sich, weil alle schweigen und mitmachen
[]
innenpolitik
2014-10-02T15:06:27+0200
2014-10-02T15:06:27+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/recherchejournalist-jens-weinreich-bei-der-fifa-herrscht-das-cosa-nostra-prinzip
Aufstehen - Die Sitzgruppe einer Bewegung
Ausgerechnet der seit Wochen angekündigte Start der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ geriet zu einer außerordentlich statischen Veranstaltung. Das mag zunächst am Setting gelegen haben. Wie üblich bei solchen Veranstaltungen nahmen die Protagonisten nebeneinander auf dem Podium im Haus der Bundespressekonferenz Platz und blieben dort auch sitzen. Den fünf von ingesamt 80 Initiatoren wiederum saß die versammelte Hauptstadtpresse gegenüber. Und man fühlte sich wie in einem altbekannten Loriot-Sketch: Ganz so als wollte man nun die Linken-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht, den Theatermacher Bernd Stegmann, die Flensburger SPD-Oberbürgermeisterin Simone Lange, den Grünen-Poliker Ludger Volmer und den Kommunikationsstrategen Hans-Michael Albers eindringlich auffordernd fragen: „Was macht ihr da?“ Im Sketch antwortet der genervte Ehemann seiner Frau: „Ich sitze hier“, woraufhin sie ungläubig zurückfragt: „Du sitzt da?“, und weiter: „Es könnte ja nicht schaden, wenn du mal etwas spazieren gingest!“ Nein, er wolle einfach nur da sitzen, entgegnet der Mann. Auch wenn der Vergleich nicht ganz fair ist, ein Bewegungs-Programm bietet sich aber nunmal zur Steilvorlage, vor allem, wenn sie so konsquent zelebriert wird. Die Journalisten fragten also: Möchtet ihr irgendwann doch eine Partei sein? Nein. Möchtet ihr Aktionen gegen Rechts in Chemnitz machen? Nein. Möchtet ihr nicht mehr konkrete Forderungen zur Flüchtlignspolitik äußern? Nein. Ein wenig trug die Veranstaltung dann auch Züge einer Talkshow mit den üblichen Verdächtigen. Stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges stellte seine pointierten Fragen vor allem an Sahra Wagenknecht, und die parierte gewohnt, weil sie wissen konnte, in welche Richtung das geht. Und so wirkte es unfreiwillig so, als würde Jörges erst dann aufhören zu fragen, warum Wagenknecht denn nicht in Chemnitz gewesen sei, wenn sie aufstehen und zugeben würde: Sie haben recht, eigentlich wollte ich die rassistischen Ausfälle durch mein Fernbleiben gutheißen. Auch wenn sich die Bewegung nicht explizit zu Chemnitz geäußert hatte. Im Gründungsaufruf heißt es dennoch unmissverständlich: „Wir lehnen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass ab.“ Insofern wirkt die geäußerte Kritik der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock einigermaßen haltlos. Sie hatte gesagt: „Und gerade diejenigen, die jetzt ein „Aufstehen“-Bündnis initiiert haben, die standen dort leider nicht auf der Straße. Und deswegen ist das auch nicht mein Bündnis.“ Ein Geschmäckle bleibt dennoch, denn zwar sollen einige der Initiatoren tatsächlich in Chemnitz gegen Fremdenhass auf die Straße gegangen sein. Aber eben nicht die sonst omnipräsenten Spitzenpersonen Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Man will offenbar nicht mit derlei Auftritten verschrecken. Zu groß die Angst vor dem Eindruck, man stelle alle in eine rechte Ecke. Und es mag stimmen, wenn es eines der erklärten Hauptziele von „Aufstehen“ ist, Sympathisanten von Pegida oder Wähler der AfD zurückzugewinnen, dann muss die Bewegung wohl eine Balance schaffen. Das heißt, auch Teilnehmer von Demonstrationen mit problematischer Neonazi-Klientel nicht vorab als ebenso schlimme Mitläufer auszuschließen, sondern sie einzuladen, sich in der Bewegung zu engagieren und für eine andere Sozialpolitik zu kämpfen. Zuerst das eine, sagte Sahra Wagenknecht, und wenn das gelänge, würde auch wieder Bereitschaft entstehen, eine Flüchtlingspolitik zu gestalten. Man kann sich vorstellen, wie es die Initiatoren innerlich zerreißen mag bei diesem Spagat auf schmalem Grat. Aber eben jene Inhalte einer konsequenteren Umwelt- Friedens- und Sozialpolitik blieben ausgerechnet zum Start von „Aufstehen“ unkonkret und erst recht deren Finanzierung. Das Konkrete – es soll sich erst allmählich durch die bislang rund 100.000 angemeldeten Gründungsmitglieder, wie Wagenknecht die Angemeldeten bezeichnete, manifestieren, unter anderem mithilfe eines Online-Diskussions-Tools namens Polis, das stark an das basisdemokratische System „Liquid Democracy“ von der Piratenpartei erinnert. Eine Art „Parlament, das alle einlade“, soll Polis sein. Und so blieb es vor allem bei Appellen: Schluss mit dem gemütlichen Privatleben, sagte der Grüne Ludger Volmer über seine eigene Motivation. Es müsse wieder mehr Resonnanz geben und mehr Zuhören, weil alle nur noch senden statt auch mal empfangen würden, sagte der Kommunikationsstratege Hans-Michael Albers. Man müsse so viel Druck erzeugen, dass sich die Parteien endlich inhaltlich bewegen, sagte Sahra Wagenknecht. Am Ende, so wirkt es jedenfalls momentan, könnte die Bewegung schlicht daran scheitern, dass sie zu wenig Radikales fordert, insbesondere hinsichtlich europäischer Lösungen, wie sie Macron ins Zentrum seiner Bewegung stellte. Stattdessen ergeht man sich in altbekannten Plattitüden aus dem Wagenknecht'schen Satzbaukasten, wie etwa der Schuld „der Konzerne“. Dies müssen zwar nicht zwingend falsche Diagnosen sein, aber es braucht eben auch umsetzbare und vermittelbare Lösungen, die zudem von Menschen als glaubwürdig bewertet werden und dann vielleicht massentauglich verfangen. Was Linkspartei, SPD und Grüne nicht mehr schaffen soll also die Bewegung richten? Dieser bleibt vorerst nur das Hoffen auf rege Beteiligung, die über das bloße Anmelden auf der Plattform hinausgeht. Der Theatermacher Bernd Stegemann bemerkte schließlich zwar authentisch, aber eben dann doch etwas schlaff , dass er auch noch einen Job und anderes zu tun habe und er nicht wisse, wie lange er das mit der Bewegung mitmache, wenn es nicht funktioniere. Dann lehnte er sich zurück und verdrehte gespielt genervt die Augen. Ein kleiner Höhepunkt war zumindest für die Hauptstadtfotografen jener Moment, als Simone Lange enagiert ins Mikro sprach, wie gut man es in Flensburg hinbekäme, dass die AfD sich nicht einmal traue, dort ein Kreisbüro zu eröffnen. Dabei ballte sie leicht ihre linke Faust. Sofort richteten die Journalisten ihre Kameras auf diese Geste. Klick. Klick Klick. Etwas Bewegung war dann eben doch. Nach gefühlten drei Stunden stand man sogar auf und ging. Wohin, entscheidet die Basis.
Bastian Brauns
Es sollte der fulminante Startschuss der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ sein. Dass ausgerechnet eine Pressekonferenz Euphorie für diese Idee entfachen sollte, war vermessen. Für einen echten Ruck war das zu wenig
[ "Aufstehen", "#aufstehen", "Sahra Wagenknecht", "Demokratie", "Sammlungsbewegung", "Oskar Lafontaine", "Bernd Stegemann" ]
innenpolitik
2018-09-05T15:12:22+0200
2018-09-05T15:12:22+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/aufstehen-bewegung-spd-sahra-wagenknecht-afd-pegida-chemnitz/plus
Ursprung des Coronavirus - Mit Gain-of-Function-Forschung ist die nächste Pandemie programmiert
In Sachen Corona gleicht der öffentliche Diskurs einem albtraumhaften Theaterstück. In Endlosschleife wird da etwas zutiefst Verstörendes aufgeführt. Der Saal ist dauerhaft verriegelt, das Grauen hat eine bösartige Tiefe, denn es handelt sich um ein postdramatisches Mitmachtheater, mit wechselnden Arbeitstiteln. „Die Pandemie der Ungeimpften“ erwies sich in Bezug auf die Aktivierung des Publikums als besonders erfolgreich. Kürzlich hieß das Stück nicht mehr „irgendwas mit ungeimpft“, sondern: „Das Geheimnis von Wuhan“. So nannte die Süddeutsche Zeitung (SZ) ihre in Zusammenarbeit mit der Zeit vollbrachte „Enthüllungsgeschichte“, wonach der Bundesnachrichtendienst (BND) seit 2020 davon ausgehe, dass das Coronavirus wahrscheinlich aus einem Labor stamme. Es scheint, die Mitmach-Energie der Zuschauer solle nun umgelenkt werden auf die „bösen Chinesen“. Denn, so heißt es im Artikel von SZ und Zeit, es gebe „neue Belege“, „dass die Chinesen über Grenzen gehen“. Experimente mit Mers-Viren, „noch gefährlicher als Sars-Coronaviren“, werden sorgenvoll erwähnt: „Kaum auszudenken, was ein Ausbruch einer Mers-Pandemie bedeuten würde.“ Das ZDF nickte dazu heftig und servierte in einem Bericht ein weiteres „Horrorszenario, das Amerikas Geheimdienste umtreibt“. Es geht um ein künstliches Virus, das nur bestimmte ethnische Gruppen angreifen könnte. „Genau damit beschäftigt sich nämlich eine Forschungsabteilung der Nationalen Universität für Verteidigungstechnologie Chinas seit Jahren“, erklärte das ZDF. Vor diesem Hintergrund titelte auch der Freitag gänzlich ironiefrei: „Ein Hoch auf den BND“ und verkündete, man könne „dem BND nur dankbar sein“, denn jetzt könne eine „Debatte über die Gefahr von Biowaffen losgehen“. Auch im Artikel von Zeit und SZ ist von einer „überlebenswichtigen Diskussion“ die Rede. All das ist groteske Heuchelei, denn die geforderte „Debatte“ findet seit Jahren statt, wird aber heftig bekämpft – politisch, wissenschaftlich, journalistisch. Als lächerlich gemachtes Hintergrundgeraune schafft sie es nur dann auf die Hauptbühne des öffentlichen Diskurses, wenn klar ist, dass die Schurken jenseits des Wertewestens zu suchen sind. Verhängnisvollerweise war es ausgerechnet die AfD, die in den letzten Jahren tatsächlich versuchte, die „überlebenswichtige Diskussion“ anzustoßen. Von der Linkspartei bis zur CDU und FDP beschworen alle anderen Parteien zwar den „Kampf gegen rechts“, überließen aber existenziell wichtige Sachthemen der Rechtsaußenpartei, was deren Attraktivität für viele Wähler erheblich gesteigert haben dürfte. Die AfD stellte seit 2021 mehrere kleine Anfragen an die Bundesregierung, die sich mit der sogenannten „Gain-of-function-Forschung“ und der Herkunft des Coronavirus beschäftigen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages definiert die Gain-of-Function-Forschung in einem Sachstandsbericht 2021 als „Teilbereich der biologischen Forschung“. Es kommen Experimente zum Einsatz, die Krankheitserreger „in Hinblick auf ihre Funktionsweise“ verändern – teilweise werden sie dadurch ansteckender oder tödlicher. Die AfD wollte nun in ihren Anfragen wissen, wie es mit der Anwendung, Regulierung und Finanzierung dieser Forschung in Deutschland aussieht. Die Bundesregierung antwortete zurückhaltend. Sie bestätigte: „Solche Untersuchungen finden auch in Deutschland statt (darunter auch an der Charité, Berlin).“ Möglicherweise würden Gain-of-Function-Experimente auch mit Bundesmitteln finanziert, aber über „die genaue Anzahl laufender und vergangener Projekte sowie über die ausführenden Forschungsinstitute liegen der Bundesregierung keine Informationen vor“, hieß es in einer ersten Antwort. Als die AfD genauer nachhakte, was die Bundesregierung über Gain-of-Function-Forschung in deutschen Hochsicherheitslaboren der höchsten Sicherheitsstufe (S4) wisse, antwortete die Bundesregierung, weder im entsprechenden Labor des Robert-Koch-Instituts (Berlin) noch des Friedrich-Loeffler-Institutes (Insel Riems) werde Gain-of-Function-Forschung betrieben. Auch im S4-Labor des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin (Hamburg) werde keine Gain-of-Function-Forschung durchgeführt, die darauf abziele, gefährlichen Erregern „zusätzliche oder erweiterte Fähigkeiten zu verleihen, die für den Menschen oder die Umwelt eine Gefahr darstellen könnten“. Die AfD hatte explizit auch nach Gain-of-Function-Forschung im vierten deutschen S4-Labor am Institut für Virologie an der Phillips-Universität in Marburg gefragt. Dazu schreibt die Regierung: nichts. Das ist interessant, denn in Marburg wird derzeit neben dem bereits seit 2007 bestehenden Hochsicherheitslabor ein neues, größeres gebaut – Kosten: rund 50 Millionen Euro. Die FAZ berichtete 2024 ehrfürchtig, in Marburg werde mit Viren gearbeitet, „die jeden zweiten Menschen umbringen, den sie infizieren“. Im Text ist etwa von Filoviren die Rede, die das Ebola- oder Marburg-Fieber verursachen können. Laut der FAZ bestätigt Stephan Becker, Direktor des Marburger Instituts für Virologie, dass dort „rekombinante Viren“ hergestellt würden. Auch die FAZ räumt ein: „Diese sogenannte Gain-of-Function-Forschung ist heikel.“ Doch Becker beschwichtigt: Die Experimente würden „nicht unbedingt“ zu einer Veränderung der Infektiösität führen. „Ungefähr 95 Prozent der Gain-of-Function-Forschung hat nichts mit der Pathogenität zu tun“, erklärt Becker. Laut FAZ werbe er dafür, „Impfstoffe gegen potentiell hochgefährliche Erreger auch dann bis zur Einsatzreife zu entwickeln, wenn es gerade keine Ausbruch gebe“. Die FAZ hält fest, es sei „unerlässlich, die Eigenarten bestimmter Virengruppen im Detail zu verstehen“, um schnell auf neue Varianten reagieren zu können. Das sieht Roland Wiesendanger ganz anders. In einem auf YouTube abrufbaren ausführlichen Gespräch erteilt der Hamburger Nanophysik-Professor Anfang März dem Argument, mit der Gain-of-Function-Forschung lasse sich das Pandemiepotenzial erforschen und dadurch Prävention betreiben, eine Abfuhr. „Es ist im Prinzip genau so, wie wenn Sie mit einem Brandwerfer durch eine Scheune gehen, um das Brandpotenzial aufzuzeigen“, sagt er. Aus seiner Sicht dürfe die Gain-of-Function-Forschung mit pandemiefähigen Erregern „nicht länger als reine Grundlagenforschung“ angesehen werden. Es handele sich vielmehr um eine „Verletzung der internationalen Biowaffenkonvention“. Aus dieser Sorge heraus tat Wiesendanger sehr früh das, was manche seit dem Bericht zum „Geheimnis von Wuhan“ scheinheilig fordern, aber selbst nicht einlösen: Er stieß eine Debatte an. Im Februar 2021 veröffentlichte er nach einjähriger Forschung seine Studie zum aus seiner Sicht wahrscheinlichen Laborursprung des Coronavirus. Über der Pressemitteilung der Universität Hamburg stand: „Breit angelegte Diskussion als Ziel“. Doch nachdem der mögliche Laborursprung des Coronavirus – unter anderem vom Berliner Virologen Christian Drosten – öffentlichkeitswirksam und mit nachhaltigem Erfolg als „Verschwörungstheorie“ gebrandmarkt worden war, war eine sachliche Diskussion in den Medien nahezu unmöglich und erwies sich auch in der angeblich freien Wissenschaft als heikel. Wiesendanger wurde diffamiert. In besagtem Gespräch Anfang März redet er offen über die Zensur, mit der das Thema belegt sei. Er erwähnt nicht nur die sogenannten Twitter-Files, sondern erzählt auch, dass er seine Studie zum Laborursprung vor Veröffentlichung auch Virologen in Deutschland geschickt habe: „Da waren auch sehr berühmte dabei“, sagt Wiesendanger. Die Fachleute hätten ihm allesamt zurückgemeldet, mit seiner Studie sei „alles in Ordnung“, aber sie selbst „hätten dazu nichts sagen dürfen“. Ein Jahr später initiierte Wiesendanger die „Hamburger Erklärung“. Es handelt sich um einen „Aufruf zur weltweiten Beendigung der hoch risikoreichen ‚Gain-of-function‘-Forschung an Krankheitserregern mit weltweitem Pandemie-Potential“. Insgesamt 50 Forscher aus Deutschland, den USA, Österreich, Frankreich, Schweden, Belgien, Italien, Portugal, dem Vereinigten Königreich, Japan, Indien, Australien, Neuseeland und Puerto Rico unterzeichneten den Aufruf. „Kein Biotechnologielabor der Welt ist jedoch sicher genug, um einen Austritt solcher gentechnisch veränderter Viren garantiert ausschließen zu können“, heißt es in der Erklärung. Tatsächlich gibt es viele besorgniserregende Beispiele. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gibt lapidar zu: „In der Vergangenheit sind versehentliche Infektionen von Mitarbeitern von Hochsicherheitslaboren erfolgt (beispielsweise mit severe acute respiratory syndrome (SARS))“. Dem Virologen Christian Drosten wirft Wiesendanger vor, „mitten im Zentrum von Berlin“ riskante Gain-of-Function-Forschung mit Mers-Viren durchzuführen. Drosten koordiniert den RAPID-Forschungsverbund am Institut für Virologie der Berliner Charité („Risk Assessment in Prepandemic Respiratory Infectious Diseases“). Allerdings bestreitet die Charité, Experimente durchzuführen, „bei denen gezielt die Virulenz oder die Übertragbarkeit von Viren erhöht werden“, wie aus einer Antwort des Berliner Senats auf eine parlamentarische Anfrage im Jahr 2022 hervorgeht. Wiesendanger erwähnte im Gespräch Anfang März außerdem den verheerenden Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika, der „höchstwahrscheinlich“ durch „Missmanagement in einem Biolabor“ unter US-Aufsicht zustande gekommen sei. Independent Science News for Food and Agriculture schilderte den Fall und seine mutmaßliche Vertuschung durch namhafte Virologen und unsaubere Berichterstattung bereits 2022 ausführlich. Inzwischen halten sogar die USA die Regulierung und Aufsicht für unzureichend. Präsident Donald Trump unterzeichnete am 5. Mai eine Anordnung, um „gefährliche Gain-of-Function-Forschung“ zu „stoppen“. Die Anordnung verbietet unter anderem die staatliche Finanzierung von Forschung im Ausland, die „eine weitere Pandemie auslösen könnte“. Außerdem werden US-Behörden angewiesen, „Durchsetzungs- und Meldemechanismen“ zu erarbeiten, um eine bessere Kontrolle zu gewährleisten. In der Vergangenheit hätten Wissenschaftler die möglichen „gesellschaftlichen Schäden“ dieser Forschung nicht anerkannt und sich durch „subjektive Auslegung von Richtlinien (‚policies‘)“ der Aufsicht entzogen. Vor diesem Hintergrund erscheint es weder unvernünftig noch extremistisch, auch hierzulande „gefahrbringende Anwendungsbereiche der Virenforschung“ verbieten zu wollen. Just die AfD formulierte 2023 einen entsprechenden Verbotsantrag. Die Partei forderte, einen „klaren Kriterienkatalog“ zu entwickeln, „welche Form der Gain-of-Function-Forschung verboten und welche auch zukünftig erlaubt sein wird. Diese Kriterien müssen jegliche Form von Forschung, die die potenzielle Gefährlichkeit von Krankheitserregern erhöht, eindeutig und rechtssicher ausschließen“. Die Debatte dazu im Parlament hatte nicht viel mehr als die üblichen Reflexe zu bieten. Die AfD würde das „Tor für Verschwörungstheorien und Paranoia öffnen“ (Linke), es sei „unerträglich, wie jegliche Forschungsprozesse hier von Rechtsaußen infrage gestellt werden“ (FDP), der Antrag sei eine „wissenschaftsfeindliche Bankrotterklärung“ (SPD) sowie „Angstmache und Raunen“ (Grüne). Ein CDU-Abgeordneter versuchte gar eine lyrische Entgegnung: „In Zeiten der Unsicherheit und Komplexität ist die Wissenschaft unser sicherer Hafen, unser Kompass, der uns durch unbekannte Gewässer navigiert.“ Die AfD hingegen wolle „auf dem Ozean der Ungewissheit segeln“. Das ist das Niveau, auf dem die „überlebenswichtige Diskussion“ bislang geführt wurde. Nach fünf Jahren Corona-Spektakel scheint das Publikum gleichzeitig erschöpft und uneingestanden verwirrt. Ein Großteil der Zuschauer versucht, die vergangene Zumutung gierig mit neuen Apokalypsen zu verdrängen (Kommt die nächste Pandemie? Bestimmt! Wann kommen Russen? Bald!). Der Rest hängt sediert in den Sitzen und will sich an nichts Genaues erinnern (War da was? Wir haben die Pandemie doch gut überstanden!). Derweil berichtet die Welt, das Bundesverwaltungsgericht habe nach einer Klage des Axel-Springer-Verlags entschieden, dass der BND keine Fragen zu seinen Erkenntnissen zum Corona-Laborursprung beantworten müsse, ebensowenig zu einer angeblichen Zusammenarbeit mit Drosten. Der Theatersaal bleibt bis auf Weiteres verriegelt.
Lena Böllinger
In der Debatte um den wahrscheinlichen Labor-Ursprung des Coronavirus wird meist vergessen, dass auch in Deutschland sogenannte Gain-of-Function-Forschung betrieben wird. Weltweit fordern zahlreiche Forscher ein Verbot dieser gefährlichen Form der Virenforschung.
[ "Corona", "Coronavirus", "Christian Drosten", "Wuhan" ]
kultur
2025-05-12T13:48:46+0200
2025-05-12T13:48:46+0200
https://www.cicero.de//kultur/gain-of-function-forschung-covid
Programmreform bei WDR 5 - Axt an die Kultur
Dinge abzumoderieren, das hat Tom Buhrow in seiner Karriere gelernt, erst als Gesicht der Tagesthemen, dann als Intendant des WDR. Er bringe viel „Liebe“ mit, sagte er kurz nach seinem Amtsantritt 2013. Ein Jahr später sprach er nur noch von „Verantwortungsliebe“. Buhrow trifft intern aber nur auf wenig Gegenliebe. Er hat dem Kölner Sender einen strikten Sparkurs verordnet – 100 Millionen Euro und 500 Stellen weniger bei einem Etat von über einer Milliarde Euro und 4300 Mitarbeitern. Am Anfang hieß es, vor allem in der Technik und der Verwaltung werde gespart. Nun zeichnet sich ab: Der Sparkurs trifft wohl auch den journalistischen Kernbereich des Senders – und berührt damit den öffentlich-rechtlichen Informationsauftrag. Das geht aus einem Entwurf für ein neues Programmschema bei Radio WDR 5 hervor, der Cicero vorliegt. Die Informations- und Kulturwelle des zweitgrößten Senders in Europa nach der britischen BBC steht vor einem drastischen Umbau. Das Programm soll künftig mit weniger harter Politik, Kultur, regionaler Berichterstattung und Medienkritik auskommen. Stattdessen bekommen die Hörer offenbar seichteres Programm. Die Details zur Programmreform stellte Hörfunkdirektorin Valerie Weber den Radioredakteuren vor wenigen Tagen vor. Tom Buhrow hatte die frühere Privatradiomanagerin kurz nach seinem Amtsantritt gegen starken internen Protest durchgedrückt und vom Rundfunkrat wählen lassen. Beim WDR-Hörfunk sollen insgesamt 80 Stellen eingespart werden. Das neue Programmschema sieht vor, zwei markenbildende Sendungen deutlich zu verkürzen und weitere kritische Sendungen abzusetzen. Betroffen ist das Meinungsmagazin „Politikum“, das sich durch meinungsstarke, intellektuelle und teils ironische Beiträge auszeichnet. Die Sendung läuft bislang viermal wöchentlich für 25 Minuten (montags bis donnerstags um 19:05). Künftig soll sie zwar fünfmal die Woche laufen, aber nur noch 15 Minuten dauern, und auf den Sendeplatz um 17:45 Uhr vorgezogen werden. Laut dem Medienmagazin journalist ist „Politikum“ teuer. Andere öffentlich-rechtliche Sender würden nur selten Beiträge übernehmen, „weil es nicht ins Profil passt. Zu meinungsgetränkt. Und nicht nur das: Politikum gilt als unbequem.“ Viele Hörer hätten sich sogar bei Intendant Buhrow beschwert. Der WDR dagegen verteidigt die Verlegung des Magazins in die „Nachmittags-Primetime“: „Durch die prominentere Sendezeit würde das Meinungsmagazin „Politikum“ künftig ein Drittel mehr Hörer als bisher erreichen.“ Vom Sparkurs beim Inforadio der größten ARD-Anstalt ist auch die Kultur betroffen. Künftig soll die zweistündige literarische Sendung „SpielArt“ (sonntags, 16.05 bis 17.55 Uhr) nur noch circa einmal im Monat „reduziert“ produziert werden, teilte der WDR mit. Der „Charme“ der Sendung solle erhalten bleiben, heißt es aber: „Das literarisch-musikalische Magazin soll dafür künftig an ausgewiesenen, besonders prominent beworbenen Sendetagen ausgestrahlt werden. Konkret heißt das: Drei von vier „SpielArt“-Ausgaben entfallen. Damit tritt ein, wovor Kulturschaffende in Nordrhein-Westfalen seit langem gewarnt haben. In einem offenen Brief an Tom Buhrow hatten Ensemble-Mitglieder des Schauspiels Köln die Sendung als „eine Fundgrube, eine Schatzkammer“ bezeichnet. Die Texte in der „SpielArt“ seien „literarisch hochwertig, oft ungewöhnlich, manchmal schräg, unangepasst, aber immer besonders“. Über solche Kritiker hatte sich Tom Buhrow noch im Dezember in der ZEIT mokiert: „Egal wo wir sparen, es hagelt Proteste. (…) Wenn jede Lobbygruppe ihr Spezialgebiet für unverzichtbar erklärt, so ist das nicht der volonté générale.“ Als Beispiel nannte er die Pläne von SWR-Intendant Peter Boudgoust, seine beiden Rundfunkorchester zu fusionieren. Aber nicht nur WDR und SWR wollen an der Kultur sparen. Auch beim Bayerischen Fernsehen stehen die Literatursendungen „Lesezeichen“ und „Lido“ vor dem Aus. Literaturfreunde wehren sich mit einer Petition dagegen. Ein mit Gebührengeldern finanzierter Sender müsse seinem „Bildungs- und Kulturauftrag nachkommen“, fordern die Initiatoren. Tom Buhrow ficht das nicht an: Er sieht seinen „Programmauftrag nicht reduziert auf Information und Bildung. Auch die Unterhaltung gehört dazu, und so soll es meiner Meinung nach bleiben.“ Laut dem Papier zur Programmreform soll tatsächlich ab 2016 die Unterhaltung ausgebaut werden. Das „Morgenecho“, das um eine Dreiviertelstunde verlängert wird, soll im letzten Teil „bunter und leichter sein“ und den Hörer „auf den Tag einstimmen“, heißt es in einem redaktionsinternen Kommentar zur neuen Radiostruktur. Zudem sei ein neues Reisemagazin geplant, „mit sehr niedrigem Budget“. Die internen Kritiker sprechen vom „Durchhör-Radio“. Der WDR präzisiert, es gebe „die Idee für ein anspruchsvolles, politisches und literarisches Reisemagazin“ am Wochenende. Dafür sollen die beiden Samstags-Mediensendungen „Funkhaus Wallrafplatz“ und „Töne, Texte, Bilder“ zusammengelegt werden. Damit stirbt ein wichtiger Sendeplatz für Medienkritik. Das „Funkhaus Wallrafplatz“ thematisierte zuletzt die „Lügenpresse“-Debatte, den fatalen Begriff der „Dönermorde“ im Zusammenhang mit den NSU-Morden oder die Berichterstattung über die Anschläge von Paris. Ausbauen möchte der Sender die Wissenschaftssendung. Dort sollen „neue Formen“ ausprobiert werden, auch mit Blick auf die crossmediale Strategie des WDR. Dass das neue Wissensprogramm „deutlich weniger hintergründige Berichte“ liefern soll als das bisherige Format „Leonardo“ (wochentäglich von 16.05 bis 17.00 Uhr und 22.05 bis 23.00 Uhr), wie der interne Kommentar suggeriert, wollte die Sprecherin indes nicht bestätigen. Es gab auch Sorgen, dass der WDR die regionale Information kürzt. So soll laut Programmschema das Landesmagazin „Westblick“ – bekannt für seine Reportagen, Features und Kommentare aus den Regionalstudios Nordrhein-Westfalen – (täglich um 17 Uhr) von einer Stunde auf 40 Minuten reduziert werden und auch das „Thema NRW“ (freitags, 15 Uhr) ganz verschwinden. Der Sender erklärte aber, dass das „Thema NRW“ bei WDR 5 sowie viele landespolitische Themen „künftig täglich und zur wichtigsten Hauptsendezeit am Morgen ausgebaut werden.“ Der „Westblick“ solle entgegen dem Papier nicht um 20 Minuten gekürzt werden. Strategisches Ziel sei es, trotz der Einsparungen „die regionale Berichterstattung auf allen Wellen des WDR auszubauen“, teilte eine Sprecherin mit. Wie das funktionieren soll, ließ sie offen. Die Programmänderungen seien erst „spruchreif“, wenn sich der Rundfunkrat damit befasst habe. Wenn der WDR ausgerechnet bei politischer Meinungsbildung, der Literatur und der Medienkritik spart – wird er dann noch seinem gesetzlichen Auftrag nach Bildung und Information gerecht? Diese Fragen dürften sich nicht nur Hörer und Mitarbeiter des Senders stellen. Der WDR teilt mit, man wolle „trotz finanzieller Einschnitte und Personalabbau weiterhin ein ansprechendes und attraktives Programm“ gestalten. Steigende Ausgaben könnten durch den Rundfunkbeitrag nicht mehr aufgefangen werden, weil er seit 2009 nicht mehr gestiegen und im April 2015 sogar gesunken sei. „De facto steht weniger Geld zur Verfügung und Programm und Produktion müssen sich dem anpassen.“ Die Vorschläge zur Programmreform beim Inforadio liegen seit einer Woche den Gremien vor. Die werden darüber in den nächsten Monaten beraten.
Petra Sorge
Die Medienkolumne: Der Westdeutsche Rundfunk verringert drastisch das journalistische Angebot seiner Kulturwelle: Bei der Programmreform des WDR 5 ziehen ein politisches Meinungsformat, eine Kultur- und eine Mediensendung den kürzeren
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kultur
2015-08-18T12:09:37+0200
2015-08-18T12:09:37+0200
https://www.cicero.de//kultur/programmreform-bei-wdr-5-weniger-kultur-weniger-medienkritik/59713
Pädophilie - Der blinde Fleck nach ’68
Wenn Alexander Dobrindt, der CSU-Generalsekretär, Daniel Cohn-Bendit, den einstigen Helden des Pariser Mai ’68 und heutigen grünen Europaabgeordneten, einen „widerlichen Pädophilen“ nennt, ist das Wahlkampf. Natürlich ist Cohn-Bendit kein Pädophiler. Er ist, wie Alice Schwarzer schon vor mehr als zehn Jahren dazu schrieb, ein Kind, mehr noch ein Leader seiner Zeit. Die Vorwürfe gegen ihn hat 2001 zum ersten Mal die Tochter von Ulrike Meinhof, Bettina Röhl, erhoben. Sie bezog sich auf Zitate aus dem biografischen Interview-Buch „Der große Basar“ aus dem Jahre 1975. Darin ließ Cohn-Bendit sich in wenigen Sätzen über angebliche erotische Spielereien mit Kindern in seiner Zeit als Erzieher in einem Frankfurter Kinderladen aus. Anfang der achtziger Jahre hat er die inzwischen viel zitierte unsägliche „Hosenlatzgeschichte“ noch einmal in einer Talkshow im französischen Fernsehen wiederholt. Seither hat er sich mehrmals für diese Äußerungen entschuldigt und sie als provokative Fantasterei bezeichnet, die in der Realität nie stattgefunden habe. Provokation als Mittel öffentlicher Wahrnehmung – das war ein, wenn nicht das Erfolgsrezept der 68er. Und „Dany le rouge“, wie er zu jener Zeit genannt wurde, beherrscht dieses Mittel wie wenige. Wenn diese Provokationen aus der Zeit herausgelöst werden, aus dem Kontext, in dem sie ausgesprochen worden sind, entwickeln sie offenbar ein Eigenleben. Was heute auffällt: Die Rezensionen, die 1975/76 nach Erscheinen des Buches gedruckt wurden, setzen sich nicht mit den jetzt inkriminierten Passagen auseinander. Der Spiegel widmet damals drei Seiten der – übrigens durchaus selbstironischen – Reflexion Cohn-Bendits über den Mai ’68: „nur ein Megafon des Protests“ sei er gewesen. Kein Wort über die pädophilen Provokationen. Ob der einstige Barrikadenkämpfer nun resigniert sei, fragt sich die Weltwoche und diskutiert den Gegensatz von Revolte und Alternativkultur. Auch die Zeit interessiert sich vor allem dafür, wie er den Mai ’68 sieben Jahre später sieht. In Frankfurt, so heißt es nur, sei er auf seine Art seriös geworden, „schloss sich der Frankfurter Gruppe ‚Revolutionärer Kampf‘ an und kümmerte sich vornehmlich um Gastarbeiter, Wohnkommunen und Kinder“. In keiner der Rezensionen werden die Äußerungen über die Sex-Spielereien im Kinderladen auch nur benannt. Warum sind die skandalösen Provokationen nicht problematisiert, nicht einmal erwähnt worden? Sind die Ignoranz damals und die Aufregung heute nur einem unterschiedlichen Zeitgeist geschuldet? Oder besteht doch ein Zusammenhang zwischen der sexuellen Befreiung, wie sie sich die 68er auf die Fahnen geschrieben haben, und der Propaganda von Pädophilen? Die Heldengeschichte der 68er ist 1000-mal erzählt worden und geht ungefähr so: Wir haben sie so geliebt, die Revolution – auch die sexuelle. Mit Drugs, Sex und Rock ’n’ Roll wollte eine Generation den Mief der fünfziger und sechziger Jahre vertreiben: Altnazis etwa, die wieder Richter geworden waren oder es sogar zum Chef des Kanzleramts gebracht hatten. Auch die patriarchalisch geprägte Kleinfamilie galt es zu schleifen: Sex – endlich nicht mehr nur erlaubt zum Kinderkriegen. Schluss sollte sein mit den Regeln wie der, dass Kondome nur an Verheiratete verkauft werden. Politische und sexuelle Befreiung gingen Hand in Hand. Frauen sollten auch nicht mehr ihre Ehemänner um Erlaubnis fragen müssen, wenn sie arbeiten gehen wollten. „Erobern Kommunen Deutschlands Betten? Mehr Sex mit Marx und Mao“, provozierte damals die linke Zeitschrift Pardon – und die Spießer-Republik schnappte nach Luft. Die sexuelle Revolution entpuppte sich schnell als eine schöne Sache vor allem für Männer. Die 68er-Frauen hielten früh dagegen. In einem Flugblatt des Frankfurter Weiberrats reimten sie: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“ Sie hatten keine Lust, weiter den Abwasch zu machen und sich um den Nachwuchs zu kümmern, während sich die Männer in „intellektuellem Pathos“ ergingen. Nach der Kommune 1 kamen die WGs und die Kinderläden, nach dem Weiberrat die Frauenbewegung, bald darauf die Schwulenbewegung. Ende der Siebziger gründete „die Bewegung“ ihre eigenen Institutionen: taz und Grüne traten an, die Welt zu verändern. Kommune 1 und der Sozialistische Deutsche Studentenbund SDS hatten sich längst in einen Mythos verwandelt. Doch das Erbe, das sie hinterlassen hatten, bestand nicht nur aus WGs und Kinderläden, aus Hedonismus und K-Gruppen. Zum Erbe gehörten auch der Gewalttrip der RAF – und die bizarren Blüten der sexuellen Befreiungsideologie. Mindestens ein halbes Dutzend Mal wurde die taz in ihren Anfangsjahren von RAF-Sympathisanten besetzt – aber eben auch von Pädophilen, die meist erst einmal als Schwulengruppen auftraten. Es blieb nicht bei Besetzungen. In der „liquid democracy“ jener Jahre erpressten sich diese Gruppen ganze Zeitungsseiten, damit „Schwule, Lesben, Pädophile, Transsexuelle etc. sich autonom organisieren können“, um „auch in der taz-Redaktion … über ihre Belange zu berichten“. Sogar einen Redakteur platzierten sie in der Zeitung – auch wenn der bei der nächsten Finanzkrise des Blattes wieder entlassen wurde. Zuvor propagierte er seitenweise die Liebe mit Jungs und beschrieb Pädophilie als „Verbrechen ohne Opfer“. Dass er sich in der Zeitung ausbreiten konnte, lag auch an der Indifferenz des Alternativbetriebs, zu dessen Konzept die Veröffentlichung „unterdrückter Nachrichten“ gehörte. So hievten Besetzer unterschiedlicher Couleur selbst gegen redaktionelle Mehrheiten pädophile Machwerke in die Zeitung – genauso wie RAF-Aufrufe zur Gewalt. Ins Internetzeitalter übertragen könnte man sagen: Die taz funktionierte in ihren Anfängen wie ein für alle offener Blog. Spektakuläre Störungen ihrer Parteitage erlebten auch die Grünen. Die „Indianerkommune“, eine pädophile Gruppe Halbstarker aus Nürnberg, forderte lautstark freie Sexualität für und mit Kindern. Statt das Jugendamt zu holen, integrierten die Grünen sie meist in irgendeine Arbeitsgruppe, damit die Parteitage weitergehen konnten. Der Berliner Ableger der Grünen, die Alternative Liste AL, brachte sogar die Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche“ heraus. Auflage: 1500 Stück. Im Vorwort schreibt „Martina vom geschäftsführenden Ausschuss“ – dem damaligen Parteivorstand der AL –, dass sie nach den Diskussionen mit den Pädpohilen jetzt „Kinder als gleichwertige Partner“ anerkenne. Heute ist „Martina“ erfolgreiche Managerin und will sich von ihren Worten nur noch distanzieren. Damals sei sie Anfang 20 und in ihrer „Findungsphase“ gewesen. Die Pädophilen aus der Schwulen-AG in der AL seien sehr viel älter gewesen und „sehr smooth, sehr freundlich, sehr zurückhaltend“. Kinder seien damals nicht dabei gewesen, über ihre Sexualität sei nur von Erwachsenen geredet worden. Die Argumentation in der AL-Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche“ geht so: Kindliche Sexualität müsse anerkannt und enttabuisiert werden. Sexualität sei für alle da, „auch für Kinder und alte Menschen“. Auch zwischen Kindern und Erwachsenen müsse sie erlaubt sein. Ausgerechnet die „Studie“ eines Dominikanermönchs wird als Beleg für die Harmlosigkeit der Pädophilen herangezogen: Der Mönch habe 97 Jungen befragt, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, und festgestellt, dass diese Kinder weder moralisch noch psychisch geschädigt seien. Erst die Strafverfahren würden sie traumatisieren. Das von der Partei herausgegebene Machwerk gipfelt in der Forderung nach ersatzloser Streichung des Paragrafen 176 aus dem Strafgesetzbuch, der sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellt. Die offen auftretenden Pädosexuellen sahen sich wie die AL „als wichtigen Teil der Emanzipationsbewegung“. Doch aus der Emanzipationsbewegung kam auch Kritik: etwa von Alice Schwarzers Emma und von Günter Amendt, Autor des Aufklärungsbuchs „Sexfront“. Er stellte die Diskussion wieder auf die Füße: „Sie reden von der Befreiung der Kindheit, meinen aber nichts anderes als die Freiheit von Erwachsenen, sexuelle Beziehungen zu Kindern unterhalten zu dürfen.“ Das sei „reaktionär“, gifteten die so Angegriffenen zurück. Das ist alls lange her. Aber es ist alles andere als ein Wirbel um Nichts. Es gibt da einen blinden Fleck. Er hat seinen Ursprung weder in der taz noch bei den Grünen. Die Urszene ist eine andere. Sie ist vermerkt im Protokoll der Kommune 2 vom 4. April 1968, das als Broschüre samt Kommentaren veröffentlicht wurde. Thema: Erziehung der Kinder, die dort lebten. „… dann holt Grischa einen Spiegel, in dem sie sich meinen Pimmel und ihre Vagina immer wieder besieht. Nach erneutem Streicheln … kommt wieder der Wunsch ,reinstecken‘, diesmal energischer als vorher. Ich: ‚Versuchs mal‘. Sie hält meinen Pimmel an ihre Vagina und stellt dann resigniert fest: ,zu groß‘.“ Kommentar in der „Anleitung für eine revolutionäre Erziehung“ vom „Zentralrat der sozialistischen Kinderläden West-Berlin“ zu dieser Szene: „Dass die Kinder diese Erfahrung wirklich ausleben konnten, hatte zur Voraussetzung, dass die Erwachsenen nicht nur keine Verbote aussprachen, sondern ihre eigenen Hemmungen überwinden konnten.“ So hat sich die Pädophilie in die Ideologie der sexuellen Revolution eingeschlichen.
Max Thomas Mehr
Heute sorgen Cohn-Bendits Sätze zu Sexspielen mit Kindern für einen Skandal. Damals kritisierte ihn jedoch niemand. In der Zeit nach ’68 hatten es auch Pädophile leicht
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innenpolitik
2013-06-21T09:10:38+0200
2013-06-21T09:10:38+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/paedophilie-gruene-der-blinde-fleck-nach-68/54803
Mitgliedervotum - Der neue CDU-Vorsitzende heißt Friedrich Merz
Der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz soll nach dem Willen der CDU-Mitglieder neuer Parteivorsitzender werden. Merz erhielt bei der Mitgliederbefragung über die Nachfolge von Parteichef Armin Laschet die notwendige absolute Mehrheit. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak gab das Ergebnis heute um 14 Uhr in der Berliner Parteizentrale bekannt. Auf den Außenpolitiker Norbert Röttgen entfielen 25,8 Prozent der Stimmen, auf den früheren Kanzleramtschef Helge Braun sogar nur 12,1 Prozent. Hingegen hatten 62,1 Prozent der Parteimitglieder für Merz gestimmt. Damit ist eine Stichwahl nicht mehr nötig. Hätte keiner der drei Bewerber – Merz, Röttgen und Braun – im ersten Durchgang mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten, wäre eine solche nötig geworden. Offiziell muss der neue Vorsitzende von den 1001 Delegierten des digitalen Parteitags am 21. und 22. Januar gewählt werden, anschließend per Briefwahl bestätigt werden. Merz’ Anhänger erhoffen sich von ihm eine Rückbesinnung auf ein klares konservatives Profil, das unter der Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel vermisst worden war. Die Neuwahl der Parteispitze ist die Konsequenz aus dem Desaster der Union bei der Bundestagswahl am 26. September. CDU und CSU hatten damals ihr historisch schlechtestes Ergebnis von 24,1 Prozent geholt und mussten den Gang in die Opposition antreten. Der als Kanzlerkandidat gescheiterte CDU-Chef Armin Laschet kündigte daraufhin seinen Rückzug an. Er ist jetzt einfacher Abgeordneter im Bundestag und dort Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Röttgen und Merz hatten bereits Anfang des Jahres für den Parteivorsitz kandidiert – und damals auf einem Parteitag gegen Laschet verloren. Für Merz ist es sogar schon der dritte Anlauf für den Parteivorsitz. Nach dem Rückzug der damaligen Kanzlerin Angela Merkel vom CDU-Vorsitz im Dezember 2018 hatte er gegen Annegret Kramp-Karrenbauer verloren. Die Parteimitglieder konnten nun erstmals in der Geschichte der CDU eine Vorentscheidung über den Parteivorsitz treffen. An der Befragung hatten sich nach CDU-Angaben knapp zwei Drittel der rund 400.000 Mitglieder beteiligt, genau 248.360 Mitglieder, also 64,3 Prozent aller Parteibuchbesitzer. Auf Twitter schrieb die CDU, 132.617 Mitglieder hätten ein Onlinevotum abgegeben (53,4 Prozent), 115.743 stimmten per Brief ab (46,6 Prozent). Quelle: dpa
Cicero-Redaktion
Friedrich Merz hat die Mitgliederabstimmung über den CDU-Vorsitz mit mehr als 60 Prozent der Stimmen für sich entschieden. Seine Anhänger erhoffen sich von ihm nun eine Rückbesinnung auf ein klares konservatives Profil.
[ "CDU", "Friedrich Merz", "Parteichef", "Norbert Röttgen", "Helge Braun" ]
innenpolitik
2021-12-17T14:24:43+0100
2021-12-17T14:24:43+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/mitgliedervotum-der-neue-cdu-vorsitzende-heisst-friedrich-merz
Sprache und Geschlecht - Weg mit dem Gender-Unfug!
Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein höchst erstrebenswertes und immer noch nicht ganz erreichtes Ziel. Aber der aktuelle – man muss schon sagen: Sprachterror –, mit dem eine verbohrte Ideologenclique ganze Stadtverwaltungen und Universitäten überzieht, ist der falsche Weg dahin. Keine Frage: Das frühere „Fräulein“ ist zu Recht verschwunden, und wenn ich auf der Weihnachtsfeier der Bäckerinnung Heidelberg den Festvortrag halte, dann begrüße ich die Anwesenden natürlich mit „Meine lieben Bäcker und Bäckerinnen“. Aber eher würde ich mir meine Hand abschneiden, als vom Bäcker- und Bäckerinnenhandwerk zu schreiben. Einmal spreche ich konkrete Personen an, und einmal rede ich abstrakt über einen Beruf. Generell spricht nichts dagegen, beim Schreiben oder Reden über konkrete Menschen wenn nötig auch sprachlich festzuhalten, dass darunter Männer wie Frauen vertreten sind: Beim letzten Seifenkistenrennen des Bäckerhandwerks belegten die Bäcker und Bäckerinnen aus Heidelberg den zweiten Platz. Im Prinzip aber umfasst „Bäcker“ die diesem Handwerk obliegenden Männer und Frauen gleichermaßen. Der Bäcker ist das altbekannte generische Maskulinum, das allerdings wie das „grammatische Geschlecht“ allein schon durch seinen Namen für Verwirrung sorgt. Rein sprachwissenschaftlich gesehen handelt es sich hier um verschiedene Schubladen, in welche fast alle indogermanischen Sprachen die Welt einsortieren, etwa belebte Dinge in die eine und unbelebte in die andere. Warum nennen wir die Schubladen nicht X und Y? Und einige Sprachen kennen für Abstrakta wie das Denken oder das Vergessen auch noch eine dritte Schublade Z. Der Begriff des grammatischen Geschlechts für diese Sortierfächer ist eine unglückliche Übersetzung des deutschen Barock, da kreierten deutsche Grammatiker für den Fachausdruck „Genus“, wie man diese Schubladen in der Sprachwissenschaft benennt, das „grammatische Geschlecht“ und nannten die Artikel der, die, das „Geschlechtswörter.“ Eine genauso irreführende Falschbenennung. Dass sogar große Gelehrte wie Jacob Grimm hier eine tiefere Bedeutung hineingeheimnissen wollten, macht die Sache auch nicht besser. Auf jeden Fall steckt seitdem die Verbindung zwischen grammatischem und biologischem Geschlecht in den Köpfen fest. Natürlich weichen diese Grenzen nach tausenden Jahren Sprachgeschichte auf, auch in der Schublade Y finden sich seit langem belebte Dinge wie die Frohnatur, die Dumpfbacke oder die Betriebsnudel (das heißt im Fachjargon auch Metaphorisierung), aber der zentrale Sachverhalt, dass diese Benennungen, wie die Sprachwissenschaftler sagen, „generisch“ sind und nichts mit dem biologischen Geschlecht der so bezeichneten Personen zu tun haben, bleibt weiterhin bestehen (und ist nebenbei gesagt auch ein bisher viel zu wenig beachteter Vorteil in der Paralleldebatte über dritte, vierte und fünfte biologische wie über soziale Geschlechter sowie sämtliche sexuelle Orientierungen: das Generikum bezeichnet alle). Dieses generische Femininum ist zwar weniger verbreitet als das maskuline Gegenstück, aber man frage doch mal zehn zufällig ausgewählte Bundesbürger, ob sie bei dem Wort „die Schnapsdrossel“ eher an Männer oder an Frauen denken, und es wird klar, dass das „Geschlechtswort“ der oder die vor einer Personenbenennung keinen sicheren Rückschluss auf deren biologisches Geschlecht erlaubt. Der Held ist und bleibt eine Person, die sich durch heldenhaftes Verhalten auszeichnet, egal ob Mann oder Frau. Das beliebte Standardargument, Frauen wären hier nur „mitgemeint“, wird auch durch 1000-maliges Wiederholen nicht richtiger. Sprache meint nie etwas, Menschen meinen. Und wenn Menschen meinen, der Held wäre ein Mann, dann muss man eben diese Meinung ändern. Einfach indem mehr Frauen Helden sind. Viele Kinder in Deutschland meinen, der Bundeskanzler wäre immer eine Frau. Dass in den bekannten Trivialstudien die Befragten mehr Männer nennen, wenn man sie nach ihren Lieblingsautoren fragt, ist doch klar: Im bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte waren Autoren überwiegend Männer. Zumindest diejenigen, über die geredet wurde. Also denkt man beim Wort „Autor“ erstmal an Männer. Genauso denken wir, obwohl es inzwischen in Deutschland mehrere Dutzend Männer gibt, die diesen Beruf ausüben, bei dem Wort „Hebamme“ zuerst einmal an Frauen. Die Frage nach „Autoren und Autorinnen“ ist eine Kurzfassung der Info: „Nicht vergessen: auch Frauen schreiben Bücher“. In diesem Sinn spricht sicher nichts dagegen, in Kontexten, wo der weibliche Anteil wichtig ist, von „Patienten und Patientinnen“ oder „Mördern und Mörderinnen“ zu sprechen. Aber eine Patienten- und Patientinnenverfügung? Niemals. Nero und die Christen- und Christinnenverfolgung? Eher esse ich meine Bibel. Oder „Proletarier und Proletarierinnen, vereinigt euch?“ So hätte es die Oktoberrevolution in Russland nie gegeben. Eine hochkomplexe Sprache wie das Deutsche funktioniert wie eine Rolexuhr, in der man an keiner Schraube drehen kann, ohne dass die ganze Mechanik alias die Grammatik ins Stocken gerät. Es reicht ja nicht, bei Hauptwörtern zu gendern, auch die Pronomen, Präpositionen und Adjektive und alles was damit grammatikalisch zusammenhängt, sind mitzubedenken („Wer hat seinen Lippenstift im Bad vergessen?“). Mir kommen diese sprachhandwerklich oft unbedarften Eingriffe von Menschen, die es ansonsten gerne sehe genau nehmen, wie Versuche vor, eine solche Rolex mit Hammer und Meißel (oder besser: Hammer und Sichel) auf Vordermann zu bringen. Wer wirklich den Frauen etwas Gutes tun will, sollte das auf andere Weise tun. Wenn in einigen Jahren bei dem Spruch „Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ fast alle Menschen bei den Wörtern Arzt und Apotheker vor allem an Frauen denken, ist das kein Erfolg der Genderlobby, sondern eine Konsequenz der Tatsache, dass Frauen ohne alle Hilfe von Sprachverhunzern, allein aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in diesen Berufen sehr erfolgreich sind. Also gilt es, diese Rahmenbedingungen zu verbessern: Gleiches Geld für gleiche Arbeit, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auf diesem Weg zur vollen Gleichberechtigung kommen wir keinen Zentimeter weiter, wenn die Sparkasse Saarbrücken ihre Klienten mit „Kunden und Kundinnen“ anspricht. Zum Glück wurde dieses Ansinnen vor kurzem höchstrichterlich verworfen. Diese durch die Gendersprache dem Deutschen aufgezwungene Sexualisierung, der bislang nicht vorhandene Zwang, bei Personen immer auch das das Geschlecht zu denken, ist vielleicht sogar für Frauen eher schädlich, von den sonstigen desaströsen Konsequenzen für eine kultivierte, nuancenreiche und melodische Sprache völlig abgesehen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, sagte schon Karl Marx, und nicht umgekehrt. Nicht die Etiketten sind wichtig, sondern das, was darunter steckt. Und so denken unsere Urenkel als Folge einer auch im Haushalt bis dann hoffentlich etablierten Gleichberechtigung beim Wort „der Putzteufel“ dann vielleicht auch an Männer. Am Mittwoch wird an dieser Stelle die Mutter der feministischen Linguistik, Luise Pusch, auf Walter Krämer antworten.
Walter Krämer
Immer häufiger wird im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gegendert. Dagegen protestiert der Verein Deutsche Sprache. In einem Gastbeitrag schreibt dessen Vorsitzender, Walter Krämer, warum die von der Gender-Lobby geforderte Sexualisierung auf dem Weg zur Gleichberechtigung nur hinderlich ist.
[ "Gender-Debatte", "Deutsche Sprache", "Gleichberechtigung" ]
kultur
2020-09-21T10:54:24+0200
2020-09-21T10:54:24+0200
https://www.cicero.de/kultur/gendergerechte-sprache-gendern-argumente-genderstern-sprachwissenschaft
Cicero-Ticker zur Bundestagswahl
Am 23. Februar wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Lesen Sie hier den Cicero-Ticker zur Bundestagswahl. 24.02.2025, 7.30 UhrMachtwechsel in Deutschland: Die Zusammenfassung Die Union hat die Bundestagswahl klar gewonnen und dürfte mit Friedrich Merz den nächsten Kanzler stellen. Nach dem vorläufigen Ergebnis kommt die rechte AfD auf Platz zwei. Dahinter folgen die SPD, die auf ein historisches Tief abstürzt, sowie die Grünen. Die Linke ist überraschend stark im Bundestag vertreten. BSW und FDP scheitern dagegen an der Fünf-Prozent-Hürde und verpassen den Einzug ins Parlament. Nun läuft alles auf ein Bündnis aus Union und SPD hinaus, denn eine schwarz-grüne Koalition hat keine Mehrheit der Mandate. Ein Zusammengehen mit der in Teilen als rechtsextremistisch eingestuften AfD, die sich auf 20,8 Prozent verdoppelte (10,4 Prozent), hat CDU-Chef Merz ausgeschlossen.Merz: „Schnell handlungsfähig werden“ Die Union kommt nach dem vorläufigen Ergebnis auf 28,6 Prozent (Wahl 2021: 24,1 Prozent). CDU-Chef Merz hat nun beste Chancen, nächster Kanzler nach Olaf Scholz (SPD) zu werden – dieser bleibt aber zunächst im Amt. Merz hat angekündigt, spätestens bis Ostern eine Regierung bilden zu wollen. Auf X schrieb er, Europa warte auf Deutschland. „Wir müssen jetzt wieder schnell handlungsfähig werden.“ Die SPD erzielte mit 16,4 Prozent (2021: 25,7 Prozent) ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Scholz sprach von einem bitteren Ergebnis und einer Niederlage, für die er auch Verantwortung trage. Im Fall von Koalitionsgesprächen stehe er nicht als Verhandlungsführer zur Verfügung. Am Abend schlug die SPD-Führung den Parteichef Lars Klingbeil als neuen Vorsitzenden der Bundestagsfraktion vor. Der derzeitige Fraktionschef Rolf Mützenich kündigte in einem Brief seinen Rückzug an. Die Grünen mit Kanzlerkandidat Robert Habeck sacken ab auf 11,6 Prozent (2021: 14,7 Prozent). Die Linken verbessern sich deutlich auf 8,8 Prozent (2021: 4,9 Prozent). Bei der FDP, die mit nur 4,3 Prozent aus dem Parlament fliegt (2021: 11,4 Prozent), steht nun ein Wechsel an der Spitze an: Parteichef Christian Lindner schrieb am Abend auf X: „Nun scheide ich aus der aktiven Politik aus.“ Das BSW von Sahra Wagenknecht scheitert hauchdünn an der Fünf-Prozent-Hürde: Laut Bundeswahlleitung kommt das BSW auf 4,972 Prozent. Dem Sprecher der Bundeswahlleiterin zufolge fehlten dem Bündnis lediglich rund 14.000 Stimmen zum Erreichen der Fünf-Prozent-Hürde. Der neue Bundestag hat 630 Sitze – für eine Mehrheit sind 316 Sitze nötig. Die Union erreicht nach dem vorläufigen Ergebnis auf 208 Sitze im neuen Parlament. Die SPD erringt 120 Mandate. Eine Regierungskoalition der beiden Fraktionen ist damit möglich. Für eine schwarz-grüne Koalition reichen die Ergebnisse nicht: Die Grünen bekommen lediglich 85 Abgeordnete. Die AfD vergrößert ihre Fraktion mit 152 Sitzen deutlich. Die Linke stellt 64 Abgeordnete. Ein Mandat erringt erneut der Südschleswigsche Wählerverband, der als Partei der dänischen und friesischen Minderheit von der Fünf-Prozent-Hürde befreit ist. AfD-Chefin Alice Weidel sprach von einem historischen Ergebnis. „Man wollte uns halbieren, das Gegenteil ist eingetreten.“ Die AfD sei bereit zur Zusammenarbeit mit der Union. „Unsere Hand wird immer ausgestreckt sein für eine Regierungsbeteiligung, um den Willen des Volkes umzusetzen.“ Zugleich kündigte sie an: „Wir werden die anderen jagen, dass sie vernünftige Politik für unser Land machen.“ Ihre Hochburgen hat die AfD im Osten: Die AfD ist in allen fünf ostdeutschen Flächenländern stärkste Kraft geworden. Die Wahlbeteiligung lag laut ARD und ZDF mit 83,0 bis 83,1 Prozent höher als 2021 (76,4 Prozent) und erreichte den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Zur Stimmabgabe aufgerufen waren 59,2 Millionen Menschen, davon gut 42 Prozent 60 Jahre oder älter.Bundestag wird kleiner – rund 100 Abgeordnete weniger Der neue Bundestag wird wegen einer Reform deutlich schlanker sein. Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 630 begrenzt – mehr als 100 weniger als aktuell. Dafür fallen die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate weg, die bisher das Parlament oft stark aufgebläht haben. Nun kommen mit Erststimme gewählte Kandidaten nur noch in den Bundestag, wenn ihre Partei auch genügend Zweitstimmen hat. +++ 23.02.2025, 22.30 UhrDie neuesten Hochrechnungen laut ARD CDU/CSU 28,5AfD 20,6SPD 16,5Grüne 11,8Linke 8,7FDP 4,4BSW 4,9 +++ 23.02.2025, 20.30 UhrLindner kündigt Rückzug aus der Politik an Für den Fall, dass die FDP den Wiedereinzug in den Bundestag nicht schafft, will sich der FDP-Vorsitzende Christian Lindner aus der Politik zurückziehen. Das kündigte er in der Diskussionsrunde von ARD/ZDF zur Bundestagswahl an. +++ 23.02.2025, 19.40 UhrZitterpartie für FDP und BSW Merz hat beste Chancen Kanzler zu werden, braucht für eine Regierungsbildung aber Partner. Ein Zusammengehen mit der in Teilen als rechtsextremistisch eingestuften AfD hat der CDU-Chef ausgeschlossen. Wenn neben der Linken auch FDP und BSW im Bundestag sitzen, muss Merz sich zwei Koalitionspartner suchen. Doch Dreierkoalitionen sind kompliziert, siehe die gescheiterte Ampel. FDP-Politiker Wolfgang Kubicki rechnet bereits mit einer „langen Nacht“, sagte er in der ARD. Die FDP steht bei den aktuellsten Hochrechnungen bei 4,9 Prozent, das BSW bei 4,8 Prozent. Für beide Parteien ist es derzeit also noch eine Zitterpartie. +++ 23.02.2025, 19.28 UhrDie neuesten Hochrechnungen CDU/CSU 28,8 AfD 20,2 SPD 16,2 Grüne12,7 Linke 8,5FDP 4,9  BSW 4,8 +++ 23.02.2025, 18.40 UhrScholz gesteht Wahlniederlage ein Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl eingestanden. „Das ist ein bitteres Wahlergebnis für die sozialdemokratische Partei, das ist auch eine Wahlniederlage“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat nach den ersten Hochrechnungen von ARD und ZDF. +++ 23.02.2025, 18.20 UhrLinnemann: „Der nächste Bundeskanzler wird Friedrich Merz heißen“ CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hält die Union nach den Prognosen von ARD und ZDF für den klaren Sieger der Bundestagswahl. „Die Wahl hat die Union gewonnen“, sagte er in Berlin. Die Ampel sei endgültig abgewählt. „Der nächste Bundeskanzler wird Friedrich Merz heißen“, sagte Linnemann. Die Menschen wollten einen Politikwechsel in Deutschland. Nach den Prognosen von 18.00 Uhr liegen CDU und CSU bei 28,5 bis 29,0 Prozent. Linnemann hofft, dass sich die Werte für die Union im Laufe der Auszählung noch verbessern. „Natürlich wünsche ich mir eine Drei vorne“, sagte er mit Blick auf den Wahlausgang. +++ 23.02.2025, 18:00 Uhr Erste Prognosen: Union mit deutlichem Wahlsieg Die ersten Prognosen zur Bundestagswahl bestätigen die jüngsten Umfragen mehr oder weniger: Demnach liegt die Union um CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz mit 29 % deutlich vorn, gefolgt von der AfD, die mit derzeit 19,5 % der Stimmen zweitstärkste Kraft werden dürfte. Dahinter landen nach aktuellem Stand die SPD um den noch amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz (16 %) sowie die Grünen um den noch amtierenden Wirtschaftsminister und Vize-Kanzler Robert Habeck. Derzeit stehen die Grünen demnach bei 13,5 %. Die Linke konnte ihren Aufschwung in den Umfragen der vergangenen Tage derweil über die Ziellinie retten. Die Partei kommt nach den ersten Hochrechnungen auf 8,5 %. Die FPD muss um den Wiedereinzug bangen: Die Freien Demokraten kommen bei den ersten Hochrechnungen auf 4,9 Prozent. Wer, neben den sonstigen Parteien, nach aktuellem Stand nicht den Sprung in den Bundestag schaffen würde, ist das BSW um Linken-Aussteigerin Sahra Wagenknecht. Nach sehr guten Ergebnissen bei den jüngsten Landtagswahlen kommt das BSW nach den ersten Hochrechnungen nur auf 4,7 %. Mehr Gewissheit herrscht dann im Laufe des Abends. Wir halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden. +++ 23.02.2025, 16:10 Uhr Hälfte der Wahlberechtigten hat gewählt Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl hat am frühen Nachmittag bei 52,0 Prozent gelegen. Das teilte die Bundeswahlleiterin mit. Briefwähler waren bei dem Wert noch nicht berücksichtigt. Ein Vergleichswert zur letzten Wahl wurde in der Mitteilung nicht genannt. Vor drei Jahren war für die gleiche Uhrzeit ein Wert von 36,5 Prozent genannt worden. Eine mögliche Erklärung für den Unterschied könnte die damals hohe Zahl der Briefwähler aufgrund der Corona-Pandemie gewesen sein. In den Bundesländern war die Beteiligung unterschiedlich – es gab aber oft deutliche Zuwächse im Vergleich zur letzten Bundestagswahl vor drei Jahren. Bundesweit hatte die Wahlbeteiligung 2021 am Ende – nach einer Wiederholungswahl in Berlin – bei 76,4 Prozent gelegen. Die Wahllokale sind noch bis 18 Uhr geöffnet, mehr als 59 Millionen Bürger können ihre Stimme abgeben. +++ 23.02.2025, 14:45 Uhr AfD-Chef Chrupalla hofft auf über 20 Prozent Der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla hat seine Stimme zur Bundestagswahl am Sonntagvormittag in einem Wahllokal im ostsächsischen Gablenz abgegeben. Er zeigte sich zuversichtlich, dass seine Partei „ein sehr starkes Ergebnis mit über 20 Prozent“ erreichen werde. Vor allem im Osten werde die AfD sehr viele Direktmandate holen. „Ich denke, das ist eine klare politische Aussage der Bürger und der Wähler.“ Die Co-Vorsitzende der AfD, Alice Weidel, hatte sich für die Briefwahl entschieden. +++ 23.02.2025, 13:50 Uhr Söder will sich nicht zu Koalitionsoptionen äußern Noch am Samstag war Wahlkampf angesagt. Nun geben Spitzenpolitikerinnen und -politiker selbst ihr Votum ab. CSU-Chef Markus Söder zeigte sich in einem Wahllokal in Nürnberg trotz zuletzt teilweise schlechter werdender Umfragewerte optimistisch: „Ja, ich bin schon sehr zuversichtlich. Ich hoffe, dass wir am Ende die Regierung für unser Land bekommen, damit sich was Richtiges ändert und nicht nur einfach so weitergemacht wird“, sagte er. Das sei sein eigentlicher Wunsch, weil es die Demokratie stärke. Zu möglichen Optionen für eine sogenannte Zweierkoalition wollte sich Söder auf Nachfrage nicht äußern, es sei nun „alles gelegt, jetzt schauen wir mal“. Ohnehin wäre eine Zweierkoalition eigentlich ein reines Bündnis von CDU und CSU, ohne einen weiteren Partner, fügte er mit humorvollem Unterton an. „Das wäre zwar super, aber wohl eher unwahrscheinlich.“ Söder hatte im Wahlkampf immer wieder eine Koalition der Union mit den Grünen abgelehnt. +++ 23.02.2025, 12:20 Uhr Mutmaßlich antisemitische Attacke kurz vor der Bundestagswahl Der mutmaßlich antisemitische Angriff auf einen spanischen Touristen am Holocaust-Mahnmal in Berlin hat bundesweit Entsetzen ausgelöst. Der lebensgefährlich verletzte 30-Jährige musste nach der Messerattacke am Freitag notoperiert werden. Sein Zustand ist stabil. Ein 19 Jahre alter anerkannter syrischer Flüchtling sitzt inzwischen als Verdächtiger in Untersuchungshaft. Er wurde wenige Stunden nach der Tat mit blutverschmierten Händen im Umfeld der Gedenkstätte festgenommen. Ebenfalls am Freitagabend nahmen Einsatzkräfte am Hauptstadtflughafen BER einen 18-jährigen Tschetschenen fest. Er soll einen gleichfalls antisemitisch motivierten Anschlag auf die israelische Botschaft in Berlin geplant haben. Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Potsdam fanden Beamte einen sprengstoffähnlichen Gegenstand. Es kam zu fünf weiteren Festnahmen. +++ 23.02.2025, 9:45 Uhr Steinmeier wählt in Berlin und dankt Wahlhelfern Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei seiner Stimmabgabe den Wahlhelfern gedankt und alle Bürger dazu aufgerufen, zur Wahl zu gehen. „Nutzen Sie Ihr Wahlrecht, gehen Sie wählen, bestimmen Sie mit über die Zukunft unseres Landes und wählen Sie in dem Bewusstsein, dass Ihre Stimme die Entscheidende sein könnte“, sagte er am Morgen in der Erich-Kästner-Grundschule in Berlin-Zehlendorf. Steinmeier erinnerte an die besonders kurze Vorbereitungszeit für die Bundestagswahl an diesem Sonntag infolge der vorzeitigen Auflösung des Bundestags. „Deshalb war das eine riesige Kraftanstrengung.“ Er dankte der Bundeswahlleiterin, Ruth Brand, die den Bundespräsidenten am Morgen begrüßte, den Landeswahlleitern sowie den Wahlhelfern. Bundeswahlleiterin Brand schloss sich dem Dank an und wünschte allen Beteiligten einen reibungslosen Wahlablauf. Gemeinsam mit Steinmeier gab auch dessen Ehefrau, Elke Büdenbender, ihre Stimme im selben Wahllokal ab. +++ 23.02.2025, 8:30 Uhr Deutschland droht komplizierte Regierungsbildung Die Regierungsbildung könnte je nach Mehrheitsverhältnissen eine große Herausforderung werden. Friedrich Merz (CDU) strebt eine Zweierkoalition mit SPD oder Grünen an, während CSU-Chef Markus Söder eine Koalition mit den Grünen strikt ablehnt. Sollten mehrere kleine Parteien über die Fünf-Prozent-Hürde kommen, dürfte die Union auf zwei Koalitionspartner angewiesen sein. Wie beim gescheiterten Ampel-Bündnis könnte dies eine größere Instabilität bedeuten. Merz betonte beim gemeinsamen Wahlkampfabschluss mit Söder in München rote Linien für Koalitionsverhandlungen. Die Union werde mit niemandem in ein Bündnis eintreten, „der nicht bereit ist, in der Wirtschaftspolitik und in der Migrationspolitik in Deutschland den Politikwechsel herbeizuführen“. Und er unterstrich, dass er keine Koalitionsgespräche mit der AfD führen werde: „Wir werden unter keinen Umständen, unter keinen Umständen, irgendwelche Gespräche, geschweige denn Verhandlungen oder gar Regierungsbeteiligungen mit der AfD besprechen. Das kommt nicht infrage.“ Scholz sagte derweil, er setze darauf, dass viele der SPD beide Stimmen geben, „damit wir stark genug sind und damit die Regierung unter meiner Führung fortgesetzt werden kann“. Er gab sich optimistisch, einen Erfolg in seinem Wahlkreis in Potsdam zu erzielen, wo er unter anderem gegen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) antritt. Falls Scholz das Direktmandat in Potsdam gewinnt, will er die gesamte Legislaturperiode im Bundestag bleiben – auch wenn er nicht erneut Kanzler wird. „Das steht schon ewig lange fest“, sagte Scholz. +++ 23.02.2025, 8:00 Uhr Wahllokale geöffnet In ganz Deutschland haben um 8.00 Uhr die Wahllokale für die Bundestagswahl geöffnet. Bis 18.00 Uhr können die Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, dann beginnt die Auszählung. In den rund 65.000 Wahllokalen sind dafür etwa 675.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer im Einsatz. Zur Wahl aufgerufen sind über 59 Millionen Menschen im Bundesgebiet. Laut Umfragen dürfte die Union mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) stärkste Kraft werden, gefolgt von der AfD. Dahinter lagen im Mittelfeld zuletzt SPD und Grüne. Der neue Bundestag wird wegen einer Reform deutlich schlanker sein. Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 630 begrenzt – mehr als 100 weniger als aktuell. Dafür fallen die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate weg, die bisher das Parlament oft stark aufgebläht haben. Nun kommen mit Erststimme gewählte Kandidaten nur noch in den Bundestag, wenn ihre Partei auch genügend Zweitstimmen hat. Die Wahl wurde um sieben Monate vorgezogen – das gab es bisher nur 1972, 1983 und 2005. Grund ist, dass die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP im November zerbrochen war. Kanzler Olaf Scholz (SPD) schlug nach dem Nein des Bundestags zu seiner Vertrauensfrage vor, das Parlament aufzulösen – was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dann anordnete. Der kurze Winterwahlkampf war zuletzt geprägt von der Debatte über eine Begrenzung der Migration, zweites Thema war die schwächelnde Wirtschaft. +++ 22.02.2025, 17:50 Uhr Söder stärkt Merz den Rücken Trotz zuletzt teils schlechter werdender Umfragewerte hat CSU-Chef Markus Söder Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) beim Wahlkampfabschluss von CDU und CSU demonstrativ den Rücken gestärkt. Merz sei ein Mann mit Rückgrat, sagte der bayerische Ministerpräsident im Löwenbräukeller in München. Er habe alle Zusagen, die er der CSU gegeben habe, eingehalten. Als Beispiel nannte Söder die Migrationsfrage, die zwischenzeitlich auch die Union beinahe entzweit habe. Merz habe das Thema „mutig“ im Bundestag wenige Wochen vor der Bundestagswahl zur Abstimmung gestellt und damit politische Führung gezeigt. „Das zeugt von Charakter und Führungskompetenz“, sagte Söder. Unter dem Jubel der anwesenden CSU-Mitglieder wiederholte Söder zudem seine kategorische Absage an eine Koalition zwischen Union und den Grünen. Anders als Söder hielt sich Merz die Option bisher offen. Söder betonte, er hoffe, dass die Union die Chance haben werde, stabil zu regieren. Auf den letzten Metern die FDP noch in den Bundestag reinzudrücken, mache es eher schwieriger, argumentierte er. „Wenn wir regieren, dann brauchen wir wenig Partner und nicht unendlich viele“, sagte Söder. „Sorry, lieber Christian Lindner. Die Zeit ist vorbei“, sagte er an die Adresse des FDP-Chefs. Schenkt man den Umfragen glauben, ist aktuell als Zweierbündnis nur noch eine Koalition mit der SPD denkbar. Zuletzt lag die Union immer bei Werten über 30 Prozent, in einigen aktuellen Umfragen sackte sie aber bereits auf bis zu 28 Prozent ab. +++ 22.02.2025, 17:15 Uhr Rund 100 Abgeordnete weniger Der neue Bundestag wird wegen einer Reform deutlich schlanker sein als bisher. Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 630 begrenzt – mehr als 100 weniger als aktuell. Der kurze Winterwahlkampf war zuletzt geprägt von der Debatte über eine Begrenzung der Migration. Zweites großes Thema war die schwächelnde Wirtschaft. +++ 22.02.2025, 16:20 Uhr Komplizierte Regierungsbildung erwartet Die Regierungsbildung dürfte gemessen an den Umfragen eine große Herausforderung werden. CDU-Chef Friedrich Merz strebt eine Zweierkoalition mit SPD oder Grünen an – während CSU-Chef Markus Söder eine schwarz-grüne Koalition strikt ablehnt. Sollten mehrere kleine Parteien über die Fünf-Prozent-Hürde kommen, dürfte die Union auf einen dritten Koalitionspartner angewiesen sein. Dies könnte wie bei der gescheiterten Ampel eine größere Instabilität bedeuten. +++ 22.02.2025, 15:10 Uhr Scholz wirbt für Absenkung des Wahlalters Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will sich für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre auch bei Bundestagswahlen einsetzen. Zum Wahlkampfabschluss der SPD sagte er in Brandenburg an der Havel: „In vielen Ländern ist das ja schon der Fall und bei vielen kommunalen Wahlen in Deutschland auch. Es hat gut funktioniert und alle Vorurteile darüber waren nicht richtig.“Allerdings müsse für die Absenkung des Wahlalters auf 16 das Grundgesetz geändert werden. „Es ist die CDU, die noch nicht überzeugt ist“, so Scholz. +++ 22.02.2025, 14:20 Uhr Kritik an Wahlmöglichkeiten für Auslandsdeutsche Viele Deutsche im Ausland klagen über Probleme dabei, ihre Stimmen für die vorgezogene Bundestagswahl fristgerecht abgeben zu können. Bei ihm in London seien keine Wahlunterlagen angekommen, monierte der deutsche Botschafter in Großbritannien, Miguel Berger, auf der Online-Plattform X. Viele Deutsche im Ausland könnten ihr Wahlrecht bei der Bundestagswahl nicht ausüben. „Fristen wurden zu knapp kalkuliert, die Verfahren sind zu bürokratisch. Eine Reform ist dringend notwendig», schrieb er. Berger steht mit seiner Kritik nicht allein. In zahlreichen Ländern berichten deutsche Wähler von Frust bei der Briefwahl für die unter verkürzten Fristen stattfindenden Wahl. Auch in einer Mitteilung der Bundeswahlleiterin hieß es am Donnerstag, dass Fragen und Beschwerden von im Ausland lebenden Deutschen eingegangen seien. Wie viele Beschwerden es genau sind, ging aus der Mitteilung nicht hervor. +++ 22.02.2025, 13:10 UhrUnion mit leichten Einbußen weiter vorn Einen Tag vor der Bundestagswahl liegt die Union in einer Umfrage mit leichten Einbußen weiter vorn. CDU und CSU kommen in der Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der Bild-Zeitung auf 29,5 Prozent, das ist ein halber Prozentpunkt weniger als in der vorherigen Umfrage. AfD und SPD verharren demnach bei 21 und 15 Prozent. Die Grünen rutschen leicht ab auf 12,5 Prozent (-0,5). Die Linke steigert sich um einen halben Prozentpunkt auf 7,5 Prozent. Die FDP gewinnt leicht hinzu auf 4,5 Prozent (+0,5), bleibt damit aber unter der Fünf-Prozent-Hürde. Das Bündnis Sahra Wagenknecht wäre mit gleichbleibend 5 Prozent im Bundestag vertreten. Sollte das BSW es ins Parlament schaffen, wäre eine Regierungsmehrheit voraussichtlich nur mit einer Dreierkonstellation möglich – CDU und CSU müssten sich also zwei Partner suchen. Wahlumfragen sind generell immer mit Unsicherheiten behaftet. Unter anderem erschweren nachlassende Parteibindungen und immer kurzfristigere Wahlentscheidungen den Meinungsforschungsinstituten die Gewichtung der erhobenen Daten. Grundsätzlich spiegeln Umfragen nur das Meinungsbild zum Zeitpunkt der Befragung wider und sind keine Prognosen auf den Wahlausgang. +++ 22.02.2025, 11:25 Uhr Wahlausgang: Scholz zeigt sich zuversichtlich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gibt sich zum Abschluss des Wahlkampfes optimistisch für einen Erfolg in seinem Wahlkreis in Potsdam. „Ich bin ganz sicher, dass der Wahlkreis von mir erneut gewonnen werden kann – so wie beim letzten Mal“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat der Deutschen Presse-Agentur einen Tag vor der Bundestagswahl. Er zeigte sich auch zuversichtlich mit Blick auf die Zweitstimmen. In Umfragen lagen die Sozialdemokraten zuletzt mit Abstand hinter Union und AfD. Scholz setzt auf unentschlossene Wählerinnen und Wähler. „Ich glaube nicht an Wunder, sondern an einen Wahlsieg“, sagte er vor Journalisten. „Ich bin überzeugt, es wird diesmal so sein, dass ganz viele sich erst im Wahllokal entscheiden.“ Er zeigte sich sicher, dass sich viele entschieden, der SPD beide Stimmen zu geben, „damit wir stark genug sind und damit die Regierung unter meiner Führung fortgesetzt werden kann“. Scholz tritt als Direktkandidat in Potsdam unter anderem gegen Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock an. Er besuchte am Morgen einen SPD-Wahlkampfstand in der Innenstadt und sprach mit Bürgerinnen und Bürgern – allerdings war das Interesse eher gering. Scholz zog eine positive Bilanz des kurzen Wahlkampfes. „Der Wahlkampf war ganz beeindruckend und hat mir Spaß gemacht“, sagte er. Viele Bürger hätten Interesse, sich zu informieren. Scholz schließt den Wahlkampf heute in Potsdam ab. bek/dpa
Cicero-Redaktion
Die Union hat die Bundestagswahl klar gewonnen. Nach dem vorläufigen Ergebnis kommt die AfD auf Platz zwei. Dahinter folgen die SPD, die auf ein historisches Tief abstürzt, sowie die Grünen. Die Linke ist überraschend stark im Bundestag vertreten. BSW und FDP scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde.
[ "Bundestagswahl", "Olaf Scholz", "Friedrich Merz" ]
innenpolitik
2025-02-22T15:17:47+0100
2025-02-22T15:17:47+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/ticker-zur-bundestagswahl-2025
Trump und Deutschland - Das große Missverständnis
Als ich am Morgen des 9. November 2016 aufwachte und erfuhr, dass Donald Trump die Wahl zum amerikanischen Präsidenten gegen Hillary Clinton gewonnen hatte, war ich baff. Ein Egomane, der so gar nicht unseren Vorstellungen eines integren, gesetzestreuen, moralisch gefestigten, uneitlen, wertebasierten, objektiven, verantwortungsvollen, geschichtsbewussten, sich um Zusammenhalt bemühenden, der Wahrheit verpflichteten, dem globalen Allgemeinwohl dienenden, mit den etablierten Institutionen kooperierenden und einen respektvollen Umgang mit seinen Gegnern pflegenden deutschen Politikerideals entsprach – ein Anti-Merkel. Wie konnte das passieren? Ein Unfall der Geschichte? War da den vereinigten Abgehängten, Ungebildeten, Unaufgeklärten, Wutbürgern, Nationalisten, Klimaleugnern, Impfgegnern, Homophoben, Sexisten und Rassisten von Amerika, den Deplorables, wie Hillary Clinton sie nannte, ein Coup gelungen, wie viele Wahlforscher es zu erklären versuchten und es auch deutsche Medien gerne verbreiteten? Spätestens seit dem 5. November 2024 wissen wir, es war kein Unfall. Natürlich haben alle Abgehängten, Ungebildeten, Unaufgeklärten, Wutbürger, Nationalisten, Klimaleugner, Impfgegner, Homophoben, Sexisten und Rassisten in den USA auch wieder für Trump gestimmt, aber die Wählerschaft Trumps ist heute breit und divers. Sie erstreckt sich über alle Einkommens- und Bildungsschichten, über Stadt und Land, jung und alt, alle ethnischen Gruppen bis hin zu Tech-Milliardären, die ihm nun teils aus Opportunismus den „Ring küssen“ oder sogar mit einem System liebäugeln, bei dem alle gleich, aber einige gleicher sein dürfen. Es wäre falsch, all diese Leute als dumm, naiv, ignorant, unvernünftig, uninformiert oder als schlechte Menschen darzustellen. Man könnte mehrere kulturelle und wirtschaftliche Gründe für Trumps Wahl anführen. Man könnte auch auf seine Gegenkandidatin verweisen, die als Bidens Vizepräsidentin kaum eigene Akzente setzen konnte, im Wahlkampf auf eine eigene politische Profilierung weitestgehend verzichtete und mit einer „Ich bin nicht Trump“-Plattform, immer lächelnd, alles auf die Persönlichkeitskarte setzte – und verlor. Gerade die Breite von Trumps Wählerschaft macht aber klar, dass es nicht die eine Antwort gibt. Einmal abgesehen von den Hardcore-Trumpisten, die wie er anscheinend auch selbst glauben, dass Gott persönlich Donald Trump dazu berufen hat, Amerika zu retten, wissen viele Amerikaner um seine kaum zu leugnenden Persönlichkeitsdefizite. Aber es ist ihnen egal. Sie trennen die Politik von der Person und wählten ihn trotzdem. Egal, wo man politisch steht, muss man zunächst einmal anerkennen, dass Trump es verstanden hat, aus einer tiefen Unzufriedenheit mit den tatsächlichen oder gefühlten Problemen der unter kultureller Hochspannung stehenden amerikanischen Gesellschaft eine breite gesellschaftliche Bewegung aus ganz unterschiedlichen Gruppen zu formen und dabei auch noch fast die gesamte republikanische Partei zu unterwerfen. Wer hätte bei uns nach der verlorenen Wahl im Jahr 2020 und dem Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol am 6. Januar 2021 noch auf sein Comeback gewettet? Wer hätte noch vor einigen Jahren geglaubt, dass ausgerechnet die USA mit ihrer demokratischen Tradition sich nun einen vermeintlich intoleranten, möchtegern-absolutistischen Herrscher mit nepotistischen Tendenzen zum Präsidenten wählen? Auf der anderen Seite ist es kein Zufall, dass gerade Amerika – wo man aus historischen Gründen, etwa im Vergleich zu den eher staatsgläubigen Deutschen, immer ein großes Misstrauen gegenüber staatlicher Obrigkeit hatte und viel Wert auf individuelle Freiheiten legte – zur Avantgarde einer Revolte gegen einen als selbstgefällig und uneffektiv empfundenen Staat geworden ist. Die Verschwörungstheorie des Deep State, der mit verborgenen Machtstrukturen eines Staates im Staate im Wesentlichen eigene Interessen verfolgt, ist ein irrealer Ausdruck dieser realen Gefühlslage, die Trump sich zunutze zu machen wusste. Aus der unternehmerischen Sicht Trumps hat er alles richtig gemacht. Er dominiert, medienerprobt, den amerikanischen Politzirkus wie kein Zweiter. Mit jeder Unwahrheit, mit jeder Übertreibung, die keinem Faktencheck standhält, aber die Emotionen seiner Anhänger widerspiegelt, stärkt er – trotz goldener Kloschüssel – sein Image als authentischer Mann des Volkes. Mit jedem noch so scheinheiligen Bekenntnis zur Religion zementierte er – trotz unverhohlener, fortlaufender Verstöße gegen die Gebote des Alten und des Neuen Testaments – den Rückhalt seiner bibeltreuen Gefolgschaft. Dabei vergaß er interessanterweise bei seiner Vereidigung dann aber, die Hand auf die Bibel zu legen – eine freudsche Fehlleistung? Egal, es war insgesamt eine politische Meisterleistung, und wer ihn für dumm hält, weil er komplexen Themen mit Ignoranz begegnet, ist jetzt der Dumme. Ein totaler Sieg, wie er es sieht, ohne dass er sich an der im Deutschen verfänglichen Wortwahl stören würde – wenn sie ihm denn überhaupt bewusst wäre. Niemand sollte mehr, ob seiner egozentrischen Persönlichkeit, seines unorthodoxen und zum Teil widersprüchlichen Politikstils, an Trumps Fähigkeit und Willen zweifeln, seine, wenn auch fragwürdigen, Ziele seiner MAGA-Agenda durchzusetzen. Aber welche „schreckliche“ MAGA-Politik soll das denn sein, die die Amerikaner da mehrheitlich unterstützen? Grönland erobern, den Umwelt- und Klimaschutz abschaffen, multilaterale Organisationen und Abkommen zur weltweiten Kooperation ignorieren, Steuersenkungen für die Reichen, internationale Hilfsprogramme aussetzen, mit Zöllen die Inflation anheizen, traditionellen demokratischen und rechtsstaatlichen Alliierten bis hin zu den eigenen Nachbarn die Freundschaft kündigen, unabhängige Regierungsagenturen gleichschalten, die Hausangestellten und Gärtner der Vorstädte, Taxifahrer und Kellner in Handschellen in ihre Heimatländer zurückschicken, das gerade aufgegangene regenbogenfarbene Genderspektrum wieder binär bündeln, das Land durch die Abschaffung staatlicher Gewaltenteilung intern einigen, Schöpfungslehre statt Evolution in den Schulen? Also Forward into the Past? Imperialismus und Kapitalismus des 19. Jahrhunderts? Ist es das, was Amerika wieder groß machen wird? Ist das MAGA, oder nur gaga? Für die meisten seiner Wähler verursachen Kontroversen über einzelne Programmpunkte nur ein Achselzucken. Gelegentliche Widersprüche, Fake News oder Rechtsverstöße ihres Anführers, wie der Widerruf des in der Verfassung festgeschriebenen Rechts auf Staatsbürgerschaft für in den USA geborene Menschen – der von einem Bundesrichter gleich wieder einkassiert wurde –, bleiben Ausnahmen, die die Regel bestätigen und die man in Kauf nimmt. Die meisten Trump-Wähler operieren auf einer Metaebene, auf der sich die Dinge etwas einfacher darstellen: Auf der einen Seite steht das Modell eines kollektivistisch ausgerichteten, anonymen Staates, dessen Werte sie aber nicht mehr uneingeschränkt teilen, der ihre individuellen Freiheitsrechte zurückdrängt, sich immer mehr in ihre Angelegenheiten einmischt, der auch Amerika immer bürokratischer macht, der mit seinem Geld nie auskommt, der gefühlt immer weniger ihren Interessen dient und dem sie unter anderem eine kostspielige Rolle als globale Ordnungsmacht finanzieren, deren Nutzen sie nicht wirklich sehen. Auf der anderen Seite steht ein Politikaußenseiter, als der Trump immer noch gilt, dessen finanzielles Wohl nicht vom Staatsbetrieb abhängt, der seiner Wählerschaft verspricht, wieder für ihre Interessen und ihren Wohlstand zu kämpfen und den unliebsamen Staat zurückzudrängen. Sein persönlicher Erfolg verleiht seiner Prophezeiung eines goldenen Zeitalters Kredibilität. Er redet ihnen kein schlechtes Gewissen ein, weil sie Fleisch essen oder einen SUV fahren, sondern vermittelt ihnen Selbstbewusstsein und Stolz. Er lässt auf klare, vom üblichen Politikerjargon befreite Worte Taten folgen, von denen die Trump-Wähler zumindest glauben, sie seien in ihrem Interesse. Es bleibt abzuwarten, wessen Interessen die MAGA-Politik letztlich wirklich dient und ob sich nicht auch bei konservativen Wählern früher oder später Bedauern oder sogar Widerstand gegen die eine oder andere der vielen kontroversen Maßnahmen regt. Man kann aber nicht ausschließen, dass sich bestimmte Elemente wie die Konsolidierung des Haushaltes – wenn sie denn passiert – und eine radikale Entbürokratisierung unter dem Strich positiv für das Land auswirken und sich die MAGA-Politik in den Augen der Mehrheit als Erfolg darstellen wird. Es ist weniger die rationale Zustimmung zu einer vermeintlich irrationalen Politik, deren Resultate heute kaum jemand voraussagen kann, die uns zu Trump 2.0 gebracht hat. Es kann auch nicht der Zustand der amerikanischen Wirtschaft gewesen sein, auf die auch ohne Trump z.B. ein Deutschland ja nur mit Neid und Bewunderung blicken kann. Was viele Trump-Wähler verbindet, ist die Entfremdung, Ermüdung und Enttäuschung mit dem traditionellen politischen Establishment – so ehrbar und kompetent es in Teilen auch sein mag –, das aber ein immer weiter wachsendes, übergriffiges bürokratisches Staatswesen einschließlich übertriebener woker Ausblühungen zu verantworten hat und das sich zu weit von den Problemen der Bürger entfernt hat. Man riskiert nun ganz bewusst die Disruption, hält sich, wenn nötig, Nase, Ohren und Augen zu. Es gilt: The ends justify the means. Die Empörungswelle Trump 2.0 rollt nun bereits über Deutschland hinweg. Jede unorthodoxe oder politisch inkorrekte verbale oder körpersprachliche Äußerung Trumps oder seiner nicht weniger exzentrischen Gehilfen, jede Provokation, jede Falschaussage findet in deutschen Medien einen dankbaren Resonanzkörper. Europa müsse lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch – eine alte Forderung, seit Jahrzehnten ganz oben in den „EU-Politikcharts“, aber passiert ist wenig. Europa sollte Einigkeit demonstrieren – das wäre mal etwas Neues, aber ich würde nicht darauf wetten. Es herrscht Ratlosigkeit darüber, wie man dem „friendly fire“ eines Narzissten mit völlig überzogenen, unrealistischen Forderungen und der Aufmerksamkeitsspanne eines Kleinkindes begegnen soll, der das transatlantische Verhältnis als ein Verlustgeschäft betrachtet. Soll man ihm schmeicheln, beim Golf mit ihm gegen ihn verlieren? Dazu müsste ein deutscher Kanzler überhaupt erst einmal Golf spielen können – das spräche für Merz. Oder soll man ihm mit Selbstbewusstsein begegnen, ihm vielleicht mit der feministischen Handelspolitik eines Robert Habeck drohen? Oder cool und besonnen das Problem in Scholz-Manier erst einmal ignorieren, an unseren Zusammenhalt appellieren und kleinreden? Man weiß es nicht, also beschäftigt man sich im deutschen Wahlkampf lieber mit taktischen Themen als mit den großen strategischen Fragen, auf die heute niemand eine Antwort hat und morgen wohl auch nicht. Nach einem Jahrzehnt, in dem Trump unsere erhöhte Aufmerksamkeit auf sich zieht, wissen wir eigentlich, wie er tickt. „Im Westen nichts Neues“, könnte man sagen. Er ist ganz der Alte, nur noch älter, wahrscheinlich besser vorbereitet, dieses Mal ohne aufmüpfige Kabinettsmitglieder, noch entschlossener, sich in der Geschichte zu verewigen – vielleicht auch am Mount Rushmore? Und was kostet eigentlich der Friedensnobelpreis? Seine Unberechenbarkeit macht ihn aber in einem gewissen Maße auch berechenbar. Überhöhte Ausgangsforderungen sind eine bekannte psychologische Taktik, die man auch als Anchoring bezeichnet und die die Wahrnehmung des Gegenübers beeinflussen soll. Selbst wenn der Anker unvernünftig ist, wird er irgendwann als Ausgangspunkt akzeptiert und führt zu Zugeständnissen der Gegenseite. Unsere Abhängigkeit von den USA – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch – und unsere zum Teil amateurhaften und im Vergleich zu Trump weichgespülten politischen Repräsentanten, die Trump mit moralischen Argumenten ins Gewissen reden wollen, lassen Schlimmes befürchten. Wie sagte einmal Paulo Maluf, der unsensible ehemalige Bürgermeister von São Paulo, noch zu unwoken Zeiten: „Wenn es als sicher gilt, dass du vergewaltigt wirst, entspanne dich und versuche, es zu genießen.“ Nicht meine Worte, eher Trump-Style. In jedem Fall wird es nichts für schwache Nerven. Viele Talkshows und Leitartikel beschäftigen sich nun mit der bevorstehenden Abwehrschlacht gegen einen feindlichen Freund von außen. Möglicherweise unterschätzen wir aber den Feind von innen. Spätestens seit der Wiedervereinigung mit den vermeintlich „demokratieunfähigen“ Ostdeutschen, die in den vier Jahrzehnten davor genügend Zeit hatten, sich eine tiefe Skepsis gegenüber Staat und Regierung anzueignen und jüngst verstärkt durch die Corona-Pandemie, die Migrationskrise und die wirtschaftliche Stagnation in Deutschland, hat auch bei der gesamtdeutschen Bevölkerung das Vertrauen in Staat, Regierung, die traditionellen Parteien und staatliche Organisationen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk großen Schaden genommen und zum Erstarken von in Teilen extremistischen Parteien wie der AfD und der BSW geführt. Die AfD, die eigentlich eher für antiamerikanische Töne bekannt ist, findet es jetzt ganz wunderbar, einen neoimperialistischen US-Präsidenten zu bekommen, und freut sich über die Zustimmung Elon Musks, dessen Teslafabrik in Grünheide sie eigentlich vehement abgelehnt haben. Und dann erklärt uns Alice Weidel in einer „Leer“stunde in historischem Revisionismus noch, dass das privatwirtschaftliche Dritte Reich, das Kommunisten und Sozialisten verfolgte, eigentlich ein linkes Regime war. Crazy! Darauf kommt es dann reflexartig zu gut organisierten Spontandemos gegen Rechts in ganz Deutschland, bei denen ich mich aber nicht des Eindrucks erwehren kann, dass einige ihrer Organisatoren gerade den Grund dafür darstellen, dass die AfD überhaupt so viel Zuspruch erfährt. Alles ist so widersprüchlich und konfus, dass man wie Horst Buchholz im Film „Eins, zwei, drei“ sagen möchte: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“ Aber sie ist ernst. Auch in Deutschland geht es nicht mehr nur um die reine Vernunft in der Politik. Ähnlich wie in den USA hat sich ein Sentiment des partiellen Staatsversagens gebildet, bei dem unserem konventionellen politischen Establishment unter zunehmenden kulturellen Spannungen nicht mehr zugetraut wird, die Probleme der Gesellschaft befriedigend zu lösen. Sollte Trump bei der Begrenzung der illegalen Migration, der Verschlankung der Verwaltung, dem Abbau der Bürokratie, der Konsolidierung des Haushalts und, last but not least, beim Wohlstandswachstum der Amerikaner Erfolg haben, wird auch bei uns – trotz aller Rechtsverstöße, Ungerechtigkeiten und Schäden für Demokratie und Umwelt, die er möglicherweise während seiner zweiten Amtszeit verursachen wird – der Ruf nach Disruption lauter werden. Wenn es die nächste Regierung nicht schafft, mutige Reformen durchzusetzen, sind wir vielleicht nur noch einen Koalitionsbruch von einem deutschen Trump entfernt. Je weiter wir uns mit einer fehlgeleiteten Migrations-, Sozial- und Wirtschaftspolitik von einer Marktwirtschaft, einer Leistungsgesellschaft, innerer Sicherheit und einer soliden Haushaltsführung entfernen und unseren wirtschaftlichen Niedergang nur noch mit Umverteilung, neuen Schulden und woken Gesellschaftsspielen zu bekämpfen versuchen, desto mehr wird man in unserer Gesellschaft nach Alternativen suchen.
Nils Tarnow
Weder Trump noch seine Wähler sind irrational. Was man in Deutschland noch immer nicht versteht: Wenn Donald Trump mit seiner Politik Erfolg hat, könnte das auch hierzulande für Disruptionen sorgen.
[ "USA", "Donald Trump" ]
außenpolitik
2025-01-30T13:54:36+0100
2025-01-30T13:54:36+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/trump-und-deutschland-das-grosse-missverstandnis
Moritz Gathmann in der Ukraine - „Die Lage in Mykolajiw hat sich über Nacht dramatisch geändert“
Während sich die Situation also in Mykolajiw zuspitzt, scheint es in Odessa, wo Gathmann tags zuvor gewesen ist, noch immer relativ ruhig zu sein. Zwar liegen weiterhin russische Kriegsschiffe vor der Stadt, doch noch gibt es ein mehr oder minder normales Leben auf den Straßen. Solange die russischen Truppen nicht durch Mykolajiw durchbrechen können, scheint der historischen Hafenstadt keine Gefahr zu drohen. Gathmann beschreibt die Folgen eines Raketeneinschlags direkt am Gouverneurssitz; die Folgen seien „dramatisch“. Den von anderen Medien berichteten Einsatz von Streubomben kann er nicht bestätigen. Humanitäre Güter und Lebensmittel werden vor allem aus dem Westen der Ukraine geliefert, bei Medikamenten sind Lieferengpässe zu bemerken. Was die neue Verhandlungsrunde in Istanbul betrifft: Vor Ort „spricht davon kaum jemand“, da „die Menschen trotz allem siegessicher sind“. Das Gespräch wurde an diesem Dienstag um 11.00 Uhr aufgezeichnet.
Cicero-Redaktion
Seit gut einer Woche ist Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann wieder in der Ukraine unterwegs. Zurzeit befindet er sich in Mykolajiw, einer einstmals beschaulichen Hafenstadt in der Nähe des Schwarzen Meeres. In der Nacht hat es in der Stadt, die gut 100 Kilometer von Odessa entfernt liegt, immer wieder Raketeneinschläge ins Zentrum gegeben. Gegen 8:30 Uhr wurde die Residenz des Gouverneurs Mykolaiv Vitaliy Kim getroffen. Es gab zahlreiche Verletzte, und noch immer werden Menschen vermisst. Kim selbst befindet sich mittlerweile an einem sicheren Ort.
[ "Ukraine-Krieg", "Ukraine", "Russland", "Video" ]
außenpolitik
2022-03-29T16:35:04+0200
2022-03-29T16:35:04+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/moritz-gathmann-ukraine-mykolajiw
Europäische Sicherheitspolitik - Es geht auch ohne großen Bruder
Ist es für Deutschland überhaupt noch sinnvoll, auf die EU zu vertrauen in ihrer jetzigen, fragwürdigen Konstellation? Diese Frage, die vor ein paar Monaten noch ketzerisch geklungen hätte, ist angesichts der Krisen und Konflikte in unserem Umfeld, angesichts des Brexits und einer fehlenden gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik der Staatengemeinschaft von beklemmender Aktualität. Immerhin wird zur Zeit nicht mehr von einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine geredet, was vor einigen Jahren noch ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Auch die Erweiterung in Richtung Türkei wird nicht mehr angestrebt. Viel häufiger gewinnen geostrategische Konzepte an Bedeutung, die man bis vor Kurzem noch als gestrig abgetan hätte. Da wird plötzlich gefordert, dass sich Europa, wenn es überleben will, auf ein paar starke Staaten konzentrieren müsse. Diese Forderungen, welche keineswegs nur von politischen Abenteurern oder extremen Rändern des politischen Spektrums erschallen, stellen auch die Nato-Hegemonie in Frage. Denn weshalb sollte sich die EU der globalen Nato-Strategie unterordnen und deren wahllose Out-of-area-Einsätze mittragen, die den Interessen unseres Kontinentes schaden? Immerhin ist es Europa, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Krisenherden Nordafrikas und des Nahen Ostens befindet. Und die sind 15 Jahre nach dem Beginn des von Washington ausgerufenen Krieg gegen den Terror im Übermaß vorhanden – und eben nicht die versprochenen „Leuchttürme der Demokratie“. Dazu kommen steigende Flüchtlingszahlen, eine erhöhte Terrorgefahr und ein ins Wanken geratenenes politisches System Europas. Natürlich soll hier nicht das transatlantische Bündnis pauschal abgelehnt werden, oder gar eine wünschenswerte, partnerschaftliche Allianz auf Augenhöhe. Aber Europa muss endlich selbst seine sicherheitspolitischen Interessen definieren und diese auch verfolgen. Dafür muss erkannt werden, dass die EU in ihrer jetzigen territorialen Ausdehnung zwar einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bilden kann, eine unabhängige Außen- und Verteidigungspolitik aber auf einen engen Kern beschränkt bleiben muss. Da Großbritannien mittelfristig die EU verlassen wird und militärisch ohnehin auf die USA ausgerichtet bleibt, kommen hierfür ernsthaft nur drei Staaten in Frage: Frankreich, Polen und Deutschland, das sogenannte Weimarer Dreieck, wie man dieses Bündnis nach dem Ende des Kalten Krieges taufte. Vor wenigen Tagen wurde in Thüringen das 25-jährige Bestehen des Weimarer Dreiecks gefeiert, eines außenpolitischen Gesprächsforums, welches in den vergangenen Jahren immer mehr in Vergessenheit geriet. Es ist bemerkenswert, dass in der politischen Führung der drei betreffenden Staaten ein Umdenken eingesetzt zu haben scheint. Die bisher angestrebte Osterweiterung von Nato und EU sowie der verstärkte Einfluss Washingtons auf Europa werden inzwischen kritisch gesehen. Die ständig wiederholten Behauptungen, ohne Amerika sei Europa seinen Feinden schutzlos ausgeliefert, haben heute keine Gültigkeit mehr. Denn der Terror kann heute überall zuschlagen, unabhängig vom jeweiligen Waffenarsenal eines Landes oder Bündnisses. Die Umwandlung des Weimarer Dreiecks von einem Gesprächsforum hin zu einer Allianz zwischen Frankreich, Deutschland und Polen wäre diesbezüglich ein Schritt in die richtige Richtung. „In Anbetracht der beispiellosen Herausforderungen für Europa erachten wir es für erforderlich, die Zusammenarbeit zu intensivieren und ihr einen neuen Impuls zu geben“, heißt es in einer gemeinsamen Jubiläums-Erklärung der Außenminister. Als gemeinsame Handlungsfelder sind darin die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Wirtschafts-, Energie- und Beschäftigungspolitik genannt. Es wäre wünschenswert, wenn diesen Worten auch bald Taten folgen würden.
Ramon Schack
Vor wenigen Tagen trafen sich die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs, um das 25-jährige Bestehen des sogenannten Weimarer Dreiecks zu feiern. Unter anderem wollen sie in der Verteidigungspolitik enger zusammenarbeiten. Eine Abkehr von der Nato hält auch Ramon Schack für sinnvoll
[ "Weimarer Dreieck", "Frankreich", "Polen" ]
außenpolitik
2016-08-30T14:35:52+0200
2016-08-30T14:35:52+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/europaeische-sicherheitspolitik-es-geht-auch-ohne-grossen-bruder
US-Wahl – Gibt der Westen den Afghanistankrieg verloren?
Es ist ein Dokument, dessen Bedeutung kaum überbewertet werden kann. Am vergangenen Sonntag veröffentlichte die „New York Times“ ein seitenlanges zweispaltiges Editorial unter der Überschrift „Time to Pack Up“ („Es ist Zeit, zu gehen“). Darin fordert die Zeitung von der US-Regierung den umgehenden Abzug der amerikanischen Soldaten aus Afghanistan. Der Zeitplan dafür solle sich nicht mehr länger am Ausbildungsstand der afghanischen Armee und an der Stabilität im Land ausrichten, sondern allein von der Sicherheit der US-Truppen bestimmt werden. Ohnehin würden selbst die Minimalziele der Intervention nicht erreicht. Eine Verlängerung des Krieges hätte daher bloß eine Verlängerung des Leidens zur Folge. Die „New York Times“ ist die wichtigste Zeitung Amerikas. Sie ist das Leitmedium auch für die regierende Administration. Ihre anonymen Editorials, über die intern oft stundenlang debattiert wird, geben keine Einzelmeinungen wider, sondern die Haltung der gesamten Zeitung. „Time to pack up“ ist daher ein brisantes Politikum. In der dritten TV-Debatte zwischen Barack Obama und Mitt Romney am 22. Oktober wird es um Außenpolitik gehen. Für den amtierenden Präsidenten war der Krieg in Afghanistan – im Unterschied zu dem im Irak – stets der „notwendige Krieg“, den Amerika unbedingt gewinnen muss. Jetzt kommt das führende liberale US-Medium zu der Überzeugung, dass die Hoffnung auf einen Sieg naiv ist. Obama wird sich erklären müssen. Die „New York Times“, die von Anfang an die Intervention in Afghanistan unterstützt hat, vollzieht mit ihrem Editorial, wie sie selbst eingesteht, einen Wandel („This conclusion represents a change on our part“). Das begründet sie ausführlich: Mehr als 2000 amerikanische Soldaten haben bereits ihr Leben gelassen; die Zahl derer, die sich selbst töten, steigt unablässig; mehrere hunderttausend Veteranen leiden unter posttraumatischen Krankheiten; der Krieg hat mehr als 500 Milliarden Dollar gekostet. Und wofür? „Die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten haben in Afghanistan ,nation building’ versucht, zumindest in den vergangenen vier Jahren. Es funktioniert nicht.“ Präsident Hamid Karzai sei korrupt und unberechenbar, die neue afghanische Armee höchstens in der Lage, sich in der Hauptstadt Kabul zu behaupten, eine Trendumkehr nicht in Sicht, bilanziert die Zeitung. Doch wäre ein rascher Abzug Amerikas wirklich zu verantworten? „Wir sagen nicht, dass nach einem Abzug alles gut wird in Afghanistan“, heißt es am Ende. „Es wird nicht gut. Die Taliban werden Teile der südlichen Paschtun-Region erobern, dort Frauen misshandeln und deren Rechte mit Füßen treten. Stammeskrieger werden auf Raubtour gehen. Afghanistan wird das zweitärmste Land der Welt bleiben. Al Qaida wird sich wieder ein Stück weit etablieren können, doch die Terrororganisation hat sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ohnehin in den Jemen und andere Länder zurückgezogen.“ Aber wie schon in Korea, Vietnam und Irak: Amerikas eigene und globale Interessen würden beschädigt, wenn das Land Kriege führt, die es nicht gewinnen kann. „Dwight Eisenhower hat Amerikas Stellung in der Welt verbessert, als er die Truppen aus Korea heimholte, Richard Nixon durch den Abzug aus Vietnam, Barack Obama durch den Abzug aus dem Irak.“ Der Artikel schließt mit dem Satz: „Wir müssen raus aus Afghanistan so schnell, wie wir sicher können.“ Ebenfalls am vergangenen Sonntag kündigte Großbritannien an, im kommenden Jahr mehrere tausend seiner Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Und auch die Bundeswehr will angeblich bereits im Jahre 2013 die Zahl ihrer Soldaten deutlich verringern. Gibt es noch irgendeinen, der den beschleunigten Abzug mit der Beteuerung verbindet, Afghanistan sei auf einem guten Weg, die neu aufgebaute Armee in der Lage, Sicherheit und Stabilität zu garantieren, Al Qaida und die Taliban seien endgültig vertrieben worden? Wer immer das versucht, muss bessere Argumente vorbringen, als die „New York Times“ an Gegenargumenten geliefert hat. Nein, nichts ist gut in Afghanistan. In diesen Tagen gibt der Westen diesen Krieg offenbar auch offiziell verloren.
Im US-Wahlkampf wird wenig über Außenpolitik diskutiert. Dass die Truppen aus Afghanistan abziehen, ist beschlossene Sache. Nun fordert die New York Times als Amerikas Leitmedium einen schnelleren Abzug: Die Mission sei längst gescheitert
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außenpolitik
2012-10-16T17:01:21+0200
2012-10-16T17:01:21+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/usa-wahlen-aussenpolitik-gibt-der-westen-den-afghanistankrieg-verloren/52223
Krimi „Eine Frau verschwindet” - Schöner sterben für Nostalgiker
Nebel wallen, Frost überzieht Straßen und Bäume mit einer schimmernden Eisschicht, das Licht der Laternen wird von der Feuchtigkeit verschluckt: Dies ist das ideale Wetter für alle Dunkelmänner, aber ebenso für diejenigen, die gern von ihnen lesen. Wer sich Benjamin Blacks Roman „Eine Frau verschwindet” vornimmt, hat jedenfalls sofort das Bedürfnis, es dessen Figuren gleich zu tun: sich eine heiße Milch mit Honig zu kochen und dann mit dem Buch aufs Sofa zu schlüpfen, in ein wärmendes Plaid gehüllt. Mindestens in einem Punkt wird es ihm jedoch hoffentlich anders ergehen als dem Roman-Personal: Die Heizung funktioniert, und es weht nicht eisig durch die Fenster. Dies sind nur zwei Indizien, die darauf hindeuten, dass „Eine Frau verschwindet” in einer schon länger zurückliegenden Zeit spielt. Nicht nur ist es mit der Heizwärme im winterlichen Dublin übel bestellt, auch Handys etwa sind vollkommen abwesend (manche Telefone haben sogar noch eine Kurbel), in Kneipen und Privaträumen wird geraucht, was das Zeug hält: Es sind die fünfziger Jahre, und der Pathologe Quirke hat gerade beschlossen, sich selbst aus der Entzugsklinik zu entlassen, in die er sich Wochen zuvor eingewiesen hat. Nun ist er wieder draußen und setzt alsbald seinen Vorsatz um, sich ein Auto zu kaufen, ein Fabelfahrzeug der Marke „Alvis”. Quirke hat zwar keinen Führerschein, eine Versicherung für sein Auto schließt er auch nicht ab; immerhin aber lässt er sich von seinem Schwager im Schnellstdurchgang das Autofahren beibringen. Dass das herrliche Automobil das Ende des Romans nicht fahrtüchtig erreichen wird, liegt allerdings nicht an Quirkes mangelnder Fahrpraxis oder am Alkohol, sondern an den Schwierigkeiten, in die er bald nach seiner Rückkehr ins Dubliner Stadtgeschehen unversehens gerät. Oder doch nicht ganz unversehens: Es ist seine Tochter Phoebe, die ihn um Hilfe angeht. Und obwohl Quirke genug damit zu tun hat, seiner Lust am „Bushmill’s Black Label” nicht völlig zu erliegen, und nebenbei ja auch seiner Arbeit im Gerichtsmedizinischen Institut der Universität nachgehen muss, setzt er sich auf die Spur von Phoebes verschwundener Freundin April Latimer. Was wiederum kein so leichtes Unterfangen ist, da die Verschwundene einer der mächtigsten Familien Dublins angehört – Aprils Onkel ist Minister, ihr Bruder ein über die Einhaltung des Abtreibungsverbots wachender, frömmelnder Gynäkologe, ihre Mutter eine für ihre Eiseskälte ebenso wie für ihre Wohltätigkeit berühmte Lady. Ein hermetischer Clan von einiger krimineller Potenz, wie sich nach und nach zeigt. Nächste Seite: Kleinstadtleben in allseitiger Radikal-Entschleunigung Der Fall ist verwickelt und die längste Zeit nicht nur für Quirke und Phoebe undurchschaubar. Auch In­spektor Hackett tappt im Dunklen, obwohl er es ist, der vor Aprils verlassenem Bett Blutspuren entdeckt und sogar der ehrwürdigen Familie einen Besuch abgestattet hat. Rätselhaft scheint das Leben, das die begabte junge Ärztin in Dublin geführt hat, rätselhaft bleiben lange die Gründe für ihr Verschwinden, und endlich gerät auch Phoebe in Gefahr; wenigstens lauert eine düstere Gestalt im nächtlichen Nebel vor ihrem Haus. Dies alles ist so traditionell in der Anlage, so wenig spektakulär in seinen einzelnen Ereignissen und derart gemächlich, was die Aufklärung der kriminellen Vorfälle anlangt, dass man sich an die seligen Zeiten von Edgar Wallace und Agatha Christie erinnert fühlt: Die fünfziger Jahre sind inzwischen wirklich sehr weit weg, und man muss für das in Sitten und Anschauungen entsprechend vorgestrige Kleinstadtleben schon einen besonderen Sinn haben, um hier angesichts der allseitigen Radikal-Entschleunigung nicht irgendwann aus der Kurve zu purzeln. Dies würde wohl unvermeidlich geschehen, wäre nicht der Autor ein besonderer Mann. Der sich hier „Benjamin Black” nennt (und mit diesem Buch bereits seinen dritten Quirke-Krimi vorlegt), ist mit Klarnamen nämlich niemand anderer als der vielfach preisgekrönte irische Schriftsteller John Banville, der zuletzt mit seinem Roman „Unendlichkeiten” (siehe Literaturen 2/2012) Furore gemacht hat. Wie es ihm gelingt, dieses leicht angestaubte, feuchtkalte, dabei jedoch immer auch liebenswerte Dublin einer anderen gesellschaftlichen Epoche zu beschwören, das allein ist die Lektüre wert. Zwar gönnt Black sich hie und da einen Schlenker ins Genrehafte, insgesamt aber führt er den Leser mit einer solchen literarischen Sinnlichkeit durch die Szenen, dass gerade das Unauffällige von Fall und Ambiente einen eigentümlichen Charme entwickelt. Bis der schmucke „Alvis” an einem nebligen Wintertag über die Klippen schießt, und Quirke sich wegen Fahrens ohne Führerschein in einem unversicherten Auto keine Sorgen mehr zu machen braucht. Benjamin Black: Eine Frau verschwindet. Aus dem Englischen von Andrea O'Brien. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 344 S., 19,99 €
Frauke Meyer-Gosau
Benjamin Black beschwört das Dublin der fünfziger Jahre
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kultur
2013-02-23T13:31:43+0100
2013-02-23T13:31:43+0100
https://www.cicero.de//kultur/schoener-sterben-fuer-nostalgiker/53427
Brexit verschoben - Die Prokrasti-Nation
Manche Abgeordnete saßen zu Füßen des Premierministers auf dem Boden des House of Commons. Nicht unbedingt aus Bewunderung. Im britischen Unterhaus gibt es für die 650 Abgeordneten einfach nicht genügend Sitzplätze. Am Samstag hatten sich fast alle ins Parlament gedrängt, um der historischen Abstimmung über den Austrittsvertrag beizuwohnen, den Boris Johnson mit der EU am Donnerstag in Brüssel ausgehandelt hatte. Statt über den Vertrag selbst stimmten die Abgeordneten dann allerdings zuerst über einen Zusatz dazu ab. Darin forderte Tory-Rebell Oliver Letwin, dass das Parlament erst dann seine Zustimmung zum Austrittsvertrag geben würde, wenn ein Austritt ohne Abkommen ausgeschlossen werden konnte und Boris Johnson in Brüssel um Verschiebung des Brexit angesucht habe, sollte er seinen Vertrag bis zum 31. Oktober nicht ratifizieren können. Damit wollte Letwin verhindern, dass Johnson doch noch einen No-Deal-Brexit in letzter Minute durchzieht. Das Unterhaus nahm diesen Antrag mit 322 zu 306 Stimmen an. Die Regierung hatte – wie derzeit oft – verloren. Boris Johnson, das Haar wie üblich kunstvoll verstrubbelt, erhob sich nach der mit höchster Spannung erwarteten Abstimmung und donnerte trotzig: „Ich werde nicht mit der EU über eine weitere Verschiebung des Brexit verhandeln! Wir treten am 31. Oktober aus!“ Verwirrt blickten sich nicht nur die Abgeordneten auf den grünen Bänken an. Auch die Reporter auf der Pressegalerie waren sprachlos. Zwei Sprecher des Premierministers konnten auch nicht weiterhelfen: „Wir können Ihnen nicht mehr dazu sagen“, meinten sie bei einem Hintergrundbriefing. Großbritanniens wichtigste Journalisten schimpften: „Was soll das heißen?“ und „Glauben Sie nicht, dass unsere Leser das Recht haben zu wissen, ob der Premierminister wie aufgefordert einen Brief nach Brüssel schreibt oder lieber das Gesetz bricht?“ Der Regierungssprecher sagte knapp: „Schreiben Sie doch in den nächsten Stunden erst einmal über die Abstimmung!“ So blieben an diesem historischen Tag im Westminister-Palast wieder die wichtigsten Fragen offen. Boris Johnson muss dem Gesetz nach einen Brief nach Brüssel schreiben, in dem er um eine Verschiebung des Brexit ersucht. Eventuell aber schreibt er einen Brief, in dem er formal um Verschiebung bittet, den man in Brüssel aber so lange nicht beantwortet, bis Boris Johnson am Dienstag oder Mittwoch das Gesetz zum Austrittsabkommen, die sogenannte „Withdrawal Act Bill“, im Parlament in beiden Häusern diskutieren und dann abstimmen hat lassen. Dann müsste Johnson mit der EU nicht über weiteren Aufschub verhandeln. Alle Aufmerksamkeit richtet sich also jetzt auf diese Abstimmung nächste Woche. „Boris Johnson hat gute Chancen, dass sein Scheidungsabkommen angenommen wird“, meint Tony Travers, Politik-Professor an der „London School of Economics“: „Viele moderate Tory-Rebellen werden mit ihm stimmen.“ 21 moderate Abgeordnete wurden aus der Partei geworfen, weil sie gegen Johnsons No-Deal-Drohung opponierten. Werden alle von ihnen am Ende mit dem Premier stimmen, um wieder in ihre angestammte politische Heimat gelassen zu werden? „Wenn Johnson seinen Deal bekommt, dann werden wir dumm aussehen“, hatte Tory-Rebell Rory Stewart im Interview mit Cicero gesagt. Doch nicht nur die Konservativen folgen dem Premierminister nächste Woche eventuell fast geschlossen in einen harten Brexit. „Auch unter manchen Labour-Abgeordneten gibt es einige, die für seinen Deal stimmen wollen.“ Sie könnten die zehn Stimmen der nordirischen DUP wettmachen, die Johnson verloren hat, weil er mit seinem harten Brexit-Deal die Zollgrenze ins irische Meer zwischen Nordirland und Großbritannien verlegt hat. Um Politikprofessor Tony Travers herum drängten sich Hunderttausende Demonstranten, die am Samstagnachmittag ins Zentrum von London gekommen waren, um mit einem der größten Protestmärsche der britischen Geschichte ihre Regierung dazu aufzufordern, das Abkommen nicht nur im Parlament abstimmen zu lassen, sondern auch der Bevölkerung in einem Referendum vorzulegen. „Brexit ist schlimmer als Schulaufgaben“, stand auf einem Transparent, dass Jessica und Josh Lynch in ihren Händen hielten. Sie sind sechs und vier Jahre alt. Ob der Premierminister den Einsichten der Kinder  folgt und sich zu einer bindenden  zu seinem Brexit-Deal verpflichtet? Es ist nicht anzunehmen. Denn Johnson könnte sonst sein Versprechen, am 31. Oktober die EU verlassen zu haben, nicht halten. Ein Referendum bräuchte einige Monate Vorbereitung. Johnson selbst möchte so schnell wie möglich den Brexit-Deal ratifizieren und dann zu Neuwahlen schreiten. Wenn er den Brexit vorher geliefert hat, dann hat er den Sieg schon fast in der Tasche.
Tessa Szyszkowitz
Boris Johnsons Regierung hat die Abstimmung über den Brexit auf nächste Woche verschoben. Das britische Unterhaus stellt dem Premierminister eine letzte Hürde in den Weg. Bei dem liegen die Nerven inzwischen blank. Dabei kann er eigentlich siegessicher sein
[ "Brexit", "Brexit Verhandlungen", "Boris Johnson", "Großbritannien", "Unterhaus", "House Of Commons", "EU" ]
außenpolitik
2019-10-19T18:33:56+0200
2019-10-19T18:33:56+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/brexit-verschoben-unterhaus-eu-ratifizierung
Stadtspaziergänge Südtirol - Schräge Pflaster
Die Kunstwissenschaftlerin Marion Piffer Damiani kennt Brixen aus dem Effeff. 1963 in der Stadt geboren, wohnt die freie Kuratorin, Kunstpublizistin und Präsidentin des Bozner Museions heute nahe dem historisch bedeutenden Kloster Neustift. Für Piffer Damiani zeichnet sich ihre Heimatstadt vor allem durch die lange religiöse Tradition aus, die sich in eine einzigartige Kulturlandschaft eingeschrieben hat. Orgelwettbewerb Brixen kann man hören; am lautesten auf den vielen historischen Kirchenorgeln. Egal ob die mehr als 3 000 Pfeifen zählende Hauptorgel des Doms oder die nach dem Orgelbauer Daniel Herz benannte Orgel in der Frauenkirche – überall hinterlässt die Stadt ihren besonderen Sound. International berühmt ist auch der jährlich im September stattfindende Orgelwettbewerb. danielherz.it Stadtgalerie Brixen Zeitgenössische Kunst gibt es in der Stadtgalerie unter den Lauben. Der vom Südtiroler Künstlerbund geleitete kleine Ausstellungsraum hat sich ganz auf die quirlige Szene Norditaliens spezialisiert. Einmal im Jahr wird ein neuer Kurator ernannt, der sich für das kommende Jahresprogramm verantwortlich zeigt. kuenstlerbund.org Domkreuzgang Das Herz der Stadt liegt im alten Dombezirk. Die weit ins Mittelalter zurückreichende religiöse Tradition ist Markenkern von Brixen. Einmalig sind die Fresken aus der Zeit der Gotik, die noch heute den Kreuzgang schmücken. Ein Bildfundus, aus dem selbst noch heutige Künstler ­Inspirationen ziehen. Gruppe Dekadenz Eine stille Oase für Künstler und Bohemiens ist das Stufels-Viertel auf der anderen Seite des Eisacks. Wo vor Jahrtausenden erste menschliche Siedlungen gegründet wurden, befinden sich heute denkmalgeschützte Häuser und kleine Künstlerateliers. Unverwechselbar: der urige Kabarett-Keller der Gruppe Dekadenz. dekadenz.it Meran vereint das Beste aus zwei Welten: Jugendstil und Zeitgenossenschaft, Urbanität und Natur, k. u. k und Dolce Vita. Genau wie die ambivalente Stadt im Etschtal sind auch die Kleider der Meraner Modedesignerin Mirjam Hellrigl. Mit ihrem Label „Überfliegerin“ hat Hellrigl eine Heimat für die stilvolle Verschmelzung von Klassik und Gegenwart kreiert. Mit­ zeitlosen Schnitten und nachhaltigen Entwürfen setzt die Jung­designerin stilvolle Akzente für die schnelllebige Gegenwart. ueberfliegerin.com Schloss Trauttmansdorff Das kleine Schloss mitten im botanischen Garten ist zum Symbol für die historische Kurstadt im Etschtal geworden. Spätestens seitdem die österreichische Kaiserin Sisi hier 1870 ihren Kururlaub  verbracht hat, ist Trauttmansdorff mit seinen vielen neugotischen Elementen weit über die Grenzen Südtirols bekannt geworden. trauttmansdorff.it Pferderennbahn Einmal im Jahr, ­immer am letzten Sonntag im September, putzt sich die Stadt zu einem besonderen Ereignis heraus: dem Großen Preis von Meran. Das international renommierte Hindernisrennen hat die 1935 eröffnete Pferde­rennbahn auch an anderen Tagen des Jahres zu einem  besonderen Ort werden lassen: ein Highlight für Haflinger, ­Pferdeliebhaber, und ­gewöhnliche Fußgänger. ippodromomerano.it Rössl Bianco Wer eine schöne Stadt zur Heimat hat, kennt die Highlights nur vom Vorübergehen. Wäre Mirjam Hellrigl Gast in Meran, sie würde im historischen Rössl Bianco residieren. Hinter einer hölzernen Tür in den Meraner Lauben eröffnet sich ein Blick in eine vergangene Epoche. Doch auch wer nur zum Kaffee vorbeikommt, genießt hier ein sinnliches Abenteuer. roesslbianco.it Thermen Als Modemacherin schwört Mirjam Hellrigl auf Nachhaltigkeit. Aber auch privat ist ihr ökologisches Bewusstsein wichtig. Ein Besuch der 2005 eröffneten Thermen gegenüber des alten Kurhauses ist daher immer nur ein besonderes Schmankerl im Jahreszyklus. Wohl dosiert kann man aus der Wohlfühloase Ruhe, Kraft und Gesundheit ziehen. termemerano.it Die Brüder Armin und Alexander Pedevilla haben 2005 ein Architekturbüro gegründet, das zum Aushängeschild für die gelungene Symbiose aus Südtiroler Baukunst und moderner Formensprache werden konnte. Die Bauten, die Pedevilla Architects realisiert, bringen die Dinge zu ihrem Kern. Und so sind auch die Tipps, die die Pedevilla-Brüder für ihre Heimatstadt Bruneck bereithalten: klar, erdig und ohne Schnickschnack. Bühelwirt Wer ursprüngliche Natur mit innovativer Architektur verbinden möchte, der sollte das Wanderhotel Bühelwirt in St. Jakob nördlich von Bruneck besuchen. Das von Pedevilla Architects errichtete Erweiterungsgebäude des Hotels reduziert das Leben auf das Wesentliche, und mit dem verzerrten Grundriss wurde Platz für 20 neue Zimmer auf sechs Etagen geschaffen. buehelwirt.com Tuchfabrik Moessmer Als Schnittstelle zwischen Kunst und Mode wird auf dem Firmengelände das Projekt „Artists by Moessmer“ realisiert. Ganzjährig arbeiten hier die Künstlerinnen Julia Bornefeld, Sylvie Riant und Wilma Kammerer in einer eigens bereitgestellten Werkhalle. In einem jährlichen Sommerprojekt wird die Stadt Bruneck dann zur Bühne für international beachtete Performance-Kunst. moessmer.it Schuhe Stricker In dem Geschäft am Brunecker Graben bleibt ein Schuster im besten Sinne bei seinem Leisten. In der Maßschuhwerkstatt von Armin Stricker dreht sich alles um den gehobenen Schuh. In jedem Paar Stricker-Schuhe steckt nicht nur viele Jahre Erfahrung; jedes Modell ist ein kleines Kunstwerk, bei dem die Natürlichkeit des Leders durch alte Gerbungsmethoden bewahrt wird. arminstricker.com Stadttheater Bruneck Dieses Theater ist kein normales Schauspielhaus: ­Neben den üblichen Theater­produktionen organisiert die ­1994 gegründete kleine deutschsprachige Bühne Gastspiele, Kabarettabende, Konzerte, Lesungen, Kindertheater und Film­vorführungen. Viel Publikum zieht zudem immer wieder die Konzertreihe „Weltklassejazz“ an. Doch Achtung!: Bei den 80 Sitzplätzen sind Karten oft nur schwer zu haben. stadttheater.eu Schauspielerin Gerti Drassl wurde 1976 in der Gemeinde Eppan nahe Bozen geboren. Nach der Matura ging sie nach Wien, wo sie am Max-Reinhardt-Seminar eine Ausbildung zur Schauspielerin begann. 2002 wurde Drassl Ensemblemitglied des Theaters in der Josefstadt und war seither in zahlreichen Filmen zu sehen – darunter in „Das Tagebuch der Anne Frank“ oder in der Verfilmung des Seethaler-Romans „Der Trafikant“. Trotz der Erfolge auf großer Bühne kehrt die Schauspielerin auch immer wieder gern ins kleine Eppan zurück. Lichthöfe der Laubengebäude Lauben gibt es in vielen Städten Südtirols. Die Bozner Lauben aus dem 12. Jahrhundert aber sind nicht nur besonders prächtig, sie verweisen auch auf die lange Handelsgeschichte der Stadt. Selbst die Fugger unterhielten hier einst eigene Kontore. Typisch sind die langen Laubengänge auf der Vorderseite und die Lichthöfe mit ihren alten Fenstern und Stiegen im Inneren. Fischbänke in der Dr.-Streiter-Gasse Wo über Jahrhunderte die Bozner Fischer ihre Waren feilboten, sitzt man heute gemütlich in der ­Sommersonne und genießt an alten Marmortischen Wein und kleine Speisen. Für Gerti Drassl sind die Fischbänke der ideale Ort, um die italienische Lebensart der alten Domstadt aufzusaugen. Kirche St. Johann im Dorf In jeder Stadt sucht Gerti Drassl nach Orten des Rückzugs. Angefangen hat das einst in Bozen mit der kleinen Kirche St. Johann im Dorf, die ihr ihre Patin gezeigt hat. Die kleine ein­schiffige Kirche aus der Zeit der Romanik ist ein Kleinod der Stille. Einzigartig sind die Fresken aus dem 14. Jahrhundert. Eppan an der Weinstraße Wer sich von Bozen aus in Richtung Kaltern begibt, der wird in den Hügeln auf die historische Gemeinde Eppan stoßen. Gerti Drassl mag diesen Ort nicht nur, da sie hier 1976 geboren wurde, sie schätzt auch den geschichtsträchtigen Boden: Im Mittelalter kämpften hier die Grafen von Eppan gegen die von Tirol. Die Tiroler gewannen; andernfalls würde Südtirol heute sehr wahrscheinlich Eppan heißen. eppan.com Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Südtirol“ von Cicero und Monopol.
Cicero-Redaktion
Fünf Kulturschaffende aus Südtirol zeigen ihre Geheimtipps in Brixen, Meran, Bruneck und Bozen
[ "südtirol", "Weltkulturerbe", "Kultur", "Kulturerbe" ]
kultur
2020-02-26T17:43:37+0100
2020-02-26T17:43:37+0100
https://www.cicero.de//kultur/stadtspaziergange-schrage-pflaster-sudtirol-sonderheft-cicero-monopol-kulturerbe
Corona-Krise in Spanien - Von einem Notstand zum nächsten
In Spanien haben die unzähligen Internet-Memes zum Coronavirus und zur Ausgangssperre Konkurrenz bekommen: Seit einigen Tagen zirkulieren im Netz Boykottaufrufe gegen deutsche und holländische Produkte. Wie zuletzt während der Wirtschaftskrise wird über die Sparmeister aus dem Norden geflucht. Im sonst so europafreundlichen Spanien prognostizieren manche bereits das Ende der Europäischen Union. Die EU hat dem Hilfsgesuch des spanischen Premiers Pedro Sánchez eine Absage erteilt: Sogenannte „Corona-Bonds“, ein gemeinsames Instrument zur Schuldentilgung, wird es nicht geben. Der Vorstoß scheiterte zuvorderst am Widerstand aus Deutschland und den Niederlanden. Hinter den Pyrenäen fühlt man sich allein gelassen – mitten in der schwersten Krise, die das Land zu bewältigen hat. Nach Italien ist Spanien das EU-Land, in dem das Virus am verheerendsten wütet. 80.110 Menschen sind als Coronavirus-Patienten erfasst, 6803 sind bereits gestorben, 838 waren es allein am Sonntag. Die Totenzahlen steigen schneller als sie das jemals in der chinesischen Provinz Hubei, schneller, als sie das in der italienischen Lombardei taten. Zwar verläuft der Anstieg der Infizierten nicht mehr ganz so rasant, der Scheitelpunkt der Pandemie könnte also bald erreicht sein. Aber nach dem Gesundheitsnotstand kommt der Wirtschaftsnotstand. Ab Montag stehen Fließbänder und Baukräne still, produziert werden darf nur noch für den lebensnotwendigen und den medizinischen Bedarf. Das stete Wirtschaftswachstum, auf das man im Nachkrisen-Spanien so stolz war, das geringe Defizit, mit dem man sich als europäischer Musterschüler behauptete: Es ist Geschichte. Dass Spanien jetzt nach europäischer Solidarität ruft, ist alles andere als wohlfeil. Denn die dramatische Corona-Krise hat auch strukturelle Ursachen – und die erklären sich, zumindest teils, aus der schweren Wirtschaftskrise 2008-2013 und der europäischen Antwort darauf. Damals legte sich Spanien auf Druck der Europäischen Union ein hartes Sparprogramm auf: Der Arbeitsmarkt wurde mit verbilligten Kündigungen und erleichterter Zeitarbeit grundlegend reformiert, auch im Gesundheitswesen sollten massiv Kosten eingespart werden. Allein in der Region Madrid wurden 3.000 Betten eingespart, 4.000 Stellen gekürzt. All das fehlt jetzt. Gewerkschaften verschicken Videoclips von Madrider Krankenschwestern, die sich aus Müllsäcken zusammengeklebte Schutzanzüge überziehen. In Barcelona bitten Krankenhäuser die Bevölkerung, Taucher- und Schnorchelbrillen für Ärzte und Pfleger zu spenden. Weil während der Krisenjahre weniger Stellen ausgeschrieben wurden und viele junge Akademiker abwanderten, gibt es kaum personellen Puffer im Pflegepersonal. Auch im Gesundheitssektor hat sich das Virus rasend schnell verbreitet. Fast 15 Prozent der spanischen Covid-19-Patienten sind Ärzte, Pfleger, Krankenschwester – gerade jetzt dringend benötigtes Personal. „Wir bezahlen sehr teuer für all das, was wir während der Krise eingespart haben“, sagt Javier Padilla, Hausarzt aus dem Madrider Norden, „Das wird uns noch viele Jahre beschäftigen“. Um die wirtschaftlichen Folgen der Krise abzufedern, hat die Linkskoalition von Pedro Sánchez ein 200 Milliarden Euro schweres Hilfsprogramm angekündigt. Mit zwanzig Prozent des Brutto-Inlands-Produkt ist es das umfangreichste der Geschichte Spaniens. Dass es reichen wird, glaubt keiner. Bereits seit Beginn des Alarmzustands sind Schulen, Restaurants, Theater, Kinos, Geschäfte (mit Ausnahme des täglichen Bedarfs) geschlossen. Ab Montag werden auch die Angestellten von nicht lebensnotwendigen Branchen nach Hause geschickt. Wer nicht im bereits jetzt empfohlenen Homeoffice arbeiten kann, soll Zwangsurlaub nehmen, danach schaut man weiter. Dazu kommen die zwei Millionen, die von ihren Arbeitgebern bereits vorübergehend in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden – und Hunderttausende reguläre Kündigungen. Der wirtschaftliche Shutdown trifft vor allem die Branche hart, die in den letzten Jahren mit stetig wachsenden Zahlen als Stabilitätsgarant galt: den Tourismus. Über zwölf Prozent des spanischen BIP werden über das Geschäft mit Sonne, Strand, Sangría erwirtschaftet, auf den Kanarischen Inseln, den Balearen und entlang der Mittelmeerküste sind es sogar 35 Prozent. Doch jetzt baumelt vor sämtlichen Hotellerie-Betrieben des Landes das Schild „vorübergehend geschlossen“. Über eine halbe Million Menschen werden, so schätzen die Branchenverbände, in der laufenden Saison ihren Job verlieren. Dazu kommen die gewaltigen Einbußen all derer, die indirekt von Urlaubern und Reisenden profitieren: Souvenirhändler, Fährbetriebe, Restaurants. Lässt der Normalzustand sechs Monate auf sich warten, gehen der Branche knapp 62 Milliarden Euro verloren, das sind 40 Prozent. Vermutlich werden es sehr viel mehr. Denn die Besucher aus Europa, Asien und den USA kommen erst wieder, wenn die Pandemie auch bei ihnen richtig ausgestanden ist. Für sein Krisenmanagement hat Pedro Sánchez viel Kritik von der Opposition bekommen. Die Maßnahmen seien zu spät gekommen, setzten an den falschen Hebeln an. Doch über eines ist man sich einig: Ohne europäische Hilfe wird Spanien den Weg aus der Doppel-Krise nicht finden. So viel Einverständnis ist selten in Spanien. Auch das zeigt, wie dramatisch die Lage ist.
Julia Macher
Spanien ist in Europa von der Coronavirus-Pandemie nach Italien am schwersten betroffen. Die Zahl der Todesfälle ist extrem hoch – und nach dem Gesundheitsnotstand droht eine schwere Wirtschaftskrise. Das Land fordert Hilfe von der Europäischen Union.
[ "Spanien", "Madrid", "Coronakrise", "Coronavirus" ]
außenpolitik
2020-03-30T11:19:29+0200
2020-03-30T11:19:29+0200
https://www.cicero.de/aussenpolitik/coronavirus-krise-spanien-notstand
Nato und Russland - Der neue Kalte Krieg
Der gestrige Beginn der russischen Militäraktion gegen die Ukraine hat in Europa Entsetzen ausgelöst. Auch die Reaktionen der Bundesregierung zeigten, dass man damit nicht gerechnet hatte. Emotionale Betroffenheit, Entschlossenheit zur Härte, aber auch eine nicht zu übersehende Hilflosigkeit prägten die gestrigen Reaktionen. Wir hatten uns nach dem Kalten Krieg auf ein kommodes Leben in Frieden und Sicherheit eingerichtet; mit einem Mal ist diese Gewissheit zerstört. Der groß angelegte, das ganze Land umfassende russische Militäreinsatz, der auf nachhaltige Destabilisierung, Zerstörung von militärischer Infrastruktur und -potential der Ukraine und einen Regimewechsel in Kiew abzuzielen scheint, hat überrascht. Ich war eher von einem allenfalls regional begrenzten Einsatz mit dem Ziel der Besetzung von Teilen der Ostukraine ausgegangen. Die Breite und Stoßrichtung des russischen Angriffs zeigt jedoch, dass es Präsident Putin offenbar mit seiner geopolitisch-historischen Mission ernst meint und er einen Eintrag ins Geschichtsbuch als der Wiederhersteller russischer Geltung als Großmacht sucht. Ist Putin damit jemand, der, die russischen Möglichkeiten unterschätzend, leichtsinnig ein unkalkulierbares Risiko eingegangen ist? Waghalsig ist der umfassende Angriff schon zu nennen. Aber offenbar ist er trotzdem scharf kalkuliert, wobei Putin auf die große russische Überlegenheit baut und vermutlich – auch schon aufgrund der Widerstände (zwar einer Minderheit) in seinem eigenen Land –  einen schnellen militärischen Erfolg zu erreichen sucht. Viel zitiert wird aus der Fernsehansprache, mit der Putin den Krieg einleitete, die Drohung, dass jeder, der versuche, sich Russland in den Weg zu stellen, oder wer Bedrohungen für Russland oder das russische Volk schaffe, wissen müsse, „dass die Reaktion Russlands sofort erfolgen wird, und dass die Folgen so sein werden, wie Sie es in Ihrer Geschichte noch nie gesehen haben“. Man mag spekulieren, ob sich dahinter auch die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen verbirgt. Als gewiefter Taktiker hält sich Putin in diesem Punkte bedeckt. Entscheidend dürfte jedoch sein, dass er sich nicht demütigen lassen will und er deshalb alles daran setzen wird, den Angriff erfolgreich zu beenden. Er dürfte damit auch vor massivster Gewalt nicht zurückschrecken. Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine zu sehen. Es ist aller Ehren wert, einem Land, dem man sich aufgrund gemeinsamer Werte verbunden fühlt, zu helfen. Allerdings könnte die Hilfe durch die Lieferung von Waffen angesichts der ungeheuren militärischen Überlegenheit Russlands wie auch der Tatsache, dass Russland neben den USA die größte globale Nuklearmacht ist, dazu führen, dass das Blutvergießen auf ukrainischer Seite nur noch größer wird. Insofern können die jetzt nach dem russischen Angriff auch in Deutschland verstärkt erhobenen Forderungen nach Waffenlieferungen zwar als Ausdruck der Solidarität (oder auch des schlechten Gewissens) gegenüber der Ukraine betrachtet werden. In letzter Konsequenz sind sie jedoch – will man es pointiert formulieren – Ausdruck einer wenig sinnvollen Symbolpolitik. Will man zynisch sein, so muss man feststellen, dass die Ukraine verloren ist. Eine solche Feststellung mag schmerzen, entspricht jedoch der Lage, wie sie sich aktuell darstellt. Dies gilt auch, als sich die Nato die realpolitischen Einsicht zu eigen gemacht hat, dass mit einem eigenen militärischen Eingreifen das Risiko eines großen Kriegs in Europa und gar eines Nuklearkriegs verbunden ist. Was sollte der Westen, was sollte Deutschland jetzt tun? Die folgenden Punkte erscheinen besonders vordringlich: - Umsetzung der Solidaritätsversprechungen gegenüber der Ukraine durch Öffnung der Grenzen und Aufnahme von Kriegsflüchtlingen sowie Schutz im Westen gelegener ukrainischer Einrichtungen und Vermögen. - Schnellstmögliche und entschiedene Umsetzung der beschlossenen Sanktionen gegen Russland. - Rückversicherung der mittelosteuropäischen und baltischen Nato-Partner durch Suspendierung der im Rahmen der Nato-Grundakte 1997 einseitig eingegangenen Verpflichtung, keine „substantiellen Kampftruppen“ in den ab 1999 in die Nato-aufgenommenen Mitgliedstaaten zu stationieren. - Daran anknüpfend Organisation eines robusten Verteidigungsdispositivs der Nato an den Grenzen zu Russland und Belarus; ggfls. Einrichtung einer Vorneverteidigung mit der Zuweisung von durch verschiedene Bündnispartner zu besetzenden/verantwortenden Gefechtsstreifen nach dem Vorbild des Nato-Dispositivs in der Bundesrepublik Deutschland während des Kalten Kriegs. - Verstärkungen der Anstrengungen zu einem „Informationskrieg“, um die russische Bevölkerung zu erreichen, die in ihrer Mehrheit noch immer glaubt, dass Russland von den USA und der Nato bedroht ist. Es ist nicht zu erwarten, dass Russland zur Einstellung der Kampfhandlungen bzw. zum Rückzug aus der Ukraine zu bewegen sein wird. Auch die beschlossenen scharfen Sanktionen werden dies nicht bewirken. Russland scheint beispielsweise durch Hortung von Devisenreserven vorgesorgt zu haben; auch dürfte die Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung als hoch zu veranschlagen sein. Einmal mehr zeigt sich, dass Putin die von ihm definierten Interessen mit Konsequenz und auch langem Atem verfolgt. Dies hat er auch in anderen Bereichen bereits bewiesen. So hat er den Wegfall der beiderseitigen Verwundbarkeit als Grundlage strategischer Stabilität zwischen Russland und den USA infolge der amerikanischen Kündigung des ABM Vertrags 2002 nicht einfach hingenommen. Er hat vielmehr die Entwicklung von neuen, die US-Raketenabwehr überwindenden Waffensystemen in Angriff genommen. Dies hat Zeit benötigt und dem wirtschaftlich schwachen Russland besondere Kraft abgefordert. Erst 2018 kündigte Putin die erfolgte Entwicklung und Indienststellung neuer nuklear bestückter Raketentypen – darunter Hyperschallraketen, neue endphasengelenkte Interkontinentalraketen sowie Unterwasserdrohnen – an. Ziel ist die Wahrung der sogenannten „Zweitschlagsfähigkeit“ gegenüber den USA. Dieses Beispiel zeigt: Es wäre ein Fehler, Putin zu unterschätzen und zu erwarten, dass Russland kurzfristig „in die Knie“ gezwungen werden kann. Es ist müßig, darüber zu sinnieren, ob der Krieg Putins zu verhindern gewesen wäre. Allerdings fällt schon auf, dass die USA und die Nato ein einfallsloses Krisenmanagement verfolgt haben, sehr einseitig auf das Mantra der Verhängung von harten Sanktionen für den Fall einer russischen Intervention gesetzt haben und auf die russischen Kerninteressen nicht hinreichend eingegangen sind. Ich bin darauf mehrfach an anderer Stelle eingegangen. Putin hat durch den militärischen Angriff und dadurch, dass er Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz bei deren Besuchen in der vergangenen Woche hinters Licht geführt hat, die Chancen für erneute diplomatische Lösungsbemühungen zumindest in kurzfristiger Perspektive zunichte gemacht. Wir müssen uns jetzt auf einen neuen Kalten Krieg mit Russland einstellen. Während wir der russischen Aggression jetzt weitgehend ohnmächtig zusehen, stellen sich in der Perspektive eines neuen Kalten Kriegs dringliche Aufgaben, die keinen Aufschub dulden. Es sind die seit langem bekannten Hausaufgaben zu erfüllen: die Beseitigung der Ausrüstungs- und Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr, auf die der Inspekteur des Heeres gestern mit der Bemerkung, dass die Bundeswehr in der Ukrainekrise „mehr oder weniger blank“ dastehe, mit bemerkenswerter Deutlichkeit hingewiesen hat. Und es geht darum, dass wir das in der Nato gemeinsam definierte Ziel eines Anteils von 2% der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt erfüllen und die nukleare Teilhabe jetzt nicht in Frage stellen. Dem dürfen wir uns im Interesse des transatlantischen Zusammenhalts nicht entziehen. Daneben muss auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder allgemeinen Dienstpflicht überlegt werden; sie wurde 2010 ja lediglich ausgesetzt und besteht deshalb im Prinzip fort. Und es geht um das Ziel, endlich eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU zu schaffen, bei der die militärischen Fähigkeiten harmonisiert und gestärkt werden, damit sie letztlich den schon jetzt gegebenen finanziellen Gesamtaufwendungen, die um ein Mehrfaches über denen Russlands liegen, entsprechen. Zum einen wäre dies eine Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato; es wäre andererseits aber auch eine Rückversicherung gegen einen unter einer neuen Regierung in Washington nicht auszuschließenden Politikwechsel und eine Abwendung von Europa; die erratische Kommentierung des ehemaligen US-Präsidenten Trump, der in dieser Woche das Vorgehen Putins gegen die Ukraine als genial pries, sollte zu denken geben. Es geht letztlich um die Selbstbehauptung Europas in einer zunehmend komplexeren, von Machtpolitik bestimmten Welt, in der Multilateralismus, regelbasierte Ordnung und universelle Werte geschwächt sind. Bei aller Betonung der notwendigen verteidigungspolitischen Vorsorge darf aber auch das diplomatische Engagement gegenüber Russland nicht völlig ausgesetzt werden. Die Forderung eines russischen Rückzugs aus der Ukraine bleibt zentral; allerdings sollte sich der Westen überlegen, was er dafür in punkto Nato-Erweiterung und Stationierung von Truppen bzw. Waffen in Mittelosteuropa und den baltischen Staaten zu konzedieren bereit ist. Selbst wenn dieses Thema aufgrund nicht erkennbarer russischer Bereitschaft zu Deeskalation und einem Einlenken aktuell nicht auf der Tagesordnung steht: Bei der sich entwickelnden verschärften militärischen Konfrontation wird die Notwendigkeit rüstungskontrollpolitischer Maßnahmen zur Absicherung der instabilen und gefährlichen Sicherheitslage deutlich werden. Durch Transparenz-, Entzerrungs- und beschränkende Maßnahmen, die die Dislozierung von Streitkräften und Waffen beider Seiten ebenso wie militärische Übungen betreffen, sollte das Risiko von Fehlkalkulationen und des unbeabsichtigten Einsatzes von militärischen Kräften nach Möglichkeit gebannt werden. Die neue Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag eine neue abrüstungspolitische Offensive vorgenommen. Angesichts des heraufziehenden Kalten Kriegs hieran anknüpfend mit inhaltlich-konzeptionellen Vorbereitungen zu beginnen, wäre sehr nützlich, selbst wenn an neue rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen mit Russland zum jetzigen Zeitpunkt niemand denken mag. Und schließlich dürfen die Möglichkeiten zur Fortsetzung von zivilgesellschaftlichen Kontakten und Dialog mit Russland nicht vernachlässigt werden. Die russische Bevölkerung ist nicht mit dem Putin-Regime gleichzusetzen. Sie zu informieren und Verständnis für die westliche Position zu erzeugen, sind wichtige Anliegen. Letztlich geht es nicht um eine Bestrafung der russischen Bevölkerung, sondern um eine entschiedene Reaktion auf das Regime Putin und den von ihm angezettelten Krieg. Deshalb bleibt auch die Frage der Gestaltung einer Russland einbindenden europäischen Sicherheitsarchitektur und ein Neubeginn in den Beziehungen mit dem großen, für die Sicherheit nicht nur Europas so wichtigen Land auf der Tagesordnung. Insgesamt sollten jetzt nicht emotionales Pathos und moralische Entrüstung, sondern nüchterne Realpolitik für den Westen leitend sein. Bei allem gilt es, die Ukrainekrise und den von Russland begonnenen Krieg vom Ende her zu denken und auch die globale Großmächterivalität nicht aus den Augen zu lassen. Das bloße Vertrauen darauf, dass letztlich Freiheit und Demokratie siegen werden, mag trügerisch sein.
Rüdiger Lüdeking
Der russische Militäreinsatz in der Ukraine hat viele überrascht. Putins Entschlossenheit wird mit Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu stoppen sein. Der Westen sollte von seiner Forderung nach einem Rückzug russischer Truppen zwar nicht abrücken - eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur wird aber auch Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen müssen.
[ "Ukraine-Konflikt", "Russland", "Wladimir Putin", "Nato" ]
außenpolitik
2022-02-25T14:43:24+0100
2022-02-25T14:43:24+0100
https://www.cicero.de/aussenpolitik/nato-russland-der-neue-kalte-krieg-ukraine-putin
Eklat um Boris Palmer - Von falschen Judensternen und falschen Nazis
Nein, Boris Palmer trägt keinen Judenstern. Er ist keine entrechtete Minderheit, die ein Staat zur Vernichtung freigegeben hat und alles dafür tut, dieses Ziel zu erreichen. Dass er sich selbst so sieht, ist ebenso absurd wie lächerlich und brachte ihm den Vorwurf der Holocaustrelativierung ein. Immerhin hat er mittlerweile eingesehen, wie falsch er lag. Da er zugleich eingestand, rhetorisch immer wieder rote Linien zu überschreiten und sich danach zerknirscht zeigte, könnte für eine Art von Läuterungsprozess sprechen. Kann damit dieser Eklat am Rande einer Migrationskonferenz als erledigt angesehen werden? Eigentlich nicht. Denn da war ja noch etwas, außer Palmers imaginärem Judenstern. Da gab es die Demonstranten, die ihn als Nazi beschimpft hatten. Es ist erstaunlich, dass diese Grenzüberschreitung in der medialen Beschäftigung praktisch keine Rolle spielt, als hätten sie ihn einfach nur „Idiot“ genannt. Dabei ist diese unbekümmerte Art, politische Gegner als Nazis zu bezeichnen, der eigentliche Dammbruch, der in den letzten Jahren so oft passierte, dass vom Damm nicht mehr viel übrig ist. Boris Palmer trägt keinen Judenstern, er ist aber auch kein Vertreter einer rassistischen Ideologie, die das jüdische Volk ausrotten wollte und einen Vernichtungskrieg in Osteuropa geführt hat. Bemerkenswert, dass so etwas überhaupt klargestellt werden muss. Stattdessen ist er Bürgermeister einer deutschen Kleinstadt und sieht eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, die Energiewende möglichst schnell voranzubringen. Ein ideologischer Schwerpunkt, der sich doch ein wenig vom Traum eines arischen Endsiegs unterscheidet. Macht aber nichts, trotzdem grölen seine Gegner: Nazi! Das könnte Sie auch interessieren: Auf eben diese Weise verliert der Begriff seine Bedeutung. Jemand ist für mehr Ukrainehilfe: Nazi. Jemand ist für weniger Ukrainehilfe: Nazi. Jemand will das Kindergeld kürzen: Nazi. Jemand ist gegen das AKW-Aus: Nazi. Dieser Vorwurf hat schlicht nichts im friedlichen Streit innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft zu tun, die Kompromisse aushandelt und sich so immer wieder erneuert. Man kann nicht Boris Palmer vorwerfen, den Holocaust zu relativieren, weil er einen eingebildeten Judenstern trägt, aber der Meinung sein, dass dieser Maßstab nicht auch angelegt werden muss, wenn absurde Nazi-Vorwürfe erhoben werden. In Frankfurt hatten an diesem Tag also beide Seiten die NS-Verbrechen relativiert, aber nur Palmer wurden es vorgeworfen. Dabei könnte ihm zumindest noch zugutegehalten werden, dass nicht er den rhetorischen Diskursrahmen gesetzt hat, sondern von der Gegenseite von Beginn an als Nazi bezeichnet wurde und schließlich auf dieses unterirdische Niveau einstieg. Seine Gegner hingegen scheinen ein rein taktisches Verhältnis zu den Verbrechen der Nazis zu haben, wenn sie es für legitim halten, einen demokratischen Politiker auf diese Weise anzugehen und offenbar kein anderes Niveau als das der Verunglimpfung und Niedertracht zu kennen. Während die Empörung über Palmer also über alle politischen Grenzen hinweg einhellig war, wurden die vorausgegangenen Beschimpfungen nicht beanstandet. Das entspricht einem generellen Trend, nach dem die Relativierung nicht per se problematisch ist, sondern vom dahinterstehenden Motiv abhängt. Wer auf der richtigen Seite steht, darf es recht frei einsetzen. Die Empörung setzt erst ein, wenn die Falschen einen absurden historischen Bezug herstellen. Genau das ist im Falle Boris Palmers passiert. Eigentlich trafen in Frankfurt zwei Seiten aufeinander, die sich beide „Nazi!“ – „Selber Nazi!“ an den Kopf warfen, während das medial aber nur einer Seite übelgenommen wurde. Dieser Doppelstandard ist bezeichnend für den Umgang mit der Nazizeit und der Frage, wann Verweise auf jene Epoche angemessen sind. Gerade weil der Begriff durch seinen inflationären Gebrauch ausgehöhlt wird, verliert er zunehmend seine eigentliche Bedeutung. Längst wird er gegen politische Gegner gerichtet, gegen Parteien, Unternehmen und sogar – als perfideste Verdrehung – gegen den jüdischen Staat Israel. Im Internet wiederum ist die Hemmschwelle, andere als Nazi zu bezeichnen, ohnehin längst nicht mehr vorhanden. Für eine Gesellschaft, die mit gutem Grund immer aufmerksam bleiben muss, was ein tatsächliches Erstarken des Nationalsozialismus angeht, ist das eine beunruhigende Entwicklung. Um vor einer Gefahr warnen zu können, muss sie erkannt werden können. Wenn aber alle Nazis sind, ist keiner ein Nazi. Davon profitiert niemand, außer echte Nazis.
Gideon Böss
Boris Palmer trägt keinen Judenstern, er ist aber auch kein Vertreter einer rassistischen Ideologie, die das jüdische Volk ausrotten wollte. Wer absurde Nazi-Vorwürfe gegen Palmer erhebt, kann ihm nicht gleichzeitig vorwerfen, den Holocaust zu relativieren.
[ "Boris Palmer", "Rassismus", "Antifa" ]
innenpolitik
2023-05-03T17:03:20+0200
2023-05-03T17:03:20+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/boris-palmer-nazi-vorwurf-holocaust-frankfurt
Staatsverschuldung – Bitte Schulden machen
Als ich noch in Italien lebte, plünderten Christdemokraten und Sozialisten dort die Kassen des Staates. Es herrschten Verschwendung und Korruption, und die Staatsverschuldung kletterte auf 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), begleitet vom sinkenden Vertrauen in öffentliche Institutionen und die Politik. Kein Wunder also, dass ich die deutsche Stabilitätskultur als angenehm beruhigend empfinde. Gleichwohl ist es für den Ökonomen in mir befremdlich, wie oft in Deutschland die Staatsverschuldung verteufelt wird. Schlagworte wie Schuldenbremse, Generationengerechtigkeit oder Haushaltskonsolidierung bestimmen hierzulande die Debatte. Dabei sind Schulden an sich nichts Schlimmes, während die Politik durch unkontrolliertes Sparen des Staates das bisher so erfolgreiche Gesellschaftsmodell Deutschlands aufs Spiel setzen kann. Zwar ist die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu Recht das zentrale Grundanliegen jedes guten Finanzministers. Denn sie bedeutet, dass der Staat sämtliche Verpflichtungen erfüllen wird, die er mit der Aufnahme von Schulden eingegangen ist. Der Blick ist dabei in die Zukunft gerichtet, auf den Zeitpunkt, wenn die Zinsen gezahlt und die Schulden getilgt werden müssen. So konnte sich der japanische Staat bisher trotz einer Schuldenstandsquote von 200 Prozent immer noch problemlos refinanzieren. Die irischen öffentlichen Finanzen galten dagegen bereits bei einer Schuldenstandsquote von etwa 60 Prozent als nicht mehr nachhaltig. Das liegt daran, dass die Märkte nicht nur auf die Höhe der Staatsschulden schauen, sondern auch auf die zu erwartenden Haushaltssalden. Japan trauen die Anleger zu, in Zukunft ausreichende Primärüberschüsse zu erzielen. Bei Irland fürchten sie dagegen, dass das Land zahlungsunfähig wird, und verlangen daher eine Risikoprämie. Es ist unbestritten, dass Länder wie Irland ihre Haushalte konsolidieren sollten, um den Zinssatz für neue Kredite zu verringern. In Ländern wie Deutschland, das von den Märkten als hundertprozentig kreditwürdig betrachtet wird, gilt diese Logik aber nicht. Für sie ist es viel wichtiger herauszufinden, wie hoch ihre optimale, staatliche Neuverschuldung ist. Ja, so etwas gibt es. Die beste Analogie, um das zu erklären, ist die des „guten Familienvaters“. Wann geht dieser zur Bank, um einen Kredit aufzunehmen? Wenn er dadurch das Wohlergehen seiner Familie erhöht. Dies geschieht, wenn für seine Familie der Nutzen der durch die Verschuldung ermöglichten Investition die Kosten der Verschuldung (Zinsen und Tilgung) übersteigt. Analog dazu sollte der Staat zum Weltkapitalmarkt pilgern und sich verschulden, wenn für seine Bürger der Ertrag der damit finanzierten Maßnahmen (Steuersenkung, Transfererhöhung, Erhöhung des Staatskonsums oder der öffentlichen Investitionen) die Kosten der Verschuldung (Zinsen und Tilgung) übersteigt. Umgekehrt ist ein Schuldenabbau sinnvoll, wenn die vermiedenen Kosten der Verschuldung größer sind als der soziale Ertrag der Maßnahmen, auf die verzichtet wird. Als guter Familienvater kann der Staat durch eigene Verschuldung und Entschuldung die Steuersätze im Zeitverlauf konstant halten. Dadurch verringert er die Kosten für die Privathaushalte, die aus einer ständig schwankenden Besteuerung resultieren würden. Ferner sollte die staatliche Neuverschuldung antizyklisch sein. So bedingt die relativ hohe Arbeitslosigkeit während einer Rezession, dass die tatsächlichen Kosten von Neueinstellungen für den Staat geringer sind als die dafür bezahlten Löhne. Kreditfinanzierte öffentliche Vorhaben, die indirekt Arbeitsplätze schaffen oder sichern, sind daher am Anfang einer Rezession viel sinnvoller als während eines Booms. Entgegen der Sicht der Boulevardpresse und des Bundes der Steuerzahler beinhaltet die nominale Höhe der Staatsverschuldung keine relevante Information. Dagegen signalisiert ein konstantes Verhältnis der Staatsschulden zum BIP – die Schuldenstandsquote – sowohl den Wählern als auch den Märkten, dass die künftige Verschuldung nicht ausufern wird. Falsch ist die Vorstellung, dass ausgeglichene Haushalte die Schuldenstandsquote stabilisieren. Bei nominal wachsendem BIP und Nulldefiziten verringert sich ständig die Schuldenstandsquote, bis sie verschwindend gering ist. Hartnäckig wird auch behauptet, dass eine rasche Schuldentilgung zu geringeren Kosten für den Staat führe. Es stimmt zwar, dass eine hohe Verschuldung mit hohen Schuldendienstaufwendungen einhergeht. Beträgt die Schuldenstandsquote 70 Prozent und refinanziert sich der Staat zu einem Zins von 4 Prozent, gibt er jedes Jahr 2,8 Prozent des BIP für die Zinsen aus. Es ist aber ein Irrtum, dass die Lasten für den Staat geringer wären, wenn er sofort einen Teil seiner Schulden tilgen würde. Zahlt der Staat heute eine bestimmte ausgeliehene Summe vorzeitig zurück, vermeidet er zwar entsprechende künftige Zinsausgaben, aber das auf diese Art verwendete Geld steht ihm dann nicht mehr zur Verfügung. Der Staat hätte dieses Geld beispielsweise für festverzinsliche Wertpapiere ausgeben können. Durch die Tilgung verzichtet der Staat auf die Zinsen, die diese Wertpapiere abgeworfen hätten. Dieser verborgene Einnahmeverlust ist mindestens so groß wie die Zinsausgaben, die sich der Staat dank der vorzeitigen Tilgung erspart. Ein Staat, der sich aufgrund seiner exzellenten Bonität ohne Risikoprämien zusätzliches frisches Geld auf dem Kapitalmarkt holen kann, gewinnt durch die Tilgung seiner Schulden auch keinen weiteren finanzpolitischen Raum. Es sei denn, er hat sich vorher freiwillig gesetzlichen Verschuldungsgrenzen unterworfen – wie den Maastricht-Kriterien oder der deutschen Schuldenbremse. In diesem Fall gewinnt die Regierung eines solchen Staates sehr wohl finanziellen Handlungsspielraum, wenn sie den Schuldenstand verringert, weil sie dann im Jahr darauf mehr Geld zur Verfügung hat. Aber kann dies eine Politik der raschen Schuldentilgung rechtfertigen? Nein. Sinn und Zweck einer Obergrenze für die Neuverschuldung ist es ja gerade, die Entscheidungsfreiheit der Regierungen zu beschränken, weil sie aus eigennützigem politischen Kalkül höhere Defizite anstreben, als es optimal wäre. Ein größerer finanzpolitischer Spielraum wäre daher kontraproduktiv, weil eine opportunistische Regierung so leichter die eigene Klientel bedienen könnte. Je stärker man an die Notwendigkeit finanzpolitischer Schranken glaubt, desto schwächer ist das Argument, dass die Verschuldung zurückgeführt werden sollte, um den künftigen finanzpolitischen Spielraum zu vergrößern. Zum Schluss holen die Befürworter eines zügigen Schuldenabbaus dann immer das „politisch korrekte Argument“ der Generationengerechtigkeit hervor. Obwohl keiner sich bisher die Mühe macht, sie zu definieren. Der Gedanke dahinter ist, dass durch Abbau staatlicher Schulden eine gerechte Umverteilung zugunsten der künftigen Generation auf Kosten der heutigen erreicht wird. Diese Argumentation steht aus zwei Gründen auf tönernen Füßen: Der erste ist, dass eine rasche Schuldentilgung gar nicht zwingend den Interessen der nächsten Generation entspricht. Um tilgen zu können, muss der Staat nämlich auf Ausgaben verzichten oder die Abgaben erhöhen. Wegen ausbleibender öffentlicher Investitionen geht die Tilgung mit einer Verschlechterung der öffentlichen Infrastruktur einher, die man den künftigen Generationen hinterlässt. Auch wenn die Tilgung durch eine Kürzung von Sozialleistungen oder durch Erhöhung der Abgaben finanziert wird, ist keine nennenswerte Verbesserung für die kommende Generation zu erwarten. Die davon betroffenen Eltern verringern dann zwangsläufig die finanzielle Unterstützung ihrer Kinder: Sie schenken ihnen weniger Geld oder hinterlassen eine kleinere Erbschaft. Trotz formaler Umverteilung der Steuerlast erfolgt keine echte Umverteilung des Wohlstands. Es gibt einen zweiten Grund, warum man kein Herodes-Fan sein muss, um dem Argument der Generationengerechtigkeit skeptisch gegenüberzustehen. Selbst wenn man per Schuldentilgung Wohlstand von der heutigen zur nächsten Generation umverteilen könnte, bleibt unklar, warum dies gerecht sein sollte. Von einer Generation zur nächsten wuchsen bisher Einkommen, Gesundheitsstand und Bildungsgrad. Daher wird es der nächsten Generation wahrscheinlich auch ohne Schuldenabbau besser als der heutigen gehen. Eine Umverteilung von der heutigen zur nächsten Generation entspräche dann einer Umverteilung von Arm zu Reich. Dennoch glauben manche Befürworter einer raschen Schuldentilgung, dadurch eine Umverteilung von Reich zu Arm erreichen zu können. Sie argumentieren: Je niedriger die Staatsverschuldung, desto niedriger die Zinsausgaben, desto geringer die Zinseinkommen der Vermögensbesitzer, desto gleichmäßiger die Einkommensverteilung. Dass diese Überlegung nicht stimmt, erkennt man, wenn man die Situation institutioneller Investoren, wie Fonds oder Versicherungen, mit der der Kleinanleger vergleicht. Halbiert sich die Menge der deutschen Staatsanleihen auf dem Weltkapitalmarkt, hat dies eine vernachlässigbare Auswirkung auf die Preise und Renditen der übrigen Finanzprodukte. Für die institutionellen Anleger ändert sich kaum etwas: Anstelle der deutschen Staatsanleihen halten sie französische oder niederländische, oder sie investieren in andere etwas riskantere Finanztitel. Die Gesamtrendite ihres Portfolios und somit ihr Vermögenseinkommen ändert sich so gut wie gar nicht. Anders sieht es für die deutschen Kleinanleger aus. Diese sind regelmäßig risikoscheu, verfügen im Vergleich zu den Profis über wenig Informationen und zahlen hohe Transaktionskosten. Für sie sind deutsche Staatsanleihen nicht leicht ersetzbar, und sie würden sie auch dann kaufen, wenn ihre Rendite noch niedriger wäre als heute. Verringerte sich die Menge der angebotenen deutschen Staatsanleihen wirklich sehr stark, müssten diese Anleger sich woanders umschauen und eine geringere Rendite in Kauf nehmen, da der Marktpreis der dann knapper gewordenen deutschen Staatsanleihen steigt. Banken, die diesen Kleinsparern genug Sicherheit anböten, könnten ihnen Produkte mit sehr geringen Renditen verkaufen. Im Ergebnis sorgte die Schuldentilgung dann für eine Umverteilung zwischen den Beziehern von Vermögenseinkommen: von den deutschen Kleinsparern hin zu weltweit agierenden Anlegern und Banken. Das eigentliche Problem ist aber, dass die Debatte um die öffentliche Verschuldung von den zentralen ökonomischen Fragen in Deutschland ablenkt. Wir müssen darüber diskutieren, ob wir bereit sind, für bestimmte öffentliche Güter Ressourcen vom Privat- in den öffentlichen Sektor umzulenken und auf bestimmte Staatsausgaben und Steuerbefreiungen zu verzichten. Es geht um mutige Reformen in der Verwaltung und im politischen System, um die Qualität von staatlichen Entscheidungen zu verbessern. Wenn die Politik aber stattdessen mit Hinweis auf die Schuldenbremse die Grundlagen des hiesigen Gesellschaftsmodells unterminieren will, dann hätte ich auch in Italien bleiben können.
Eine rasche Tilgung der Staatsschulden bringt uns keine Generationengerechtigkeit, schafft Spielraum für politischen Opportunismus und schadet den deutschen Kleinanlegern. Vor allem lenkt sie die Debatte von den wichtigen ökonomischen Fragen in Deutschland ab.  
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wirtschaft
2011-06-08T16:08:09+0200
2011-06-08T16:08:09+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/bitte-schulden-machen/42056
Massive Neuverschuldung - Im Corona-Casino spielen alle mit
156 Milliarden Euro neue Schulden für den Kampf gegen Corona: Das ist ein Donnerschlag! Und genau so soll es auch klingen. Aber hätten 50 oder 100 Milliarden nicht denselben Zweck erfüllt? 156 Milliarden: Die Zahl scheint so sehr an den Haaren herbeigezogen, dass man sich Sorgen machen muss, ob mancher in der Bundesregierung nicht gerade den Kopf und die Nerven verliert. 156 Milliarden: Diese Zahl ist – nach menschlichem Ermessen beim heutigen Wissensstand um die Ausmaße dieser Katastrophe – unverhältnismäßig hoch und so weit weg von der „Schwarzen Null“, die die amtierenden Bundesfinanzminister nun immerhin schon seit dem Jahr 2014 gehalten haben. Seit sechs Jahren hat der Bund keine neuen Schulden aufgenommen. Unseren Kindern und Enkeln zuliebe. Muss man um diese symbolträchtige Null trauern? Nicht eine Minute! Auch ohne Corona wären einem genügend kluge und nachhaltige Investitionen eingefallen, für die der Bund neue Schulden hätte aufnehmen können – gerade in Zeiten Nullzinsen, in denen er quasi ohne Kosten Kredite aufnehmen kann: Für den Kampf gegen wirtschaftliche Armut und die Bildungsarmut, für den Strukturwandel wegen der Energiewende, für die Verkehrswende, zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Und für vieles mehr. Hat er aber nicht. Jetzt braucht es eben viel, viel Geld für den Kampf gegen das Coronavirus. Und der nächstliegende Gedanke ist, dass man einer beispiellos großen Krise auch mit Investitionen in beispielloser Höhe begegnen sollte. So lange man keine klügere Idee hat, stimmt das wohl auch. Insofern ist die extreme Höhe der aufgerufenen Summen leider ein Indiz für die Unsicherheit der Verantwortlichen: Die Regierung will offenbar so viel Geld in den Wirtschaftskreislauf drücken, dass allen denkbaren Gruppen – von den Solo-Selbstständigen bis zu Schwabens Mittelständlern mit Tausenden Industriebeschäftigten – alle Sorgen im Keim erstickt werden. Nichts gegen Beruhigungspillen: Wenn dieses Land etwas gerade nicht gebrauchen kann, dann sind es Menschen, die eingepfercht sind in ihren Mietwohnungen, und gleichzeitig um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten müssen. Und doch muss man die astronomischen Summen ins Verhältnis setzen, um zu verstehen, was die Regierung hier tut. Zum Vergleich: Der medizinische Kampf gegen das Virus spielt nur eine Nebenrolle. „Nur” drei Milliarden, also weniger als zwei Prozent oder ein Fünfzigstel der 156 Milliarden Euro, sollen an die Klinikbetreiber gehen, damit sie jetzt möglichst viele Leben retten können. Und erinnert sich jemand an den Streit der Koalition um die sogenannte „Grundrente”? An der Detailfrage, ob die Bedürftigkeit jedes einzelnen Empfängers überprüft werden muss, wäre die Koalition vor Monaten fast zerbrochen! Für diese Grundrente ab dem Jahr 2021 sind nur rund 1,3 Milliarden Euro (also ein Hundertzwanzigstel) der nun angesagten Corona-Summe veranschlagt. Insgesamt würde diese Schuldenaufnahme den bisher angesetzten Bundeshaushalt um deutlich mehr als ein Drittel (plus 43 Prozent) erweitern. Das klingt nach Schlagkraft, ist aber auch eine historisch extrem hohe Last, die die Regierung den jungen Generationen aufbürden will – ohne die Frage beantwortet zu haben, welche weiteren Kosten noch auf heimische Steuerzahler zukommen, wenn Deutschland ökonomisch weitaus schwächeren Ländern der EU im Kampf gegen Corona unterstützen will. Oder muss, soll die Union erhalten werden. Und wofür das alles? Um Ruhe zu haben, Harmonie zu erkaufen. Kein Regierungsmitglied besaß bisher den Mut oder die Frechheit öffentlich ein paar unbequeme Fragen zu stellen: Warum zum Beispiel in Bund und Ländern pauschal jeder Kleinstunternehmer oder Solo-Selbstständige von Steuergeld unterstützt werden soll. Sind das wirklich allesamt prekär beschäftigte Lohnsklaven, denen eine Festanstellung stets verwehrt worden ist, und denen man jetzt zweifellos Existenzsorgen nehmen muss? Oder sind nicht auch viele darunter, die in guten Tagen gern von allen denkbaren – nicht nur steuerlichen – Freiheiten und Vergünstigungen der Freiberuflichkeit profitiert haben und die sich erfolgreich den teuren aber wirksamen Schutzsysteme der Solidargemeinschaft entzogen haben. Und was ist mit den Unternehmern, deren gesamtes Geschäftsmodell auf Unterstützung durch Freiberufler beruht? Auch sie sollen durch die Steuern von Arbeitern und Angestellten gerettet werden. Unbequem – aber geboten – wäre es auch, zumindest fünf Minuten das geplante Gesetz zu hinterfragen, mit dem die Regierung für Vermietern pauschal verbieten will, ihren Mietern wegen Rückständen zu kündigen. Natürlich sollte jeder Vermieter, der während der Corona-Krise einem Mieter – egal ob privat oder gewerblich – kündigt, zur Hölle fahren. Aber unter den Vermietern sind auch Privatpersonen, die nur ein bis zwei Wohnungen besitzen, und die Kredite für den Kauf auch jeden Monat über Jahre bei der Bank abstottern müssen. Wer hilft ihnen? In diesen Tagen ist Zusammenhalt gefragt, nicht Spaltung, Solidarität statt Neid. Wir bleiben zu Hause, wir helfen anderen, wir retten so Leben. Hoffentlich. Trotzdem muss gefragt und hinterfragt werden: Muss und kann der Staat eine Vollkaskoversicherung für alle Unternehmer sein, auch für die, die sich gern von Steuerlasten befreit haben? Sind all die Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreift, wirklich geeignet, um langfristig die Gesundheit und den sozialen Frieden in diesem Land zu sichern? Oder taugen sie nur für einen Schub in der nächsten Wahlumfrage? Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz erlebt gerade seinen Helmut-Schmidt-Sturmflut-Moment. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser den ehemaligen Hamburger Bürgermeister auch irgendwann ins Kanzleramt spült, steigt nicht mit der Höhe der Corona-Rettungssumme, sondern mit der dem Grad an Weitsicht und Fairness, mit der der Minister das nötige Steuergeld unter die Leute bringt.
Kevin P. Hoffmann
Die Coronakrise zwingt die Regierung zur Aufgabe der schwarzen Null. Mit den finanziellen Hilfen von mehr als hundert Milliarden Euro wird der Bundestag eine massive Neuverschuldung beschließen. Aber sind wirklich alle Mittel recht, um den Wirtschaftsschaden klein zu halten und die Gemüter zu beruhigen?
[ "Coronavirus", "Bundesregierung", "Schulden", "Corona", "Coronakrise" ]
wirtschaft
2020-03-24T13:54:03+0100
2020-03-24T13:54:03+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/corona-staatshaushalt-milliarden-hilfen-verschuldung-schwarze-null-bundestag/plus
Künstler in der Coronavirus-Krise - Wie Leslie Mandoki auf die Pandemie reagiert
Leslie Mandoki kann auf eine lange Musikerkarriere zurückblicken, seine Produktionen und Co-Produktionen reichen von der Popgruppe Dschinghis Khan Ende der 1970er Jahre bis zur Zusammenarbeit mit dem Berliner Rapper Sido. Geboren 1953 in Budapest, floh er 1975 nach Westdeutschland. Er sieht sich nicht nur als Musiker und Produzent, sondern auch als politischer Mensch, wie er auch im Interview mit dem Cicero im Dezember 2019 verriet. Auch in der Coronavirus-Krise äußert er sich sehr politisch. Uns hat der Künstler darum gebeten, sein Statement zu veröffentlichen, wir kommen dem gern nach. Mandoki äußert Gedanken, die wahrscheinlich vielen von uns in dieser außergewöhnlichen Situation umtreiben. Er fordert einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt und bedankt sich bei denen, die derzeit die wohl schwersten Jobs haben: Ärzte, Pfleger, Polizisten, aber auch Busfahrer. Und er hat eine Bitte an Angela Merkel. Hier können Sie das ganze Statement sehen:
Cicero-Redaktion
Im vergangenen Jahr war der Schlagzeuger und Sänger Leslie Mandoki zu Gast im „Cicero“-Interview, um über seine Erfahrungen als Flüchtling und seine Sicht auf Integration zu erzählen. Nun äußerte er sich in einem Video-Statement zur Coronakrise.
[ "Leslie Mandoki", "Coronavirus", "Coronakrise", "Statement" ]
kultur
2020-03-19T12:44:23+0100
2020-03-19T12:44:23+0100
https://www.cicero.de//kultur/kunstler-in-der-coronavirus-krise-wie-leslie-mandoki-auf-die-pandemie-reagiert
Nach Camerons Wahlsieg - Treten die Briten nun aus der EU aus?
„Das ist der süßeste Sieg aller Zeiten“, rief David Cameron am frühen Morgen in der Parteizentrale der konservativen Tory-Partei. Fürwahr: Der 48-jährige britische Premierminister hat triumphal gesiegt. Ein an sich schon viel zu oft verwendeter Songtitel gewann am Freitag in Großbritannien neue Bedeutung: „The winner takes it all“. Entgegen aller Umfragen kehrt David Cameron nicht nur nach 10 Downing Street für eine zweite Amtszeit zurück. Seine Partei erreichte 331 der 650 Sitze im Unterhaus. Eine klare Mehrheit geführt, die es ihm in den kommenden fünf Jahren erlaubt, ohne Koalitionspartner zu regieren. Auf dem Schlachtfeld blieben fast alle seiner Herausforderer zurück: Ed Miliband, der glücklose Chef der Labour-Partei, trat am Mittag zurück. Seine Partei errang nur 232 Mandate (minus 26). Auch Nick Clegg, Chef der Liberaldemokraten und in den vergangenen fünf Jahren Camerons kleiner Koalitionspartner, legte den Vorsitz der Partei zurück. Clegg musste die Verantwortung für die Dezimierung seiner Abgeordneten von 57 auf 8 übernehmen. Auch Nigel Farage, der charismatische Führer der xenophoben, EU-feindlichen UKIP-Partei verlor am Freitag Haus und Hof. Sein Sitz ging an die Konservativen. Er hatte versprochen, in diesem Falle auch den Parteivorsitz zurückzulegen. Am Ende hatte UKIP 13 Prozent der Stimmen, aber dank des Mehrheitswahlsystems nur ein Mandat gewonnen. David Camerons Konservative dagegen räumten ab. Das Votum ist eine Bestätigung seiner bisherigen Arbeit und ein Mandat für dessen Fortsetzung: Eine Mehrheit der Briten sprach den Tories die Kompetenz zu, die Wirtschaft in Schwung gebracht zu haben. Dass dies mittels eines schmerzhaften Sparprogramms geschah, nahmen die Wähler den Konservativen offenbar nicht übel. Im Gegenteil. Sie bedankten sich noch bei ihrem Premierminister mit dem Auftrag für eine Alleinregierung. Im Vorfeld des Urnengangs wurde geunkt, dass mit dem Aufstieg der schottischen Nationalisten und UKIP das Ende des britischen „First-past-the-post“-Systems bevorstünde. Dieses Prinzip, bei dem nur einer pro Wahlkreis gewinnen kann und der Rest der Stimmen verfällt, hatte seit 130 Jahren fast immer einer Partei eine Mehrheit besorgt. Doch „First-past-the-post“ schien nicht mehr zu funktionieren: Anhand der Meinungsumfragen hatte man noch vor dieser Wahl vermutet, dass nicht einmal eine Zwei-Parteien-Koalition aus Tories und Liberademokraten genügend Stimmen für eine absolute Mehrheit hätte. Cameron hat dies nun wieder zurechtgerückt. Eine Reform des Mehrheitswahlsystems scheint unwahrscheinlicher denn je. Der Erfolg der schottischen Nationalisten unter der energetischen Sympathieträgerin Nicola Sturgeon wird eine Herausforderung für Cameron darstellen. Die SNP hat ihre Mandate fast verzehnfacht: von 6 auf 56 Sitze. Ihre Forderungen nach mehr Autonomie für Schottland bis hin zu einem neuen Unabhängigkeitsreferendum wird Cameron unter Zugzwang bringen, auch England innerhalb der Union zu stärken. Er wird sowohl Schottland als auch England das Recht geben müssen, die Höhe der Einkommensteuern selbst festzusetzen. All das wird am Gerüst des Vereinigten Königreichs rütteln. Für die Partner auf dem europäischen Kontinent ist vor allem aber ein Ergebnis dieser Wahlen von Bedeutung: Camerons Entscheidung, den Briten ein Referendum über den Verbleib in oder den Ausstieg aus der Europäischen Union zu versprechen, war offenbar richtig. Damit steigt nun aber auch die Gefahr eines Brexit – dem Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union. Die EU spielte zwar im Wahlkampf keine besonders große Rolle – Europa rangierte auf der Prioritätenliste der Briten weit hinter Wirtschaft, Immigration und Gesundheitsversorgung. Doch nach diesem Sieg wird Cameron sein Wahlversprechen über ein In-Out-Referendum bis zum Jahr 2017 mit hoher Wahrscheinlichkeit umsetzen. „Auch EU-Befürworter werden sich jetzt eindeutig für ein Referendum aussprechen, um die Frage ein für allemal zu klären“, meinte Tony Travers, Politologie-Professor an der London School of Economics im Gespräch mit Cicero spät in der Wahlnacht. Travers ist „optimistisch, dass eine Mehrheit für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmt. Immerhin gibt es genug historische und wirtschaftliche Gründe, warum die EU existiert und warum Großbritannien darin Mitglied ist.“ Die Wirtschaftselite des Landes ist ebenso für den Verbleib in der EU wie die Labour-Partei und große Teile der Konservativen. Alle gemeinsam müssten eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugen können, der EU nicht den Rücken zu kehren. Cameron selbst ist für den Verbleib in der EU – allerdings nur, wenn sie reformiert wird. „Die EU muss David Cameron halt irgendetwas geben, das er als Erfolg verkaufen kann“, meint Travers. Das wird nicht ganz leicht sein. Großbritannien hat in der Vergangenheit bereits alle denkbaren Sonderregelungen bekommen. Margaret Thatcher bekam 1984 den „Rebate“ zugestanden. Damals gingen 80 Prozent des EU-Budgets an landwirtschaftliche Zuschüsse. Da Großbritannien davon weit weniger profitierte als etwa Frankreich, handelte Thatcher damals eine teilweise Rückerstattung der britischen Zahlungen aus. Heute macht der „Rebate“ knapp vier Millliarden Euro jährlich aus. Dabei ist der Prozentsatz des EU-Budgets, der für die Landwirtschaft ausgegeben wird, inzwischen auf etwa 40 Prozent geschrumpft. Die Briten denken selbstverständlich nicht daran, ihren Rebate deswegen aufzugeben. Welche Reformen David Cameron nun von der EU verlangt, ist immer noch unklar – vielleicht hält der Tory-Chef dies mit Absicht so. Schließlich will er sich den Rücken von seinen europafeindlichen Hinterbänklern in der eigenen Partei freihalten. Und auch gegenüber den EU-Chefs wäre eine zu genaue Festlegung vor Beginn der Verhandlungen kein Vorteil. Auf Camerons Einkaufsliste für mögliche Zugeständnisse an Großbritannien stehen unter anderem: Neue Regelungen, um „riesige Migration“ zu verhindern. Zentral dabei ist Camerons Forderung nach einer Kürzung der Sozialleistungen für Migranten. Da könnte Angela Merkel mit Cameron an einem Strang ziehen. Man bräuchte dafür auch keine Änderung der EU-Verträge. Außerdem möchte Cameron die nationalen Parlamente stärken und keinesfalls weitere Schritte in Richtung einer politischen Union mittragen müssen. Dafür hat zwar zur Zeit auch sonst kaum jemand in der EU die Kraft. Cameron könnte aber vorsorglich ein Sonderprotokoll aushandeln, in dem festgelegt wird, dass Großbritannien nicht zur politischen Union gezwungen werden kann. Vorlagen für ein derartiges „Opt-out“ gibt es ja bereits: Die Briten sind weder Mitglied des Euro, der gemeinsamen Währung, noch der grenzfreien Schengen-Zone. Am Tag nach den Wahlen selbst spielte Europa kaum eine Rolle. Das Erstaunen über Camerons Sieg dominierte. Die Frage, wie er die Mühen der Ebene angehen wird, wurde vertagt. Die Europafreunde sind jedenfalls von den britischen Wählern harsch abgestraft worden. Die Liberaldemokraten, die einzig wahre pro-europäische Partei, verlor fast alle Mandate. Die Strategie von Ed Miliband, sich gegen ein EU-Referendum auszusprechen, machte sich nicht bezahlt. Allerdings dürfte der Misserfolg der Liberaldemokraten und der Labour-Partei wenig mit dem Thema EU zu tun haben. Die Liberaldemokraten haben als kleiner Koalitionspartner ihr Protestpotenzial verloren und die Sozialdemokraten unter „Red Ed“ Miliband konnten die Wähler einfach nicht davon überzeugen, dass sie die wirtschaftliche Kompetenz haben, besser als die Tories zu regieren. Eine Indikation dafür, wie wenig das EU-Thema bei diesen Wahlen mobilisieren konnte, ist auch der relative Misserfolg der EU-feindlichen, xenophoben UKIP-Partei. Die United Kingdom Independence Party errang dreizehn Prozent der Stimmen und lag damit unter den Erwartungen. Dank des „First-past-the-post“-Mehrheitswahlsystems gewann UKIP am Ende nur ein Mandat – und zwar das eines Tory-Überläufers. Selbst der charismatische Parteiführer Nigel Farage verlor sein Mandat an die Konservativen. „Persönlich fühle ich mich erleichtert und ich war noch nie glücklicher!“, rief er etwas zu vergnügt, um authentisch zu wirken. Farage war für den Erfolg seiner Partei ein zentraler Faktor. Dem europafeindlichen Lager fehlt damit erst einmal der Kopf.
Tessa Szyszkowitz
David Cameron hat seine Partei bei den britischen Unterhauswahlen zu einer klaren Mehrheit geführt. Jetzt wird der Chef der konservativen Tory-Partei ein EU-Referendum abhalten müssen. Die Gefahr eines „Brexit“ ist damit gestiegen
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außenpolitik
2015-05-08T14:24:29+0200
2015-05-08T14:24:29+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/grossbritannien-david-cameron-treten-die-briten-nun-aus-der-eu-aus-brexit/59236
Wechsel von Jörg Asmussen - Personalschwund bei der EZB
Am Donnerstag wird Jörg Asmussen noch einmal an der Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) teilnehmen. Dann endet nach nur zwei Jahren der Job des 47-jährigen Deutschen im sechsköpfigen Direktorium der Notenbank – völlig überraschend auch für langjährige EZB-Beobachter. Zumal Asmussen noch Ende Oktober ausgeschlossen hatte, möglicherweise als Finanzminister einer großen Koalition nach Berlin zu wechseln. „Meine Amtszeit in der EZB endet Ende 2019. Ich habe die Absicht, sie zu erfüllen“, hatte Asmussen in einem Interview betont. Jetzt geht er als Staatssekretär ins Arbeitsministerium. Asmussen wird in seiner Partei nicht nur als Finanzexperte hoch geschätzt, sondern auch als ein Mann der Exekutive, der weiß, wie man ein Ministerium steuert. Im Finanzministerium war er vor seiner EZB-Zeit Leiter des Ministerbüros und vier Jahre lang Staatssekretär. Sein Wechsel nach Berlin sei nicht die Idee seiner neuen Chefin Andrea Nahles gewesen, sondern ein Wunsch von SPD-Chef Sigmar Gabriel, sagen Eingeweihte. Trotzdem sei Asmussen wegen seiner Fähigkeiten ein Glücksfall für die neue Arbeitsministerin, die bei Mindestlohn und Rente liefern muss und über den größten Etat im Bundeshaushalt verfügt. Manche hoffen auch, dass die Expertise des Ex- EZB-Bankers der SPD ermöglicht, den Euro-Kurs von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf Brüsseler Ebene besser zu kontrollieren. Auf Unionsseite ist man aber gelassen und vertraut den Gründen, die er selbst für den Wechsel angibt. Asmussen selbst nennt persönliche Gründe für den Umzug, er hat zwei kleine Kinder, die er mehr sehen will. In Brüssel hat man dafür Verständnis. „G 8, G 20, Euro-Gruppe – der musste immer in der ganzen Welt rumturnen“, sagt ein ranghoher Brüsseler Beamte, „und bei den Krisensitzungen ist Draghi immer um acht gegangen und hat an Asmussen übergeben, der dann die ganze Nacht bleiben musste.“ In der Berliner Politik wird vermutet, Asmussen wolle sich politisch in Stellung bringen für eine zukünftige SPD-geführte Regierung. Dass ein Streit innerhalb des Direktoriums und zwischen EZB-Chef Mario Draghi und Asmussen eine Rolle spielt, halten Beobachter für unwahrscheinlich – im Gegensatz zu den Rücktritten des früheren Bundesbank-Präsidenten Axel Weber und von Asmussen- Vorgänger Jürgen Stark. Beide hatten die EZB-Krisenpolitik strikt abgelehnt. Michael Schubert, EZB-Experte der Commerzbank, erinnert daran, dass sich Bundesbank-Präsident Jens Weidmann und Studienfreund Asmussen im Herbst vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Klage gegen das Anleiheprogramm der Bank trafen – Weidmann als Kritiker, Asmussen als strikter Befürworter des EZB-Kurses. Eugen Keller vom Bankhaus Metzler schließt aber Unstimmigkeiten nicht ganz aus, die Asmussen den Wechsel leichter gemacht haben könnten. Angeblich habe der 47-Jährige gegen die jüngste Zinssenkung gestimmt, möglicherweise stehe er weiteren Geldspritzen für die Banken kritisch gegenüber. Klar ist, dass Asmussen mit dem Wechsel nach Berlin – zumindest vorübergehend – an Macht und Einfluss einbüßt und faktisch von der internationalen Bühne verschwindet. Zudem verzichtet er auf Geld. Bei der EZB erhielt Asmussen 2012 ein Grundgehalt von 22 269 Euro im Monat. Als beamteter Staatssekretär kommt er monatlich „nur“ auf rund 12.360 Euro. Viel spricht nach Ansicht von EZB-Experte Schubert für die 49-jährige Bundesbankerin Sabine Lautenschläger: Zum einen hat sich die EZB verpflichtet, den Frauenanteil im mittleren und oberen Management deutlich zu erhöhen. Vor allem im Direktorium und im EZB-Rat ist der Nachholbedarf enorm. Dort liegt die Frauenquote aktuell bei null. Im vergangenen Jahr war die Bestellung des Luxemburgers Yves Mersch in das Direktorium fast an der Frauenfrage gescheitert. Zum anderen soll im Direktorium künftig ein Experte für Bankenaufsicht sitzen, der dann auch zur Spitze des Kontrollgremiums für die europäische Bankenaufsicht gehören soll, die ab November nächsten Jahres von der EZB übernommen wird. Auch hier spricht vieles für Lautenschläger, wie Eugen Keller vom Bankhaus Metzler betont. Schließlich arbeitet die Juristin und gebürtige Stuttgarterin seit 1995 in führenden Positionen in der Bankenaufsicht, vor ihrem Wechsel zur Bundesbank Mitte 2011 mit an der Spitze der Finanzaufsicht Bafin. Als Vizepräsidentin ist Lautenschläger in der Bundesbank für Bankenaufsicht zuständig. Fachlich gilt sie als über jeden Zweifel erhaben, sie scheut sich auch nicht, Bankern sehr klar die Meinung zu sagen. Auch die aktuelle Bafin-Chefin Elke König bringt beste Voraussetzungen für die Arbeit in der EZB mit. Formal hat Deutschland keinen Anspruch auf die Besetzung des Postens, politisch allerdings wird kaum eine Regierung der Euro-Zone daran rütteln. Selbst wenn Lautenschläger von der neuen Bundesregierung nominiert wird, dauert es noch Wochen, bis sie in die EZB einziehen kann. Formal müssen die Finanzminister der Euro-Zone einen Kandidaten oder eine Kandidatin empfehlen, dann folgt eine Anhörung im EU-Parlament. Letztlich entscheidet der Europäische Rat über die Berufung eines neuen EZB-Direktoriumsmitglieds. Mit Jörg Asmussen verlässt einer der wichtigsten Euro-Krisenmanager die europäische Bühne. Erst bereitete er als Finanzstaatssekretär Entscheidungen wie die Einrichtung der Rettungsschirme oder den Schuldenschnitt für Griechenland vor, um dann bei den folgenden Krisensitzungen als „Außenminister“ der EZB auf die andere Seite des Tisches zu wechseln. „Mit Jörg Asmussen verlieren wir einen der besten Vertreter, den Deutschland in vielen Jahren in der internationalen Finanzpolitik hatte“, sagt beispielsweise der Österreicher Thomas Wieser, der als Chef der Euro-Arbeitsgruppe, eng mit ihm zusammengearbeitet hat. „Es gibt wenige, die so rasch den Kernpunkt eines Themas nebst allen möglichen Schwachstellen durchschauen wie er.“ In der Frage der Bankenunion bot Asmussen – aus EU-Sicht zu Recht – auch seinem ehemaligen Dienstherrn Wolfgang Schäuble die Stirn oder verteidigte das umstrittene Schuldenaufkaufprogramm der EZB in Deutschland öffentlich. Asmussens Wirken wird überwiegend positiv bilanziert – bis auf eine Ausnahme: Der schnell verworfene Plan, in der Zypernkrise auch Sparguthaben unter den gesetzlich garantierten 100.000 Euro zur Sanierung zweier maroder Banken heranzuziehen, soll einem EU-Diplomaten zufolge „auf seinem Mist gewachsen“ sein.
Hans Monath
Der Finanzexperte Jörg Asmussen wechselt von einem Top-Job bei der Europäischen Zentralbank ins Arbeitsministerium - und das völlig überraschend. Was steckt hinter diesem Schritt?
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innenpolitik
2013-12-17T09:56:36+0100
2013-12-17T09:56:36+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/ezb-was-bedeutet-der-wechsel-von-jrg-asmussen/56665
Sigmar Gabriels Nazi-Vater - Jeder kämpft mit seinen Waffen
Wie schnell wir uns ein Bild machen. Von Philipp Rösler, dem Verstockten, Unlockeren, von Angela Merkel, der Kühlen, von Steinbrück, dem Arroganten. Und all das nur auf der Basis von Interviewfetzen, von in Mikrofone geschmetterten Satzbruchstücken, von Bildern, die das Fernsehen allabendlich in unsere Wohnzimmer sendet. Da ist es ein Segen, wenn dann und wann mit Hilfe guter Recherche und gegenseitigem Vertrauen zwischen Journalisten und Politikern Menschenleben öffentlich nachgezeichnet werden. Es hilft, die unnahbaren Politiker einzuschätzen – zum Beispiel einen wie Sigmar Gabriel, der vor allem erst einmal wuchtig wirkt und selbstsicher. Souverän, geradezu polternd im Auftreten. Als Person des öffentlichen Lebens Gabriel aber immer auch permanentes Interpretationsobjekt.  Nun kam da also dieses Porträt in der „Zeit“ und plötzlich setzt sich das Bild des polternden, wuchtigen Parteivorsitzenden ganz anders zusammen. Bei der Lektüre wird klar, dass die Person Gabriel auch eine große Portion an Unsicherheit mit sich herumschleppt. Dass er „sich selbst nicht ganz traut“, so schreibt es Bernd Ulrich, Zeit-Redakteur in seinem großen Gabriel-Porträt. [gallery:20 Gründe, warum Merkel Kanzlerin bleiben muss] Zu der Einschätzung kommt Ulrich nach mehreren Treffen mit Sigmar Gabriel, der über einen gewalttätigen Nazi-Vater sprach, wie er es in der Öffentlichkeit nie vorher getan hat. Selbst als der damals todkranke Walter Gabriel vor zwei Jahren in einer rechtsradikalen Zeitschrift öffentlich die fehlende Sorge und Liebe seines Sohnes einforderte, schwieg Gabriel – und nahm in Kauf, dass man ihn als kaltherzigen Menschen darstellte. Die Erklärungen blieben aus. Warum? „Die Geschichte hat einfach gefehlt“, zitiert die Zeit dazu einen engen Freund des SPD-Vorsitzenden. Diese Geschichte aber wird nun geliefert: Nach der Trennung seiner Eltern bleibt der dreijährige Sigmar Gabriel bei seinem Vater, der sich über viele Jahre mit dessen Mutter um das Sorgerecht streitet. Jahrelang wünscht sich Gabriel nichts sehnlicher als „zur Mama“ zu ziehen, schafft es aber nicht, das auch offen gegenüber seinem gestrengen Vater zu sagen. Und so bleibt er. Bezieht Prügel für schlechte Schulnoten, nimmt Taschengeldabzug hin, weil er die neue Frau des Vaters nicht „Mutti“ nennt und akzeptiert den Raub fast aller seiner Kuscheltiere. Als die Mutter ihn endlich zu sich holen will, entführt ihn gar der Vater und zwingt ihn, ihr am Telefon vorzulügen, er wolle beim Vater bleiben. Nächste Seite: Gabriel wird zum Problemkind, er zersticht Reifen, er klaut, bricht alle Regeln Schließlich doch bei der Mutter, entladen sich die Verletzungen der missbrauchten Kinderseele in Ungehorsam und Wut. Gabriel wird zum Problemkind, er zersticht Reifen, er klaut, bricht alle Regeln bis er sich schließlich fängt und seine Wut, sein Engagement in den Dienst einer sinnvollen Sache stellt. „Wir machten Party, Sigmar machte Politik“, beschrieb ihn seine Schulfreundin Gabriele Wagner in einem Gespräch mit dem Cicero vor einigen Jahren. Erst während seiner Bundeswehrzeit besuchte Sigmar Gabriel nach Jahren der Distanz seinen Vater  – in Uniform, wie der es sich gewünscht hatte. Bei dieser Begegnung erst habe der junge Mann begriffen, dass sein Vater seit jeher Anhänger nationalsozialistischer Ideen war. Nach dem Treffen dann brach der Kontakt ab. Für 20 Jahre.[gallery:20 Gründe, warum Merkel Kanzlerin bleiben muss] Der Moment, zu dem Gabriel all diese Geschichten auftischt, fällt für Politik-Beobachter sehr passend in die Zeit zwischen dem Auf- und sofortigen wieder Eintauchen des Kanzlerkandidaten Steinbrück in sich auftuende Fettnäpfchen. Das mag Zufall sein oder nicht. Die Geschichte war sicher reif, erzählt zu werden. Dass es aber für ein solches Gespräch, wie es nun heißt, „keinerlei politische Gründe“ gäbe, ist natürlich Humbug. Als Folge seiner Geschichte, erklärt Sigmar Gabriel der Zeit, ist ihm „ein fast unbändiger Zorn“ geblieben, wenn ihm Ungerechtigkeiten begegnen.  Wie passend für den Vorsitzenden einer Partei, die in diesem Wahlkampfjahr mit dem Thema „Soziale Gerechtigkeit“ auf Stimmenfang gehen will. Ob aber Gabriel seine Geschichte nutzt, um sich neben einem Kanzlerkandidaten, dem der Wind ins Gescht bläst, in Szene zu setzen. Ob er seine SPD stärken will. Ob er langfristig denkt, und seine eigene Kanzlerkandidatur in vier Jahren vorbereitet. Es ist egal. Jeder kämpft mit den Waffen, die ihm gegeben wurden. Sigmar Gabriel hätte im Trainingscamp seines Lebens auch die Waffen strecken können. Nun ist er an den Herausforderungen gewachsen – und nutzt sie im Kampf für seine Macht, für seine Politik, in seinem Land. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
Marie Amrhein
Nach Jahren des Schweigens spricht Sigmar Gabriel über seinen Vater, einen unbelehrbaren Nazi. Die Öffentlichkeit staunt über die Offenheit eines Mannes, der vielen als Fels in der Brandung erschien
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innenpolitik
2013-01-13T11:29:31+0100
2013-01-13T11:29:31+0100
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Wirtschaftskrise in Großbritannien - Zwischen Protest und Optimismus
Die britische Wirtschaft hat schon bessere Tage gesehen. Was mit dem Austritt aus der Europäischen Union begann, wurde durch die Corona-Pandemie verschlimmert und durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs weiter verstärkt. In den vergangenen Jahren war die britische Wirtschaft daher von einer Mischung aus Rezessionsängsten, einem Rekordverfall des Pfund gegenüber dem Dollar und einer Abwanderung von Anlegern aus britischen Vermögenswerten, groß angelegten Streiks, einem sinkenden Lebensstandard, einer Migrationskrise, einem massiven Energieschock sowie einem Arbeitskräftemangel geprägt. Kein Wunder also, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im vierten Quartal 2022 kein Wachstum aufwies. Die Prognosen für 2023 sind auch nicht ermutigender. In diesem Jahr wird Großbritannien voraussichtlich eine der schlimmsten Rezessionen und danach den schwächsten Aufschwung aller G-7-Länder erleben. Es wird erwartet, dass die Inflation anhält, so dass die Bank of England die hohen Zinssätze beibehalten muss, und die Regierung wird weiterhin eine strenge Finanzpolitik verfolgen. Die Lage ist derart angespannt, dass nach Angaben von The Independent 65 Prozent der Einwohner des Landes ein Referendum über die Rückkehr in die Europäische Union befürworten – ein Anstieg von etwa 10 Prozentpunkten gegenüber dem vorigen Jahr –, während etwa 61 Prozent überzeugt davon sind, dass sich die britische Wirtschaft durch den Austritt aus der EU verschlechtert hat. Dennoch agiert London mit einer optimistischen Grundhaltung, indem es eine Strategie für den Aufschwung entwirft, die langfristige Erträge verspricht und es gleichzeitig ermöglichen soll, seine finanzielle Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten (was trotz der Probleme im eigenen Land immer noch im britischen Interesse ist). Premierminister Rishi Sunak hat beschlossen, die öffentlichen Ausgaben drastisch zu kürzen, etwa für Schulen, Polizei, Kommunen und Verkehr, und das gesparte Geld an die schwächsten Bevölkerungsgruppen weiterzuleiten, um die steigenden Lebenshaltungskosten (insbesondere die Energierechnungen) in den Griff zu bekommen – und das, obwohl er Kiew zugesichert hat, die Militärhilfe 2023 beizubehalten oder sogar zu erhöhen. Es ist klar, dass die britische Regierung diese Gelegenheit nutzen will, um ihren Einfluss auf Europa zu vergrößern, und man scheint akzeptiert zu haben, dass dies auf Kosten des Wirtschaftswachstums gehen wird. Sicherlich ist dies ein heikler Balanceakt, aber London weiß, dass seine geopolitischen Bedürfnisse schon immer etwas heikel waren. Die physische Trennung Großbritanniens vom übrigen Europa erfordert eine grundsätzlich andere Herangehensweise an Sicherheit und internationale Beziehungen als beim Rest des Kontinents. Die Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen sind beispielsweise stärker auf die USA als auf Europa ausgerichtet, und das Five-Eyes-Geheimdienstnetzwerk spielt in der britischen Verteidigungsstrategie eine wichtige Rolle. Folglich hat London viel von einem starken Osteuropa zu gewinnen – vorausgesetzt, Russland ist dort nicht die vorherrschende Instanz, und die Region bildet ein Gegengewicht zu seinen historischen Konkurrenten Frankreich und Deutschland. In diesem Sinne erfüllt die Unterstützung Kiews nicht nur britische Sicherheitsverpflichtungen gegenüber den USA, sondern hilft auch dabei, das europäische Festland nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und es erklärt, warum London einer der größten Unterstützer der Ukraine ist und warum es angesichts der schwelenden wirtschaftlichen Spannungen im eigenen Land massive Ausgaben für einen Krieg in einem anderen Land rechtfertigen kann. Es ist natürlich ein Wagnis, und es ist unklar, ob London in der Lage sein wird, es durchzuziehen. Aber das Vereinigte Königreich hat einige Vorzüge. Es ist immer noch eine große, hoch entwickelte Volkswirtschaft mit sozialer Sicherheit und einer recht wohlhabenden Bevölkerung. Es ist in der Produktion von Hightech-Produkten gut aufgestellt, unterhält einen gesunden Handel mit den USA, mit der EU und mit China und ist immer noch eine überragende Macht auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen und im internationalen Handel. Das könnte Sie auch interessieren: Darüber hinaus ist das Vereinigte Königreich auf der Suche nach neuen Märkten, insbesondere mit traditionellen Handelspartnern in Afrika und Indien. In Afrika ist Großbritannien sehr viel aktiver geworden und hat schon vor dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts erklärt, dass es den regionalen Staaten mehr Freihandel als die EU und ehrlichere Geschäfte als China und Russland anbieten will. Dies hat vor allem zu bilateralen Abkommen geführt, etwa dem von der britischen Exportfinanzierungsagentur für 2022 angekündigten, das bis zu vier Milliarden Pfund (rund 4,5 Milliarden Euro) für ausländische Käufer von Waren und Dienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich bereitstellen wird, um die Handelsbeziehungen mit Marokko zu stärken. London hielt auch seinen allerersten Rat für Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ab, um Arbeitsplätze zu sichern und den Handel mit Kenia auszuweiten. Außerdem soll im nächsten Jahr ein afrikanischer Investitionsgipfel ausgerichtet werden. In Indien versucht London, die Wirtschaftsbeziehungen anzukurbeln, indem es auf ein Freihandelsabkommen drängt. Auch koordiniert die Regierung die Zusammenarbeit mit Neu-Delhi in Schlüsselindustrien wie dem Verteidigungssektor, und hochrangige Beamte erörterten kürzlich eine umfassendere bilaterale Sicherheitskooperation. An anderer Stelle erklärte der britische Außenminister James Cleverly, man beabsichtige, langfristige Strategien für die Entwicklung der Beziehungen zu bestimmten Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika zu entwickeln, um zu verhindern, dass Russland dort zu viel Einfluss ausübt. Russland ist natürlich nur ein Vorwand; Großbritannien möchte einen Teil des verlorenen internationalen Einflusses zurückgewinnen und gleichzeitig in ansonsten ungesättigte Märkte für britische Produkte vordringen. Der Schlüssel zum Wiederaufschwung liegt nach Ansicht Londons vor allem darin, seinen Status als Weltmacht zu sichern, wie der umfassende Strategie- und Entwicklungsplan Großbritanniens für die Jahre 2021-2030 in den Bereichen Verteidigung, Außen- und Innenpolitik zeigt. Deshalb sieht es den Krieg in Osteuropa als Chance. Mittelfristig kann es Europa schwächen und gleichzeitig die Beziehungen zu weiter entfernten Regionen ausbauen, was nach Meinung der britischen Regierung eine solidere wirtschaftliche Grundlage bietet als die schnelle Lösung der aktuellen Probleme. In Kooperation mit
Ekaterina Zolotova
Inflation, sinkender Lebensstandard, Rezessionsängste: Im Vereinigten Königreich läuft es alles andere als rund, eine Mehrheit der Briten spricht sich gar für ein Referendum über eine Rückkehr in die Europäische Union aus. Doch London hat andere Pläne.
[ "Großbritannien", "Ukrainekrieg", "Inflation" ]
außenpolitik
2023-03-27T17:00:15+0200
2023-03-27T17:00:15+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/wirtschaftskrise-in-grossbritannien-optimismus-trotz-rezession
Sicherheitspolitik - Das Risiko der sich selbst erfüllenden Prophezeiung
Das Wiedererstarken von Großmachtrivalitäten und Imperien wird beschworen, die Bedeutung des Nationalstaates erneut verabsolutiert und der Globalisierung ein Ende prophezeit – Politisch Interessierte entdecken lang vergessene Begriffe wieder, die im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß erschienen. Und das nur um den Brexit und das Handeln Donald Trumps, Wladimir Putins, Recep Tayyip Erdogans und Xi Jinpings zu erklären. Experten befürchten gar das Zuschnappen der Thukydides-Falle – den unausweichlichen Weg in einen Krieg wie jenen im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt zwischen Sparta und Athen. Brisant ist: All diese Begriffe und die sie umrankenden Erzählungen haben reale Substanz. Deshalb müssen sich Politik, Öffentlichkeit und selbstverständlich die international besonders aktive deutsche Wirtschaft mit diesem Stoff auseinandersetzen. In der Tat weckt das Machtstreben Chinas über die neue Seidenstraße nach Asien, Afrika und Europa Erinnerungen an die Frühphase des Imperialismus im 19. Jahrhundert. Das russische Beharren auf traditionelle Einflussgebiete passt in dieses Erklärungsmuster. Spiegelbildlich unterstellen russische Publizisten der EU und der Nato eine geostrategische Offensive nach Osten mittels Erweiterung der Mitgliedschaft, Partnerschafts- und Assoziierungsabkommen sowie Nachbarschaftspolitiken. Auch für das Wiedererstarken von Großmachtrivalitäten gibt es ausreichend Anzeichen, nicht nur in den Beziehungen der USA zu China und Russland. Im Nahen Osten streiten Iran und Saudi-Arabien am sichtbarsten um Macht und Einfluss, etwas im Hintergrund agiert die Türkei. Die Rivalität zwischen Indien und Pakistan besteht seit deren Staatsgründung. Und wir Europäer diskutieren offen die Frage, ob die EU selbst eine Großmacht werden müsste – oder sich damit zufriedengeben sollte, der Spielball rivalisierender Mächte zu sein. Und natürlich erinnert das Verhältnis zwischen den USA und China an die Falle, die der Historiker Thukydides vor fast zweieinhalbtausend Jahren beschrieben hatte. Seine Ausführungen dazu gelten vielen als Vorlage für die Eskalation des Konfliktes zwischen Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg: Die aufsteigende neue Großmacht – damals Athen, später Deutschland, jetzt China – fordert „einen Platz an der Sonne“. Es geht um Respekt, internationalen Gestaltungsanspruch und Einfluss. Die etablierte Großmacht – Sparta, Großbritannien, die USA – fühlt sich herausgefordert, fürchtet um Status und Macht. Sie versucht, die aufstrebende Macht zurückzudrängen und einzudämmen. Die Folge sind militärische Großkonflikte. Auch die Fokussierung auf die Rolle des Nationalstaats hat gute Gründe – nicht erst seit der „America-First“-Politik Donald Trumps: Der mehrheitliche Wunsch britischer Bürger „to take back control“ im nun von Brexiteer Boris Johnson regierten Vereinigten Königreich; der erfolgreiche Appell rechtspopulistischer Bewegungen an die nationale Identität der Wähler in vielen Staaten Europas oder die Tatsache, wie leicht sich die Bevölkerung von Autokraten in Russland, der Türkei und China für die nationale Sache mobilisieren lässt. All das beweist die Bindekraft und Attraktivität des Konzepts Nationalstaat. Zugleich gibt es deutliche Anzeichen, dass die Globalisierung stagniert. Das Wachstum des Welthandels, das diesen Prozess jahrelang entscheidend vorangetrieben hat, ist seit Ende der Finanzmarktkrise deutlich geringer als 2007/08. Statt Ausweitung des Freihandels greifen immer mehr Staaten zu protektionistischen Maßnahmen. Die Organisation Global Trade Alert zählte zwischen 2009 und 2019 weltweit rund 13.700 handelsbeschränkende Maßnahmen gegenüber nur etwas mehr als 5.000 handelsliberalisierenden Maßnahmen. Global agierende Unternehmen, auch deutsche, erwägen die Lokalisierung und Regionalisierung ihrer weltweiten Wertschöpfungsketten. Kontrollen des grenzüberscheitenden Kapitals nehmen zu. Unterdessen sind internationale multilaterale Organisationen wie die Uno, die WTO und der Internationale Währungsfonds in eine Existenzkrise geraten. Derweil unterliegt die Nutzung zentraler Mittel globaler Kommunikation wie von Internet, Facebook und WhatsApp immer mehr nationalen Einschränkungen. Vielerorts wird sie teilweise oder gar ganz geblockt. Die Mittel dazu besitzen nicht nur China und Russland, sondern auch technologisch nachhinkende Staaten, beispielsweise Ägypten und der Sudan. Dennoch: Trotz ihrer Plausibilität ist es wichtig, die Erklärungskraft dieser Begriffe kritisch zu hinterfragen. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich schon allein daraus, wenn man einen Blick auf jene Begriffe und Erzählungen wirft, die in den vergangenen 30 Jahren unsere Wahrnehmung der internationalen Beziehungen dominiert haben: Da war die Rede vom Ende der Geschichte und vom unipolaren Moment, von Staatszerfall, internationalem Terrorismus und vor allem Globalisierung. Die wohl einflussreichste Erzählung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts findet sich in Francis Fukuyamas 1992 erschienenem Buch „The End of History and the Last Man“. Die zentrale These: Nach dem Ende der sowjetischen Herrschaft steuere die Welt auf eine universale liberale und demokratische Ordnung zu, in welcher Geschichte nicht mehr stattfinde. Diese These prägte eine ganze Generation von Außen- und Sicherheitspolitikern, aber auch Unternehmern – gerade in Deutschland. Sie setzte sich mit großem Vorsprung gegen die konkurrierende Erzählung des „Clash of Civilizations“ von Samuel Huntington aus dem Jahr 1993 durch. Ab Ende der neunziger Jahre setzte sich der Eindruck fest, das Ende der Geschichte sei zumindest übergangsweise eng verbunden mit dem unipolaren Moment. Das heißt: Eine einzige Supermacht, nämlich die USA, verfügt über den Willen und die Mittel, die globale Ordnung nach ihren eigenen – eben liberalen – Vorstellungen durchzusetzen. Der Begriff des „Moments“ verweist bereits darauf, dass selbst Protagonisten dieser Erzählung hierin nur ein Übergangsphänomen sahen. Tatsächlich dominierten seit Mitte der neunziger Jahre Staatszerfall, der Aufstieg nichtstaatlicher Gewaltakteure und des internationalen Terrorismus die Debatte über die internationalen Beziehungen. Robert Kaplan beschwor 1994 in seinem Artikel „The Coming Anarchy“ ein Bild herauf, in dem Mangel, Kriminalität, Überbevölkerung, Tribalismus und Seuchen das soziale Gewebe unseres Planeten zerstören würden. Nationalstaaten, inklusive die USA, wurden in anderen Beiträgen für unfähig erklärt, diesen Herausforderungen Herr zu werden, und zum Teil als obsolet betrachtet. Es folgten Kontroversen über die Krise des Kapitalismus und der internationalen Finanzwirtschaft, die – mit einem erneuten Zwischenhoch der Terrorismusdebatte – in die eingangs zitierten Erzählungen übergingen. Dieser Schnelldurchlauf illustriert die kurze Verfallszeit zwischenzeitlich sehr dominanter Erzählungen. Zudem ruft er in Erinnerung, welche Wirkungskraft diese Narrative haben können. Gerade die These vom Ende der Geschichte hat in Deutschland das internationale Handeln einer Generation geprägt, die Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft ausfüllt. Sie verführte dazu, neue Risiken nicht ausreichend wahrzunehmen – und Handlungsmustern zu folgen, die diese Risiken eher verschärften als minderten. Dieselben Gefahren drohen, wenn nun nahezu alle Ereignisse in das Erklärungsschema der Großmachtrivalität gepresst werden, wenn der Globalisierung ein Abgesang erteilt oder der Nationalstaat als einzige Kraft idealisiert und legitimiert wird, die den neuen Herausforderungen entgegentreten kann. Der weitere Aufstieg Chinas ist keineswegs zwangsläufig. Auch ist er nicht bestimmt, in einem Konflikt zu enden: Er kann sich in eine multipolare Ordnung mit hoher Stabilität fügen. Schließlich ist die Globalisierung von Kapital und Kommunikation nach wie vor ungebrochen. Der Nationalstaat ist ein vorrangig europäisches Konstrukt von eingeschränkter universaler Reichweite. Oft war er Ausgangspunkt für die blutigsten Konflikte. Deshalb ist erstaunlich, dass viele, die sich mit Dani Rodriks Globalisierung-Paradox konfrontiert sehen – wonach Freihandel, Demokratie und Nationalstaat nicht gleichzeitig zu erreichen seien –, in diesem Entscheidungs-Trilemma den Nationalstaat als gesetzt erachten. Jedoch verlangt die Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt durch supranationale Autoritäten nicht zwingend nach nationaler Identität: Viele Imperien leisteten diese über Jahrzehnte, supranationale Gebilde wie die EU könnten in diese Rolle hineinwachsen. Ohne Zweifel haben politische Erzählungen und die mit ihnen verbundenen Begriffe eine wichtige Funktion: Sie ermöglichen es, komplexe Prozesse zu ordnen, ihnen einen Sinn zu geben und ein breit geteiltes Verständnis über diese Ordnung herzustellen. Sie entwickeln aber eine große Gefahr, jede Beobachtung in ein dominantes Erklärungsmuster zu pressen. Es ist außerordentlich riskant, abweichenden Interpretationen keinen Platz mehr zu lassen und Erzählungen nicht mehr kritisch zu hinterfragen. Wenn Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sowie die meinungsbildende Publizistik solche Narrative ungeprüft übernehmen, drohen diese leicht zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu degenerieren.
Stefan Mair
Machthaber wie Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan und Xi Jinping bedrohen scheinbar die Weltsicherheit. Experten befürchten gar einen Krieg. Doch diese Erzählung ist zu einseitig und damit gefährlich
[ "USA", "Donald Trump", "Türkei", "China", "Naher Osten" ]
wirtschaft
2019-07-29T12:20:43+0200
2019-07-29T12:20:43+0200
https://www.cicero.de/wirtschaft/sicherheitspolitik-usa-russland-china-eu-krieg
Gesundheitsämter in Corona-Zeiten - Bitte nicht stören, der Beamte muss das Faxpapier wechseln
Vor gut acht Wochen trat Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Fernsehkameras, rief den Corona-Notstand aus und kündigte der Nation einschneidende Maßnahmen an, „die es so in unserem Lande noch nicht gegeben hat“. So kam es dann auch. Aber all die Auflagen, Einschränkungen und Verbote waren nicht einschneidend genug, um Teile des Beamtenapparats aus dem gewohnten Trott aufzuschrecken. Das trifft jedenfalls für eine ganze Reihe von Gesundheitsämtern zu. So teilt das Robert-Koch-Institut jeden Montag die neuesten Zahlen von der Corona-Front mit. Aber dabei fehlt nie der Zusatz, die Zahl der aktuellen Neuinfektionen entspreche wohl nicht dem tatsächlichen Stand, „weil nicht alle Gesundheitsämter am Wochenende Daten übermitteln“. Da hört man ihn wiehern, den Amtsschimmel. Samstag und Sonntag gehören Vati und Mutti der Familie, mag es bei dieser Pandemie auch „um Leben oder Tod“ gehen, wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet verkündet hatte, ehe er sich in „Öffnungsdiskussionsorgien“ stürzte. Aber so gefährlich kann’s ja wohl nicht sein, wenn viele der 400 Gesundheitsämter an Wochenenden so dünn besetzt sind, dass allenfalls noch das Telefon abgenommen wird, aber niemand Zeit und Lust hat, die aktuellen Fallzahlen an das RKI in Berlin weiterzugeben. Man stelle sich vor, Gerhard Schröder säße noch im Kanzleramt. Der würde sich im Zweifel an seinen inzwischen 25 Jahre alten Satz über die Lehrer erinnern („Ihr wisst doch ganz genau, was das für faule Säcke sind“) und ihn flugs auf die Freizeitkünstler in den Gesundheitsämtern anwenden. Ob Lehrer oder Abteilungsleiter im Gesundheitsamt – Beamter bleibt Beamter. Natürlich haben die Gesundheitsämter zurzeit eine große Last zu schultern. Aber das kann doch kein Grund dafür sein, dass eine größere Zahl von ihnen am Wochenende nicht liefert, was das RKI und die Politik brauchen. Schließlich kann niemand verantwortliche Entscheidungen über die Lockerung oder Rücknahme von Einschränkungen fällen, wenn er nicht auf dem aktuellsten Stand der Verbreitung von Covid-19 ist. Dazu muss man wissen, wie viele Menschen sich jeden Tag angesteckt haben – und viele andere Daten obendrein. Ganz abgesehen von dem offenbar in Gesundheitsämtern besonders ausgeprägten Regenerationsbedürfnis müssen in unseren Amtstuben die vielfach noch herrschenden mittelalterlichen Arbeitsmethoden erschrecken. Ärzte und Labore müssen ihre Daten meistens per Fax an die Ämter weiterleiten, weil es mit der Digitalisierung halt hapert. In den Gesundheitsämtern werden diese Papierberge dann ausgewertet – meistens per Hand. Tja, da kann es halt dauern, bis neue „einschneidende Maßnahmen“ beschlossen oder beschlossene wieder abgemildert werden können. Man kann angesichts dieser Zustände in einem angeblich hochtechnisierten Industrieland verzweifeln – oder es mit Humor nehmen. Die bei Karnevalisten so beliebten Beamtenwitze werden in der nächsten Kampagne sicher gut ankommen. Etwa nach der Melodie: Kommt ein Beamter in die Tierhandlung und sagt: „Tut mir leid, ich muss den Goldfisch zurückgeben. Der brachte so viel Hektik ins Büro.“
Hugo Müller-Vogg
Die Gesundheitsämter haben in der Corona-Krise eine Schlüsselfunktion. Ihre Arbeit ist die Grundlage für politische Entscheidungen. Trotzdem schaffen es viele nicht einmal, am Wochenende Zahlen ans RKI zu übermitteln. Beamter bleibt eben Beamter, auch wenn es um Leben und Tod geht.
[ "Gesundheitsämter", "Coronavirus", "Coronakrise", "Angela Merkel", "Gerhard Schröder" ]
innenpolitik
2020-05-13T11:07:48+0200
2020-05-13T11:07:48+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/gesundheitsaemter-corona-virus-rki-beamte-faxpapier
Parteiaustritt angekündigt - Jörg Meuthen verlässt die AfD
Der langjährige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen hat die Partei verlassen. Er habe der Bundesgeschäftsstelle mitgeteilt, dass er sein Amt als Parteivorsitzender mit sofortiger Wirkung niederlegen und aus der AfD austreten werde, sagte Meuthen am Freitag. Sein Mandat im Europäischen Parlament will der 60-Jährige behalten. Der Bundesvorstand der Partei erklärt kurz darauf, er nehme den Parteiaustritt Meuthens „mit Bedauern“ zur Kenntnis und bedanke sich bei ihm „für die Weiterentwicklung der AfD als einzige Oppositionspartei in Deutschland“. Alleiniger Parteichef ist jetzt bis zur Neuwahl der Parteispitze der bisherige Co-Vorsitzende Tino Chrupalla. Teile der Partei stünden seiner Meinung nach nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung, sagte Meuthen nach Angaben von WDR, NDR und dem ARD-Hauptstadtstudio, die zuerst über den Austritt berichteten – „ich sehe da ganz klar totalitäre Anklänge“. Allenfalls als ostdeutsche Regionalpartei sehe er noch eine Zukunft für die AfD. Kritik hat Meuthen zuletzt auch an den Positionen einiger Parteifunktionäre in der Corona-Pandemie geübt. Obgleich er sich selbst gegen das Virus impfen ließ, trat er vehement gegen eine Impfpflicht ein. Für AfD-Politiker, die von einer „Corona-Diktatur“ fabulierten, habe er aber kein Verständnis, betonte der Volkswirt. Mit Sorge erfüllte ihn schon länger, dass einige Spitzenfunktionäre der Partei eine möglicherweise drohende Beobachtung der AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall, gegen die sich die AfD juristisch zur Wehr setzt, aus seiner Sicht nicht ernst genug nahmen. Die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, vermutet indes einen Zusammenhang zwischen dem Austritt und der Aufhebung von Meuthens Immunität für ein Ermittlungsverfahren durch den zuständige Ausschuss im EU-Parlaments am Vortag. Das Verfahren steht dem Vernehmen nach in Zusammenhang mit der AfD-Spendenaffäre. Weidel sagt: „Es fällt auf, dass der Parteiaustritt mit der Aufhebung der Immunität von Jörg Meuthen im Europäischen Parlament in einem sehr engen zeitlichen Zusammenhang steht.“ In jedem Fall zeuge es von schlechtem Stil, „nun mit Schmutz auf die Partei zu werfen, deren Vorsitzender er so viele Jahre war“. Meuthen haderte schon lange mit seiner Partei. Im Oktober kündigte er an, bei der ursprünglich für Dezember geplanten Neuwahl der Parteispitze nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren. Der Parteitag wurde dann schließlich unter Verweis auf die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie abgesagt. Er soll in diesem Jahr nachgeholt werden. Auch hatte sich Meuthen gegen die Nominierung des (inzwischen aus der Partei ausgeschlossenen) CDU-Mitglieds und Vorsitzenden der „Werteunion“, Max Otte, zum Kandidaten der AfD bei der Bundespräsidentenwahl ausgesprochen. Meuthen plädierte in den vergangenen zwei Jahren wiederholt für einen gemäßigteren Kurs der AfD. Damit machte er sich Feinde, vor allem in der Rechtsaußen-Strömung um den Thüringer Landeschef Björn Höcke. Zuletzt hatte es für Meuthens Vorschläge im Bundesvorstand zum Teil keine Mehrheiten mehr gegeben. So war beispielsweise im August der Versuch gescheitert, den Rauswurf des nordrhein-westfälischen AfD-Bundestagskandidaten Matthias Helferich zu beantragen. Verhältnis zwischen Meuthen Chrupalla von Anfang an schwierig Einer von Meuthens Gegenspielern, Vize-Parteichef Stephan Brandner, begrüßt den Parteiaustritt. „Ich finde, es ist eine gute Entscheidung und auch konsequent“, sagt Brandner. „Er hat in den ersten vier Jahren eine super Arbeit gemacht für die Partei, leider hat er später eingerissen, was er da aufgebaut hatte“, meint der Thüringer Bundestagsabgeordnete. Meuthen war im Sommer 2015 als einer von zwei Co-Vorsitzenden an die Parteispitze gewählt worden, damals an der Seite von Frauke Petry, die gut zwei Jahre unter Verweis auf einen von ihr wahrgenommenen Rechtsruck der AfD die Partei verließ. Während das Verhältnis der beiden als angespannt galt, kam Meuthen mit dem späteren Co-Vorsitzenden Alexander Gauland lange Zeit gut zurecht. Das Verhältnis zwischen Meuthen und Tino Chrupalla war praktisch von Anfang an schwierig. Meuthens Erklärung im Wortlaut: „Ich lege am heutigen Tag mein Amt als Bundesprecher der Alternative für Deutschland (AfD) sowie die Leitung der Delegation der AfD im Europäischen Parlament nieder und erkläre zugleich meinen Austritt aus der Partei wie aus der Delegation. Gemeinsam mit mir tritt auch meine Ehefrau mit sofortiger Wirkung aus der Partei aus. Dieser Schritt erfolgt nach sehr langer und sehr reiflicher Überlegung und in der sicheren Gewissheit, dass er notwendig und richtig ist. Ich habe immer für ein politisches Handeln mit Maß und Mitte geworben und gekämpft, und ich werde das in meiner politischen Arbeit auch weiterhin tun. Auf etlichen Parteitagen, so bei meiner letzten Wiederwahl in Braunschweig 2019 und noch deutlicher auf dem Parteitag in Kalkar 2020, habe ich vor den Gefahren einer zunehmenden Radikalisierung gewarnt, eine dringend notwendige Disziplinierung und Professionalisierung der Partei angemahnt, damit die Partei schrittweise in die Übernahme von Gestaltungs- und Regierungsverantwortung hineinwachsen könne. Heute, Ende Januar 2022, nach Jahren geduldigen Werbens und intensiven Kämpfens für einen strikt vernunftgeleiteten und maßvollen Kurs der Partei, besteht für mich kein Restzweifel mehr, dass ich mit diesem Ansinnen in der Breite der Partei nicht durchdringen konnte und dies auch in Zukunft nicht zu erwarten wäre. Große Teile der Partei und mit ihr etliche ihrer führenden Repräsentanten haben sich für einen immer radikaleren, nicht nur sprachlich enthemmteren Kurs, für politische Positionen und verbale Entgleisungen entschieden, die die Partei in vollständige Isolation und immer weiter an den politischen Rand treiben. Ich kann und werde diesen in das völlige politische Abseits führenden Kurs aus Selbstachtung und Verantwortungsbewusstsein nicht weiter mittragen und ziehe daraus die unvermeidliche Konsequenz des Parteiaustritts. All jene, die sich gemeinsam mit mir für einen strikt vernunftgeleiteten und stets gemäßigten Kurs der Partei eingesetzt haben, bitte ich aus ganzem Herzen um Verständnis. Mein Mandat im Europäischen Parlament, in das ich im Jahr 2019 gewählt wurde, werde ich selbstverständlich auch weiterhin wahrnehmen und meine politische Arbeit dort entschlossen fortsetzen. Für mich ist diese Entscheidung keineswegs nur ein Abschied, sondern vor allem ein Aufbruch.“ (mit dpa) Eine ausführliche Kommentierung folgt.
Cicero-Redaktion
Der langjährige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen hat seinen Posten niedergelegt und will die Partei verlassen. Er sprach von „ganz klar totalitären Anklängen“. Wahrscheinlich haben aber die soeben erfolgte Aufhebung von Meuthens Immunität sowie dessen Haltung in der Causa Max Otte den Ausschlag gegeben. Die Erklärung im Wortlaut.
[ "AfD", "Jörg Meuthen" ]
innenpolitik
2022-01-28T15:52:47+0100
2022-01-28T15:52:47+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/parteiaustritt-joerg-meuthen-verlasst-die-afd
Metastudie zu Masken - Maskenstreit: Butter bei die Fische
Cochrane-Studien haben keine dunklen Wuschelhaare. Cochrane-Studien lungern auch nicht bei Markus Lanz rum. Sie tragen keine Fliege, sind auch sonst nicht telegen und haben darüber hinaus keine riesige Followerschaft auf Twitter. Cochrane-Studien sind einfach Wissenschaft. Gute Wissenschaft. Und das seit fast 30 Jahren. So lange nämlich publiziert die Cochrane Collaboration mit Sitz in London Metaanalysen und systematische Reviews für eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung in Medizin und Gesundheitswissenschaft. Was in der Cochrane Database of Systematic Reviews erscheint, hat nicht nur Hand und Fuß, es kann aus wissenschaftlicher Perspektive als „gesetzt“ gelten. Das wissen alle, die im medizinischen Bereich forschen, lehren und publizieren. Auch die mit den Wuschelhaaren oder die Silberfüchse aus den medizinischen Fachgesellschaften und Verbänden. Vor zwei Tagen ist wieder ein solches Review erschienen. Oder genauer, das Review einer Forschergruppe um den kanadischen Infektiologen und Mikrobiologen John M. Conly mit dem Titel „Physical interventions to interrupt or reduce the spread of respiratory viruses“ ist die aktualisierte Fassung einer Studie aus dem Jahr 2020. Nur eben ergänzt und erweitert um die Forschungsarbeiten aus der aktuellen Covid-Pandemie. Er beschäftigt sich mit der Bewertung der Wirksamkeit physischer Interventionen zur Unterbrechung oder Verringerung der Ausbreitung akuter Atemwegsviren. Kurz, es geht mal wieder um die alte Frage: Bringen sie was oder bringen sie nichts – die Masken, die wir in den letzten drei Jahren unentwegt über Mund und Nase tragen mussten? Darüber hinaus beschäftigt sich das Paper auch noch mit der Wirksamkeit von Handhygiene. Aber wer diesbezüglich noch von Zweifeln geplagt sein sollte, dem sei an dieser Stelle schnell zugerufen: Händewaschen ist immer gut – selbst aus Sicht der evidenzbasierten Medizin! Zurück also zur Maskenfrage: Um in den alten Streit zwischen Muffeln und Apologeten also endlich Ruhe reinzubekommen und ein möglichst sicheres Urteil fällen zu können, haben die Studien-Autoren elf neue randomisierte kontrollierte Studien zu ihren bisherigen 77 Auswertung hinzugenommen. So kamen sie am Ende auf 610.872 Probanden. Aufgefunden und untersucht haben sie diese in Ländern mit vollkommen unterschiedlichen sozialen wie ökonomischen Ausgangslagen während der nicht epidemischen Grippeperioden, der globalen H1N1-Grippepandemie von 2009, der epidemischen Grippesaison bis 2016 und eben während der Covid-19-Pandemie. Mehr Datenmaterial ist aktuell kaum möglich. Und um das Ergebnis schon einmal vorwegzunehmen: „Basierend auf den von uns ausgewerteten Studien sind wir uns nicht sicher, ob das Tragen von Masken oder N95/P2-Atemschutzgeräten dazu beiträgt, die Ausbreitung von Atemwegsviren zu verlangsamen“, so die Autoren am vergangenen Montag in ihrer von der wissenschaftlichen Community auf der ganze Welt beachteten Veröffentlichung. Können bei so viel Unschlüssigkeit die Maskenbefürworter also ausgerechnet kurz vor dem Fall der Maskenpflicht in Deutschland so richtig durch-, ja, aufatmen? Keineswegs. Denn was die Studienautoren nach Sichtung des weltweiten Datenmaterials mindestens ahnen: „Verglichen mit dem Tragen keiner Maske […] macht das Tragen einer Maske [gemeint sind hier medizinische oder chirurgische Masken] möglicherweise wenig bis gar keinen Unterschied darin, wie viele Menschen an einer grippeähnlichen Erkrankung/covid-ähnlichen Erkrankung erkrankt sind.“ Ja, Sie haben richtig gelesen: Das Tragen von Masken im öffentlichen Raum scheint die üblichen Viruswellen bei Atemwegserkrankungen zumindest aus epidemiologischer Sicht nicht aufhalten zu können. Was indes nicht bedeutet, dass Masken nicht individuell schützen . Darauf deutet das erfasste Datenmaterial von 276.917 Personen aus neun Studien hin, die man in sogenannten Communities, also im öffentlichen Raum (im Gegensatz zu medizinischen Einrichtungen), untersucht hat. Und die Studien zu sogenannten N95/P2-Atemschutzgeräten kommen auch nicht zu besseren Ergebnissen: „Verglichen mit dem Tragen medizinischer oder chirurgischer Masken macht das Tragen von N95/P2-Atemschutzmasken wahrscheinlich wenig bis gar keinen Unterschied darin, wie viele Personen eine bestätigte Grippe haben (5 Studien; 8407 Personen); und kann wenig bis gar keinen Unterschied darin machen, wie viele Menschen eine grippeähnliche Krankheit (5 Studien; 8407 Personen) oder eine Atemwegserkrankung (3 Studien; 7799 Personen) bekommen." Mehr zum Thema: Mithin: Diese internationale Metastudie ist eine weitere Klatsche für die deutsche Corona-Politik. 17 Milliarden Masken wurden allein in der Bundesrepublik während der zurückliegenden drei Jahre verbraucht, 17 Millionen davon wurden laut einer Recherche der Tageszeitung Die Welt von den Bundesländern irgendwann wieder vernichtet, 11,5 Millionen Euro Steuergelder wurden an Betrüger wie Alfred Sauter und Georg Nüßlein (beide damals CSU) verschleudert. Im Gegenzug aber wurden kritische Wissenschaftler durchs Dorf getrieben, Maskenverweigerer an den Pranger gestellt und ausländische Verantwortungsträger wie Anders Tegnell von deutschen Medien immer wieder verhetzt und verächtlich gemacht. Und nun zeigt eine einfache und dringend überfällige Metaanalyse, dass all der Eifer und der Furor, den man besonders hierzulande und bis zuletzt bei der physischen Unterbrechung der Corona-Übertragungswege hat walten lassen, für die Katz waren. Nur einen gibt es noch, der scheint auch nach Erscheinen dieser für die deutsche Gesundheitspolitik verheerenden Studie weiterhin unbeeindruckt zu sein: Karl Lauterbach (SPD). Ausgerechnet der Bundesgesundheitsminister, von dem der Journalist Markus Feldenkirchen einst behauptete, er würde wissenschaftliche Studien verschlingen wie andere Leute Liebesromane, twitterte heute aus Anlass der morgen fallenden Maskenpflicht im Fernverkehr:  „Unsere Maßnahmen zur Vermeidung großer Covid-Winterwellen waren erfolgreich. Daher kann die Maskenpflicht im Fernverkehr jetzt fallen.“ Es scheint, als wartete da noch ein wirklich dicker und spannender Liebesschmöker auf Lauterbachs Nachttisch. Ich wünsche von hier schon einmal: „Gute Unterhaltung!" Unsere Maßnahmen zur Vermeidung großer COVID-Winterwellen waren erfolgreich. Daher kann die Maskenpflicht im Fernverkehr jetzt fallen. Trotzdem sollte man freiwillig Maske tragen. Ich tue es auch. Um kein LongCovid zu riskieren und andere zu schützen. https://t.co/X0wZlivKHX
Ralf Hanselle
Morgen fällt bei der Deutschen Bahn und im ÖPNV die Maskenpflicht. Doch wie wirksam war das Bedecken von Mund und Nase wirklich? Eine neue Cochrane-Metastudie dürfte den Bundesgesundheitsminister beunruhigen.
[ "Corona", "Pandemie", "Masken", "Studie" ]
kultur
2023-02-01T11:48:28+0100
2023-02-01T11:48:28+0100
https://www.cicero.de//kultur/neue-metastudie-zum-tragen-von-masken-covid-cochrane-lauterbach-maskenpflicht
Heinrich August Winkler - Wie Merkels Flüchtlingspolitik gegen ein fundamentales Demokratiegebot verstieß
Die Geschichte des modernen Westens sei „eine Geschichte der Widersprüche und der Ungleichzeitigkeiten, eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789, der Auseinandersetzungen um verengende oder erweiternde Interpretationen der in Amerika und Frankreich verkündeten politischen Konsequenzen der Aufklärung“, befindet der Historiker Heinrich August Winkler: „Zu keiner Zeit gibt es einen völligen Gleichklang von Projekt und Praxis.“ Projekt und Praxis klaffte in seiner Sicht auch im Jahre 2015 auseinander: Die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin sieht er in diesem Zusammenhang im diametralen Widerspruch zu einem Leitsatz der Gründungsakte des Westens: dem „consent of the governed“, der stillen Übereinkunft der Regierten mit den Regierenden, wie ihn Thomas Jefferson in der  Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 für grundlegend für eine funktionierende Demokratie erklärte. Winkler wörtlich:  „Zu den Grunderkenntnissen der Pioniere des normativen Projekts des Westens gehört die Einsicht in die Unabdingbarkeit der Akzeptanz von Macht – des „consent of the governed“, von dem die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 spricht. Auf die Zustimmung der Regierten sind Gesetzgeber und Regierungen auch angewiesen, wenn es um die praktische Verwirklichung normativer Selbstverpflichtungen, etwa im Bereich von Asyl und Migration, und damit um die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften geht. Die Integrationsfähigkeit und ihre Grenzen im Blick zu behalten ist ein demokratischer Imperativ – ein Gebot, das sich aus der Notwendigkeit des „consent of the governed“ ergibt.“ Cicero dokumentiert die Rede, die Winkler am 8. Mai anlässlich eines Empfangs zu seinem 80. Geburtstag unter dem Titel „Ein normatives Projekt in der Krise Geschichte und Gegenwart des Westens“ im  Senatssaal der Berliner Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat. Der „Westen“ ist seit langem ein umstrittener Begriff. Mitunter wird er sogar konsequent in Anführungszeichen gesetzt und zum bloßen Konstrukt erklärt: zum Schlagwort geworden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, um die Gemeinsamkeiten der „zivilisierten“, christlichen, weißen Nationen Europas und Nordamerikas gegenüber den nichtweißen, angeblich nicht oder weniger zivilisierten Teilen der Menschheit hervorzuheben, im Ersten Weltkrieg benutzt, um den Gegensatz zwischen den „westlichen Demokratien“ – Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika – auf der einen und dem vergleichsweise obrigkeitsstaatlich verfassten deutschen Kaiserreich auf der anderen Seite zu betonen, im Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg zum Synonym der „freien Welt“ aufgestiegen, die entschlossen war, ihre demokratische Lebensform gegenüber dem kommunistisch regierten Osten zu verteidigen. Mein Ausgangspunkt ist ein anderer. Ich frage nach den gemeinsamen Traditionen, Normen und Institutionen des historischen Okzidents, aus dem im Zuge der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1775/1776 und der Französischen Revolution von 1789, der moderne transatlantische Westen hervorgegangen ist. Es bedurfte eines komplexen sozialen, kulturellen, intellektuellen und religiösen, das heißt jüdischen und christlichen Erbes, obenan einer Jahrhunderte währenden Ausdifferenzierung der Gewalten, beginnend mit der ansatzweisen Trennung von geistlicher und weltlicher sowie fürstlicher und ständischer Gewalt im hohen Mittelalter, um jenes normative Projekt hervorzubringen, das in der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, der ersten Menschenrechtserklärung der Geschichte, seinen frühesten und gleichzeitig klassischen Ausdruck fand. Unveräußerliche Menschenrechte, Gewaltenteilung, „checks and balances“,  „rule of law“, Volkssouveränität und „representative government“: So etwa lässt sich schlagwortartig die „vollkommene Umkehr des Prinzips“ umreißen, die Leopold von Ranke 1854 in seiner Vorlesung „Über die Epochen der Neueren Geschichte“ der Amerikanischen Revolution, der Revolution einer Bürgergesellschaft, bescheinigt hat. Die Geschichte des modernen Westens ist eine Geschichte der Widersprüche und der Ungleichzeitigkeiten. Sie ist seit den beiden atlantischen Revolutionen zu einem guten Teil eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789, der Auseinandersetzungen um verengende oder erweiternde Interpretationen der in Amerika und Frankreich verkündeten politischen Konsequenzen der Aufklärung. Zu keiner Zeit gibt es einen völligen Gleichklang von Projekt und Praxis. Die Geschichte des modernen Westens ist vielmehr von Anfang an immer auch eine Geschichte brutaler Verstöße gegen die Ende des 18. Jahrhunderts proklamierten Prinzipien, eine Abfolge von Konflikten zwischen Normen und Interessen, ein Ausdruck des unaufhebbaren Spannungsverhältnisses zwischen der Logik der Werte und der Logik der Macht. Und sie ist eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen. Es ist diese in den Ideen von 1776 und 1789 angelegte Dynamik, die aus dem normativen Projekt einen normativen Prozess gemacht hat. Auf die Menschenrechte konnten sich in der Folgezeit auch jene berufen, denen sie im Widerspruch zum universellen Anspruch ihres Wortlauts vorenthalten wurden: die nach Amerika zwangsimportierten afrikanischen Sklaven, die indianische Urbevölkerung Amerikas und die europäischer Kolonialherrschaft unterworfenen Völker. Was die Bürgerrechte im engeren Sinn angeht, boten die Prinzipien von 1776 und 1789 den Frauen die normative Grundlage, um die Gleichberechtigung der Geschlechter, obenan das Frauenwahlrecht, einzuklagen. Die besitzlosen Massen konnten sich unter Berufung auf dieselben Grundsätze gegen die umfassende Privilegierung der Besitzenden auflehnen. Nach der etwas schematischen, in der Akzentsetzung aber zutreffenden Periodisierung des britischen Soziologen Thomas H. Marshall, standen im 18. Jahrhundert die allgemeinen bürgerlichen Freiheitsrechte im Vordergrund, während im 19. Jahrhundert Forderungen nach gleichen politischen Teilhaberechten und im 20. Jahrhundert das Postulat sozialer Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit das Bild bestimmten. Das 20. Jahrhundert war zugleich das Jahrhundert einer zweifachen radikalen Infragestellung des normativen Projekts des Westens: einer linken und einer rechten. Die Urheber der russischen Oktoberrevolution von 1917, die Bolschewiki, beriefen sich, wie schon Karl Marx, auf das Erbe des äußersten linken Flügels der Französischen Revolution, der „Verschwörung der Gleichen“ um François Noël („Gracchus“) Babeuf, die als erste die vollständige Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft forderte. Der linke Gegenentwurf zum „bürgerlichen“ Projekt des Westens setzte eines der Postulate von 1789, das der Gleichheit, absolut und eliminierte ein anderes: das der Freiheit. In den Gegenentwürfen der äußersten Rechten, wie sie die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten vertraten, war für eine Teilrezeption des politischen Erbes der Aufklärung kein Platz. Die rechte Negation des normativen Projekts des Westens war, so gesehen, die radikalere der beiden totalitären Kampfansagen an die Ideen von 1776 und 1789, aber auch die kurzlebigere. Ihr Untergang war das Gemeinschaftswerk der westlichen Demokratien und ihres linken Kontrahenten und zeitweiligen Alliierten, der Sowjetunion. Zu keiner Zeit hat der transatlantische Westen so sehr eine Einheit gebildet wie in den vier Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts nach dem Zweiten Weltkrieg, der Zeit des Gegeneinanders von Nato und Warschauer Pakt. Es war freilich nicht der ganze alte Okzident, der zu diesem Westen gehörte. Im Gefolge der Teilung Europas durch die „Großen Drei“ auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 gab es auch jenen „Occident kidnappé“, von dem der tschechische Exilschriftsteller Milan Kundera 1984 im Titel eines rasch berühmt gewordenen Aufsatzes sprach – es gab die Staaten des östlichen Mitteleuropa vom Baltikum über Polen und die Tschechoslowakei bis nach Ungarn, die ebenso dem entstehenden Ostblock zugeschlagen wurden wie der östliche Teil Deutschlands in den Grenzen von 1945. Auf dem Höhepunkt des Historikerstreits um die Singularität des nationalsozialistischen Judenmordes formulierte Jürgen Habermas im Juli 1986 ein Verdikt, das so etwas wie die Geburtsurkunde einer posthumen Adenauerschen Linken bildete: „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte.“ Habermas markierte damit eine fundamentale Differenz zwischen der zweiten und der ersten Nachweltkriegszeit in Deutschland. Anders als nach 1918 war es nach dem sehr viel tieferen Kontinuitätsbruch von 1945 nicht mehr zu einer massenhaften Mobilisierung von Ressentiments gegenüber der pluralistischen Demokratie des Westens gekommen. Doch die Chance der „Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens“ hatte nur ein Teil Deutschlands, der westliche. Das Hauptmerkmal der deutschen Nachkriegsgeschichte war ihre radikale Ungleichzeitigkeit: eine Tatsache, die im wiedervereinigten Deutschland bis heute nachwirkt. Das Ende des Ost-West-Konflikts war nicht das von Francis Fukuyama 1989 beschworene „Ende der Geschichte“ im Sinne der weltweiten Durchsetzung der liberalen Demokratie, aber doch eine tiefe Zäsur. Mit dem langlebigeren der beiden radikalen Gegenentwürfe zum normativen Projekt des Westens, dem europäischen Kommunismus, verschwand eine politische und intellektuelle Herausforderung, ohne die die westlichen Demokratien sich nach 1945 mutmaßlich anders, nämlich weniger sozial, entwickelt hätten. Die Vereinigten Staaten waren nach der Auflösung der Sowjetunion die letzte verbliebene Supermacht, so dass der konservative Publizist Charles Krauthammer 1990 zu Recht vom „unipolaren Moment der Geschichte“ sprechen konnte. Doch die Zeit der absoluten Vorherrschaft der USA war nur von kurzer Dauer: Sie endete im Gefolge der Hybris, mit der Präsident George W. Bush nach den islamistischen Terroranschlägen von „9/11“ die vermeintlichen Interessen seines Landes weltweit durchzusetzen versuchte. 2012, gut zwei Jahrzehnte nach Krauthammer, nannte Richard N. Haass, der Präsident des amerikanischen Council on Foreign Relations, die „Non-Polarität“ das Hauptmerkmal des 21. Jahrhunderts. Haass sprach von Dutzenden von Akteuren, die über unterschiedlich große militärische, wirtschaftliche und kulturelle Macht verfügten, darunter die Volksrepublik China, inzwischen der größte Gläubiger der USA, Indien, Brasilien und des Russlands Putins. Der Machtverlust des Westens war evident, der Triumphalismus des jüngeren Bush eine peinliche Erinnerung. Die Welt lebte, wie Haass es 2011/12 ausdrückte, in der „Post-Atlantik-Ära der internationalen Beziehungen“. Um dieselbe Zeit sah die amerikanische Historikerin Mary Nolan das „transatlantische Jahrhundert“ zu Ende gehen – jenes „lange 20. Jahrhundert“, das aus der Sicht dieser Autorin mit der markanten Intensivierung der Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Bestimmend für Nolans These vom Ende dieser Epoche war die Vertiefung des transatlantischen Dissenses im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts, unter der Präsidentschaft von Donald Trump, ist der Entfremdungsprozess weiter vorangeschritten. Gespannter waren die Beziehungen zwischen Europa und den USA noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Berufungen der Trump-Administration auf die universalen Gründungsideen der Vereinigten Staaten sind selten geworden im Zeichen der Politik des „America first“. Entsprechendes gilt für den Begriff der „westlichen Wertegemeinschaft“. Häufiger wird der Begriff der „Wertegemeinschaft“ von der Europäischen Union benutzt, bezogen auf sich selbst. Doch hiergegen drängt sich ein Einwand auf. Kann ein Staatenverbund sich eine „Wertegemeinschaft“ nennen, wenn einige seiner Mitglieder sich an die normativen Festlegungen der Gemeinschaft nicht mehr gebunden fühlen und die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, ein Grundelement des Rechtstaats, oder die Pressefreiheit schrittweise beseitigen? Von Ralf Dahrendorf stammt das Bonmot: „Wenn die EU um Mitgliedschaft in der EU nachsuchen würde, müsste sie wegen ihres Mangels an demokratischer Ordnung abgewiesen werden.“ In der Tat ist die demokratische Legitimation des Staatenverbundes eine mittelbare: die über die Mitgliedstaaten. Das Europäische Parlament wird zwar seit 1979 direkt gewählt. Es entspricht aber nicht dem demokratischen Prinzip „one person, one vote“. Ein in diesem Sinne demokratisches Parlament, das auch kleinen Staaten zu einer angemessenen Vertretung verhilft, müsste mehrere tausend Abgeordnete umfassen; es wäre also nicht arbeitsfähig. Die Bevorzugung der kleinen Staaten auf Kosten der größeren ist also unvermeidbar. Sie erscheint auch hinnehmbar, solange die Funktionen des Parlaments begrenzt sind. Eine Vollparlamentarisierung der Europäischen Union aber würde nach dem Urteil des früheren Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm das Demokratiedefizit der EU nicht beseitigen, sondern vergrößern: „Die Legitimationsprobleme würden sich verstärken, statt sich aufzulösen.“ Als Staatenverbund bleibt die Europäische Union auf die demokratische Legitimation angewiesen, die sie durch die Mitgliedstaaten erhält. Je deutlicher die Parlamente der Mitgliedstaaten ihre Integrationsverantwortung wahrnehmen, desto größer die Chance, dem verbreiteten Gefühl entgegenzuwirken, es in Brüssel mit einer verselbständigten Exekutivgewalt zu tun zu haben. „Verselbständigte Exekutivgewalt“: Mit diesem Begriff hat Karl Marx 1852 die Herrschaftspraxis des französischen Präsidenten Louis-Napoleon Bonaparte und späteren Kaisers Napoleon III., den „Bonapartismus“, charakterisiert. Er lässt sich aber auch verwenden, wenn es um die Analyse der Entstehung und Verbreitung von populistischen Protestbewegungen in der Gegenwart geht. In Europa wie in Amerika appellieren solche Bewegungen mit Erfolg an das Gefühl von Teilen der Wählerschaft, vom herrschenden Diskurs ausgeschlossen zu sein. Die Verteidiger der „etablierten“ Politik sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie übten ihre Macht auf elitäre und undemokratische, also illegitime Weise aus. Zu den Grunderkenntnissen der Pioniere des normativen Projekts des Westens gehört die Einsicht in die Unabdingbarkeit der Akzeptanz von Macht – des „consent of the governed“, von dem die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 spricht. Auf die Zustimmung der Regierten sind Gesetzgeber und Regierungen auch angewiesen, wenn es um die praktische Verwirklichung normativer Selbstverpflichtungen, etwa im Bereich von Asyl und Migration, und damit um die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften geht. Die Integrationsfähigkeit und ihre Grenzen im Blick zu behalten ist ein demokratischer Imperativ – ein Gebot, das sich aus der Notwendigkeit des „consent of the governed“ ergibt. Im Sprachgebrach der EU und in der politischen Alltagssprache ist häufig von „europäischen Werten“ die Rede. Doch Europa im geographischen Sinn hat nie eine Wertegemeinschaft gebildet. Es war der historische Okzident, das einstige lateinische oder westkirchliche Europa, das im späten 18. Jahrhundert zusammen mit dem angelsächsisch geprägten Nordamerika jenes spezifische Ensemble von Normen hervorgebracht hat, an dem sich die Demokratien des Westens bis heute orientieren. Der amerikanische Anteil an diesem Projekt ist so markant, dass der Begriff Westen sich ohne die Vereinigten Staaten gar nicht denken lässt. Zwischen Europäern und Amerikanern hat es von jeher zahllose Kontroversen über normative Fragen, vom staatlichen Gewaltmonopol über die Todesstrafe und das Verhältnis von Religion und Politik bis zur sozialen Verantwortung des Staates, gegeben. Doch wann immer Europäer und Amerikaner über Grundsätzliches streiten, ist es ein Disput über unterschiedliche Auslegungen gemeinsamer Werte. Das gilt auch noch nach der Wahl von Donald Trump. Es sind die im weitesten Sinn liberalen Demokratien, von denen die Zukunft des normativen Projekts des Westens und damit der politischen Kultur der liberalen Demokratie abhängt. Innerhalb der EU steht einer verstärkten Zusammenarbeit dieser Staaten nichts entgegen. Sie vor allem müssen der politischen Erosion entgegenwirken, die von „illiberalen Demokratien“ wie dem Ungarn Viktor Orbáns oder dem Polen Jarosław Kaczyńskis ausgeht. Und nur sie, die im weitesten Sinn liberalen Demokratien, können eine Politik entwickeln, die sich auch für Nichtmitglieder der EU als „anschlussfähig“ erweist – obenan für Großbritannien, wenn es sich denn definitiv für die Trennung von der Gemeinschaft entscheidet. Die Europäische Union besteht aus postklassischen Nationalstaaten, die einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und andere auf supranationale Entwicklungen übertragen haben. Jeder Versuch, die Mitglieder dieses Staatenverbundes auf ein „postnationales“ Selbstverständnis, die Abschaffung der Nationalstaaten oder die Finalität eines Bundesstaates nach deutschem Vorbild festzulegen, wäre zum Scheitern verurteilt und überdies kontraproduktiv. Er würde den nationalistischen Kräften Auftrieb geben. Eine immer engere Zusammenarbeit der europäischen Staaten aber bleibt in der non- oder multipolaren Welt der Gegenwart unabdingbar, und was für die EU gilt, gilt im weiteren Sinn auch für die anderen westlichen Demokratien, ob sie dem Atlantischen Bündnis angehören oder nicht. Es sind nicht nur materielle Interessen, die eine solche Zusammenarbeit notwendig erscheinen lassen. Es sind auch und nicht zuletzt immaterielle Interessen in Gestalt der Werte, auf die sich die Europäische Union in ihren Schlüsseldokumenten bis hin zum Vertrag von Lissabon beruft. Es sind die Werte, die in ihrer Summe das normative Projekt des Westens bilden.
Heinrich August Winkler
Meistgelesener Text im Mai: Der Historiker Heinrich August Winkler sieht den Westen in der Krise. Eine engere, auf gemeinsamen Werten aufbauende Zusammenarbeit sei unabdingbar. Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel aber stehe dazu im Widerspruch. Und zu einem demokratischen Grundsatz von Thomas Jefferson
[ "Westen", "Heinrich August Winkler", "USA", "Flüchtlingspolitik" ]
kultur
2019-05-14T16:45:29+0200
2019-05-14T16:45:29+0200
https://www.cicero.de//kultur/heinrich-august-winkler-westen-usa-europa-fluechtlingspolitik
Pro: Institution Papsttum – Gegenstimme zu Karl Marx
Wenn man in einer streng lutherischen Familie Münchens inmitten der katholischen Mehrheit aufwuchs in jener versunkenen Zeit, wo in Bayern die Volksschulen noch streng nach Konfessionen getrennt waren, dann gehörte das Staunen über die kaleidoskopische Stimmigkeit der katholischen Welt zu den Urerfahrungen des Nichtdazugehörens. Bayerisch sprach die Mehrheit, das Volk, die Leute auf dem Land, katholisch war die Mehrheit, farbenfroh und prunkvoll war ihre Religion, gipfelnd im Fronleichnamsfest, wo das Stadtzentrum im Blumen- und Fahnenschmuck fremdartig verwandelt war. Uns Beamten-, Arzt­ und Ingenieurskindern, aus Familien, zugereist oder als Flüchtlinge hergeweht, wurde das Wort Gottes nicht auf Bayerisch, sondern fränkisch oder norddeutsch gepredigt. Unseren Pfarrern, strengen Männern, die im Gottesdienst nicht gestickte Prunkroben, sondern ausgewaschene schwarze Talare trugen, ging es um Worte und Begriffe, nicht um Bilder. Vergessen habe ich, ob ich von der Existenz eines Papstes zuerst durch die 1958 in großer Öffentlichkeit, von der Boulevardpresse drastisch ausgemalten, spielenden Leidens- und Sterbensgeschichte Pius XII erfuhr oder erst im Konfirmationsunterricht. Dort lernten wir, dass unser Luther den Fortschritt und die Freiheit des Denkens erkämpft hatte. Wenn dann am Sonntag die Gemeinde zu brausendem Orgelklang „Ein feste Burg“ sang, hatte man mit 14 Jahren das Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Dort die Papstkirche mit ihrer verwerflichen „Äußerlichkeit“; hier der einsame Gewissensringer. Von Wittenberg 1517 bis zur Erfindung der Demokratie in der „Declaration of Independence“ 1776 schien es im Siebenmeilenschritt zu gehen. Gut für die jugendliche Seele, dass ich damals noch nichts von Nietzsche wusste. Der hat die deutsche Reformation als Protest fortschrittsfeindlicher Geister gescholten, welche das Progressive am Renaissance-Papsttum, eben jene Verflachung und Auflösung der mittelalterlichen Religion in Kunst-„Veräußerlichung“, torpediert – und damit die Aufklärung mutwillig um zwei, drei Jahrhunderte verzögert hätten. Ein ganzes Leben der Religionsneugier hat den Tunnelblick der evangelischen Diaspora geweitet zur panoramatischen Freude über alle Religion als Faszinosum. Das Papsttum ist mir bedeutend als Exempel für die Kontinuität von Formen von der Spätantike bis in die Gegenwart. Ob Zeremonialgewänder, ob Titel wie der des „Pontifex Maximus“, ob Organisationsstrukturen: Im Vatikan scheinen die Jahrhunderte transparent zu werden in ihren Schichtungen. Und nicht nur die Antike, sondern auch die uralte europäische Institution der Monarchie wird im Papsttum verständlich: die Entrückung und Heiligung, die dem „Erwählten“ einen „zweiten Körper“ verleiht – viel realer, als es der sterbliche Leib jemals sein kann. Das Papsttum ist die älteste noch existierende Institution. Völlig unabhängig von der geistigen Fasson des jeweiligen Erwählten wirkt es wie eine hartnäckige Gegenstimme zur Formel von Karl Marx, dass in der modernen Welt alles Ständische und Stehende verdampfe und alles Heilige entweiht werde. 2005, als der deutsche Papst gewählt war, bin ich aus Neugier in die Kindheitslandschaft Joseph Aloisius Ratzingers gefahren, nach Südbayern an den Inn und nach Altötting. Natürlich gab es Ridiküles von „Papst-Bier“ und „Papst-Salami“ (in Form eines Bischofsstabes) bis zu allen Arten von Papst-Merchandising auf Speisekarten, Spielzeugen und Kaffeetassen. Aber jenseits dessen, in den Kirchen und Kapellen, ahnte man auch die kulturellen Quellen des Mannes. Man wanderte über den bunten Teppich einer jahrhundertealten Volksfrömmigkeit. Was es mit dem Wesen des Heiligen und des Monarchischen auf sich hat, lehrte Altötting, wo in der Gnadenkapelle die Herzen der Wittelsbacher Dynastie in Silberurnen bestattet sind und wo die Schwarze Madonna ungebrochen Hunderttausende von Gläubigen anzieht, die im Umgang der Kapelle seit 500 Jahren die Votivbilder mit dem „Maria hat geholfen“ aufhängen. In seine bayerische Kinderheimat fährt der Papst diesmal nicht. Aber sicher bin ich, dass wir auch an den aktuellen Schauplätzen ein Exempel erleben werden für die Hypothese, dass gerade das Übersinnliche vom Sinnlichen lebt. So vor allem sind Religionen zu erklären. Im aseptischen Labor des Rationalismus verflüchtigt sich ihre Substanz, und zu erzählen bleibt dann wenig übrig.
Das Papsttum ist eine der ältesten noch existierenden Institutionen, ein Exempel für Kontinutität von Formen von der Spätantike bis in die Gegenwart. Die päpstliche Autarkie, sie wirkt wie eine hartnäckige Gegenstimme zur Formel von Karl Marx, denn nein, noch ist nicht alles Heilige entweiht. Ein Kommentar
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außenpolitik
2011-09-21T10:02:12+0200
2011-09-21T10:02:12+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/papsttum-kirche-institution-gegenstimme-zu-karl-marx/43091
Hartz IV und die Sackgasse Föderalismus
Wenn sich Historiker dereinst mit den Gesetzespannen, Regelungslücken und Fehlkonstruktionen beschäftigen, die die Einführung des Arbeitslosengeldes II begleiteten, werden sie an der Nacht vom 14. zum 15. Dezember 2003 nicht vorbeikommen. Hoch her ging es im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Es wurde gebrüllt und gefeilscht, Türen knallten. In einer neunstündigen Nachtsitzung rangen die 32 Vertreter der rot-grünen Bundesregierung und der schwarz-gelben Opposition um einen Kompromiss zur Einführung von Hartz IV. Am Ende ging es nur noch um die Macht, darum, wer sich durchsetzt und wer zumindest sein Gesicht wahren kann. Für den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ging es ums politische Überleben. Heraus kamen ein fauler politischer Kompromiss und ein handwerklich schlechtes Gesetz. Innerhalb von drei Tage wurde dieses anschießend zusammengeschustert, damit es noch vor Weihnachten verabschiedet werden und am 1. Januar 2004 in Kraft treten konnte. Schon damals wussten die beteiligten Politiker und Beamten, dass keine gute Reform herauskommen kann, wenn im Vermittlungsausschuss unter einem solchem Zeitdruck um einen politischen Kompromiss gerungen wird und ein Gesetzestext, der immerhin aus 61 Artikeln zur Änderung von 19 Einzelgesetzen und Verordnungen bestand, anschließend im Schnellverfahren grundlegend überarbeitet werden muss. Viele rechtliche und politische Fehler des Hartz-IV-Gesetzeswerkes, die später beklagt wurden, die die Kosten explodieren ließen und die eine Klagewelle auslösten, wurden in jenen Nächten gemacht. Die Union bestand unter Führung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Vermittlungsausschuss vor allem auf der Mischzuständigkeit zwischen der Bundesagentur und den Kommunen bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Überdies setzte sie das sogenannte kommunale Optionsmodell durch, sodass zu allem Überfluss auch noch Parallelstrukturen entstanden. Die Union diktierte der rot-grünen Regierung den Kompromiss, Gerhard Schröder blieb nichts anderes übrig, als auf fast alle Forderungen der Opposition einzugehen. In diesen Tagen ringen Regierung und Opposition bei der Reform von Hartz IV wieder um einen Kompromiss, bis Freitag sollen Bundestag und Bundesrat zustimmen. Die Vorzeichen sind diesmal umgekehrt. Union und FDP sind an der Regierung, SPD und Grüne haben das Gesetz zusammen mit den Linken im Bundesrat blockiert. Wieder gibt es nächtliche Sitzungen des Vermittlungsausschusses, wieder gibt es ein völlig intransparentes Gesetzgebungsverfahren. Wieder geht es nur noch darum, wer sich durchsetzt und darum, wer mit Blick auf die Wahlkämpfe der kommenden Monate, sein Gesicht wahren kann. Wieder geht es vor allem um Machtpolitik und längst nicht mehr um die Betroffenen, die nun schon seit mehr als einem Monat auf die geringfügige Erhöhung des Hartz-IV-Basissatzes, auf Bildungsgutscheine oder Schulsozialarbeiter warten. So macht das erneute Gefeilsche um die Hartz-IV-Reformen deutlich, wie sehr das föderale System der Gesetzbebung an seine Grenzen gestoßen ist. Ginge es nur um die Frage, ob der Hartz-IV-Regelsatz um fünf oder um elf Euro erhöht wird, ließe sich schnell eine Einigung finden. Auch beim Bildungspaket und dem Mindestlohn für die Zeitarbeit liegen Regierung und Opposition nicht so weit auseinander, dass sich nicht eine Kompromiss schmieden ließe. Lesen Sie im zweiten Teil des Artikels, woran die Kompromisssuche zwischen Regierung und Opposition tatsächlich scheitert und warum eine föderale Dauerblockade der Demokratie schadet. Doch es ist Wahlkampf in Deutschland, ein Superwahljahr mit sieben Landtagswahlen steht vor der Tür, und da gönnt keine Partei der anderen einen billigen Triumpf. Die SPD will Union und FDP vorführen. Sie weicht jedem Kompromiss aus, weil es für jede Regierung peinlich ist, wenn sie ihre Politik nicht durchsetzen kann. Die Regierung hingegen macht der Opposition immer neue Angebote und hofft, dass SPD und Grüne irgendwann einen Fehler machen oder den Wählern auffällt, dass nicht Schwarz-Gelb das Problem ist. So geht es nun schon seit Monaten hin und her, selbst Experten schauen kaum noch durch. Über Inhalte und die Frage welche Reform sinnvoll wäre, wird schon lange nicht mehr gestritten. Was die Reform kostet, ist mittlerweile zweitrangig geworden. Die Wähler und vor allem die Betroffenen verfolgen das Schauspiel verständnislos und kopfschüttelnd. Doch längst droht dieser föderale Wahnsinn mit seinen zustimmungspflichtigen Gesetzen in Deutschland zu einem Dauerzustand zu werden. Und egal um in den kommenden Jahren über die Gesundheitsreform, die Pflegeversicherung, über das Rentensystem, über Steuervereinfachungen oder Arbeitsmarktreformen gerungen wird, wiederholt sich dieses Schauspiel. Selbst der Ausstieg aus dem Atomausstieg könnte noch vor dem Vermittlungsausschuss landen. Die Regierungsparteien hielten es im vergangenen Herbst für nicht notwendig, dass der Bundesrat der Novelle des Atomgesetzes zustimmt. Dagegen wollen nun mehrere Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. So droht dem Föderalismus eine Dauerblockade und der Politik Stillstand. Schließlich sind unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat im Fünf-Parteiensystem der Normalfall. Die Zeiten hingegen, in denen die Parteien, die die Bundesregierung stellen, auch im Bundesrat eine Mehrheit habe, also durchregiert werden kann, werden die Ausnahme bleiben. Man darf gespannt sein, wie die aktuellen Verhandlungen im Vermittlungsausschuss weitergehen. In dieser Woche hat sich Bundeskanzlerin in die Kompromisssuche eingeschaltet. Angela Merkel braucht einen Kompromiss dringender als die Opposition. Ob sie das Machtspiel gewinnt oder verliert, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Vor gut sieben Jahren konnte nur die SPD verlieren. Sie steckte schließlich die Prügel der Wähler für die umstrittene Reform ein. Schnell war vergessen, dass auch die Union dem Gesetzeswerk nicht nur zugestimmt, sondern dieses auch maßgeblich mitbeeinflusst hatte. Die Verantwortlichkeiten in der Politik verwischen, die Rollenverteilung zwischen Regierung und Opposition in der Mehrheitsdemokratie gehen verloren. So war das nicht gedacht mit dem Föderalismus und dem Bundesrat. Denn eigentlich sollen im Bundesrat vor allem Länderinteressen im Vordergrund stehen, damit die politisch und ökonomisch, kulturell und religiös so heterogenen Bundesländer in den Bundesstaat integriert werden können. Stattdessen ist das föderale System zu einem politischen Kampfinstrument verkommen. Kein Wunder, dass die Vertrauenskrise der Politik weiter um sich greift und sich immer mehr Menschen von den Parteien insgesamt abwenden. Für die Demokratie in Deutschland ist dies keine gute Entwicklung.
Am Dienstagabend trafen sich Regierung und Opposition zu einem weiteren Gespräch, um einen Kompromiss in Sachen Hartz IV zu finden. Doch das Vermittlungsverfahren ist intransparent und absurd. Der Bundesrat ist zu einem politischen Kampfinstrument verkommen. Das schadet allen Parteien und der Demokratie.
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innenpolitik
2011-02-08T00:00:00+0100
2011-02-08T00:00:00+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/hartz-iv-und-die-sackgasse-foederalismus/41633
Studie - Deutsche grenzen sich stärker von Migranten ab
Die Bewohner der skandinavischen und angelsächsischen Länder halten zusammen, die Süd- und Osteuropäer weniger, die Deutschen liegen im guten Mittelfeld. Das legt die Studie „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ nahe, die die Bertelsmann-Stiftung am Dienstag präsentiert hat. Die fünf Autoren, allesamt Forscher an der Jacobs University Bremen, haben die Datensätze von zwölf internationalen Studien der letzten Jahre neu ausgewertet und 34 westliche Länder – darunter alle EU-Staaten außer Kroatien – miteinander verglichen. Auch Veränderungen der letzten 25 Jahren haben sie analysiert. Skandinavien, Australien und Neuseeland sind top Die Studienergebnisse sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, wie die Autoren selbst zugeben: Die verwendeten Daten sind manchmal lückenhaft und lassen sich nicht immer genau vergleichen. Die Autoren veröffentlichen daher auch keine konkreten Zahlen, sondern ordnen nur die verschiedenen Länder in fünf Gruppen ein. So bilden etwa die skandinavischen Staaten, Australien und Neuseeland die „Spitzengruppe“ beim sozialen Zusammenhalt; die „Schlussgruppe“ besteht aus Litauen, Lettland, Bulgarien, Griechenland und Rumänien. Deutschland lag von 1989 bis 2008 in der „Mittelgruppe“ und stieg dann ins „obere Mittelfeld“ auf. Weil die Studie aber keine absoluten Veränderungen abbildet, sondern nur relative Änderungen zwischen den Ländern, heißt das nicht zwangsläufig, dass sich der Zusammenhalt in Deutschland wirklich verstärkt hat. Es könnte auch bedeuten, dass er in anderen Ländern schwächer wurde. Deutschland schwächelt bei „Akzeptanz von Diversität“ Die Studie unterscheidet neun Dimensionen – etwa „Vertrauen in die Mitmenschen“, „Vertrauen in Institutionen“, „Gerechtigkeitsempfinden“ oder „Solidarität und Hilfsbereitschaft“ –, aus denen sich der soziale Zusammenhalt ergibt. Deutschland hat in den vergangenen Jahren besonders hohe Werte bei der „Anerkennung sozialer Regeln“ und relativ niedrige Werte bei „Akzeptanz von Diversität“ und „Identifikation mit der Nation“. Gerade diese beiden Facetten sind aber, wie die Autoren selbst sagen, weniger eng mit dem gesamten Zusammenhalt verknüpft als andere Kriterien: Länder mit schwachem Zusammenhalt haben oft relativ hohe Werte bei der Akzeptanz von Diversität und der Identifikation mit der Nation und umgekehrt. Vertrauen in die Polizei steigt, Vertrauen ins Finanzsystem sinkt Der soziale Zusammenhalt sei ein „beständiges Merkmal von Gesellschaften“, sagen die Autoren: Abrupte Veränderungen seien selten. Im Durchschnitt aller untersuchten Länder ist das Vertrauen in die Mitmenschen in den letzten Jahren leicht gestiegen, ebenso die Akzeptanz Homosexueller und das Vertrauen in Polizei und Gesundheitssystem. Leicht gesunken sind hingegen die Akzeptanz von Migranten und das Vertrauen in Parlament und Justiz; das Vertrauen in Finanzinstitutionen ging stark zurück. Bei der „gesellschaftlichen Teilhabe“, definiert etwa durch die Wahlbeteiligung und das Interesse an Politik, bildete Deutschland eine Ausnahme: Sie stieg in Deutschland leicht, in den anderen Ländern sank sie. Zusammenhalt macht glücklich Die Autoren setzen den Wert für Zusammenhalt mit verschiedenen anderen Maßzahlen ins Verhältnis und versuchen so, Zusammenhänge zu benennen. Das Ergebnis: Je wohlhabender und je innovativer ein Staat ist, je gleicher das Vermögen verteilt ist und je besser Bildungs- und Gesundheitssystem funktionieren, desto stärker ist der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft. Der Ausländeranteil und staatliche Investitionen in Sozialleistungen spielen laut Studie hingegen keine Rolle. Und: Gesellschaften, in denen Religion sehr wichtig ist, halten weniger stark zusammen. Neben den Ursachen haben die Autoren auch die Auswirkungen eines starken gesellschaftlichen Zusammenhalts untersucht. Die Erkenntnis: In Ländern mit starkem Zusammenhalt sind die Menschen zufriedener.
Ruth Eisenreich
Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland sei nur mittelmäßig stark, heißt es in einer neuen Studie. Vor allem mit der „Akzeptanz von Diversität“ tun sich die Deutschen schwer
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außenpolitik
2013-07-17T09:06:05+0200
2013-07-17T09:06:05+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/studie-deutsche-grenzen-sich-staerker-von-migranten-ab/55087
Angola – Falsche Empörung über Merkels Rüstungsgeschäft
Es sagt sich leicht dieser Tage: Gebt Essen, nicht Waffen! Afrika hungert und wir verkaufen Kriegsschiffe dorthin? „Das ist an Zynismus kaum noch zu übertreffen“, sagt auch Wolfgang Niedecken von BAP. Der Sänger ist Botschafter der „Hilfsaktion für Afrika“, wodurch er zu Recht viele zusätzliche Fans hat. Die empören sich nun mit ihm über die Bundesregierung. Schamlos finden sie das Bild, das die Handelsreisende Angela Merkel in Afrika abgab: Aus Somalia fliehen die Menschen vor Dürre und Tod, und Angola wird gleichzeitig von Deutschland hochgerüstet. Linke, SPD und Grüne geißeln die Unverfrorenheit der schwarz-gelben Koalition. Gregor Gysi fordert, die Kanzlerin „muss endlich aufhören, immer wieder auf Wunsch der Waffenlobbyisten Rüstungsgeschäfte zu betreiben". Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich mahnt: "In der jetzigen Situation brauchen viele afrikanische Staaten mit Sicherheit keine deutschen Rüstungsgüter." Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth hat das alles auf eine Formel gebracht: "Merkel will den deutschen Wohlstand und Export auf dem Rücken der Ärmsten sichern." Soll heißen: auf Kosten verhungernder Somalier. Was die Opposition da an die Wand malt, ist vor allem eins: ein Afrikabild ohne jede Differenzierung. Afrika wird gezeichnet als ein großes, armes Ganzes, das in Hunger und Not versinkt. Afrika aber besteht aus 54 höchst unterschiedlichen Staaten. Die volle Breite des Kontinents liegt zwischen den hungernden Somaliern der Ostküste und den aufstrebenden Angolanern an der Westküste. ­5000 Kilometer trennen die Hauptstädte der zwei Länder. Während in Mogadishu ein grausamer Bürgerkrieg wütet, vor dem sogar die Hilfsorganisationen fliehen mussten, boomt Luanda mit zweistelligen Wachstumsraten. Niemand käme auf die Idee, sich über Rüstungslieferungen nach Indien zu empören, weil in Nordkorea Menschen hungern. Die Länder des asiatischen Kontinents werden selbstverständlich jedes für sich betrachtet. Auch bei Südamerika gelingt die Unterscheidung. Nur die Staaten Afrikas werden immer wieder in einen Topf geworfen ­– in dessen Boden ein Hungerloch klafft. Dabei gäbe es durchaus bessere Gründe, sich gegen das mögliche Rüstungsgeschäft mit Angola zu empören, als den Hunger der Somalier. Angola ist bei weitem keine Demokratie und längst kein afrikanischer Vorzeigestaat, der seine Bewohner am Ölboom teilhaben lässt. Krieg und Kommunismus haben das Land über Jahrzehnte hinweg zerstört. Der vormalige Kriegsherr und Kommunist José Eduardo dos Santos regiert noch immer mit harter Hand, auch wenn er sich der Kanzlerin gegenüber geläutert gab. Vorbei sind jedoch die Zeiten, als Deutschland es sich leisten konnte, Afrika Sicherheits- und wirtschaftspolitisch links liegen zu lassen, nur weil ihm seine Regierungen nicht gefielen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 gilt Afrika als sicherheitspolitisch relevant. Im Auswärtigen Amt setzte sich die These durch, dass Armut ein fruchtbarer Boden für Extremisten ist und „failed states” Rückzugsräume für Terroristen sind. Zur selben Zeit begann Chinas wirtschaftlicher Griff nach Afrika. Ein ganzes Jahrzehnt lang hat Deutschland zugesehen, wie Land um Land von den Chinesen als Markt erschlossen wird. China legt dabei keine ideellen Maßstäbe an, verlangt für günstige Kredite keinen demokratischen Anstand. Die Chinesen sehen in den 900 Millionen Afrikanern nur eins: potentielle Kunden. So wurde China Schutzmacht Sudans und Zimbabwes – und lange Zeit auch Angolas. Erstmals zeigte die Bundesrepublik dort ebenfalls offen Geschäftsinteressen, indem Angela Merkel für den Kauf  deutscher Schiffe warb. Das ist eine offizielle Kehrtwende in der Entwicklungspolitik, strategisch aber längst überfällig. Deutschland versucht, seine starke Rüstungsindustrie zu nutzen, um einen Fuß in die Tür zum angolanischen Markt zu bekommen. Das ist geschickt, wie hinter vorgehaltener Hand sogar Vertreter der Opposition zugeben. Die Export-Richtlinien schließen nur Waffenlieferungen aus, „bei denen hinreichender Verdacht besteht, dass sie zu internen (…) oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden“. Das ist bei Angola zurzeit nicht der Fall. Angola bräuchte die deutschen Schiffe für etwas ganz anderes. Geliefert würden sechs bis acht Patrouillenboote. Sie sollten helfen, die Raubfischerei vor Angolas Küste einzudämmen, damit der Fischreichtum das Land ernähren kann, dem er gehört. Im darbenden Somalia ist genau das vor Jahrzehnten schief gelaufen. Dort fehlte Küstenschutz, dort fischten ausländische Trawler die somalischen Fanggründe leer. Das ist eine der vielen Ursachen für den Hunger dort. Auf dem Meer vor Somalia schippern nun keine Fischer mehr, sondern Piraten. Am Montag ist die Fregatte „Bayern“ dorthin aufgebrochen. Die Deutsche Marine übernimmt vor Somalia am 13. August für vier Monate die Führung des europäischen „Atalanta“-Einsatzes – auch „Anti-Piraten-Einsatz“ genannt. Diese Patrouillenfahrten sind teuer und gefährlich für die Deutschen. Sinnvoller erscheint es vor diesem Hintergrund, rechtzeitig Patrouillenboote an afrikanische Staaten zu liefern, mit denen sie selber ihre Küste sichern können. Sie „Kanonenboote“ zu schimpfen, wie Wolfgang Niedecken es tut, führt zu falscher Scham. Schämen sollten wir uns lieber, dass wir Deutschen in diesen Sommertagen viel zu wenig spenden: für die Hungernden am Horn von Afrika.
Die Opposition empört sich über die Rüstungslieferungen nach Angola und zeichnet ein Afrikabild ohne jede Differenzierung: Merkel würde den deutschen Wohlstand auf Kosten verhungernder Somalier hüten. Dabei käme niemand auf die Idee, sich über Rüstungslieferungen nach Indien zu empören, weil in Nordkorea Menschen hungern.
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außenpolitik
2011-07-20T10:49:48+0200
2011-07-20T10:49:48+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/falsche-empoerung-ueber-merkels-ruestungsgeschaeft/42413
Ständige Impfkommission - Wegen Nebenwirkungen: Kein Moderna mehr für Unter-30-Jährige
Kinder ab 12 Jahren sowie Jugendliche und Erwachsene unter 30 sollen laut Aussage der Ständigen Impfkommission (Stiko) künftig nur noch mit dem Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer und nicht mit dem von Moderna geimpft werden. Aktuelle Meldeanalysen zeigten, dass Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen in dieser Altersgruppe nach der Moderna-Impfung (Spikevax) häufiger beobachtet würden als nach der Biontech-Impfung (Comirnaty). Das teilte die Stiko am Mittwoch mit. „Diese Empfehlung gilt sowohl für die Grundimmunisierung als auch für mögliche Auffrischimpfungen.“ Auch wenn zuvor ein anderer Impfstoff verwendet worden sei, solle für weitere Impfungen Biontech genutzt werden, hieß es. Das Expertengremium berief sich auf Sicherheitsdaten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) und internationale Daten. Die Stiko rät außerdem, dass auch Schwangere unabhängig vom Alter Biontech bekommen sollten, auch wenn es für sie noch keine vergleichenden Sicherheitsdaten zu den beiden Impfstoffen gebe. Es handelt sich noch nicht um eine finale Stiko-Empfehlung. Der Beschlussentwurf zur entsprechenden Aktualisierung der Covid-19-Impfempfehlung sei zur Abstimmung an Fachkreise und Länder gegangen, hieß es. Änderungen seien daher noch möglich. Der Verlauf der Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen sei nach bisher vorliegenden Sicherheitsberichten „überwiegend mild“, erklärte die Stiko. Wie das PEI in seinem Sicherheitsbericht angibt, traten die Entzündungen insbesondere nach der zweiten Impfung auf. Erste Beschwerden würden typischerweise innerhalb weniger Tage nach der Injektion bemerkt. Die Stiko behauptete, für Menschen ab 30 bestehe nach der Moderna-Impfung kein erhöhtes Risiko für die beiden Entzündungen. Die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und dem US-Hersteller Moderna ähneln sich in einigen Punkten: Es sind beides mRNA-Impfstoffe, für die Grundimmunisierung werden zwei Dosen verabreicht. Seit der Einführung beider Präparate sei bekannt, dass sie „in seltenen Fällen“ Herzmuskel- und/oder Herzbeutelentzündungen bei jüngeren Menschen zur Folge haben können, schreibt die Stiko. Der Vorsitzende Thomas Mertens sagte am Mittwoch, die Hypothese sei, dass die häufiger erfassten Fälle beim Moderna-Impfstoff mit dessen vergleichsweise höherer mRNA-Dosierung zusammenhängen könnten. Im PEI-Sicherheitsbericht sind 136 Meldungen von Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen bei mit Moderna geimpften Menschen zwischen 18 und 29 Jahren verzeichnet. Zwei Meldungen betreffen 12- bis 17-Jährige. Pro 100.000 Moderna-Impfungen ist von einer Berichtsrate von 11,41 beziehungsweise 11,71 für die beiden Altersgruppen die Rede. Auch Frankreichs oberste Gesundheitsbehörde rät Menschen unter 30 aus den gleichen Gründen von Moderna ab, wie aus einer Empfehlung der Behörde vom Montagabend hervorging. Moderna hatte am Dienstag mitgeteilt, bei der Europäischen Arzneimittelagentur Ema die Zulassung auch für Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren beantragt zu haben. Noch gibt es in Europa keinen zugelassenen Impfstoff für Kinder unter 12 Jahren. / Quelle: dpa
Cicero-Redaktion
Es ist bekannt, dass bei jüngeren Menschen nach Impfungen mit mRNA-Präparaten Herzmuskelentzündungen auftreten können. Einen der Impfstoffe sollen unter 30-Jährige nach dem Willen der Stiko daher künftig nicht mehr bekommen.
[ "Covid-19", "Corona", "Impfstoff", "Ständige Impfkommission" ]
innenpolitik
2021-11-10T12:51:42+0100
2021-11-10T12:51:42+0100
https://www.cicero.de/innenpolitik/standige-impfkommission-wegen-nebenwirkungen-kein-moderna-mehr-fur-unter-30-jahrige
Bahn-Streikfahrplan angelaufen - Nur jeder fünfte Fernzug unterwegs
An deutschen Bahnhöfen herrschte am Mittwochmorgen weitgehende Leere: Grund dafür ist der Streik der Lokführergewerkschaft GDL. Ein Großteil des Fern- und Regionalverkehrs fällt bis Freitagabend aus.Fahrgäste müssen sich seit dem frühen Mittwochmorgen wegen des mehrtägigen Lokführerstreiks der Gewerkschaft GDL auf weitreichende Einschränkungen im Fern- und Regionalverkehr einstellen. „Der Notfahrplan ist heute Morgen stabil angelaufen“, sagte eine Bahnsprecherin. Im Fernverkehr fallen demnach rund 80 Prozent der Züge aus. Auch im Regionalverkehr gibt es Beeinträchtigungen, die regional unterschiedlich stark sind. Der Ausstand soll bis Freitag um 18 Uhr andauern. Im Güterverkehr ging der Streik bereits am Dienstagabend los. Für viele Kundinnen und Kunden kam die Aktion nicht überraschend: An vielen großen Bahnhöfen war am Morgen kaum etwas los. „Wir sehen auch, dass unsere Fahrgäste ihre Fahrt vorgezogen haben oder sie zu einem späteren Zeitpunkt nachholen“, sagte die Sprecherin. Es ist der dritte und bisher längste Arbeitskampf im laufenden Tarifkonflikt zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), der Bahn und weiteren Eisenbahnunternehmen. Bestreikt wird etwa auch das Unternehmen Transdev, das unter anderem Regionalbahnen im Nordwesten und Osten betreibt. Bis zuletzt hatten Bahn und Transdev versucht, den Ausstand juristisch zu verhindern. Das Landesarbeitsgericht Hessen wies den Antrag auf einstweilige Verfügung am Dienstagabend endgültig ab. GDL-Chef Claus Weselsky verteidigte den Streik und stellte weitere Aktionen in Aussicht. „Wenn nichts kommt bis Freitag, machen wir eine Pause und gehen in den nächsten Arbeitskampf“, sagte er im ZDF-„Morgenmagazin“ nach Beginn des Streiks. Er kritisierte das jüngste Angebot der Bahn als Provokation. Im Kern geht es in dem Konflikt um die Forderung der Gewerkschaft nach einer Verringerung der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeiter von 38 auf 35 Stunden bei vollem Lohn. Die Bahn lehnt das ab und stellte in ihrem jüngsten Angebot die Erweiterung bestehender Arbeitszeit-Wahlmodelle in Aussicht. Dabei können sich Beschäftigte für weniger Wochenarbeitsstunden entscheiden, müssen dafür aber finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Die GDL lehnt das Angebot ab. Weselsky hatte die Verhandlungen mit der Bahn für gescheitert erklärt. Der Konzern hatte im Rahmen des erweiterten Angebots aufgerufen, am Mittwoch weiter zu verhandeln. Darauf ging die Gewerkschaft nicht ein. Auch mit Transdev scheiterten die Verhandlungen. Im Tarifstreit hat die GDL bereits zweimal zu Warnstreiks aufgerufen, die im Personenverkehr maximal 24 Stunden dauerten. Bis der Zugverkehr nach dem jetzigen Ausstand wieder reibungslos läuft, dürfte es am Freitagabend noch einige Stunden dauern. Im Dezember hatte die Gewerkschaft ihre Mitglieder per Urabstimmung über unbefristete Streiks abstimmen lassen. Rund 97 Prozent der Teilnehmer sprachen sich dafür aus. Seither sind längere Streiks möglich. dpa
Cicero-Redaktion
An deutschen Bahnhöfen herrschte am Mittwochmorgen weitgehende Leere: Grund dafür ist der Streik der Lokführergewerkschaft GDL. Ein Großteil des Fern- und Regionalverkehrs fällt bis Freitagabend aus.
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wirtschaft
2024-01-10T10:44:34+0100
2024-01-10T10:44:34+0100
https://www.cicero.de/wirtschaft/bahn-streikfahrplan-angelaufen-nur-jeder-funfte-fernzug-unterwegs
Italien nach Berlusconi – Herr Monti sucht das Glück
Den Italienern wird vorgeworfen, niemals mit etwas einverstanden zu sein. Gleichzeitig rechnet man ihnen positiv an, schwierigen Situationen mit Geschick zu begegnen. Beides konnte man wieder einmal innerhalb weniger Tage beobachten. Die europäische Staatsschuldenkrise hat die politische Lage Italiens unvermittelt und radikal verändert – sie war der Gnadenstoß für die Regierung Berlusconi, die die eigenen Widersprüche nicht überlebt hat. Der Ministerpräsident hatte Europas Mahnungen, die Schulden seines Landes abzubauen, ignoriert, sich geweigert, die überfälligen Konsequenzen zu ziehen, und das über Jahre gewachsene Misstrauen gegenüber Italien unterschätzt. Kurzum: Silvio Berlusconi hat jahrelang eine dilettantische und improvisierte Europapolitik betrieben. Erst als die Krise gar nicht mehr wegzudiskutieren war, hat Berlusconi die Notbremse gezogen und ein verspätetes Maßnahmenbündel erlassen – ob zur Steigerung oder zum Abbau der Schulden, weiß wohl nur er. Letztendlich hat er die Mehrheit im Parlament verloren und ist nach der Abstimmung zum Stabilitätsgesetz zurückgetreten. [gallery:Italiens Drache – Wer ist Silvio Berlusconi] Ohne das Verantwortungsbewusstsein des Staatspräsidenten, der sich um die Bildung einer überparteilichen Regierung bemüht hat, ohne den Druck der Bevölkerung und der Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, ohne die Verunsicherung der Öffentlichkeit aufgrund der undurchsichtigen wirtschaftlichen Lage und ohne das wiedererlangte Bewusstsein der Abgeordneten der PDL (Popolo della Libertà / Volk der Freiheit), die der Regierung die Unterstützung im Parlament entzogen haben, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Silvio Berlusconi hätte schon vor Monaten zurücktreten müssen – abgesehen von seinem Lebenswandel und den Skandalen war längst offensichtlich, dass seine Regierung gelähmt und unfähig war, Entscheidungen zu treffen. Nach dem Ende einer durch ständige Streitsucht gekennzeichneten politischen Ära ist es wohl normal, erleichtert aufzuseufzen und zu hoffen, dass Italien den Weg der Weisheit wiedererlangen wird. Am Rande des Abgrunds haben sich die Parteien – die Demokratische Partei (Partito Democratico/PD) von Pier Luigi Bersani, die Zentrumspartei (Unione di Centro/UDC) von Carlo Casini und die PDL von Angelino Alfano –, die in erbitterten Streitereien verbissen waren, zusammengeschlossen, um eine nie da gewesene Form der Regierung zu unterstützen. Im Gegensatz zu Griechenland und Spanien besteht die Regierung in Italien ausschließlich aus Vertretern der Zivilgesellschaft und nicht der Parteien und Parlamente. Augenscheinlich handelt es sich also um eine unverfälscht technokratische Regierung. Aber Vorsicht! Regierungen einer parlamentarischen Demokratie sind immer auch politisch, da ihre Verweildauer von dem Vertrauen abhängt, welches das Parlament ihnen entgegenbringt oder wieder entziehen kann. Auf wessen Unterstützung kann Mario Monti zählen - und wie stabil ist seine Akzeptanz? Erfahren Sie es auf der nächsten Seite. Mario Monti zählt auf die Unterstützung der breiten politischen Mehrheit, ausgenommen die der Liga Nord. Theoretisch hat jede Partei im Parlament ein Vetorecht und somit die Macht, die Regierung in eine Krise zu stürzen. In der Praxis ist es so, dass sowohl die Mehrheitspartei als auch die Opposition es vorziehen, die Exekutive von außen zu unterstützen, um sich nicht die Verantwortung für notwendige, aber unbeliebte Entscheidungen aufzuhalsen. Obwohl ein Teil der Mehrheitspartei lieber vorgezogene Wahlen im Frühjahr 2012 forcieren würde statt das natürliche Ende der Legislaturperiode im Jahr 2013 abzuwarten, ist es unwahrscheinlich, dass es dazu kommen wird. Vielmehr haben die Parteien offensichtlich nichts aus der Finanzkrise gelernt und fürchten das Urteil der Wähler, sollte man früher zu den Urnen schreiten. Auch wenn Mario Montis Akzeptanz noch nicht stabil ist und er sich im Tagesgeschäft noch bewähren muss, hat sich bereits die Atmosphäre im Land verändert: Sogar die politischen Debatten im Fernsehen sind kein Aufeinandertreffen von Hund und Katze mehr, sondern wirken beinahe schon langweilig. Die Voraussetzungen für einen Neubeginn sind also durchaus vorhanden. Wird aber auch tatsächlich ein neues Kapitel begonnen und schnell ein normales politisches Leben in Italien etabliert, das die Interessen aller Bürger und nicht nur Einzelner vertritt? Noch ist es zu früh für eine abschließende Antwort. Aber hoffen, das darf man durchaus. Allerdings sollte man sich nicht von der Zustimmung, die die Regierung derzeit genießt, täuschen lassen. Schließlich vertreten die sie tragenden Parteien sehr unterschiedliche Interessen. Außerdem ist Monti von einer Vielzahl von Parlamentariern umgeben, die nur davon träumen, sich seiner Regierung zu entledigen und ihre alten Ämter wiederzuerlangen, sobald sich die italienische Finanz- und Wirtschaftslage so weit erholt hat, dass ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar wird. Dennoch bin ich überzeugt, dass das Land bereit ist, zur Normalität zurückzukehren. Wenn diese Annahme stimmt, arbeitet die Zeit für Mario Monti und sein steigendes Ansehen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Menschen das Gefühl haben, dass er tatsächlich das Volk vertritt und nicht organisierte Lobbys (von Bankern und Industriellen), dass die Opfer, die er verlangt, gleichmäßig auf alle sozialen Schichten verteilt sind und alle Maßnahmen, die der Ministerpräsident zur Sanierung des Staatshaushalts, zur Steigerung des Wachstums und zur Herstellung der sozialen Gerechtigkeit, angkündigt hat, sobald wie möglich umgestezt werden. Warum die Italiener plötzlich die Arroganz der politischen Klasse verabscheuen und Montis Art schätzen, lesen Sie auf der nächsten Seite. Die Öffentlichkeit hat verstanden, dass das politische System das Vertrauen der Wähler missbraucht hat. Die Menschen verabscheuen inzwischen die Arroganz der politischen Klasse. Noch kennen sie den neuen Ministerpräsidenten nicht, schätzen aber seine ernste und nüchterne Art und seinen Widerwillen, Versprechungen zu machen, die nicht gehalten werden können. Sie wissen, dass er keine Agenda hat, die nicht den Interessen des Landes entsprechen würde. Mit dieser anderen Art des Umgangs mit dem Interesse des Landes konfrontiert, zeigt das italienische Volk plötzlich – nach Jahren der Akzeptanz – seine Abneigung für das politische Schauspiel, für die Skandale, für den egomanischen Exhibitionismus und für die Streitsucht. Die Beurteilung der Regierung durch Parlament und Öffentlichkeit könnte daher schon bald dramatisch voneinander abweichen: unbeliebt bei den Abgeordneten, vom Volk hingegen mit gezücktem Schwert verteidigt. Zu Letzterem könnte es vor allem dann kommen, sollte Monti sofort glaubhafte Initiativen ergreifen, die Kosten des politischen Apparats zu senken und die Interessenverbände, die jede Form gesunder Konkurrenz ausschließen, zu schwächen. Wenn es ihm tatsächlich gelingt, das Vertrauen der Italiener zu gewinnen, wird es schwer werden, ihn bei seinen Bemühungen, das Land zu konsolidieren, zu blockieren. Den Italienern geht es allerdings nicht nur um ihre innenpolitische Misere. Mit ebenso großer Aufmerksamkeit verfolgen sie Mario Montis außenpolitische Bemühungen. Viel zu lange haben sie unter der Isolation ihres Landes gelitten, die in den vergangenen Monaten in all ihrer Dramatik deutlich wurde. Die an Verachtung grenzende Überheblichkeit, die Frankreich und Deutschland Italien gegenüber an den Tag gelegt haben, hat das italienische Volk verletzt: Das ironische und herablassende Lächeln Angela Merkels und Nicolas Sarkozys hat Spuren hinterlassen. Italien ist ein geschicktes und kreatives Land und hat keinen Spott verdient. Wahr ist aber auch: Zu viele Italiener hatten sich in einem grenzenlosen Optimismus verloren, der ihnen über Jahre vom Cavaliere vorgegaukelt wurde. Mario Montis erste politische Gespräche auf europäischem Parkett signalisieren deutlich, dass Italien seinen Platz in Europa wiedergefunden hat. Es ist wieder Teilhaber der Verwaltung des gemeinsamen Gutes, hat wieder eine Stimme im Orchester der großen Nationen, aus dem es sich mit der zweiten Regierung Silvio Berlusconis im Mai 2001 selbst ausgeschlossen hatte. Das bedeutet Italiens Teilhabe an der traditionellen europäischen Politik, eines Landes, das gewillt ist, seine Verantwortung als Mitbegründer der Europäischen Union wahrzunehmen, die auferlegten Pflichten einzuhalten, sich um die Union und die europäische Integration zu bemühen sowie die gemeinsame Währung vehement zu verteidigen. Sobald der Durchschnittsbürger merkt, dass das internationale Ansehen Italiens gänzlich wiederhergestellt ist, wird er sich in seinem Stolz angespornt fühlen; die ernsthaft und leidenschaftlich arbeitenden Italiener werden erleichtert aufseufzen. Lesen Sie auf der nächsten Seite, was für Erfolgsaussichten Monti hat. Diese Entwicklung wäre auch für Deutschland und Frankreich von Vorteil, die in den vergangenen Jahren, auch weil Italien als Partner ausfiel, die einzigen Hauptdarsteller auf der europäischen Bühne waren. Zeitweise haben sie etwas übertrieben, den anderen Partnern ihren Standpunkt aufzwingen zu wollen – aber jemand musste ja reagieren, und so haben sie die Leere ausgefüllt. Allerdings kann das kein Modell für die Zukunft sein. Auch aus diesem Grund wäre eine enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Deutschland und Italien ein Gewinn für Europa. Fortschritte in der Bekämpfung der Finanzkrise und der Regierbarkeit Europas werden Montis Ansehen und seine stabilisierende Rolle in Italien steigern, während den populistischen Kräften, allen voran der Liga Nord, der Wind aus den Segeln genommen würde, die Polemik gegen die Europäische Union und den Euro fortzusetzen. Dennoch bleibt die politische Lage unberechenbar, sodass niemand vorherzusagen vermag, ob Monti auch wirklich bis zum Ablauf der Legislatur im Amt bleiben wird. Seine Stärke schöpft er aus seiner Ausgeglichenheit, seinem Programm, aus dem weitverbreiteten Wunsch nach Normalität innerhalb der Bevölkerung und aus der Unterstützung der Unternehmer (der großen wie der mittleren und kleinen), die eben noch die Regierung Berlusconi unterstützt haben. Seine Schwächen erwachsen aus der Ungeduld der Politik, die Sturheit der Interessenverbände, die Schwäche der Institutionen und aus der Schwierigkeit, kurzfristig Wachstum zu schaffen. Nie ist die Gegensätzlichkeit zwischen dem Italien, das für die Rückgewinnung seiner Würde, seiner Glaubwürdigkeit und die Zukunft Europas arbeitet, und dem Italien der Egoismen, der Privilegien und Kurzfristigkeiten deutlicher zutage getreten als jetzt. Es wird sich zeigen, wer den längeren Atem hat. Ich glaube an die Weisheit des italienischen Volkes, bleibe optimistisch und setze auf die Regierung Monti und ihre Fähigkeit, ein enges Bündnis mit Deutschland zu knüpfen – und darauf, dass Deutschland Italien bei seinen Bemühungen unterstützen wird. Antonio Puri Purini war Berater des italienischen Präsidenten und von 2005 bis 2009 Botschafter seines Landes in Deutschland. Übersetzung: Charlotte Merkl
An diesem Mittwoch ist Italiens Ministerpräsident Mario Monti bei der Kanzlerin zu Besuch. Zu einer Zeit, in der deutlich wie nie etwas zutage tritt: die Gegensätzlichkeit zwischen dem Italien, das für die Rückgewinnung seiner Glaubwürdigkeit arbeitet, und dem Italien der Egoismen
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außenpolitik
2012-01-11T08:57:13+0100
2012-01-11T08:57:13+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/herr-monti-sucht-das-glueck/47934
Bundeswehr als Söldnerarmee - Jetzt bekommen wir die Quittung
Ist die Bundeswehr auf dem Weg zur Söldnerarmee? Wird sie dann aus Einheimischen und Fremden, zunächst EU-Bürgern, bestehen? Im Bundesverteidigungsministerium wird dies offenbar erwogen. Langfristig mutierte dann die Bundeswehr wahrscheinlich zu einer Mischarmee aus Einheimischen und Söldnern. Das legt die allgemeine Militärgeschichte nahe. Es handelt sich keineswegs um ein deutsches Phänomen. In den meisten demokratischen Staaten (Ausnahme Israel) wurde die Allgemeine Wehrpflicht abgeschafft. Bei uns 2011 „ausgesetzt“, in Großbritannien 1961 abgeschafft. 1973 in den USA, in Frankreich und Spanien 2001. Die Militärgeschichte der Menschheit beweist: Menschen (meist Männer) sind nur dann fürs Militär zu gewinnen, wenn sie mit mindestens einer von drei Belohnungen rechnen können: Macht, Geld oder Ansehen. Der Grund ist leicht einsehbar. Anders als viele andere Berufe und Tätigkeiten ist der Dienst in jedem Militär prinzipiell (lebens)gefährlich. Wer diese Gefahr auf sich nimmt, will – und muss – großzügig be- und entlohnt werden. Deshalb waren militärische, politische und wirtschaftliche Macht seit jeher ineinander verflochten. „Dux“ (lateinisch für Führer) war zunächst der Heerführer. Ähnlich im Deutschen: Herzog war derjenige, der das Heer zog, beziehungsweise führte. Einer der Herzöge wurde schließlich König, also die politische Nummer eins. Soweit der qualitative“ Aspekt. Zum quantitativen: Heerführer oder auch nur Offizier zu sein, lohnte sich materiell ebenfalls. Anders sah es für die Heerscharen, die Mannschaftssoldaten, aus. Wer aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen musste, wurde Soldat. (Das gilt noch heute für ökonomisch strukturschwache Regionen. Nicht nur in Deutschland.) Manche wurden durch Menschenraub oder Versklavung zu den Waffen gezwungen. Derart mussten sie auch für Fremdstaaten kämpfen. Weil und wenn der Zwangsapparat den Bedarf an Soldaten nicht decken konnte, gingen die Kriegsherren seit Menschengedenken dazu über, den Kämpfern einen „Markt“lohn, „Sold“, anzubieten. Das machte sie zu „Soldaten“. In der Armee Friedrichs des Großen beispielweise stammte die Hälfte der Kämpfer aus dem Ausland. Dann kam die Französische Revolution und mit ihr die Ära der Revolutionskriege. 1793 standen Revolutionäre vor dem Untergang. Lazare Carnot hatte den rettenden Einfall: „Die levée en masse“, die Massenerhebung, sprich: die Aushebung aller unverheirateten Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren. Nun bekam der Staat erstmals seit der altgriechischen Hoplitenarmee seine Soldaten quasi zum Nulltarif. Nüchtern betrachtet, ist die Idee der Bürgergemeinschaft in Waffen, die Allgemeine Wehrpflicht, ebenso genial wie zynisch. Das ist die eine Seite. Die andere: Sie schuf, sofern tatsächliche alle Wehrpflichtigen dienten, wie zu Zeiten der altathenischen Hopliten, Gefahrengleichheit und damit mehr allgemein gesellschaftliche Gleichheit und Gemeinschaft. Dennoch war die Wehrpflicht für die Betroffenen und ihre Familien meistens eine bittere, weil lebensgefährliche Pille. Versüßt wurde sie ideologisch, patriotisch besonders vom Bildungsbürgertum, das sich überall und immer gerne vor der Wehrpflicht drückte und stattdessen lieber mit Zitaten glänzte. Etwa dieses: „Dulce et decorum est pro patria mori.“ („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“) Spätestens der 65millionenfache Blutzoll des Zweiten Weltkriegs belehrte die Menschheit und erst recht die deutschen Verlierer, die nichts anderes waren als des „Führers“ Kanonenfutter, dass dieser Spruch blanke Lüge ist. Der strukturelle Pazifismus seit 1945 ist also historisch bedingt. Im nachnationalsozialistischen Deutschland verständlicherweise noch mehr als woanders. Wo es den Bürgern nach 1945 möglich war, „sich zu drücken“, taten sie es folgerichtig guten Gewissens gerne und immer lieber, zumal es ihnen gesetzlich ständig leichter gemacht wurde. Schließlich wurde die längst nicht mehr allgemeine Allgemeine Wehrpflicht in vielen Demokratien abgeschafft. Dafür gab es zwei Gründe. Der erste: Die Gesetzgeber, beziehungsweise die Legislativen und Ausführenden, beziehungsweise die Exekutiven (= Politiker) wollten gewählt werden. Und wer in einer strukturell pazifistischen Gesellschaft gewählt werden will, muss militärische Enthaltsamkeit bieten. Der zweite Grund: Unmittelbare militärische Bedrohungen schienen nach dem Ende des Kalten Krieges das Phänomen einer unwiederholbaren Vergangenheit zu sein. Dass besonders die Deutschen den Ewigen Frieden herbeiträumten, ist wiederum besonders verständlich – und auch sympathisch. Inzwischen platzte der Wunschtraum. Die alptraumhafte weltpolitische Wirklichkeit von Kriegen, Terror sowie Kriegsgefahren, auch unmittelbar vor der eigenen Haustür, hat Deutschland und die Nato eingeholt. Sicherheitspolitisches Freibier gibt es für uns auch nicht mehr, denn die Trump-USA sind nicht länger bereit, für uns die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Stell´ dir vor, man braucht auch hierzulande landeseigene Soldaten, und es kommen keine. Was Wunder, dass man sie dann in anderen Ländern sucht. Und wenn man sie gefunden hat, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes Fremdkörper ohne Bezug zur Gesellschaft. Wozu das führt, weiß man auch aus der (Militär-)Geschichte: Die Truppe wird zum Staat im Staate und putscht sich im schlimmsten Falle an die Macht. Wer das nicht will, beschuldige nicht die Bundesministerin, sondern sich selbst und die Gesellschaft. Wir haben uns der Bundeswehr seit langem entzogen. Jetzt bekommen wir die Quittung.
Michael Wolffsohn
Die Deutschen konnten sich der Bundeswehr lange guten Gewissens entziehen. Das könnte sich nun rächen. Denn die Truppe könnte laut Plänen der Regierung zur Söldnerarmee werden und damit zu einem Fremdkörper im Staat
[ "Bundeswehr", "Wehrpflicht", "Verteidigung", "Ursula von der Leyen" ]
innenpolitik
2018-07-24T10:42:05+0200
2018-07-24T10:42:05+0200
https://www.cicero.de/innenpolitik/bundeswehr-soeldnerarmee-wehrpflicht-abschaffung-michael-wolffsohn
Parteitag der KP – „Nicht China schreit nach Demokratie, der Westen tut es“
Eberhard Sandschneider ist Lehrstuhlinhaber für die Politik Chinas und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Er ist leitet den Asien-Forschungsschwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Herr Sandschneider, üblicherweise gehen Machtwechsel in einer Autokratie mit Gewalt einher. Dieser Tage aber wechselt China fast seine gesamte politische Führung aus – und das friedlich. Wie ist so etwas möglich? Das ist ja schon der zweite geregelte, also institutionalisierte Machtwechsel in China. Nach der Kulturrevolution entschied sich die Kommunistische Partei (KP) bewusst, Spitzenpolitiker auch in Rente zu schicken. Das war schon so, als Hu Jintao ins Amt kam, und das ist jetzt so mit Xi Jinping. Was ist von Xi Jinping, dem neuen Generalsekretär der KP, zu erwarten? Im Augenblick ist das noch schwer zu sagen. Er ist natürlich gut beraten, sich nicht mit irgendwelchen revolutionären Ideen aus dem Fenster zu lehnen, solange nicht bestimmte Entscheidungen zu seinen Gunsten getroffen sind. Das gilt jetzt für den Parteitag, das gilt im nächsten März für den zweiten wichtigen Schritt – die Wahl zum Staatspräsidenten. Es gilt aber auch für den eigentlich noch wichtigeren Schritt der Übernahme der zentralen Militärkommission. Erst wenn das alles passiert ist, kann er zeigen, wo er wirklich hin will. Ist er ein Reformer? Xi gehört einer Gruppe von politischen Führern in China an, die sehr pragmatisch an Probleme herangehen – und die auf Stabilität sowie Wirtschaftswachstum setzen. In den letzten Jahren hat er auf diversen Staatsbesuchen auch schon kräftig geübt. Xi Jinping macht einen ausgesprochen kompetenten, umgänglichen Eindruck. Ich habe ihn in Gesprächen mit Besuchsdelegationen erlebt. Er kann offensichtlich auch relativ gut Englisch und er erfüllt das übliche Anforderungsprofil an einen Mann in diesem Amt. Sind all die Reformhoffnungen, die jetzt in ihn gesetzt werden, überhaupt realistisch? Er wird zunächst einmal die Interessen seines eigenen Landes wahren. Ob der Westen daran Reformhoffnungen knüpft oder nicht, ist belanglos und hat mit den chinesischen Debatten nichts zu tun. Er wird Reformen dann in Angriff nehmen, wenn er das zur Wahrung von Stabilität und wirtschaftlichem Fortschritt für sinnvoll hält. Aber er wird das so vorsichtig tun, dass er nicht das wackelige Schiffchen chinesischer Stabilität zum Kentern bringt. Andererseits führt China einen spektakulären Prozess gegen den korrupten Superpolizisten Bo Xilai. Sind das alles nicht Signale für einen langsamen Wandel Chinas? Nein, das ist höchstens ein Signal für einen intensiven machtpolitischen Konflikt, der jetzt entschieden ist. Bo Xilai ist aus der Partei ausgeschlossen. Der Fall ist machtpolitisch erledigt, er wird jetzt nur noch juristisch nachbehandelt. Aus Ihren Antworten höre ich, dass die hiesigen Erzählungen von chinesischen Reformen oder einer Öffnung des Landes gar nicht so zutreffen. Ja, mit den Realitäten dort hat das wenig zu tun. Auf dem Parteitag kümmert sich niemand um westliche Erwartungen. Wir wählen unsere Bundesregierung auch nach deutschen Maßgaben und nicht nach den Erwartungen von Amerikanern, Chinesen oder den Pinguinen in der Antarktis. Eine Demokratisierung Chinas ist ja sicher nicht ein Interesse des Westens. Was ist mit der starken Mittelschicht? Seltsamerweise schreit sie nicht nach Demokratie. Sondern wir im Westen tun es. Die Mittelschicht braucht keine Demokratie im westlichen Sinne, um politische Mitsprache ausüben zu können. Wenn Sie ein reicher Chinese sind, rufen Sie den Neffen Ihres Großonkels an, der eine entsprechende Position hat, und da machen Sie Politik. Sie pflegen Ihre Netzwerke. Die Chinesen nennen es „Guanxi“. Wir übersetzen das gerne mit „Vitamin B“. Aber Vitamin B ist in China ein Lebensprinzip – und nicht irgendetwas, was nur einige wenige haben. Seite 2: „China braucht die Bevormundung des Westens nicht“ So ganz behaglich kann es aber noch nicht sein: Vor dem Parteitag ließ die KP ganz Peking absperren, Systemkritiker verschwinden und kritische Presseberichte unterbinden. Behaglichkeit ist in keinem Land der Welt eine brauchbare politische Kategorie. Wenn es um Parteitage geht, ist China noch immer ein kommunistisches System. Für die chinesische Führung sollte die Lektion indes lauten, dass die Unterdrückung von Meinungsäußerungen im Inneren nicht unbedingt stabilitätsfördernd ist – und eher das Gegenteil bewirken kann. Doch das müssen die Chinesen selber lernen. Dazu brauchen sie nicht die Bevormundung des Westens. Und was bedeutet dieser Kaderwechsel für die deutsch-chinesischen Beziehungen? Ein paar neue Namen, ein paar neue Gesichter – aber die Substanz der Beziehungen bleibt davon weitgehend unberührt. Xi Jinping hat die Kanzlerin bereits gesehen. Primär ruhen die deutsch-chinesischen Beziehungen auch auf der Wirtschaft. Politisch gibt es Meinungsverschiedenheiten, aber eben auch das Interesse Deutschlands, China für die Euro-Stabilisierung zu gewinnen. [gallery:China und Tibet] Was sollte Deutschland aus Ihrer Sicht jetzt tun? Nix. Was sollen wir denn machen? Den Euro retten? Wenn wir jetzt unsere Hausaufgaben machen, schaffen wir tatsächlich die besten Voraussetzungen für belastbare Beziehungen mit China oder anderen Staaten. Aber wir sollten auch begreifen, wenn wir ein Problem haben, ist daran nicht China Schuld. Was sollte Obama in den nächsten vier Jahren in seiner Asienpolitik tun? Die wichtigste Aufgabe wird sein, ein vernünftiges, belastbares Verhältnis mit China hinzubekommen. Da hat es im amerikanischen Wahlkampf ja ziemlich gerumpelt – China-Bashing stand auf der Tagesordnung. Aber jetzt geht es darum, dass diese beiden extrem wichtigen Mächte für globale Politik im 21. Jahrhundert friedlich und kooperativ miteinander umgehen. Und wer ist aus Sicht Chinas der wichtigere Akteur: Europa oder die USA? Unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten sicherlich die USA. China ist ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Partner für uns. Die Chinesen ihrerseits sind an guten wirtschaftlichen Beziehungen mit beiden Partnern mehr als interessiert. Herr Sandschneider, vielen Dank für das Interview. Das Interview führte Petra Sorge. Fotos: picture alliance (Parteitag, Xi Jinping), DGAP (Sandschneider)
Von wegen Wandel: Wenn sich die Kommunistische Partei Chinas auf dem 18. Parteitag eine neue Führungsriege gibt, ist das kein Zeichen für eine Öffnung des Landes, sagt der Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider
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außenpolitik
2012-11-08T09:48:05+0100
2012-11-08T09:48:05+0100
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Großbritannien - Zwischen Regrexit und Rezession
Was ist das erste Eingeständnis von Problemen? Wenn der oberste Währungshüter ein Paket an Maßnahmen präsentiert, das die Wirtschaft stabilisieren soll. Es wird erwartet, dass Mark Carney, Chef der Bank of England, am 4. August genau das tun wird. Dem Vernehmen nach will er etwa die Leitzinsen senken, um dem Brexit-Schock entgegenzuwirken. Seit 52 Prozent der Briten am 23. Juni bei einem Referendum für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gestimmt haben, herrscht große politische und wirtschaftliche Unsicherheit im Vereinigten Königreich. Die neue Premierministerin Theresa May versucht mit kühlem Kopf das Chaos nach dem Brexit-Votum zu managen. Scharf beobachtet wird sie dabei von Finanz- und Wirtschaftbossen. Denn die ersten Folgen des Brexit-Votums machen sich bereits bemerkbar. Im Frühling war die britische Wirtschaft mit 0,6 Prozent noch knapp gewachsen. Für die kommenden Monate aber wird eine Rezession erwartet. Die britische Industrie darf zwar durchaus hoffen, dass sie aufgrund des schwächeren Pfunds, das am 24. Juni um zehn Prozent seines Wertes gefallen war, die Exporte wird stärken können. Es dürften auch mehr Touristen nach London kommen, da ein Besuch jetzt nicht mehr so exorbitant teuer ist. Doch es ist vor allem die Unsicherheit, die viele Geschäftsbereiche schädigt. Die britische Bank Lloyds Banking Group hat Ende Juli die Entlassung von 3000 Beschäftigten angekündigt und plant 200 Filialen zu schließen. Teilweise ist dies direkt dem Brexit geschuldet. International tätige Banken wie HSBC haben schon vor dem Referendum angekündigt, im Falle eines Austritts tausende Jobs in die bereits existierenden Büros nach Frankfurt, Paris oder Dublin zu verschieben. Bisher warten die meisten Finanzinstitute ab, welchen Status die Londoner City nach dem Brexit bekommt. Für große US-Banken wie Citibank hatte London bisher einen großen Vorteil: Die britische Metropole war das größte Finanzzentrum in Europa in einer englischsprachigen Stadt mit freiem Zugang zur EU. Dieses sogenannte Recht des „Passporting“ aber wird es bald nicht mehr geben. Die Büros in EU-Finanzstädten werden deshalb aufgestockt. Der britische Immobilienmarkt ist ebenfalls schwer unter Druck – bei den bisher in London komplett überteuerten Hauspreisen ist dies insgesamt nicht nur negativ. Briten, die sich irgendwann doch noch ein Haus in ihrer Hauptstadt leisten wollen, dürften sich darüber freuen. Auch private Investoren aus Asien und dem Nahen Osten nützen das „Brexit-Fenster“ derzeit für Investitionen in Hotelprojekte und Privatvillen. Das Pfund ist weniger wert, die Objekte billiger. Institutionelle Investoren dagegen warten ab, wie sich die Post-Brexit-Ära anlässt. Die Industrie der Baumeister und Kreditgeber musste schon in den Monaten vor dem Brexit den Gürtel enger schnallen: Es gab 29 Prozent weniger Hausabschlüsse in London. Die größte landesweite Wohnungs-Agentur Countrywide warnt: „Die Periode der Unsicherheit wird in den kommenden Monaten sicher weitere Transaktionen behindern.“ Selbst die Autoindustrie leidet schon, bevor klar ist, unter welchen Bedingungen künftig exportiert wird. In der ersten Hälfte 2016 sahen die Zahlen noch ausgezeichnet aus. 900.000 produzierte Autos, 13 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum vor einem Jahr. 80 Prozent gingen in den Export, die EU war dabei mit 57 Prozent der größte Abnehmer. Mit diesen Erfolgen ist jetzt nach Meinung der britischen Autoindustrie Schluss: „Wegen der zollfreien Ausfuhr in die EU wurde in den vergangenen Jahren viel investiert“, sagt Mike Hawes von der Gesellschaft der Motor-Hersteller und Händler, der Society of Motor Manifacturers and Traders (SMMT). „Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt, wirtschaftliche Stabilität und hochqualifizierte Arbeitskräfte waren die Grundlage unseres Erfolges – diese Faktoren zu erhalten muss in den kommenden Jahren Priorität haben.“ Das klingt angesichts der bitteren Realität wie der Hilferuf eines Ertrinkenden. Selbst die britischen Auto-Ikonen Mini und Rolls-Royce gehören seit 1994 bereits dem deutschen Hersteller BMW. Ein Teil der Minis wird heute in Oxford zusammengebaut, ein anderer Teil aber in Österreich. BMW hat im Vorfeld des EU-Referendums die Belegschaft ganz eindeutig aufgefordert, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Wenn auch nicht sofort die Zukunft der Fabrik in Oxford selbst auf dem Spiel steht, so sind zumindest weitere Investitionen in Frage – jetzt, wo Britannien für den Brexit gestimmt hat. Bei den Bauern grassiert der „Regrexit“, berichtete der Earl of Sandwich im britischen Oberhaus. „Wie wird die britische Regierung den Ausfall von EU-Subventionen kompensieren?“, fragte John Montagu aus Dorset. „Man fürchtet geringere Direktzahlungen, weil die Sparpolitik weitergeführt werden soll.“ Die britische Landwirtschaft bezog im Jahre 2013 über drei Milliarden Euro aus den Fördertöpfen der EU. Cornwall, die ärmste Region Englands mit den bisher höchsten EU-Subventionen, hat mehrheitlich für den Austritt aus der EU gestimmt. Man will aber jetzt trotzdem das Repräsentationsbüro in Brüssel weiterführen, um in Zukunft um Förderungen für Nicht-EU-Regionen anzusuchen. Die in aller Welt geschätzten britischen Universitäten und Forschungsinstitute sind ebenfalls vom Brexit direkt betroffen. Bisher gibt Großbritannien selbst über sechs Milliarden Pfund für Forschung und Innovation aus, um das Niveau halten zu können. Etwa eine Milliarde an Förderungen erhalten die Bildungsstätten zusätzlich aus EU-Fördertöpfen. Diese Gelder müssen jetzt im britischen Budget gefunden werden. Wird der Zugang von Studierenden aus der EU nach dem Brexit erschwert? Bisher ist diese Frage völlig offen. In einer Umfrage des Karriere-Beraters Hobsons International haben bereits ein Drittel der Befragten aus aller Welt angegeben, sie würden jetzt lieber nicht in Großbritannien studieren. Zu unsicher ist derzeit, ob Europäer Visa brauchen werden. In den Planungsstäben der Colleges herrscht deshalb Panik. Kommen weniger Auslandsstudenten, dann müssen geplante Investitionen zurückgefahren werden. Denn Nichtbriten zahlen doppelt so viele Studiengebühren. Theresa May muss in den kommenden Monaten vor allem eines entwickeln: einen Brexit-Verhaltenskodex. Die britische Regierungschefin will zwar den Artikel 50 erst im kommenden Jahr auslösen und damit den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union einleiten. Sie kann aber nicht bis dahin warten, die Regeln für alle Beteiligten zu definieren. Wie lange zahlt das Vereinigte Königreich noch in den EU-Pensionstopf ein und wer zahlt zukünftig die Pensionen für britische EU-Veteranen? 3000 Briten arbeiteten seit 1973 in EU-Institutionen. Insgesamt rechnet Brüssel mit insgesamt 60 Milliarden Euro Pensionsverpflichtung für alle EU-Pensionisten. Acht Prozent davon sind Briten. Aus der Kakophonie der unterschiedlichen Meinungen der neuen britischen Regierung ist bisher noch kein Leitmotiv herauszuhören, wie die Zukunft ohne EU aussehen soll. „Brexit bleibt Brexit“, sagt Theresa May ganz klar. Doch langsam muss die Frage präziser beantwortet werden, will man die Panik auf den Märkten beruhigen. Brexit-Minister David Davis will einen harten Brexit, Schatzkanzler Philipp Hammond und Außenminister Boris Johnson vertreten eher einen sanften Abgang. Politik-Professor Simon Hix von der London School of Economics gibt Hilfestellung: Das proeuropäische Lager solle sich mit dem Brexit abfinden, meint der Experte für Europäische Politik, gleichzeitig aber eine proeuropäische Brexit-Position besetzen. „Dafür sind nicht nur die 48 Prozent, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben, sondern auch mindestens 15 Prozent der moderaten Brexiteers, die eine enge Anbindung an Europa befürworten.“ Das hieße: Britannien würde im Binnenmarkt bleiben, die Freizügigkeit der EU-Migranten könnte eventuell wenig, aber nicht drastisch, eingeschränkt werden. Damit blieben auch die Rechte der EU-Bürger im Vereinigten Königreich weitgehend gewahrt. Theresa May ist in jeder Hinsicht in der Zwickmühle. Aus der EU, dem natürlichen Habitat der britischen Wirtschaft, muss sie sich dem Willen des Volkes gemäß zurückziehen. Doch die unter ihrem Vorgänger David Cameron von dessen Schatzkanzler George Osborne eingeleitete Hinwendung zu China ist ihr auch nicht recht. Als Innenministerin hat sie sechs Jahre lang gelernt, Sicherheit über alles andere zu stellen. Deshalb hat sie das 21 Milliarden Euro schwere Großprojekt Hinkley Point erst einmal kühl auf Eis gelegt. China sollte die Atomstrom-Fabrik in Somerset zu einem Drittel finanzieren, die französische Stromfirma EDF zu zwei Drittel. Theresa May fürchtet eine mögliche Energieerpressung der Chinesen und will die Risiken erst einmal abwägen. Für die britische Wirtschaft wird die Zukunft dadurch nicht rosiger. Wenn Theresa May weder die gelben EU-Sterne auf blauem Grund noch die gelben Sterne auf dem kommunistischen Rot der chinesischen Flagge für ihr Land gutheißen kann, wohin soll sich Großbritannien dann wenden?
Tessa Szyszkowitz
Die britische Wirtschaft leidet unter dem Brexit-Votum. Mit einer Stabilisierung wird erst nach Jahren zu rechnen sein, wenn der britische Ausstieg aus der EU vollzogen und neue Abkommen geschlossen sein werden
[ "Brexit", "Großbritannien", "Wirtschaft", "Rezession" ]
außenpolitik
2016-08-02T11:19:05+0200
2016-08-02T11:19:05+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/grossbritannien-zwischen-regrexit-und-rezession
Polizist als Gewaltopfer - „Vom Knöchel bis zum Gesäß war alles verbrannt“
Die Sache mit der Kugelbombe, das war im Juni 2010, in Berlin, bei einer Großdemo gegen das Sparpaket der Regierung. Die Demo wurde von der Linken, Gewerkschaften und vielen anderen Gruppen organisiert, die meisten davon friedlich. Es waren zwar auch einige Hundert Leute aus dem sogenannten schwarzen, linksautonomen Block dabei, aber eigentlich wissen wir, wie die sich verhalten, und können uns darauf einstellen. Ich war damals schon 30 Jahre bei der Bereitschaftspolizei, in den Achtzigern wurde mir bei einer Hausbesetzerdemo der Arm ausgekugelt, und seit 1987 war ich bei jedem 1. Mai dabei. Da kriegt man immer ein paar Schnittverletzungen oder Quetschwunden durch Steine oder Schläge ab. Das gehört dazu, man kann ja nicht immer wie ein Ritter rumrennen. Der aggressive schwarze Block damals in Berlin hat mich also nicht besonders nervös gemacht. An der Ecke Torstraße wurde es dann schlimmer, als wir an einem Balkon mit Deutschlandflagge vorbeikamen. Da flogen die ersten Böller, und der Einsatzleiter hat uns an den Aufzug geschickt, um die Autonomen Schulter an Schulter zu begleiten. Ein Lautsprecherwagen hat die Stimmung angeheizt, und plötzlich sah ich, wie weiter vorne mit Fahnenstangen und Holzlatten auf Kollegen eingeprügelt wurde, obwohl wir alle noch keine Helme aufhatten. Also habe ich mich mit meiner Gruppe an den Straßenrand zurückgezogen, um Helme aufzusetzen. Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel, wie irgendetwas Qualmendes geflogen kommt. Das prallte erst von der Schulter einer Kollegin ab und fiel mir dann zwischen die Beine. Ich dachte noch: Schon wieder so eine Rauchbombe – und hab einfach nur die Luft angehalten. Dann gab es einen Schlag, und ich lag zehn Meter weiter hinten auf dem Asphalt. Keine Ahnung, wie ich da hingekommen bin, es hatte mich einfach weggeschleudert. Ich hab mich wieder aufgerappelt und bin davongehumpelt. Die Beine taten etwas weh, aber vor lauter Adrenalin hab ich das kaum gespürt. Erst als ich meine Gruppe wieder gesammelt habe, merkte ich: Das brennt ganz schön an den Beinen. Dann sah ich, dass meine Hose zerfetzt und blutverschmiert war, obwohl unsere Anzüge extrem stabil und schnittfest sind. Ich bin trotzdem erst mal weitergelaufen und hab mich später entschuldigt, um mir kurz ein Pflaster zu holen. Als ich schließlich meine Hose aufgemacht habe, wurde mir übel: Die Wade war sieben Zentimeter weit aufgerissen und ungefähr genauso tief im Fleisch steckten Splitter. Vom Knöchel bis zum Gesäß war alles verbrannt und zer­schnitten. Ich kam ins Krankenhaus und bin auf der Stelle operiert worden. Später erfuhr ich: Unter mir war eine sogenannte Kugelbombe hochgegangen, ein Feuerwerkskörper der höchsten Gefahrenstufe. Dem Auto hinter mir hat es Kotflügel und Motorhaube beschädigt, dahinter stand eine Frau mit Kind, nicht auszudenken, was hätte passieren können. Eine Kugelbombe auf Gesichtshöhe wäre tödlich gewesen. Nach vier Tagen im Krankenhaus wurde ich entlassen, zum Glück nur mit Narben und einem Knalltrauma auf dem rechten Ohr. Mein Sohn war damals fünf Jahre alt. Als ich nach zwei Monaten zum ersten Mal wieder arbeiten gegangen bin, hat er gefragt: „Tun die bösen Männer Papa heute wieder weh?“ Wegen dieser Geschichte hat mein Direktionsleiter mich sofort aus dem Schichtdienst herausgenommen und mir eine Stelle im Innendienst angeboten. Ich habe sie angenommen. Vor genau einem Jahr befasste sich das Magazin Cicero mit Gewaltpartys in deutschen Großstädten. Darin geht Alexander Marguier den Ursachen linksextremer Gewalt in Berlin, Köln und Hamburg nach. Oliver Malchow, Chef der Polizeigewerkschaft, spricht über No-go-Areas in Deutschland. Den Titel „Kein Recht auf Randale?“ können Sie hier bestellen. Das Testabo des Magazins Cicero erhalten Sie hier.
Constantin Magnis
Laut einer neuen BKA-Studie nehmen die Angriffe gegen die Staatsgewalt zu. Mehr als 62.000 Polizisten seien im vergangenen Jahr Opfer einer Straftat geworden. Wie ist das für einen Beamten, Zielscheibe linksextremer Autonomer zu werden? Hauptkommissar Olaf H., 51, aus Berlin hat es bei einer Großdemo erlebt. Ein Protokoll
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innenpolitik
2015-03-19T11:56:22+0100
2015-03-19T11:56:22+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/blockupy-autonome-polizist-als-gewaltopfer-vom-knoechel-bis-zum-gesaess-war-alles-verbrannt/59008
schreiben: Wörtersee – Der Ableser
Verwundert schlich ich in den Flur, den Kopf gesenkt, die Augen nur blinzelnd, so blieb ich stehen und lauschte. Als ich mich umwendete, um in mein Bett zurückzukehren, hörte ich eine Stimme. «Ihr Ableser ist da!» Mein Ableser! Wieso? Sofort empfand ich die Bedrohung. Beinah gleichzeitig el mir eine der großartigen Erzählungen Donald Barthelmes ein, wo Gott in einem Overall erscheint und in den Keller steigt, um am Zähler unter der Treppe den für die Gegend aktuellen Stand der Gnade abzulesen. Am Zähler! Es ging um die Ablesung des Zählers, nicht des bisher von mir Geschriebenen oder meines bloßen, versteckten Daseins hinter der Tür. Ich dachte an das gütige Gesicht Marianne Frischs, der Übersetzerin Barthelmes, und beides, Gott im Overall und das freundliche Gesicht Marianne Frischs, beruhigte mich. Mein Ableser trug keinen Overall, aber er hielt ein Klemmbrett mit einer Liste vor der Brust. Während er mir eine Art Ausweis entgegenhielt, murmelte er etwas von «Zutritt gewährleisten» und dann das Wort «Niederspannungsanschlussverordnung»; ich glaube, es ist eines der längsten Worte, die ich je in mein Notizbuch schrieb. Mein Ableser war ein sehr großer alter Mann. Im Flur wollte er sich die Schuhe ausziehen, seltsame, riesige Lederbodden ohne Senkel; ich hinderte ihn daran, und gemeinsam stiegen wir in den Keller. Schon halbwegs erleichtert rief ich «Bitte nicht stoßen!», im Rücken hörte ich sein «Ja, ja». Ich öffnete den graumetallenen Schaltkasten, er beugte sich vor, seine Stirn berührte beinah den leise summenden Zähler, und eine Weile geschah nichts. Als der Kopf meines Ablesers aus dem grauen Metallkasten wieder auftauchte, schaute er mich an, mit einem Ausdruck von Sorge und Verlegenheit, wie mir schien. Der Stand der Gnade, dachte ich, und erneut kam mir vor Augen, wie schwer die letzten Wochen für mich gewesen waren. «Ich habe alles im Auto vergessen, Brille und Taschenlampe, ich kann nichts erkennen, ich muss zum Auto zurück», murmelte mein Ableser, er klang resigniert. «Könnte ich das nicht für Sie ablesen?» «Nein, besser ich gehe und bin gleich wieder hier.» Er kommt nicht wieder, vielleicht nie wieder, schoss es mir durch den Kopf, und ich beharrte: «Aber bitte, das ist doch gar kein Problem, meine Augen sind gut genug dafür.» Der Ableser schaute mich an, als müsse er nachdenken, und blätterte dann in den Seiten auf seinem Klemmbrett. Wer anders als er selbst hätte einen Mangel an Gnade beheben können? Rasch warf ich einen Blick auf meinen Zähler, das fein geriffelte Rädchen über der Zahl. Einer Eingebung folgend zog ich eine Weinflasche aus dem Kellerregal und hielt sie ihm hin. «Der Ableser ist nicht berechtigt, Bargeld, Schecks oder Geschenke entgegenzunehmen.» «Nur als kleine Anerkennung und zum Dank!», rief ich schnell. Er begutachtete nicht einmal das Etikett. Noch einmal trat mein Ableser sehr nah an den Zähler und dann sehr nah an mich heran; das genügte, und ich begriff. Ich begleitete ihn nach oben zur Tür. Dann ging ich an meinen Schreibtisch und notierte mir die Erscheinung des Ablesers und alle mit ihm verbundenen Worte. Ein sanftes Strömen von Gnade setzte ein.
Erscheint Gott im Overall? Befindet sich der Autor im Stande der Gnade? Wie? Es geht um die Überprüfung der Einhaltung der Niederspannungsanschlussverordnung?
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kultur
2011-06-16T14:23:15+0200
2011-06-16T14:23:15+0200
https://www.cicero.de//kultur/der-ableser/47394
Vor der Wahl – Steht Griechenland vor Weimarer Verhältnissen?
Wenn die Griechen am Sonntag zu den Urnen kommen, finden sie dort nicht weniger als 32 Stimmzettel vor. Vielen wird die Wahl nicht leicht fallen. Was als Schuldenkrise begann, hat sich als Krise des politischen Systems entpuppt. Die Parteienlandschaft ist heillos zersplittert, extremistische Gruppen bekommen Auftrieb. Auch auf EU-Ebene blickt man mit Sorge auf den Ausgang der Wahl. Denn nicht jede mögliche Koalition wird den europäischen Reform- und Entschuldungsprozess mittragen. Wie wird die Wahl ablaufen? Früher war das Wählen in Griechenland ziemlich einfach: Blau oder Grün lautete die Alternative. Das sind die Parteifarben der konservativen Nea Dimokratia (ND) und der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Pasok). Seit fast vier Jahrzehnten wechselten sie sich an der Macht ab. Und dann gab es da noch eine dritte Fraktion, die stalinistische Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), die meist zwischen fünf und zehn Prozent Stimmenanteil pendelte. Sie will aber eigentlich nicht regieren, sondern wartet auf die Revolution. [gallery:Griechenland: Jahre des Leidens] Das griechische Wahlrecht ist darauf angelegt, für klare Mehrheitsverhältnisse zu sorgen: Die stärkste Partei erhält einen Bonus von 50 Mandaten im 300 Sitze umfassenden Parlament. Damit gibt es auch für diese Wahl einen zusätzlichen Stabilisator. Trotzdem wird die Rechnung diesmal nicht aufgehen. Die beiden Traditionsparteien trifft die Wut der Wähler mit voller Wucht. 2004 konnten sie 86 Prozent der Wähler an sich binden, 2009 immerhin noch 80 Prozent. In den letzten Umfragen ist ihre Anhängerschaft auf 35 Prozent zusammengeschmolzen. Die konservative ND liegt mit 21 Prozent in den Umfragen vorn. Für eine absolute Mehrheit braucht ND-Chef Antonis Samaras aber mindestens 37 Prozent. Die Pasok ist von 44 Prozent bei der letzten Wahl in den Umfragen auf magere 14 Prozent geschrumpft. Allenfalls gemeinsam hätten die traditionellen Rivalen eine regierungsfähige Mehrheit. Wieso sind die Verhältnisse vor dieser Wahl so unklar? Die Griechen sind frustriert. 44 Prozent erklären den Meinungsforschern, dass sie mit ihrer Stimmabgabe am Sonntag vor allem „protestieren und bestrafen“ wollen. Der strikte Sparkurs der vergangenen zwei Jahre hat die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordniveau steigen lassen. Die Einkommen gingen um ein Viertel zurück. Von der Krise profitieren radikale Parteien wie die neofaschistische Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) oder die ultra-nationalistische Gruppe Unabhängige Griechen, die Griechenlands Finanzprobleme mit deutschen Reparationen für die Nazi-Besatzung im Zweiten Weltkrieg lösen will. Am linken Rand des politischen Spektrums tummeln sich neben der KKE noch ein halbes Dutzend kommunistische Splitterparteien. Seite 2: Wie stehen die Parteien zum von der EU auferlegten Spar- und Reformkurs? Wie stehen die Parteien zum von der EU aufgelegten Spar- und Reformkurs? Von den 32 Parteien, die zur Wahl antreten, stehen nur drei hinter dem Spar- und Reformkurs: die sozialistische Pasok, mit Einschränkungen die konservative ND sowie die Demokratische Allianz der früheren Außenministerin Dora Bakogianni, die jedoch um den Einzug ins nächste Parlament zittert. Die anderen 29 Parteien wollen das Sparprogramm abbrechen, manche propagieren sogar den Austritt Griechenlands aus der EU und die Rückkehr zur Drachme. Das macht Lucas Papademos Sorge, dem scheidenden Übergangspremier. Er regierte das Land in den vergangenen fünf Monaten. Gestützt auf ND und Pasok sicherte er Griechenland das neue Rettungspaket und schloss den Schuldenschnitt ab. Jetzt sieht er das Erreichte in Gefahr. Es gehe bei der Wahl am Sonntag um viel mehr als die nächste Regierung, warnt Papademos: „Entschieden wird über die strategische Orientierung des Landes, über seinen Weg in den folgenden Jahrzehnten.“ Papademos hofft, dass die Griechen bei ihrer Wahlentscheidung „auf das Morgen und nicht auf das Gestern blicken werden“. [gallery:Griechenland unter: Karikaturen aus zwei Jahren Eurokrise] Zehn statt bisher fünf Parteien im Parlament, darunter Neonazis, Ultra-Nationalisten und anarchistisch angehauchte Linksextremisten: Der Pasok-Chef Evangelos Venizelos befürchtet bereits „Weimarer Verhältnisse“ und warnt die Wähler vor Illusionen – zum Beispiel vor dem „Missverständnis, dass wir die Bedingungen des Hilfspakets einfach zurückweisen können, ohne dass dies Konsequenzen hätte“ oder „dass wir in der Eurozone bleiben können, egal was passiert“. Venizelos spricht damit das Dilemma aus, vor dem jetzt viele Griechen stehen: Acht von zehn lehnen den Sparkurs ab. Aber ebenso viele wollen am Euro festhalten. Vor allem diese Kalamität macht die Wahl für viele zur Qual. Wie wird die Wahl auf EU-Ebene betrachtet? Mit Sorge. „Die Zukunft Griechenlands in der EU hängt davon ab, ob es die reformtreuen Parteien schaffen, eine Koalition zu bilden“, sagt Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). „Sollte dies nicht gelingen, dann sehe ich große Probleme auf uns zukommen.“ Er glaube nicht, sagt der Wirtschaftsforscher, dass die EU Änderungen am Reformprogramm tolerieren würde. „Im Fall einer Kursänderung der neuen griechischen Regierung würden wohl die Hilfszahlungen gestrichen.“ Auch Alexander Kritikos, Griechenland-Experte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), ist sich sicher: „Die EU wird sich nicht erpressen lassen, die Linie wird nach der Wahl genauso hart bleiben.“ Beide Experten sehen keine Alternative zum strikten Reformkurs, auch wenn die Krise zu extremen Reaktionen in Griechenland führt. Kritikos allerdings sieht auch Fehler auf EU-Ebene: „Dass bisher kein Investitionsprogramm für Griechenland aufgesetzt wurde, ist ein großes Defizit. Derzeit kommt es zu Kreditklemmen und auch gut aufgestellten Unternehmen brechen die Märkte weg.“ Wenn die griechische Wirtschaft überlebensfähig werden solle, müsse das umgehend geändert werden.
Alle Welt schaut auf die Wahlentscheidung in Frankreich. Doch in Griechenland steht am Sonntag für die EU vielleicht noch mehr auf dem Spiel. Um was geht es?
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außenpolitik
2012-05-05T08:53:58+0200
2012-05-05T08:53:58+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/steht-griechenland-vor-weimarer-verhaeltnissen/49197
Libyen – „die Ratten verlassen das sinkende Schiff“
Wie schätzen Sie die derzeitige Lage in Libyen ein? Es sieht so aus, als ob in Teilen Libyens im Moment Anarchie herrscht. Offenbar scheint Gaddafi aber noch in der Lage zu sein, sich im Fernsehen an die Nation zu wenden. In seiner Ansprache wirkte er allerdings komplett verstört und konzeptlos. Er versuchte sogar die Bombardierungen seiner Bevölkerung zu rechtfertigen. Damit dürfte er die Libyer weiter gegen sich aufbringen. Es ist zu vermuten, dass sich noch mehr Eliten von ihm absetzen werden. Wie sind ihre Prognosen für die Aufstände in Libyen? Das Regime wird sich vermutlich nicht halten können. Wie lange Muammar al-Gaddafi seinen Sturz noch hinauszögern kann, lässt sich nur schwer einschätzen. Im Wesentlichen hängt das von Gaddafis Ressourcen ab, Streitkräfte und Waffen zu mobilisieren, um die Aufstände niederzuschlagen. Dass er bereit ist, massivste Gewalt zum Machterhalt einzusetzen, hat er schon mehrfach bewiesen. Demonstranten werden angeblich auch aus der Luft bombardiert. Können Sie das bestätigen? Eindeutig lässt es sich nicht belegen. Die Informationslage ist sehr eingeschränkt. Es ist aber sehr gut möglich. Kann Gaddafi den Umsturz noch verhindern? Das ist unwahrscheinlich. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens haben sich wichtige Akteure vom Regime abgewandt, so zum Beispiel der Justizminister; ebenso haben sich einflussreiche Stämme und Mitglieder der Streitkräfte desolidarisiert. Auch ein bedeutender revolutionärer Weggefährte, Abu Bakr Junis, hat offenbar mit Gaddafi gebrochen. Er führte die Streitkräfte. Libysche Uno-Vertreter haben Gaddafi sogar zum Rücktritt aufgefordert und die internationale Gemeinschaft gedrängt, eine Flugsperre für Libyen zu verhängen. So soll verhindert werden, dass Söldnern beziehungsweise Waffen und Vorräten für die Streitkräfte ins Land gelangen. Im Volksmund würde man sagen: „die Ratten verlassen das sinkende Schiff“. Zweitens gibt es auch für die Bevölkerung keinen Weg zurück mehr. Trotz aller Gewalt hat sie sich derartigen Risiken ausgesetzt, um gegen das Regime zu protestieren: Es ist kaum vorstellbar, dass sich diese Menschen noch einmal so unterdrücken lassen, wie in den vergangenen vier Jahrzehnten. Welche Rolle spielt der enorm junge Altersdurchschnitt der Libyer bei den Protesten? Ähnlich wie seine nordafrikanischen Nachbarn bietet auch Libyen seiner Jugend keine soziale oder ökonomische Perspektive. Hinzu kommt, dass Libyen ein sehr wohlhabendes Land ist, von dessen Reichtum aber nur eine Minderheit profitiert. Hat sich Gaddafi die Loyalität seiner Eliten erkauft? Er hat sich nicht nur Eliten erkauft, sondern vor allem auch die Unterstützung der Stämme. Sie nehmen in der libyschen Politik eine besondere Stellung ein, Stammesloyalitäten sind enger als die Bindung zu staatlichen Institutionen. Wie viele andere Beobachter vertrat ich deswegen anfangs auch die Auffassung, Gaddafi könnte es gelingen, sich die Loyalität der einflussreichsten Stämme weiterhin zu sichern. Lesen Sie im zweiten Teil, mit welchen Mechanismen Gaddafi seine Herrschaft ausübt, wer ihn stützt und wie seine Fluchtpläne aussehen könnten. Welche Stämme stehen hinter Gaddafi? Das ist vor allem der Stamm dem Gaddafi entspringt, die Gadhatfa. Als relativ unbedeutender Stamm hat er die anderen Stämme Jahrzehnte lang dominiert und von der Vetternwirtschaft mit der Herrscherfamilie ökonomisch profitiert. Dieser Stamm hat ein Interesse, dass Gaddafi an der Macht bleibt. Mit seinem Sturz würden die Stammesmitglieder nicht nur ihren Einfluss verlieren sondern könnten auch mit Vergeltungsschlägen rechnen. Einige Stämme hat Gaddafi bewusst ausgegrenzt, so etwa die einflussreichsten Stämme Ost-Libyens. Sie haben den König unterstützt, der ebenfalls aus dem Osten des Landes stammte. In den neunziger Jahren neigten sich insbesondere diese Stämme dem Islamismus zu. Aufstände in der Region hat Gaddafi erbarmungslos niedergeschlagen, Kollektivstrafen verhängt und Subventionen gestrichen, sodass der Landesteil massiv vernachlässigt wurde. Im Einflussbereich dieser Stämme befindet sich auch die von Demonstranten besetzte Stadt Benghasi. Wie sehen Sie die Rolle von Gaddafis Sohn Seif el Islam? Sind seine Reformversprechen ernst zu nehmen? Seif el Islam ist in den vergangen Monaten politisch komplett marginalisiert worden und musste sich aus der Politik zurückziehen. Dass er mit seinem Fernsehauftritt die Proteste eindämmen sollte, zeigt, wie das Regime versucht, seine verbliebenen Möglichkeiten zu nutzen. Er war der einzige innerhalb der Herrscherfamilie, der noch eine gewisse Glaubwürdigkeit genoss, Reformen umsetzen zu wollen. Mit seiner Rede vom Sonntag ist der letzte Glaube an seinen Reformwillen jedoch erloschen. Er hat der Bevölkerung mit Bürgerkrieg gedroht und die islamistische Gefahr heraufbeschworen. Wird Gaddafi demnächst flüchten? Viele Möglichkeiten bleiben ihm nicht. Über das Mittelmeer wird Gaddafi nicht unbemerkt gelangen. Tunesien und Ägypten werden ihn unter keinen Umständen aufnehmen. Nach Saudi Arabien kann er auch nicht flüchten: Angeblich war Gaddafi in ein Mordkomplott gegen den saudischen König verwickelt. Ob das stimmt, ist ungeklärt, der Skandal hat die Beziehung zum saudischen Königshaus aber tiefgreifend geschädigt. Er könnte sich über das Tschad ins südlichere Afrika absetzen. Er selbst sagte in seiner neusten Rede, er werde als Märtyrer sterben. Offiziell bekleidet Gaddafi kein politisches Amt. Er ist weder Präsident, noch gehört er zur Regierung. Das Land ist rein formell basisdemokratisch strukturiert, hat aber keine Verfassung. Gaddafi ist selbsternannter Revolutionsführer. Wie konnte er dennoch über Libyen herrschen? Er kommandiert den sogenannten revolutionären Sektor, den er parallel zu den übrigen politischen Strukturen errichtet hat. Formell ist dieser nirgends verankert. Seine Mitglieder sind in Revolutions-Komitees gegliedert und wirken als politische Polizei, die vor kurzem anscheinend wieder aufgerüstet wurde. Diese Gruppen sind gleichzeitig Stützen und Nutznießer des Gaddafi-Regimes, vergleichbar mit den Geheimdiensten ehemals kommunistischer Staaten in Osteuropa. Aber auch unter ihnen gibt es jetzt offensichtlich Abtrünnige, wahrscheinlich Mitglieder anderer Stämme. Im Osten des Landes sind die Revolutions-Komitees mittlerweile offenbar nicht mehr tätig. Einer von Gaddafis Herrschaftsmechanismen war es außerdem, unterschiedliche Parteien zu unterstützen, selbst wenn er dadurch widersprüchliche Positionen bezog. Sein Herrschaftsmittel war die institutionalisierte Unsicherheit. Er ließ bewusst im Unklaren, was dem Einzelnen erlaubt ist und welche Kompetenzen er besitzt. Über diese Unsicherheit war es Gaddafi möglich, seine Untertanen zu kontrollieren. Eine weitere Bedingung für Gaddafis Herrschaft war die Unterstützung durch die Stämme. Diese ist nun gebrochen und Gaddafi damit vermutlich in absehbarer Zeit gestürzt. Frau Werenfels, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Peter Knobloch
Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi will seine Macht offenbar um jeden Preis sichern und, wie er im Staatsfernsehen verkündet, notfalls als „Märtyrer“ sterben. Gegen Demonstranten geht er mit aller Härte vor.Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels spricht über ein mögliches Ende des Regimes, die Rolle von Stammesstrukturen, und Gaddafis Herrschaftsmechanismen.
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außenpolitik
2011-02-22T00:00:00+0100
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