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Generation Y - Selbstbezogene Kapitulation vor der bösen Welt
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Ach. Sinnentleertes Trübsal. Ist es die scheidende Sommerwärme? Am frühen Morgen liegt der Tau schon nasskalt auf den Wiesen, der Atem der Pferde wird langsam sichtbar, wenn sie ihre Nasen aus dem taunassen Gras erheben. Abends, wenn die Hühner wie gewohnt vor das Küchenfenster staksen, um sich ihre Insekten zu fangen, wird es schneller kalt, immer früher huschen sie in den rettenden Stall und ruckeln sich Po an Po auf ihrer Stange zurecht. Die Nachrichten sind nicht weniger trist. Wie immer in der Sommerpause sind Auslandsthemen präsent in der Tagesschau. Keine sedierend-demokratische Bundestagsdebatte verscheucht die Grausamkeiten aus der allabendlichen 20-Uhr-Hölle: Tote Kinder in Gaza, hungernde Jesiden im Irak, Rassismus in Amerika, Ohnmacht in der Ostukraine, Aufbruchstimmung nur in Japan: Da ziehen die ersten Bewohner wieder in den Gürtel um die zerkrachten Atommeiler von Fukushima – und bauen dort Reis an. Was bleibt, ist Unglaube und Beklemmung und der Wunsch, gar nicht so viel wissen zu wollen von der Welt da draußen. Sich konzentrieren auf das Jetzt vor der Haustür: Wann wird die letzte Wiese gemäht? Hält das Wetter, um die Heuernte einzufahren? Wann kommt der Herbst mit Wind und Regen? Die Fragen, die mich zur Zeit am meisten interessieren, sind nicht weltbewegend, sicher nicht kolumnentauglich. Lockere Themen, die sich dafür anböten, kommen so belanglos daher: Die Ice-Bucket-Challenge? Da kann man sich drüber aufregen. Man kann es aber auch sehr gut sein lassen. Andere Dinge, zu denen es meiner Meinung bedarf? Cem Özdemir, Grünen-Chef, der neben einer Hanfpflanze posiert? Das geringelte T-Shirt mit Sheriffstern einer Modemarke, das einem Judenstern ähnelt? Eine neue Vorrichtung mit der man im Flugzeug den Vordermann daran hindert, seine Rückenlehne zu verschieben? Ach was. Warum? Jahrgangstechnisch bin ich seit ein paar Jahren raus aus dieser Generation Y (- Y steht für „Why“/Warum). Lese ich aber die Analysen, die Soziologen und andere kluge Menschen in den vergangen Monaten kübelweise über diese Generation verbreiteten, fühle ich mich gut getroffen. Aufgewachsen mit dem digitalen und bilderreichen Erleben zahlreicher Krisen (9/11, Klima, Banken, Terror, Atomkraft, Lebensmittel, etc. pp.), seien die heute 15-30-Jährigen abgestumpft, schauten vor allem auf sich selbst, auf ihre Körper und Seelen. Für sie gäbe es nichts Wichtigeres als das eigene Wohl und die Verbindung zu Eltern und Freunden. Nach dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit, dem Soziologen Klaus Dörr und Kerstin Bund, Autorin der Generationenuntersuchung „Glück schlägt Geld“ aus diesem Frühjahr, haben jetzt Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht mit „Die heimlichen Revolutionäre“ ein Buch darüber vorgelegt, wie die Generation Y unsere Welt verändert. Maßgeblicher gemeinsamer Nenner sei demnach die Verbindung von Eigeninteresse und gesellschaftlichem Nutzen. So gesehen ist doch die Ice-Bucket-Challenge ein Prototyp dieser Herangehensweise: Sich selbst vermarkten während man Gutes tut. Verwöhnt nennt man diese Generation, weil sie so viele Optionen hat. Sicherheitsverliebt, weil sie nach dem einzigen trachtet, was – ihrer Erfahrung nach – je gehalten hat: Die Liebe und Zuneigung zu anderen Menschen. Wenn etwas in ihren Augen relativ stabil ist, dann sind es Freundschaften, Netzwerke, Emotionen. Dinge, die wir nicht selber im Griff haben. Denn um ein Missverständnis zu vermeiden: Dazu gehört natürlich nicht die Ehe. Auch sie ist ein Konstrukt, ähnlich wie der jederzeit kündbare Arbeitsvertrag, brüchige Nordatlantikbündnisse, ein wackeliger Waffenstillstand zwischen Gaza und Israel, die Vereinbarung unter „befreundeten Staaten“, sich nicht zu belauschen oder die lachhafte Versicherung von transatlantischen Unternehmen, die Rechte ihrer Kunden zu achten. Bürokratie, Parteien, Vereine - all das ist null und nichtig in den Augen der Generation Y. Und diese Erfahrungen kühlen das Gemüt im Angesicht der Katastrophen. Während die Alten panisch die Hand vor den Mund schlagen, sagt diese Generation: Chillt mal. Sie ist ständig dabei, zu beschwichtigen: Die eigenen Eltern – und sich selbst. Der Arbeitgeber geht Pleite? Sehen wir eine Chance darin. Der Job stresst? Dann kündige ich. Die Rente ist nicht gesichert? Zeig mir einen, dessen Rente noch sicher ist. Worüber sich aufregen. Es hilft ja doch nichts. Was zählt, sind sie selbst. Versicherungen geben keine Sicherheit. Einzig Authentizität schafft Vertrauen. Und die Generation Y ist gut darin, Falschheit zu erkennen. Sie ist misstrauisch, stellt infrage, erschüttert bestehende Systeme. So revolutioniere sie auf ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens – so en passant – Arbeit, Familie, Technik, Freizeit und Politik, schreiben Hurrelmann und Albrecht in ihrem Buch. Einig sind die Generationsanalytiker darüber, dass hier etwas Positives im Gange ist. Dass es in die richtige Richtung geht. Aber ob das stimmt? Ob es nicht einfach nur ums möglichst Traumata-arme Überleben geht? Was, wenn die ganzen Crowdfundings, Ice-Bucket-Challenges und Selbstverwirklichungen in städtischen Guerillapflanzaktionen rein gar nichts bringen? Nicht für die Armen und Geschundenen dieser Welt, nicht für unseren Nächsten. Höchstens für unsere eigenen Seelen? Und ist diese selbstbezogene Kapitulation vor der Schlechtigkeit der Welt dann nicht doch gefährlich und verantwortungslos? Na, ich geh jetzt erst mal raus und füttere die Gänse.
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Marie Amrhein
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Kolumne Stadt, Land, Flucht: Neueste Studien trachten danach, das Image der Generation Y zu retten. Die sei keineswegs faul und selbstbezogen, sondern revolutioniere die Gesellschaft auf vielen Ebenen, heißt es da. Aber ob das stimmt?
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innenpolitik
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2014-08-31T08:28:41+0200
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2014-08-31T08:28:41+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/generation-y-chillt-mal/58153
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Experte Dirk Müller – „Der Rettungsschirm grenzt an Veruntreuung von Steuergeldern“
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Herr Müller, am Donnerstag entscheidet der Bundestag
über die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms. Der mit Garantien von
über 780 Milliarden Euro ausgestattete EFSF-Rettungsfonds soll über
440 Milliarden Euro an finanzschwache Staaten vergeben können. In
der CDU/CSU-Fraktion gibt es Widerstand. Was ist Ihre Meinung als
Experte? Hier wird versucht, ein Problem
wegzuinflationieren. Die Situation, in der wir uns befinden, ist
extrem gefährlich und wie es scheint, bekommen wir sie momentan
nicht in den Griff – wir stehen wirklich am Abgrund. Die Ausweitung
des Rettungsschirms ist ein verzweifelter Versuch, etwas
aufrechtzuerhalten, das auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist. Die
Währungsunion hat, so wie sie jetzt ist, keine Zukunft. Was ist von dem Vorschlag zu halten, dem Rettungsfonds
eine Banklizenz zu geben, so dass er sich Geld direkt bei der
Europäischen Zentralbank (EZB) leihen kann? Das ist
eine Farce, ein Witz der Wirtschaftsgeschichte. Woher bezieht die
EZB denn dieses Geld? Sie druckt es aus dem Nichts heraus, und zwar
beliebig und so oft sie will. Das heißt doch im Grunde nichts
anderes, als dass die Politik keinen besseren Weg findet, als die
Schulden und damit die Probleme der Staaten per Druckerpresse zu
beseitigen. Das hat sie in den letzten Jahrhunderten viele Male
gemacht. Doch damit werden die Bürger enteignet, eine solche
Politik hat eine große Inflation zur Folge. Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem?
Wir haben ein weltweites Verschuldungsproblem und zusätzlich ein
hausgemachtes Europroblem, das aber nicht nur die Griechen
betrifft, sondern alle Staaten des Euroraums gleichermaßen. Der
Euro passt einfach nicht auf diese vielen verschiedenen Staaten.
Jeder Staat ist komplett eigenständig, mit eigenen wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen. Es ist irrsinnig zu glauben, man könne eine
Währung über all dies einfach drüberlegen. Die unterschiedlichen
Währungen sind schließlich ein Puffer zwischen den Staaten. Vor
einigen Wochen konnten wir beobachten, dass der Schweizer Franken
aufgrund von Verschiebungen am Kapitalmarkt etwas stärker geworden
ist. Sofort kamen die Käufer über die Grenze nach Deutschland und
plünderten in Konstanz die Läden. Es zeigt sich: eine kleine
Verschiebung bei den Wechselkursen sorgt für eine große
Verschiebung bei den Warenströmen. Die Griechen haben mit dem Euro
eine Währung, die für sie eindeutig zu schwer ist – wie für die
Schweiz der Franken plötzlich zu schwer war. Hätte das Einführen einer politischen Union diese
Probleme abwenden können, oder war der Euro von Anfang an ein
Denkfehler? Absolut. Man hätte eine Fiskalunion
schaffen müssen – so etwas wie die vereinigten Staaten von Europa.
Wir bräuchten einen gemeinsamen Staat, in dem wir Zentralsteuern
erheben und die Verwaltung einheitlich gestalten. Dann lässt es
sich (vielleicht) mit einer gemeinsamen Währung leben. Aber wir sind ja hier nicht in den USA. Die einzelnen
europäischen Staaten sind so unterschiedlich aufgebaut, kann eine
politisch flankierte Währungsunion in Europa überhaupt
funktionieren? Genau aus diesem Grund haben wir ja
keine Fiskalunion. Man ist davon ausgegangen, dass sich mit dem
Einführen der Währungsunion die Staaten schnell einander annähern
und dadurch eine politische Union entsteht, bevor uns die Probleme
einholen. Helmut Kohl, der Vater des Euro, hat 1991 in einer Rede
vor dem deutschen Bundestag wortwörtlich gesagt: „Es ist ein
Irrglaube anzunehmen, dass eine Währungsunion ohne politische Union
langfristig wird funktionieren können.“ Und er wusste es. Viele
wussten, dass es schief gehen würde. Und jetzt, zehn Jahre später,
stehen wir von einem Scherbenhaufen. Wir haben nun vier
Möglichkeiten: Entweder wir schaffen die Währungsunion wieder ab
bzw. fahren sie auf ein vernünftiges Maß zurück. Das würde
beispielsweise einen Kern-Euro mit halbwegs gleichstarken Staaten
wie Deutschland, Frankreich und der Niederlande einschließen. Die
zweite Möglichkeit ist, den Euro komplett aufzulösen. Oder wir
schaffen eine Verschuldungsunion, das heißt, wir sind in den
nächsten Monaten und Jahren bereit, Transfersummen in
Milliardenhöhe unter den Staaten hin- und herzuschieben. Am
wünschenswertesten wäre sicherlich für viele Variante vier, die
Schaffung einer echten politischen Einheit; das ist aber bei der
aktuellen politischen Situation eher unwahrscheinlich. Lesen Sie auf der nächsten Seite über die Idee eines
Kern-Euros und die Taschenspielertricks der USA in der
Eurokrise. Was würde die Rückkehr zur D-Mark oder das Umschwenken
auf einen, wie Sie ihn nennen, Kern-Euro für uns
bedeuten? Die Griechen haben mit dem für sie zu hohen
Euro kein Geschäftsmodell. Sie konnten ihre Wirtschaft über die
letzten Jahre nur über immer höhere Kredite am Leben erhalten, bis
es nicht mehr ging. Bei uns ist genau das Gegenteil passiert: Der
Euro war schwächer als die D-Mark, was uns direkte
Wettbewerbsvorteile brachte. Es gab einen Konjunkturschub, von dem
aber nur die großen Unternehmen zehren konnten, der Bürger hingegen
nicht. Denn obwohl wir Überschüsse im Export hatten, ist
gleichzeitig die Kaufkraft beim Bürger gesunken. Er wurde mit zu
schwacher Währung für seine Leistung bezahlt. Wenn jetzt
Deutschland zur D-Mark oder von mir aus einem Kern- bzw.
„Nord-Euro“ umschwenken würde, wären wir ebenso wettbewerbsfähig.
Wir verkaufen hier ja keine Bananen, die sich am Preis orientieren,
sondern Hochtechnologie. Dann halten Sie also Frau Merkels Angst um den Export,
sollten wir zur DM zurückkehren, für Unfug? Ja. Zu
DM-Zeiten haben wir doch auch exportiert, oder nicht? Es ist Unfug
zu behaupten, eine starke Währung wäre für uns katastrophal. Im
Gegenteil. Für die Bürger wäre es von Vorteil, weil sie mehr
konsumieren könnten und die Kaufkraft ansteigen würde. Wir wären
nicht mehr nur vom Export abhängig, wie wir es jetzt sind, sondern
hätten auch eine stärkere Binnennachfrage, was wesentlich
sinnvoller wäre. Wenn diese Entwicklungen vorhersehbar war, wie Sie
sagen, warum ist Europa dann auf eine solche Finanzkatastrophe
nicht besser vorbereitet? Es gibt Leute, die sehr gut
darauf vorbereitet sind. Nach meiner Einschätzung, Recherche und
Information haben die Amerikaner diese Entwicklung seit etlichen
Jahren vorhergesehen. Und wenn ich unterstelle, dass sie es haben
kommen sehen, ja sogar mitorganisierten und mitgestalteten, um
jetzt alles zu tun, um in der Zeit danach wieder die Pole Position
zu besetzen, wenn ich das voraussetze, dann sind alle Aktionen, die
von den USA in den letzten drei Jahre ausgingen, sinnvoll,
nachvollziehbar und erfolgreich. Ist es nicht vermessen, hier von politischem Kalkül zu
sprechen? Bedenkt man die Aufregung um die Anhebung der
amerikanischen Schuldengrenze vor ein paar Wochen, wirkte das doch
alles höchst dramatisch. Das sind
Taschenspielertricks, nicht mehr. Apropos politisches Kalkül: Kommen wir zum Thema
Schuldenschnitt. Seit fast anderthalb Jahren wird Griechenland
durch Finanzhilfen der andern Euro-Länder gestützt, ohne sichtbaren
Erfolg. Die deutschen Wirtschaftsweisen fordern jetzt gemeinsam mit
französischen Regierungsberatern einen radikalen Schritt: Die
Hälfte der Schulden solle Griechenland erlassen werden. Ist das der
richtige Weg? Der Schuldenschnitt kommt so sicher wie
das Amen in der Kirche. Der gesamte Markt rechnet damit. Ich finde
es deshalb unverantwortlich, dass wir den Griechen jetzt noch
Steuergelder hinterherschmeißen. Das ist Veruntreuung von
Steuergeldern. Die Politiker in Deutschland verstehen doch zum Teil
gar nicht, was da passiert – die Amerikaner hingegen sehr wohl. Was
wir momentan erleben, ist ein konzentrierter Angriff gegen Europa
und den Euro. Die wirtschaftlichen Probleme in den USA sind weit
dramatischer als in Europa. Trotzdem schafft es Amerika, die Wall
Street, die Ratingagenturen die Brandfackel nach Europa zu
schleudern. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Deutschland Angst um
seine Topbonität haben muss. Macht man es sich damit nicht ein bisschen einfach,
hinter den USA den Wolf im Schafspelz sehen zu wollen, anstatt sich
an der eigenen Nase zu fassen? Zweifellos hat Europa
massive Probleme, die zum Teil selbstverschuldet sind. Nur müssen
wir diese auch in Relation setzen. Die Lage in Amerika ist
katastrophal und auch die Probleme der Briten oder der Japaner sind
mindestens genauso groß, wenn nicht noch größer als unsere. Aber
das wird komplett ignoriert. Und hier stellt sich die Frage, woher
das politische Interesse kommt. David Beers von Standard&Poor's ließ diese Woche
verlauten, dass die Ausweitung des Euro-Rettungsfonds die
Kreditwürdigkeit Deutschlands massive bedrohe. Ist das ernst zu
nehmen? Die Ratingagenturen werden Deutschland
herabstufen, ganz sicher. Aber auch hier ist doch die Frage, wessen
Lied diese Agenturen singen? Wir reden von zwei privaten
amerikanischen Unternehmen, die, ohne dass sie es näher begründen
müssen, darüber entscheiden, wer auf dieser Welt Geld bekommt und
wer nicht, und wenn ja, zu welchem Preis. Die Amerikaner tun seit
Jahren alles, um ihre Macht zu erhalten. Und da glauben wir allen
Ernstes, dass sie auf dem wichtigsten Schlachtfeld, der Wirtschaft,
das einfach dem Markt überlassen? Nie im Leben. Aber ganz egal, ob diese Agenturen nun frei oder nicht
frei arbeiten. Hätten wir ein unabhängiges europäisches Organ,
stellt sich doch vielmehr die Frage, ob die Meinung einer neuen,
jungen, vergleichsweise schlecht etablierten Ratingagentur
ohne jegliche Erfahrungswerte ein ähnliches Gewicht in der
Meinungsbildung hätte. Die Chinesen haben auch eine
Ratingagentur. Warum können wir nicht eine Agentur schaffen, die
staatlich finanziert und dennoch komplett unabhängig ist, wie
unsere Richter? Dazu kommt, wieso entlassen sich die Banken selbst
aus der Verpflichtung, Risiken abzuschätzen, zu bewerten und damit
zu bepreisen? Das ist doch eigentlich ihre ureigenste Aufgabe! Auf lange Sicht gesehen, werden wir uns von dieser Krise
wieder erholen? Natürlich, das ist ja Teil des
Systems! Es wird passieren, was seit Jahrhunderten passiert: Es
kommt zum Reset, zu einem großen Schlag, zu einer Umverteilung von
oben nach unten, entweder über die Währungsreform,
Schuldenstreichung, Inflation oder über einen „New Deal“. Es gibt
verschiedene Wege, um aus der Misere zu kommen. Welchen wir in den
nächsten Jahren gehen werden, bleibt abzuwarten. Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Sarah Maria Deckert. Dirk
Müller, besser bekannt als „Mr. Dax“, ist Deutschlands
prominentester Börsen- und Finanzexperte. Seit nunmehr fast 20
Jahren ist er auf dem Parkett der Frankfurter Börse zuhause.
Zunächst als Rentenhändler, bevor er amtlich vereidigter
Börsenmakler und später Skontroführer wurde. Sein Buch über die
Weltfinanzkrise und die Hintergründe der Finanzwelt
„C(r)ashkurs“ stand monatelang auf der
Spiegel-Bestsellerliste. Sein neues Buch „Cashkurs“ erscheint am 12.
September bei Droemer.
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CICERO Online sprach mit dem Börsenexperten Dirk Müller über die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms, darüber, warum die Währungsunion keine Zukunft hat, über die Taschenspielertricks der USA und er erklärt, wie die Politik versucht, unsere Probleme per Druckerpresse zu beseitigen.
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wirtschaft
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2011-09-28T15:47:04+0200
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2011-09-28T15:47:04+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/der-rettungsschirm-grenzt-veruntreuung-von-steuergeldern/43220
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Deutsche Bank - Die letzte Warnung
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Dass es es schwierig werden würde bei der Hauptversammlung der Deutschen Bank, wussten die Verantwortlichen vorher. Aber was dann am Donnerstag bei der jährlichen Aktionärsversammlung passierte, kam einem Misstrauensvotum gegen die beiden Vorstandschefs Anshu Jain und Jürgen Fitschen gleich. Bei der Entlastung der Vorstände stimmten nur 60 Prozent der anwesenden Aktionäre für Fitschen und Jain. Normalerweise liegen die Zustimmungsquoten bei Hauptversammlungen bei kommunistischen 95 Prozent oder höher. Direkte rechtliche Konsequenzen hätten sich auch aus einer verweigerten Entlastung nicht ergeben, weil nach deutschem Aktienrecht nur der Aufsichtsrat Vorstände absetzen kann. Für das Duo an der Spitze ist das die letzte Warnung: Wenn ihr jetzt nicht liefert, war's das! Und sie kommt nicht nur von den üblichen „Hauptversammlungsspinnern“, die fünf Minuten Aufmerksamkeit am Rednerpult genießen, sondern auch von großen institutionellen Anlegern. Sie wollen endlich Ergebnisse von Fitschen und Jain sehen, sind unzufrieden mit der kürzlich vorgestellten Strategie 2020, die einen Verkauf der Postbank vorsieht und eine noch stärkere Fokussierung auf das riskante Investmentbanking. Die Unzufriedenheit der Anteilseigner lässt sich auch auch am Aktienkurs von Deutschlands größter Bank ablesen: Er dümpelt auf dem Niveau von vor 20 Jahren. Die Bank kommt einfach nicht aus den schlechten Schlagzeilen heraus, ihr öffentliches Image ist desaströs: In 7000 Rechtsstreitigkeiten ist die Bank derzeit verwickelt, sie musste eine Milliardenstrafe zahlen wegen der Manipulation von Zinssätzen, ein Steuerverfahren wegen der Beteiligung an dubiosen Geschäften mit CO2-Emissionszertifikaten läuft, die internationalen Aufsichtsbehörden kritisieren die Bank wegen mangelnder Transparenz und fehlender Kooperation, in München steht Jürgen Fitschen vor Gericht wegen versuchten Prozessbetrugs im Kirch-Prozess und das Führungsduo hat auch die selbst ausgegeben Renditeziele bisher nie auch nur annähernd erreicht. Da konnte auch die am Abend vor der Hauptversammlung beschlossene Rochade im Topmanagement der Bank nichts an der schlechten Stimmung der Aktionäre ändern. All das weiß natürlich auch der Aufsichtsratsvorsitzende Paul Achleitner, der bisher immer hinter Jain und Fitschen gestanden hat. Er ist in den vergangenen Tagen etwas auf Distanz gegangen zu seinen beiden Vorstandschefs, als er in einem Interview mit der Wirtschaftswoche sagte: „Niemand ist unersetzbar.“ So ist dann auch die Umbildung des Vorstands vor allem als Signal Achleitners nach innen zu verstehen. Der enge Jain-Vertraute Alan Cloete muss gehen wegen seiner Verwicklung in den Zinsskandal. Auch Jürgen Fitschen gehört zu den Verlierern des Vorstandsumbaus. Die Zuständigkeit für die interne Bad Bank musste er abgeben. Sein Vertrag läuft ohnehin 2017 aus und durch die neue Struktur könnte man Fitschen auch leichter aus dem Vorstand entfernen, falls er im Strafprozess nicht freigesprochen wird.Gleichzeitig bekommt Jain selbst noch mehr Verantwortung, weil er ab jetzt für die Umsetzung der Strategie 2020 zuständig ist. Er ist in der Doppelspitze jetzt eindeutig die Nummer eins. Aber viel Zeit wird Achleitner ihm nicht mehr lassen. 16 Monate, heißt es in der Bank, hat Jain, um deutlich sichtbare Fortschritte zu erzielen.Mit dem neuen Finanzvorstand Marcus Schenck, der von Goldman Sachs gekommen ist und frei von irgendwelchen Verwicklungen in die Skandale der Deutschen Bank ist, und dem Shootingstar Christian Sewing, der neben dem Rechtsressort jetzt auch noch den Geschäfts- und Privatkundenbereich leitet, hat Achleitner potenzielle Nachfolger in Position gebracht. Jain sollte das als allerletzte Warnung begreifen, eine weitere wird er nicht bekommen.
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Til Knipper
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Zwar wurden die Vorstandschefs der Deutschen Bank entlastet. Doch die Stimmung bei den Aktionären ist schlecht. Auch innerhalb des Geldhauses haben Anshu Jain und Jürgen Fitschen keinen guten Stand. Der Aufsichtsrat entzieht ihnen allmählich das Vertrauen und hat bereits Nachfolger in Stellung gebracht
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wirtschaft
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2015-05-22T12:08:54+0200
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2015-05-22T12:08:54+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/deutsche-bank-die-letzte-warnung/59293
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„Hirntod“-Äußerung von Emmanuel Macron - Nato-Erfahrungen
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Weiter können Urteile kaum auseinanderliegen, als die des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Nato. Viele wollen darin einen weiteren Beleg für eine zunehmende Entfremdung der beiden sehen, reden von einer schweren Krise im deutsch-französischen Verhältnis. Anfang Dezember wird die Nato in London offiziell ihren 70sten Geburtstag feiern. Deshalb hat Macron der englischen Zeitung The Economist im Vorfeld ein großes Interview gegeben und Tacheles geredet. In Syrien hätten zwei Nato-Mitglieder (USA und Türkei) ohne jede Absprache mit den Partnern gehandelt, deren Interessen durch ihr unkontrolliertes und aggressives Vorgehen gefährdet seien. Weil man sich zudem erstmals mit einem amerikanischen Präsidenten konfrontiert sehe, der die Idee eines europäischen Projekts nicht teile, befände sich die Nato am Rande des Abgrunds. Und dann der Satz: „Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der Nato“. Quasi umgehend widersprach Merkel im Beisein von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Das sei definitiv nicht ihre Sicht, denn: „Die transatlantische Partnerschaft ist unabdingbar für uns“. Es gebe unbestreitbar Probleme, aber die könne und müsse man gemeinsam lösen. Die Nato ist „unser Sicherheitsbündnis“, so Merkel. Der Gegensatz ist nicht zu übersehen – und ja, er ist gewaltig. Nur neu ist er nicht. Im Gegenteil. Die USA haben die Nato nie als Bündnis vollkommen gleichberechtigter Staaten betrachtet, sondern als Mittel zur Durchsetzung eigener strategischer Interessen. Die anderen dürfen gerne mittun, solange das den USA dienlich ist. Kein französischer Präsident hat sich dieser Sichtweise je angeschlossen. In Deutschland wird schnell vergessen, das Präsident de Gaulle als eine seiner ersten Amtshandlungen nach dem Wahlsieg 1959, die französische Flotte dem Nato-Befehl entzog. 1966 beendete er dann die französische Nato-Mitgliedschaft ganz. Frankreich ist erst seit 10 Jahren wieder Vollmitglied. Daran muss man erinnern. Für Deutschland – vor allem für die alte Bundesrepublik – war die Nato-Mitgliedschaft dagegen nicht nur die Möglichkeit zur Rückkehr in den Kreis der akzeptierten Staaten, sondern überlebenswichtige Sicherheitsgarantie gegen die imaginierte Gefahr aus dem Osten. Dass der Warschauer Pakt erst nach ihrem Nato-Beitritt gegründet wurde und explizit als Reaktion darauf, hat sich aus dem kollektiven Bewusstsein komplett verabschiedet. Insofern ist die unterschiedlich Betrachtung des Bündnisses also nicht neu. Sie ist vielmehr fester Bestandteil der unterschiedlichen Selbstbilder der beiden Staaten. Sehr wohl aber ist der Dissens absichtlich aufgeführt, um nicht zu sagen inszeniert. Denn im Ziel, da liegen Macron und Merkel durchaus sehr eng beieinander. Donald Trump hat bereits im Wahlkampf 2016 die Nato mehrfach als "obsolete" bezeichnet, als veraltet, überholt und überflüssig. Vor allem aber hat er als Präsident die Europäer nicht mehr in Entscheidungsstrukturen eingebunden, hat ihnen nicht einmal mehr das Gefühl gegeben, ein relevanter Faktor zu sein. Vielmehr hat er Europa zum Gegner erklärt, gegen den er auch wirtschaftspolitisch Front macht. Man muss bei diesem Präsidenten gar für möglich halten, das er die Nato-Strukturen zugunsten bilateraler „deals“ aushöhlt. Dem müssen und wollen die Europäer entgegenwirken. Merkel zieht daraus den Schluss, die Gemeinsamkeiten zu betonen, Macron sagt, wir müssen unabhängiger werden und eigene Stärke kreieren. Das entspricht seiner generellen Politikvorstellung: Europa ist die einzige Möglichkeit für seine einzelnen Mitgliedsländer, international relevant zu bleiben. Das gilt für Macron politisch wie wirtschaftlich, aber eben auch militärisch. Politisch und ökonomisch sieht man das in Deutschland exakt genau so. Militärisch nicht zwingend. Und die Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte weiterhin angebracht. Aber genau da greift Macron mit seinem Interview ein, gerne in Kauf nehmend, dass er sich dabei als Europas gewichtigste Stimme zeigen kann. Mit seinem Wort vom Hirntod jagt er „einen Stromstoß“ als Herzschrittmacher durch die Nato, wie es Anne-Marie Descôtes, die französische Botschafterin in Berlin benennt. Denn er findet, es reicht bei Weitem nicht aus, wenn die deutsche Verteidigungsministerin meint, mit ihrer Syrien-Initiative einen schon lange toten Gaul ins Ziel reiten zu wollen oder wie jetzt in München „verlangt“, Deutschland müsse militärisch mehr Verantwortung übernehmen. In diese Richtung hat Annegret Kramp-Karrenbauer nun an der Bundeswehr-Universität in München auch ihre Idee eines nationalen Sicherheitsrates formuliert. Das hatte auch ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen schon vor drei Jahren auf der Münchener Sicherheitstagung angekündigt, allerdings bis heute weitgehend ohne konkrete Folgen. Ob die heutige Verteidigungsministerin es schafft, das praktisch umzusetzen, ist mindestens unklar. Macron will mehr Unabhängigkeit von den USA. Er will, dass Europa perspektivisch für die eigene Sicherheit sorgen kann. Er weiß ganz genau, so wichtig die force de frappe auch ist, dass er das ohne Deutschland niemals wird erreichen können. Und weil seine Vorstellung der deutsch-französischen Partnerschaft auf strategischen Überlegungen fußt, ist sie so zentral wichtig für ihn, und unabhängig von Unterschieden in der Betrachtung von Einzelfragen. Aber schließlich wartet er nicht gerne auf ein Deutschland, das sich seit Jahren lieber mit sich selbst beschäftigt als mit den großen Problemen der Welt. Ein bisschen Druck, findet man in Frankreich, kann nie schaden. Den Namen der amtierenden deutschen Verteidigungsministerin, den wird man sich allerdings erst merken – ob als Kürzel AKK oder in der unaussprechlichen Langfassung –, wenn aus innenpolitisch und taktisch motivierten Ankündigungen auch Taten werden. On va voir, man wird sehen.
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Kay Walter
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Emmanuel Macron verkündet den „Hirntod der Nato“, Angela Merkel bemüht sich, die Gemeinsamkeiten der Bündnispartner zu betonen. Der Vorstoß des französischen Präsidenten zeigt: Der Druck auf Deutschland, mehr militärische Verantwortung zu übernehmen, steigt
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"Emmanuel Macron",
"Angela Merkel",
"Nato",
"Jens Stoltenberg",
"USA",
"Donald Trump",
"Kramp-Karrenbauer"
] |
außenpolitik
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2019-11-08T13:06:43+0100
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2019-11-08T13:06:43+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/hirntod-nato-emmanuel-macron-angela-merkel-annegret-kramp-karrenbauer
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Präsidentschaftswahlen in Polen - Es wird ein knappes Rennen zwischen Duda und Trzaskowski
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Wahlen in Polen und die Beteiligung an denen ist ein Thema für sich. Ausgerechnet die Polen, die am 4. Juni 1989 mit einer halbdemokratischen Wahl das Ende der Einparteienherrschaft der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei einläuteten und damit auch einen wichtigen Anteil am Niedergang des Ostblocks hatten, erwiesen sich in den vergangenen 30 Jahren immer wieder als Wahlmuffel. Doch am gestrigen Sonntag war alles anders. Trotz des Coronavirus, der damit verbundenen strengen Hygieneregeln in den Wahllokalen und zum Teil langen Schlangen, in denen die Wähler für ihre Stimmabgabe anstehen mussten, konnte man mit fast 64 Prozent (Anm.: Die Angaben entsprechen der Zwischenrechnung der Staatlichen Wahlkommission) die höchste Wahlbeteiligung bei einem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen seit 25 Jahren vermelden. Zum Vergleich: 2015 betrug diese beim ersten Wahlgang noch 48.96 Prozent. Eine hohe Wahlbeteiligung, die unterstreicht, wie wichtig die Polen die diesjährigen Präsidentschaftswahlen nehmen. Und es ist eine Mobilisierung, die ursprünglich gar nicht im Sinne des sich um die Wiederwahl bemühenden Staatspräsidenten Andrzej Duda und der nationalkonservativen PiS war, die mit einem als „Kugelschreiber“ verspotteten Präsidenten Duda den Umbau des polnischen Staates bis zu den nächsten im Jahr 2023 ohne großen Widerstand forcieren könnte. Trotz der Covid-19-Pandemie hielten die Nationalkonservativen an dem ursprünglichen Termin am 10. Mai fest und hofften dabei auf eine niedrige Wahlbeteiligung, die Duda laut damaliger Prognosen schon im ersten Wahlgang einen Sieg garantiert hätte. Die auf den gestrigen Sonntag verschobenen Wahlen brachten jedoch ein anderes Ergebnis, als welches sich die PiS vor Wochen erhoffte. Nach bisherigen Zwischenrechnungen der Staatlichen Wahlkommission ging Amtsinhaber Duda mit 43 Prozent der Stimmen als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervor, da er jedoch nicht die absolute Mehrheit bekam, muss er sich in zwei Wochen einer Stichwahl stellen. Sein Gegner wird der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski sein, der auf rund 30 Prozent kam. Es ist ein Ergebnis, das den Prognosen der vergangenen Tage entspricht und bei Duda und dem nationalkonservativen Lager, aus unterschiedlichen Gründen gemischte Gefühle hinterlassen dürfte. Einerseits kann sich Duda über ein besseres Ergebnis freuen als vor fünf Jahren, als er den 1. Wahlgang mit 34.76 Prozent gewann. Für zufriedene Gesichter dürfte auch der Vergleich des jetzigen Wahlergebnisses mit dem der Parlamentswahlen von 2019 sorgen. Im Oktober vergangenen Jahres gewann die PiS diese bei ähnlich hoher Wahlbeteiligung mit fast 44 Prozent der Stimmen. Zwei Urnengänge innerhalb von neun Monaten, die zeigen, dass die Nationalkonservativen nicht mehr nur von einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren. Auf der anderen Seite müssen Duda und sein Team aber auch anerkennen, sich im Wahlkampf einige Male verkalkuliert zu haben. Die kurzfristige Visite bei Donald Trump in der vergangenen Woche, bei der der US-Präsident offen Wahlwerbung für seinen polnischen Amtskollegen machte, sowie die weltweit für Schlagzeilen sorgende scharfe Rhetorik Dudas gegen eine angebliche „LGBT-Ideologie“, haben jedenfalls nicht die erhofften großen Effekte gebracht. Zu einem Nachteil für Duda könnte auch die Rhetorik der Nationalkonservativen gegenüber der politischen Konkurrenz werden. Auch wenn der ehemalige Europaabgeordnete als leichter Favorit in den zweiten Wahlgang geht, braucht er für einen Sieg die Wähler jener Kandidaten, die es am gestrigen Sonntag nicht in die Stichwahl geschafft haben. Ein Umstand, der Duda bewusst ist. „Es gibt nicht viel, was mich von Krzysztof Bosak trennt. Bei vielen Themen denken wir ähnlich“, sagte er mit Blick auf die Wähler der rechten Konfederacja, deren Kandidat Bosak mit 6,7 Prozent Vierter wurde, direkt nach der Verkündung der ersten Hochprognose. Und die Anhänger der Konfederacja waren nicht die einzigen, die Duda in seiner Dankesrede bedachte. Selbst die Wähler des Linksbündnisses versuchte er durch die Betonung von Gemeinsamkeiten zu umschmeicheln, obwohl ausgerechnet deren Kandidat Robert Biedroń sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Ob Duda dadurch die Wähler seiner Konkurrenten von sich überzeugen kann, ist jedoch fraglich. Viele ihrer Wähler könnten die verbalen Angriffe abschrecken, mit denen Kaczyński, Duda und andere nationalkonservative Politiker in den letzten Jahren und Wochen ihre Konkurrenz bedacht haben. Wenig hilfreich dürften am gestrigen Abend auch die Buhrufe gewesen sein, die auf Dudas Wahlparty ertönten, als dieser sich bei seiner Rede bei jedem einzelnen seiner zehn Gegenkandidaten bedankte. Die Konfederacja hat jedenfalls noch am Wahlabend eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie erklärt, für keinen der zwei Kandidaten eine Wahlempfehlung aussprechen zu wollen. Stattdessen sollen ihre Wähler in der zweiten Runde ihrem eigenen Gewissen folgen. Mit einer Wahlempfehlung hält sich bisher auch der Quereinsteiger Szymon Hołownia zurück. Ein in Polen bekannter TV-Moderator und Buchautor, der vor einem halben Jahr seine Kandidatur bekanntgab und nun mit fast 14 Prozent das drittbeste Ergebnis einfuhr. Hołownia sprach vor allem bürgerliche Wähler an, die eine Alternative suchten zu den etablierten Parteien, in zwei Wochen aber theoretisch für das aus ihrer Sicht kleinere Übel tendieren und für Rafał Trzaskowski stimmen könnten. Die Hołownia-Wähler allein werden dem Warschauer Oberbürgermeister jedoch nicht reichen, was diesem auch bewusst ist. Wie sein Kontrahent Duda, warb auch dieser noch am Wahlabend um die Wähler der unterlegenen Kandidaten, darunter auch um die von Robert Biedroń sowie Krzysztof Bosak. Es ist ein Buhlen um Stimmen aus jedem erdenklichen Lager, das sich durch einen Blick auf Wahlprognosen für den zweiten Wahlgang erklären lässt, die noch gestern Abend veröffentlicht wurden. Laut diesen gewinnt zwar Duda, doch der Abstand zu seinem Konkurrenten beträgt nicht mal einen Prozentpunkt. Prognosen, die weder den Präsidentschaftskandidaten noch den Wählern Zeit zum Durchschnaufen erlauben. Sowohl Duda als auch Trzaskowski absolvierten noch gestern Nacht wieder ihre ersten Wahlkampfauftritte.
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Thomas Dudek
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Im ersten Wahlgang der polnischen Präsidentschaftswahlen erreichte Staatspräsident Andrzej Duda nicht die absolute Mehrheit. Er und sein Widersacher Rafał Trzaskowski buhlen nun um jede Stimme für die Stichwahl am 12. Juli. Doch für Duda gibt es dabei ein großes Problem.
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außenpolitik
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2020-06-29T11:34:35+0200
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2020-06-29T11:34:35+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/prasidentschaftswahlen-in-polen-es-wird-ein-knappes-rennen-zwischen-duda-und-trzaskowski
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Politiker und Maskenpflicht - Die Abgehobenen
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Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Die Anfang der Woche öffentlich gewordenen Aufnahmen, die Politiker, Wirtschaftsmanager und Journalisten Seite an Seite ohne Masken im Regierungsflugzeug auf dem Weg nach Kanada zeigen, haben bei vielen Menschen für Empörung gesorgt. Und zwar zu Recht. Es spielt dabei keine Rolle, ob das Maskentragen auf der Staatsreise formaljuristisch vorgeschrieben war oder nicht. Was vielmehr zählt, sind die doppelten Standards, die die Bilder für viele Menschen sichtbar machen: Für „die da oben“ (in diesem Fall im buchstäblichen Sinne) gelten andere Regeln als für „uns“ Normalsterbliche. Denn im Linienflieger führt kein Weg an der Atemschutzmaske vorbei – PCR-Test hin oder her. Einen besonders bitteren Beigeschmack erhält der Vorfall dadurch, dass eben jene politische Klasse – im Chor mit einem Großteil der Journalisten – sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie mit moralisierenden Solidaritätsappellen an die Bürger geradezu überbietet. Im Zuge dessen wurden und werden Maskenkritiker gerne pauschal als rücksichtslos und unsolidarisch gebrandmarkt. Vor diesem Hintergrund nun das Privileg für sich in Anspruch zu nehmen, sich im Regierungsflieger des Mund-Nasen-Schutzes zu entledigen, wirkt nicht nur instinktlos und abgehoben. Das Missverhältnis zwischen moralischem Sprechen und faktischem Handeln stellt zudem grundsätzlich die Glaubwürdigkeit der Corona-Politik in Frage. Lesen Sie in unserer Serie „Corona international“, wie anders als Deutschland der Rest der Welt inzwischen mit Covid-19 umgeht: Was der „Regierungsflug-Affäre“ über den konkreten Fall hinaus Relevanz verleiht, ist ihr symptomatischer Charakter. Sie lässt sich sozialwissenschaftlich in ein größeres Bild einordnen. Sie steht dafür, dass die gesellschaftlichen Eliten in Deutschland zunehmend den Kontakt zur Lebenswirklichkeit der Bevölkerung verlieren, wie etwa der der Soziologe Michael Hartmann in seinem Buch „Die Abgehobenen“ aufzeigt. Dies geht, wie das jährliche Edelman Trust Barometer verdeutlicht, mit einer fundamentalen Vertrauenskrise einher. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland spricht den Führungspersönlichkeiten aus Politik, Medien und Wirtschaft ihr Misstrauen aus. Die Bilder des nach der Landung erfolgenden Empfangs der Delegation in prunkvollem Ambiente mit drapierten Champagnerflaschen reihen sich übrigens nahtlos ein in diese Diagnosen. Angesichts der virulenten politischen Spar- und Verzichtsappelle an die Bevölkerung im Zuge der Energiekrise – Stichwort „Waschlappen“ – wirkt ein solches Setting instinktlos und deplatziert. Die Kommentare zu den Aufnahmen, die Tina Hassel, Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, auf Twitter gepostet hat, lassen dementsprechend an kritischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es ist zu hoffen, dass die bisweilen heftige, aber vom Grundsatz her legitime Empörung, die der privilegierten Kanada-Delegation entgegenschlägt, nicht einfach, wie so häufig, bei den im Fokus stehenden Eliten als populistischer Reflex abgetan wird. Es sollte vielmehr als Anlass zur Selbstkritik dienen. Sonst droht das Vertrauen in das demokratische System und seine Repräsentanten weiter zu erodieren. Gerade in Krisenzeiten wie diesen wäre das fatal.
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Michael Walter
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Die Aufnahmen der maskenlosen Delegation aus der Regierungsmaschine nach Kanada legen nahe: Die Eliten in Deutschland haben sich von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung weitgehend abgekoppelt. Während sie von den Bürgern solidarischen Verzicht einfordern, scheinen für sie eigene Regeln zu gelten. Diese Doppelmoral unterminiert das Vertrauen in unser demokratisches System.
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innenpolitik
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2022-08-24T12:04:17+0200
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2022-08-24T12:04:17+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/politiker-und-maskenpflicht-regierungsflieger-habeck-scholz-die-abgehobenen
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Jörg Thadeusz im Gespräch mit Ulrike Moser - Cicero Podcast Literaturen Spezial: „Wieviel Sex ist in dem Buch von Herrn Schachinger?"“
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Wo soll man nur anfangen bei all den Neuerscheinungen? Vielleicht bei einem Thema, das jeden betrifft? Was heißt es, erwachsen zu werden? Wie unterscheidet sich diese schwierige Zeit mit ihrer Langeweile, ihren Ängsten, ihren Hoffnungen, ihren Zweifeln, ihrem Suchen und ihrem Entdecken der eigenen Sexualität von Generation zu Generation? Wie wird sie geprägt von der Zeit, in der wir aufwachsen? Und könnte es nicht auch ganz anders sein? Da ist zum Beispiel die junge Journalistin Marlene Knobloch, die ein außergewöhnlich kluges und dazu sprachlich elegant geschriebenes Buch über ihre Generation geschrieben hat. „Serious shit“ heißt es, und es geht um den Moment, als mit dem Einmarsch Putins in die Ukraine alle Gewissheiten zerschmettert wurden, man lebe in einer uninteressanten Zeit und man könne so einfach das Leben der Eltern fortsetzen. Eine Bilanz, so gar nicht wehleidig. Stattdessen reflektiert Knobloch, welche Erschütterung der Krieg bei jungen Menschen ausgelöst hat, die immer glaubten, Regisseure der eigenen Biografie zu sein, die mit dem Versprechen auf Wohlstand aufgewachsen sind, sich auf Twitter moralisch ereiferten und dabei übersahen, was in der Welt passierte. Marlene Knobloch sucht nach Wegen aus der Blase. Nach Orten des Gesprächs, über die Milieugrenzen hinweg. Oder wie Jörg Thadeusz es umschreibt: „Wenn die zu den jungen Leuten sagt, Freunde, interessiert euch bitte mal für die anderen, interessiert euch für die Politik und erwartet nicht, dass euch das so mundgerecht in einer veganen Bowl rübergereicht wird, damit ihr es auch genießbar findet, sondern entweder ihr interessiert euch dafür oder nicht ...“ Oder nehmen wir Tonio Schachinger, einen jungen Autor aus Österreich und sein Buch „Echtzeitalter“. Nicht nur, weil Österreich Gastland der Buchmesse ist, sondern weil Schachinger den Schüler-, den Bildungs- und Entwicklungsroman ganz neu erzählt. Und uns Einblick gewährt in ein Wiener Elitegymnasium, eine Schule, die ist „wie Österreich, akademisch mittelmäßig, ambitionslos und trotzdem eingebildet“. Dafür denkbar elitär. Und so können sich auch die Schüler nichts anderes vorstellen, als den von den Eltern festgelegten Lebensweg zu gehen, und der bedeutet, Jura, Medizin oder BWL zu studieren. Und wie Schachinger das beschreibt, ist das alles auch ein böser Spaß. „Das Schöne an diesem Buch“, sagt Ulrike Moser, „ist, dass es in Wien spielt. Und das merkt man an der Sprache, an dieser schönen Boshaftigkeit, mit der viele Wiener sich selbst betrachten.“ Oder wie Schachinger schreibt: „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenig Konsequenzen hätte.“ Und dann ist da noch Dennis Gastmann. Er beschreibt in „Dalee“ die Geschichte eines Jungen, der mit seiner Familie und ihrem Arbeitselefanten nach der Unabhängigkeit Indiens mit einem schrottreifen Schiff auf die Andamanen reist, um dort ein neues Leben zu beginnen. Ist das kulturelle Aneignung? Wenn ja, dann von ihrer schönsten Seite. Denn Gastmann lässt uns teilhaben an einer ungewöhnlichen Geschichte. Diesen Elefanten, mit dem der Junge befreundet ist, gab es wirklich. Und von ihm ist ein Foto geblieben, wie er scheinbar schwerelos im klaren Wasser der Andamanensee zu schweben scheint. Das ist nicht nur poetisch, sondern zeigt auch, dass man nicht immer dorthin schauen sollte, wo am lautesten um Aufmerksamkeit gebuhlt wird. Sondern dass es, wenn man einen Schritt zurücktritt, ganz ungewöhnliche Entdeckungen zu machen gibt. Marlene Knobloch: Serious shit. Die Welt ist gefährlich – und warum wir das erst jetzt merken. dtv, München 2023, 112 Seiten, 12 € Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Rowohlt, Hamburg 2023, 368 Seiten, 24 € Dennis Gastmann: Dalee. Rowohlt, Hamburg 2023, 416 Seiten, 24 € Das Gespräch wurde am 26. April 2023 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Ulrike Moser, Jörg Thadeusz
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Nach drei Jahren Pause ist jetzt endlich wieder Buchmessenzeit in Leipzig. Literaturfrühling! Ulrike Moser und Jörg Thadeusz haben sich in der Vielzahl der Neuerscheinungen umgesehen, eine kleine Auswahl getroffen - und sprechen über das Erwachsenwerden, über die Hölle, die Schule bedeuten kann, über kulturelle Aneignung. Und über Elefanten.
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2023-04-28T09:08:41+0200
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2023-04-28T09:08:41+0200
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https://www.cicero.de//kultur/joerg-thadeusz-ulrike-moser-interview-cicero-podcast-literatur-buchmesse
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Meistgelesene Artikel 2023: September - Cicero-Buch „Der Selbstbetrug“: Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert
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Zum Jahresende blicken wir auf die Themen des Jahres 2023 zurück und rufen die Cicero-Artikel in Erinnerung, die am meisten Interesse fanden. Lesen Sie hier: den meistgelesenen Artikel im September. Am 8. Juni 2023 zeigte sich einmal mehr, was alles schiefläuft in der europäischen Migrationspolitik. Wieder war es ein schreckliches Verbrechen, das die Bevölkerung in einen Schockzustand versetzte – und Politiker zu den üblichen Statements veranlasste, nun müsse aber endlich etwas geschehen. An diesem Donnerstagmorgen war ein 32 Jahre alter Mann in der ostfranzösischen Stadt Annecy in einem Park mit einem Messer auf eine Gruppe Kinder losgegangen und hatte vier von ihnen so schwer verletzt, dass sie tagelang in Lebensgefahr schwebten. Die Opfer waren zwischen 22 Monaten und drei Jahren alt; auch ein Erwachsener trug schwere Stichwunden bei der Attacke davon. Der Täter: ein in Schweden als Flüchtling anerkannter Syrer, welcher zehn Jahre in seinem Zufluchtsland gelebt hatte, bevor er ein gutes halbes Jahr vor seiner Tat nach Frankreich gekommen war und dort ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sprach von einem „Angriff absoluter Feigheit“, weiter rechtsstehende Politiker wie Olivier Marleix von der Partei Les Républicains bezeichnete die allgemeine Situation als „außer Kontrolle“, weil die Franzosen nicht wüssten, „wer die Leute sind, die wir aufnehmen“. François Astorg, Bürgermeister von Annecy und Mitglied bei den französischen Grünen, zeigte sich ebenfalls empört über das Verbrechen, warnte jedoch gleichzeitig vor einer politischen Instrumentalisierung der Tat. Dennoch zogen noch am selben Abend etliche Leute durch die Straßen von Annecy und skandierten Sprüche wie „Ausländer raus!“ und „Frankreich den Franzosen!“. Wie Präsident Macron war auch der französische Innenminister Gérald Darmanin unmittelbar nach der Tat gen Annecy geeilt, um sich vor Ort ein Lagebild zu machen. Die bittere Ironie daran: Darmanin musste deswegen seinen Aufenthalt in Luxemburg abbrechen, wo die Innenminister der EU am selben Tag zusammengekommen waren, um das Asylsystem der Europäischen Union zu reformieren. Nach den großen Flüchtlingswellen der Jahre 2015 und 2016 ist der Migrationsdruck auf Europa nun wieder derart gestiegen, dass die Regierungen praktisch sämtlicher Mitgliedstaaten dringenden Handlungsbedarf sahen. Tatsächlich rang man sich noch am Abend desselben Tages zu jenem Luxemburger „Asylkompromiss“ durch, der nach dem längst gescheiterten Dublin-Verfahren demnächst wieder etwas Ordnung ins Migrationsgeschehen bringen soll. Kernpunkte dieses Kompromisses sind beschleunigte Asylverfahren in geschlossenen Einrichtungen an den Außengrenzen der EU, die Möglichkeit der Rückführung abgelehnter Asylbewerber bei mangelnder Schutzbedürftigkeit sowie eine „solidarische“ Umsiedlung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union für den Fall, dass ein einzelner EU-Staat von der Zahl der Migranten überlastet sein sollte. Ob das neue Regelwerk Wirkung entfalten wird, muss sich zeigen. Passend zum Thema: Noch ist es nicht einmal vom Europäischen Parlament abgesegnet worden, und kaum waren die Einzelheiten des Asylkompromisses an die Öffentlichkeit gelangt, kündigten Teile der deutschen Grünen erbitterten Widerstand gegen Reformpläne an, denen Bundesinnenministerin Nancy Faeser nach Auffassung der Grünen-Co-Vorsitzenden Ricarda Lang niemals hätte zustimmen dürfen. Pro Asyl sprach von einem „historischen Fehler“ und dem „Ausverkauf “ der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Dabei haben Migrationsforscher ernsthafte Zweifel daran, ob sich aufgrund der Luxemburger Übereinkunft die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge überhaupt merklich verringern wird. Denn das beschleunigte Asylverfahren an der Außengrenze betrifft ohnehin nur Personen, die aus einem Land mit geringer Anerkennungsquote kommen – was nach derzeitiger Lage allenfalls auf einen Bruchteil aller Migranten zutrifft. Von „Abschottung“ oder gar einem „Frontalangriff auf das Asylrecht“, den etliche Kritiker an die Wand malen, kann keine Rede sein. „2015 darf sich nicht wiederholen“: Das war das politische Regierungsmantra, nachdem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel verordnet hatte, die Grenzen zur Bundesrepublik auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise nicht zu schließen – mit den bekannten Folgen. Deutschland wurde wegen dieses Signals zu einem Magneten im weltweiten Migrationsgeschehen, zeitweilig herrschten chaotische Zustände, der gesellschaftliche Zusammenhalt nahm immensen Schaden. Merkels „Grenzöffnung“ ermöglichte nicht nur den Wiederaufstieg der damals schon wieder im Niedergang befindlichen AfD, sie sorgte auch für massives Befremden bei unseren europäischen Nachbarn: schon wieder ein deutscher Sonderweg abseits rationalen Kalküls inklusive absehbarer Kollateralschäden. Gründe genug also, solche Szenarien künftig zu vermeiden. Doch auch die neue Bundesregierung schlafwandelte in die nächste Flüchtlingskrise hinein: Die Zahl der einreisenden Migranten hat in den zurückliegenden Monaten das Niveau von 2015 längst überschritten, und das liegt keineswegs nur an Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch aus Afrika und dem Nahen Osten machen sich wieder vermehrt Menschen auf den Weg nach Deutschland, nicht zuletzt aufgrund unserer vergleichsweise üppigen Sozialleistungen. Länder und Kommunen schlagen Alarm wegen einer absehbaren Überlastung der Erstaufnahmeeinrichtungen, aber die mediale Öffentlichkeit hat meist nur das Weltklima und Wärmepumpen im Blick. Das Fatale daran: Unsere Gesellschaft ist noch gereizter als vor sieben Jahren. Cicero bezeichnet sich selbst als „Magazin für politische Kultur“. Und weil wir fest davon überzeugt sind, dass Debatte (mitunter vielleicht sogar Streit) ganz wesentliche Grundlage einer Demokratie ist, scheuen wir auch nicht vor Kontroversen zurück. Wir produzieren demokratischen Gegenwind – wie sich das für Journalisten gehört, deren vornehmste Aufgabe darin besteht, gesellschaftliche Trends im Allgemeinen oder Regierungshandeln im Speziellen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren. Auch dieses Buch soll dazu beitragen. Deutschlands Rolle in der Migrationskrise in den Jahren 2015 und 2016 war für mich persönlich eine prägende Erfahrung. Angela Merkels Ansage von wegen „Wir schaffen das!“ blieb mehr oder weniger begründungslos im Raum stehen: Nachfragen, wer mit „wir“ gemeint, was unter „schaffen“ zu verstehen und ob „das“ nicht etwas unspezifisch sei, verboten sich praktisch von selbst. Das „von selbst“ meine ich im Wortsinn. Denn selbstverständlich gab es keine Anweisungen an die Medien aus dem Kanzleramt heraus, das Lied der sogenannten Willkommenskultur im Brustton der Überzeugung mitzusingen. Mit einer gewissen Fassungslosigkeit musste ich damals feststellen, dass praktisch sämtliche Zeitungen, Magazine, Fernsehsender und Radiostationen ganz freiwillig und wie „von selbst“ notwendige Fragen hintanstellten – und somit ihre eigentliche Funktion als journalistisches Korrektiv, als vielbeschworene „vierte Gewalt“ in einer gesunden Demokratie in eklatanter Weise vernachlässigten. Gruppendenken hatte kritischen Geist verdrängt. Ich selbst habe damals viele Politiker erlebt – vom einfachen Abgeordneten bis hin zum amtierenden Ministerpräsidenten –, die mir in vertrauensvoller Runde zuraunten, wie wichtig unsere publizistische Aufmüpfigkeit sei: Es würde sich ja sonst keiner trauen, auch mal Widerworte zu geben und auf offensichtliche Missstände hinzuweisen. Und das alles in einem Land, das sich zu Recht seiner Pressefreiheit rühmt. Aber Freiheit hat eben immer zwei Seiten: Sie muss nicht nur „von oben“ gewährleistet sein, man muss sie „von unten“ aus auch zu gebrauchen wissen. Das entsprechende – und bis heute anhaltende – Versagen der Medien hat zu einem massiven Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in Politik und Medien geführt, der auf absehbare Zeit nicht mehr zurückgewonnen werden wird. Die politische Kultur in der Bundesrepublik ist mangels publizistischen Gegenwinds massiv beschädigt worden – mit dem ebenso bedauerlichen wie unvermeidlichen Ergebnis, dass jetzt die Populisten Konjunktur haben. Und denen geht es eben gerade nicht um erfrischende Luftstöße für eine etwas selbstgefällig gewordene Demokratie. Sondern darum, einen politischen Sturm zu entfachen, der alles wegwehen könnte, was aufrechten Demokraten lieb sein sollte. Um das zu vermeiden, ist eine offene politische und mediale Debatte zur Migration entscheidend. „Der Selbstbetrug - Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert“; Verlag Herder, 128 Seiten, 16 Euro.
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Alexander Marguier
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Die Auseinandersetzung um Migration und Integration ist angesichts des neuen Zuwanderungshochs wieder in vollem Gange. Mit „Der Selbstbetrug“ erscheint ein Cicero-Buch zum Thema. Lesen Sie hier das Vorwort von Chefredakteur Alexander Marguier. Dies war der meistgelesene „Cicero“-Artikel im September.
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innenpolitik
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2024-01-04T12:36:10+0100
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2024-01-04T12:36:10+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/meistgelesene-artikel-2023-september-cicero-buch-der-selbstbetrug-wenn-migrationspolitik-die-realitat-ignoriert
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Aktuelle Stunde zur Geheimdienstaffäre - Ampel wirft der AfD Nähe zu China und Russland vor
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Politiker der AfD haben im Bundestag ihren EU-Spitzenkandidaten Maimilian Krah in der Affäre um Spionagevorwürfe in Schutz genommen. Krah sei für die politischen Gegner der AfD „nicht zu greifen“, sagte der Abgeordnete Stefan Keuter am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde. „Gerichtsfeste Beweise“ für ein Fehlverhalten lägen nicht vor. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende, Konstantin Kuhle, warf der AfD „Anbiederung an autokratische Regime“ vor. In der Partei hätten nicht etwa die Co-Vorsitzenden, Alice Weidel und Tino Chrupalla, das Sagen, sondern der Vorsitzende des vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuften Thüringer Landesverbandes, Björn Höcke, und Russlands Präsident Wladimir Putin. Am Montagabend war ein Mitarbeiter des Europaabgeordneten Krah wegen des Verdachts der Spionage für China festgenommen worden. Er soll Informationen aus dem Europaparlament weitergegeben und chinesische Oppositionelle in Deutschland ausgespäht haben. Hinter Krah steht der Bundestagsabgeordnete Petr Bystron auf Platz zwei der Kandidatenliste. Beide sehen sich seit Wochen Vorwürfen und Berichten ausgesetzt, in prorussische Propagandakanäle verwickelt zu sein und in diesem Zusammenhang möglicherweise Geld angenommen zu haben. Beide weisen das zurück. Krah und Bystron seien „nicht trotz, sondern wegen ihrer Diktaturnähe“ auf den Spitzenplätzen der AfD-Kandidatenliste für die Europawahl am 9. Juni geworden, sagte Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz. Deutschland stehe aktuell massiv im Fokus ausländischer Nachrichtendienste und erlebe „hybride Angriffe in ganz neuer Dimension“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dirk Wiese verwies auf ein Video Krahs zur Tibet-Politik Chinas und sagte: „Menschenrechtsunterdrückung feiern, sensible Informationen nach Peking schicken - das ist die AfD in Deutschland im Jahr 2024.“ Die Aktuelle Stunde zum Thema „Russland, China und die AfD“ hatte der Bundestag auf Verlangen der Ampel-Fraktionen auf die Tagesordnung gesetzt. dpa
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Cicero-Redaktion
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In einer aktuellen Stunde im Bundestag werfen Abgeordnete der Ampel-Parteien der AfD vor, sich an China und andere autokratische Regime anzubiedern. Anlass war die Festnahme eines Mitarbeiters des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah.
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innenpolitik
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2024-04-25T17:03:47+0200
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2024-04-25T17:03:47+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/Bundestag-ampel-afd-china-russland-spionage
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Gesetzentwurf zu Fake News - So wird das nichts!
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Der Fortschritt mag eine Schnecke sein, doch manchmal schießen die Preußen schnell. Noch keine zwei Monate liegen die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen hinter uns, da will die Berliner Exekutive ihre Lehren für Deutschland schon in einen Gesetzestext gießen: „Nach den Erfahrungen im US-Wahlkampf hat überdies auch in der Bundesrepublik Deutschland die Bekämpfung von strafbaren Falschnachrichten ('Fake News') in sozialen Netzwerken hohe Priorität gewonnen.“ So steht es in einem Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums, dem traditionellerweise ein Wortungetüm den Titel leiht. Es heißt „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, und damit beginnen die Probleme. Sie beginnen schon bei Hinführungen, die sich selbst nicht trauen und deshalb zu einem weißen Schimmel namens „hohe Priorität“ greifen – als gäbe es eine nachgeordnete Erstrangigkeit oder eine zweite Spitzenposition oder ein minder Wichtigstes. Aus der Abteilung Wortgeklingel für Fortgeschrittene stammen auch der Versuch, die geflügelte Wendung von den Fake News in „Falschnachrichten“ zu übersetzen, und die wuchtige Zeitdiagnostik, „die Debattenkultur im Netz“ sei „oft aggressiv, verletzend und nicht selten hasserfüllt“. Das Wort von den Falschnachrichten setzt voraus, es gäbe Wahrnachrichten, die einen stimmten komplett, die anderen seien von A bis Z erlogen, während sich das meiste Leben, auch jenes im Netz, zwischen diesen beiden Leitplanken bewegt. Und dass die Debattenkultur dies- und jenseits des Internets ausbaufähig ist, bleibt so richtig wie billig. Wie sollte es anders sein? Und was bitte kann, was darf ein Gesetz daran ändern? Will das Netzwerkdurchsetzungs- ein Debattenniveauanhebungsgesetz sein? Daran verhöbe sich der allerklügste Souverän. Oder aber er nimmt für das gewünschte Niveau Maß an sich und würde zum Tyrannen. So schlingern die Referentenseiten aus dem Hause Maas zwischen dem, was sie zurecht beklagen, und den stumpfen Waffen, die sie dagegen auffahren wollen. Fortan sollen kommerzielle Betreiber sozialer Netzwerke, die „im Inland“ mehr „als zwei Millionen registrierte Nutzer“ haben, zur „zügigeren und umfassenderen Bearbeitung von Beschwerden insbesondere von Nutzerinnen und Nutzern über Hasskriminalität“ verpflichtet sein. Die Beschwerenden geben den Takt vor, ganz buchstäblich. Wer Anstoß nimmt an dieser oder jener öffentlich geteilten, als wahrheitswidrig oder ehrabschneidend empfundenen Darstellung, dessen Beschwerdeimpuls muss Rechnung getragen werden. Und zwar subito. Sonst setzt es Bußgelder bis zu – gewiss symbolisch gemeinten – 50 Millionen Euro. Die gute alte Reklamationsstelle kehrt unter digitalen Vorzeichen zurück. Endlich heißt es wieder wie zu Papa Hesselbachs Zeiten: „Ich möchte mich beschweren!“ Doch es sollen ja nur jene „rechtswidrigen Inhalte“ binnen 24 Stunden gelöscht werden, deren Rechtswidrigkeit sich sofort und unmittelbar erschließt, im Gesetzentwurfsdeutsch: „...wenn zur Feststellung der Rechtswidrigkeit (…) keine vertiefte Prüfung erforderlich ist.“ Klick, klack, auf Zack. Mit einem Wisch ist alles weg? Dann aber werden Deliktfelder genannt, bei denen diese augenblickliche Einsichtigkeit frommer Wunsch bleiben dürfte. Der Jurist Niko Härting kritisiert: „Warum sollen Beiträge gelöscht werden, die eine 'Bedrohung' enthalten, nicht jedoch pornographische Inhalte, die Minderjährigen zugänglich sind? Wieso braucht man die Löschpflicht bei einer Verunglimpfung der Nationalhymne, nicht jedoch bei einer verfassungsfeindlichen Verunglimpfung der Bundeskanzlerin? Der Normenkatalog (…) mutet wie ein ungelenkes Potpourri aus unterschiedlichen Normen an, die man meint, den denkbar schwammigen Begriffen von 'Hate Speech' und 'Fake News' zuordnen zu können.“ Dennoch sollen Beschwerden zum Löschen der beanstandeten Inhalte binnen 24 Stunden und deren dauerhaftem Speichern „zu Dokumentationszwecken“ führen. Seid umschlungen, ihr Terabytes, auf ewig, freut euch, CIA und NSA und Hackerwölfe aus Ost wie West, neue Datenpools sind eurer Gier gewiss. Dagegen aufbegehren lässt sich vor einem Amtsgericht, das somit zur letzten Instanz in Sachen Meinungsfreiheit geadelt wird. War uns diese nicht schon einmal sehr viel mehr wert, Verfassungsgerichte und Plenardebatten und Umstürze? Nun werden die Nachfahren von Dorfrichter Adam wie bei Heinrich von Kleist mit Hass und Liebe, Wahrheit und Lüge kurzen Prozess machen, „so dass eine mündliche Verhandlung nicht zwingend geboten ist“. Werden sie es am Ende nach des Adams Devise tun und „Recht so jetzt, jetzo so erteilen“? Hoffen wir das Beste, hoffen wir, dass dieser Entwurf nicht Gesetz wird. Sonst säße an der Reklamationsschranke zwar nicht das Weltgewissen, aber die herrschende Weltanschauung und ließe die guten Sätze ins Töpfchen, die bösen aber ins Kröpfchen rieseln. Hass findet, so hässlich er ist, immer einen Weg, weil er dem Menschen entspringt; er lässt sich nicht legislativ bezwingen oder exekutiv verzaubern. Und wem es mit der Bekämpfung von Straftaten ernst ist, der könnte moralisch abrüsten und überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, auch die sozialen Medien wie ihre klassischen Pendants in die Verbreiterhaftung zu nehmen. Ein Pro und Contra zu dieser Frage wäre überdies ganz im Sinn eines Debattenniveauanhebungsgesetzes.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Gut gemeint, falsch gemacht. Per Gesetz lässt sich weder das Hassen noch das Lügen verbieten. Am Ende sitzt nur die gewünschte Weltanschauung am Reklamationsschalter. Wer Straftaten verhindern will, sollte eine andere Debatte führen
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"Fake News",
"Heiko Maas",
"Facebook"
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innenpolitik
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2017-03-16T15:49:00+0100
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2017-03-16T15:49:00+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/gesetzentwurf-zu-fake-news-so-wird-das-nichts
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Politsatire Eichwald, MdB - „Scheiße über Bande spielen“
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Im vergangenen August stellte sich Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel neben einen Mitarbeiter im Eisbär-Knut-Kostüm vor die Kamera, um der Welt mitzuteilen, dass er sich nicht mit Eiswasser übergießen lassen werde, um auf die Muskelkrankheit ALS aufmerksam zu machen. Behalten Sie dieses Bild von Gabriel im Hinterkopf. Es ist wichtig, um „Eichwald, MdB“ zu verstehen. Die neue ZDF-Politsatire erzählt aus dem Leben von Hajo Eichwald (Bernhard Schütz), graue Haare, Plauze, Wahlkreis Bochum II. Ganze 32 Sekunden dauert es, und der Grundkonflikt der Serie ist erzählt, er besteht aus einem Wort: Bornsen. Uwe Bornsen (Robert Schupp), der für einen verstorbenen Kollegen in Eichwalds Wahlkreis nachrückt und zum Hauptkonkurrenten wird. Bornsen ist „jung, dynamisch, mehr als ein Hoffnungsträger“, wie eine einflussreiche Bloggerin schreibt. Eichwald ist alt, abgebrannt und kämpft mit Twitter und der Blogosphäre. Aber so leicht lässt sich ein Hajo Eichwald, schon seit Bonner Zeiten im Bundestag, nicht ans Bein pinkeln. Ein Prestigeprojekt muss her – irgendwas mit Gesundheit vielleicht. Hajo entwickelt die Idee, „fette Weiber“ auf Burgerschachteln drucken zu lassen, um vor Fastfood zu warnen. Die Idee floppt. Also dreht der MdB schnell ein Video und deutet das Ganze zum geplanten PR-Stunt um: „Hallo, mein Name ist Hajo Eichwald und ich glaube an Sie, den mündigen Verbraucher…“ Nun könnte man, nach dieser ersten Folge, meinen: Hallo, Klischee! Politiker, die sich in der eigenen Partei in den Rücken fallen. Politiker, die alles machen, um gut auszusehen. Maßlos übertrieben. Wäre da nicht die Sache mit Sigmar Gabriel und dem Eisbärenkostüm. Stefan Stuckmann, Autor der Serie, sagt, er habe sich beim Schreiben eine Frage gestellt: „Wie kommen intelligente Leute an den Punkt, über Eisbärenkostüme nachzudenken?“ Eine Antwort darauf gibt Hajo Eichwald. Denn wer genauer hinschaut, sieht: Eichwald ist nicht einfach nur ein Machtmensch, der Komplotte schmiedet oder ein Macho, der seiner Büroleiterin auf den Hintern klatscht. Eichwald ist ein Getriebener. Schon nach ein paar Minuten steckt er im ersten Shitstorm, in der ersten Viertelstunde war er zweimal beim Diktat bei der strengen Fraktionschefin, bei Minute 19:46 misst er das erste Mal seinen Blutdruck. Autor Stuckmann wollte eine Umgebung zeigen, „wo überall Druck drauf ist.“ Das ist ihm und Regisseur Fabian Möhrke gelungen; ein einziges Detail schon zeigt es: Hajos Büro steht die ganze Serie über voller Umzugskartons – man weiß ja nie, ob der nächste Skandal der letzte wird. Regisseur Möhrke sagt: „Es geht darum, Empathie mit Politikern zu erzeugen. Wie soll ein MdB seinen Job anständig machen? Das ist quasi unmöglich.“ Für Bernhard Schütz, der Hajo Eichwald spielt, erzählt die Serie davon, dass „das System stärker ist als man selbst. Eichwald ist kein böser Sadist, er handelt, um zu überleben. Bonn war anders. Bonn war provisorisch. Und Eichwald ist ein Bonner. Hier in Berlin kommt er unter die Räder in dieser Machtmaschine.“ Es gibt eine Szene, die das auf den Punkt bringt. Hajo hat gerade erfahren, dass sein Konkurrent Bornsen ins Büro nebenan zieht. Also setzt er sich mit seinem Pressesprecher Sebastian (Leon Ullrich) und seiner Büroleiterin Julia (Lucie Heinze) zusammen, um sich ein fieses Willkommensgeschenk auszudenken. Hajo: „Du besorgst einen Karton, den größten, den du kriegen kannst und dann kackt jeder von uns rein. Schleife drum, dann kriegt der Bornsen den ins Büro. Als Warnung.“ Sebastian: „Fänd ich ne frische Idee. Hab‘ ich so noch nicht gesehen.“ Julia: „Ich find‘, das ist ne total beknackte Idee. Und nicht nur, weil ich wahrscheinlich den ganzen Tag mit dem Karton hinter euch herrennen muss.“ Sebastian: „Ach Julia, das ist doch schnell gemacht.“ Hajo: „Naja, Julia hat recht. Das ist nicht subtil genug. In Bonn konntest du so etwas noch machen, aber hier in Berlin ist die Kunst, die Scheiße über die Bande zu spielen.“ Politik war schon immer dreckig, aber wenigstens kannte man die Regeln. Und Kartons voller Kacke, das ist immerhin ehrlich, meint Schauspieler Bernhard Schütz. „Exkremente, die Verdauung, das Metabolische – das ist doch großartig, viel näher am Menschen dran. Kacke ist was, was zum Leben gehört. Hier in Berlin wird immer so getan, als ob Ratio unterwegs wäre. Aber ich glaube, dass in einem Haufen von Schwachsinn mehr Wahrheit steckt als in einem Haufen von Wahrheit.“ Wahrheit in einem Haufen von Schwachsinn – das ist es, was „Eichwald, MdB“ in den besten Momenten liefert. In schlechteren Momenten wirkt es wie eine workplace comedy, ein bisschen, als hätte man Stromberg in den Bundestag verlegt: etwa, wenn Pressesprecher Sebastian sein allabendliches Work-out-Programm veranstaltet oder Hajos Referent Berndt (Rainer Reiners) über sein Fantasy-Football-Team spricht. Aber es gibt sie, diese großartigen kathartischen Momente, wo Satire so bitter wahr wird. Wenn nach einem langen stressigen Tag das Fass überläuft und Bernd Hajo mit der Krawatte an die Gurgel geht. Und dann neben ihnen Julia und Sebastian stehen, ganz ruhig, mit den Smartphones in der Hand – und halten drauf. Filmen mit. Weil man ja nie weiß, wann man so etwas brauchen kann. Eichwald, MdB. Vierteilige Politsatire. Ab Donnerstag, 16. April, 22:45 Uhr auf ZDFneo und ab Freitag, 29. Mai um 23.00 Uhr im ZDF
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Philipp Daum
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Die neue ZDF-Politsatire „Eichwald, MdB“ zeigt einen alternden Bundestagsabgeordneten, der an der schönen neuen digitalen Welt und dem Berliner Politzirkus verzweifelt. Ein Relikt aus Bonner Tagen
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kultur
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2015-04-16T10:53:13+0200
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2015-04-16T10:53:13+0200
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https://www.cicero.de//kultur/politsatire-eichwald-mdb-scheisse-ueber-bande-spielen/59132
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Corona und Politik - Das Bewusstsein für Grundrechte ist gewachsen
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In den letzten Wochen und Monaten häufen sich kritische Auseinandersetzungen mit der Coronapolitik. Das ist kein Wunder: Derzeit gibt es Streit um eines der allerletzten Relikte der Coronamaßnahmenära, die Maskenpflicht im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Das Häuflein ihrer Anhänger schrumpft, kapituliert aber nicht. Obwohl selbst die einst Härtesten der Hardliner wie der bayerische Ministerpräsident Söder sie nicht mehr befürworten, halten die Galionsfigur der bundesdeutschen Coronapolitik, der zur Exzentrik neigende Bundesgesundheitsminister Lauterbach, und seine abschmelzende Anhängerschaft daran fest und klammern sich an die Beibehaltung der zur Verfügung stehenden Rechtsgrundlagen bis zum letztmöglichen Datum. Wohlwissend, dass sie eine neue Mehrheit dafür nicht finden werden. Die Impfungen, die der Bundestag beinahe pflichtig gemacht hätte, erweisen sich als weniger wirksam als gedacht. Vor allem die beschworene und eingeforderte Solidarität erweist sich als Schimäre, weil der Schutz vor Ansteckung allenfalls marginal ist. Zugleich gibt es eine gewaltige Welle von Atemwegserkrankungen, welche auch darauf zurückgeführt wird, dass durch die Coronamaßnahmen die Immunsysteme aus der Übung geraten sind. Die Coronapolitik hat auch in anderen Bereichen Spuren hinterlassen: Zu nennen wären Bildungs- und Entwicklungsdefizite bei Kindern oder gewaltige Schuldenberge infolge der Stützung von Unternehmen, denen das Wirtschaften faktisch untersagt worden ist. Und schlussendlich sind international die politischen Musterbeispiele der Freunde scharfer Maßnahmen sehr in Verruf geraten. Sowohl in der demokratischen Variante Australiens und Neuseelands als auch in der totalitären chinesischen Version ist der extrem restriktive Ansatz der No-Covid-Politik gescheitert. In der Rückschau war die Coronapolitik also eher kein Erfolg. Weder in Hinblick auf ihre gesundheitspolitische Effektivität noch auf die Kosten-Nutzen-Bilanz und schon gar nicht bezüglich ihrer Wirkung auf die Bürgerrechte. Dennoch ist es wenig zielführend, retrospektiv anzuprangern und anzuklagen. Zum einen konnte beim Aufkommen des Virus niemand wissen, ob eine Grippe oder die große Pest auf uns zurollt. Letztere hätte die damals verfemte „maßnahmenkritische Klientel“, die aus heutiger Sicht oft richtig lag, tatsächlich ins Unrecht gesetzt. Zum anderen hat sich die Ordnung des Grundgesetzes in dieser Krise besser bewährt, als es oft dargestellt wird. So hat die föderale Struktur des Landes für Mäßigung gesorgt. Maßnahmen konnten nicht einfach top down als Ukas oktroyiert werden, sondern bedurften der Konsensfindung. Das hat zum einen das Tempo gemindert – ein oft vorgebrachter Kritikpunkt am Bundesstaat hat sich in diesem Fall als Stärke erwiesen. Zum anderen gab es in der Praxis konkurrierende landespolitische Politikentwürfe. Diese unterlagen dem Vergleich durch Fachleute und Wählerschaft und konnten der unterschiedlichen epidemischen und gesellschaftlichen Situation vor Ort bei allen Unzulänglichkeiten besser Rechnung tragen als ein zentral vorgegebenes Einheitsmodell. Mehr zum Thema: Auch die Gewaltenteilung hat besser funktioniert, als behauptet wird: Freilich wäre es besser gewesen, wenn weniger über die Nähe zwischen Verfassungsrichtern und Bundeskanzleramt hätte diskutiert werden müssen. Dass die Richter der Exekutive ein weniger enges Korsett geschnürt haben als auf anderen Feldern, ist hingegen Teil der richterlichen Unabhängigkeit. Und letztlich war es die dritte Gewalt in ihren regionalen Gliedern, die in Dutzenden Urteilen übereifrigen Amtsträgern Zügel angelegt hat. Die häufige Kritik, dass bei vielen Maßnahmen indes erst nach deren Auslaufen die Verfassungswidrigkeit festgestellt worden ist, ist ein Stück weit unfair: Das widerspricht der oft gehörten Klage, dass die Judikative Politik und Verwaltung zu wenige Spielräume lasse. Es dürfen eben nicht schon im Vorhinein so viele juristische Hürden errichtet werden, dass alle Handlungsoptionen verstellt sind. Und die nachträgliche Diagnose der Verfassungswidrigkeit stellt zumindest sicher, dass in Zukunft aus anderem Anlass nicht dieselbe Maßnahme aufs Tapet gebracht wird. Das System lernt. Dieser Befund gilt auch für den politischen Betrieb selbst. Auswüchse wie die Impfpflicht oder die berüchtigte „Osterruhe“, die Verhängung eines Blitzlockdowns von jetzt auf gleich, sind zwar aus der politischen Sphäre heraus zwar zunächst initiiert, aber auch wieder beerdigt worden. Die ebenfalls heftig kritisierte Medienlandschaft hat ihre demokratische Funktion als vierte Gewalt bei Weitem nicht so verfehlt, wie bisweilen suggeriert wird. Zwar kommt auch eine vielbeachtete Studie der Kommunikationswissenschaftler Maurer, Reinemann und Kruschinski zu dem Schluss, dass die Vielfalt der medial präsenten Fachleute relativ gering war und die gesundheitlichen Folgen medial intensiver diskutiert worden sind als die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen der Maßnahmen. Aber das Studienergebnis, welches besagt, dass es durchaus eine kritische mediale Begleitung der Coronapolitik gegeben habe, bestätigt sich auch aus der persönlichen Empirie: Insbesondere die privatwirtschaftliche Säule unseres Mediensystems, von YouTube-Halbamateuren bis hin zu renommierten Zeitungsverlagen, hat kritische Stimmen überall in der Bevölkerung hörbar gemacht. Die der bundesdeutsche Konsensdemokratie innewohnende Trägheit hat im Endeffekt dafür gesorgt, dass die Relikte der Coronapolitik uns auch Anfang 2023 begleiten werden wie der schmuddelige Schneerest des Winters, den die Frühlingssonne noch nicht beleckt hat. Zugleich aber hat die Verfassungsordnung des Landes mit seiner föderalen Struktur, den vielen Interessengruppen und Vetospielern verhindert, dass Regeln hierzulande so radikal ausfielen wie in den zentralistischen Republiken Italien und Frankreich. Im Gegenzug sind Sie dort schneller zurückgenommen worden. Angesichts dieser neuartigen Krise hat die freiheitlich-demokratische Grundordnung den Stresstest bestanden. Daran ändern auch überschießende Reaktionen oder die verfehlten martialischen und autoritären Wortspenden zahlreicher Entscheider und Prominenter nichts, die online angeprangert werden. Kein Irrweg konnte das Grundgesetz aus den Angeln heben. Es haben sich hingegen politische und vor allem verfassungsrechtliche Leitplanken und Lehren für die Zukunft ergeben, die darauf schließen lassen, dass das Gemeinwesen sich weiterentwickelt hat. Ein Eintreffen der pessimistischen Vermutung, dass die Coronapolitik zum Präzedenzfall oder zur neuen Norm des Regierens wird, ist daher nicht zu befürchten. Denn das Bewusstsein für Grundrechte und deren Abwägung ist universell gewachsen, bei Gegnern wie Befürwortern der Coronapolitik.
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Markus Karp
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In der Rückschau war die Coronapolitik fehlerbehaftet – aber die Ordnung des Grundgesetzes hat sich bewährt. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung hat den Stresstest bestanden.
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innenpolitik
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2022-12-20T12:59:35+0100
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2022-12-20T12:59:35+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/corona-und-politik-das-bewusstsein-fur-grundrechte-ist-gewachsen
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Peter Thiel – Der Milliardär, ohne den es Facebook nicht gäbe
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Seien Sie gewarnt! So oder ähnlich beginnen die Geschichten
amerikanischer Blogger und Journalisten über einen der
erfolgreichsten Internetinvestoren aller Zeiten. „Der Artikel wird
einige von Ihnen stinksauer machen“, heißt es auf Techcrunch, dem
wichtigsten IT-Blog, „weil es um Peter Thiel geht.“ Thiel polarisiert selbst in seinem natürlichen Habitat, dem
Silicon Valley. Den einen gilt er als Visionär, der Robotik und
Nanotechnologie vorantreibt. Die anderen betrachten ihn als
realitätsfremd und abgehoben, weil er in die Besiedlung von Ozeanen
investiert. Dem liberalen Geist des Silicon Valley begegnet Thiel
mit republikanisch- konservativen Vorstellungen. Akademische Eliten
verärgert er, weil er junge Talente per Stipendium zum
Studienabbruch überredet. Doch geht es um Peter Thiels
unternehmerisches Können, so herrscht kurzzeitig Einigkeit: Sein
Gespür für Informationstechnologie und ihre zukünftigen Trends sei
herausragend. Thiels bislang größter Coup war seine Investition in Facebook im Sommer 2004. Mit den Worten „Versau
es nicht“ gab Thiel als erster Geldgeber von außen dem damals
20-jährigen Harvard-Abbrecher Mark Zuckerberg 500.000 Dollar. Der
Rest der Geschichte ist bekannt: Das weltweit größte soziale
Netzwerk hat heute 845 Millionen Nutzer. Anfang Februar verkündete
das Unternehmen seinen bevorstehenden Börsengang. Die 44,7
Millionen Aktien, die Peter Thiel noch hält, werden dann
voraussichtlich zwei Milliarden Dollar wert sein. Die Liste der Thiel’schen Erfolge ist lang, an ihrem Anfang
steht die Gründung Paypals. Er kassierte 55 Millionen Dollar aus
dem Verkauf des Internetbezahldienstes an Ebay. Im selben Jahr, da
er Zuckerberg unter die Arme griff, startete er Palantir
Technologies: Deren Software hilft der Regierung, Kriminelle und
Terroristen aufzuspüren. 30 Millionen Dollar investierte Thiel in
die Firma, deren Marktwert heute bei 2,5 Milliarden Dollar liegt.
Weitere Beteiligungen hat er in der Risikokapitalgesellschaft
Founders Fund gebündelt, die seit Jahren beträchtliche Gewinne
erzielt. Thiel kennt aber auch das andere Extrem. Bei seinem Hedgefonds
Clarium Capital verließ ihn nach der Finanzkrise sein untrügliches
Gespür für Strategie und Timing. Dem kometenhaften Aufstieg des
Hedgefonds folgte ein desaströser Absturz. Aus sieben Milliarden
machte er in knapp vier Jahren 350 Millionen Dollar. Diese Niederlage hat der extrem ehrgeizige Rotschopf mit den
blauen Augen für seine Verhältnisse gut weggesteckt. Das war früher
anders: Ein ehemaliger Kommilitone erinnert sich, wie Thiel nach
einem verlorenen Schachspiel die Figuren vom Brett fegte und
erklärte: „Zeig mir einen guten Verlierer und ich zeige dir einen
Verlierer.“ Das Mathe- und Schachwunderkind war ein Einzelgänger,
der es genoss, zu Schachturnieren erst fünf Minuten vor seiner
Disqualifikation zu erscheinen – um seine Gegner aus der Fassung zu
bringen. Seite 2: „Sie nehmen den erstbesten Job, statt
unternehmerisch tätig zu werden“ Heute versetzt der 44-Jährige talentierten Nachwuchs nicht
länger in Angst und Schrecken, sondern vergibt jährlich rund 20
Stipendien an jene, die eine vielversprechende Idee unternehmerisch
umsetzen wollen. Anforderungen: Sie müssen jünger als 20 sein – und
umgehend die Uni verlassen. Obwohl selbst an der Eliteschule
Stanford ausgebildet, glaubt Thiel nicht mehr an den Nutzen einer
akademischen Ausbildung. Im Gegenteil, er hält sie für
innovationsfeindlich, weil sich die Studenten wegen hohen
Studiengebühren verschulden müssen. „Sie nehmen dann den erstbesten
Job an, statt unternehmerisch tätig zu werden“, kritisiert
Thiel. Überhaupt ist einer der größten Profiteure der sogenannten
Internetrevolution enttäuscht von der Entwicklung der vergangenen
Jahre. „Wir wollten fliegende Autos, stattdessen bekamen wir 140
Zeichen“, moniert er in Anspielung auf den Kurznachrichtendienst
Twitter und warnt vor den wirtschaftlichen Folgen stagnierender
Technologie. Von politischer Seite verspricht sich Thiel keinerlei
Impulse. „Ich kenne keinen Politiker in den USA, der im
Gesundheitswesen kürzen würde, um das Geld in biotechnologische
Forschung zu investieren“, sagt Thiel. Staatliche Eingriffe in
Wirtschaft und Gesellschaft widersprechen ohnehin seiner Ideologie
als Verfechter eines radikalen Individualismus’. Um Biotechnologie kümmert sich Thiel daher lieber selbst. Im
Oktober 2011 gründete er „Breakout Labs“, ein Förderprogramm für
Forscher, die „radikalste Ideen verfolgen und an den Grenzen von
Wissenschaft und Technik rütteln“. In diesem Zusammenhang erscheint
es nahezu logisch, dass er auch in ein biotechnologisches Start-up
investiert hat, das zunächst den Alterungsprozess und
schlussendlich auch den Tod überwinden will. Auf der einen Seite akzeptiert der gebürtige Frankfurter keine
Grenzen, andere sollen dagegen verschlossen bleiben: Einer
Anti-Einwanderungsorganisation soll der Einwanderersohn eine
Million Dollar gespendet haben. Bekannte in Silicon Valley hat es
verdutzt. Mehrere Tausend Facebook-User forderten empört seinen
Rauswurf aus dem Unternehmen. Thiel ließ das kalt. Auch seine
sozialpolitischen Ideen sind eben eher gewöhnungsbedürftig.
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Er ist einer der erfolgreichsten Internetinvestoren aller Zeiten: Peter Thiel. Im Silicon Valley wurde er Milliardär, doch die Internetrevolution hat ihn zutiefst enttäuscht
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wirtschaft
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2012-03-27T15:29:20+0200
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2012-03-27T15:29:20+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/der-milliardaer-ohne-den-es-facebook-nicht-gaebe/48772
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Heiko Teggatz im Gespräch mit Ben Krischke - Cicero Politik Podcast: „Stationäre Grenzkontrollen wären dringend angezeigt“
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„2015 darf sich nicht wiederholen“, war in den vergangenen Jahren häufiger zu lesen und zu hören. Gemeint ist die Flüchtlingskrise damals und der Kontrollverlust der Bundesrepublik angesichts der großen Zahl von Schutzsuchenden, die nach Deutschland gekommen sind. Es ist ein Satz, den die Bürger im Land nicht als Absichtserklärung verstanden haben dürften, sondern als Versprechen. Doch im Herbst 2022 schlagen Kommunen, Länder und Sicherheitskreise erneut Alarm. Weil gut eine Million Kriegsvertriebene aus der Ukraine in Deutschland gestrandet sind und auch die Fluchtbewegungen aus anderen Ländern wieder zugenommen haben, wird es eng in den Asylunterkünften. Mancherorts werden bereits Zelte aufgestellt. „Sie ist wieder da - die Migrationskrise kehrt zurück“, titeln wir in unserer November-Ausgabe. Für diese Titelgeschichte hat Cicero mit Behörden, Sicherheitskreisen, Migrationsforschern und weiteren Protagonisten gesprochen. Einer von ihnen ist Heiko Teggatz, Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Bereits Ende September sorgte ein Cicero-Interview mit Teggatz für großes Aufsehen. Seine These damals: „Wir stecken schon mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise.“ Nun ist Teggatz zu Gast im Cicero Politik Podcast. Um einen erneuten Kontrollverlust zu verhindern, fordert Teggatz unter anderem die Wiedereinführung stationärer Grenzkontrollen, insbesondere an der deutsch-tschechischen Grenze. Nur so, glaubt Teggatz, könne man illegale Migration sinnvoll bekämpfen und unerlaubte Einreisen verhindern. Problematisch sieht er die Rolle der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in dem Zusammenhang: „Bei Frau Faeser habe ich so ein bisschen den Eindruck, dass sie meint, wenn sie jetzt die Bundespolizei verstärkt einsetzt, um die unerlaubte Einreise nach Deutschland zu verhindern, sie eher rechten Strömen Rückenwind gibt. Das sehe ich komplett anders.“ Laut Teggatz sei das Gegenteil der Fall: Wer Rechtsextremismus verhindern will, müsse für eine geordnete Einwanderung sorgen. Ben Krischke hat mit Teggatz gesprochen. Das Gespräch wurde am 2. November 2022 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Ben Krischke
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Im Herbst 2022 schlagen Kommunen, Länder und Sicherheitskreise Alarm. Die große Zahl der Flüchtlinge, die dieses Jahr aus der Ukraine, aber auch aus anderen Ländern der Welt gekommen sind, bringen die Aufnahmekapazitäten an ihre Grenzen. Im Cicero Politik Podcast spricht Heiko Teggatz, Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft, über die Gründe für die neue Flüchtlingskrise und was er sich von der Bundesregierung erwartet, um einen erneuten Kontrollverlust verhindern zu können.
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"Migration",
"Flüchtlingskrise",
"Polizei",
"Podcast"
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2022-11-11T08:27:05+0100
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2022-11-11T08:27:05+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/heiko-teggatz-podcast-cicero-migration-fluechtlinge-bundespolizei
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Piratenexperte - „Der Piraten-Wahlkampf grenzt schon an Betrug“
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Herr Braun, was genau stört Sie an den Piraten?Sie sind so verstrahlt, dass man sagen könnte: Immer das Gegenteil von dem, was die Piraten sagen, ist wahr. Beispiel Netzpolitik: Die Piraten schreiben überall, das Internet sei ein freies Medium. In Wirklichkeit haben wir gesehen, dass das Internet das bestüberwachte Medium in der Geschichte der Menschheit ist. Aus meiner Zeit als Mitarbeiter der Piraten-Fraktion im Saarland weiß ich, dass sich die Piraten in der Politik viel zu wenig angestrengt haben. Sie kamen um 10 oder 11 Uhr ins Büro und sind schon wieder gegen 15.30 oder 16 Uhr gegangen. Durch mehr Anstrengung hätten die Piraten mehr in der Politik erreichen können?Ja, durch zeitliche und inhaltliche Anstrengung. Da mangelt’s. Sie selbst haben als Referent der Piratenfraktion im Saarland gearbeitet. Was hat Sie zunächst zu den Piraten getrieben?Mehrere Punkte, die die Piraten ausgestrahlt haben: Zunächst, dass sie die Generation der Unter-35-Jährigen am besten vertreten. Diese Generation wird in der Politik mangelhaft repräsentiert. Auch die Grünen sind eher die Partei der älteren Lehrer und Angestellten. Zweitens dachte ich, die Politik müsse kreativer werden. Zum Dritten gehe ich bis heute davon aus, dass die Politik noch mehr Internetkompetenz braucht – zum Beispiel bei der Gestaltung des Informatikunterrichts, der oft nur rudimentär an den Schulen vorhanden ist. Da dachte ich, dass die Piraten etwas mehr Innovation in die Politik bringen könnten. Wie in Ihrem Buch nachzulesen, sind diese Erwartungen enttäuscht worden. Lag die Motivation für das Buch vielleicht auch in persönlichen Erfahrungen mit Mitgliedern der Piraten?Ich halte viele Abgeordnete nach wie vor persönlich für sehr nett. Das kann ich trennen. Einzelne Piraten-Mitglieder sind sicherlich auch im Bereich der Informatik kompetent. Nur im Allgemeinen haben die Piraten politisch viel versprochen und sehr wenig geliefert. Trotzdem ist Ihr Buch zunächst anonym erschienen. Warum?Das war eine Entscheidung des Verlags. Als das mit dem Buchprojekt anfing, arbeitete ich noch in der Fraktion und der Verlag wollte bereits eine Vorschau drucken. Mir wäre es lieber gewesen, wenn das Buch von Anfang an unter meinem Namen erschienen wäre. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung] Nun beschäftigen wir uns seit Wochen mit der NSA-Affäre – Datenschutz und Transparenz sind Kernthemen der Piraten. Ist es nicht wichtiger denn je, dass eine Partei genau diese Themen besetzt?Das ist das Image der Piraten. Dann muss man sich aber anschauen, dass die Piraten ohne Not zum Beispiel massiv auf Facebook vertreten sind. Dabei sammelt Facebook so viele Daten, wie es nur kann – und erstellt Schattenprofile von Menschen, die gar nicht bei Facebook angemeldet sind. Es ist peinlich, dass die Piraten auf Facebook sind. Was will die Partei da zur NSA-Affäre sagen? Außerdem kann jeder schon heute seine Daten verschlüsseln. Dafür brauche ich die Piraten nicht. Ein weiteres Kernanliegen der Piraten ist die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung der Gesellschaft. Verändert sich unsere Gesellschaft durch das Internet nicht?Es verändert sich tatsächlich viel. Einiges schneller, einiges langsamer als man gedacht hat. Aber gerade in der Politik ändert das Internet gar nicht viel oder ist sogar schädlich. Die Piraten haben bewiesen, dass es zu dem repräsentativ-parlamentarischen System keine Alternative gibt – und vielleicht muss es die auch gar nicht geben. Bei dem Konzept der Piraten, Liquid Democracy, hat sich außerdem in der Praxis gezeigt, dass die Menschen gar nicht im Detail abstimmen wollen. Haben Sie Beispiele?Ein gutes Beispiel ist Liquid Friesland, ein Online-Feedback-System, das nach dem Vorbild von Liquid Democracy entwickelt worden ist. Das Projekt ist in meinen Augen gescheitert: Noch nicht einmal 500 Bürger haben sich überhaupt einen Zugang geholt (Anm. d. Red.: Der Landkreis Friesland hat mehr als 97.000 Einwohner). Auch die Piraten selbst liefern ein gutes Beispiel für das Scheitern von Liquid Democracy: Als es im vergangenen Jahr die Debatte um Beschneidung gab, wollte der nordrhein-westfälische Landesverband der Piraten die Meinung seiner Mitglieder einholen – gerade einmal 20 haben sich dann beteiligt. Auch im Saarland kamen von der Basis teilweise nur drei Meinungen zu einer Gesetzesvorlage. Mit dem repräsentativen System haben wir eine Grundlage, die funktioniert. Die Ideen der Piraten funktionieren bisher überhaupt nicht. Trotzdem halten die Piraten an dem Konzept Liquid Democracy fest.Es schockiert mich, dass die Piraten immer noch mit den alten Sprüchen zur Bundestagswahl antreten. Die Arbeit in allen vier Landtagen hat gezeigt: Es funktioniert im Alltag nicht. Das grenzt schon an Betrug, damit jetzt wieder bei der Bundestagswahl anzutreten. Nun ist Liquid Democracy nur ein Aspekt. Im Allgemeinen stehen die Piraten doch für Internetkompetenz.Die Internet-Thesen der Piraten sind falsch. Zu einem vollständigen Bild gehört auch: Auf Wikipedia gehören nur die wenigsten Nutzer zu den aktiven Schreibern. Die meisten Blogs erreichen nur sehr wenige Leser. Die Piraten sehen das Internet durch eine rosarote Brille und viele negative Aspekte werden ausgeblendet. Zum Beispiel verschmelzen im Internet oft Werbung, PR und redaktionelle Inhalte. Das ist eindeutig ein Rückschritt. Außerdem dachten die Piraten, dass das Netz vor allem dem einzelnen Nutzer dient. Dabei ziehen die etablierten Mächte auch dort fast genauso ihr Ding durch. Das Internet ist nicht das einzige Thema der Piraten, seit dem letzten Bundesparteitag haben sie ihr Profil auch in anderen Fragen geschärft. Sprechen die Piraten dadurch nicht mehr Menschen an?Es gibt ja kaum einen Punkt im Programm, den nicht auch Grüne oder Linkspartei schon vertreten. Ich habe mir die Erweiterung des Piratenprogramms angeschaut. Sie ist teilweise haarsträubend bis witzig. Kurioserweise haben die Piraten zum Beispiel einfach Artikel aus dem Grundgesetz oder der Allgemeinen Menschenrechtskonvention in ihrem Programm sozusagen „bestätigt“. Das ist unnötig. Generell sind Gesetze nur ein erster Schritt – gute Gesetze gibt es überall. Es kommt vielmehr auf die Ausführung an. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung] In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Piraten nicht zur Politik passen, weil sie „nette Menschen von nebenan sind.“ Sollen nette Menschen von nebenan keine Politik machen?Nein, so würde ich das nicht sagen. Den Piraten fehlt einfach der Plan, was sie in der Politik wollen, außer den wiederholten Floskeln wie „Mehr Mitbestimmung über das Internet“ und Transparenz. In irgendeiner fernen, idealen Zukunft kann dies vielleicht funktionieren. Für die konkrete Parlamentsarbeit eignen sich die Prinzipien nicht. Die Piraten hätten einfach die Menschen fragen können, welche Themen sie bei den anderen Parteien vermissen. Durch die Piraten ist das Thema Netzpolitik in der Öffentlichkeit und in anderen Parteien wichtiger geworden.Ja, stimmt. Die Piraten haben Politikern, die sich mit Netzpolitik in anderen Parteien beschäftigen, zu einer größeren Karriere verholfen. Dorothee Bär wird in der CSU jetzt bestimmt doppelt so ernst genommen. Jenseits aller Kritik: Haben die Piraten etwas richtig gemacht?Ja, die authentische Ansprache von Wählerinnen und Wählern. Die Wahlplakate der Piraten sprechen mit Slogans wie „Warum hänge ich hier eigentlich? Ihr geht ja eh nicht wählen“ auch Nichtwähler an. In dieser Wahlwerbung steckt viel Herzblut drin. Mit wenig Mitteln junge Menschen authentisch anzusprechen – das haben die Piraten schon gut hinbekommen.
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Sascha Brandt
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In seinem Buch „Digital Naiv“ greift Autor und Ex-Piraten-Mitarbeiter Johannes Braun die Piratenpartei frontal an. Im Gespräch mit Cicero Online erklärt Braun, warum er Liquid Democracy für gescheitert hält und er den Piraten mangelnde Internet-Kenntnisse bescheinigt
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innenpolitik
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2013-08-28T14:03:01+0200
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2013-08-28T14:03:01+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ex-mitarbeiter-braun-der-piraten-wahlkampf-grenzt-schon-betrug/55562
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Regierungskrise - Exklusiv für Xing-Leser: Der Ampel-Gau
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Auf dem regennassen Pflaster kleben kleine Namensschilder: Robert Habeck, Annalena Baerbock, Christian Lindner. Da sollen sie sich schön aufreihen, am Hafen der galicischen Hauptstadt A Coruña. Gleich kommt der Kanzler. Die Militärkapelle spielt die Nationalhymne. Dann marschiert schon Olaf Scholz zusammen mit seinem spanischen Kollegen an der wohlplatzierten Formation entlang. So brav aufgereiht hat der deutsche Regierungschef seine Ministerinnen und Minister eigentlich nie vor Augen, nur im Ausland. In Wahrheit springen sie durcheinander, bleiben nicht an ihrem Platz – und nerven. Seit einem Jahr ist die als „Ampel“ bezeichnete Bundesregierung im Amt – und nun eine Weltkrise weiter. Inzwischen herrscht Chaos, besser gesagt: eine rot-gelb-grüne Mischung aus Angst, Selbstzufriedenheit – und Größenwahn. Da musste der Kanzler ein Machtwort sprechen. Im politischen Berlin macht ein Spruch die Runde, der die ungleichen Partner innerlich zusammenhalten soll, der quasi auf humorvolle Art dem absoluten Krisenmodus der Regierung eine höhere Bedeutung anzudichten versucht. Er lautet: „Wenn die Ampel ausfällt, gilt wieder rechts vor links.“ Das eint sie noch, der Kampf gegen die Alternative, die 16 Jahre regiert hat; und gegen die Alternative, die auch so heißt – gegen die radikalisierte Unzufriedenheit, die jetzt verstärkt auf die Straße drängt. Sie waren als Zukunftsbündnis gestartet. „Mehr Fortschritt wagen“ lautete ihr Motto, ein gewisser historischer Anspruch sollte da mitschwingen. Oder war es Hybris? Lange ist es her. Mit dem Showdown im Ampelstreit ist der letzte Glanz der neuen Regierungsformation verschwunden. Nun ist es kein Zweckbündnis mehr, nur noch ein Notbündnis. Ende offen. Mit Verweis auf seine Richtlinienkompetenz hat Olaf Scholz verfügt, dass bis April die drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke in Betrieb bleiben sollen. Das ist zunächst ein Sieg für die FDP, denn die Grünen wurden zwei Tage nach ihrem Parteitag vorgeführt. Letztlich setzten sich aber auch die Liberalen nicht wirklich durch, die bis 2024 auf Kernenergie zurückgreifen wollen. Und überhaupt ist alles in diesen Zeiten immer nur vorläufig. Die Spitzen-Grünen verteidigen tapfer ihre Entscheidung – die Knute des Kanzlers hilft ihnen, denn so mussten sie sich formal nicht verbiegen. Allein Jürgen Trittin wütet noch. „Mag sein, dass der Brief [des Kanzlers] von der Geschäftsordnung der Bundesregierung gedeckt ist, vom Grundgesetz ist er es nicht“, poltert er. Der grüne Veteran agiert noch immer als Schattenmacht der Ökopartei. Die Ampel flackert, doch ausstellen will sie bislang noch keiner. Die Ampelregierung war völlig anders aufgeschaltet worden. Als grüne Welle für den Fortschritt. Nun zwingen sie der Ukrainekrieg, vor allem aber die dramatische Energiekrise und die steigende Inflation in einen Modus, der ihr nicht liegt, der wenig Vision braucht, sondern Feuerwehrqualitäten. Tatsächlich könnte Deutschland in eine wirklich existenzielle Notlage geraten. Auch wenn einem nach Eurokrise, Flüchtlingskrise und Pandemie keine Steigerungsformen einfallen, so setzen die aktuellen Umstände dem allen tatsächlich noch die Krone auf. Diese Erkenntnis sickert in der Ampel erst langsam von oben nach unten durch – manchmal auch umgekehrt von unten nach oben. Mitunter per Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Es geht um Entlastung, Nothilfe und Rettung – und das ist keineswegs die Politik, die sich die drei von der Solarstrom-Tankstelle vorgestellt haben. Die Ampel nimmt Braunkohle- und Kernkraftwerke wieder in Betrieb und baut sogar neue LNG-Terminals für Flüssiggas – zumindest für die Grünen eigentlich Teufelszeug. Immerhin zeigen sie eine gewisse Handlungsfähigkeit, aber es ist nicht die Art Politik, für die sie angetreten waren. Die Ministerien sind dafür nicht richtig aufgestellt; es fehlt schlicht an Krisenkompetenz und Notlagensachverstand. Olaf Scholz sieht das durchaus. Er ist ein Kanzler mit langer Regierungserfahrung – nun mit zwei Partnern, von denen noch nie einer ein Ministerium von innen beziehungsweise von der Spitze aus gesehen hat. Deswegen ist das Kanzleramt so wichtig wie nie, die Verteidigungspolitik hat Scholz schon weitgehend an sich gezogen. Nun kommt auch in der Wirtschafts- und Umweltpolitik das Dirigat von oben. Scholz hat es nur mit Greenhorns zu tun, so zumindest gibt sich der alte Haudegen bisweilen selbst und kolportieren es manche aus seinem Umfeld – vielleicht eine Art Sam Hawkens der deutschen Politik, nur nicht ganz so albern. Der Kanzler weiß es also besser, meint er. Doch das wiederum nervt die anderen kolossal: dass er es immer besser weiß, dieser Kanzler, mit dem eigentlich keiner gerechnet hatte. Deswegen schauen sie ihm auch nicht gerne zu, wenn er an ihnen vorbeischreitet, wie jüngst in Spanien. Der Chef gehe einem bisweilen auf den Geist, so wird es aus dem Kabinett kolportiert. Und jetzt auch noch der Basta-
Brief zur Kernenergie. Der Glutkern dieser Regierung weist erhebliche Zerfallserscheinungen auf. Erinnern wir uns an das Bild nach den Koalitionsverhandlungen, das die „Ampel“ mit strahlenden Gesichtern zeigte: Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Olaf Scholz schritten Seit an Seit in Richtung Regierungsverantwortung. Doch dieses Quartett ist keine zugkräftige Quadriga mehr. Vor allem hat sich die innere Statik verschoben. Scholz und Lindner bilden insgeheim eine sozialliberale Achse, der das grüne Duo gegenübersteht. Die Ampel ist nicht zu einem rot-grünen Projekt mit gelbem Anhängsel geworden, sondern fast eher umgekehrt. An dem energiereichen grünen Kraftfeld allerdings arbeiten sich Rot wie Gelb ab. Weder mit Habeck noch mit Baerbock verbindet Scholz eine ähnliche Nähe, wie sie Gerhard Schröder und Joschka Fischer trotz aller Eitelkeiten einst hatten. Damals in den 1990ern, da war Rot-Grün noch ein Generationenprojekt. Der Kanzler und der Finanzminister aber haben einen Draht zueinander. Ein enger Vertrauter in der SPD sagt es so: „Scholz pflegt Lindner.“ So etwas kann man über den grünen Vizekanzler nicht sagen. Scholz kennt das Finanzministerium in- und auswendig und redet mit dem FDP-Chef intern auf Augenhöhe, heißt es. Über Robert Habeck hingegen kursieren im SPD-Umfeld des Kanzleramts nur böse Witze. Wenn man an den Wirtschaftsminister eine E-Mail schreibe und nach der Uhrzeit frage, dann dauere es 40 Tage, bis man eine Antwort erhalte. Denn schließlich müssten alle seine sieben Staatssekretäre eingebunden, möglicherweise auch noch NGO-Expertise eingeholt und dann auch eine passende Kommunikation entwickelt werden. Ein Insider sagt: Scholz und Lindner trinken Wein zusammen. Habeck mag lieber Bier – und gehört einfach nicht dazu. Leider sei der Bundeswirtschaftsminister auch schnell beleidigt, weiß einer aus dem Inner Circle zu berichten. Auch am Streit über die steigenden Gaspreise und den Umgang damit lässt sich diese innere Verfasstheit der Koalition ablesen. Mit Lindners Diktum, dass an der Schuldenbremse nicht zu rütteln sei, startete die Regierung in den Herbst. Scholz hatte ihm offenbar zunächst hierfür die Rückendeckung gegeben, zum Ärger der Grünen. Zur Lösung des Problems wurde aber der grüne Bundeswirtschaftsminister auf den Hof getrieben und kam mit der Gasumlage zurück. Das Geld zur Rettung der Energieversorger sollte lieber zunächst den Verbrauchern abgenommen werden, anstatt neue Schulden zu machen. Habeck musste dann die ungeliebte Gasumlage durchboxen, bis klar war, dass das Instrument nicht nur zu umstritten und komplex war, sondern auch nicht schnell genug greifen würde. Kurzerhand wurde der Gasversorger Uniper verstaatlicht. Habeck durfte draußen den Erklärer geben, Scholz und Lindner zogen drinnen die Strippen. Es musste doch mehr Geld her, wurde klar. Lindner gab nach, der Kanzler verkündete den „Doppelwumms“ mit frischen 200 Milliarden Euro zur Deutschlandrettung. Das hätte man doch früher haben können, meinten die Grünen. Doch für Scholz-Lindner durfte es offenbar so lange dauern. Natürlich ist keine wirkliche Liebe zwischen SPD und FDP entstanden; nicht die Parteien sind hier entscheidend, nur die beiden Spitzen gehen voran. Zu seiner Partei hat Scholz sowieso ein angespanntes Verhältnis, spätestens seit die Genossen ihn nicht zum Vorsitzenden machten. Aber vom Kanzleramt aus gedacht ist der Modus der Koalition ähnlich der von Scholz initiierten konzertierten Aktion. Mit Sozialdemokraten und Liberalen finden in größter Not sozusagen auch die politischen Arme der Sozialpartner zusammen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer suchen einen Ausgleich, um die Probleme zu lösen. Nur die Grünen stören dabei bisweilen – mit der ihnen eigenen Selbstgewissheit, alleine über die Expertise zur Rettung der Menschheit zu verfügen. Auch strategisch gesehen ist die FDP für die SPD eigentlich ungefährlich: ein ungeliebter, aber letztlich harmloser Partner, von einem anderen Spielfeld eben. Die Grünen hingegen sind die eigentlichen Gegner der SPD, sie werden bis zur nächsten Bundestagswahl um die Vorherrschaft kämpfen. Gegen die Grünen muss sich die SPD profilieren, das hat die alte und verunsicherte Volkspartei inzwischen gemerkt. Assimilation ist da der falsche Weg. Daraus resultiert die innere Geometrie der Ampel. Das ist Scholz’ Antrieb: Mit Lindner könnte er Kanzler bleiben, mit den Grünen nur vielleicht. Die zweite große Bruchlinie verläuft innerhalb der Grünen, manchmal verborgen, manchmal bricht sie auf wie ein verkrusteter Vulkan. Es ist die alte Polarität zwischen Realos und Fundis, die inzwischen auf beiden Seiten deutlich smarter daherkommt. Annalena Baerbock ist dabei zum Kopf der „Alten“ und der „Aktivist*innen“ geworden. Sie hat für ihre Ukrainepolitik viel Anerkennung bekommen und kann sich gleichzeitig aus dem Schlamassel der schmutzigen Realpolitik oft raushalten. Für die Feministinnen, linken Träumer und Anti-Atomkraft-Veteranen – und wohl auch für Trittin – ist sie aber zur Galionsfigur geworden. Und zwar gegen den Hyperpragmatiker Habeck, der die Partei zu einer echten Volkspartei machen will, bürgerliche Aussöhnung und Vaterlandsliebe inklusive. Die Sehnsucht nach dem Kanzleramt ist bei den Grünen noch da, die Konkurrenz zwischen Habeck und Baerbock auch. Umso größer ist die Wut im Habeck-Lager, dass bei den Grünen nicht alle gemeinsam an einem Strang ziehen und manche doch genüsslich und zumindest gelangweilt zusehen, wie der Bundeswirtschaftsminister ins Sperrfeuer der Opposition und der öffentlichen Meinung gerät. Im Oktober kursierte ein Brandbrief eines einst hochrangigen Grünen-Politikers unter den Mitgliedern der Bundestagsfraktion, der mit scharfen Worten die innere Schwächung der Grünen geißelte und Solidarität und Zusammenhalt anmahnte. „Unser Vizekanzler“ stehe unter Dauerfeuer, doch „wo ist die Grüne Führungsebene“, klagt der Vordenker von der Seitenlinie. Es gebe eine „kollektive Verweigerung, Robert in der öffentlichen Medienkommunikation zu verteidigen“, heißt es in dem Schreiben, das der Redaktion vorliegt. In einer derart brisanten Lage sei eine „professionelle beinharte Gegenkommunikation“ zu erwarten, nun sei das Ergebnis ein „kommunikativer Gau“. Selbst in der Frage der Kernenergie macht der Briefschreiber von Anfang an eklatante strategische Fehler seiner Parteiführung aus. Ende August hatte Baerbock es als „Irrsinn“ bezeichnet, vom Atomausstieg abzurücken. Lediglich um einen Streckbetrieb solle es im Notfall gehen. Dann begann das Geschacher, in dessen Verlauf Habeck nach den Ergebnissen des sogenannten Stresstests zunächst noch einen neuen Mittelweg zwischen „Abschalten“ und „Streckbetrieb“ fand – nämlich den „Reservebetrieb“. (Von „Weiterbetrieb“ etwa bis 2024 wollte man bei den Grünen ja schon gar nicht reden.) Doch dieses Herumlavieren in den verwendeten Kompromissformeln hatte längst keinen Realitätsbezug mehr. Die Formel von Anfang September wurde also Ende des Monats kassiert, als Habeck dann doch der verdutzten Grünen-Fraktion den Weiterbetrieb der beiden süddeutschen Kraftwerke ankündigte – bei versprochener Abschaltung des AKW Emsland. Der ganze Kernenergie-Streit, der dann in den Konflikt mit Lindner mündete und ihm erst die Möglichkeit dazu gab, noch einmal draufzusatteln, offenbart eben das steife grüne Korsett, in dem Habeck steckt – und aus dem ihn auch die Parteifreunde nicht befreien. Es ist die innergrüne Spannungslage, die hier die politische Debatte bestimmt und die Ampel flackern lässt. Nur so wurde das Kanzler-Basta im Oktober notwendig. In dem internen Schreiben wird diese inwendige Zerrüttung der Grünen exemplarisch beschrieben. Die Anklage geht gegen die eigenen Parteifreunde: „Ihr selbst, nachdem ihr mantramäßig die Ergebnisse des Stresstests als Leitlinie politischen Handelns vorgegeben habt, negiert das Ergebnis und zwingt Habeck in einen Kompromiss, der die Eigenschaft ‚faul‘ auf der Stirn trägt.“ Und die Analyse geht noch weiter, sie offenbart Dysfunktionalitäten im Maschinenraum der grünen Regierungspartei. „Das heißt, ihr setzt eigene Ursachen für die Angreifbarkeit des Ministers und seid nicht in der Lage, dafür Verantwortung zu übernehmen, sondern lasst ihn im Regen stehen.“ Geradezu verblüffend ist, wie die Grünen mit dieser Dilemmasituation umgehen. Man macht sich etwas vor, auch gegenseitig, und spielt eine Art gelenkte Harmonie. Die als vermeintliche Klartext- und Argumentepartei gegründete grüne Bewegung ist zur Pippi-Langstrumpf-Partei geworden, die sich eben die Welt so macht, wie es ihr gefällt. Auf dem jüngsten Bundesparteitag verstieg sich Habeck sogar dazu, Kohleverstromung und Atomenergie in einem Atemzug zu nennen und als Treiber der Energiekrise zu brandmarken: Es wird das Böse determiniert, nicht nach Lösungen für Probleme gesucht. „Wenn unsere Welt in Frage steht: Antworten“ lautete das Motto des Grünen-Parteitags in Bonn. Das ist eine etwas gekünstelte Formulierung, die die Verfasstheit dieser Partei auf den zweiten Blick aber gut umschreibt. Denn sie lässt offen, was „unsere Welt“ ist und wer „Antworten“ gibt. Selbst wenn also das Ende der Kernenergie für die Grünen als politisches Ziel absolut gesetzt bleibt, hätte die Partei strategisch offenbar anders agieren müssen. In dem Brandbrief heißt es: „Und es wäre nur klug gewesen, mit einem offensiv vertretenen Streckbetrieb das Heft des Handelns und damit auch die endgültige Deadline im April nächsten Jahres in der Hand zu behalten, anstatt sich jagen zu lassen, den Pro-Atom-Ideologen Futter zu geben und sie mit der nächsten Forderung nach der Anschaffung neuer Brennstäbe zu ermutigen.“ Nur: Wer will jetzt bei den Grünen hinterher klüger werden? Die Grünen haben in diesem Jahr schon einige programmatische Kröten schlucken müssen, etwa das 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr. Und dennoch haben sie als Partei noch nicht in einen vernünftigen Regierungsmodus gefunden, der Parteitagslyrik und Regierungspragmatik in einen Zusammenhang bringt. Unter dem Einfluss der Rede von Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer beschlossen die Parteitagsdelegierten in Bonn, die Regierung möge auch noch einen 100-Milliarden-Fonds zum Klimaschutz einrichten. Jeder im Berliner Regierungsviertel weiß, dass der nicht kommen wird. Doch beim Parteitag obsiegte die Wohlfühllogik. „Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune.“ In der Ampel flackert aber nicht nur das grüne Licht, sondern auch dem gelben droht der Blackout. Die Grünen stolpern eher über ihr zu großes Selbstbewusstsein, die FDP hingegen agiere oft „angstgetrieben“, wie es ein Parteifunktionär beschreibt. Die kleine Angst schleicht sich bei den Liberalen jeden Tag ein, ob sie auch genug Eigenes einbringen und damit sichtbar werden können in dieser links dominierten Drei-Farben-Regierung. Und dann ist da noch die große Angst vor einem politischen Déja-vu: das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde bei der nächsten Bundestagswahl. Das Menetekel von 2013, als die FDP erstmals in der Geschichte aus dem Bundestag flog, sitzt ihnen in den Knochen. Sogar in den Leitungsrunden mancher FDP-Ministerien, die inzwischen oft zu gelben Cliquen mutiert sind, wird immer wieder dieses „2013“ geraunt, um vor diesem Worst-Case-Szenario politische Projekte und Maßnahmen zu wägen. Unter Bildungspolitikern wird sogar die Bafög-Erhöhung im Kontext der Pflege der eigenen Wählerklientel erwähnt. Immerhin hatte die FDP bei der zurückliegenden Bundestagswahl einen Sieg unter den Jungwählern zu verbuchen. „Die müssen wir halten“, so der Tenor.
Doch Angst ist natürlich selten ein guter Ratgeber. Es gibt deshalb noch einen anderen liberalen Treiber im Ampelgefüge – und der heißt eben „Fortschrittskoalition“. Das Fremdeln der Liberalen mit den linken Koalitionspartnern wird dadurch bekämpft, indem man die Fremdheit negiert, die Ähnlichkeit betont, gar den subtilen Wandel der eigenen Programmatik betreibt, aus dem Impetus der Fortschrittlichkeit heraus. Längst ist „konservativ“ unter vielen FDP-Abgeordneten zum Schimpfwort geworden, berichten manche. „Bist du etwa noch so konservativ?“, heißt es dann, wenn man Skepsis gegen den vermeintlich modernen Freiheitskurs des Justizministers anmeldet. Marco Buschmann hat sich zum Schausteller dieser neuen liberalen Erfolge gemacht. Die Abschaffung des Paragrafen 219a oder auch das Selbstbestimmungsgesetz zur Änderung des Geschlechtseintrags werden zu identitätsstiftenden Projekten hochgejubelt, die die Kluft zu Grünen und SPD minimieren helfen sollen. Buschmann verabreicht die Medizin, die das liberale Fremdheitsgefühl in der Ampel lindern soll. Doch sie wirkt nicht immer. In der Corona-Politik oder auch in der Migrationsfrage gibt es in der liberalen Bundestagsfraktion widerstrebende Ansichten, die die Führung auf Linie zu bringen sucht. Dies geschieht oft subkutan und schleichend, um keine treue Seele zu verlieren und den schlummernden Opportunismus und die verdeckte Spießigkeit der eigenen Abgeordneten zu nutzen. „Ihr wollt doch nicht gegen die eigene Regierung maulen?“, heißt es dann. Die Selbstdisziplinierung scheint leidlich zu funktionieren. Oder noch subtiler: Ja, es falle manchmal schwer, der Regierungslinie zu folgen, aber es sei doch gut, die eigene Dogmatik in manchen gesellschaftspolitischen Fragen zu überwinden. So redet die Führung in Fraktionssitzungen, als ob das „Überwinden“ an sich etwas Gutes wäre und klar sei, was Dogmatik ist und was nicht. Schleichend hat sich ein Prozess der Assimilation durchgesetzt, der die FDP wieder an die SPD heranrückt – und zur Not auch etwas an die Grünen. Was also die Grünen zu viel an Debatte haben, das haben die Liberalen zu wenig. Aus der Partei heißt es, Lindner führe zu eng, lasse keine Kontroverse zu – und echte Bandbreite schon gar nicht. Bleibt die Frage, welche Rolle die Sozialdemokraten in der Ampel haben. Man könnte sagen: Die SPD mit Parteichef Lars Klingbeil und Generalsekretär Kevin Kühnert hat Geduld gelernt und wartet darauf, irgendwann einmal einen Kanzler zu stellen, der ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Bis dahin tolerieren sie Olaf Scholz. Und Scholz sieht es genauso: Er dankt der SPD, die ihn trotz seines langen Parteidienstes nie mochte, dass er vorübergehend (oder sogar etwas länger) im Kanzleramt einziehen konnte. Nach den Debatten über Waffenlieferungen und Bundeswehr-Aufrüstung ist es wieder weitgehend ruhig geworden; Co-Parteichefin Saskia Esken und Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich genießen nun deutlich stiller ihren (linken) Einfluss (Stichwort: Bürgergeld) – und lassen es zum harten Konflikt nicht kommen. Man muss sich die Sozialdemokraten als halbwegs glückliche Menschen vorstellen, die an ihre Auferstehung schon nicht mehr geglaubt hatten – und Scholz einfach machen lassen. Möglicherweise war eine Bundesregierung noch nie so instabil und disparat wie diese. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), einer der Architekten der rot-grün-gelben Koalition, beklagte neulich, Grund für die Ampelkrise sei, dass man sich innerhalb des Bündnisses zu wenig kenne. Man habe auch zu wenig Zeit, um sich kennenzulernen, denn es gebe einfach zu viel Arbeit in dieser Jahrhundertkrise. Es wäre eine ernüchternde Erklärung für die Schwäche der Bundesregierung, dass ihr zu wenig Zeit für Klassenausflüge bleibt. Bisweilen scheint umgekehrt aber auch zu gelten: Es ist die Größe der Krise, die diese Regierung zusammenhält. Selbst bei der FDP, wo manche schon mal von einem Ausstieg träumen, erscheint dieser vor dem Horizont der Probleme, die zu lösen sind, zu sehr als Wegducken vor der Verantwortung. Also schlicht undenkbar? So sind sie in der Ampel bis auf Weiteres zur Zusammenarbeit verdammt. In A Coruña mussten die Minister dann auch noch der Pressekonferenz von Olaf Scholz lauschen, und das sogar aufgereiht wie Musterschüler vor dem Kanzler. Lindner und Habeck hielten es denn auch kaum aus – und begannen miteinander zu tuscheln. Was sie sich bei dieser Gelegenheit auf dem Handy für Filmchen angesehen haben, ist nicht überliefert. Angemessen fand der Kanzler es bestimmt nicht. Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können. Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen
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Volker Resing
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Das Machtwort des Kanzlers bei der Kernenergie offenbart die Regierungskrise. Robert Habeck sieht sich von Olaf Scholz und Christian Lindner blamiert. Die Ampel schaltet nicht mehr auf grüne Welle, sondern beharrlich auf Rot-Gelb. Strategisch gesehen ist die FDP ungefährlich für Olaf Scholz. Die Grünen hingegen sind seine Gegner.
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2022-10-31T17:34:13+0100
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2022-10-31T17:34:13+0100
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https://www.cicero.de//regierungskrise-exklusiv-fur-xing-leser-der-ampel-gau
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Jens Marco Scherf im Gespräch mit Clemens Traub - Cicero Podcast Politik: „So kann Integration nicht funktionieren“
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Der grüne Landrat Jens Marco Scherf aus dem unterfränkischen Miltenberg ist in der deutschen Migrationsdebatte zur Stimme der Kommunalpolitik geworden. Mit einem Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz sorgte er Anfang des letzten Jahres bundesweit für Schlagzeilen. Darin forderte er eine effektive Begrenzung der Migration und schilderte eindrücklich die prekäre Situtation in seinem Landkreis. Scherf fühlt sich von der Bundesregierung und seiner eigenen grünen Partei in der Migrationskrise im Stich gelassen. Doch was hat sich seitdem verändert? Scherf stellt ernüchtert fest: „Die Situation in meinem Landkreis ist seither noch bedrohlicher und schwieriger geworden.“ Im Cicero-Podcast Politik spricht er von täglich neuankommenden Flüchtlingen, überforderten Schulen und wieder in Betrieb genommen Notunterkünften. Die Ressourcen und das Personal reichen schon lange nicht nicht mehr aus: In seinem Landkreis ist ein Betreuer für 900 Migranten zuständig. Unter diesen menschenunwürdigen Voraussetzungen verkommt Integration zu einem reinen „Zufallsprodukt“. Im Cicero-Podcast Politik erklärt er auch, dass sich die Stimmung in seinem Landkreis in den vergangenen Monaten verändert hat und die Bürger voller Sorgen sind. Angesichts der unkontrollierten Migrationspolitik fällt es ihm zunehmend schwerer, um Rückhalt in der Bevölkerung zu werben. Scherf ist sich sicher: Eine Gesellschaft in Vielfalt kann es nur geben, wenn Migration geordnet abläuft. Das Gespräch wurde am 19. Dezember 2023 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Clemens Traub
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Der grüne Landrat Jens Marco Scherf aus Bayern fühlt sich angesichts der Migrationskrise von der Bundesregierung und seinen eigenen Parteifreunden im Stich gelassen. Integration werde unter den derzeitigen Umständen zu einem „Zufallsprodukt“, sagt er im Gespräch mit Clemens Traub.
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"Podcast",
"Flüchtlingskrise",
"Integration",
"Fachkräftemangel"
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2023-12-27T12:04:25+0100
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2023-12-27T12:04:25+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/jens-marco-scherf-clemens-traub-cicero-podcast-politik-integration-migrationskrise
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Guido Steinberg im Gespräch mit Alexander Marguier - Cicero Podcast Politik: „Die Bundesrepublik hat überhaupt kein politisches Gewicht“
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Mit den verheerenden Angriffen der palästinensischen Hamas-Organisation vom 7. Oktober gegen Israel ist die ohnehin explosive Gemengelage in der Region weiter eskaliert – jeden Tag erreichen uns neue Schreckensbilder. Und doch können die meisten von uns die blutigen Ereignisse nicht richtig einordnen, weil wir die einzelnen Zusammenhänge und Hintergründe nicht genau kennen. Im Podcast Politik spricht Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier deshalb mit Guido Steinberg, einem der besten deutschen Nahost-Experten, über die Situation in Gaza, das Leid der Zivilbevölkerung – und über die angespannte innenpolitische Stimmung in Israel. Es geht aber auch um die vielen Stellvertreterkonflikte im Nahen Osten und um die Frage, ob Deutschland dort als Vermittler ernstgenommen wird. Das Gespräch wurde am 9. Januar 2024 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Alexander Marguier
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Der Nahost-Experte Guido Steinberg spricht im Podcast mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier über die komplizierte Lage im Nahen Osten vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs – und erklärt, warum er die vom Westen propagierte Zweistaatenlösung für unrealistisch hält.
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"Israel",
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2024-01-10T12:21:49+0100
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2024-01-10T12:21:49+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/guido-steinberg-alexander-marguier-cicero-podcast-gaza-krieg-israel-iran-saudi-arabien
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EU-Asylpolitik – Wenn Flüchtlinge ertrinken, sind wir mitverantwortlich
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Am 6. September melden die Nachrichtenagenturen ein verheerendes
Flüchtlingsdrama an der türkischen Mittelmeerküste: Mindestens 61
Menschen – darunter gut die Hälfte Kinder – ertrinken beim
Untergang eines Flüchtlingsbootes in der Nähe von Izmir. An Bord
sind vor allem Palästinenser, Iraker und Syrer. Es ist nur eine von
vielen Meldungen. Denn immer wieder ertrinken Flüchtlinge im
Mittelmeer bei dem Versuch, die EU zu erreichen. Oder sie
verdursten in den überfüllten Booten. 2011 starben mindestens
1.500. Die
EU-Staaten tragen mit ihrer Abschottungspolitik eine Mitschuld an
diesem Sterben im Mittelmeer. Warum? Weil sie alle Wege, sicher und
legal Schutz in der EU zu suchen, blockieren. Zuletzt wurde viel
Geld ausgegeben, um die Landgrenze zwischen der Türkei und
Griechenland für Migranten und Flüchtlinge abzudichten. Und in den
nächsten Jahren sind weitere 400 Millionen Euro für das System
Eurosur eingeplant, mit dem ab 2014 die Außengrenzen des
Schengenraums überwacht werden soll. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verstoßen mit dieser Politik der
Abwehr von Flüchtlingen und Migranten in vielen Fällen gegen das
internationale Flüchtlingsrecht und gegen die Europäische
Menschenrechtskonvention. Das hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in einer Entscheidung vom Februar 2012
festgestellt. Er verurteilte Italien wegen seiner Rückschiebpraxis – dem
sogenannten „Push-Back“ – auf dem Mittelmeer. Italien hatte
Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer außerhalb des italienischen
Hoheitsgebietes aufgegriffen und nach Libyen zurücktransportiert.
Grundlage dieser Praxis war ein „Freundschaftsabkommen“, das
Italien unter Berlusconi mit Libyen unter Gaddafi geschlossen
hatte. Gegen Zahlung von fünf Milliarden US-Dollar verpflichtete
sich Libyen zu verstärkten Grenzkontrollen. Italien durfte im
Gegenzug im Mittelmeer aufgegriffene Menschen nach Libyen
zurückschicken. Dort wurden sie in der Regel inhaftiert,
misshandelt und zum Teil gefoltert. Nach einigen Wochen setzten die
libyschen Behörden sie hilflos in der Wüste aus. Das alles hat der
Gerichtshof in seinem Verfahren festgestellt und geurteilt, dass
Italien diese Menschen nie hätte zurückschicken dürfen. Die
italienischen Behörden hätten prüfen müssen, welchen Gefahren die
Flüchtlinge bei der Rückschiebung ausgesetzt waren. Wenn Menschen, die von den italienischen Behörden aufgegriffen
werden – und das gilt auch auf Hoher See – erklären, dass sie
Flüchtlinge sind, dann muss ihnen Zugang zu einem fairen
Asylverfahren gewährt werden. Trotz des Urteils will die italienische Regierung diese Praxis
aber offenbar fortsetzen. Sie hat – wie italienische Journalisten
aufgedeckt haben – mit der neuen libyschen Regierung ein
entsprechendes Geheimabkommen geschlossen. Die italienische
Regierung setzt Flüchtlinge damit der Gefahr schwerster
Menschenrechtsverletzungen aus – denn Libyen ist längst noch kein
sicherer Ort für Flüchtlinge. Und was tut die EU? Nichts. Auch Deutschland nimmt das
menschenrechtswidrige Verhalten Italiens stillschweigend und
wahrscheinlich auch zustimmend zur Kenntnis. Dabei sieht sich die
EU gerne als Vorreiter beim Menschenrechtsschutz und als
Wertegemeinschaft. Beim Flüchtlingsschutz ist aber auf diese kein
Verlass. Weder übt die deutsche Regierung Druck auf Italien aus,
noch ist sie bereit, das europäische Asylsystem so zu reformieren,
dass die Grenzstaaten mit dem Problem nicht allein gelassen werden.
Bisher beharrt sie auf dem geltenden Dublin-II-Abkommen, nach dem
der Staat, in den Flüchtlinge zuerst einreisen, für ein
Asylverfahren zuständig ist. Seite 2: Wir dürfen nicht untätig zusehen, wie
Menschen sterben Diese Regeln tragen dazu bei, dass Staaten wie Griechenland,
Italien oder Malta sogar versuchen, Menschen in akuter Lebensgefahr
von ihren Grenzen fernzuhalten. Zwei Beispiele: Am 6. April 2011
sind 200 Menschen ums Leben gekommen, als ihr Schiff unterging.
Obwohl die maltesischen Behörden Hilfegesuche erhalten hatten,
starteten sie keine Rettungsaktion. Sie vertraten die Ansicht, dass
das Schiff sich näher am italienischen Operationsgebiet befand. Als
ein italienisches Schiff eintraf, konnten nur noch 47 Personen
gerettet werden. Ende März 2011 verloren 63 Menschen ihr Leben im Mittelmeer. Ein
Boot mit 72 Menschen an Bord hatte kein Benzin mehr, die
Nahrungsmittel wurden knapp. Die Schiffbrüchigen informierten über
Satellitentelefon einen eritreischen Priester in Rom, der
seinerseits die italienische Küstenwache und die NATO
benachrichtigte. Die Überlebenden berichteten, dass ein
Militärhubschrauber Wasser und Kekse abgeworfen habe, dann aber
abgedreht sei. Fischerboote und Marineschiffe seien später in
Sichtweite vorbeigefahren. Kein Schiff habe versucht, sie zu
retten. Wir dürfen nicht untätig zusehen, wie Menschen sterben, nur weil
sich zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht darüber
einigen können, wer für die Rettung zuständig ist. Wir dürfen nicht
zusehen, wie die Europäische Union einerseits zum Schutz syrischer
Flüchtlinge in der Türkei, Jordanien, dem Irak und Libanon aufruft,
andererseits aber selbst ihre Abschottungspolitik fortführt. [gallery:Es war einmal in Syrien: Assads Freunde aus dem
Westen] Flüchtlingsrechte werden in der Politik schnell vergessen, wenn
andere Interessen im Spiel sind. Nur durch die beharrliche Arbeit
von Initiativen, Organisationen und Rechtsanwälten gelingt es,
Erfolge im Flüchtlingsschutz zu erreichen. Aber es gibt sie:
Deutschland beteiligt sich nach Jahren der Ablehnung nun – wenn
auch in bescheidenem Umfang – am Neuansiedlungsprogramm
(„Resettlement“) des UNO-Flüchtlingskommissariats. Das
Bundesverfassungsgericht hat das Asylbewerberleistungsgesetz für
verfassungswidrig erklärt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg
hat die deutsche Rechtsprechung zur religiösen Verfolgung als nicht
vereinbar mit Europarecht eingestuft. Es ist beschämend, dass die EU-Regierung immer wieder daran
erinnert werden muss, das zu tun, wozu sie durch
Menschenrechtsverträge und die Flüchtlingskonvention verpflichtet
sind. Es ist beschämend, dass die EU-Staaten nicht sofort ihre
Abschottungspolitik beenden und damit weitere Tote im Mittelmeer
verhindern.
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An den EU-Außengrenzen sterben Jahr für Jahr Tausende Flüchtlinge. Statt zu helfen, setzt die Staatengemeinschaft auf Abschottung. Die Bundesregierung nimmt die Menschenrechtsverletzungen stillschweigend hin, kritisiert Wolfgang Grenz, Generalsekretär von Amnesty International
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außenpolitik
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2012-09-29T13:23:25+0200
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2012-09-29T13:23:25+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/asylpolitik-amnesty-international-wenn-fluechtlinge-ertrinken-ist-deutschland-mitverantwortlich/52022
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Wo die Piepen und Moneten sitzen – Zehn Typen der Superreichen
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Text…
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Tausende spekulieren jede Woche beim Lotto-Spielen auf den großen Gewinn. Die Reichen und Superreichen haben längst viel mehr. Große Vermögen, deren Ausmaße selbst mit viel Fantasie vorstellbar sind. Eine Typologie der Superreichen und kleiner Blick durch das Schlüsselloch der materiell Erfolgreichsten
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wirtschaft
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2012-10-23T17:42:11+0200
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2012-10-23T17:42:11+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/zehn-typen-der-superreichen/52301
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Heinz-Christian Strache - In der Falle ohne Ausweg
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Der deutsche Brachialkomiker Jan Böhmermann meinte im April in einer Videobotschaft aus Anlass der „Romy“-Preisverleihung: Er hänge gerade „ziemlich zugekokst und Red-Bull-betankt mit ein paar FPÖ-Geschäftsfreunden in einer russischen Oligarchenvilla auf Ibiza“ herum und verhandle über die Übernahme der Kronen Zeitung. Was damals absurd klang, hat sich nun als Alptraum herausgestellt: Für den Vizekanzler. Für die Regierung. Für die Republik Österreich. Auf den ersten Eindruck mutet das Video, das der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung am gestrigen Freitag veröffentlichten, an wie eines jener Videos, mit denen die FPÖ wie schon bei der Nationalratswahl nun auch bei der EU-Wahl augenzwinkernd um Wähler wirbt. Aber es ist nicht ironisch. Es ist jetzt leider ernst. Nun kann man die Frage aufwerfen, wie Jan Böhmermann auf die Idee kam, dass auf Ibiza in einer Oligarchenvilla über die Kronen Zeitung verhandelt wird – nie war das öffentlich ein Thema. Oder warum das vor der Nationalratswahl aufgenommene Video nicht vor der Nationalratswahl den beiden deutschen Medien zugespielt wurde, sondern erst jetzt vor der EU-Wahl? Aber all diese Fragen sind nebensächlich. Die relevante Frage ist: Ist Heinz-Christian Strache als Vizekanzler noch tragbar? Für ihn spricht, dass er in dem Gespräch mit der vermeintlichen russischen Oligarchentochter mehrfach betonte, nichts Illegales tun zu wollen. Das war es dann aber schon. Denn was Strache sonst von sich gibt, macht ein Weiterwirken als Vizekanzler kaum möglich. Er erklärt der falschen Sponsorin, dass sie ihr Geld, das sie der FPÖ zu überweisen gedenke, am Rechnungshof vorbei spielen könne und nicht direkt auf das Konto der Partei einzahlen solle, sondern an einen Verein. So wie es auch andere namhafte Unternehmen machen würden. Auch diese hat Strache nun in die Sache mit hineingezogen beziehungsweise diese werden sich selbst für solch für möglich gehaltene Praktiken ihrerseits rechtfertigen müssen. Strafrechtlich relevant wäre dann jedenfalls ein anderer Punkt: Strache deutet an, Staatsaufträge mit „Überpreis“ – also zu Lasten des Steuerzahlers – vergeben zu können. Im Falle des Falles. Nun geht es um seinen eigenen Fall. Die Regierung erlebt in diesen Stunden die schwerste Krise seit ihrer Angelobung. So wie bisher wird es nicht weitergehen. Kann es auch nicht. Die Ereignisse, die am Freitag um 18 Uhr ihren Ausgang nehmen – und für die Regierungsmitglieder, auch die türkisen, schon früher –, stellen eine Zäsur da. So gesehen könnte die Absetzbewegung der ÖVP von der FPÖ in den vergangenen Wochen und das offensive Buhlen um deren Wähler zuletzt mit der für den Bundeskanzler ungewohnt harschen Kritik an Brüssel, nicht von ungefähr gekommen sein. Möglicherweise wusste Sebastian Kurz schon, dass da etwas auf ihn zurollen würde. Diese Zäsur kann nun mehrere Folgen haben: den Rücktritt des Vizekanzlers und dessen Ersatz durch einen anderen Freiheitlichen. Norbert Hofer beispielsweise. Das würde die Sache aber nur geringfügig besser machen. Denn die Methoden Straches sind letztlich auch die Methoden der FPÖ. Und Hofer müsste sich auch fragen lassen, ob er von diesen Praktiken nichts wusste. Er wäre ja als Infrastrukturminister dann theoretisch für die Abwicklung des „Gegengeschäfts“ verantwortlich gewesen. Die beiden Hauptdarsteller auf dem Video, Heinz-Christian Strache und Klubchef Johann Gudenus, werden jedenfalls nicht sagen können, sie wussten von nichts. Wie sie nach derzeitigem Stand aus der Sache herauskommen sollen, ist unklar. Das Bekenntnis, nichts Illegales vorgehabt haben zu wollen, gleichzeitig aber alle möglichen Schlupflöcher anzudeuten, wird zu wenig sein. Nein, nach derzeitigem Stand, werden sie aus dieser Falle, die ihnen gestellt wurde, die aber ihre Absichten und Angewohnheiten offen zu Tage treten ließen, nicht mehr herauskommen. Seit Freitag, 18 Uhr, ist die Koalition in ihrer bisherigen Form zu Ende. Es kommt ein neuer Vizekanzler. Ein neuer Koalitionspartner. Oder Neuwahlen. Dieser Artikel erschien zuerst in der österreichischen „Die Presse“.
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Oliver Pink
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Ein Video entpuppt sich als Alptraum für Heinz-Christian Strache, Vizekanzler in Österreich und Chef der FPÖ, aber auch für Kanzler Sebastian Kurz, die Regierung und die ganze Republik. Sein Rücktritt war unausweichlich
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"FPÖ",
"Sebastian Kurz"
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außenpolitik
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2019-05-18T10:29:36+0200
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2019-05-18T10:29:36+0200
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https://www.cicero.de/comment/174961
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Zu Besuch im Altenheim – „Der Tod ist schön. Jetzt weiß ich das.“
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„Das war so schön. Das war soo schön.“ Wenn Edith Wiese vom
Sterben spricht, dann hat man keine Angst mehr vorm Tod. Es ist ein
paar Monate her, da schien es für die 82-jährige Berlinerin so weit
zu sein. Sie hatte sich den Norovirus eingefangen. Zuerst dachte
ich „naja, du bist ganz schön dick. Vielleicht werde ich durch den
Durchfall ja noch zur Elfe“. Wenn Frau Wiese lacht, wackelt ihr Doppelkinn. Sie trank und aß
nichts mehr in diesen Tagen und lag in ihrem eigenen Bett, in ihrer
eigenen Wohnung in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg. Frau
Wiese war bereit für den Tod. „Auf einmal hatte ich abgeschlossen.
Ich dachte, das kann immer so bleiben.“ Dann denkt sie nach. „Ich
kann Ihnen heute sagen: Der Tod ist schön. Jetzt weiß ich, dass der
schön ist.“ Edith Wiese ist keine Elfe geworden. Plötzlich stand ihre
Nachbarin in der Wohnung und ranzte sie an: „Was machst du denn
da?“ Sie rief den Notarzt. Als der fragte, ob Frau Wiese ins
Krankenhaus möchte oder lieber zu Hause bleiben wolle, mischte sich
wieder die Nachbarin ein: „Das sehen Sie doch. Die muss ins
Krankenhaus!“ „Wär die doch bloß nicht rübergekommen“, sagt Edith Wiese heute.
„Dann wär ich schon längst da in den Wolken oben.“ Nach einem Sturz
und einem Oberschenkelhalsbruch wird sie nun für einige Wochen in
der Kurzzeitpflege des Elisabeth-Seniorenzentrums Dr. Harnisch-Haus
in Berlin-Friedrichshain versorgt. Nach der Reha will sie so
schnell wie möglich wieder in ihr eigenes Zuhause. Wie Frau Wiese fürchtet sich auch Hans Bartels* nicht vor dem
Tod. „Warum soll ich Angst haben? Ich merk das doch nicht mehr. Bin
auf einmal weg.“ Und da oben warte auch keiner mehr. „Ich habe den
Mann noch nicht gesehen, den Gott. Sie ja auch nicht.“ Etwas
Schlimmeres als den Tod seiner Frau kann sich Hans Bartels sowieso
nicht mehr vorstellen. „Ich war 56 Jahre verheiratet und 58 Jahre
zusammen mit der Frau.“ Bartels blickt sein Gegenüber an und
verstummt. Vor zweieinhalb Jahren ist sie gestorben. „Einer geht ja
immer zuerst. Und ich muss gerade am längsten bleiben.“ Edith Wiese und Hans Bartels haben keine besonderen Probleme.
Sie sind einsam, ihre Liebsten sterben, ihre Gesundheit spielt
nicht mehr mit. Sie sind alt. Viele Menschen in Deutschland haben
damit zu kämpfen. Und es werden immer mehr. Im Jahr 2060 werden von
den 80 Millionen Menschen in Deutschland noch etwa 65 bis 70
Millionen übrig sein, besagen Schätzungen des Statistischen
Bundesamtes aus dem Jahr 2009. Während heute etwa 20 Prozent von
ihnen 65 oder älter sind, wird dann jeder Dritte 65 und jeder
Siebte sogar mindestens 80 Jahre sein. Diese demographische
Entwicklung stellt Staat, Versicherungen und Pflegedienstleister
vor große Herausforderungen: Im vergangenen Jahrzehnt nahm die Zahl der Bewohner von
Pflegeheimen um rund 28 Prozent zu. Die Kostenexplosion, die damit für die soziale
Pflegeversicherung einhergeht, versucht die schwarz-gelbe Koalition
jetzt mit einer Pflegereform in Schach zu halten. Während im Jahr 2000 noch rund 15,9 Milliarden Euro
ausgegeben wurden, sind es 2010 bereits rund 20,4 Milliarden
gewesen. Die Pläne des Gesundheitsministers Daniel Bahr über
die Erhöhung der Pflegebeiträge im Jahr 2013 um 0,1 Prozent auf
2,05 Prozent, stoßen bei Opposition und Sozialverbänden auf starke
Kritik. Mit den sich daraus ergebenden 1,1 Milliarden Euro will
Bahr vor allem die steigenden Bedürfnisse der vielen Demenzkranken
und die Betreuung in den deutschen Pflegeheimen finanzieren.
Viel zu wenig Geld für ein riesiges Problem, zu
wenig strukturelle Änderung im deutschen Pflegesystem, wird
bemängelt. Auch Hans Bartels hat sich für eine Pflegeeinrichtung
entschieden. Anders als Edith Wiese wird er für den Rest seines
Lebens in einer solchen Vollversorgung leben. 1994 hatte Bartels
seinen ersten Schlaganfall, da war er 71 Jahre alt. Heute ist er
88, hatte gerade den dritten Schlaganfall – „Ich bin immer vom
Stuhl gerutscht“ – und sitzt im Rollstuhl. Herr Bartels weiß, was
ihn erwartet. Seine Frau lebte die letzten Jahre vor ihrem Tod in
einem Heim im Berliner Osten, nahe der Wuhlheide, wo auch er in
einigen Monaten hinziehen wird. Obwohl er sich an Szenen erinnert,
die ihn heute noch wütend machen: Wie seine Frau in viel zu dünnen
Kleidern am offenen Fenster saß oder daran, wie die Pfleger sie
„einfach ins Bett gepackt“ haben. „Da hat ihr keiner das lange Hemd
hinten über den Rücken gezogen.“ Er selber wollte nie ins Heim –
aber: „Was soll ich denn machen? Ich bin alleine.“ Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Pflegeheime auf
die individuellen Wünsche der Heimbewohner eingehen. Der gelernte Autoschlosser muss jetzt seine Wohnung kündigen.
Das macht ihn traurig. „Ich hatte so schöne Möbel. Aber im Heim ist
kein Platz dafür.“ Es ist schwer, das alte Leben loszulassen.
Heute, da auch die Alten mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen in
die Heime kommen, stehen die Pfleger vor einer großen
Herausforderung. „Wir müssen individueller werden“, sagt Andrea
Weller, Pflegedienstleiterin der Kurzzeitpflege im
Elisabeth-Seniorenzentrum. Da kämen Homosexuelle, die seit Jahren
ein freies Leben führen und sich jetzt nicht plötzlich wieder an
spießige Vorurteile gewöhnen wollen. Heute fielen viele der Tabus
weg, die es früher in den Heimen gegeben habe, sagt Weller
zufrieden. Neben typischen Aktivitäten wie Gymnastik oder Bingo
werde heute Bowlen mit der Computerspiel-Konsole Wii angeboten. Jenen, die sich noch selbstständig und mobil bewegen können, wie
Herr Bartels mit seinem elektrischen Rollstuhl, tut es gut, wenn
sie weiterhin die gleichen Wege gehen, ihren Kaffee beim gleichen
Bäcker kaufen und zum alten Friseur gehen. Hans Bartels rollt dann
vorbei an besetzten Friedrichshainer Häusern und Kindergärten. Er
fährt die alten Strecken ab und besucht die Straße, in der er in
den 30er Jahren als Kind gespielt hat. Können sie nicht in ihrer eigenen Umgebung bleiben, ziehen die
Menschen bevorzugt in die Nähe ihrer Angehörigen. So kommt es, dass
das Seniorenzentrum am Prenzlauer Berg zunehmend von schwäbischen
Zugewanderten bewohnt wird, die im Weinbergspark um die Ecke ihre
Latte-Macchiato-trinkende Schwiegertochter mit dem Enkelkind
begleiten. Trotzdem wollen die wenigsten Menschen eines Tages ins Heim. Das
weiß auch Andrea Weller. Die meisten ihrer Bewohner kommen nach
einem Krankenhausaufenthalt zu ihr, weil es nicht mehr anders geht.
Auch Edith Wiese hat ihren Kindern immer gesagt: „Ihr braucht mich
nicht zu pflegen.“ Sie war sich sicher, dass sie wie Vater und
Mutter eines Tages eines kurzen Herztodes sterben werde. „Aber
jetzt bin ich immer noch da.“ Dabei hat Frau Wiese Glück – und das
weiß sie auch. Denn genau wie Hans Bartels lässt sie ihr Geist
nicht im Stich. Einmal, da war sie drei Tage lang bei den
Demenzkranken untergebracht. Nach zwei Tagen wusste sie: „Wenn sie
dich nicht heute hier rausholen, dann kriegst du was am Kopp.“ In Zukunft muss fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann
damit rechnen, eines Tages dement zu werden, schätzt etwa der Barmer-GEK-Pflegereport. Und wer dement
wird, ist fast automatisch irgendwann auf Pflege angewiesen. Nur
zehn Prozent der Dementen, die im Jahr 2009 starben, waren nicht
pflegebedürftig. Frau Wiese wird wieder nach Hause in die Kastanienallee gehen.
„Die sollen mich ja nicht hier einsperren“, sagt sie im Scherz,
denn sie weiß, dass das nicht das Ziel der Pflegeeinrichtung ist.
Andrea Weller bestätigt das: „Die Bewohner haben hier einen
Vertrag, den sie jederzeit kündigen können.“ Hans Bartels dagegen hat eigentlich keine Wahl. Aber er hat
seine Kinder, die sich um ihn kümmern, auch wenn er im Heim
ist. Bevor Bartels in sein neues Zuhause zieht, wird er mit seinem
Sohn zum Angeln fahren. „Hoch nach Usedom, nach Wolgast. Da mieten
wir uns ein Boot und fahren rüber nach Rügen.“ Sie wollen Hechte
fangen. Vielleicht auch Heilbutt. „Mein größter Fisch war 1 Meter
20 lang, 28 Pfund.“ Herr Bartels wird zwar im Seniorenzentrum
leben, seine Mitgliedschaft im Anglerklub aber wird er behalten –
vorerst. Man weiß ja nie, was noch kommt. *Name geändert
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Mehr Alte, mehr Kranke, mehr Demente. Deutschland bereitet sich auf den demographischen Wandel vor. Zu Besuch bei den Menschen, die wissen, wie es ist, alt zu sein. Eine Reportage aus einer Pflegeeinrichtung
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innenpolitik
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2011-11-14T08:52:17+0100
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2011-11-14T08:52:17+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/der-tod-ist-schoen-jetzt-weiss-ich-das/46468
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Donald Trump und Fox News - American Rosenkrieg
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Donald Trump und Fox News. Ein Pärchen wie füreinander geschaffen. Der konservative Fernsehsender und dessen Moderatoren, bis zuletzt offenbar Trumps größte Fans, trugen vor wenigen Jahren wesentlich zu dessen Einzug ins Weiße Haus bei. Trump konnte in der Regel mit zugeneigter Berichterstattung rechnen, schaute selbst von morgens bis abends zu. Dafür durften die Quotenmacher in Manhattan, Sitz von Fox News, stets Trumps zahlreiche Anhänger als treue Zuschauer wissen. Der Sender war zwar schon der größte Sender in den USA, bevor der blonde Milliardär die großen Bühnen betrat. Durch Trump aber vervielfachte er seine Quoten und ließ den verhassten, liberalen Konkurrenten CNN weit hinter sich. Rund anderthalb Millionen Menschen schauen täglich Fox. Zwar schimpfte Trump ab und zu auf Twitter, sagte ihm die Berichterstattung des Senders mal nicht zu („Schlimmer als CNN!“). Aber man vertrug sich rasch wieder. Fox News braucht Trump. Trump braucht Fox News. Zwischen Medium und Milliardär besteht eine geschäftsmäßige Zweckehe. Nun aber scheint diese Ehe vorerst am Ende. Trump echauffierte sich kürzlich darüber, die schlechtesten Umfragewerte für ihn kämen immer von Fox News. Dort sei etwas im Gange, über das er nicht glücklich sei. Der Sender würde den Demokraten zu viel Sendezeit zugestehen, und überhaupt, der sei ja „nicht mehr das, was er mal war“. ....I don’t want to Win for myself, I only want to Win for the people. The New @FoxNews is letting millions of GREAT people down! We have to start looking for a new News Outlet. Fox isn’t working for us anymore! Die Scheidung folgte, in aller Deutlichkeit, schriftlich: „Wir müssen uns nach einem neuen Nachrichtenkanal umsehen“, sagte Trump, „Fox News funktioniert für uns nicht mehr“. Eine Aussage wie aus einer vertraulichen Mail an sein Team, adressiert aber an seine Wähler. Auf Twitter. Trump erhielt eine trotzige Antwort: „Fox News ist nicht dafür da, für Sie zu arbeiten“, schrieb Moderator Brit Hume. Solche Töne der Emanzipation waren lange undenkbar. Der Rosenkrieg scheint in voller Fahrt. Unmöglich aber kam die Trennung dieser ertragreichen Zweckehe grundlos und ohne Vorzeichen. Etwas musste vorgefallen sein. Fox News isn’t supposed to work for you. https://t.co/kQDY4UKv8z Und das war es auch. Das eigentlich perfekte Pärchen hat sich bereits seit einem Jahr zunehmend voneinander entfremdet. Vergangenes Jahr begann das, als die amerikanische Regierung dem berühmten CNN-Journalisten Jim Acosta mit fadenscheinigen Gründen die Akkreditierung entzog, weil der ein Mikrofon bei einer Pressekonferenz nicht hergeben wollte. CNN klagte gegen das Weiße Haus, und viele US-Medien stellten sich hinter den Sender und Acosta, trotz dessen Rufes als arroganter Selbstdarsteller. Sogar Fox News schloss sich an, eigentlich der erklärte Erzfeind von CNN. Fox-Senderchef Jay Wallace erklärte, dass man sich selbstverständlich für die Pressefreiheit einsetze. Akkreditierungen dürften niemals als Waffen eingesetzt werden. Trump gefiel das nicht. Für ihn war das eine Affront, ja eigentlich Verrat. Dieser Schritt von Fox News kam nicht von ungefähr. Schon seit einiger Zeit wurmte es dessen Moderatoren, als Propagandasender des Präsidenten wahrgenommen zu werden. Schließlich sahen sie sich immer noch als ernstzunehmende, unabhängige Journalisten. Tatsächlich waren nicht alle Gesichter des Kanals dem Präsidenten verfallen. Es gab Momente, die den Sinneswandel bestärkten. Zum Beispiel als Fox-Moderator Sean Hannity, eines der prominentesten Gesichter des Senders, auf einer Wahlkampfveranstaltung Trumps auf die Bühne trat, für ihn warb und die Chuzpe besaß, die anwesenden Medien als „Fake News“ zu diskreditieren. Das war selbst den Leuten bei Fox News unangenehm. Hannity entschuldigte sich, fortan aber war die Stimmung im Sender zerrissen zwischen Moderatoren, die Trump feiern und denen, die ihm eher abgeneigt sind. Mittlerweile stärken nur noch wenige Fox-Moderatoren Trump den Rücken. Es gibt tatsächlich wieder mehr Sendezeit für die Demokraten, und auch viele kritische Kommentare zu Trump kommen aus dem New Yorker Studio. Zwar sprechen früh morgens und spät abends noch ihm wohlgesonnene Moderatoren. Im Laufe des Tages sieht das aber inzwischen anders aus. Die Zeiten, in denen der Präsident „überraschend“ in Live-Sendungen anrief und für sich werben durfte, sind vorbei. Die Frage, die sich bei dem Trennungsstreit von Trump und Fox stellt, diesem amerikanischen Rosenkrieg, ausgeführt in aller Öffentlichkeit, ist folgende: Welche Konsequenzen wird das für Trump haben? Er möchte unbedingt weiter Quartier im Weißen Haus beziehen. Die nächste Präsidentenwahl steht bereits nächstes Jahr an. Und Fox News, sein steter Garant für wohlwollende Presse, hat ihm dafür inoffiziell seine Unterstützung entsagt. Zimperlich wird der Sender nicht mehr mit Trump umgehen. Nettigkeiten, wie das Verschweigen der Stormy-Daniels-Affäre, von dem Fox News laut eines Berichts des New Yorker bereits vor der Präsidentenwahl gewusst haben soll, werden ihm zukünftig möglicherweise nicht mehr zugestanden. Und Sarah Sanders, Trumps ehemalige Sprecherin, die das Weiße Haus erst im Juni verließ, heuert nun bei Fox an, soll zukünftig Kommentare und politische Analysen geben. Vielleicht ja, um ihn zu entlarven. Wer also wird für Trump fortan seine Sicht der Dinge in die vielen Millionen amerikanischen Haushalte tragen? Auch wenn dem Präsidenten auf Twitter Millionen Nutzer folgen, reichen wird das für seinen Wahlsieg allein nicht. Das weiß Trump. Vielleicht auch deswegen scheute er bisher den Bruch mit Fox. Seine Verflossene, Fox News, versucht der Präsident direkt zu ersetzen: „Tatsächlich schalte ich wann immer es geht OANN an!“, schrieb er auf Twitter. Der Lückenbüßer OANN steht für „One America News Network“ und ist ein 2013 gegründeter Kabelsender, bei dem sich Trump noch sicher sein kann, gefeiert zu werden. Er ist das Herzensprojekt des kalifornischen Multimillionärs Robert Herring und steht in dem Verdacht, Moskau nahezustehen. Der Kanal wird dem republikanischem Rechtsaußen-Flügel zugerechnet, verbreitet auch Verschwörungstheorien und ist scharfer Kritiker der Mainstream-Medien. Trump wird versuchen, seiner neuen Flamme zu höherer Reichweite zu verhelfen, und das wäre wiederum hilfreich für ihn. OANN wird es ihm danken, auf seine Art, denn der Sender bemüht sich um mehr Zuschauer. Donald Trump könnte dafür der verhoffte Quotengarant sein. Watching Fake News CNN is better than watching Shepard Smith, the lowest rated show on @FoxNews. Actually, whenever possible, I turn to @OANN! Der amerikanische Präsident wird es ohne Fox News schwer haben. Sein neuer Lieblingssender, OANN, wird den verlorenen Einfluss kaum wettmachen. Dafür ist er noch zu klein, unbedeutend, wird längst nicht landesweit empfangen und ist ohnehin ein Pay-TV-Kanal. Vielleicht will Trump den Bruch mit Fox News auch nicht ernsthaft riskieren. Vielleicht will er den Sender nur unter Druck setzen, etwas kitzeln, sodass er wieder wohlwollender über ihn berichtet. Bis es zur Aussöhnung kommt, wird Trump beweisen müssen, dass auch sein Wort allein ihn zum Sieg tragen kann.
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Jannik Wilk
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Eine einmalige Liebesgeschichte war das zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem Lieblings-TV-Sender Fox News. Doch jetzt reichte Trump die Scheidung ein, natürlich über Twitter, und lachte sich gleich eine neue Flamme an. Was bedeutet das für seine Ziele?
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"Fernsehen",
"Politik",
"USA",
"Amerika"
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außenpolitik
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2019-09-12T11:58:20+0200
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2019-09-12T11:58:20+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/donald-trump-fox-news-usa-amerika-tv-fernsehen
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Bildungspolitik - Bildung, die schaffen wir... ab!
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Immer lauter und immer öfter wird die Forderung nach einer stärkeren vom Gesetzgeber reglementierten sozialen Durchmischung der Schulen erhoben. Jüngst verstieg sich Morten Freidel in der FAZ angesichts der jüngsten Iglu-Studie zur Lesefähigkeit von Grundschülern zu dem sprachlich fragwürdigen, an den Stil der taz erinnernden Imperativ: Mischt Grundschüler! Die Forderung der „Durchmischung“ an den Gesetzgeber geht von folgender Vorstellung aus: Der mangelhafte Wortschatz von Grundschülern und ihre Handicaps im Erlernen des Lesens und Schreibens beruht darauf, dass immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird, in den Klassen auf Kinder treffen, die aus sogenannten bildungsfernen Schichten stammen. Kinder aus Familien, die mehr als einhundert Bücher besitzen, hätten einen zu großen Vorsprung vor den Gleichaltrigen, in deren Elternhäuser keine oder wenig Bücher existieren. Um dieses Problem zu lösen, könnte man natürlich den Besitz von über einhundert Büchern verbieten, alle überzähligen Exemplare vom Ordnungsamt einziehen lassen und sie an Familien verteilen, in denen es keine oder nur wenige Bücher gibt. Ob in diesen Familien dann dadurch mehr gelesen oder gar den Kindern vorgelesen werden würde, darf bezweifelt werden. Nun wurde in der FAZ dieser Vorschlag nicht unterbreitet, dafür aber einer, der nicht weit davon entfernt liegt. Die Länder sollen nicht nur einen Schulbezirk bestimmen, sondern vor allem darüber wachen, dass Eltern sich dem nicht entziehen können. Stillschweigend wird in dem Artikel damit geliebäugelt, Privatschulen abzuschaffen. Denn wenn Eltern nur noch dadurch der Durchmischung entkommen, indem sie ihre Kinder auf eine Privatschule schicken, werden das alle tun, die es sich irgendwie noch leisten können. Auch wenn das für sie zu großen Opfern führte. Steuern für eine verkorkste Bildungspolitik zahlten sie übrigens auch in diesem Fall weiter. Würde man aber Privatschulen verbieten, führte der Vorschlag zu einer Einheitsschule. Aus dem Bestreben, es für alle gut machen zu wollen, aber es letztlich nicht zu können, würde es dann richtig schlecht und zwar für alle. Der Effekt, den sich Freidel und andere erträumen, würde also das Gegenteil von dem bewirken, was sie sich wünschen. Zum Vergleich: Ein schneller Hundertmeterläufer würde zwar einen langsameren ziehen können, aber nur um den Preis, dass er selbst seine Leistungsgrenzen niemals erreichen würde. Seine Leistungsmotivation würde dadurch auf Dauer zerstört werden, und bald würde er auf ein niedrigeres Niveau fallen. Die sogenannte soziale Durchmischung würde also nicht zu dem Ergebnis führen, dass sich das Leseniveau der Grundschüler bessert, denn es hätte erstens keinen und teilweise einen negativen Einfluss auf die Lernmotivation. Zweitens würden Grundschüler aus Haushalten mit mehr als einhundert Büchern nicht die Bildungsvorstellungen in Haushalten mit keinen oder wenigen Büchern verändern können. Drittens blendet die Vorstellung der „Durchmischung“ methodische und inhaltliche Fehlleistungen des Lehrplanes aus, die einen weit aus höheren Anteil an den Defiziten der Grundschüler haben und die nicht mit der sozialen Struktur der Klassen zusammenhängen. Im Gefolge der Flüchtlingskrise hatte Thomas de Maiziere davon gesprochen, dass man die Bildungsstandards wird absenken müssen. Die Bildungssenatorin von Bremen, Claudia Bogedan, sieht „die Integration von Flüchtlingskindern als größte schulpolitische Herausforderung.“ Bezeichnenderweise sieht sie die nicht in einem durchdachten Konzept zur längst überfälligen Verbesserung der Bildung, zur Anhebung der Bildungsstandards, das natürlich die Beschulung von Flüchtlingskindern mitbedenken muss. Sondern in der Anpassung der Schule an immer neue schulpolitische Vorgaben, die allein der Integration dienen. Sehr selbstbewusst erklärt die Bremer Senatorin: „Gerade ein Land wie Bremen (kann) als gutes Beispiel wirken und zeigen, wie man zu einer gelungenen Integration beitragen kann.“ Das gute Beispiel besteht allerdings darin, dass Bremens Schüler bei Leistungsvergleichen meist Letzter – mit mehr als einem Jahr Rückstand in Deutsch und Mathe zu Spitzenreitern wie Sachsen und Bayern sind. Auch übersieht die Forderung nach Durchmischung, dass Kinder aus China oder Vietnam oder Japan unabhängig vom Bildungsgrad ihrer Eltern häufig gute schulische Leistungen erzielen, weil sie eine positive Lernhaltung mitbringen. Wird von Willkommensklassen und von Flüchtlingen gesprochen, wird gern verschwiegen, dass es sich vorrangig um muslimische Kinder handelt. Schaut man sich die sehr niedrige Buchproduktion muslimischer Länder im Vergleich zu europäischen Staaten an, wird deutlich, dass traditionell hier andere Bildungsvorstellungen gelten. Das können Kinder aus bildungsnahen Schichten nicht auffangen. Man erklärt Kinder zur Verschiebungsmasse und macht sie zu Ausputzern einer verkorksten Einwanderungs- und Bildungspolitik, bringt die Senkung von Bildungsstandards politisch ernsthaft ins Gespräch und zwingt die Kinder in Einheitsschulen. Das alles zeugt von wenig Respekt den Kindern gegenüber, zeugt von einem Bildungsstalinismus, der die Kinder zu einem Rädchen im Getriebe erklärt und noch dazu entscheidende Fragen außer acht lässt, die bereits vor der großen Zuwanderung eine Rolle spielten. Das beginnt bei der Einsparung von Lehrern, die dazu geführt hat, dass heute fast jeder ohne besondere Qualifikation unterrichten darf. Und es endet bei zweifelhaften, ideologiegetriebenen pädagogischen Experimenten wie Flexklassen, Erlernen des Schreibens nach Gehör, Verbot des Diktatschreibens, Abschaffung der Schreibschrift, Schaffung eines dem Wissenserwerb hinderlichen Zwangssystems von Gesellschafts- und Naturwissenschaften als große Unterrichtskomplexe. Letzteres kommt mit der durchsichtigen Behauptung daher, dass Schüler dadurch lernen, über den Tellerrand zu denken, was aber nichts nützt, wenn sie nicht zuvor gelehrt bekamen, was der Teller ist. Wenn man die Systematik der Fächer in einem fächerübergreifenden in Wahrheit aber fächerüberhobenen Lernen zerstört, das nicht mehr die Logik der Fächer lehrt, dann erübrigt sich jegliche Diskussion über die Durchmischung, denn dann lernen alle wenig. Im Geschichtsunterricht wird nach dem neuen Brandenburger Lehrplan nicht mehr gelehrt, was woraus und in welchem Zusammenhang nacheinander und parallel zueinander entstand. Stattdessen soll sich der Geschichtsunterricht an Themen ausrichten. So wird beispielsweise das Thema Armut im Mittelalter und in der frühen Neuzeit und in der Moderne behandelt, zugleich wird das Thema dann auch in Geographie durchgenommen. Wäre es nicht wichtiger, dass Schüler etwas lernen über die geologische, politische und wirtschaftliche Beschaffenheit der Erde? Oder über Industrien und Bodenschätze? In Geschichte könnten sie etwas verstehen von der Entwicklung des deutschen Föderalismus, begonnen mit der Goldenen Bulle, über den Kampf um die deutsche Libertet, über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden, anstatt zu Armutsspezialisten zu werden. Es lässt sich natürlich schwer beurteilen, ob die Regierung meint, dass unseren Kindern Armutsspezialistentum im späteren Leben noch einmal nützlich sein wird. Wer Schüler nicht in die Systematik der Fächer, in ihre Logik, ihre Methodik und Methodologie einführt und schult, der verhindert jedoch, dass sie lernen, in Zusammenhängen zu denken. Schaut man sich die Vielzahl schädlicher „Bildungs“-reformen an, kann man schwerlich dem Eindruck widerstehen, dass Bildungspolitik die Absenkung der Bildungsstandards zum Ziel hat. Eine andere Studie besagt, dass Deutschland nur in einem Bereich sehr weit vorn liegt, und zwar in der Teamfähigkeit. Nach Bekanntwerden dieses Ergebnisses brach darüber Jubel aus, denn Wissen wäre nicht mehr wichtig, so hieß es, Wissen kann man sich schließlich auch ergooglen. Menschen, die sich nur noch Wissen ergooglen können, sind aber in allem abhängig von Google. Wir wissen zwar nichts, aber es ist doch toll, dass wir jetzt mal zusammen sind. Den Leseschwächen der Grundschüler kann man also nicht mit der Schaffung der Einheitsschule, nicht mit „Durchmischung“ begegnen, sondern nur mit einem besseren, inhaltlich zielführenden Unterricht und mit einem ausdifferenzierten Schulsystem. Hier muss angesetzt werden, denn hier liegt die Bildung im Argen.
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Klaus-Rüdiger Mai
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Die Forderungen nach mehr sozialer Durchmischung der Schulen werden lauter. So sollen Kinder aus bildungsnahen Familien die Leistungsschwächeren mitziehen. Doch die Reformen führen nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einer Absenkung der Bildungsstandards für alle Schüler
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"Bildungsmisere",
"Bildungsreform",
"Bildungspolitik",
"Zuwanderung",
"Flüchtlingskrise"
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innenpolitik
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2017-12-13T17:50:39+0100
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2017-12-13T17:50:39+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/bildungspolitik-bildungsreform-zuwanderung-bildungsmisere
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Plastikverbot der EU - Glühbirne reloaded
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Die EU scheint endlich ihre neue Glühbirne gefunden zu haben. Nachdem sie im Jahre 2009 mit dem Aus für den glimmenden Draht aus Wolfram bereits den Niedergang der Industriekultur eingeläutet hat, soll nun erneut verboten werden, was bislang nebensächlich alltäglich war, und plötzlich so bedeutungsvoll scheint: Bald soll es nach dem Willen der EU-Kommission nicht nur Wattestäbchen, Plastikgeschirr und Plastikbesteck an den Kragen gehen, sondern auch unserer Cocktailkultur. Strohhalme und diese oft mit Glitzerpalmen bestückten Stäbchen zum Umrühren der Getränke sollen verboten werden. Auch unseren Kindern soll der Spaß verdorben werden. Denn auch diesen unscheinbaren Halterungen für Luftballons droht das Ende. Dabei ist es dank dieser Teile möglich, dass kein Verknoten der Ballons mehr notwendig ist, um die Luft in ihnen zurückzuhalten – eine nicht zu unterschätzende Zeitersparnis und Arbeitserleichterung etwa für Sparkassen-Mitarbeiter am Weltspartag (hier schnell Vorrat kaufen!). Solche wichtigen Produkte sollen also verboten werden? Gut für die Umwelt soll das sein, heißt es. Natürlich möchte man dem zunächst auch kaum widersprechen. Kurze Verunsicherung entsteht nur, wenn Umweltexperten zurecht darauf verweisen, dass keineswegs alle Alternativen, etwa jene aus Bambusholz, insgesamt eine bessere Umweltbilanz aufweisen. Aber immerhin: Wer Wattestäbchen und Plastikgeschirr verbietet, schützt die Ozeane vor Plastikstrudeln von der Fläche Deutschlands und außerdem zahlreiche Fische, Vögel und Menschen vor Mikroplastik-Granulaten im Gedärm. Aber an das bisschen Plastik werden wir uns doch gewöhnen können – notfalls richtet es die Evolution. Darum muss man doch einmal kritisch fragen: Will man wirklich gleich wieder alles verbieten? Kippt man da die Plastikente nicht mit dem Bade aus? Da steckt doch sicherlich wieder die ein oder andere Verbotspartei dahinter. Eines ist doch so klar, wie eine perfekt über die Nudelsalatschüssel gespannte Frischhaltefolie: Was für ein anstrengendes und trostloses Leben wird uns nun dräuen, ohne unsere lieb gewonnenen Kunststoffprodukte – Kulturgutplastiken unserer Zeit?! Sie sind praktisch und billig. Sie wiegen wenig, ihr Transport ist also besser für die CO2-Bilanz als etwa der von Porzellangeschirr und Silberbesteck. Und: Kunststoffe sind inzwischen sogar vielseitig recyclebar oder wie es immer öfter heißt: upcyclebar. Das hat die EU mal wieder nicht bedacht. Mit Müll hatten wir tatsächlich einen völlig neuen Wirtschaftszweig geschaffen. Auf hippen Großstadtflohmärkten und sogenannten Trash-up-Festivals bekommen selbst Plastikgabeln ein zweites Leben. Beeindruckend, wie aus alten Legosteinchen Gürtelschnallen werden, aus alten Schreibmaschinen-Tasten Ringe zum Anstecken oder aus siebziger-Jahre Sunkist-Trinkpäckchen Handtaschen. Noch beeindruckender, zu welch stattlichen Preisen diese Utensilien sodann als „Alltägliches im neuen Look“ unters Volk gebracht werden. Um die Hälse mancher Recycling- und Upcycling-Freunde hängen wahre Wertschöpungsketten. Nicht zuletzt erwachsen auch immer mehr Start-Ups aus den Müllhaufen der Fastfood-Gerichte. Manche famosen Gründer recyclen selbst aus Zigarettenstummeln Parkbänke – eine Art Perpetuum mobile der Upcycling-Wirtschaft, verweilen Raucher doch als Rohstofflieferanten allzu gerne auf solchen Sitzgelegenheiten. Ausgerechnet diesem aufstrebenden Upcycling-Design-Markt will die EU doch nicht etwa den Garaus machen, schlicht indem sie ihm seine Rohstoffgrundlagen per Prohibition entzieht? Plastic waste is choking our oceans, killing wildlife and threatening our own health.
We're targeting the 10 most found plastic waste items on Europe's beaches as well fishing gear.https://t.co/Uyqr74Z3Vv #PlasticsStrategy #CircularEconomy pic.twitter.com/wA3ynu1VQw Da ist sie doch wieder, die berüchtigt berühmte Verbotskultur einer ebenso berüchtigt bürokratischen EU! Was hätte man aus derartigen Produkten moderner Wegwerf-Dekadenz nicht alles upcyclen können?! Nehmen wir etwa dieses innovative Körbchen aus hoffentlich unbenutzten Ohrenputzern: Aber keine Panik. Für alle Besorgten, die ihr Geschäftsmodell auf Upcycling ausgerichtet haben und auch für alle sonst Verärgerten: Für den neuesten Verbotsvorschlag aus Brüssel gibt es bereits Entwarnung oder immerhin eine Schonfrist: Die von der Kommission vorgelegte Richtlinie ist zunächst nur ein Vorschlag und muss erst mit allen EU-Staaten und dem EU-Parlament verhandelt werden. Zudem dürfte es noch Jahre bis zu der Verabschiedung und erst recht zu ihrer jeweils nationalen Umsetzung dauern. Großbritannien könnte sich nach einem vollzogenen Brexit sogar ganz entziehen. Damit schließt sich durchaus ein Kreis: Mit Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen in der EU verhält es sich ähnlich, wie mit dem gesunden Menschenverstand – auf beides lohnt das Warten meist nicht. Egal, wie dringlich eine Lage ein Handeln erfordern würde. Die sogenannte Convenience, zu deutsch Bequemlichkeit, darf vorerst weiter siegen: Auch künftig kann weiterhin Geld auf Hipster-Märkten liegen lassen, wer nachhaltig, aber dämlichen Recycling-Nippes kaufen will, um anschließend fürs spontane Grillen im Stadtpark doch wieder auf die überteuerten Plastikmesser und -gabeln von der Tanke zurückzugreifen. Kein Mensch muss sich vorerst sorgen, dass ihm die weißlichen Plastikzacken seiner Gabel nicht auch weiterhin im sehnigen Schweinehals abbrechen. Auch künftig wird das Plastikmesser noch seine stumpfen Dienste auf laprig-durchweichten, mit Kunststoff laminierten Papptellern leisten. Fassen wir uns deshalb aber nicht nur an den Kopf, sondern auch an die eigene Nase. Würden wir alle, wie im Falle solcher spontanen Grilleinfälle, vorausschauender, umsichtiger und weniger bequemlich planen, wäre dies womöglich sinnvoller und umweltfreundlicher als vom Lobbyismus verwässerte und verzögerte EU-Verbote. Weniger hastig – das hieße in vielen Fällen bereits weniger Plastik.
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Bastian Brauns
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Wieder einmal will die EU die Welt retten, diesmal mit einem Plastik-Verbot. Dabei zeigt die sogenannte Upcycling-Industrie, dass aus Plastik nicht nur Müll, sondern viele Produkte gewonnen werden, von denen umweltbewusste Großstadt-Hipster gar nicht genug kriegen können
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"Plastik-Verbot",
"Recycling",
"Umweltschutz",
"EU"
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wirtschaft
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2018-05-28T18:14:55+0200
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2018-05-28T18:14:55+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/plastik-verbot-eu-strohhalme-messer-gabel-bequemlichkeit-umwelt
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Putschversuch der Wagnertruppen um Chef Prigoschin - Medwedew warnt vor Staatsstreich
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Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin hat den Montag in der russischen Hauptstadt aus Sicherheitsgründen zu einem arbeitsfreien Tag erklärt und die Bürger aufgefordert, zu Hause zu bleiben. „In Moskau ist der Anti-Terror-Notstand ausgerufen worden. Die Lage ist schwierig“, räumte Sobjanin am Samstag auf seinem Telegram-Kanal ein. Die Schließung der Betriebe und die Bitte an die Bürger, daheim zu bleiben, diene der „Minimierung der Risiken“. Es könne teilweise zu Straßensperrungen kommen. Ausgenommen von der Feiertagsregelung sind demnach die Macht- und Sicherheitsorgane, Rüstungsbetriebe und kommunale Dienstleister. Die Regelung gilt wegen des Aufstands der Wagner-Truppe. Bewaffnete Kolonnen der Söldner haben sich am Samstag aus dem südrussischen Rostow am Don in Richtung Moskau in Marsch gesetzt.
Nach Angaben des Vizechefs des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, planen die Wagner-Truppen einen Staatsumsturz. „Es ist offensichtlich, dass es sich um eine gut durchdachte und geplante Operation handelt, deren Ziel es ist, die Macht im Lande zu übernehmen“, sagte Medwedew am Samstag nach Angaben russischer Agenturen. Die Aktionen derer, die den Militäraufstand organisiert hätten, passten „voll und ganz in das Schema eines gut durchdachten und orchestrierten Staatsumsturzes“, so der frühere russische Staatschef. Medwedew schloss nicht aus, dass am Aufstand auch frühere Mitglieder russischer Eliteeinheiten des Militärs beteiligt sein könnten – oder auch ausländische Spezialisten. Das zeige das hohe Niveau der Vorbereitung des Aufstandes und die gute Kontrolle der Truppenbewegungen. Den Chef der privaten Wagner-Armee nannte Medwedew nicht namentlich. Medwedew, warnte, dass ein Staatsstreich gegen die größte Atommacht „die Welt an den Rand der Zerstörung zu bringen droht“. Die russische Führung werde ein solches Szenario nicht zulassen, betonte er. Die Söldnereinheit Wagner hat derweil nach Behördenangaben auf dem Weg vom südrussischen Rostow am Don nach Moskau inzwischen die Region Lipezk erreicht. „Den Einwohnern wird dringend geraten, ihre Häuser nicht zu verlassen und auf Fahrten mit Verkehrsmitteln zu verzichten“, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Igor Artamonow, auch auf seinem Telegram-Kanal. Die Lage sei aber unter Kontrolle. Lipezk befindet sich etwa auf halbem Weg zwischen Rostow und Moskau, rund 400 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt. Die Bundesregierung berät unterdessen nach Auskunft des Auswärtigen Amts mit wichtigen internationalen Partnern über die Situation in Russland. „Außenministerin Baerbock hat sich gerade mit den Außenministerinnen und Außenministern der G7 über die Lage beraten“, teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Samstagnachmittag in Berlin mit. Zu den G7 gehören neben Deutschland auch Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und Großbritannien. Am späten Nachmittag schrieb das Auswärtige Amt auf Twitter, dass auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell an der Schalte teilgenommen habe. Das könnte Sie auch interessieren:
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Cicero-Redaktion
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Bewegt sich Russland in einen Bürgerkrieg hinein? Zum Abend des Aufstandes eskaliert die Lage weiter, doch welche Erfolge die aufständische Wagner-Truppe um ihren schillernden Chef Jewgeni Prigoschin tatsächlich erreichen können, bleibt noch weitgehend unklar. Der frühere russische Präsident Medwedew warnte unterdessen vor einem Staatsstreich gegen die größte Atommacht, dieser könne „die Welt an den Rand der Zerstörung“ bringen. Die russische Führung werde ein solches Szenario nicht zulassen, betonte er. Immerhin hat der Moskauer Bürgermeister schon reagiert.
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[
"Russland",
"Moskau",
"Wladimir Putin"
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außenpolitik
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2023-06-24T18:40:55+0200
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2023-06-24T18:40:55+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/putschversuch-der-wagnertruppen-prigoschin-medwedew-warnt-vor-staatsstreich
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Beschnittene Grundrechte – Was die Politik tun sollte
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Die Frage Gretchens an Faust, wie er es mit der Religion halte,
stellt sich immer wieder neu und manchmal unverhofft. Die
umstrittene Entscheidung des Landgerichts Köln zur religiös
motivierten Knabenbeschneidung hat deutlich gemacht, dass sie auch
eine Rechtsfrage ersten Ranges ist und dass die Meinungen darüber
weit auseinander gehen. Nun
hat die Bundesregierung angekündigt, den religiösen Brauch per
Gesetz straffrei stellen zu wollen. Die Bundesregierung wolle
muslimisches und jüdisches Leben in Deutschland, heißt es. Diese
Mitteilung wird – vielleicht – die politische Diskussion etwas
beruhigen. Die rechtliche Diskussion ist damit noch lange nicht zu
Ende und die Bundesregierung wird nicht umhin kommen, sich in
diesem Streit zu positionieren. Relativ unstreitig ist unter den Juristen allein, dass die
Beschneidung (Zirkumzision) den Tatbestand der Körperverletzung
erfüllt. Sie ist indes nicht rechtswidrig und deshalb nicht
strafbar, wenn eine rechtfertigende Einwilligung vorliegt. Bei
einem einwilligungsunfähigen Kind entscheiden darüber die Eltern,
die ihre Entscheidung am Kindeswohl auszurichten haben. Gemäß dem Kölner Urteil, das sich auf eine mehr oder weniger
verbreitete Auffassung in der juristischen Literatur stützt, ist
die allein religiös motivierte Einwilligung der Eltern rechtswidrig
und damit unwirksam. Die Grundrechte des Kindes auf körperliche
Unversehrtheit und Selbstbestimmung würden dem Erziehungsrecht der
Eltern eine unverrückbare Grenze setzen. Der Körper des Kindes
werde durch eine Zirkumzision irreparabel verändert, was seinem
Interesse widerspreche, später selbst über seine
Religionszugehörigkeit bestimmen zu können. Dies liege nicht im
Wohl des Kindes. Das ist eine in sich schlüssige Argumentation. Aber es ist nicht
die Sichtweise eines religiösen Menschen, dem es Bedürfnis und
Pflicht ist, seine Kinder zu ihrem Wohl so zu erziehen, wie seine
Religion dies vorschreibt. Das Kölner Urteil greift tief in das
Sorgerecht der Eltern und in das Recht auf ungestörte
Religionsausübung ein und beschneidet im Ergebnis beide. Am
intensivsten stellt sich dieser Eingriff gläubigen Juden dar, aus
deren Sicht das Urteil bereits den Zugang zum Judentum
beeinträchtigt. Die Beschneidung acht Tage nach der Geburt hat
hierfür eine konstitutive Bedeutung. Es verwundert daher nicht,
dass von jüdischer Seite die schärfsten Proteste gegen das Urteil
erhoben werden. Lesen Sie weiter über die Kosten-Nutzen-Analyse
der Beschneidung... Die Kriminalisierung des religiösen Brauchs ist kein
juristischer Betriebsunfall. Im Urteil der Strafbarkeit
manifestiert sich vielmehr eine konsequent säkulare Weltsicht, die
die Religionen an ihrer Elle misst. Eine Weltsicht, die zunehmend
das moderne Denken beherrscht. Das zeigt sehr deutlich die Art und Weise, wie die juristischen
Wegbereiter und Befürworter des Urteils die betroffenen Grundrechte
gegeneinander abwägen: einerseits das Persönlichkeitsrecht des
Kindes und sein Recht auf körperliche Unversehrtheit – andererseits
das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung und das Grundrecht
der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder. Diese Abwägung erfolgt nach Art einer Kosten-Nutzen-Analyse.
Bringt die Beschneidung dem Kind insgesamt mehr Vorteile oder mehr
Nachteile? In diesem Abgleich ist die religiöse Relevanz nur ein
Faktor von vielen, der es mit einer Fülle von Gesichtspunkten
aufnehmen muss, für die Rationalität reklamiert wird: physisches und psychisches Wohlbefinden, Sexualität,
soziale Akzeptanz. Verglichen damit fallen der religiöse
Symbolgehalt und die Bedeutung für die religiöse Identitätsstiftung
kaum ins Gewicht; denn das Ritual als solches erscheint der
säkularen Vernunft als archaisch und irrational. Folglich kann es
keine Rechtmäßigkeit beanspruchen. Ein Gesetz, das den religiösen Brauch nur „straffrei“ stellt,
würde daran nichts ändern, sondern die Situation zulasten der
Religionsfreiheit sogar noch verschlechtern. Eltern, Ärzte und
Beschneider (Mohel, Sünnetçi) könnten zwar nicht strafrechtlich
verfolgt werden, aber der religiöse Brauch selbst wäre ins
rechtliche Abseits gestellt. Wird eine Handlung im Strafgesetzbuch
lediglich für „nicht strafbar“ erklärt, dann wird ihre
Rechtswidrigkeit vorausgesetzt. So verhält es sich beispielsweise
beim Schwangerschaftsabbruch nach Beratung während der 13. und 22.
Woche nach der Empfängnis (§ 218a, Absatz 4 StGB). Der Gesetzgeber sollte daher den religiösen Brauch als
Ausprägung des elterlichen Sorgerechts und des Rechts auf
Religionsausübung anerkennen und ihn im Strafgesetzbuch entweder
als „nicht tatbestandmäßig“ im Sinne der Körperverletzung oder als
„nicht rechtswidrig“ bezeichnen oder die Einwilligung der Eltern
aus religiösen Gründen für wirksam erklären. Lesen Sie weiter über den hohen Rang, den die
Verfassung der Religionsfreiheit einräumt... Für eine solche Regulierung spricht der hohe Rang, den die
Verfassung sowohl der Religionsfreiheit als auch dem elterlichen
Sorgerecht einräumt. Die Verfassung ist zwar weltanschaulich neutral, aber sie misst
der Religionsfreiheit in Artikel 4 Absatz 2 Grundgesetz ein
beträchtliches Eigengewicht zu, einen Wert an sich – und nicht nur
einen Nutzen im engeren Sinne. „Die ungestörte Religionsausübung“,
heißt es dort, „wird gewährleistet.“ Die Knabenbescheidung als
religiöses Ritual fällt prima vista in diesen Schutzbereich. Gleiches gilt für das elterliche Sorgerecht. Nach Artikel 6
Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz sind Pflege und Erziehung der Kinder
das „natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen
obliegende Pflicht“. Das heißt: In erster Linie sind die Eltern
befugt zu bestimmen, was im Einzelnen dem Wohl des Kindes genügt.
Sie haben, juristisch gesprochen, insoweit eine
„Einschätzungsprärogative“, und diese schließt die Befugnis ein,
das Kind religiös zu erziehen. Selbstverständlich berechtigen das elterliche Sorgerecht und die
Religionsfreiheit die Eltern nicht dazu, die körperliche
Unversehrtheit des Kindes aus religiösen Gründen ohne weiteres zu
verletzen. Diese steht ja ebenfalls unter dem Schutz der
Verfassung. Aber der hohe Wert, der allen betroffenen Grundrechten
zukommt, gebietet es, den körperlichen Eingriff angesichts dieser
Grundrechte zu bewerten und die jeweiligen
Grundrechtsbeeinträchtigungen gegeneinander abzuwägen. Eine solche Abwägung führt zu folgendem Ergebnis: Der „kleine
Schnitt für einen Menschen“ beeinträchtigt dessen Wohlbefinden in
einem gewissen Umfang. Es ist jedoch nicht nachgewiesen, dass die
Zirkumzision im Regelfall schwerwiegende gesundheitliche
Beeinträchtigungen mit sich bringt. Demgegenüber steht fest, dass
durch die Kriminalisierung der religiös motivierten Beschneidung
das elterliche Sorgerecht und das Recht auf ungestörte
Religionsausübung generell und nachhaltig eingeschränkt
werden. Auch die bloße Straflosigkeit würde daran nicht viel
ändern. Die Beschneidung wäre definitiv rechtswidrig, Islam und
Judentum stünden im Zwielicht. Das ist nicht der Ort, den das
Grundgesetz ihnen zuweist. Der Gesetzgeber sollte daher die religiös motivierte
Knabenbeschneidung ausdrücklich als rechtmäßig anerkennen.
Fortschritt und Aufklärung würden dadurch nicht beeinträchtigt,
Deutschland würde nicht zu einem religiösen Staat. Zur Aufklärung gehört wesentlich die Toleranz, das
Aushalten von Auffassungen, die man nicht teilt. Die Grenzen
der Toleranz liegen erst dort, wo ihre Voraussetzungen in Frage
gestellt werden. Der kleine Schnitt tut das nicht. Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor ist Anwalt für Strafrecht in
Berlin. Außerdem lehrt er an der Humboldt-Universität zu Berlin
Strafrecht, Strafprozessrecht und mittelalterliche und neuzeitliche
Rechtsgeschichte. Er ist Vorsitzender des Strafrechtsausschusses
der Bundesrechtsanwaltskammer.
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Die Kriminalisierung der Beschneidung ist kein juristischer Betriebsunfall: Bleibt es bei der Entscheidung des Kölner Landgerichts, stünden Judentum und Islam im Zwielicht – doch das ist nicht der Ort, den ihnen das Grundgesetz zuweist, argumentiert Strafrechtler Alexander Ignor
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innenpolitik
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2012-07-16T15:33:14+0200
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2012-07-16T15:33:14+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/was-die-politik-tun-sollte/51241
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Reformkanzler Schröder – Seligsprechung aus perfiden Motiven
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Was für ein Satz! „Wir waren auch schon mal der ‚kranke Mann
Europas‘, und zwar vor den Arbeitsmarktreformen des damaligen
Kanzlers Gerhard Schröder.“ Zitiert hat ihn der Spiegel; gesagt hat
ihn Günther Oettinger, einst CDU-Ministerpräsident von
Baden-Württemberg, heute EU‑Kommissar für Energie in Brüssel. Man könnte diesen Satz durchaus polemisch interpretieren. Zum
Beispiel so: „Liebe Kanzlerin, spiel dich nicht so auf in Europa,
denn du profitierst doch bloß von den Reformen deines
Vorgängers.“ So hat es der liebenswert-seriöse Parteifreund natürlich nicht
gemeint. Doch dokumentiert er als unverdächtiger Zeuge, was derzeit
gerade im Schwange ist: Schröder war’s. Er hat Deutschland
krisenfest gemacht. War er’s? Nach Meinung von konservativen und rechten Blättern,
von der Frankfurter Allgemeinen über die Zeit bis zu Springers
Welt: Ja, er war’s. So ist beispielsweise aus der Feder von Ulf Poschardt (Die
Welt), dem Etagenkellner aller Neoliberalen, zu lesen: „Die
positiven Impulse aus dieser Reformzeit wirken fort.“ Und der
transatlantische Titan Josef Joffe (Die Zeit) empfiehlt die
Schröder-Medizin auch den Franzosen: „Ohne eine blau-weiß-rote
Agenda 2015 wird Frankreich nicht gesunden.“ So tönt es allenthalben durch die Republik: „Lob für Gerhard
Schröder“ oder „Das deutsche Jobwunder macht die Hartz-Reformen zum
Vorbild für ganz Europa“ (beides: FAZ). Auch außerhalb von
Deutschland wird der Lobgesang angestimmt: Die Ironie der Wahl von
François Hollande bestehe darin, „dem Beispiel der letzten
Mitte-Links-Regierung des deutschen Kanzlers Gerhard Schröder zu
folgen“ (Wall Street Journal). Patrons und Banker und Publizisten entdecken ihr Herz für –
ja für wen eigentlich? Für den „Brioni“- und den „Basta“-Schröder,
für den „Sozi“, den sie vor acht Jahren mit allen Mitteln der
Polemik und Demagogie schmähten! Die Springer-Medien betrieben das Schröder-Bashing so
blindwütig, dass sich der damalige Chefredakteur der Welt am
Sonntag, Christoph Keese, in einem Interview – statt als
journalistischer Handwerker – als politischer Propagandist
outete: „Wir, die Minderheit der Neoliberalen, schreiben seit
Jahren gegen eine Mehrheit von Menschen an, die vehement gegen
Kapitalismus und freie Marktwirtschaft eintreten.“ Nicht nur der Springer-Verlag verkam zur politischen
Propaganda-Bude. Auch der Spiegel, da noch unter Stefan Aust,
reihte sich in die Kampagne derer ein, die Gerhard Schröder samt
Rot-Grün vom Hof jagen wollten. Federführer war Gabor Steingart,
seinerzeit Spiegel-Bürochef in Berlin, heute Chefredakteur des
Handelsblatts. Mit dem inquisitorischen Eifer eines Savonarola errichtete
Steingart nahezu wöchentlich neue Scheiterhaufen: „Rot-Grün
stolpert mit schludrigen Reformkonzepten in den Herbst.“
„Schröder-Truppe sprunghaft, verworren, konzeptlos.“ „Durch
gezielte Unwahrheiten versuchen der Kanzler und seine Getreuen ihre
prekäre Ausgangslage zu verbessern.“ „Der SPD-Kanzler bekommt das
zentrale Problem des Landes nicht in den Griff.“ Und mit ätzender
Häme: „Historisch – das ist des Kanzlers
Lieblingseigenlob.“ Inzwischen gelten die Schröder-Reformen in der Tat als
„historisch“ – sie wurden zur Grundlage des aktuellen
deutschen Erfolgs. Auch erzkonservative Blätter empfehlen das
„schludrige Reformkonzept“ zur Nachahmung in ganz Europa, um „das
zentrale Problem des Kontinents“ in den Griff zu kriegen. Seite 2: Das Klima wird vergiftet! Es war eine journalistisch dürftige Epoche, die Spätzeit von
Kanzler Schröder. Es war die Zeit von ARD-Christiansen, die,
unbedarft, aber wirkmächtig, allsonntäglich zum Talk-Gericht über
Rot-Grün lud. Ihr Spiel lief nach der perfiden Anleitung:
Deutschland schlechtreden, um die Regierung schlechtzumachen. Zu diesem Power-Game lieferte Spiegels Steingart das Programm in
Buchform. Es hieß: „Deutschland – der Abstieg eines
Superstars“.
Jetzt ist Deutschland Superstar. Dank der Regierung von damals. Die
Seligsprechung von Gerhard Schröder ist in vollem Gange. Und nun? Übt man journalistische Selbstkritik? In der Welt? In
der FAZ? Im Spiegel? So etwas ist in unserem Metier nicht
vorgesehen. Jedenfalls nicht in Deutschland. Ganz im Gegenteil:
Schon wird zur nächsten Jagd geblasen, als Auftakt für das Wahljahr
2013. Allen voran – wie ehedem – Die Welt, die FAZ.
Gegen wen geht’s diesmal? Gegen die „Sozis“ – gegen wen denn
sonst? Den schrillen Ton hat Dorothea Siems in der Welt vorgegeben:
„Sollten sich die Sozialdemokraten vor den Karren der Reformgegner
spannen lassen, grenzte dies an Vaterlandsverrat.“ Seitdem wird den Genossen systematisch der Marsch geblasen:
„Angela Merkel hat auf dem EU‑Gipfel weitere rote Linien geräumt.
Und die deutschen Sozialdemokraten halfen kräftig mit, Deutschlands
Position zu schwächen“, so ebenfalls die Welt. Deren Herausgeber Thomas Schmid singt voller Inbrunst mit: „Zu
Merkels Schwäche haben nicht nur Mario Monti und François Hollande,
sondern auch SPD und Grüne beigetragen.“
Den „Sozis“ ist einfach nicht zu trauen, was Deutschland
betrifft – was die Heimat betrifft. Sie sind eben „vaterlandslose
Gesellen“. So wurden sie einst in der wilhelminischen Monarchie
diffamiert. So wurden sie auch in der Bundesrepublik schon
diffamiert – zum Beispiel Willy Brandt wegen seiner
Vergangenheit als norwegischer Offizier im Kampf gegen die
Nazis. Nun also ein neuer Fall von sozialdemokratischem
Vaterlandsverrat: mitten in der Europäischen Union! Da muss
natürlich auch die Marktradikale Heike Göbel von der FAZ mit
einstimmen. Unter dem sinnigen Titel „Was die SPD tut“ wirft sie
den Sozialdemokraten vor, durch ihre Forderung nach einem
Wachstumspaket für Europa unserer Kanzlerin den „starken
innenpolitischen Rückhalt“ verweigert zu haben. 1914 schnarrte Kaiser Wilhelm II: „Ich kenne keine Parteien
mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Sozialdemokraten hatten
soeben den Kriegskrediten zugestimmt – dem Monarchen also den
starken innenpolitischen Rückhalt nicht verweigert. Das sollen sich die Genossen doch bitte endlich mal hinter die
Ohren schreiben: Im Ringen um Euro und Europa kennen wir keine
Partei mehr, nur noch Deutsche!
So ist denn angerichtet für den Wahlkampf 2013:
deutsch-national. Denn: „Europa greift nach unserem Geld“, wie die Welt am Sonntag
alle wahren Patrioten mit riesengroßer Schlagzeile anfixte. Wer
wollte es da wagen, eine abweichende Meinung auch nur zu äußern:
etwa darauf hinweisen, dass auch Frankreich und – man glaubt
es kaum – sogar Italien happig für hilfsbedürftige EU-Nationen
haften und zahlen?
Wer wollte da zum Opfer der publizistisch subtil eingefädelten
neuen Dolchstoßlegende werden? Ja, das Klima wird gerade vergiftet. Durch Populismus ohne
Populistenführer – mit Publizistenführern stattdessen. Wofür
Angela Merkel selbstverständlich nichts kann. Was sie aber durchaus
in Kauf nimmt, wenn es ihr hilfreich erscheint. Widerworte aus dem
Kanzleramt waren bis dato keine zu vernehmen. Deutschland wird deutscher.
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Hat Gerhard Schröder Deutschland mit seiner vor zehn Jahren begonnen Agendapolitik krisenfester gemacht? Die konservativen Eliten sagen ja. Doch die späte Seligsprechung des Reformkanzlers folgt nationalen Mustern
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innenpolitik
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2012-08-16T13:58:06+0200
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2012-08-16T13:58:06+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/seligsprechung-aus-perfiden-motiven/51563
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Hungersnot – "Die internationale Politik muss mehr Interesse zeigen"
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Herr Stöbe, können Sie uns einen kurzen Überblick geben
darüber, was sich gerade in Ostafrika abspielt?
Natürlich liegt es an der Dürre, dass die Situation sich so
drastisch verschlechtert hat. Aber es ist vor allem ein
Zusammenkommen vieler Faktoren: Seit 20 Jahren herrscht Bürgerkrieg
in Somalia und es gibt dort keine Infrastruktur, keine Polizei,
keine politische Kraft, die Recht und Ordnung schaffen könnte.
Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren die
Lebensmittelpreise weltweit exorbitant gestiegen sind. In
diesem Kontext kann Somalia, dessen Bevölkerung stark von der
Landwirtschaft abhängig ist, die Dürre einfach nicht mehr
meistern. Nun ist die Lage nicht nur in Somalia schwierig, sondern
am ganzen Horn von Afrika. Kann man von einer ostafrikanischen
Krise sprechen?
Die Faktoren für die humanitäre Not sind die gleichen in ganz
Ostafrika, das heißt auch in Kenia, Äthiopien und Dschibuti.
Allerdings ist Somalia am schlimmsten betroffen wegen des
Bürgerkriegs und der besonders großen Armut der
Somalier. Wen kann man für diese Krise verantwortlich
machen?
Es wird oft gesagt, dass diese Krise vorhersehbar war und dass eher
hätte reagiert werden müssen. Das stimmt auf der einen Seite,
denn durch Prävention lässt sich viel Leid mit weniger Kosten
abwenden. Bei jeder Katastrophe fragt die Weltöffentlichkeit sich,
ob sie nicht früher hätte handeln sollen. Leider ist es in der
Realität aber so, dass die Welt erst dann Notiz von einer Krise
nimmt, wenn diese extreme Ausmaße annimmt. Es gibt viele Akteure,
die für die ostafrikanische Krise verantwortlich zu machen sind. An
erster Stelle natürlich die somalische Politik und die der
Nachbarländer. Die Steigung der Lebensmittelpreise ist aber kein
ostafrikanisches Problem; die Überschwemmungen in Australien, die
Buschbrände in Russland sind auch Faktoren, die zu erhöhten
Lebensmittelpreisen führen. Es ist also ein globales Problem, was
uns aber hier in Deutschland kaum betrifft. In Somalia hingegen
kämpfen Menschen täglich ums nackte Überleben. Wenn sich die Preise
übers Jahr verdoppeln, können sie sprichwörtlich ihre Kinder nicht
mehr ernähren. Sind die Flüchtlingslager eine sichere Zuflucht vor
Hunger und Gewalt für die Menschen?
Die Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern in Kenia, Äthiopien und
Dschibuti sind nur die Spitze des Eisbergs. Es sind nur die
Menschen, die noch genug Kraft haben, aus dem krisengeschüttelten
Somalia zu fliehen. Unter ihnen sind viele Kinder. Wenn wir in
Europa an hungernde Kinder denken, stellen wir uns vor, dass sie
einfach zwei bis drei Tage ordentlich gefüttert werden müssen, um
wieder auf die Beine zu kommen. Aber der Abmagerungsprozess geht
über Tage und Wochen. Es dauert eben auch viele Wochen, bis diese
Kinder wieder ein Normalgewicht erreicht haben. Außerdem schwächt
der Unterernährungszustand der Kinder ihr Immunsystem so stark,
dass sie oft an vier oder fünf schweren Erkrankungen gleichzeitig
leiden. Die Kleinkinder sind meistens so ausgetrocknet, dass sie
diese Krankheiten klinisch nicht mehr äußern können. Das heißt, sie
entwickeln weder Durchfall noch Fieber. Diese Krankheiten
werden erst während der Behandlung diagnostiziert, wenn die
Kinder ein bisschen Kraft zurückerlangt haben. Die Behandlung ist
extrem komplex. Viele Kinder schaffen es zwar lebend in die Klinik,
sterben dann aber an völliger Erschöpfung. Wer sind diese Flüchtlinge, wo kommen sie
her?
Es sind vor allem Flüchtlinge aus Somalia, meistens Mütter mit
Kindern. Oft ist teilen sich die Familien auf. Die Mütter
gehen mit den Kleinkindern fort, während die Väter mit den älteren
Kindern bleiben. Sie wissen, dass sie es als ganze Familie nicht
ins Flüchtlingslager schaffen würden. Bis die Flüchtlinge die Camps
erreichen, können Wochen vergehen. Dann fehlt der Platz für die
Neuankömmlinge. Die müssen sich oft viele Tage vor dem Lager
niederlassen, bis sie offiziell von der UNO registriert werden. Das
ist Voraussetzung dafür, Nahrungsmittel zu bekommen. Dadaab ist
zurzeit das größte Flüchtlingslager der Welt und mit 400.000
Flüchtlingen völlig überstrapaziert. In der Klinik sind unsere
verfügbaren Betten überbelegt. Deshalb fordern wir, dass die
bestehenden Camps in Kenia und Äthiopien vergrößert und
weitere Camps erschaffen werden. Zurzeit können wir den
Flüchtlingen außerhalb Somalias viel besser helfen als im Land, wo
es für internationale Mitarbeiter zu gefährlich ist. Kommt es bei dieser Situation zu Gewalt in den
Camps?
Es gilt als internationaler Standard, dass jeder Flüchtling
20 Liter frisches Wasser pro Tag zum Trinken, zur Körperhygiene,
zur Nahrungszubereitung und zum Wäsche waschen benötigt.
Tatsächlich gibt es aber für Neuankömmlinge in Dadaab derzeit nicht
einmal sieben Liter pro Tag. Ähnlich schwierig ist es mit der
Nahrungszuteilung. Da kommt es zu Streitigkeiten um die wenigen
Ressourcen. An wen richtet sich Ihre Forderung, die Camps zu
vergrößern?
An die UNO aber auch an die kenianischen Behörden. Das Problem ist,
dass diese Camps seit vielen Jahren existieren und immer überfüllt
sind. Sie wurden für 90000 Menschen konzipiert, aber schon vor der
jetzigen Hungersnot mussten sie 300.000 Flüchtlinge beherbergen.
Und es werden täglich mehr. Ist die Sicherheit Ihrer Mitarbeiter in den
Krisenregionen gewährleistet?
Wir können derzeit nicht mit internationalen Helfern in Somalia
arbeiten. Wir mussten vor Jahren die internationalen Experten
abziehen, da die Sicherheitslage katastrophal war und einige
unserer Mitarbeiter getötet wurden. Wir konnten aber, und das
ist die gute Nachricht, mit unseren nationalen
Mitarbeitern in Somalia die Programme weiterführen. Mit
Kurzbesuchen stellen wir seither sicher, dass die medizinische
Qualität der Arbeit gewährleistet bleibt. Sie versuchen, regelmäßig Kontakt zu allen politischen
Akteuren in Krisenregionen zu finden, um als politisch neutrale
Hilfsorganisation anerkannt zu werden. Das klappt in der Regel ganz
gut. Warum nicht in Somalia?
In Somalia ist die politische Lage schwierig und unüberschaubar.
Die Rebellen schätzen die Situation ganz anders ein als die UNO.
Sie sagten vor kurzem in einer offiziellen Stellungnahme, dass es
gar keine Hungersituation in Somalia gäbe. Da wird viel
politisch herumjongliert. Wir wollen verdeutlichen, dass mehr
internationale Hilfe ins Land gelassen werden muss. Bisher ohne
Erfolg. Mehr als verhandeln können wir nicht, wir haben keine
politischen Druckmittel. Hier ist die Politik gefordert. Der
Konflikt in Somalia braucht eine politische Lösung. Die
internationale Politik muss viel mehr Interesse und Engagement
zeigen. Der Soziologe Jean Ziegler spannt einen Bogen
zwischen dem Geld, das die EU in die Rettung ihrer ausgabefreudiger
Länder und Banken steckt und dem Geld, das in Ostafrika gerade
fehlt. Ist das ein relevanter Vergleich?
Ich finde diesen Vergleich unpassend. Angela Merkel war vor kurzem
in Kenia und hat dort für Wirtschaftskooperation geworben. Wir
kommentieren politische Entscheidungen zwar nicht, aber wir können
klar sagen, dass die von Merkel damals versprochene Hilfe ein
Tropfen auf dem heißen Stein war. Es reicht nicht zu sagen, der
afrikanische Kontinent habe ein tolles Wirtschaftswachstum und
bräuchte jetzt keine humanitäre sondern wirtschaftliche Hilfe. Die
aktuelle Krise zeigt ganz eklatant, dass die zivile Bevölkerung auf
humanitäre Hilfe angewiesen ist. Es ist zynisch, Wirtschaftshilfe
in Somalia leisten zu wollen, denn es gibt dort keine Strukturen,
die von dieser Wirtschaftshilfe profitieren könnten. Die Menschen
vom Sterben abzuhalten: Nur darum geht es zurzeit in Somalia. Da
muss die deutsche Politik viel mehr leisten als bisher. Herr Stöbe, vielen Dank für das Gespräch.
Wenn Sie die Arbeit von „Ärzte ohne Grenzen“ unterstützen möchten,
können Sie dies gerne mit einer Spende unter folgenden Bankdaten
tun: Empfänger: Ärzte ohne Grenzen
Spendenkonto: 97 0 97
Empfängerbank: Bank für Sozialwirtschaft
Bankleitzahl: 370 205 00 Das Interview führte Gaelle Rohmer.
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Tankred Stöbe ist Vorstandsvorsitzender der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“. Mit CICERO ONLINE spricht er über die Ursachen und die Entwicklung der humanitären Not am Horn von Afrika.
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außenpolitik
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2011-08-01T14:11:11+0200
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2011-08-01T14:11:11+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/die-internationale-politik-muss-mehr-interesse-zeigen/42506
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CDU-Werkstattgespräch - Szenen einer Abnabelung
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Zwei Worte sind es, die es Annegret Kramp-Karrenbauer offenbar besonders angetan haben: „Humanität und Härte“. Sie fallen in dem Expertengespräch am Sonntagabend im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Parteizentrale in Berlin. Die neue CDU-Vorsitzende und Merkel-Nachfolgerin in diesem Amt wiederholt dieses Plädoyer gleich zweimal während des zweitägigen Werkstattgesprächs, das ihre Partei zu den Themen Migration, Sicherheit und Integration veranstaltet hat – ohne die Bundeskanzlerin. „Humanität und Härte“ müsse die CDU in der Flüchtlingspolitik zusammenbringen, betont Kramp-Karrenbauer am Sonntagabend, und sie betont dies am Montagnachmittag gleich noch einmal. Die Migrationspolitik müsse zwar die Menschenwürde jedes Einzelnen achten, sagt Kramp-Karrenbauer. Dennoch müsse sie auf allen Ebenen konsequent handeln. „Humanität und Härte“, so könnte also die Formel lauten, mit der die CDU unter Annegret Kram-Karrenbauer versucht, eine Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft zu schlagen und sich in der Migrations- und Flüchtlingspolitik von der Bundeskanzlerin und ehemaligen Parteivorsitzenden abzunabeln. Eine andere AKK-Formel zum Abschluss des Werkstattgespräches lautet: „Wir haben unsere Lektion gelernt.“ Zwei Tage lang trafen sich CDU-Politiker, um die Flüchtlingskrise von 2015 aufzuarbeiten und um sich mit der Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel in den vergangenen dreieinhalb Jahren auseinanderzusetzen. Die CDU will sich selbst finden. Sie will die Gräben überwinden, die Merkels Flüchtlingspolitik in der Partei aufgerissen hat. Und sie will die AfD wieder zurückdrängen, die sich in der Folge der Merkel'schen Flüchtlingspolitik im deutschen Parteiensystem etabliert hat. Im innerparteilichen Wahlkampf um den CDU-Vorsitz hatte Annegret Kramp-Karrenbauer eine solche innerparteiliche Aufarbeitung der Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr versprochen. Jetzt löst sie dieses Versprechen ein. Und die Herausforderung für Kramp-Karrenbauer bestand an beiden Tagen darin, dieses einzulösen, ohne allzu lange zurückzuschauen und ohne das Werkstattgespräch in ein Scherbengericht über die Merkel'sche Flüchtlingspolitik münden zu lassen. Denn so viele Merkel-Gegner es in der CDU gibt, so viele Anhänger gibt es auch. Der Prozess der Abnabelung der CDU von ihrer Kanzlerin gleicht also einer Gratwanderung. Zumal die ehemalige CDU-Vorsitzende Merkel noch immer an der Spitze der Bundesregierung steht und ihr die neue CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer irgendwann auch in Regierungsamt nachfolgen will. In der Praxis klingt das dann so: 2015 sei eine „absolute Ausnahmesituation“ gewesen, sagt Kramp-Karrenbauer also zum Abschluss des Werkstattgesprächs, die CDU müsse „alles daransetzen, dass sich sowas nicht wiederholt“. Die Bundesregierung habe seitdem „viel auf den Weg gebracht“, aber man sei noch nicht am Ende, vieles sei „verbesserungswürdig“. Was das heißt, darin haben die CDU-Politiker und die Experten im Konrad-Adenauer-Haus eine recht konkrete Vorstellung. Die Liste der Spiegelstriche, die sie nach der Beratung in insgesamt vier Arbeitsgruppen präsentieren, ist ziemlich lang. Sie reicht vom besseren Schutz der EU-Außengrenzen über einen besseren Datenaustausch bis zur Ausweitung des Ausreisegewahrsams. Von der Beschränkung des Instanzenweges vor den Verwaltungsgerichten über mehr Sanktionsmöglichkeiten im Asylbewerberleistungsgesetz bis zur Verbesserung von Integrationsmaßnahmen. Die Liste macht unverkennbar: CDU pur würde eine grundlegende Akzentverschiebung in der Flüchtlingspolitik bedeuten, eine konservative Wende. Nur mit dem Koalitionspartner SPD ist diese genauso wenig zu machen wie mit dem Bundesrat, in dem die Grünen eine gewichtige Stimme haben. Man könnte die Liste also auch ein christdemokratisches Wünsch-dir-was nennen. Aber ein Wünsch-dir-was scheint in der Großen Koalition gerade angesagt zu sein. So wie die SPD in der Sozialpolitik ihre politische Eigenständigkeit zu demonstrieren versucht und deshalb umfangreiche Konzepte schreibt, so tut es die CDU in der Flüchtlingspolitik. Am Ende geht es beiden Parteien um innerparteiliche Versöhnung und gleichzeitig um die Profilierung gegenüber dem Koalitionspartner Ob Union und CDU auf dieser Basis noch lange gemeinsam regieren können, wird sich zeigen müssen. Die Sollbruchstellen der Großen Koalition werden zumindest immer sichtbarer. Ob ein Werkstattgespräch in der CDU zugleich reicht, um die Partei zu versöhnen, daran darf man zweifeln. Denn die Emotionen, die die Partei in den vergangenen Jahren gespalten haben, sitzen immer noch tief. Das zeigt der Schlagabtausch, den sich im Konrad-Adenauer-Haus Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und sein Vorgänger Thomas de Maizière (CDU) liefern. Erst kritisiert de Maizière Seehofer in seinem Buch, aus dem der Spiegel am Wochenende einen Auszug veröffentlicht hat. Dessen Vorwurf des Rechtsbruchs, der sich hinter der Formulierung „Herrschaft des Unrechts“ verbirgt, nennt de Maizière „ehrabschneidend“. Seehofer kontert am Montag. Er nennt die Darstellung seines Vorgängers „objektiv falsch“ und wirft diesem schlechten politischen Stil vor. So zeigt sich: Das Werkstattgespräch ist für die CDU allenfalls ein Anfang. Auf Annegret Kramp-Karrenbauer wartet noch viel Arbeit.
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Christoph Seils
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Beim CDU-Werkstattgespräch arbeitet die Partei unter der Regie von Annegret Kramp-Karrenbauer die Flüchtlingskrise von 2015 auf. Dabei schont sie die Kanzlerin und erstellt einen Maßnahmenkatalog, der die Anhänger versöhnen soll. Aber hat sie dabei die Rechnung mit dem Koalitionspartner SPD gemacht?
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"CDU",
"Flüchtlingspolitik",
"Angela Merkel",
"Thomas de Maizière",
"SPD",
"Kramp-Karrenbauer"
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innenpolitik
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2019-02-11T21:46:48+0100
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2019-02-11T21:46:48+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/cdu-werkstattgespraech-annegret-kramp-karrenbauer-fluechtlingspolitik-thomas-de-maiziere-grosse-koalition
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Corona-Ausnahmezustand - Die Eile der EVP-Liberalen, gegen Orbán loszuschlagen
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Am Dienstagvormittag tagte der Fraktionsvorsitz der EVP gemeinsam mit den sogenannten Heads of Delegations – also das Präsidium und die Chefs der jeweiligen Landesdelegationen. Ein Thema war dabei der Vorstoß von 14 liberaleren Mitgliedsparteien, die EVP möge entschlossen gegen die ungarische Regierungspartei Fidesz vorgehen, weil diese im Parlament einen Ausnahmezustand ohne klare zeitliche Befristung durchgebracht hatte. Regierungschef Viktor Orbán könne damit, so der Vorwurf, unter dem Vorwand der Coronavirus-Epidemie de facto ohne parlamentarische Kontrolle regieren. Die Anti-Orbán-Rebellen hatten deswegen gemeinsame Briefe an den EVP-Vorsitzenden Donald Tusk und an EVP-Fraktionschef Manfred Weber verfasst. Im Brief an Weber hieß es: „EVP Partei und Fraktion haben besonders in Krisenzeiten die moralische Verpflichtung, die liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen“ Weber wurde aufgefordert, „die nötigen Konsequenzen zu ziehen“ aus diesem „zusätzlichen Angriff gegen unsere europäischen Werte und die Grundwerte der EVP“ Die Partei (und die von Weber geführte Fraktion) müssten eine „klare Haltung“ zeigen. Im Brief wurde etwa Weber gemahnt, die Position der Fraktion müsse zumindest die Position der Partei wiederspiegeln. Was zwischen den Zeilen wohl bedeutete, dass die Unterzeichner da einen Unterschied sahen – eine Bruchlinie zwischen Fraktionschef Manfred Weber und Parteichef Donald Tusk. Der hatte am 4. April in einem Brief den Ausschluss von Fidesz gefordert – nicht jetzt mitten in der Pandemie, aber danach, wenn diese überwunden sei. Weber selbst war am Dienstag nicht zugegen, als Stellvertreter leitete Fraktionsvize Esteban Gonzales Pons die Sitzung und forderte die 13 Rebellen mehrfach auf, den Brief an Weber vorerst nicht zu „promoten“ also breit zu publizieren in den Medien und auf den sozialen Netzwerken. Denn das lenke Aufmerksamkeit ab von der geplanten Veröffentlichung eines gemeinsamen Positionspapiers zur Bekämpfung der Coronavirus-Krise. Am Ende der Sitzung wiederholte er diese Aufforderung nach Angaben eines Teilnehmers noch einmal nachdrücklich. Aber die Orbán-Rebellen hatten es eilig. Noch am Vormittag publizierten mehrere EVP-Mitgliedsparteien den Brief, unter anderen die luxemburgische CSV und die dänische Konservative Volkspartei. Deren Abgeordnete Pernille Weiss lieferte sich einen Schlagabtausch mit dem Fidesz-Abgeordneten Tamás Deutsch auf Twitter. Daraufhin benachrichtigte EVP-Pressesprecher Pedro López seine Mitarbeiter per Whatsapp über die Entscheidung vom Vormittag, und wies alle an, auf etwaige Anfragen erstens zu sagen, dass die EVP der Linie von Donald Tusk folgen werde, erst nach der Epidemie über Fidesz zu entscheiden. Ferner schrieb er: “we have asked the Commission to look at ALL emergency laws adopted by EU governments there is not only one single case that is contested“ Es gehe der EVP also nicht darum, eine Regierung und ihre Maßnahmen herauszupicken, sondern sämtliche Notstandsgesetze in der EU zu prüfen - darum habe man die EU-Kommission gebeten. Insofern Tusk sehr wohl Ungarn und Fidesz gesondert thematisiert hatte, ist das tatsächlich ein inhaltlicher Unterschied zwischen dem EVP-Vorsitzenden und der Fraktionsführung, zwischen Partei und Fraktion. Ungarns Justizministerin Judit Varga beschuldigte die EVP-Führung (nicht aber die Fraktion) auf Anfrage von Cicero, „in der Krise Spannungen zu steigern“ was „die Mehrheit der EVP-Mitglieder nicht wollen“. „Taktisch unklug“ nannte eine Quelle aus Kreisen von Webers CSU das hastige Vordringen der Anti-Orbán-Rebellen. Grundsätzlich müsse bedacht werden, dass ein Ausscheiden von Fidesz zu „Verwerfungen“ führen werde, zum Abgang weiterer EVP-Mitglieder. Ein Beobachter in Brüssel meinte, dass eigentlich Bemerkenswerte sei, dass die Zahl der Parteien, die sich in der EVP gegen Fidesz wenden, im Vergleich zum vergangenen Jahr nicht gestiegen sei. Es sind, wie schon im Frühling 2019 im Drama um Orbáns Anti-Juncker-Plakatkampagne vor den Europawahlen, 13 zumeist kleinere Parteien aus den alten, nördlichen EU-Ländern. Fazit des Beobachters: Solange Frankreich, Deutschland und Italien nicht dahinter stehen, ist Fidesz nicht in Gefahr.
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Boris Kálnoky
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Der liberale Flügel der EVP fordert Fraktionschef Manfred Weber zum Handeln gegen Ungarns Regierungspartei Fidesz auf – und verstößt dabei gegen interne EVP-Anweisungen zu warten, wie „Cicero“ exklusiv erfuhr.
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"Coronavirus",
"Coronakrise",
"Ausnahmezustand",
"Viktor Orban",
"Ungarn",
"EU",
"EVP",
"Manfred Weber"
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außenpolitik
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2020-04-08T14:11:27+0200
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2020-04-08T14:11:27+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/ausnahmezustand-die-eile-der-evp-liberalen-gegen-orban-loszuschlagen
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Manager-Gehälter - Die Schweizer Wutbürger taugen nicht zum Vorbild
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Alles hängt bekanntlich mit allem zusammen, und was die Schweizer Wirtschaft betrifft, hängt alles mit der Pleite der Swissair im Jahre 2001 zusammen. Hätte die stolze Schweizer Fluglinie 2001 nicht Insolvenz anmelden müssen, wäre der Kräuterzahnpasten- und Mundwasserhersteller Thomas Minder aus Neuhausen als Lieferant der Airline mit seinem Unternehmen nicht in Schwierigkeiten geraten. Ohne den drohenden Totalverlust von 500.000 Schweizer Franken, die seine Trybol AG an den Rand des Abgrunds brachten, hätte Minder sich nicht darüber aufregen müssen, dass sich der damalige Swissair-Chef Mario Corti gleichzeitig 12,5 Millionen Schweizer Franken Jahresgehalt für die gescheiterte Rettung der Swissair auszahlen ließ. Der Wutbürger Thomas Minder war geboren, der Kämpfer gegen Boni- und Gehaltsexzesse für Manager. Am vergangenen Sonntag, fast zwölf Jahre später, hat er nun seinen wichtigsten Sieg errungen. 68 Prozent der Schweizer Wähler stimmten für seine Initiative gegen die „Abzockerei“ – in der direkten Demokratie Schweiz hat der Wutbürger eben ganz andere Einflussmöglichkeiten als sein Pendant in Stuttgart. Die Minder-Initiative (sic!) sieht unter anderem vor, dass bei börsennotierten Schweizer Aktiengesellschaften in Zukunft die Aktionäre jedes Jahr auf der Hauptversammlung festlegen, wie viel das Management insgesamt maximal verdienen darf. Auch die Verwaltungsräte der Unternehmen, die bisher über die Höhe der Manager-Gehälter entschieden, müssen sich jedes Jahr zur Wiederwahl stellen. Weiterhin darf es in Zukunft keine Antritts- oder Abfindungszahlungen für die Führungskräfte geben, das Ende der üppigen signing bonuses und golden handshakes. Zuwiderhandlungen sollen zu drastischen Geldstrafen oder sogar zu Freiheitstrafen von bis zu drei Jahren führen. Minders Erfolg hat ein gewaltiges internationales Echo ausgelöst: Die Befürworter preisen die Schweizer Rebellion und bewundern den revolutionären Geist der neuen Regeln. Die Kritiker warnen vor Standortnachteilen oder sprechen gar von einem Amok-Lauf gegen vernünftige Unternehmensführung, der zu einem Exodus der in der Schweiz ansässigen Unternehmen führen werde. Es geht aber auch eine Nummer kleiner: Der Kern der Vorlage besteht darin, dass die Rechte der Aktionäre in der Schweiz gestärkt werden. Sie haben als Eigentümer der Unternehmen in Zukunft das letzte Wort. Die Gehälter werden nicht mehr im Hinterzimmer zwischen Vorständen und Verwaltungsräten ausgehandelt. Mehr Transparenz kann man in diesem Bereich nur begrüßen. Sinnvoll ist auch, dass die Entscheidungshoheit im Unternehmen bleibt und den Firmen keine starre Gehaltsgrenze von der Politik aufgezwungen wird, wie es gerade auf EU-Ebene bei der Deckelung der Banker-Boni geschieht. Die sollen in Zukunft nur noch maximal doppelt so hoch sein dürfen wie das Grundgehalt. Eine solch unflexible gesetzliche Regelung lässt sich aber leicht umgehen, indem die Grundgehälter entsprechend angehoben werden, und berücksichtigt nicht die unterschiedlichen Bedürfnisse einzelner Unternehmen und verschiedener Branchen. Seite 2: Die Mehrheitseigner sind bisher nicht durch Kritik an den zu hohen Managementgehältern aufgefallen Ob die neue Regelung in der Schweiz am Ende tatsächlich zu niedrigeren Gehältern in den Vorstandsetagen führen wird, bleibt abzuwarten. Theoretisch könnten die Aktionäre ihren Vorständen auch eine höhere Vergütung als bisher bewilligen. Ähnlich wie in Deutschland verfügen nämlich auch in der Schweiz bei den großen Konzernen Staats- und Investmentfonds sowie Pensionskassen aus dem Ausland über die Mehrheit der Anteile. Die sind bisher eher selten durch Kritik an den zu hohen Managementgehältern aufgefallen. Auch deswegen ist es unverständlich, dass die Politik in Deutschland jetzt vehement nach einer gesetzlichen Deckelung wie in der Schweiz kräht. Das ist purer Wahlkampf, weil die Schweizer eben keine vom Staat verordnete Obergrenze eingeführt haben, sondern stattdessen die Aktionärsdemokratie gestärkt haben. Auch hierzulande kann die Hauptversammlung im Übrigen einen Beschluss über das Vergütungssystem fassen. Er ist zwar nicht bindend für den Aufsichtsrat, aber ein vernünftiges Kontrollgremium wird sich kaum gegen den Mehrheitswillen der Aktionäre stellen. Die Schweizer Regelungen sind auch deswegen keine Blaupause für Deutschland, weil die Schweiz beim Thema vernünftige Unternehmensführung, neudeutsch: Corporate Governance, eher hinterherhinkte. In Deutschland sorgt schon die paritätische Zusammensetzung der Aufsichtsräte aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zumindest auf dem Papier für eine bessere Kontrolle der Vorstände. Mehr Transparenz, gepaart mit öffentlichem Druck wird auch ohne weitere Regelungen in Zukunft verhindern, dass die Gehälter der Führungskräfte weiter ungebremst steigen werden. Ein Bonus von 80 Millionen Euro für den Deutsche Bank-Händler Christian Bittar oder 58 Millionen Euro Abfindung für Daniel Vasella, den ehemaligen Verwaltungsratschef des Schweizer Pharmariesen Novartis, sind weder in Deutschland noch in der Schweiz und in Zukunft vermittelbar. Bestes Beispiel für die Wirksamkeit von Transparenz ist VW-Chef Martin Winterkorn. Der begnügt sich 2012 mit einem Jahresgehalt von 14,5 Millionen Euro, obwohl ihm nach dem Vergütungssystem des Unternehmens mehr als 20 Millionen Euro zugestanden hätten. Auch mit dem reduzierten Gehalt wird sich Winterkorn ein Frühstück und zwei warme Mahlzeiten am Tag leisten können, aber es zeigt, dass die Botschaft langsam ankommt. „Bei allem Erfolg des Konzerns können die Steigerungen nicht ins Uferlose weitergehen“, sagte Winterkorn dem Spiegel Anfang Februar zur Begründung seiner Entscheidung. Am Rande der Genfer Automesse betonte der VW-Chef nun, er sei deswegen noch lange nicht für eine gesetzliche Deckelung. In Deutschland gebe es dafür keine Gründe. Thomas Minder wird also auch in Zukunft mit Millionengehältern leben müssen. Weitere Ironie der Geschichte: Die Swiss, die Nachfolgegesellschaft der Swissair, trat am Ende in den Vertrag mit Minder ein, sodass der Verlust seines Familienunternehmens nach eigenen Angaben nur „ein paar Tausend Euro“ betrug. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
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Til Knipper
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Die Schweizer Wutbürger werden von den Kritikern überhöhter Bonuszahlungen gefeiert - zu Unrecht. Der Volksentscheid belässt die Entscheidungsgewalt in den Unternehmen. Ob die Mehrheitseigner sich jetzt gegen hohe Boni aussprechen, ist völlig unklar
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wirtschaft
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2013-03-05T13:50:21+0100
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2013-03-05T13:50:21+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/die-schweizer-wutbuerger-taugen-nicht-zum-vorbild/53743
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„Sea Watch 3“ - Ende einer Irrfahrt
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Menschenleben zu retten sei keine Straftat, sondern ein humanitärer Akt. Das befand Außenminister Heiko Maas gegenüber der Rheinischen Post nach der Freilassung von „Sea Watch 3“-Kapitänin Carola Rackete. Während ihres Hausarrests wurde Rackete auf Twitter von Italiens Innenminister Matteo Salvini mit Schmähungen überzogen. Dagegen erhebt sie jetzt ihrerseits Anklage. Doch was ist da eigentlich in der vergangenen Woche genau passiert? Das erläutert Christopher Hein auf dem Verfassungsblog ausführlich. Er erklärt, warum die Festnahme Racketes nicht rechtens war. Hein ist Professor für Migrations- und Asylrecht an der Universität Rom. Die gegenwärtige Situation im Mittelmeer fasst Hein so zusammen: „Die strafrechtliche Verfolgung von Carola Rackete ist der vorläufig letzte Akt einer seit über 2 Jahren zu beobachtenden Eskalation von Maßnahmen Italiens gegen die Seenotrettung im zentralen Mittelmeerbereich im Allgemeinen und gegen nichtstaatliche Hilfseinrichtungen im Besonderen.“
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Cicero-Redaktion
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Die deutsche Kapitänin der „Sea Watch 3“, Carola Rackete, verklagt Italiens Innenminister Matteo Salvini. Dieser hatte Rackete während ihrer Haftzeit mehrfach beleidigt. Warum ihre Festnahme ein Politikum darstellte, erklärt der Professor für Migrations- und Asylrecht, Christopher Hein
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"Sea Watch 3",
"Carola Rackete",
"Matteo Salvini",
"Italien"
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außenpolitik
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2019-07-05T17:17:59+0200
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2019-07-05T17:17:59+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/sea-watch-3-carola-rackete-italien-matteo-salvini-seenotrettung
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DDW-Standortranking - Diese Städte haben die besten Unternehmen
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Das Standortranking fußt auf der Anzahl von Top-Unternehmen der unterschiedlichen Klassifizierungen an den Standorten – also beispielsweise der Top-10.000-Mittelständler, größten Familienunternehmen oder Investorenhäuser. Insgesamt sind es aktuell rund 23.700 Unternehmen, die Die Deutsche Wirtschaft als relevante Top-Akteure für Deutschland ermittelt hat. In den Tabellen des Standortrankings lassen sich die Veränderungen zu jeder Stadt bzw. die Detailresultate ersehen. In diesem Beitrag haben wir daraus für einige Segmente Top-10-Rankings herausgestellt. Zusammen mit Professor Dr. Bernd Venohr bringt Die Deutsche Wirtschaft das Lexikon der deutschen Weltmarkführer heraus. Das vollständigste Verzeichnis dieser Art hat aktuell 1496 Unternehmen ermittelt. Hier, wo sich die meisten befinden: 1. München: 34 Weltmarktführer
2. Hamburg: 33 Weltmarktführer
3. Berlin: 27 Weltmarktführer
4. Köln: 20 Weltmarktführer
5. Wuppertal: 15 Weltmarktführer
6. Düsseldorf: 11 Weltmarktführer
7. Dortmund, Stuttgart, Nürnberg, Essen: jeweils 10 Weltmarktführer
8. Frankfurt am Main, Bremen, Aachen, Darmstadt, Wertheim: jeweils 9 Weltmarktführer
9. Bielefeld, Kiel, Heilbronn, Remscheid: jeweils 8 Weltmarktführer
10. Siegen, Karlsruhe, Tuttlingen, Tübingen: jeweils 7 Weltmarktführer Das ganze Ranking sehen Sie hier: Weltmarktführer nach Städten Die Investorenliste Deutschland, Österreich und Schweiz hat die 2500 Investoren, Family Offices, PE-Häuser und Vermögensverwalter erfasst. In Deutschland haben sich von ihnen die meisten hier angesiedelt: 1. München: 253 Investoren und Family Offices
2. Frankfurt am Main: 223 Investoren und Family Offices
3. Hamburg: 203 Investoren und Family Offices
4. Berlin: 158 Investoren und Family Offices
5. Düsseldorf: 77 Investoren und Family Offices
6. Köln: 65 Investoren und Family Offices
7. Stuttgart: 48 Investoren und Family Offices
8. Hannover: 26 Investoren und Family Offices
9. Grünwald: 23 Investoren und Family Offices
10. Bremen, Bonn: 18 Investoren und Family Offices Weitere Analysen sehen Sie hier: Die 2.500 Investoren aus dem DACH-Raum Die deutschen Familienunternehmen stellen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft dar. Die Deutsche Wirtschaft hat die 5000 umsatzstärksten Vertreter in ihrer Liste der größten Familienunternehmen erfasst. Hier die Städte mit den meisten Top-Familienunternehmen: 1. Hamburg: 192 Top-Familienunternehmen
2. München: 102 Top-Familienunternehmen
3. Berlin: 95 Top-Familienunternehmen
4. Köln: 64 Top-Familienunternehmen
5. Bremen: 60 Top-Familienunternehmen
6. Nürnberg: 48 Top-Familienunternehmen
7. Stuttgart: 45 Top-Familienunternehmen
8. Düsseldorf: 37 Top-Familienunternehmen
9. Bielefeld: 33 Top-Familienunternehmen
10. Osnabrück: 30 Top-Familienunternehmen Das ganze Ranking sehen Sie hier: Die Städte mit den meisten Top-Familienunternehmen Wirtschaft ist im Wandel – in den kommenden Jahren wahrscheinlich mehr denn je zuvor. Wir haben die 3000 deutschen Unternehmen ermittelt, die in den 50 Trend- und Wachstumsbranchen der Zukunft aktiv sind. Hier die zehn Städte, die die meisten dieser Unternehmen am Standort haben: 1. Berlin: 181 Unternehmen in Zukunftsmärkten
2. Hamburg: 158 Unternehmen in Zukunftsmärkten
3. München: 143 Unternehmen in Zukunftsmärkten
4. Düsseldorf: 63 Unternehmen in Zukunftsmärkten
5. Köln: 61 Unternehmen in Zukunftsmärkten
6. Frankfurt am Main: 57 Unternehmen in Zukunftsmärkten
7. Stuttgart: 37 Unternehmen in Zukunftsmärkten
8. Nürnberg: 31 Unternehmen in Zukunftsmärkten
9. Bremen: 26 Unternehmen in Zukunftsmärkten
10. Dresden: 25 Unternehmen in Zukunftsmärkten Wer sind die bedeutendsten Mittelstandsunternehmen Deutschlands? Die Deutsche Wirtschaft ermittelt die 10.000 wichtigsten Mittelständler (bis 1 Mrd. Jahresumsatz) anhand eines Scoringwertes aus 31 Kennziffern zu jedem Unternehmen. Hier die zehn beliebtesten Standorte der Top-Mittelständler: 1. Hamburg: 348 Top-Mittelstandsunternehmen
2. Berlin: 281 Top-Mittelstandsunternehmen
3. München: 216 Top-Mittelstandsunternehmen
4. Köln: 150 Top-Mittelstandsunternehmen
5. Bremen: 94 Top-Mittelstandsunternehmen
6. Stuttgart: 91 Top-Mittelstandsunternehmen
7. Nürnberg: 88 Top-Mittelstandsunternehmen
8. Düsseldorf: 87 Top-Mittelstandsunternehmen
9. Frankfurt am Main: 62 Top-Mittelstandsunternehmen
10. Bielefeld: 59 Top-Mittelstandsunternehmen Das ganze Ranking sehen Sie hier: Wo sich der Mittelstand am wohlsten fühlt Deutsche Unternehmen sind stark auf den Weltmärkten, aber Deutschland ist auch ein bevorzugter Standort und Käufermarkt für ausländische Investoren und Unternehmen. Die Deutsche Wirtschaft hat die 7869 wichtigsten Unternehmen in Auslandsbesitz ermittelt. Und dies sind ihre bevorzugten Standorte: 1. Hamburg: 484 Unternehmen in Auslandsbesitz
2. München: 391 Unternehmen in Auslandsbesitz
3. Berlin: 374 Unternehmen in Auslandsbesitz
4. Frankfurt am Main: 330 Unternehmen in Auslandsbesitz
5. Düsseldorf: 276 Unternehmen in Auslandsbesitz
6. Köln: 186 Unternehmen in Auslandsbesitz
7. Stuttgart: 85 Unternehmen in Auslandsbesitz
8. Nürnberg: 66 Unternehmen in Auslandsbesitz
9. Mannheim: 62 Unternehmen in Auslandsbesitz
10. Bremen: 57 Unternehmen in Auslandsbesitz Mehr Analysen hier: Die 7869 Unternehmen in Auslandsbesitz Ob Private Equity, Beteiligungsgesellschaften oder Investoren: Deutsche Unternehmen stehen hoch im Kurs, als fruchtbare Investments für Rendite zu sorgen und mit frischem Kapital auf Wachstumsweg zu gehen. Die 1700 Unternehmen in Investorenbesitz finden sich vor allem hier: 1. Berlin: 104 Unternehmen in Investorenbesitz
2. Hamburg: 101 Unternehmen in Investorenbesitz
3. München: 76 Unternehmen in Investorenbesitz
4. Frankfurt am Main: 43 Unternehmen in Investorenbesitz
5. Köln: 31 Unternehmen in Investorenbesitz
6. Düsseldorf: 30 Unternehmen in Investorenbesitz
7. Herford: 20 Unternehmen in Investorenbesitz
8. Essen: 18 Unternehmen in Investorenbesitz
9. Nürnberg: 17 Unternehmen in Investorenbesitz
10. Mannheim: 16 Unternehmen in Investorenbesitz Mehr Infos hier: Deutsche Unternehmen in Investorenbesitz An welchen Standorten finden sich die ältesten Top-Unternehmen? Wir haben den Durchschnittswert der Gründungsjahre errechnet, wenn sich mindestens drei Top-Unternehmen an einem Standort finden. Hier unsere Top-10: 1. Sigmaringendorf: Durchschnittsjahr 1748
2. Wittingen: Durchschnittsjahr 1750
3. Karlstadt: Durchschnittsjahr 1776
4. Dippoldiswalde: Durchschnittsjahr 1777
5. Freital: Durchschnittsjahr 1779
6. Liebenburg: Durchschnittsjahr 1805
7. Kreuzau: Durchschnittsjahr 1812
8. Tuntenhausen: Durchschnittsjahr 1816
9. Glückstadt: Durchschnittsjahr 1821
10. Alfter: Durchschnittsjahr 1828 … und wo finden sich die durchschnittlich jüngsten Top-Unternehmen? Hier unsere Top-5: 1. Salem: Durchschnittsjahr 2003
2. Frankfurt (Oder), Schleiz: Durchschnittsjahr 1999
3. Gardelegen, Roßdorf, Blankenhain, Gebesee: Durchschnittsjahr 1997
4. Schlüsselfeld : Durchschnittsjahr 1996
5. Liederbach am Taunus, Zwönitz, Weiterstadt: Durchschnittsjahr 1995 In Kooperation mit
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Cicero-Gastautor
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Welche deutschen Städte haben die meisten Weltmarktführer? Wo sitzen die meisten Top-Familienunternehmen? Und in welcher Stadt sitzen besonders viele Investoren? Verschiedene Standortrankings von „Die Deutsche Wirtschaft“ liefern Antworten.
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"Wirtschaft",
"Mittelstand"
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wirtschaft
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2023-04-20T12:15:27+0200
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2023-04-20T12:15:27+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/ddw-standortranking-diese-stadte-haben-die-besten-unternehmen
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Parteiprogramme - Im Modernitätswahn
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In was für seligen Zeiten leben wir doch. Wir kennen nur einen Weg, und der führt nach steil oben. Denn die Zukunft, sie wird schöner werden, besser, gerechter, digitaler, ökologischer, vielfältiger und vor allem grenzenloser. Der Fortschritt, er ist unaufhaltsam. Moderne, wir kommen! Modernisierungsskepsis war einmal. Zumindest auf politischer Ebene. Glaubt man den Wahlprogrammen der Parteien, leben wir in einer Epoche des bedingungslosen Optimismus. Nicht über den Fortschritt wird gestritten, sondern über den fortschrittlichsten Fortschritt. Nicht die Moderne selbst wird diskutiert, sondern über den modernsten Weg in die Moderne. Man will zukunftsfähig sein, auf Teufel komm raus. Ein Monument des neuen Modernefetischismus ist das Regierungsprogramm der CDU. Denn nichts scheut man im Konrad-Adenauer-Haus so sehr, wie den Verdacht, konservativ zu sein. Also klebt man das Adjektiv „modern“ entschlossen an alles, was daher kommt. Man streitet für ein modernisiertes Arbeitszeitrecht, eine „moderne bäuerliche Landwirtschaft“, modernen Lärmschutz, eine „Modernisierung des Parkplatzangebots“, „moderne Bahnhöfe“, „moderne Energietechnologien“ und moderne, nein: „modernste Glasfasernetze“. Stolz verkündet man, Deutschland sei „ein modernes Land“. Aber irgendwie ist es nicht modern genug. Denn die Moderne ist das Morgen, und wir leben im Heute. Da lässt sich die SPD nicht lumpen. Schon aus Tradition ist man schließlich dem Brachialmodernismus verpflichtet: Also braucht es ein „Schulmodernisierungsprogramm“, eine „moderne Ausbildung“, einen modernen öffentlichen Dienst, „moderne Handwerksbetriebe“, ein „modernes Einwanderungsrecht“, „modernste digitale Infrastrukturen“, ein „modernes Rentenkonzept“, moderne Mietwohnungen, „modernste Elektroautos“ und moderne Luftdrehkreuze. Ein „modernes Deutschlandbild“ will man ohnehin. Man könnte dieses eintönige Zeugnis der Gedankenlosigkeit beliebig verlängern. Als Bannerträger des Modernen schlechthin, ja geradezu als Politavantgarde versteht sich aber die FDP. Also ist man auch hier für „moderne Infrastruktur“, „moderne Landwirtschaft“, „modernen Umweltschutz“, „moderne Erwerbsbiografien“ in einer „modernen Arbeitswelt“, ein „modernes Recht für Ehe und Familie“, eine „modernes Staatsbürgerrecht“ und eine „moderne Reproduktionsmedizin“. Und selbst die Grünen, in ihren Anfangsjahren eine Bastion der Fortschrittsskepsis, steigern sich in einen Modernisierungsrausch: Da man auf dem „Modernisierungspfad“ bleiben möchte, setzt man ganz auf die „ökologische Modernisierung“, die „Modernisierung der Arbeitsbedingungen“, „die „Modernisierung von Häusern und ganzen Stadtvierteln“, ein „modernisiertes Bahnnetz“, eine moderne Asylpolitik, eine „moderne und innovative Familienpolitik“, einen „modernen Verbraucher*innen- und Datenschutz“ und ganz generell eine „moderne und offene Gesellschaft“. Keine Frage: Die deutschen Parteizentralen befinden sich in einer Art Modernisierungs-Trance. Wie infantil und einfallslos der inflationäre Gebrauch des Attributes „modern“ für alles und jedes dabei ist, fällt schon keinem mehr auf. Dabei ist nichts so alt wie der Glaube an das Moderne – und nichts so inhaltsleer. Denn was mit „modern“ konkret gemeint ist, darüber schweigen sich die Wahlprogramme bezeichnenderweise aus. Auf jeden Fall anders muss alles werden und irgendwie innovativ. Das damit verbundene Innovationsgerede ist allerdings so ausgelaugt und oft gehört, dass es nur gestrig wirkt und alles andere als modern. Denn modern – so viel kann man vielleicht sagen – wäre es, ausgetrampelte Denkpfade zu verlassen und nicht das übliche Innovationsgeschwätz in der Endlosschleife zu reproduzieren Aber genau dazu fehlt die Phantasie und wahrscheinlich auch der Mut. Denn das würde einen radikalen Kurswechsel bedeuten. Doch den will man in Deutschland niemandem zumuten – vor allem nicht sich selbst. Stattdessen speist man das Wahlvolk mit billigen Fortschrittsphrasen ab, die genau das konterkarieren, was sie beschwören sollen. So entlarvt sich eine ganze Branche gerade in ihrem verzweifelten Willen zur Modernität als Gefangene des Gestern. Das alles wäre unfreiwillig komisch, würde dieser längst überholte Modernisierungsoptimismus nicht fatal an die blinde Zukunftseuphorie des frühen 20. Jahrhunderts erinnern – kurz vor der großen Katastrophe.
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Alexander Grau
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Kolumne: Grauzone. Glaubt man den Wahlprogrammen der Parteien, leben wir in einer Epoche des bedingungslosen Optimismus. Jede will den fortschrittlichsten Fortschritt bieten. Wirklich modern wäre, ausgetrampelte Denkpfade zu verlassen. Aber das traut sich keiner
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"CDU",
"SPD",
"FDP",
"Grüne",
"Moderne",
"Parteiprogramm"
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innenpolitik
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2017-08-04T19:56:52+0200
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2017-08-04T19:56:52+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/parteiprogramme-im-modernitaetswahn
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Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan - Kommt jetzt der Siegeszug islamistischer Militanz?
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In der arabischen Welt sind die Reaktionen auf den Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan reichlich gemischt. Der Großscheich von Oman etwa beglückwünschte das afghanische Volk zu dem, was er als spektakulären Sieg über die Aggressoren bezeichnete. Radikale Bewegungen, insbesondere in Syrien und Gaza, betrachteten die Rückkehr der Taliban nach Kabul als eine Niederlage des Westens im Krieg gegen den Islam. Die in Syrien ansässige Hayat Tahrir al-Sham, die sich als Schwesterbewegung der Taliban betrachtet, sah in den jüngsten Entwicklungen den Triumph des Dschihadismus in muslimischen Ländern. Die herrschende Elite, vor allem in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, hat jedoch große Bedenken wegen der Rückkehr der Taliban an die Macht. Die Saudis forderten die Taliban dazu auf, eine umfassende politische Vereinbarung zu treffen, die alle Teile der afghanischen Gesellschaft einbezieht. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate äußerten sich besorgt über die Sicherheitslage und ermahnten die Taliban, sich auf die Schaffung von Frieden und Stabilität zu konzentrieren. Sowohl die Besorgnis als auch der Jubel scheinen jedoch an der Tatsache vorbeizugehen, dass die Taliban keine ernsthafte Bedrohung für muslimische Länder außerhalb Afghanistans darstellen. Die Taliban sind eine einheimische Bewegung mit Wurzeln in der konservativen afghanischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS) haben sie keine Ambitionen außerhalb ihres Heimatlandes; ihr Fokus liegt allein auf Afghanistan und ihren paschtunischen Landsleuten in Pakistan. Die Gruppe wurde 1994 von Mullah Mohammed Omar in Kandahar, einer afghanischen Stadt nahe der pakistanischen Grenze, gegründet. Sein Projekt wurde zum Teil mit saudischem Geld unterstützt, das für religiöse Schulen bestimmt war. Mullah Omar hatte sein rechtes Auge in einem Kampf gegen die Sowjets verloren, die sich 1989 aus Afghanistan zurückzogen. Entsetzt über die grassierende Korruption in Afghanistan versammelte er zahlreiche Schüler religiöser Schulen, die ihm bei der Errichtung eines puritanischen islamischen Staates helfen sollten. Unter dem Namen „Taliban“ übernahmen sie 1996 die Kontrolle über das gesamte Land mit Ausnahme der Provinz Badachschan im Nordosten, die von der Nordallianz kontrolliert wurde. Nach der US-Invasion im Jahr 2001 wurden die Taliban aus Kabul vertrieben, verfolgten aber weiterhin ein nationales Projekt zur Beendigung der Besatzung und zur Wiederherstellung eines islamischen politischen Gesellschaftssystems. Während der Friedensgespräche in Katar im Jahr 2020, die zum Abkommen über die Beendigung des Krieges führten, versicherten die Taliban den USA, dass sie Al-Qaida-Kämpfern keinen Unterschlupf gewähren und die schwachen Bevölkerungsgruppen Afghanistans in Gespräche über politische und soziale Integration einbeziehen würden. Doch in Anbetracht der Geschichte der Gruppe nahmen viele Araber ihre Versprechen nicht ernst. Die Taliban hatten den USA nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im Jahr 1998 erklärt, dass sie Osama bin Laden daran hindern würden, von Afghanistan aus Anschläge auf amerikanische Einrichtungen zu verüben – allerdings behaupteten sie auch, die USA hätten keine Beweise dafür, dass bin Laden in die beiden Anschläge verwickelt gewesen ist. Nach dem 11. September weigerten sich die Taliban, bin Laden und andere Al-Qaida-Mitarbeiter auszuliefern, da sie sie als Verbündete betrachteten, die zur Befreiung Afghanistans von den sowjetischen Invasoren beigetragen hatten. Nur drei Länder erkannten die Taliban als Regierung von Afghanistan an: Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Als Mohammad bin Zayed 2004 Kronprinz von Abu Dhabi wurde, stellten die VAE ihre Unterstützung islamischer politischer Bewegungen allerdings ein. Die Taliban wurden gegründet, um zivile Werte zu fördern, die mit den Lehren des Islam vereinbar sind. Al-Qaida hingegen konzentrierte sich auf die Bekämpfung von Christen und Juden, die sie – neben selbstsüchtigen nationalen Regierungen – für die Misere der Muslime verantwortlich machte. 1988 wurde al-Qaida von Osama bin Laden und anderen arabischen Mudschaheddin in der pakistanischen Stadt Peschawar als dezentrale, transnationale Bewegung ins Leben gerufen. Die meisten Kämpfer dieser Gruppe verließen schließlich Afghanistan und kehrten in ihre Herkunftsländer zurück, um unpopuläre Regime in der gesamten arabischen Welt zu stürzen. Im Gefolge des Zweiten Golfkriegs verübten sie 1993 auch den ersten Anschlag von al-Qaida auf die USA, als sie eine Bombe im World Trade Center in New York zündeten. Al-Qaida und die ihr angeschlossenen Organisationen sind in vielen Teilen Asiens und Afrikas präsent, unter anderem auf der arabischen Halbinsel, im Irak, in Syrien, im Kaukasus, in Indien, auf dem ägyptischen Sinai, in Somalia, Nordafrika und in den Sahel-Ländern. Es ist ihnen jedoch nicht gelungen, eine bestehende Regierung zu stürzen – vor allem, weil US-Luftangriffe und lokale Sicherheitskräfte sie in Schach gehalten haben. Die US-Invasion in Afghanistan und gezielte Luftangriffe, insbesondere im Jemen und in Somalia, haben die Schlagkraft von al-Qaida dezimiert. Die Gruppe wurde geschwächt und zersplitterte, was den Weg für den Aufstieg des Islamischen Staates ebnete. Im Gegensatz zu al-Qaida, deren Anschläge sich in erster Linie gegen den Westen und Israel richteten, fokussierte sich der Islamische Staat auf den inneren Feind, also den Nationalstaat. Die Geschichte des IS reicht bis in die 1970er Jahre zurück, als sich die Muslimbruderschaft nach dem Sechstagekrieg von 1967 aufspaltete, was zur Entstehung zahlreicher islamischer Bewegungen führte, die sich dem Sturz der säkularen ägyptischen Regierung und der Errichtung eines islamischen Staates widmeten. Der Islamische Staat im Irak und in der Levante entstand im Irak nach der US-Invasion im Jahr 2003 und gewann unter entfremdeten sunnitischen Arabern in der Provinz Anbar an Einfluss. Im Jahr 2014 eroberte der Islamische Staat Mosul, die zweitgrößte Stadt des Irak, mit einer Truppe von nur 1.500 Mann gegen mehr als 45.000 irakische Soldaten. US-Luftangriffe und Bodentruppen stoppten ihre Expansion in Richtung Bagdad. Unter Beteiligung der Peschmerga und der vom Iran unterstützten Volksmobilisierungskräfte gelang es einer US-geführten Koalition, den IS 2017 im Irak und einige Jahre später auch in Syrien zu besiegen. Der Islamische Staat-Khorasan (IS-K), also jene Gruppe, die für den Angriff auf den Flughafen von Kabul in der vergangenen Woche verantwortlich ist, entstand in der Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans. Khorasan ist eine historische Landschaft in Zentralasien, in der die Gruppe zu operieren versucht. Neben Afghanistan umfasst die Region Pakistan, Indien, Kaschmir, den Osten Irans und die chinesische Provinz Xinjiang, die hauptsächlich von muslimischen Uiguren bewohnt wird. Die Mitglieder des IS-K sind multinational und umfassen Araber, Kurden, Turkmenen, Tschetschenen, Uiguren, Tadschiken, Usbeken und Kasachen. IS-K hat etwa 1.500 aktive Mitglieder und findet in der afghanischen Bevölkerung keinen großen Anklang. Im Jahr 2018 haben die Taliban die Gruppe in der Schlacht von Darzab entscheidend besiegt. Obwohl der IS-K bewiesen hat, dass er in der Lage ist, ausgeklügelte, blutige Operationen durchzuführen, verfügt er nicht über die militärischen Fähigkeiten zur Eroberung von Gebieten – auch wenn die Nachbarländer Afghanistans, insbesondere China, befürchten, dass er junge Rekruten aus ihren unruhigen Bevölkerungen anziehen könnte. Im Zuge der arabischen Aufstände entstanden in einer Reihe von arabischen Ländern islamische politische Parteien, deren Popularität jedoch seither stetig abgenommen hat. Im Jahr 2012 gewann Mohammed Morsi, ein Kandidat der Muslimbruderschaft, bei den einzigen demokratischen Wahlen in Ägypten seit dem Militärputsch von 1952 die Präsidentschaft. Ein Jahr später setzte die Armee ihn ab, verbot die Bruderschaft und verhängte harte Gefängnisstrafen gegen deren führende Vertreter und Aktivisten. In Tunesien, das von politischen Beobachtern als Ausnahmefall unter den von Unruhen betroffenen arabischen Staaten bezeichnet wurde, setzte Präsident Kais Saied im Juli vorigen Jahres das Parlament außer Kraft und konzentrierte die meisten staatlichen Befugnisse in seinen Händen. Die Popularität der islamistischen Ennahda-Partei erreichte ihren Höhepunkt bei den Parlamentswahlen 2011, bei denen sie 37 Prozent der Stimmen erhielt. Im Jahr 2014 bekam sie 28 Prozent, die 2019 auf 20 Prozent zurückgingen. Vorwürfe der Korruption und Misswirtschaft haben den Zuspruch der Partei immer weiter verringert. In Marokko beschwichtigte König Mohammad VI. die Forderungen der Demonstranten nach politischen Reformen, indem er einen Premierminister von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung ernannte, die 2011 bei den Wahlen 23 Prozent der Stimmen und die meisten Sitze erhalten hatte. Im Jahr 2016 gewann die Partei 27 Prozent der Stimmen und behielt das Amt des Premierministers. Das Gesetz verhindert, dass eine einzelne Partei in Marokko die absolute Mehrheit erringt, wo noch immer der König regiert und der Erfolg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung sich nicht in tatsächlicher politischer Macht niederschlug. Im Jemen hat die Islah-Partei, die bei den letzten Parlamentswahlen 2003 hinter der Regierungspartei Allgemeiner Volkskongress den zweiten Platz belegte, seit dem Aufstand von 2011 viel von ihrem Einfluss verloren. Der Vormarsch der Houthi-Rebellen und ihre Eroberung der meisten Islah-Hochburgen sowie die Feindseligkeit der VAE gegenüber dem sunnitischen politischen Islam machten sie irrelevant. Die arabischen Aufstände und das Aufkommen militanter islamischer Bewegungen haben andere islamische Bewegungen in der Region, die sich auf die Politik konzentrieren und Gewalt ablehnen, in den Schatten gestellt. Die Befürchtung der Araber, dass die Übernahme Afghanistans durch die Taliban Afghanistan zu einem Zufluchtsort für islamische Bewegungen, zu einer Basis für die Ausbildung von Kämpfern und zu einem Ausgangspunkt für subversive Aktivitäten machen wird, ist nicht zuletzt deshalb unbegründet. Die Taliban sind keine transnationale Gruppe, und islamische Bewegungen in der arabischen Region sollten nicht damit rechnen, von ihnen unterstützt zu werden. Der IS-K wiederum konzentriert sich auf Zentralasien, nicht auf die arabische Welt, aber es ist immer noch zweifelhaft, ob er die Fähigkeit entwickeln kann, ernsthafte Angriffe auf die Nachbarländer Afghanistans zu verüben. Weder die Taliban noch die zentralasiatischen Staaten werden zulassen, dass die Gruppe zu einer echten Bedrohung wird. Afghanen (welcher politischen Couleur auch immer) sind zumeist selbstgenügsame Menschen mit einer partikularen Weltsicht. Die Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts zeigen, dass der militante Islam in Afghanistan eher keine großen Chancen hat. In Kooperation mit
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Hilal Khashan
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Viele Nachbarländer Afghanistans und darüber hinaus fürchten wegen des Siegeszugs der Taliban auch bei sich ein Aufflammen religiöser Gewalt. Der Terrorangriff auf den Flughafen von Kabul könnte ein erstes Anzeichen gewesen sein. Doch von den Taliban selbst droht eher keine Gefahr.
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"Afghanistan",
"Taliban",
"IS",
"Al-Qaida"
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außenpolitik
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2021-09-02T16:49:58+0200
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2021-09-02T16:49:58+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/taliban-uebernehmen-macht-afghanistan-terror-siegeszug-islamismus-militanz
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NSA-Skandal - Deutschland ist Weltvize bei der Datenabfrage
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Jetzt also ist es sogar der Verschlüsselungsstandard. Im Mai erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass der US-amerikanische Geheimdienst NSA den E-Mail-Austausch und die telefonische Kommunikation potenziell aller Kunden bei amerikanischen Telekommunikationsfirmen protokollieren lässt, die sogenannten Metadaten. Fast zeitgleich wurde klar, dass auch Betreiber sozialer Netzwerke wie Facebook oder Google ihre Daten mit der National Security Agency teilen. Demnach gab es 2013 bis Juni fast 30.000 Anfragen von Behörden in 17 Ländern. An erster Stelle stehen dabei die USA mit 12.000 Anfragen. Deutschland folgt mit 4200 Anfragen aber schon auf Platz zwei. Und der Strom an Informationen, der in Verkehrung der bisherigen Praxis nun bei der Öffentlichkeit ankommt, reißt nicht ab: Der Geheimdienst, in internationaler Kooperation, hat direkten Zugang zu Internetknotenpunkten, zu transkontinentalen Datenkabeln, diplomatische Vertretungen werden belauscht, keine Kommunikation, die nicht potenziell gecheckt wird. Und jetzt taucht aus den Dateien, die der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden ausgewählten Medien schon vor Monaten zur Verfügung gestellt hat, eine weitere Dimension auf: Den ganz alltäglichen verschlüsselten Internetgebrauch liest die NSA demnach wie ein offenes Buch. [[nid:54895]] Welche Kommunikation ist betroffen? Der Geheimdienst hat Berichten der „New York Times“ und des „Guardian“ zufolge jene Verschlüsselungssysteme geknackt, auf die sich Milliarden Privatleute ebenso wie Firmen verlassen, um Handels- und Banktransaktionen sicher durchzuführen, um sensible Daten wie medizinische Informationen auszutauschen oder jenseits von Überwachungssystemen sicher zu kommunizieren, sei es via E-Mail, via Internettelefonie oder im Chat (siehe Artikel rechts). Nach den ersten Enthüllungen auf Grundlage der Snowden-Materialien hatten Experten geraten, E-Mail und sonstige Daten zu verschlüsseln. Dieser Rat ist mit den Enthüllungen über die Operation mit dem Codenamen „Bullrun“ zu großen Teilen obsolet. Noch ist zwar nicht klar, welche Verschlüsselungssysteme genau die NSA-Kryptologen geknackt haben. Aber dass eine Verschlüsselung sicher ist, diese Gewissheit ist nach den jüngsten Informationen dahin. Wie gelangt der Geheimdienst an die Daten? Vereinfacht gesagt, gibt es zwei Wege, eine Verschlüsselung zu knacken: Der stille Gang durch die eingebaute Hintertür oder unter Einsatz erheblicher Kraft ohne Schlüssel. Die NSA ist den Dokumenten zufolge beide Wege gegangen. Zum einen wurden im vergangenen Jahrzehnt unter Einsatz von Millionensummen superschnelle Supercomputer gebaut, die nichts anderes unternehmen, als endlose Reihen auf Verschlüsselungsprogramme anzuwenden, bis diese entschlüsselt sind. Das ist der Kraftansatz. Damit allein gibt sich die NSA nicht zufrieden. Insbesondere angesichts dessen, dass der Wettlauf um technologische Entwicklung auch die Experten aus Fort Meade immer wieder vor neue, noch höhere Hürden stellt. In manchen Fällen wurden private Firmen deshalb den Berichten zufolge offenbar dazu gepresst, ihren Masterkey auszuhändigen. Demnach könnten Masterkeys auch auf illegalem Weg an die Geheimen gelangt sein. Darüber hinaus arbeitet die NSA auch mit (in den Dokumenten nicht genannten) Firmen zusammen, die einen geheimen Zugang zu ihren Programmen für den Geheimdienst einbauen. In anderen Fällen ist der Geheimdienst den Dokumenten zufolge sogar so weit gegangen, die technologische Hintertür gleich selbst einzubauen. Hier kommt das NSA-„Center for Commercial Solutions“, eine Schnittstelle zwischen der Regierungsorganisation und kommerziellen Software-Anbietern, ins Spiel. Bei der Vorstellung neuer Produkte und deren Überprüfung durch die hochspezialisierten Computerexperten der NSA arbeiten Industrie und Geheimdienst eng zusammen. Die Zusammenarbeit geht dabei offenbar teilweise so weit, dass die NSA-Spezialisten bei der Weiterentwicklung der Programme entsprechend den Bedürfnissen der Überwachung selbst Hand angelegt haben. [[nid:55015]] Was investiert die US-Regierung dafür? Neben den Kosten für die Kryptografie wirkt das sonstige Überwachungsvolumen der NSA fast schon gering. Den Dokumenten aus dem Snowden-Fundus zufolge gibt die NSA im Jahr mehr als 250 Millionen Dollar für jenes Projekt aus, mit dem, so zitiert die „New York Times“, „die USA und private Unternehmen die Gestaltung kommerzieller Produkte heimlich so verändern oder offen beeinflussen, dass sie ausbeutbar“ für die Gewinnung elektronischer Nachrichtengewinnung werden. Und die NSA ist mit ihren Bemühungen nicht am Ende. Man investiere weiter in „bahnbrechende“ kryptologische Kapazitäten, um feindliche Kryptografie zu bekämpfen und den Internetverkehr auszuschöpfen, heißt es demnach im Haushaltsantrag des obersten US-Geheimdienstchefs James Clapper. Wurden die Enthüllungen behindert? Die Zeitungen berichten, sie seien gebeten worden, ihre Informationen über die NSA-Entschlüsselungskapazitäten nicht zu veröffentlichen. Solche Veröffentlichungen könnten, so die Argumentation, Überwachungsziele animieren, neue Verschlüsselungssysteme zu nutzen oder andere Kommunikationswege einzuschlagen. Dies erschwere die Überwachung. Die Zeitungen haben sich dennoch entschlossen, ihr Wissen zu veröffentlichen, einige detailliertere Informationen aber zurückgehalten.
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Barbara Junge
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Der US-Geheimdienst NSA kann offenbar auch verschlüsselte Daten aus dem Internet lesen. Yahoo hat eine Liste veröffentlicht, wer die meisten Daten angefordert hat. Deutschland steht auf Platz zwei
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innenpolitik
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2013-09-07T09:33:05+0200
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2013-09-07T09:33:05+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nsa-programm-bullrun-deutschland-ist-weltvize-bei-der-datenabfrage/55686
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Soli-Debatte - Es braucht jetzt einen „Aufbau Gesamtdeutschland“
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Dem Osten geht es gar nicht so schlecht wie immer angenommen. Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (IW) zeigte in einer Studie vor zwei Wochen, dass man genauer hinsehen muss: Berücksichtigt man nicht die Einkommen, sondern die Kaufkraft der Menschen, dann sind nicht alle neuen Bundesländer die Verlierer, sondern eher Deutschlands Großstädte. Das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land sei immens. Die Ökonomen führten das vor allem auf die stark steigenden Mieten in den Metropolen zurück. Wer etwa die Industriebrachen und Schlaglöcher Nordrhein-Westfalens kennt, ahnt es: Auf den Soli-finanzierten „Aufbau Ost“ muss nun ein „Aufbau Gesamtdeutschland“ folgen. Mit Zuweisungen in den Osten „en bloc“ ist den wirklich armen Regionen nicht geholfen. Denn in der IW-Studie schnitten einige ostdeutsche Länder erstaunlich gut ab. Brandenburg kann beim Kaufkraft-Vergleich nahezu mit Hamburg aufschließen. Thüringen erreichte sogar die drittniedrigste Armutsquote aller deutschen Länder. Nun könnte man der IW-Studie eine politische Agenda unterstellen: Schließlich fordert das Institut bereits seit 2008 die Streichung des Solidaritätszuschlages, mit dem die deutsche Einheit finanziert wurde. Die sehr unterschiedlichen Mietpreise und Lebenshaltungskosten erklären aber auch die von der „Bild“-Zeitung errechneten Unterschiede bei der Höhe der Hartz-IV-Sätze in Deutschland. Demnach erhält ein Arbeitsloser im thüringischen Sonneberg fast 302 Euro weniger Stütze vom Amt als ein ALG-II-Empfänger in Bonn. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) schloss sich den Wünschen des IW laut der Passauer Neuen Presse an. Er regte an, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen und stattdessen auf andere Steuern aufzuschlagen. Diskutiert werden demnach etwa die Einkommen-, Körperschafts- und Kapitalertragsteuer. 2019 läuft die jetzige Soli-Regelung aus. 25 Jahre nach der deutschen Einheit verhandeln Bund und Länder über einen neuen Finanzausgleich. Der Bund nehme derzeit rund 14 Milliarden Euro jährlich durch den Solidaritätszuschlag ein, vermeldete die Zeitung unter Berufung auf Teilnehmer der Bund-Länder-Gespräche. Bis 2020 sollen es demnach sogar 18 Milliarden Euro sein. Den „Soli“, einen 5,5-prozentigen Aufschlag auf die Steuern, zahlen alle steuerpflichtigen Bürger in Deutschland, Ost wie West, seit 1991. Der Vorteil von Schäubles Idee: Die Bundesländer hätten auch etwas von den Steuereinnahmen. Bislang geht der Solidaritätszuschlag alleine an den Bund. Und der bereichert sich mitunter einfach an den Einnahmen. 2014 hat der Bund nach Angaben des nordrhein-westfälischen Finanzministers Norbert Walter-Borjans (SPD) nur 7,5 Milliarden an die Ost-Länder abgeführt. Rund die Hälfte des „Soli“ habe er also einfach einbehalten. Schäuble will mit seiner Idee also auch die Bundesländer locken. Nur wenn er sie überzeugen kann, wird er auch ihre Zustimmung zum Reformpaket im Bundesrat erhalten. Schäubles Vorschlag hätte für einige Bundesländer aber auch einen Nachteil. Jene mit wenig Industrie und sehr hohen Arbeitslosenzahlen würden dadurch doppelt benachteiligt. Diese Länder würden die „Soli“-Überweisungen des Bundes verlieren, könnten die Verluste aber auch nicht durch eigene Steuereinnahmen ausgleichen. Ein großer Verlierer dieser Regelung wäre etwa das strukturschwache Mecklenburg-Vorpommern. Das Bundesland ist nicht nur bei den Einkommen, sondern auch in der Kaufpreis-Statistik des IW das ärmste. Deswegen dürfen Zuweisungen wie der Länderfinanzausgleich, mit dem starke Bundesländer schwächere unterstützen, auf keinen Fall angetastet werden. Denn es braucht eine brennpunktorientierte Förderung. Und bundesweit: Straßenbau, Breitbandinitiative, Wirtschaftsförderung, Energiewende. Doch dazu äußerte sich Schäuble bei der Bundestags-Haushaltsdebatte am Dienstag nicht weiter. Stattdessen bekräftigte der Finanzminister, an der „schwarzen Null“ festzuhalten. Erstmals seit 1969 will der Bund im nächsten Jahr ohne Neuverschuldung auskommen. Schäuble sagte mit Blick auf den Sparkurs in der Eurokrise, es sei wichtig, „Vertrauen“ in den Standort Deutschland zu erhalten. Doch da kann er hoffen, wie er will: Mit einer maroden Infrastruktur wird Deutschland dieses Vertrauen ganz schnell wieder verspielen.
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Petra Sorge
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Wolfgang Schäuble will den Soli abschaffen und ihn auf die Steuern aufschlagen. Keine schlechte Idee, denn auch im Westen verrotten langsam die Straßen. Doch die Koalition darf sich darauf nicht ausruhen: Es muss nun einen „Aufbau Gesamtdeutschland“ geben
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innenpolitik
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2014-09-09T11:57:02+0200
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2014-09-09T11:57:02+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/soli-debatte-es-braucht-jetzt-einen-aufbau-gesamtdeutschland/58200
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Parlamentswahlen in der Slowakei - Alle gegen die Mafia
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Was hast du gemacht, als du vom Tod Jan Kuciaks erfahren hast? Juraj Šeliga weiß es noch genau. „Ein Investigativjournalist und seine Verlobte wurden ermordet“, lautete die Nachricht, die er an einem Montagmorgen um 6:55 Uhr auf seinem Handy las. Noch am selben Tag kaufte er 500 Kerzen und versammelte sich mit Freunden und Studenten im Stadtzentrum von Bratislava, um der Toten zu gedenken. Es war die Geburtsstunde von „Za slušné Slovensko“ („Für eine würdige Slowakei“), eine Bürgerbewegung, die eine lückenlose Aufklärung des Mordes forderte. Eine Bewegung, die sich über die nächsten Wochen zu den größten Protesten der Slowakei seit 1989 auswachsen und später sogar mehrere Politiker zum Rücktritt zwingen sollte, darunter auch den mächtigen Ministerpräsidenten Robert Fico. Am 21. Februar 2018 wurden der Investigativjournalist Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnírová in ihrem Haus nahe Bratislava ermordet. Der Mord hat nicht nur die slowakische Politik, sondern auch Šeligas Leben völlig umgekrempelt. Der studierte Jurist hing seinen Job für eine Bürgerrechts-NGO an den Nagel und wurde zum Gesicht des Protests. Und wenn morgen, am Samstag, erstmals seit der Ermordung ein neues Parlament gewählt wird, wird auch Šeligas Name auf einer Wahllisten stehen. Der 29-Jährige kandidiert auf Platz drei der neu gegründeten Partei des Ex-Präsidenten Andrej Kiska, „Za ľudí“ (Für die Menschen). „Wenn du wirklich etwas verändern musst, dann musst du in die Politik gehen“, sagt Šeliga, der wenige Tage vor den Wahlen in einem schmucklosen Besprechungszimmer im Hauptquartier der Partei in Bratislava sitzt. Diesen Rat habe ihm ein Teilnehmer der Samtenen Revolution gegeben. Šeliga wirkt müde, aber konzentriert. „Und hier bin ich.“ Große Veränderungen liegen dieser Tage in der Slowakei in der Luft, und keine Vergleiche scheinen zu hoch gegriffen. Umfragen legen nahe, dass die linkspopulistische Smer-Partei des Ex-Premiers Robert Fico, die das Land seit 2006 mit nur zwei Jahren Unterbrechung regiert hat, abgestraft werden wird. Zu verstrickt ist die Partei in den Kuciak-Mordprozess rund um den mächtigen Geschäftsmann Marián Kočner, der gerade angelaufen ist und die schmutzigen Seilschaften bis in die höchsten Ämter der Republik offenbart hat. „Der Prozess ist eine absolute Katastrophe für Smer“, sagt der Politologe Grigorij Mesežnikov, Chef des Instituts für öffentliche Angelegenheiten in Bratislava und Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. So sehr, dass Smer inzwischen vielen Slowaken zum Synonym für den „Mafiastaat“ geworden ist. Zwar könnte Smer mit 17 Prozent am Samstag immer noch stimmenstärkste Partei werden, aber ohne Aussicht auf eine tragfähige Koalition. Möglich, dass in Bratislava ein neuer Weg eingeschlagen wird. Aber welcher? Es sind neu gegründete Parteien wie „Za ľudí“ oder das Bündnis „Progresívne Slovensko/Spolu“, die hoffen, am Wahltag noch weiter auf der liberalen Welle zu surfen, die das Land seit den Protesten erfasst hat und erst im Vorjahr die Anti-Korruptions- und Umweltaktivistin Zuzana Čaputová in das Präsidentenamt gespült hat. Beide Parteien liegen in Umfragen zwischen neun und zehn Prozent. Die Parteienlandschaft ist zersplittert, bis zu zwölf Parteien könnten in das neue Parlament einziehen. Doch Umfragen sagen auch der Ein-Mann-Partei „OĽaNO-Partei" (Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten) des Unternehmers Igor Matovič oder der rechtsextremen Partei „Ľudová strana Naše Slovensko“ (Volkspartei Unsere Slowakei) (LSNS) von Marian Kotleba große Zugewinne voraus. Kotlebas Partei könnte laut Umfragen sogar auf Platz Zwei landen. Kippt die Slowakei nach rechts? Der 43-jährige Marian Kotleba gilt als Gottseibeiuns der slowakischen Demokratie. Als junger Mann marschierte er in der Uniform der Hlinka-Garde, einer faschistischen paramilitärischen Wehrorganisation, die 1944 in der SS aufging. Später patrouillierten seine „Kotlebovci“ auf Bahnhöfen, hetzten gegen „Zigeunerparasiten“ und schlugen die Gründung einer „Heimwehr“ vor, um die „anständigen Slowaken“ rund um Roma-Siedlungen zu schützen. Seine LSNS-Partei sitzt seit 2016 im slowakischen Parlament. „How a Slovakian neo-Nazi got elected“, schrieb der Guardian zuletzt. Gegen Kotleba wirken rechtspopulistische Parteien wie die AfD oder die FPÖ gemäßigt. In der mittelslowakischen Region Banská Bystrica ist die Unterstützung für LSNS besonders groß, hier wurde er 2013 sogar zum „župan“, zum Regionalpräsidenten, gewählt. Žarnovica, eine 6000-Einwohner-Stadt, zwei Autostunden von Bratislava entfernt. Zwischen Hügeln der alten Bergbauregion reihen sich geduckte, bunte Häuser aneinander. Es ist ein gemischtes Publikum, das an diesem Montagabend vor den Wahlen in den Saal drängt: Pensionisten, Jungfamilien, Jugendliche, während sich Milan Mazurek von der LSNS-Partei in Rage redet. Gegen die korrupte Elite in Bratislava. Gegen die Mafia. Gegen Brüssel und Washington. Mit rassistischen Aussagen hält sich Mazurek heute merklich zurück. Noch m Vorjahr war er gerade deswegen aus dem Parlament geflogen. Draußen vor dem Kultursaal parkt ein Bus im Partei-Grün. Darauf steht: „Die Slowakei – volksnah und christlich. Wir lassen die Homo-Ehe nicht zu.“„Kotleba hat über all seine Jahre sein Aussehen und seine Wortwahl verändert, um nicht mehr so radikal zu wirken“, sagt Daniel Vražda, der zwei Bücher über Kotleba geschrieben hat. Die paramilitärische Uniform tauschte Kotleba gegen das Sakko, die Hlinka-Orden gegen das christliche Kreuz am Revers. Sein wahres Gesicht zeigte er indes zuletzt, als er drei Familien einen Scheck über „1.488 Euro“ überreichte – was ihm ein Verfahren wegen Extremismus eingebracht hat. Die Zahl ist ein gänger rechtsextremer Code (1488 steht für die „Fourteen Words" von David Eden Lane und die Abkürzung „Heil Hitler“, 8 = achter Buchstabe im Alphabet, 88 = HH= Heil Hitler). Aus seiner Gesinnung machte Kotleba indes auch als Regionalpräsident keinen Hehl, als er am Jahrestag des Slowakischen Aufstandes, als sich 1944 in Banská Bystrica der slowakische Widerstand gegen die Wehrmacht formierte, die schwarze Fahne auf der Regionalverwaltung hisste. Rechtspopulistisches Image, aber faschistischer Kern, sagt Vražda. Es gibt wenig, was Kotleba und Šeliga eint. Šeliga, der smarte Jurist, der Angela Merkel oder Barack Obama als seine politischen Vorbilder nennt und der sich eine liberale, rechtsstaatliche Slowakei wünscht, fest in der EU und der NATO verankert. „Wir haben mit unseren kompromisslosen, aber friedlichen Protesten bewiesen, dass wir eindeutig zum westlichen Club gehören“, glaubt Šeliga. Eine Reihe von Enthüllungsvideos, wie etwa über einen dubiosen Grundstückskauf in der Hohen Tatra, haben seinen Parteikollegen, den Ex-Präsidenten Andrej Kiska unter Druck gesetzt. Überhaupt müsse der Wunsch nach Veränderung nicht automatisch in einem demokratischen Wandel münden, warnt der Journalist Arpád Soltész. „Liberalismus ist heute in der Slowakei ein Schimpfwort, weil der Mafiastaat unter diesem Etikett immer weitergelaufen ist. Und wenn die Leute genug von diesem Liberalismus haben, werden sie Kotleba wählen.“
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Simone Brunner
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Zwei Jahre nach dem Mord an dem Investigativjournalisten Jan Kuciak und seiner Frau stehen in der Slowakei Parlamentswahlen bevor. Die linkspopulistische Regierungspartei „Smer“, die in den Mordprozess verstrickt ist, rechnet mit Verlusten. Davon könnten Liberale und Rechtsextreme profitieren.
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außenpolitik
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2020-02-28T10:56:38+0100
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2020-02-28T10:56:38+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/parlamentswahlen-slowakai-kotleba-lsns-kuciak-journalistenmord
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Embryonal-Forschung - Klone der Schöpfung
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Um die menschliche Embryonen zu klonen und aus ihnen embryonale Stammzellen herzustellen, entkernten die amerikanischen Forscher die Eizellen von Spenderinnen und verschmolzen diese dann mit Zellkernen aus Hautzellen eines Babys. Mit technischen Kniffen gelang es Shoukhrat Mitalipov von der Oregon Health & Science University und seinem Team unerwartet häufig, Stammzellen zu „ernten“. Im günstigsten Fall konnte mit nur zwei Eizellen eine embryonale Stammzell-Linie erzeugt werden. Als besonders hilfreich erwies sich in der Petrischale ein altbewährtes Stimulans: Koffein. Ist den Forschern ein echter Durchbruch gelungen? Viele Wissenschaftler bewerten die Ergebnisse als echten Durchbruch. Allerdings dürfte manch ein Forscher noch letzte Vorbehalte haben, denn vor neun Jahren war die Scientific Community auf einen koreanischen Fälscher hereingefallen. Auch dieser hatte behauptet, menschliche Embryonen geklont zu haben. Das stellte sich bald als Fälschung heraus und versetzte das Gebiet in eine Schockstarre. Nur wenige Gruppen versuchten danach noch, menschliche Embryonen zu klonen. Erst wenn andere Biologen Mitalipovs Experimente „nachkochen“ können, gelten sie deshalb als endgültig bestätigt. Allerdings machte die Forschung 2006 einen Riesenschritt. Damals zeigten japanische Wissenschaftler um Shinya Yamanaka, dass es möglich ist, Zellen von Erwachsenen (adulte Zellen) wieder in einen embryonalen Zustand zurückzuversetzen – ohne aufwendiges und umstrittenes Klonen. Die meisten Forscher setzen auf die von Yamanaka entwickelten induzierten pluripotenten Stammzellen. Wozu sollen die Klone dienen? Mitalipov hat ebenso wie alle anderen namhaften Stammzellforscher betont, dass es ihm nicht darum geht, Klone als genetische Kopien bereits existierender Menschen herzustellen. Statt des „reproduktiven“ Menschenklonens steht das „therapeutische“ Klonen zu medizinischen Zwecken im Vordergrund. Die mit dem Verfahren gewonnenen embryonalen Stammzellen lassen sich in ganz verschiedene Arten von Körperzellen weitervermehren, etwa Nerven, Muskel oder Drüsengewebe. Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der regenerativen Medizin tätig sind, hoffen, mit diesen Zellen erkranktes oder zerstörtes Gewebe zu ersetzen. Etwa bei Nervenleiden wie Parkinson (Schüttellähmung), einer Querschnittslähmung, nach einem Herzinfarkt oder bei der Zuckerkrankheit Diabetes. Mitalipov weist darauf hin, dass sein Verfahren insbesondere bei Erkrankungen aussichtsreich ist, bei denen die „Kraftwerke“ der Zellen, die Mitochondrien, defekt sind. Diese Leiden sind selten. Erste medizinische Erprobungen von Gewebe aus embryonalen Stammzellen beim Menschen gibt es bereits, allerdings noch keine handfesten Ergebnisse oder gar Heilungserfolge. Eine andere Anwendung besteht darin, mithilfe der Stammzellen Krankheiten in der Petrischale zu erforschen und neue Medikamente an den Zellen zu testen. Zum Beispiel kann man Zellen von Parkinsonpatienten mit denen gesunder Menschen vergleichen. Wird es jetzt bald lebende Menschenklone geben? „Bald“ ganz sicher nicht, vielleicht sogar nie. Mitalipov hat Zweifel, dass es jemals gelingen könnte, einen „echten“ Menschen zu klonen. Er sagt, er sei mehr als 100 Mal bei Affen bei dem Versuch gescheitert, eine Schwangerschaft bei einer „Leihmutter“ mit einem geklonten Embryo hervorzurufen. Der Forscher nimmt an, dass jene Zellen des Embryonen, die die Placenta (Mutterkuchen) bilden, unterentwickelt sind. Der Embryo kann sich nicht dauerhaft in der Gebärmutter einnisten. Trotzdem kann es natürlich sein, dass auch diese medizinische Hürde eines Tages aus dem Weg geräumt werden könnte, wie manche andere zuvor. Wieso gibt es bisher weltweit keine einheitliche Regelung zum Klonen? Dolly wurde 1996 geboren, es folgten geklonte Rinder, Ziegen, Schweine und Drogenspürhunde. Die Vorstellung, auch die Menschenkopie könnte bald hergestellt werden, löste weltweit Angst aus. In Deutschland gab der Nationale Ethikrat im Jahr 2004 ein klares und einstimmiges Votum gegen das „reproduktive“ Klonen ab: Das Klonen von Menschen sollte weltweit und unbedingt verboten, die Rechtslage im Sinne eines strafrechtlichen Verbots präzisiert werden. „Es gab ein Argument, das alle teilten, das war das Missbildungsrisiko“, sagt der Jurist Jochen Taupitz von der Uni Mannheim, heute Stellvertretender Vorsitzender des Nachfolgegremiums Deutscher Ethikrat. Wenn die Vereinten Nationen in ihrer Deklaration von 2005 keine wirkliche Klarheit schufen, so liegt das vor allem an divergierenden Auffassungen der Mitgliedstaaten zum „therapeutischen“ Klonen, das der Erzeugung embryonaler Stammzellen gilt: Einige Länder wollten im Doppelpack beides verbieten, Klonen von Menschen und Klonen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen. Nach 2004 wurde es möglicherweise auch deshalb stiller um das Thema, weil die Erfolgsmeldungen des Südkoreaners Hwang Woo-Suk sich als falsch herausstellten. Klärungsbedarf für Deutschland sieht Taupitz derzeit nicht: „Die Rechtslage ist klar, nicht nur das Klonen selbst, sondern auch der Import von embryonalen Stammzellen, die aus Klonversuchen stammen, und die Forschung damit sind verboten. Wenn daraus allerdings in den USA oder anderswo eines Tages Therapien entwickelt werden sollten, dann haben wir ein neues Problem.“ Wie ist die Forschungssituationin Deutschland? Gerade in der letzten Woche wurde in Berlin das Deutsche Stammzellnetzwerk aus der Taufe gehoben. Es will eine Infrastruktur schaffen, um deutsche Forscher auf diesem Gebiet besser zu vernetzen und Debatten zu ethisch brisanten Themen anzustoßen. Wissenschaftlich gut aufgestellt sei man schon, sagt Andreas Trumpp, Leiter der Abteilung Stammzellen und Krebs am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und Vizepräsident des Netzwerks. Neben den USA, Großbritannien, Kanada und Japan zähle die Bundesrepublik zu den Top Five der Stammzellforschung. „Eine Studie wie die gerade in "Cell" erschienene wäre allerdings hier in Deutschland rechtlich nicht möglich“, sagt der Stammzellbiologe Daniel Besser vom Max-Delbrück-Centrum in Berlin, Koordinator des Netzwerks. Auf dem weiten Feld der Forschung mit „adulten“ (Körper-)Stammzellen und mit embryonalen Stammzellen, die vor dem Stichtag 1. Mai 2007 gewonnen wurden, auch auf dem Feld der Krebsstammzellen gibt es jedoch umfangreiche Forschungsaktivitäten. Besser sagt, er halte nichts davon, die verschiedenen Gebiete der Stammzellforschung gegeneinander auszuspielen. Konrad Kohler, Leiter des Zentrums für Regenerationsbiologie und Regenerative Medizin in Tübingen und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Regenerative Medizin, gibt zu bedenken, dass die „Cell“-Arbeit nun auch in Deutschland eine neue Diskussion um die Möglichkeiten des Klonens entfachen dürfte. Der rasante Fortschritt innerhalb der Stammzellforschung in den letzten Jahren habe deutlich gemacht, „dass wir die ethischen Dimensionen dieser Forschung frühzeitig bedenken müssen und nicht warten dürfen, bis die Fakten uns überrollen“. Wie reagieren Politik und Kirche? Aus dem Ministerium von Bundesforschungsministerin Johanna Wanka hieß es am Donnerstag, das Kommentieren solcher Forschungsergebnisse überlasse man der Wissenschaft. Die deutsche Rechtslage sei eindeutig und man sehe keinen Anlass, diese neu zu diskutieren. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe sagte der Katholischen Nachrichten-Agentur, es sei „ethisch unvertretbar, menschliche Embryonen durch Klonen herzustellen, um sie zur Stammzellgewinnung zu töten“. Auch die Risiken und Belastungen für die Eizellspenderinnen sowie die Bezahlung für die Eizellspende seien ethisch nicht akzeptabel. Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, forderte die weltweite Ächtung des reproduktiven Klonens.
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Hartmut Wewetzer
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Amerikanische Forscher haben erstmals ein menschliches Embryo geklont. Trotzdem wird es vielleicht niemals einen Menschenklon geben. Wohin führt die Forschung?
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wirtschaft
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2013-05-17T08:55:01+0200
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2013-05-17T08:55:01+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/menschenklon-stammzellen-forschung-klone-der-schoepfung/54460
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Leitkultur - Debatte nirgends, Geschrei überall
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Als Migrant aus Syrien habe ich im Jahre 1996 in der Beilage der Zeitung Das Parlament eine Abhandlung veröffentlicht, in der ich erstmalig den Begriff Leitkultur als Integrationskonzept in die deutsche Sprache einführte. Diese Abhandlung habe ich zu einem Kapitel in meinem 1998 erschienenen Buch „Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft“ ausgearbeitet. Zwei Jahre danach hat der CDU-Politiker Friedrich Merz den von mir als Wertekonsens verstandenen und europäisch bestimmten Begriff der Leitkultur plagiiert, jedoch verdeutscht und inhaltlich verfälscht. Damals war dies der Beginn einer eigenartigen deutschen Leitkulturdebatte, die von Oktober bis Dezember 2000 andauerte. Angela Merkel war damals Oppositionsführerin und hat meine Person als Urheber des Begriffs auf einer Pressekonferenz und in einem Spiegel-Interview gewürdigt. Damals wie heute hat es mich stets genervt, wenn hochrangige CDU-Politiker – 2000 war Friedrich Merz CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, Thomas de Maizière ist derzeitig Innenmister – mich für ihre Thesen zur Leitkultur missbrauchten. Noch mehr nerven mich diejenigen, die diese CDU-Leitkultur primitiv angreifen, so zum Beispiel die zur Berliner Staatssekretärin aufgestiegene Palästinenserin mit deutschem Pass, Sawsan Chebli. Sie tritt öffentlich für die islamistische Scharia ein und wittert in jeder Leitkultur „eine gefährliche Stimmungsmache gegen Muslime“. Noch dümmlicher ist die Rückmeldung von Jürgen Trittin. Für ihn ist die Leitkulturdebatte „pure rechte Stimmungsmache“. Nicht weniger nervt mich der Spiegel, der im Jahr 2000 meine Bestimmung der europäischen Leitkultur, natürlich ohne Namen zu nennen, als „Operation Sauerkraut“ in der Überschrift eines Artikels verfemte. 17 Jahre danach behauptet der Spiegel in einem Leitartikel polemisch, Gründe dafür angeben zu können: „Warum Deutschland keine Leitkultur braucht“. Die alte Diskussion von 2000 wird unsachlich wahrgenommen als „diverse Debattenschlaufen, die sich in vagem oder auch erbittertem Unfrieden verloren“ haben. Die Zeit vom 4. Mai 2017 degradiert die Leitkulturdebatte zu einer „Debatte ums Deutschsein“. Solche Dummheiten zwingen mich, so zu denken: Wir im Islam nennen die Leute, die reden ohne zu lesen, djahil, das heißt ignorant. In allen meinen Schriften über Leitkultur hebe ich das Attribut „europäisch“ gegenüber „deutsch“ hervor, aber offensichtlich lesen weder Spiegel- noch Zeit-Journalisten die entscheidenden Bücher. Selbst der Präsident des Goethe-Instituts räumt den deutschen Leitkultur-Gedanken den Rang einer Debatte ein und schreibt in einem sehr fragwürdigen Essay im Tagesspiegel: „Die Deutschen sind geübt in Grundsatzdebatten über Leitkultur und kulturelle Identität“. Aber über beide debattieren die Deutschen eben nicht und deswegen verdient das Leitkulturgeschrei von de Maizière und seinen Kritikern nicht die Anerkennung als Debatte. In der angelsächsischen Demokratie versteht man unter „Debating Culture“ etwas anderes als das Gezänk, das heute in Deutschland ausgetragen wird. Der inhaltliche Ausgangspunkt ist die Unfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, etwa 20 Prozent seiner Einwohner, die mit Migrationshintergrund, zu Bürgern im Verständnis von Citoyen zu machen. Nach Jean-Jacques Rousseau ist ein Citoyen ein Mitglied eines Gemeinwesens ohne Bezug auf Religion und ethnische Herkunft. Ich lebe seit 55 Jahren in Deutschland gelebt, vier Generationen Studenten an einer deutschen Universität erzogen, 30 Bücher in deutscher Sprache verfasst, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhalten und dennoch diesen Citoyen-Status, den es in Deutschland nicht gibt, verfehlt. Die Zeit verfemte mich mit dem Artikel „Schwer integrierbar“ von 2006. In einem verfälschten Zitat von mir führt Focus im Dossier „Leitkultur, ja oder nein“ meine Aussage an, ich sei deutscher als viele Deutsche, streicht jedoch den Zusatz: „Aber ich habe es nicht geschafft, als Deutscher anerkannt zu werden.“ Im Mittelpunkt der Problematik steht das Scheitern der Integration. Allein die Zustimmung von etwa Zweidrittel der Deutsch-Türken zu dem türkischen Ermächtigungsgesetz ist schon ein Beweis. Warum dieses Scheitern? Eine Gesellschaft, die die eigene Identität verleugnet, kann nicht durch eine Inklusion in ein Gemeinwesen integrieren. Leitkultur ist nicht das, was de Maizière in seinem Bild-Artikel als Salve abfeuert. Wie ernst seine Einladung zur Diskussion über seine zehn Thesen ist, zeigt schon, dass er anschließend nach Washington reiste und auf Stellungnahmen per TV-Statement in den Abendnachrichten reagierte. Als Demokrat mit angelsächsischer Erziehung stelle ich mir unter Debating Culture etwas anderes vor. Sowohl im Jahr 2000 wie auch heute beweisen die Deutschen, dass deutsch das Negative ist, was Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz „Auf die Frage: was ist deutsch?“ beschrieben hat. Ich habe nach der ersten deutschen Leitkulturdebatte von Oktober bis Dezember 2000 eine Erfahrung gemacht, die ich im Dezember 2000 in einem in der Welt am Sonntag erschienenen Essay „Die neurotische Nation“ beschrieb. Adorno bewundert Immanuel Kant und seine Vernunft wie ich, vermisst diese aber bei den Durchschnittsdeutschen, die im „Pathos des Absoluten“ ihre Gesinnungsethik vortragen und Ideen der Andersdenkenden als „unbequeme Gedanken“ verfemen. Es wird eine Selbstzensur erzwungen und „Abweichungen werden gereizt geahndet“, schreibt Adorno. Ich beobachte diese unsägliche politische Kultur sowohl bei den Deutschen, die aus meiner europäischen Leitkultur eine deutsche machen, als auch bei ihren linken Gegnern. Mein amerikanischer Kollege und Freund Francis Fukuyama hat sich zu dieser Thematik aus den USA zu Wort gemeldet und den Europäern vorgehalten, „Americans may indeed have something to teach Europeans with regard of an open national identity“. Wenn der Spiegel aber die Identitätsproblematik mit Sauerbraten verwechselt und Die Zeit selbstanklagend das „Deutschtum“ anführt, dann kann es keine rationale Diskussion in diesem Lande über eine wertebezogene Leitkultur als inklusive Identität geben und folgerichtig auch keine Integration erfolgen. In diesem Modus wird auf ein Argument mit einer Keule und nicht mit einem Gegenargument geantwortet. Fukuyama aber geht auf mein Leitkulturkonzept ein und beweist, dass er im Gegensatz zu meinen deutschen Opponenten versteht, was Leitkultur als Integrationskonzept meint: „Bassam Tibi invented the term Leitkultur precisely as a non-ethnic, universalist conception of citizenship that could open up national identity to non-ethnic Germans.” Eben darum geht es, weder um „Sauerbraten“ noch um „Deutschtum“. Aus den USA hat Fukuyama beobachtet, was viele deutsche Meinungsführer mit mir und meinem Konzept der Leitkultur gemacht haben. Und was lernen wir aus den deutschen Leitkulturdebatten von 2000 und 2017? Die fehlende Integration von Muslimen bleibt ohne Aufarbeitung. Diese Aufgabe kann ohne ein Integrationskonzept und ohne wertebezogene Leitkultur nicht erfüllt werden. Die Folge ist, wie Fukuyama sagt, eine „tickende Zeitbombe“. Und was geschieht? Die Kritiker meines Konzepts der europäischen Leitkultur verwandeln die zugewanderten Individuen in Minderheiten und verteidigen diese als Kollektiv statt individuell. De Maizière will im Namen einer Leitkultur muslimischen Migranten aufzwingen, sich deutsch zu benehmen. Im Gegenzug kämpfen seine linken Gegner für die Definition der Muslime als Minderheiten, die faktisch in ihren Parallelgesellschaften leben. In einem solch verrückten Land, in dem weder eine europäische Leitkultur noch eine inklusive Identität auf positive Resonanz stoßen, kann es keine Integration geben. Die Leitkulturdebatte von heute unterscheidet sich kaum von jener des Jahres 2000 – beide werden von einer Nation getragen mit einer beschädigten Identität, die deshalb als neurotisch zu bezeichnen ist. Sowohl de Maizières Leitkultur als auch die linksgrüne Anti-Leitkultur-Propaganda nerven mich.
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Bassam Tibi
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Bassam Tibi hat den Begriff Leitkultur einst in die deutsche Sprache eingeführt. Was aber Konservative und Linke daraus gemacht haben, geht am ursprünglichen Integrationskonzept völlig vorbei und nervt ihn nur noch
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"Deutsche Leitkultur",
"Leitkultur",
"Integration",
"Sawsan Chibli",
"Thomas de Maizière",
"Angela Merkel",
"Merkel",
"europäische Leitkultur"
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kultur
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2017-05-16T15:48:43+0200
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2017-05-16T15:48:43+0200
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https://www.cicero.de//kultur/leitkultur-Debatte-nirgends-Geschrei-ueberall
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Ausnahmezustand - Wohin steuert Ägypten?
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Noch nie zuvor wirkte Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle nach einem Besuch in Kairo so verzweifelt. Der deutsche Chefdiplomat war vor drei Wochen als erster europäischer Minister an den Nil geeilt, nach der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und gefolgt vom US-Vizeaußenminister William Burns. Ihn und die beiden anderen westlichen Spitzengesandten verband das Ziel, die neue Führung Ägyptens im Machtkampf mit den Muslimbrüdern von einer gewaltvollen Lösung abzubringen - angefangen von General Abdel Fattah el Sissi, über Interimspräsident Adly Mansour, seinen Vize Mohammed el Baradei bis zu Übergangspremier Hazem el Beblawi. Doch schon nach den ersten Gesprächsrunden war dem deutschen Besucher offenbar klar - in Kairo hörte man die ausländischen Diplomaten bestenfalls noch höflich an, doch der Fahrplan für die blutige Abrechnung mit den Islamisten lag längst fertig in der Schublade. Ernsthafte Verhandlungen mit der Führung der Muslimbrüder, die im Gefängnis sitzen oder per Haftbefehl gesucht werden, wurden gar nicht erst versucht. Stattdessen appellierte General Sissi an die Bevölkerung, ihm ein Mandat gegen den Terrorismus zu geben und legte damit das Fundament für einen apokalyptischen Endkampf. In einem solchen Szenario aber, das musste auch Westerwelle erkennen, stören ausländische Warner nur. Die Phase der Diplomatie sei vorbei, dekretierte das Präsidentenamt. Ägypten habe sowieso schon ein Übermaß an ausländischer Einmischung ertragen. Damit war der Weg planiert für Armee, Polizei, Geheimdienst und alte Mubarak-Garde, die Muslimbruderschaft aus der politischen Landschaft Ägyptens zu verbannen.Gleichzeitig bekam der Westen, allen voran die Vereinigten Staaten, erstmals mit voller Wucht seine neue Ohnmacht im Nahen und Mittleren Osten zu spüren. Denn die amerikanische Militärhilfe von 1,3 Milliarden Dollar im Jahr verblasst gegenüber den zehnfach höheren Megasummen, die die reichen Golfstaaten unter Führung von Saudi-Arabien innerhalb von Tagen nach dem Putsch zur ägyptischen Zentralbank herüberschoben. China ist längst der wichtigste Handelspartner Ägyptens. Selbst Russland, wegen seiner Unterstützung von Syriens Baschar al Assad in der arabischen Öffentlichkeit eigentlich verfemt, findet plötzlich neue Sympathie. Die große Mehrheit der ägyptischen Machthaber gibt sich einem chauvinistischen Taumel hin und sehnt sich zurück nach dem alten Polizeistaat unter Mubarak. Die nützlichen Handlanger des Militärputsches aus Jugend- und Demokratiebewegung haben sie nach sechs Wochen bereits ins Aus befördert. Deren einziger Vorzeigeminister im Interimskabinett hat bereits mehrfach mit seinem Rücktritt gedroht, weil er sich komplett ignoriert fühlt. Auch in den Provinzen läuft inzwischen das Rollback. Alle 27 von Mursi ernannten Gouverneure wurden abgesetzt und 19 Generäle zu neuen Provinzchefs ernannt, manche von ihnen ohne jede politische Erfahrung. Als der abgesetzte Mohammed Mursi im Mai elf der 27 Gouverneurssitze mit Muslimbrüdern besetzte, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Opposition des Landes. Das neue Machtmonopol der Armee dagegen quittieren dieselben politischen Kräfte nun mit Schweigen. Er ist die tragische Figur in dem ägyptischen Drama. Angetreten als selbst gekürter Retter der Demokratie, ist Mohammed el Baradei stattdessen zu einem der Totengräber der jungen Demokratie am Nil geworden. Sechs Wochen nach seiner Kurzkarriere als Übergangsvizepräsident trat der 71-Jährige am Mittwoch zurück. Für den Westen war el Baradei das liberale Gesicht Ägyptens, auch wenn er meist hinter den Kulissen und aus sicherer Deckung heraus agierte. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 machte er im letzten Moment einen Rückzieher. Stattdessen gründete er seine eigene „Verfassungspartei“. Im Post-Mubarak-Ägypten entwickelte er sich zu einem kompromisslosen Gegner der Muslimbrüder und zum wichtigsten Gegenspieler von Staatschef Mursi. Den frommen Mächtigen hielt er vor, ihre Regierung sei unqualifiziert. Ägypten sei auf dem Weg in einen gescheiterten Staat. Die öffentliche Ordnung zerfalle, die Wirtschaft stehe vor dem Ruin. Seit dem Frühjahr beteiligte er sich an den geheimen Vorgesprächen mit der Generalität im illustren Marine-Offiziersclub am Kairoer Nilufer. Bei der Fernsehansprache von Armeechef Abdel Fattah El-Sissi saß el Baradei mit auf der Bühne, rechtfertigte die Machtübernahme des Militärs anschließend als „unausweichlich“. Mursi habe leider seine eigene Legitimität ausgehöhlt. „Und so gerieten wir in einen Faustkampf, statt in einen demokratischen Prozess.“ Eher ratlos und frustriert klingen die westlichen Appelle nach dem dritten und bisher schwersten Massaker der Sicherheitskräfte an den Muslimbrüdern. Deutschland, Frankreich und Großbritannien bestellten die ägyptischen Botschafter ein. US-Außenminister John Kerry, der vor zwei Wochen noch das Eingreifen der Generäle als einen Schritt „zur Wiederherstellung der Demokratie“ qualifiziert hatte, spricht jetzt von „widerlichen Vorgängen, die die Wünsche der Ägypter nach Frieden und wirklicher Demokratie unterlaufen“. Dann aber wiederholte er lediglich das Mantra, die neue Führung in Kairo müsse eine Lösung suchen, die alle politischen Lager mit einbezieht.Unter den EU-Ländern fiel am Donnerstag vor allem Dänemark mit einer deutlichen Reaktion auf das gewaltsame Vorgehen der Militärs auf. Der dänische Entwicklungsminister Christian Friis Bach kündigte an, dass Kopenhagen zwei Entwicklungshilfeprojekte zunächst auf Eis legen werde. Er erklärte zudem, dass seine Regierung auch beabsichtige, sich vorerst nicht mehr an den Brüsseler Hilfszahlungen für Ägypten zu beteiligen. Im Moment gibt es indes keine Anzeichen dafür, dass Brüssel die EU-Hilfe für Ägypten insgesamt einfrieren könnte. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton appellierte zwar an die Übergangsregierung, „den Ausnahmezustand so schnell wie möglich zu beenden, damit das normale Leben wieder aufgenommen werden kann“. Auf die EU-Finanzhilfen für Kairo ging die Britin in ihrer Reaktion aber nicht ein. Ende vergangenen Jahres hatte die EU Kairo Hilfen über fünf Milliarden Euro für die marode Wirtschaft zugesagt.Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU) regte an, Teile der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Ägypten zu überdenken. Es stelle sich die Frage, ob es Bereiche der Kooperation gebe, die zeitweilig suspendiert werden könnten, „um ein Zeichen zu setzen“, sagte Polenz. Gemeinsame Projekte bei der Entwicklungszusammenarbeit – etwa zur Verbesserung der Trinkwasserversorgung – sollten aber trotz der politischen Entwicklung in Kairo fortgeführt werden. Einige Unternehmen, darunter der Autokonzern GM und der Haushaltsgeräte-Hersteller Elektrolux kündigten bereits an, die Produktion in Ägypten vorerst zu stoppen.
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Martin Gehlen
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Ägyptens Machthaber sind im chauvinistischen Taumel, das Ausland ist ratlos. Welche Strategie verfolgt das Militär und wohin steuert das Land am Nil?
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außenpolitik
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2013-08-16T09:07:46+0200
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2013-08-16T09:07:46+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/ausnahmezustand-wohin-steuert-aegypten/55414
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Integration – „Die Kinder müssen sich von ihrem Milieu emanzipieren“
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Herr Buschkowsky, parken Sie in diesen Tagen Ihr Auto noch mit ruhigem Gewissen?
Ich bin privilegiert mit einem Dienstwagen. Der ist weggeschlossen und nicht so leicht angreifbar. Aber vor sechs Tagen hat man versucht, meinen Privatwagen vom Grundstück zu stehlen. Das hat mich auch nicht fröhlich gemacht. In den vergangenen Tagen wurden die Autos nicht in den sozialen Brennpunkten, sondern eher in wohlhabenden Viertel angezündet. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, dass diese Anzünderei im Moment für viele junge Menschen ein Spaß und Abenteuererlebnis ist. Bestimmt ist oft Alkohol im Spiel. Es ist wohl ein anderer Kick als Klauen im Supermarkt. Ob Blödsinn, Mutprobe oder Suff, Jugendliche finden so etwas „cool“. Sehen Sie Parallelen zwischen den Autobränden in Berlin und den Krawallen in England?
Nicht wirklich. Die Krawalle in England oder die Unruhen in den Pariser Banlieues vor vier Jahren sind und waren Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Problemlagen. Dort begehren junge Menschen auf, die sich ausgegrenzt und perspektivlos fühlen, orientierungslos sind und deswegen einen Hass auf den Rest der Gesellschaft entwickeln.
In einem sozial schwierigen Bezirk wie Neukölln steht bei den Jugendlichen mehr das Konsumdenken im Vordergrund, die Menschen haben etwas zu verlieren. Das sehen Sie auch an der alljährlichen Randale zum 1. Mai. Die inhaltliche Triebfeder der Überwindung des spätkapitalistischen Systems bleibt auf die Politaktivisten beschränkt. Den anderen sind Alkohol, Krawall, Gewalt und Kräftemessen mit der Polizei wichtiger. Was ist mit den sozialen Problemen – verspüren Jugendliche der Unterschicht hier nicht auch Frust?
Die extreme Ausgrenzung ganzer Stadtteile und ihre quasi-Abkoppelung vom Rest der Gesellschaft gibt es in Deutschland so nicht. Zudem leiden wir nicht ganz so sehr unter einem Realitätsverlust wie etwa die Briten. Bei meiner letzten London-Reise hörte ich einen Vortrag der Immigrationsbehörde, der mich sprachlos machte. Da war von der Kraft der „cohesion“ die Rede, also einem reibungslosen und freundschaftlichen Zusammenhalt aller. Anschließend bin ich ins Taxi gestiegen und habe mir den Stadtteil Brixton angesehen. Das war kein schöner Anblick. Mit dem London der Themse im Sonnenschein, joggenden Brokern und dem Buckingham-Palace hatte das gar nichts zu tun. Und es gibt noch mehr Problemviertel als nur Brixton. Eine Gesellschaft, die sich selbst so belügt, wird nur schwerlich an die eigentlichen Probleme herankommen.
London und Paris sind aber trotzdem ein Blick durch das Schlüsselloch unserer Zukunft. Beide Städte zeigen, was passiert, wenn man eine nicht-integrierte Bevölkerungsschicht entstehen lässt, die für sich selbst keinerlei Chancen sieht und nichts zu verlieren hat.
Im Bezirk Neukölln-Nord haben 55 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. In den Grundschulen liegt die Quote dagegen bei 85 bis 100 Prozent. Die Bewohner von morgen sind also heute schon da. Wenn wir in der Integrationspolitik keine besseren Erfolge als bisher verzeichnen, kann uns in zehn Jahren eine soziale Entwicklung wie in Brixton drohen. Wo sehen Sie Warnsignale?
Wenn aus dem prägenden Dreieck der Entwicklung eines Menschen, ein Drittel Elternhaus, ein Drittel Schule und ein Drittel Sozialraum, zum Beispiel der Bereich des Elternhauses ausfällt, muss die Gesellschaft zum Ausfallbürgen werden. Wenn zuhause niemand aufsteht, um das Kind zur Schule zu schicken, niemand nach der Note der letzten Klassenarbeit fragt, dann müssen wir das Bildungssystem so umbauen, dass Institutionen die Rolle des Elternhauses übernehmen. Lesen Sie auch, was Buschkowsky über Thilo Sarrazin denkt. Vor fünf Jahren hat die Rütli-Schule mit einem Brandbrief auf unhaltbare Zustände aufmerksam gemacht, jetzt folgte mit der Heinrich-Mann-Schule eine weitere ehemalige Hauptschule in Neukölln.
Es ist völlig richtig, dass wir an dieser Schule einen Teil sehr schwieriger, lernunwilliger Schüler haben. Auch bei uns wächst eine Bevölkerungsschicht auf, die nicht bereit ist, die Umgangsformen und das hier übliche kulturelle Miteinander zu teilen.
In Neukölln kommen rund 40 Prozent der ABC-Schützen mit schweren und schwersten Sprachmängeln in die Schule. Wir reden hier von Kindern, deren Eltern in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Das sind die Folgen von Parallelgesellschaften, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen und sich mit ihr auch nicht identifizieren.
„Meine Tochter soll eine gute Frau und Mutter werden, was braucht sie da die Schule?“ oder „Auch aus mir ist ein ganzer Mann geworden, ohne dass ich lesen und schreiben kann.“, sind Sätze, bei denen unsere Sozialarbeiter schlucken müssen, wenn sie sich nach dem Fernbleiben des Kindes in der Schule erkundigen. Zur Elternversammlung sind die, die es am Nötigsten haben, stets krank und der Sohn ist von der Polizei nur mitgenommen worden, weil andere ihn verführt haben. Wer hat aus Ihrer Sicht Schuld an dieser Entwicklung?
Wir sehen hier die Folgen einer nicht stattgefundenen Integrationspolitik im vorigen Jahrhundert. Schon 1979 hat der erste Ausländerbeauftrage der Bundesregierung, Heinz Kühn, eindringlich darauf hingewiesen, dass unser Bildungssystem nicht für den Integrationsprozess gerüstet ist. Die erste rechtliche Grundlage für die Zuwanderung stammt von der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2005. Die Vorschläge für eine konzeptionelle Zuwanderungspolitik, die die Süssmuth-Kommission schon 2001 vorgeschlagen hatte, sind in den Papierkorb gewandert.
Das weitgehende gesellschaftliche Laissez-faire ist ursächlich für unsere heutigen Problemlagen in den Städten. In Berlin-Wedding, Neukölln, Duisburg-Marxloh oder Bremerhaven muss im Alltag niemand mehr Deutsch sprechen, maximal auf dem Amt. Integration ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Wer sich in einen anderen Kulturkreis begibt, muss wissen, dass er dort auf andere Regeln des Zusammenlebens trifft als in der Heimat. Aber auch die Gesellschaft muss sich bewegen. Was haben wir denn versäumt?
Ich finde, dass gesellschaftliche Werte offensiv vertreten werden sollten. Ich möchte nicht, dass unsere gesellschaftliche Entwicklung um hundert Jahre zurückgeworfen wird, dass Mädchen und Jungen getrennt werden, der Hausmeister die Turnhalle nicht betreten soll, wenn Sportunterricht für Mädchen ist, dass Cafeterien für alle geschlossen werden, weil muslimische Schüler im Ramadan fasten und so weiter.
Deutschland gibt im Durchschnitt der OECD-Länder das meiste Geld für die Familienförderung aus. Bei der Nachhaltigkeit stehen wir am drittletzten Platz. Warum ist das so? Andere Länder investieren das Geld zu 50 Prozent in die Infrastruktur der Kinder – in Krippen, Kindergärten, Horte, Schulen und Lehrer. Wir wenden hierfür nicht einmal ein Viertel der Gesamtsumme auf.
Stattdessen hat bei uns der Transfer in das Familienbudget lange Tradition: Rund 35 Milliarden Euro wenden wir für das Kindergeld auf. Ich trete stattdessen dafür ein, das Kindergeld in der Barauszahlung zu vermindern und das freiwerdende Geld in die Schulen und die Kindergärten zu stecken. Mit der Kindergelderhöhung von zwanzig Euro hätte man die gesamte Vorschulerziehung aller Kinder in Deutschland kostenfrei machen können.
Die Absicht der Bundesregierung, ab 2013 an Eltern mit dem Betreuungsgeld Prämien zu zahlen, wenn sie ihr Kind nicht in die Kita geben, halte ich für absurd. So zementiert man Unterschichten. Außerdem fordere ich eine Kindergartenpflicht ab dem ersten Jahr sowie Ganztagesschulen, wie sie in allen europäischen Ländern völlig normal sind. Einer Bertelsmann-Studie zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus prekären Lebensverhältnissen später das Gymnasium besucht, um bis zu 80 Prozent, wenn es in der Krippe war.
Wir müssen die Kinder so klug machen, dass sie sich selbst vom Milieu emanzipieren und sagen: „Ich möchte anders als meine Eltern leben.“ Im Berliner Wahlkampf zeigt sich der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, auf Plakaten mit Alten und Kindern und behauptet, er würde „Berlin verstehen“. Versteht die SPD Berlin wirklich?
Gerade wir in Neukölln haben gezeigt, dass wir Berlin verstehen und die Herausforderungen der Zukunft angenommen haben. Die demografischen Daten erzwingen eine energische und erfolgreiche Integrationspolitik.
Wir müssen den jungen Leuten deutlich machen, dass diese Gesellschaft einen Platz für sie hat. Ob Campus Rütli, Albert-Schweitzer-Gymnasium, Stadtteilmütter, Mitmachzirkus, Schulstationen oder Sprachzentren, wir haben vorgelebt, dass es geht. Im Übrigen ist Klaus Wowereit ein ständiger Gast im Neuköllner Wahlkampf. Und das ist auch gut so. Eine Frage zum Schluss: Thilo Sarrazin berichtet, dass Sie in den SPD-Führungsrunden in Berlin geächtet und verlacht wurden. Erst als man ihn aus der Partei werfen wollte, erlebten Sie ein Revival. Sie hätten sich bei ihm dafür bedankt. Stimmt das?
Mir ist nicht erinnerlich, dass ich jemals eines Revivals bedurft hätte. Mich brauchte niemand wiederbeleben. Ich war immer sehr lebendig, das war ja das Problem derjenigen, die sich von mir in der Berliner Partei auf den Schlips getreten fühlten und fühlen. Dafür, dass er mich in die politische Mitte gerückt hat, dafür habe ich mich in der Tat bei Thilo Sarrazin bedankt. Herr Buschkowsky, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Petra Sorge.
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In Berlin droht nach Ansicht des Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky in zehn Jahren eine ähnliche soziale Entwicklung wie in London, wenn es in der Integrationspolitik keine deutlichen Fortschritte mehr gibt. Im Interview mit CICERO ONLINE räumt der SPD-Politiker zudem ein, sich bei dem Buchautoren Thilo Sarrazin bedankt zu haben.
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innenpolitik
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https://www.cicero.de//innenpolitik/die-kinder-muessen-sich-von-ihrem-milieu-emanzipieren/42793
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Der neue Intellektuelle - Reisefreudig, wendig, radikal
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Wenn Frankreich sich heute auf das Jahr 410 besinnt, dann verheißt das nichts Gutes. Denn 410 ist eine symbolische Zahl, eine Zahl der Dekadenz. Damals ging die abendländische Kultur zum ersten Mal unter. Im Jahr 410 wurde Rom von Alarichs Westgoten überrannt. 1602 Jahre später, im Herbst 2012, erhält ein schmaler Roman, der exakt diesen Untergang in die europäische Gegenwart überträgt, den begehrten Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. Ist das ein Symbol? Sieht man linksrheinisch eine neue Apokalypse am Horizont? [[{"fid":"52880","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":113,"style":"width: 113px; height: 220px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]„Le sermon sur la chute de Rome“, die „Predigt auf den Untergang Roms“, soeben auf Deutsch im Züricher Verlag Secession erschienen, ist das sechste Werk des 1968 geborenen Philosophielehrers Jérôme Ferrari. Er war bis dato nur Eingeweihten bekannt. Sein schmaler Roman ist kein süffiges Historienfresko, eher ein metaphernreicher Textwurm voller Anspielungen auf die neuere Geschichte des Landes. Ferraris Rom liegt auf dem heutigen Korsika. Die schlimmen Vandalen tragen dort Goldkettchen ums Handgelenk, haben tätowierte Oberarme, fahren fette Pick-ups und trinken viel zu viel Pastis. Dem korsischen Prekariat stellt der Autor zwei Philosophiestudenten gegenüber, die für sich beschließen, nun genug gedacht zu haben. Sie haben genug von den Pariser Intellektuellen, von abgehobenen Theorien über die Liebe und von endlosen Diskussionen über die beste aller möglichen Welten. Sie wollen die Dinge nicht nur denken, sondern tun. Sie wollen dem Leben die Hand schütteln und der Liebe in die Augen schauen. [[nid:53827]] Also übernehmen die beiden eine heruntergewirtschaftete Kneipe in einem korsischen Bergdorf. Das, merken sie bald, ist keine gute Idee. Im Nirgendwo bröckelt die Zivilisation. Hier beginnt die décadence. Das Erste, was die beiden lernen, ist, wie man Jungschweine bei lebendigem Leib kastriert, wie man Hoden am Lagerfeuer grillt und sie genüsslich verspeist. Die zweite Lektion ist auch nicht viel angenehmer: Trage immer eine großkalibrige Schusswaffe im Gürtel. Die Bar wird zum Mittelpunkt des Dorfes und der Region. Neues Leben beginnt. Es brodelt und kocht in der korsischen Hitze. Schon bald brechen alte Konflikte auf: Es geht um weibliche Körper, um männliche Hormone, um die französische Kolonialgeschichte, den Algerienkrieg, die Résistance, sogar um den Ersten Weltkrieg. Die Weltgeschichte ergießt sich über den Tresen wie eine umgekippte Flasche Anis-Schnaps. Ferrari hat nicht umsonst Philosophie studiert. Seine Schilderung einer heutigen Zeitenwende greift auf große philosophische Ideen zurück. Er schreibt sich in den Untergang des französischen Abendlands auf einem prominenten Umweg ein: über Augustinus. Dieser war im bösen Jahr 410 Bischof von Hippo im heutigen Algerien. Aus dieser Zeit sind Tausende von Predigten erhalten. Und eben auch eine vom Dezember 410, in der er seine Gemeinde angesichts der gotischen Katastrophe im fernen Rom an die Zeitlichkeit des Irdischen gemahnt. Ferrari benutzt den augustinischen Subtext geschickt, um vom Untergang der großen und der kleinen Welt heute zu erzählen. Den sechs ersten Kapiteln stellt er Zitate aus der Untergangspredigt des Kirchenvaters voran. Im siebten und letzten Kapitel gipfelt das Buch in einer epischen Vergegenwärtigung der augustinischen Predigt über den Untergang Roms und verdichtet sich schließlich in dem Moment, als Augustinus von der Welt Abschied nimmt, ohne das Rätsel des Lebens, jenes undurchdringliche Mysterium, gelöst zu haben. „Die Welten“, schreibt Ferrari, „vergehen in Wahrheit eine nach der anderen, von Finsternis zu Finsternis, und gut möglich, dass ihre Abfolge nichts bedeutet. Diese unerträgliche Hypothese brennt Augustinus in der Seele, und er stößt, Ruhender im Kreis seiner Brüder, einen Seufzer aus, und er strengt sich an, zum Herrn zu blicken, sieht aber nur das merkwürdig tränenfeuchte Lächeln, das ihm einst die Arglosigkeit einer unbekannten jungen Frau geschenkt hatte, um vor ihm das Ende zu bezeugen, und zugleich die Ursprünge, denn dies ist eine einzige und sich gleichbleibende Bezeugung.“ [gallery:Amit Pasricha: Heiliges Indien] Ferraris Tonfall ist elegisch-distanziert. Wie Augustinus damals über das ferne Rom, so predigt Ferrari, der auf Korsika, in Algerien und zurzeit in den Arabischen Emiraten unterrichtet, aus räumlicher Distanz über den kulturellen Untergang seiner eigenen Grande Nation: über ihre Zivilisationsmüdigkeit, ihren Verlust an Orientierung, ihre Verrohung, über die Vergänglichkeit der großen französischen Leitmotive – das Glück, die Liebe und das Leben. Ferarris Text bezieht politisch keine Position. Fingerzeige auf reale gesellschaftliche Konflikte wie Immigration und Islamismus sucht man vergebens. Wer die modernen Goten wirklich sind, die Frankreich belagern, das verschweigt der Autor. [[{"fid":"52879","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":149,"style":"width: 120px; height: 177px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Beim Globetrotter-Philosophen Sylvain Tesson, der den zweitwichtigsten Literaturpreis Frankreichs gewann, den Prix Medicis, schaut das ganz anders aus. Hier herrscht Klartext. Tesson, enfant terrible der französischen Reiseschriftsteller, ist der Sohn eines der bekanntesten Pariser Journalisten. Sein Vater Philippe gründete 1974 den Quotidien de Paris und war bald der Nestor der französischen Theaterkritik. Dem Sohn wurde das Pariser Intellektuellenmilieu zu eng. Nach dem Besuch einer Privatschule umrundete er mit dem Fahrrad die Welt, marschierte 5000 Kilometer durch das Himalaya-Massiv und wenig später noch mal so viel durch die zentralasiatische Steppe. Seitdem zieht er schreibend, trinkend, lesend durch die Welt. Irgendwann schwor er sich, vor seinem 40. Geburtstag als Einsiedler in Sibirien zu leben. So bezog er für sechs Monate die winzige Hütte eines Wetterbeobachters am Baikalsee, reichlich ausgerüstet mit Wodka, Zigarillos und einer Angel. Aus dem anachoretischen Selbstversuch ist ein zu Recht preisgekröntes Buch geworden: „Dans les Forêts de Sibérie“, „In den Wäldern Sibiriens“. Es soll auf Deutsch Anfang 2014 im Knaus-Verlag erscheinen. Sylvain Tesson ist der frierende Bruder Jérôme Ferraris. Sein Korsika liegt mitten in Sibirien. Dort, wo sich jeder leise Anflug von Kultur gegen die unerbittliche Macht des Wirklichen durchsetzen muss: „Nach der bitteren Kälte ruft das ‚Plopp‘ eines aus der Wodkaflasche springenden Korkens neben einem Ofen unendlich mehr Genuss hervor als ein herrschaftlicher Tag in einem Palazzo am Canal Grande.“ In einem solchen Moment verpuffen 2000 Jahre abendländischer Kulturgeschichte im eisigen Nebel der Taiga. Solche Momente gibt es bei Tesson reichlich. Das ist keine intellektuelle Attitüde, kein Pariser Renegatentum. Tesson weiß, wovon er spricht. Er hat sich das alles nicht in einer Mansarde in Montmartre ausgedacht, sondern erlebt. Er beneidet sie wirklich, jene einfachen Russen, deren Blick auf die konkreten Dinge durch keine Lektüre, durch keine große Idee verstellt ist. Sechs Monate am Baikalsee werden so zu einer Zeitreise, an deren Ende die Erkenntnis steht, „dass das Leben nur das sein sollte: die Hommage des Erwachsenen an seine Kindheitsträume“. Wer wollte ihm da widersprechen? Tesson nimmt das wilde Denken, das in Frankreich seit Claude Lévi-Strauss Tradition hat, wörtlich. Er möchte wissen, was passiert, wenn ein Intellektueller, der zugleich die Statur und die Haartracht eines russischen Trappers hat, ein halbes Jahr im Niemandsland lebt und sich geistige Nahrung von jenen Autoren holt, die immer wieder den Rückzug in die Natur besungen haben. Er erprobt eine ganze Bibliothek, die er in einer Kiste in die Einöde geschleppt hat, an der harten sibirischen Wirklichkeit. Seine Frage lautet: Hält das Denken und Schreiben eines Rousseau, eines Diderot, eines Conrad, eines Jünger, eines Thoreau der Einsamkeit, arktischen Temperaturen von minus 40 Grad und teuflischen Mückenschwärmen stand? Oder zerbröselt es wie morsches Holz unter dem Fußabdruck der Wirklichkeit? [[nid:53846]] Das ist die Versuchsanordnung. Ihr Ergebnis: Über die Einsamkeit des Waldgangs zu schreiben, ist eine Sache. Den Rückzug in den Wald zu leben, eine ganz andere. Welches Buch Tesson auch zur Hand nimmt (am Ende werden es 70 sein), seine Lektüreeindrücke werden von der Kraft der Natur sofort eingeholt und überlagert. Das Singen und Krachen der Eisplatten spaltet die subtilsten Gedanken. Ätherische Wolkenbilder dämpfen die schärfsten Antithesen ein. Die Poesie des Unterholzes überschreibt allen Sprachzauber. Zuletzt lacht eine leibhaftige Robbe, die ihr melancholisches Antlitz aus einem Eisloch steckt, über die ganze Eitelkeit der idealistischen Welt. In der Dreyfus-Affäre hat Frankreich – genauer: Georges Clemenceau – die Figur des „Intellektuellen“ erfunden, der gesellschaftliche Vorgänge analysiert und diskursiv beeinflusst. 100 Jahre haben Intellektuelle von Zola über Sartre bis Bernard-Henri Lévy die Wirklichkeit ihren Ideen untergeordnet und damit die französische Politik beeinflusst. Jetzt scheint es, als kehrten die ersten französischen Intellektuellen ins Leben zurück. Ferraris preisgekrönter korsischer Canto ist hierfür ebenso Signal wie Tessons sibirische Aphoristik. Wenn es bei Tessson am Ende heißt: „L’homme ne se refait pas“, „Der Mensch ändert sich nicht“, dann ist das französische Raisonnement tatsächlich wieder vor der Aufklärung angekommen. [[{"fid":"52881","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":138,"style":"width: 120px; height: 191px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Der Publizist Fabrice Hadjadj, 41 Jahre alt, würde dieser Aussage widersprechen. Hadjadj bezeichnet sich als „Juden mit arabischem Namen und katholischer Konfession“. Früher kollaborierte er mit Houellebecq, schrieb nihilistische Traktate, verehrte Nietzsche. Dann erkrankte sein Vater, und Hadjadj hatte in der Pariser Kirche Saint-Séverin ein Bekehrungserlebnis. Er konvertierte zum Katholizismus. Heute arbeitet er als viel beachteter Publizist und Philosoph. Bekannt wurde er 2005 mit einem preisgekrönten Langessay über die Kunst des Sterbens, „Réussir sa mort“. Hadjadj, zu dessen Förderern Alain Finkielkraut gehört, leitet seit 2012 das renommierte philosophische Institut Philanthropos im schweizerischen Fribourg. Hadjadj kehrt die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Idealismus um. Er betrachtet das Denken durch die Brille der Realität. Dabei kommt es zu überraschenden Gedankensprüngen. Die Wirklichkeit ist paradox. Hadjadj fragt: Wie muss eine Idee ausschauen, damit sie bis zur Realität durchdringen kann? Wie muss man argumentieren, damit man verstanden wird in einer oberflächlichen Welt? Diese Frage ist links- wie rechtsrheinisch aktuell. Daher ist Hadjadjs letztem Buch, dem amüsanten Essay „Comment parler de Dieu aujourd’hui?“, „Wie kann man heute über Gott reden?“, eine deutsche Übersetzung zu wünschen. Hadjadj findet eine Sprache, die dem Leben abgeschaut ist und die dennoch über dieses Leben hinausweist. Seine Rhetorik ist irgendwo zwischen den Absurditäten eines Groucho Marx und den präzisen Thesen eines Robert Spaemann verortet. Der schelmische Ansatz zeigt sich schon daran, dass Hadjadj seinem Buch den Untertitel „Anti-manuel d’évangélisation“, „Anti-Handbuch des Apostolats“ gibt. Hadjadj geht es nicht um Dogmen. Er wechselt permanent den Standpunkt, um das, was er über Gott, Glaube, Welt sagen will, straßentauglich zu machen. Er ist der Typus des nervösen Intellektuellen, der nah dran sein will am pulsierenden Leben. Man muss nicht Christ sein, um seine humorvollen Ausführungen mit Gewinn zu lesen. Realitätsgesättigt, wendig, konkret: Sieht so der intellektuelle Diskurs von morgen aus? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls zeigt Hadjadj, wie man in einem Atemzug über den letzten Sieg von Real Madrid, die betörende Schönheit von Monica Bellucci und die Erhabenheit Gottes reden kann, ohne sich dabei lächerlich zu machen. Und das ist immerhin ein Etappensieg auf dem Weg der Intellektuellen zurück ins Leben. Jérôme Ferrari: Le Sermon sur la chute de Rome. Actes Sud, 2012. 20, 95 € Sylvain Tesson: Dans les forêts de Sibérie. Gallimard, 2012. 19, 95 € Fabrice Hadjadj: Comment parler de Dieu aujourd'hui? Anit-manuel d'évangelisation. Salvator, 2012. 19, 99 €
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Alexander Pschera
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Im deutsch-französischen Jahr 2013 bildet sich bei unseren Nachbarn ein neuer Typus des Intellektuellen heraus: reisefreudig, wendig, radikal
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kultur
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2013-05-05T08:54:28+0200
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2013-05-05T08:54:28+0200
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https://www.cicero.de//kultur/frankreichs-neue-intellektuelle-denken-fuer-draufgaenger/54203
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Kirchenstaat – Religion hat in der Politik nichts verloren
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Der Glaube steht hoch im Kurs. Besonders zur Weihnachtszeit. Jener Zeit, in der wir von Besinnen sprechen und gleichwohl besinnungslos konsumieren, in vorweihnachtszeitlicher Hektik die Einkaufsstraßen dieser Republik rauf und runter jagen und vergessen, worum es eigentlich geht. Doch worum geht es – eigentlich? Zur Ruhe kommen, gemütlich werden und religiöse Historie rekapitulieren? Schließen die Geschäfte, haben die Kirchen Hochkonjunktur. Sie sind es auch, die dieses besinnungsepische Paralleluniversum stoisch aufrechterhalten. Am 24. Dezember füllen sich die Gotteshäuser, als gelte es, all das, was 364 Tage zuvor an weltlicher Sünde begangen wurde, am 365. Tag noch schnell in die Kirche zu tragen, um Abbitte zu leisten. Dabei ist das Geschäftsmodell der Kirche wirklich genial. Der Handel mit Buße, Gewissen und Übersinnlichem unterliegt nicht den üblichen Marktgesetzten. Diese immateriellen Werte sind dem Menschen ein ständiges Bedürfnis und unterliegen keinen irdischen Konjunkturschwankungen. Kirchen bieten die perfekte Projektion, liefern absolute, beständige Wahrheiten in einer Welt, die immer unübersichtlicher zu werden droht. Wenn Jürgen Habermas in „Erkenntnis und Interesse“ schreibt: „Dieselben Konstellationen, die den Einzelnen in die Neurose treiben, bewegen die Gesellschaft zur Errichtung von Institutionen“, dann trifft das sicherlich auch und im Besonderen auf die Institutionen des Glaubens zu – die Kirchen. Während der Katholik die Sünde mit in seine Kirche trägt, sein schlechtes Gewissen im Beichtstuhl zurück- und die Institution schließlich erleichtert verlässt, geht der Protestant in der Regel gut gelaunt in die Predigt, um sie dann voller Schuld und Scham wieder zu verlassen. In beiden Fällen aber sorgen Absolutheitsanspruch und Welterklärungsmodell, die der jeweils konsumierten Glaubensrichtung zu Grunde liegen, für Klarheit, Kompass und fühlige Katharsis. Glaubt man der Statistik, dann ist Deutschland noch immer florierendes Abendland. Knapp 50 Millionen Menschen hierzulande sind zumindest formell Mitglied in einer Glaubensinstitution. Der Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst, kurz Remnid, zählt knapp 25 Millionen Mitglieder der römisch-katholischen Kirche, gefolgt von knappen 24 Millionen Anhängern der evangelischen Landeskirchen. Auf den weiteren Plätzen folgen 4.000.000 Muslime und immerhin 102.797 gläubige Juden. Solide Zahlen, keine Frage, die letztlich aber die Wirklichkeit nur bedingt einfangen. Denn der Großteil der Kirchenmitglieder ist längst kirchenfern, bzw. „religiös indifferent“, wie es die Sozialforschung nennt. Die Forschungsgruppe Weltanschauung zählt 37,6 Prozent konfessionsfreie Deutsche, gegenüber 29 Prozent Katholiken und 29 Prozent Protestanten. Tendenz steigend: Die Kirchenaustritte nehmen zu. Wäre Konfessionslosigkeit eine Konfession, müsste man sie als größte des Landes akzeptieren. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung muss die Frage erlaubt sein: Warum wird die größte Gruppe, also die der Konfessionslosen eigentlich nicht staatlich unterstützt? Denn dass der Staat Gelder dafür ausgibt, um Bürger von staatlichen Einrichtungen fern zu halten, erleben wir doch spätestens seit Einführung des Betreuungsgeldes. Die Kirchen hingegen, obwohl ihre Bedeutung schwindet, genießen seit Jahr und Tag schier unantastbare Privilegien. Und das, obwohl die Zahl der Gläubigen zurückgeht und obwohl das Grundgesetz die klare Trennung von Kirche und Staat vorsieht. [gallery:Papst Benedikt XVI. – Der Pontifex, der die Brücken nach innen baut] Während in Deutschland überall gekürzt, gespart, verknappt wird, in Zeiten von Hartz-Reformen und Steuererhöhungsdiskussionen, bleibt ein Kostenfaktor immer verschont: Die Kirche. Selbst wenn die Kirchen alle paar Jahre, in Folge von Zölibat oder Pädophilie-Diskussionen, in den Fokus der kritischen Öffentlichkeit geraten, werden die enormen Privilegien, die die Kirchen bis heute uneingeschränkt genießet, selten bis nie in Frage gestellt. Dabei würde ein Blick in das Grundgesetz genügen, um zu der Erkenntnis zu gelangen: Deutschland ist kein Kirchenstaat, eine Staatskirche ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Verfassungsnorm und Realität trennen aber auch hier mitunter Welten. Denn faktisch gibt es zwei Staatskirchen: Das zeigt sich nicht zuletzt in der Sonderrolle beim Arbeitsrecht, steuerlichen Begünstigungen oder der Besetzung von staatlichen Beiräten. Doch was kostet uns die Kirche? Kirchenkritiker Carsten Frerk spricht von 19,3 Milliarden Euro, die sich aus direkten (kirchliche Einrichtungen, Amts- und Würdenträger, Institutionen, Erziehungs- oder Ausbildungsmaßnahmen) und indirekten (Verzicht des Staates auf bestimmte Einnahmen aufgrund von kirchlichen Sonderrechten) Subventionen zusammensetzen. Die Kirchensteuer nicht eingerechnet. Die macht noch mal fast 10 Milliarden aus. Auch die Unterstützung sozialer Einrichtungen der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie ist in dem Betrag nicht enthalten. Allein diese Zuschüsse summieren sich jährlich auf weitere 45 Milliarden Euro. Seite 2: Deutschland ist kein Kirchenstaat Nun tut sie damit ja auch Gutes, könnte man sagen. Wenn man sich aber die sozialen Einrichtungen genauer anschaut, zeigt sich, dass die Kindergärten und sonstigen Institutionen, die sich also in der Trägerschaft der Kirchen befinden, mitunter zu 90 Prozent durch den Staat finanziert werden. Obwohl also, wo Kirche drauf steht, größtenteils Staat drin ist, gilt in diesen Einrichtungen kirchliches Selbstbestimmungsrecht, während das gesetzliche Arbeitsrecht in den kirchlichen Einrichtungen außer Kraft gesetzt ist: Betriebsrat, tariflich geregelte Bezahlung und Streikrecht – Fehlanzeige. Wer sich in den kirchlichen Einrichtungen nicht an kirchliche Moral hält, wer sich scheiden lässt und erneut heiratet, aus der Kirche austritt oder Abtreibung befürwortet, riskiert die Kündigung. Eine Studie zum kirchlichen Arbeitsrecht zeigt, dass religiös motivierte Diskriminierungen in Einrichtungen kirchlicher Trägerschaft weit verbreitet sind und Bewerbungsprozesse, Arbeitsalltag und Privatleben der Beschäftigten prägen. Obwohl rund 40 Prozent der deutschen Bevölkerung keiner der beiden christlichen Kirchen angehören und obwohl gerade einmal knappe fünf Prozent der Bevölkerung tatsächlich an einem christlichen Gottesdienst teilnehmen, werden die Subventionen aus den Steuermitteln aller finanziert. Man muss schon lange suchen, bis sich eine ähnlich privilegierte Minderheit findet, die derartige Rechte und Einfluss besitzt. Bei der Finanzierung der Kirchen durch den Staat berufen sich die Kirchen auf Verträge, die mehr als 200 Jahre alt sind: 1803 enteignete die Reichsdeputation in Regensburg die alte Kirche (vier Erzbistümer, 18 Bistümer, 80 reichsunmittelbare Abteien und mehr als 200 Klöster). Damit wurden die Fürsten für jene Gebiete entschädigt, die sie an Napoleon verloren hatten. Seither erhalten die Kirchen als Ausgleich für ihre Vermögensverluste jährliche Zahlungen aus der Staatskasse. Bereits die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 sah allerdings im Artikel 138 eine Auflösung der Staatsleistungen an die Kirchen vor. Der entsprechende Artikel wurde in das Grundgesetz übernommen. Eine Aufhebung der Leistungen des Staates an die Kirchen ist zwar vorgeschrieben, doch eine Frist gibt es nicht. Die Subventionen laufen munter weiter. Die sogenannten Staatsleistungen an die Kirche steigen sogar noch von Jahr zu Jahr. Auch das wurde vertraglich festgelegt. Wenn wir unser Grundgesetz ernst nehmen, dann wäre es an der Zeit, die Kirchenstaatsverträge abzulösen. Das ist ein Verfassungsauftrag. Wieso dürfen die Kirchen noch immer Steuern erheben und sie dem Staat überantworten – obwohl davon in der Verfassung kein Wort steht? Warum bekommen die Kirchen Leistungen mit Ewigkeitscharakter auf der Grundlage von Ereignissen, die 200 Jahre alt sind? Deutschland ist kein Kirchenstaat, eine Staatskirche ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Es gibt keine Notwendigkeit, die Kirchen oder anderweitig religiösen Einrichtungen weiterhin in dieser Größenordnung staatlich zu subventionieren. Die sozialen Aufgaben kann der Staat erfüllen. Finanziell tut er das de facto bereits. Nicht, dass wir uns missverstehen. Glaube ist etwas Schönes. Der Glaube an das Wort, die Literatur oder die Fantasie beispielsweise – wunderbar. Auch Religion kann bereichern. Solange sie privat bleibt. Religiöse Wahrheiten, die immer absolut sind, sein müssen, sind mit Demokratie, mit der Verhandelbarkeit von Norm und Konvention nur schwerlich vereinbar. Der institutionalisierte Glaube, in Gestalt von Religion und Kirche, hat, sofern er faktisch der Säkularität zuwider läuft, in der Politik nichts verloren. Religionsfreiheit bedeutet eben immer auch – und im säkularen Sinne ganz besonders – die Freiheit von Religion.
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Anlässlich des Tebartz-van-Elst-Skandals verlangen Politiker eine Radikalreform des Kirchen-Finanzsystems. Auch unser Autor Timo Stein fordert das seit Langem (aus dem Archiv)
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kultur
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2012-12-18T11:08:37+0100
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2012-12-18T11:08:37+0100
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https://www.cicero.de//kultur/religion-hat-der-politik-nichts-verloren/52926
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Abstimmung in Berlin – Ich, eine enttäuschte Nichtwählerin
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Im 19. Jahrhundert war politische Selbstbestimmung ein Privileg insbesondere des vermögenden Bürgertums. Wer mehr Steuern zahlte, sollte auch stärker über das zu verteilende Geld mitentscheiden können. Das Zensus- oder Dreiklassenwahlrecht galt bis 1918, und es war zutiefst antidemokratisch. Im Grundgesetz und allen wirklich demokratischen Ordnungen der Welt ist Schluss damit. Es gilt das allgemeine Wahlrecht. Theoretisch. Denn für den modernen Menschen – dem der Psychoanalytiker Erich Fromm schon in den 40er Jahren Flexibilität, Mobilität und Individualisierung attestierte – ist es nicht ausgelegt. Ich selbst bin ein solch moderner Mensch. Im Juni kam ich in Berlin an, zunächst mit einem kleinen Köfferchen zur Untermiete, sieben Wochen später mit dem Transporter. Dann ging es zum Bürgeramt, um meinen dritten Wohnsitz in diesem Jahr anzumelden. Ich zog das Wartezettelchen und geduldete mich – sogar, als zwölf andere Bürger sich vordrängelten, weil sie ihren Termin im Internet gebucht hatten. Dann endlich wurde ich aufgerufen. Ich gab der Behördendame meinen Personalausweis. Sie überklebte die Rückseite zum dritten Mal mit einer neuen Adresse. Ick bin ein Berliner, dachte ich. Und schaute sie an: Das war’s? Kein Tütchen, kein Willkommensgeschenk? In Nürnberg und Dresden hatte ich zur Anmeldung rabattierte Museumstickets und Gutscheine erhalten. Und hier? Nicht einmal eine Wahlbenachrichtigung für die Abgeordnetenhauswahl am 18. September gab es. Beim Wahltheater zwischen Wowereit, Künast und Henkel werde ich also nur Zaungast sein. Laut Landeswahlgesetz sind nur solche Personen wahlberechtigt, die „seit mindestens drei Monaten ununterbrochen in Berlin ihren Wohnsitz haben“. Drei Monate? So lange hatte ich mich für meine vorhergehende Arbeit in Dresden aufgehalten! Meine Flexibilität, die dem Staat letztlich höhere Steuereinnahmen beschert, wird also mit dem politischen Ausschluss bestraft. Dies wird die dritte Landtagswahl sein, an der ich wegen der unsinnigen Umzugsregelung nicht teilnehmen darf. Meine letzte – und bisher einzige – Landtagswahl (die in meiner Heimat Thüringen 2004) liegt bereits sechs Jahre zurück. Vorausgesetzt, ich bleibe jetzt in Berlin wohnen, werden bis zu meinem nächsten Urnengang 2016 elf Jahre vergangen sein. Elf Jahre Unmündigkeit – in denen andere Menschen schon dreimal gewählt haben. Der Teufel steckt im Meldesystem, einem System, das Geringverdienern und Arbeitslosen keine Entscheidung über ihren Wohnort lässt. So habe ich mich an meinem sächsischen Studienort nur als Nebenwohnsitz angemeldet, weil ich sonst eine eigene Hausratversicherung hätte zahlen müssen. 2008 dagegen, als ich für ein Jahr nach Nürnberg zog, hätte man mir eine Zweitwohnsitzsteuer auferlegt, wenn ich nicht auch meinen Lebensmittelpunkt nach Franken verlegt hätte. Eine Zwangsanmeldung, sozusagen. Lesen Sie auch, wieso Beamte und Reiche mehr Wahlrecht haben. Wegen der Drei-Monats-Regel war ich jedoch von den Bayern-Wahlen in jenem Herbst ausgeschlossen. Es war ein historischer Urnengang. Ministerpräsident Günther Beckstein fuhr mit einem Verlust von mehr als 17 Prozentpunkten eine unvergleichliche Klatsche für die CSU ein. Weil ich nun nicht mehr Thüringerin, sondern faktisch Bayerin war, schloss mich der finanziell erzwungene Wohnsitzwechsel ein Jahr später erneut von einer Landtagswahl aus. Der Urnengang im Sommer 2009 mit CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus war erneut ein historischer. Althaus hatte zuvor im Skiurlaub eine Frau zu Tode gefahren und lag kurzzeitig im Koma. Bei der Wahl verlor er dann die absolute Mehrheit. Es folgte ein Koalitions- und Personalgeschacher, an dessen Ende die erste ostdeutsche Ministerpräsidentin, Christine Lieberknecht, stand. Die Drei-Monats-Sperre ist diskriminierend, mehr noch: Sie ist eine moderne Form des Zensuswahlrechts. Sie verweigert Lehrlingen, die rastlos durch die Abteilungen moderner dezentralisierter Betriebe ziehen, genauso das demokratische Bürgerrecht wie jungen engagierten Wissenschaftlern, die sich mit Monats- und Halbjahresverträgen an den Universitäten quälen. Die mobilen Ausgeschlossenen sind nicht nur eine winzige Randgruppe; bei der Wahl 2006 waren es in Berlin immerhin bis zu 15.000 Menschen. Das waren mehr als 0,6 Prozent der Wahlberechtigten. Auf ganz Deutschland hochgerechnet beträfe es fast 400.000 Menschen. Sie können zwar an Bundestags- und EU-Wahlen teilnehmen, aber nicht an regionalen und lokalen Abstimmungen. Auf Kommunal- und Landesebene hat der Umherziehende somit kein Stimmrecht über Bildung und Kindergärten, über Straßenbau oder Polizeiarbeit. Befürworter der Drei-Monats-Sperre behaupten oft, Bewohner eines neuen Ortes oder eines neuen Bundeslandes würden sich zu wenig mit den regionalen politischen Themen auskennen. Aber seit wann werden Wissenstests für individuelle Demokratiefähigkeit verlangt (ausgenommen bei den fragwürdigen Einbürgerungstests)? In der vernetzten Welt ist es ein Leichtes, sich über das Internet auch vor einem Umzug über die jeweiligen Gegebenheiten zu informieren. Außerdem ist fraglich, ob selbst langjährige Einwohner alle Spitzenkandidaten und Abgeordneten – geschweige denn, Parteiprogramme – kennen. Auch das Argument, die Drei-Monats-Sperre verhindere methodische Wahlfälschung, ist ein leeres. Wer macht so etwas schon? Ein Bürger, der kurz hintereinander illegal in zwei Ländern wählen möchte, müsste sich erst eine neue Wohnung suchen, sich dann im Amt anstellen, auf seine Wahlunterlagen warten – enorm viel Zeit (und Geld) in einer hyperbeschleunigten Welt. Demokratisch bevorzugt ist dagegen der Beamte, der sein Häuschen im Grünen hat und dank lebenslanger Arbeitssicherheit nie zu einem Umzug genötigt ist. Oder der Vermögende, der drei Häuser besitzt und dank Briefwahl an allen Orten gleichzeitig lustwandeln kann. Der Reiche hat in Deutschland mehr Stimmgewicht als der Prekäre, der sesshafte Alte mehr als der mobile Junge. Besser hätte man das moderne Zensuswahlrecht nicht ausgestalten können. Der amerikanische Soziologe Richard Senett, der die flexible Gesellschaft untersuchte, schrieb einmal: „Die Menschen verrichten Arbeiten wie Klumpen – mal hier, mal da.“ Nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch in der Wahlstatistik sind die Arbeitsnomaden eben nur Klumpen.
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Das Wahlrecht bevorzugt Reiche und Sesshafte und schließt Hunderttausende umherziehende Deutsche von der demokratischen Willensbildung aus. Die Drei-Monats-Sperren sind eine moderne Form des Zensuswahlrechts. Weg damit! Ein Kommentar
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innenpolitik
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2011-09-16T18:59:31+0200
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2011-09-16T18:59:31+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ich-eine-enttaeuschte-nichtwaehlerin/43064
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Urheberrecht im Internet – Der Kampf um digitale Brotkrumen
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Es war ein krimineller digitaler Spielplatz der Superlative: Auf dem deutschsprachigen Online-Portal kino.to sahen sich täglich mehrere Millionen Nutzer Serien, Hollywood-Filme und Dokumentationen per Video-Stream an. Im Juni sperrte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden die Seite, auf der nur noch eine Warnung der Kriminalpolizei zu lesen ist. Die Polizei hatte bundesweit 13 Betreiber festgenommen und 2,5 Millionen Euro auf spanischen Konten sichergestellt. Doch mit dem anonymen Filmschauen war damit längst nicht Schluss: Nicht einmal einen Monat dauerte es, da tauchte das Portal unter dem Namen kinox.to wieder auf. Zeitweise brach sie unter dem Ansturm von Nutzern zusammen. Ein ähnlicher Kampf tobt um die Online-Tauschbörse „Pirate Bay“. Das Portal, das zu den 100 meistgenutzten Seiten im Internet gehört, wurde 2004 von einer schwedischen Raubkopier-Initiative namens „Piratenbüro“ angeboten. Filme, Musik und Spiele können dort illegal von anderen Nutzern kopiert werden. In der juristischen Auseinandersetzung entstand dann die schwedische Piratenpartei – Vorbild für die spätere deutsche Schwesterpartei. In dieser Woche urteilte ein belgisches Gericht, dass zwei große Internetprovider binnen zwei Wochen ihren Zugang zu Pirate Bay sperren müssen. Das digitale Häscherspiel zeigt das Dilemma einer Internetgemeinde, für die Urheberrechte offenbar dazu da sind, möglichst trickreich umgangen zu werden. Filmproduzenten, aber auch Regisseuren, Schauspielern oder anderen vertraglich am Einspielergebnis Beteiligten entgehen so jährlich viele Millionen Euro, von den Kinobetreibern ganz abgesehen. In anderen Bereichen führt die unbezahlte Verbreitung geistigen Eigentums regelmäßig zu unschätzbaren Verlusten. Die illegale Weitergabe von Songs hat der Musik- und Plattenindustrie, das ungezügelte Kopieren der Verlagsindustrie zugesetzt. Das Urheberrecht soll Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst schützen, aber auch Musik, Bühnenstücke und sogar Computerprogramme. Letztere sind im Urheberrechtsgesetz (§ 69a bis 69g) geregelt. „Der urheberrechtliche Schutz entsteht in der Regel mit der Fertigstellung des Computerprogramms. Er gilt auch für den Quellcode und die damit verwirklichten Algorithmen, aber nicht für die dem Algorithmus beziehungsweise Computerprogramm zugrunde liegende Idee“, sagt der Münchner Patentanwalt Andreas Bertagnoll. Software könne zudem noch patentrechtlich geschützt werden. Voraussetzung dafür sei aber, dass es sich erstens um ein technisches und zweitens um ein neues und erfinderisches Verfahren handelt. „Die Hürden für die Patentierbarkeit von Software sind aufgrund der genannten Voraussetzungen deutlich höher als bei dem urheberrechtlichen Schutz“, erklärt Bertagnoll. „Das Patentrecht bietet aber den Vorteil, dass damit auch die dem Algorithmus oder Computerprogramm zugrunde liegende Idee geschützt werden kann.“ Das Urheberrecht garantiert nicht nur die Vergütung, die Veröffentlichungs- und Nutzungsrechte, sondern soll vor allem vor Entstellungen eines Werkes schützen. Wenn ein Werk weiterverbreitet wird, hat der Urheber eigentlich Anspruch auf einen Teil des Veräußerungswertes. Genau da stellt sich die Frage: Wie soll der Literat, Musikkomponist, Fotograf oder Filmemacher bei der massenhaften, illegalen Verbreitung von Werken im Internet eigentlich noch bezahlt werden? Wo bleibt die Wertschätzung für seine geistige Schöpfung? Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der deutsche Buchhandel zittert. Die Piraten-Partei, die zwar kulturelle Vielfalt begrüßt, beantwortet nicht die Frage, wie das finanziert werden soll: Sie hält die „Schaffung von künstlichem Mangel aus rein wirtschaftlichen Interessen“, wie sie das Urheberrecht angeblich vorsähe, für „unmoralisch“ und eine „Rückführung von Werken in den öffentlichen Raum“ für geboten. Ihr Begriff von Öffentlichkeit ist romantisch – und begrenzt: Romantisch, weil er davon ausgeht, dass Künstler etwa kein Brot brauchen, und begrenzt, weil ihre Vorstellung von Moral davon absieht, dass noch jedes Recht moralischen Ursprungs ist oder zumindest sein sollte. In der Wissenschaft sollten nach dem Wunsch der Piraten Erkenntnisse nicht mehr nur in Fachzeitschriften veröffentlicht, sondern der Allgemeinheit kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Dies wäre der Todesstoß für viele wissenschaftliche Verlage. Cicero-Chefredakteur Michael Naumann bezeichnete die Piraten-Forderungen als „Rückschritt in eine rechtsfreie Epoche“. Mit der Aufhebung des Urheberrechts werde nicht nur das Einkommen, sondern auch die Lebenszeit eines Künstlers gestohlen. Annette Kur vom Münchner Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht sagt, beide Seiten – Piraten und Naumann – seien da mit „verbalen Keulen aufeinander losgegangen“. Es dürfe nicht um eine Abschaffung des Urheberrechts gehen, sondern um ein „Überdenken“. Insbesondere müsse der „prinzipielle Exklusivitätsanspruch der Rechteinhaber, vor allem im Bereich der digitalen Nutzung“ hinterfragt werden. Mehrere Rechtsexperten sind sich einig, dass das Urheberrecht, wie es jetzt ist, an die Netzwelt angepasst werden müsse. Der Informationsrechtler Thomas Hoeren von der Universität Münster sagt, es gehe um Informationsgerechtigkeit: „Im Grunde ist Urheberrecht kein allein stehendes Recht, also auch kein Eigentum im eigentlichen Sinne, sondern Eigentum im Sinne der Verfassung, Artikel 14. Aber die Verfassung verpflichtet den Staat, die Balance zu den Interessen der Allgemeinheit zu suchen.“ Auch er sehe diese Balance – „die praktische Konkordanz der beiden Grundrechte“ – weder in einer Abschaffung der Urheberrechte noch in einem Beharren auf den Eigentumsstatus. Freilich scheint jener Artikel („Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“) nicht gerade ein Einfallstor für Produkt-Piraterie zu öffnen: „Eigentum verpflichtet“, heißt es, und: „sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ Doch eine Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ darf nur „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.“ „Klare Regeln für die Freiheit im Netz“ fordert auch der Buchhandel, der fürchtet, bei einer Aufweichung des Urheberrechts unter die Räder zu gelangen. Die Forderung der Piraten komme „einer Enteignung all jener gleich, die davon leben, kreative Werke zu produzieren und zu publizieren“, erklärte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf Anfrage von CICERO ONLINE. Denn von dieser Frage hänge „nicht nur die Existenzgrundlage von Kreativen, ausübenden Künstlern und von hunderttausenden Mitarbeitern in Verlagen und anderen Medienunternehmen ab. Davon hängt auch die kulturelle Vielfalt in unserem Lande ab.“ Der Buchhandel beschäftigt etwa 32.000 Menschen und erwirtschaftete im vergangenen Jahr knapp zehn Milliarden Euro. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Kulturflatrate die Kreativen retten soll. Wie also könnte eine solche Reform aussehen? Wie könnten Inhalte lizenziert werden, so dass die Nutzung, Bearbeitung und Weitergabe von künstlerischen Inhalten möglich ist, zugleich aber Urheber und Verwerter angemessen vergütet werden? Über diese Frage haben sich mehrere Bundestagsabgeordnete ein Jahr lang den Kopf zerbrochen. Ihr Fazit: Das Urheberrecht bedarf „an vielen Stellen durchaus einer systematischen Anpassung“, wie es in dem im Juni vorgelegten Abschlussbericht der zuständigen Projektgruppe der Enquête-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ heißt. Antworten darauf, wie das geschehen soll, blieben die beteiligten Fraktionen jedoch offen. Die Gruppe empfahl lediglich, in Europa eine Datenbank für die Registrierung von Lizenzen sowie einheitliche Regeln für die Verwertungsgesellschaften zu schaffen. Der Bericht appellierte stattdessen an die Bürger, das Urheberrecht als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ zu verstehen. Die Abgeordneten diskutierten auch über eine Kulturflatrate – eine Idee, die auf die Grünen zurückgeht. Dabei wird für den Internetzugang pauschal eine Summe fällig. Diese könnte etwa als Haushaltsabgabe gestaltet werden – analog der ab 2013 pauschal erhobenen Rundfunkgebühren. Im Gegenzug dürfen private Nutzer ohne die Genehmigung des Urhebers Kopien machen, auch die Bearbeitung der Online-Inhalte würde legalisiert. „Dafür würden jedoch sehr schnell horrende Summen fällig“, sagt Hoeren, „und viele würden sagen: Warum soll ich fürs Internet bezahlen, wenn ich das gar nicht nutze?“ Gegner der Kulturflatrate fürchten außerdem zu viel Bürokratie, zu wenig Wettbewerb, und warnen vor einer Überwachung des Netzverkehrs, die dem Datenschutz entgegenstünde. Deswegen wäre die Geräteabgabe ein zweites Modell. „Wer ein Gerät erwirbt, mit dem man typischerweise auch Kopien aus dem Internet zieht, müsste mit dem Kauf auch die Abgabe entrichten“, erklärt Hoeren. Je nachdem, ob es sich um einen Computer, ein Tablet oder ein mobiles Endgerät handelt, würden die Preise gestaffelt. „Dabei müssten wir auch die Verwertungsgesellschaften stärker zur Verantwortung zu ziehen.“ Dieses Finanzierungsmodell wurde bereits in den 1960er Jahren bei der Einführung von Tonbandgeräten erdacht. Damals wollte die GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) die Daten aller Käufer von Musikkassetten einsammeln, um Nutzungsgebühren zu erheben. Das Interesse der Musiker stand hier jedoch der Privatsphäre der Fans entgegen – und der Bundesgerichtshof fand eine einvernehmliche Lösung: die Privatkopieschranke. Ab 1965 war die Kopie eines gekauften Werkes für private Zwecke erlaubt, im Gegenzug wurden alle Kopiermedien, später auch alle Leermedien, pauschal vergütet. Fast überall fallen bei analogen Medien versteckte Gebühren an: Bibliotheken, Verlage, Fernsehanstalten oder Radiosender, die die Werke der Urheber verbreiten, zahlen genauso an die Verwertungsgesellschaften, wie Privatnutzer beim Kauf von CDs und DVDs eine Pauschale entrichten. Sollte das Abgabe-Modell aufs Internet übertragen werden, müsse jedoch sichergestellt werden, dass die Urheber tatsächlich von den Einnahmen profitieren, fordert Hoeren. Die kriminelle, bandenmäßige Verbreitung von Inhalten wie auf kino.to oder Pirate Bay wäre damit freilich nicht gestoppt. „Das Peer-to-Peer-Prinzip von Tauschbörsen würde auch weiter strafbar bleiben.“ Offen wäre zudem, wie die Straftäter geschnappt werden sollten. Hoeren plädiert für eine bessere Medienerziehung schon in der Schule: „Den Kids müsste erklärt werden, dass ohne wirksames Urheberrecht nichts Kreatives entstehen kann.“ Der Augsburger Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz Christian M. Röhl sieht den Urheber häufig als „Opfer“, weil er von „Plattenfirmen und anderen Verwertern durch ihre Macht und Größe unter Druck gesetzt“ werde und an den wahren Erlösen kaum beteiligt sei. „Der Urheber spielt doch bei der jetzigen Gesetzeslage kaum noch eine Rolle, es geht fast nur um die Verwerter.“ In Wirklichkeit sind die meisten belletristischen Bücher für den jeweiligen Verlag reine Verlustbringer, wie das Beispiel des russisch-amerikanischen Schriftstellers Vladimir Nabokov zeigt: Die Gesamtausgabe seiner Werke bescherte dem Rowohlt-Verlag wahrscheinlich ein Minus von bis zu einer halben Million Euro. Allein die Mischkalkulation – bei der einige Bestseller den Rest des Programms finanzieren – ermöglicht es, qualitativ anspruchsvolle Bücher zu verbreiten. Lesen Sie auf der letzten Seite, warum die Deutschen auch ohne Urheberrecht zum Volk der Dichter und Denker wurden. Für „massiv unfair“ hält Röhl aber die Schutzdauer des Urheberrechts: Bis 70 Jahre nach dem Tod eines Künstlers gelten die Rechte fort. „Beispielsweise kassieren die Erben des Humoristen Karl Valentin weiterhin die Erlöse – und sie mahnen Betreiber von Webseiten ab, auf denen seine Werke verbreitet werden, obwohl Valentin bereits 1948 gestorben ist.“ Die Bundestags-Gruppe hatte das Problem zwar erkannt, sich aber nicht auf eine Verkürzung der Fristen einigen können. Dabei wären mit einer kürzeren Schutzdauer von Musik, zum Beispiel, nicht zwangsläufig die Einnahmen von Plattenfirmen in Gefahr, wie eine Studie des Beratungsunternehmens PriceWaterhouseCoopers zeigt. Es untersuchte 129 Musikalben, die in den 50er Jahren in den USA veröffentlicht wurden. Nach dem Ablauf der Schutzfrist – die in Amerika 50 Jahre beträgt – änderten sich die Preise für die Werke kaum. Dass das Geld, das Urheber verdienen, nicht zwangsläufig vom Urheberrechtsschutz abhängig ist, lehrt auch die verblüffende historische Analyse „Geschichte und Wesen des Urheberrechts“ des Historikers Eckhard Höffner. Er verweist auf den wenig bekannten Berliner Professor für Chemie und Pharmazie, Sigismund Hermbstädt, der mit seinem Werk „Grundsätze der Ledergerberei“ mehr Einnahmen erzielt habe als seine britische Zeitgenossin Mary Shelley, Autorin des berühmten Horrorromans „Frankenstein“. In England, das bereits seit 1710 das Urheberrecht kannte, beschieden sich Literaten mit mageren Gehältern. Es erschienen nur etwa 1.000 Bücher jährlich – an denen vor allem die Verleger prächtig verdienten. In Deutschland, das keine Autorenrechte kannte, florierte dagegen der Buchmarkt: Allein im Jahr 1843 erschienen etwa 14.000 Publikationen. Das Volk verschlang billige, teils kopierte Romane, Ratgeber und Fachaufsätze. Höffners These: Nur dank des fehlenden Urheberrechts und des blühenden Verlagswesens habe sich Deutschland im 19. Jahrhundert zur führenden Industrie- und Wissenschaftsnation entwickelt. So kam es, dass der Literaturkritiker Wolfgang Menzel die Deutschen 1836 als „Volk der Dichter und Denker“ bezeichnete. Kein Wunder, dass es den Dichtern und Denkern dann eines Tages auffiel, dass sie am wachsenden Wohlstand ihres Volkes teilnehmen könnten. Das deutsche Patentrecht war ihnen nicht unbekannt geblieben. Preußen führte das Urheberrecht 1837 ein, das Patentrecht folgte 1877, nach und nach dann auch in anderen deutschen Staaten. Manche Dichterfürsten wie Thomas Mann wurden zu Millionären. Ihre Verleger natürlich auch.
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Sollten Inhalte gratis im Internet verbreitet werden dürfen? Diese Frage wurde in einem Artikel von CICERO-Chefredakteur Michael Naumann stark diskutiert. Im digitalen Zeitalter scheint eine Reform des Urheberrechts so nötig wie nie, doch die Kreativwirtschaft fürchtet Milliardenverluste.
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kultur
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2011-10-07T12:57:34+0200
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https://www.cicero.de//kultur/der-kampf-um-digitale-brotkrumen/46086
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4 Jahre Sonntagskolumne - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit
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Manchmal gucke ich in den Wald vor meinem Fenster und warte auf eine Idee. Wenn keine kommt, schaue ich in den Computer. Wenn dort auch keine kommt, gucke ich wieder in den Wald. Es kann zermürbend sein, das Kolumnenschreiben. Es gibt Wochen, in denen ich mich frage, ob ich es nicht lieber sein lassen sollte. Ich habe dann das Gefühl, kein Thema ist es Wert, dass ich meinen Senf dazu gebe. Oder, schlimmer noch, ich bin es nicht Wert, meinen Senf zu bestimmten Themen zu geben. Aus heiterem Himmel passiert dann meistens irgendetwas im Wald oder im Computer und rettet mich aus dem Purgatorium des weißen Blattes. So kam in der vergangenen Woche Freund und Nachbar B. vorbei und brachte das Zeit-Magazin. Dort hatten sich die Godfathers of Kolumnenschreiben zu Wort gemeldet. Harald Martenstein und Axel Hacke schütteln seit Jahrzehnten extraordinäre Kolumnen aus dem Ärmel und zeigen uns normalsterblichen Kolumnisten, wo der Frosch die Locken hat. Ich lese ihre Texte mit einem gespaltenen Gefühl aus neidvoller Begeisterung. Im jetzt erschienenen Interview erklären Hacke und Martenstein, sie seien angetreten, die Versagensängste der Menschen zu lindern. Wenn sie von dem Nichtgelingen, der Niederlage schreiben, trösteten sie nach eigener Aussage damit sich selbst und die Leser gleich mit. Und so lies ich mich trösten. Damit, dass Axel Hacke seit 25 Jahren des Kolumnenschreibens von einem Gespenst heimgesucht werde, das ihm über die Schulter schaue, wenn der Abgabetermin näher rücke. Davon, dass der große Martenstein manchmal stundenlang in den Computer hineinstarre – ohne dass sich etwas tue. Wenn die Könner auf einem Gebiet von ihren Verfehlungen erzählen, dann ist das außerordentlich beruhigend. Kolumnen schreiben ist für mich ein ständiger Prozess zwischen Sich-Selbst-Versichern und Tief-Fallen, zwischen Hochgefühl und Selbstdemütigung. Vor vier Jahren erschien meine erste Kolumne bei Cicero Online, ich habe am Tag der Geburt meiner zweiten Tochter geschrieben und zwei Wochen nach der Geburt der dritten. Bis auf ein paar Urlaubswochen habe ich eigentlich immer nach Ideen für die nächste Kolumne gesucht. Freunde und Familie wissen, dass kein Gespräch, keine Begebenheit nicht als Anekdote herhalten könnte. Mich erreicht kein Thema, das nicht sofort auf seine Tauglichkeit geprüft würde, bei dem ich mich nicht frage: Berührt es mich so, dass ich darüber schreiben kann? Schwierig ist dabei, dass mich ein Thema in einer Woche wahnsinnig aufregen kann, in der nächsten schon wieder nicht. Es liegen ein Haufen Themen in meinem Ideen-Ordner, zum Beispiel über Schützenvereine, Scheidungskinder und einen schimpfenden Bauern im Büro. Aber das Merkwürdige ist: Die meisten von ihnen fasse ich nie wieder an. Deshalb helfen mir auch weder Vorschläge meiner Mitmenschen, noch kann ich Kolumnen vorschreiben. Und genau deswegen muss ich heute schon die Jubiläumsausgabe schreiben, obwohl erst in einer Woche das echte Vierjahresjubiläum stattfindet. Es könnte nämlich sein, dass es dann nicht mehr geht. Dass ich nicht in den Flow komme. In seinem Buch Das kolumnistische Manifest schreibt Axel Hacke, das Kolumnenschreiben gebe seinem Alltag Struktur und seiner Existenz Halt. Auch in meinem Leben würde sich wirklich etwas entscheidend ändern, gebe es für mich keinen Kolumnenabgabetag. Ich bin sehr froh, dass es ihn gibt. Und danke Ihnen, lieber Leser, herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Marie Amrhein
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Kolumne Stadt, Land, Flucht. Kolumnen schreiben ist ein ständiger Prozess zwischen Hochgefühl und Selbstdemütigung. Man braucht den richtigen Gedanken im richtigen Moment und dann auch noch den Flow. Und wenn alles passt, erscheint die Jubiläumskolumne eine Woche vor dem Jubiläum. Ein Erklärversuch
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außenpolitik
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2015-06-26T15:29:34+0200
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https://www.cicero.de//stil/4-jahre-sonntagskolumne-vielen-dank-fuer-die-aufmerksamkeit/59473
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Ostdeutschland und Westdeutschland - „Die ‚Mauer in den Köpfen‘ wird gerade wieder gebaut“
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Herr Wolff, wir befinden uns derzeit im Superwahljahr 2019 – mit drei Landtagswahlen im Osten. Viele Parteien machen jetzt Wahlkampf mit vermeintlichen Ostthemen. Besteht somit immer noch die viel beschworene „Mauer im Kopf“? Hier der Westen, dort der Osten?
Sie wird gerade wieder gebaut. Es besteht zwar keine Mauer mehr, aber verschiedene Erfahrungswelten. Das ist der Vor- und der Nachteil der Diskussion. Mit dem Sprung in die Gegenwart springen wir auch automatisch zwei Generationen weiter. Aus der jetzigen Perspektive vermischen sich dabei verschiedene Erfahrungsebenen. Einerseits die der Elterngeneration, die noch in der DDR aufgewachsen ist und dabei – das darf man nicht vergessen – teilweise dem Staat auch positiv gegenüberstand. Und die Generation danach?
Die steht auf der anderen Seite, ist in den neunziger Jahren aufgewachsen und damit mit diesem extremen ökonomischen Bruch. Den hat sie direkt erlebt und vor allem ihre Eltern dabei beobachtet, wie sie ihre Füße nicht mehr auf den Boden bekomme haben. Da war weniger der Mauerfall das Problem, sondern, dass die neuen Bundesländer als erste die extreme Neoliberalisierung abbekommen haben, die dann auch später so in anderen Staaten Europas stattfand. Das hat die Identitäten stark geprägt, und so überlappen sich in der heutigen Perspektive immer Vor- und Nachwendeerfahrungen. Wie ist diese „Mauer in den Köpfen“ überhaupt entstanden?
Es war ein langer Prozess, der schon vor dem Mauerbau begann. Mit dem Bau wurde die Teilung dann aber evident für die gesamte Gesellschaft, nicht nur für die Grenzgesellschaften. In diesem Prozess wurde die Grenze Ost und West gewaltsam anerzogen – und damit eine gewisse Denkstruktur. Da spielte aber auch noch mehr hinein, zum Beispiel ein Abgrenzungsdenken im Kalten Krieg von West nach Ost. Zudem ist dies aber nicht nur eine Geschichte der Teilung. Gleichzeitig entwickelte sich auch eine immer intensivere Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Reisen nahmen nach den großen Einschnitten nach dem Mauerbau wieder extrem zu. Diese beiden Prozesse des Teilens und des aufeinander Zubewegens geschahen also gleichzeitig. Einige Menschen, die von den Osten in den Westen gezogen sind, berichten, dass sie sich vorher nie als „Ossi“ identifiziert haben, im Westen dann aber zu eben solchem gemacht wurden. Der Problemfall Osten sei somit vom Westen gemacht und damit dann erst zu einem Problem für den Osten geworden. Können Sie dieses subjektive Empfinden mit Ihrer Forschung bestätigen?
Durchaus. Aber das muss man gegenseitig betrachten. Als die Führungskader im Osten neu besetzt wurden – also Verwaltung, Ökonomie und so weiter –, wurde auf einmal auch der „Wessi“ erfunden. Der war dann der „Besserwessi“. Wir haben da diese beiden Bilder im Kopf, die sich durchziehen. Was wir bei dieser ganzen Diskussion vergessen, ist, dass sich die Menschen damals sehr stark bewegt haben. Nicht nur jene, die jetzt noch im Osten leben und sich als Ostdeutsche mit einer spezifischen Erfahrung verstehen, stehen auch tatsächlich für eine ostdeutsche Erfahrung. Wie meinen Sie das?
Ein großer Teil der ostdeutschen Erfahrung wurde im Westen gemacht oder in den USA und der Schweiz. Umgekehrt gilt das natürlich genauso! Viele westdeutsche Erfahrungen werden erst gemacht, wenn man mal in den Kontakt mit der Gegenidentität kommt. Im Grunde sind das alles Konstruktionen und Zuordnungen, die eine Generation betreffen, die als ältere Kinder oder Jugendliche noch etwas DDR mitbekommen hat, dann aber mobil in die Welt danach losgezogen ist. Auch das Gehen, nicht nur das Bleiben ist unter diesen spezifischen Bedingungen eine grundlegende ostdeutsche Erfahrung. Die dabei entstandenen Gegenidentitäten nahmen in den vergangenen Jahren kulturell etwas ab. Nun verschiebt sich das jedoch erneut, nämlich mit dem Aufsteigen der AfD im Osten auf eine ganz andere Art als im Westen. Es entsteht eine neue Ost-West-Stigmatisierung. Die ist sehr gefährlich, weil damit angeblich alte, im Endeffekt aber komplett neue Strukturen erfunden werden. Um mal bei dem Stichwort Gegenidentität zu bleiben. Lässt sich damit der unterschiedliche Aufstieg der AfD in Ost und West erklären?
Diese Trends sind vor allem im ländlichen Raum evident. In den Städten ist das ja gar nicht so sehr der Fall. Da müssen wir dann schauen, wer da eigentlich wohnt. Da sind viele dabei, die aus privaten, beruflichen, familiären Gründen nicht weggegangen sind. Das muss man in vielen Regionen so drastisch sagen. Da darf man nur begrenzt eine Ostdeutsche oder DDR-Erfahrung sehen. Denn viele derjenigen, die auch diese Rücksetzungserfahrung mitgemacht haben, die nun zur Begründung des Aufstieg der AfD genutzt werden, leben jetzt woanders. Das Stimmverhalten vor Ort spiegelt eher ein Frustrationspotenzial der Gebliebenen wieder. Das beinhaltet auch eine nie vollständig angekommene Demokratisierung und demokratisches Denken. Das ist etwas, das wir jetzt im Nachhinein sehen. Wenn es jetzt also wieder auf diese klassische Stadt-Land-Differenz hinauszulaufen scheint, normalisiert sich dann der Ost-West-Konflikt?
Gewissermaßen ja. Dieser Stadt-Land-Konflikt hat aber eine ostdeutsche Prägung. Es gibt Städte wie Leipzig oder Jena, die könnten wir in dieser Sozialstruktur und im Wählerverhalten auch im Westen finden. In Dresden sieht die Situation schon wieder anders aus. Interessant ist auch: Die am höchsten verschuldete Stadt Deutschlands ist Pirmasens im Südwesten. Wir haben also überall Strukturprobleme, die aber von den Bewohnern unterschiedlich bewertet werden und damit letztlich unterschiedliches Wählerverhalten nach sich ziehen. Diese Stadt-Land-Verschiebung fand auch schon in den neunziger Jahren statt, wurde da nur noch nicht so wahrgenommen. So reden wir viel über die Auswanderung von Ost nach West nach dem Mauerfall. Die noch größere Migration war schon damals die in die Städte der Regionen. Die Städte haben dann erstmal geboomt. Zurück blieben jene, die nicht mitboomen konnten oder wollten. Das hat sich fortgesetzt und verstärkt. Wodurch zeichnet sich diese spezielle „ostdeutsche“ Prägung aus?
Durch antidemokratische Tendenzen. In meiner Jugend im ländlichen Raum der neunziger Jahre war ich schockiert, wie diese antidemokratische Jugend entstand. Die hat die „normale“ beziehungsweise in diesem Fall demokratische Jugend oft mitgezogen oder zum Schweigen gebracht, indem rechte Gruppen die Jugendzentren besetzen, die Clubs und Vereine. Viele, die konnten, gingen weg. Damit zog innerhalb kürzester Zeit eine Kultur ein, die mir völlig fremd war. Genau diese Generation hat jetzt Kinder, die schon oder demnächst wählen gehen. Diese Entwicklung wirkt seit den neunziger Jahren und der Wiedervereinigung über die ultrarechten Entwicklungen bis heute nach. Wie ist diese antidemokratische Stimmung entstanden?
Es gab nach und vor der Wende von Anfang zu gering ausgeprägte Ansätze, die Komplexitäten des demokratischen Systems zu vermitteln und zu verstehen. Das ist ja ein langer Prozess, den der Westen ebenfalls über Jahrzehnte lernen musste. Das war im Westen auch aufgrund eines Wirtschaftswunders möglich. Dieses Wirtschaftswunder gab es in den neuen Bundesländern jedoch nicht. Es gab also wenig Werbung für diesen politischen Stil, der sehr komplex ist mit seinen Parteien, langen Aushandlungen und allem was dahinter steht. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. So wurde emotional in den neuen Bundesländern Demokratisierung in weiten Teilen auch mit Neoliberalisierung verbunden. Und damit letztlich auch mit privatem Verlust. Demokratisierung gelingt in besonderem Maße durch Aufklärung. Welchen Beitrag sollte hier die Schule leisten?
Wir brauchen insgesamt Geschichtsunterricht. Seit Pisa sind die Schulen sehr stark MINT orientiert. Das ist natürlich wichtig, um Qualifikationen zu schaffen. Es ist aber nicht optimal, um demokratisches Denken zu vermitteln. Dazu kommt die DDR im Geschichtsunterricht kaum vor, und das ist ein Desaster. Das muss auf jeden Fall mehr eingebunden werden, aber eben nicht im Sinne der alten Weise „der Westen belehrt den Osten, und das ist Demokratie“. Sondern durch eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Konflikten auch innerhalb Deutschlands – am besten im Rahmen einer Geschichte des geteilten Landes im Kalten Krieg. Frank Woff ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar (Neueste Geschichte) und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) in der Universität Osnabrück. Aktuell beschäftigt er sich mit der deutsch-deutschen Gesellschaftsgeschichte zur Zeit der Berliner Mauer. Sein Habilitationsprojekt trägt den Arbeitstitel „Die Mauergesellschaft: Die Gesellschaftsgeschichte der deutsch-deutschen Migration 1961-1989“ und erscheint im Herbst im Suhrkamp-Verlag.
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Chiara Thies
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Mit vermeintlichen Ostthemen gehen die Parteien in das Superwahljahr 2019. Damit bedienen sie ein Gedankenkonstrukt aus der Zeit der deutschen Teilung, sagt der Historiker Frank Wolff. Dabei hat sich der Konflikt um zwei Generationen verschoben und besteht nun nur noch aus Erfahrungen
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"Ostdeutschland",
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kultur
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2019-02-06T13:16:56+0100
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2019-02-06T13:16:56+0100
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https://www.cicero.de/kultur/osten-westen-wahlen-ddr-brd-mauer-identitaet-mauerfall
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Rund 7150 Stellen - Continental streicht in Autozuliefersparte weltweit
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Zusätzlich zu den bereits angekündigten Maßnahmen in der Verwaltung der Sparte sind von den Plänen auch Beschäftigte in der Forschung und Entwicklung betroffen, wie das Dax-Unternehmen am Mittwoch mitteilte. In den Verwaltungsbereichen stehen rund 5400 Jobs zur Disposition, im Forschungs- und Entwicklungsnetzwerk weitere rund 1750. Im Rhein-Main-Gebiet prüft Spartenchef Philipp von Hirschheydt zudem die Zusammenlegung von Standorten. Conti will die Jobs schrittweise und so sozialverträglich wie möglich abbauen. Der Konzern hatte bereits umfangreiche Sparbemühungen in der Autozulieferung angekündigt. So sollen mit dem Stellenabbau in der Verwaltung bis 2025 die jährlichen Kosten nach Angaben vom November um 400 Millionen Euro sinken. Bisher hatte das Unternehmen hierfür einen Stellenabbau im mittleren vierstelligen Bereich angekündigt. Dass Conti auch bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung den Rotstift ansetzt, ist seit einer Investorenveranstaltung im Dezember klar. Wie viele Jobs davon betroffen sind, war bisher unklar. Investoren bemängeln seit längerem, dass Conti in der Autozuliefersparte nicht nur wenig verdient, sondern auch vergleichsweise viel Geld für die Forschung ausgibt. 2028 soll nun der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Umsatz der Sparte auf neun Prozent sinken. Derzeit liegt er bei rund zwölf Prozent. Bisher hatte Conti als Maßstab für die mittlere Frist, also auf die kommenden drei bis fünf Jahre gesehen, einen Wert von unter zehn Prozent in Aussicht gestellt. „Mit der Straffung unseres Forschungs- und Entwicklungsnetzwerks heben wir Synergien und entlasten unsere Kostenseite“ , sagte Spartenchef von Hirschheydt. „Wir sind uns der Einschnitte für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewusst und werden alles dafür tun, gemeinsam mit unseren Sozialpartnern gute und individuelle Lösungen zu finden.“ Von den Plänen sind auch 380 Jobs bei der Softwaretochter Elektrobit mit dem deutschen Hauptsitz in Braunschweig betroffen. dpa
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Cicero-Redaktion
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Der Continental-Konzern will wegen seiner Sparbemühungen im schwächelnden Autozuliefergeschäft weltweit rund 7150 Stellen kürzen. Das entspricht mehr als drei Prozent der Gesamtbelegschaft.
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wirtschaft
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2024-02-14T15:41:44+0100
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2024-02-14T15:41:44+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/rund-7150-stellen-continental-streicht-in-autozuliefersparte-weltweit
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Tod von Kurt Biedenkopf - Ein homo politicus
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Eine Verabredung mit Kurt Biedenkopf unterschied sich für den Journalisten von den üblichen Politiker-tête-à-têtes. Bei Biedenkopf ging es eben nicht nur um die üblichen wohlformulierten Phrasen, um Parteien-Hickhack, um wer mit wem und wer gegen wen. Sondern Biedenkopf konnte im Gespräch zukunftsweisende Ideen entwickeln – und sie schließlich auch umsetzen. Er war ein Gelehrter der Jurisprudenz und der Nationalökonomie, er hatte Erfahrungen in den USA gemacht und in der Geschäftsführung des Industrieunternehmens Henkel. Und er gab in den Siebzigerjahren Impulse für das Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz. Er war kein Pöstchenhopper, den die Partei irgendwo unterbringen musste. Er war ein homo politicus und ein homo oeconomicus, den sein umfassendes Wissen und seine gesammelte Erfahrungen in der Welt der Wirtschaft und der Politik zu einem gefragten Mann machten. Biedenkopf steht für eine Epoche in der deutschen Politik, die gemessen am heutigen politischen Alltag eindrucksvoll und vorbildlich war. Unvorstellbar wäre ein Kurt Biedenkopf in einer vertraulichen Ministerpräsidentenrunde mit der Kanzlerin, in der Teilnehmer munter per Smartphone den Journalisten am anderen Ende der Leitung den Gesprächsverlauf samt Sottisen über andere Sitzungsteilnehmer reportieren. In seinen Augen wäre das mit Recht eine charakterlose Bande, die aus Eitelkeit und Eigeninteresse dem Ansehen der Politik unendlichen Schaden in den Augen der Öffentlichkeit zufügt. So viel zum Unterschied im politischen Stil zwischen damals und heute. Biedenkopf lebte und wirkte in einer Epoche deutscher Politik, die auch nicht nur durch politischen Anstand, sondern auch von diversen parteiübergreifenden Parteispendenaffären gezeichnet war – an denen Kurt Biedenkopf nicht beteiligt war. Auch damals strahlte nicht der Heiligenschein allumfassender Fairness am Himmel über Bonn und Umgebung. Auch damals gereichte Angst vor der Konkurrenz dem Erfolgreichen nicht immer zum Vorteil. Biedenkopf hatte als Generalsekretär der CDU zu Zeiten des Parteivorsitzenden Helmut Kohl die Organisationsstruktur der CDU von Grund auf modernisiert. Auf dieser Basis konnte der ursprünglich altväterliche Honoratiorenverein für Jahrzehnte zur stabilen Kanzlerpartei werden. Aber Helmut Kohl spürte das Drängen seines Gefährten nach mehr Einfluss in und über die Partei und servierte ihn ab. Zweifellos war Biedenkopfs überragende Intelligenz in Verbindung mit seinem Managementgeschick gepaart mit der Eitelkeit, vieles besser zu wissen und besser umsetzen zu können als andere. Gespräche mit ihm hatten stets auch den Anflug eines Hauptseminars; seine Haltung die eines wohlmeinenden Ordinarius gegenüber dem wissbegierigen Studenten. Doch Biedenkopf war kein Kathederweiser. Dass er ein mit allen Wassern gewaschener innovativer und handlungsorientierter Politiker war, konnte er nach der Wiedervereinigung als Ministerpräsident in Sachsen beweisen. Alles davor war für ihn Lehrzeit. Alle Connections, die er in Jahrzehnten in Wirtschaft, in Politik und mit den Gewerkschaften gesammelt hatte, konnte er für den Aufbau dieses ihm anvertrauten Landes einsetzen. Sachsen war sein Erfolg. Dass auch Erfolge brüchig sein können, beweist der peinliche Rechtsdrift des Freistaats. Bei dem autoritätsgewöhnten Bewohner des Landes aber wurde seine herrschaftliche Attitüde mit der Ehrbezeichnung „König Kurt“ geadelt. Doch zuweilen trat in persönlichen Gespräche auch die Verletztheit des stolzen Mannes zutage, wenn andere – noch dazu aus seiner Regierungsfraktion – sich öffentlich kritisch über ihn äußerten. Geschah das im Deutschlandfunk, hatte ich einen tief verletzten Beschwerdeführer am Autotelefon. Aber Intendanten müssen in solchen Fällen auch Psychotherapeuten sein. Aber sie suchen keine Interviewpartner aus, die Regierungschefs genehm sind. Das, was Kurt Biedenkopf angepackte, hat er in den meisten Fällen – sei es bei der Reform der Union, in der gewerkschaftlichen Mitbestimmung oder beim Aufbau seines Bundeslandes – zu einem eindrucksvollen und nachhaltigen Erfolg geführt. Er war in einer Zeit, in der kraftstrotzende political animals wie Kohl und Schröder die Bundesrepublik zum Nutzen ihrer Bürger regierten, einer in der Reihe derer, denen das Land viel zu verdanken hat.
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Ernst Elitz
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Der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ist tot. Er starb mit 91 Jahren in Dresden, Sachsen war sein Erfolg. Vor allem aber stand dieser weltgewandte und zukunftsorientierte Ökonom für eine Politikergeneration, die heute schmerzlich vermisst wird. Ein Nachruf von Ernst Elitz.
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"Kurt Biedenkopf",
"Sachsen",
"Helmut Kohl"
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innenpolitik
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2021-08-13T11:47:14+0200
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2021-08-13T11:47:14+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nachruf-auf-kurt-biedenkopf-ein-homo-politicus-ernst-elitz
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Bundeswehreinsätze im Ausland - Wieso eigentlich Mali?
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Als die Nachricht kam, dass ein Hubschrauber der Bundeswehr in Mali abgestürzt und dabei zwei Soldaten getötet worden seien, mögen sich viele gedacht haben: Ach, die Bundeswehr ist auch in Mali? Und warum nochmal? Welche sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands werden in diesem afrikanischen Land berührt? Der in Großbritannien lehrende Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle hat eine einfach Antwort gefunden. „Keine“, schrieb er und warf der Bundesregierung die „Aushöhlung strategischer Ausrichtung und Kapazitäten“ vor, weil sie Auslandseinsätze der Bundeswehr scheinbar wahllos und reaktiv wähle: „Ohne Benennung strategischer Relevanz wurde die Bundeswehr an den Hindukusch geschickt, aber nicht in den Irak. Berlin müht sich, den ohnehin minimalen Libyen-Einsatz herunterzuspielen, schickt aber inzwischen mehr als 1000 Mann in das deutlich weiter entfernte Mali.“ Nun war es bisher allgemeines Verständnis, dass die Bundeswehr sowohl in Afghanistan als auch in Mali anfänglich vor allem deshalb eingesetzt wurde, weil es Bündnisbeziehungen zu beachten gab. In Afghanistan war sie wegen den USA und der Nato; in Mali wegen Frankreich und der europäischen Sicherheitskooperation. Beide Einsätze hatten also erst einmal weniger mit Afghanistan oder Mali zu tun, als mit den USA und Frankreich beziehungsweise der EU. Allerdings steht zwischen diesen Einsichten in die Bündnisbeziehungen Deutschlands der sperrige und deshalb auch häufig mit Kopfschütteln betrachtete Satz des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, der mit Blick auf den Einsatz in Afghanistan sagte: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt, wenn sich dort Bedrohungen für unser Land wie im Fall international organisierter Terroristen formen.“ Dass Struck das nicht so meinte, versickerte in der Diskussion. Übrig blieb von dem Satz nur, dass die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt werde. Das Konzept nationaler Sicherheit bestimmte damit die Bewertung. Somit stellte sich die Frage, in welcher Hinsicht Deutschlands Sicherheit durch den Einsatz verbessert wurde. Und auch für die Debatte um Mali bleibt diese Bürde bestehen. Jetzt hat Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Mali ganz ähnlich argumentiert. Dies eröffnet die Chance, die Bewertung aus dem Fokus rein nationaler Sicherheit in ein weiteres Verständnis zu ziehen. Und damit die dringend nötige Debatte um die europäische Sicherheitslage zu intensivieren, die erforderlich ist, um – insbesondere in Deutschland – die Legitimation für militärische Sicherheitsmaßnahmen anschaulicher zu machen. Denn die geht über die offiziellen Begründung für den Mali-Einsatz, wie ihn die Bundesregierung dem Bundestag vorgelegt hat, hinaus. Im bisher letzten Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung der Mission wird aus sicherheitspolitischer Sicht argumentiert, dass die Stabilisierung Malis eine der zentralen Aufgaben für die Stabilisierung der Sahel-Region ist. Diese diene unter anderem dem hauptsächlichen Ziel der deutschen Afrikapolitik: strukturelle Ursachen von Flucht und Vertreibung zu beseitigen. Dass die Stabilisierung Nord- und Zentralafrikas im europäischen Interesse liegt und hierfür internationale Unterstützung organisiert werden soll, wurde zuletzt Afrika beim G20-Gipfel thematisiert. Hierüber ging die Bundesverteidigungsministerin hinaus. Sie erklärte, dass die Stabilität Malis und der Sahel-Region Auswirkungen auf die Stabilität Deutschlands und Europas hat. Der ARD gegenüber sagte sie: „Wir wissen, dass der Erfolg der Friedensmission hier in Mali entscheidend ist für die Stabilität unserer Nachbarschaft und dass die Stabilisierung der europäischen Nachbarschaft Auswirkungen hat auf die Stabilisierung und Stabilität Deutschlands, aber auch Europas.“ Damit weist von der Leyen zu Recht darauf hin, dass die Stabilität Nordafrikas ohne eine stabile Sahel-Region nicht zu bewerkstelligen ist und im vitalen Interesse Deutschlands liegt. Doch allein ist das nicht möglich, da würde sich deutsche Sicherheitspolitik kräftig verheben. Das kann nur im Bündnis mit Frankreich, den USA und allen anderen Partnern gelingen – vielleicht sogar mit China und Russland. Auch darüber ist zu diskutieren, denn die Beziehungen zu beiden Machtzentren haben viele Facetten. Die kurz aufgeflammte, jetzt aber schon wieder aus der Öffentlichkeit entschwundene Debatte über die Erhöhung der Sicherheitsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollte genau in diese Richtung weitergeführt werden. Welche Leistungen haben die EU- und Nato-Staaten zu erfüllen, um die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleisten? Die Stabilisierung des europäischen Umfelds ist eines der ersten und vordinglichsten Interessen der europäischen Staaten und verbindet über die Flüchtlingsfrage die direkt betroffenen Staaten wie Italien mit den indirekt betroffenen wie Polen. Daraus könnte die Ausarbeitung strategischer Kapazitäten resultieren, die irgendwann die EU in die Lage versetzen kann, sich selbst zu verteidigen und ihre Nachbarschaft stabil zu halten.
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Thomas Jäger
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Nach dem Absturz eines Bundeswehrhubschraubers in Mali und dem Tod zweier Soldaten stellt sich die Frage, wozu solche Auslandseinsätze eigentlich gut sind. Wird Deutschlands Sicherheit wirklich in den Krisenregionen dieser Welt verteidigt?
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"Mali",
"Bundeswehr",
"Ausland",
"Sicherheit",
"Verteidigung"
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außenpolitik
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2017-08-01T10:57:49+0200
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2017-08-01T10:57:49+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/bundeswehreinsaetze-im-ausland-wieso-eigentlich-mali
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Integrationsdebatte – Entscheiden wir uns für Sarrazin oder Wulff?
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Dies ist ein Nachwort, ausnahmsweise. Ein Nachwort zu dem Trauerakt für die Opfer der Nazi-Mordserie am Donnerstag vergangener Woche im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Eigentlich wollte ich in dieser Kolumne über die jüngste Etappe in der Griechenland-Krise schreiben, über die Ratlosigkeit der Rettungseinheiten mit ihren Euro-Milliarden, den versteckten Dissens zwischen Kanzlerin und Finanzminister, Merkel und Schäuble, und warum die „Schritt-für-Schritt“-Politik letztlich nur dem Zweck dient, die Wahrheit nicht offen sagen zu müssen. Vielleicht gerade deshalb, weil der Alltag Berlin längst wieder eingeholt hat, möchte ich noch einmal darauf zurückkommen. Die Politik, wurde dort gesagt, dürfe nicht zur Tagesordnung übergehen. Bitte sehr! Vorweg und damit kein Missverständnis aufkommt: Es war eine würdige Veranstaltung, was die Angehörigen der Ermordeten sagten, rührte an, die Kanzlerin fand die richtigen Worte. Und dennoch hat man Nachfragen. Einer der Redner, der sich vorstellte, „ich bin der Herr Ismail Yozgat, mein Sohn starb in meinen Armen am 6. 4. 2006 in den Internetcafé, wo er erschossen wurde“, bedankte sich „von ganzem Herzen bei Herrn Altbundespräsident Christian Wulff“. „Wir sind seine Gäste. Wir bewundern ihn . . .“ Das war keine Selbstverständlichkeit, und es war mehr als eine Pflichtbemerkung, die Herr Ismail Yozgat ohnehin nicht machte. Christian Wulff hat sich in der deutsch-türkischen Community einen ganz anderen Namen erworben, das zeigte sich in dem Augenblick, als wir es uns in unserer Parallelwelt klar machen, wenn wir Berlins Politik kommentieren, über die politische Klasse urteilen oder, wie monatelang geschehen, mit Wollust recherchieren, wie er so wegen ein paar Euro Vergünstigung für sich bei Bessergestellten antichambrierte. Ja, auch wir leben in einer Parallelwelt. Wochenlang verteidigten „Migranten“ im Internet leidenschaftlich Wulff, fest davon überzeugt, er solle aus politischen Gründen gestürzt werden. Warum? Weil er den Satz auszusprechen gewagt hatte, „der Islam gehört zu Deutschland“. Beim Zuhören, ja bei dem ganzen Trauerakt drängte sich der Eindruck auf, das sei weit kühner gewesen, als man es sich im ersten Moment – und in der Parallelwelt der politischen Klasse – ausgemalt hatte. War es nicht doch ein Tabubruch? Natürlich, die Reden der Angehörigen, Yozgat, Semiya Simsek und Gamze Kubasik machten das klar, Wulff hatte etwas ausgesprochen, was viele nicht akzeptieren. Sie meinen, der Islam gehört nicht zu Deutschland. In der Regel sagt man das nicht so laut, man weiß ja, was sich gehört. Als aber Thilo Sarrazin sein Buch veröffentlichte, war der Jubel laut, dahinter konnte man wunderbar seine wahren Gefühle verstecken. Es hieß „Deutschland schafft sich ab“, und meinte, Deutschland schafft sich ab, wenn wir den Islam zu Deutschland zählen. Es war antimuslimisch, sprach eindeutig rassistische Motive an, aber – plötzlich war es hoffähig, so zu denken. Mutig!, applaudierten manche. Wenn man also nicht zur Tagesordnung übergehen will, und darum geht es hier ja, wird man sich zwischen diesen Sätzen von Wulff und Sarrazin irgendwie mal entscheiden müssen. Der nächste Test kommt, und sei es nur, wenn das Ehepaar Sarrazin wie geplant jetzt gemeinsam mit einem neuen Buch aufwartet und auf unsere Ressentiments spekulieren sollte. Man wird dann schon besser sehen, ob der Trauerakt eine isolierte Veranstaltung von eineinhalb Stunden im schönen Berliner Konzertsaal war, oder nachwirkt in den Köpfen. Angela Merkel, die ihre gelobte Rede hielt, hat gegen Ende so formuliert: „Wir sind ein Land, eine Gesellschaft. Auch die, die zu uns aus vielen Ländern dieser Welt kommen, sind nicht einfach die Zuwanderer. Auch sie sind vielfältig und unterschiedlich. Wir alle prägen gemeinsam das Gesicht Deutschland, unsere Identität in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts – getragen von unserem Grundgesetz und seinen Werten, unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, formuliert in unserer Sprache. Gemeinsam verteidigen wir alle, die wir uns zu diesen Werten bekennen, die in unserer Verfassung zu Beginn festgeschriebene unantastbare Würde des Menschen.“ Einverstanden! Selbst Micha Brumlik, der Linksintellektuelle, der für diese Fragen besonders empfindlich ist, bescheinigte der Kanzlerin, damit habe sie praktisch ihre eigenen Thesen zur multikulturellen Gesellschaft kassiert. Im Oktober 2010 hatte sie nämlich der Jungen Union in Potsdam erklärt, der Ansatz, Deutschland zu einer multikulturellen Gesellschaft zu machen, sei „gescheitert, absolut gescheitert“. Beim „Deutschlandtag“ der Jungen Union übrigens, um präzise zu sein. Ihre Bemerkung löste befremdete Kommentare bis hin nach Indien aus. Mal gegen Multikulti, mal dafür, je nach Ort und Zeit, geht das? Als es um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ging, löste das eine heftige Debatte in Frankreich wie in der Bundesrepublik aus. Von freundlichen Worten umwölkt, sagte die Kanzlerin nichts anderes als: „Die Türkei gehört nicht zu Europa.“ Europa sei christlich, nicht islamisch, predigten Merkozy, die schon damals ihr Tandem begründeten. Auch dieser Satz, dass der Islam nicht zu Europa gehört, kam beim Trauerakt in den Sinn. Nun hat sich die Türkei kühl und enttäuscht ziemlich weit abgewandt. Aber dennoch: Wer nicht zur Tagesordnung übergehen möchte, muss der nicht dann auch diesen Satz neu denken und die „türkische Frage“ in Europa anders verhandeln? Oder hängt das eine mit dem anderen gar nicht zusammen? Und übrigens: Versucht die Familienministerin Kristina Schröder nicht immer noch verzweifelt, gegen den Rat von Fachleuten die Programme gegen „linke Gewalt“ aufzupäppeln, weil wir auf dem Auge blind seien? Ismail Yozgat hat sich bei dem Trauerakt unter anderem gewünscht, die Holländische Straße in Kassel möge nach dem Namen seines Sohnes in Halitstraße umbenannt werden. Die Chancen stehen nicht gut. Wie die FAZ berichtete, versucht der Kasseler Bürgermeister sehr vorsichtig, sehr salomonisch, sehr verständnisvoll, dem Vater und der Gemeinde klar zu machen, dass es dafür eine „breite gesellschaftliche Basis“ geben müsse. Die gibt es aber offenbar nicht, weil sich – auch in der Holländischen Straße in Kassel – Parallelwelten zeigen. In der einen Welt lebte und starb Halit Yozgat. Im Konzertsaal, letzte Woche, nahm sich das Problem so eingrenzbar aus. Von den rechtsradikalen Tätern der NSU grenzt man sich ab, die zehn Menschen ermordeten, wir alle sind eine Gesellschaft, die Trauer ist auch nicht aufgesetzt. Das sah aus wie eine „breite gesellschaftliche Basis“. Aber draußen vor der Tür, danach, sieht man dann wieder, dass damit noch lange nicht gesagt ist, ob es die tatsächlich gibt oder ob die Politik wenigstens den Mut hat, im Alltag und ohne Gedenkkerzen dafür zu werben.
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Bevor der Alltag wieder beginnt, muss Deutschland sich entscheiden: Für Integrationsprobleme und EU-Beitritt der Türkei stehen die Methoden Sarrazin und Wulff zur Wahl. Cicero Online Kolumnist Gunter Hofmann geht noch nicht zur Tagesordnung über, sondern erinnert an diese Fragen im Gedenken der Neonazi-Opfer.
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innenpolitik
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2012-02-27T14:54:54+0100
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2012-02-27T14:54:54+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/integration-entscheidung-sarrazin-oder-wulff/48460
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Armbänder - Höchststrafe Til-Schweiger-Appeal
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Klar, an eine wirklich gute, schöne und am Ende auch noch teure Uhr gehört ein entsprechendes Armband. Etwa vom Alligator oder vom Krokodil, von der Eidechse, vom Strauss oder vom Kalb. Wer es etwas extravaganter haben möchte, der präsentiert seine Uhr an einem Band aus Haifischhaut oder Shell Cordovan. Und natürlich gibt es da auch noch das gute alte Metallband. Das hat allerdings so seine Tücken – zumindest bei Herrenuhren: zum ein sieht sein Träger immer aus wie der ewige kleine Junge, der später einmal Pilot werden möchte und zum anderen – und das ist wirklich die Höchststrafe – vermittelt es einen sehr unguten Til Schweiger-Appeal. So apart Metallarmbänder an manchen Damenuhren wirken können, bei Herren verbreiten sie mitunter die zweifelhafte Aura eines Proleten, Parvenüs oder Playboys. Das liegt allerdings, um den Armbändern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht selten an den Uhren, an denen sie befestigt werden. Denn vielen klassischen Sportuhrenmodellen erging es wie dem 911er Porsche: irgendwie ist es den modernen Designern gelungen, aus zeitlos eleganten und nahezu perfekten Formen klobige, brutale und vulgäre Ungetüme zu formen, die sicher osteuropäische Mafiosi beeindrucken, den kultivierten Zeitgenossen jedoch eher abschrecken. Vergleichen Sie mal einen Rolex Oyster Perpetual aus den 50er Jahren mit den heutigen Modellen. Doch das nur nebenbei. [gallery:Metronome der Macht – Politiker und ihre Uhren] Für all jene Herren, die ungern als die Provinzausgabe von Bruce Willis gelten möchten (der übrigens in „Die Hard“ den geschmackvollen Jazzmaster von Hamilton mit Lederarmband trägt), aber auch nicht Gefahr laufen wollen, wie ein streberhafter Jurastudenten zu wirken, der von seinen Alden-Schuhen über das Ralph-Lauren-Hemd bis zur mechanischen Armbanduhr mit römischem Zifferblatt und Lederband nichts aber auch gar nichts falsch machen möchte, gibt es eine ebenso praktische wie schöne und zudem günstige Alternative: nein, nicht das Kautschukband in grellorange, sondern das gute alte Nylonband. Wie manches, das sportlich, elegant und stilsicher zugleich ist, verdanken wir das Nylonarmband dem britischen Militär. Das hat es zwar nicht erfunden – über den tatsächlichen Urheber streiten sich die Geister –, den Briten kommt aber das bleibende Verdienst zu, die Vorteile des Nylonarmbandes erkannt und es in die Liste ihrer Ausrüstungsgegenstände übernommen zu haben. Dadurch bekamen die Armbänder eine NATO-Lagerungsnummer, was der Grund dafür ist, dass die netten Bänder auch unter dem martialischen Namen „NATO-Band“ bekannt sind. In Großbritannien spricht man allerdings in Anlehnung an die ursprüngliche Inventarnummer vom „G10“. Eingeführt wurde der neue Ausrüstungsgegenstand im britischen Militär Anfang der 50er Jahre. Dass die Synthetikbänder auch im zivilen Sektor in kürzester Zeit weite Verbreitung fanden und eng mit der Ästhetik der 50er und frühen 60er verbunden sind, hat mit dem vielleicht berühmtesten Offizier der Royal Navy zu tun: James Bond. In den ersten beiden James-Bond-Filmen, „Dr. No“ und „From Russia with Love“, trägt Sean Connery seine Rolex Submariner mit einem Alligator- oder Krokodilband. Doch in „Goldfinger“ und „Thunderball“ verwendet 007 ein „G10“ Nylonband, das ihn unmissverständlich als Militär ausweist. Lustigerweise ist das Band, das Bond an seiner Submariner trägt, mindestens 2 Millimeter zu schmal, wie einige Close-ups deutlich machen. Dieses kleine Missgeschick ändert jedoch wenig daran, dass das Nylonband Bonds Uhr sehr wirkungsvoll in Szene setzt – auch und gerade zu dem weißen Dinner Jacket, das der Geheimagent in einer berühmten Szene trägt. Als Commander der Royal Navy trägt Bond das original „G10“, schwarz, mit zwei grauen Streifen, die – als kleine Extravaganz – mit feinen roten Linien gefasst sind. Das derzeitige originale NATO-Band kommt demgegenüber äußerst schlicht und in einer Farbe daher, die etwas euphemistisch als Admiralsgrau bezeichnet wird. Aber für den Herren, der sich auch in einer Camouflagehose gut aufgehoben fühlt, ist das vielleicht nicht einmal die schlechteste Wahl. Für alle anderen, etwas weniger militaristisch gesonnenen Zeitgenossen gilt jedoch: Nylonbänder gibt es zum Glück inzwischen in allen Farben und unzähligen Mustern, und seit einigen Jahren sind sie, dem Internet sei einmal mehr Dank, auch in Deutschland einfach zu bekommen – sogar die sehr dezente, beinah elegante Variante, die einst Sean Connery trug. [gallery:Metronome der Macht – Politiker und ihre Uhren] Allerdings ist Nylonband nicht gleich Nylonband. Zum einen ist darauf zu achten, dass das Band tatsächlich aus hochwertigem ballistischem Nylon gefertigt ist, vor allem aber muss es sich um ein Durchzugsband handeln. Mit anderen Worten: anders als seine Kollegen aus Leder, besteht das gute Nylonstück nicht aus zwei Teilen, die an den Federstegen der Uhr befestigt werden, sondern aus einem Band, auf das die Uhr aufgezogen wird. Eine Lasche am Ende des Bandes ermöglicht es dabei, eine Sicherheitsschlaufe zu bilden, die verhindert, dass die Uhr auf dem Band hin und her rutschen kann. Zudem liegt die Uhr dadurch nicht direkt auf der Haut auf, was bei feuchtigkeitsempfindlichen Stücken durchaus seine Vorteile hat. Damit wären wir bei einem nicht unwichtigen Aspekt der Nylonbänder: sie sind nicht nur äußerlich attraktiv, sie sind auch noch praktisch. Anders als Lederbänder sind sie problemlos zu reinigen, man kann die Uhr in Sekunden herunterfädeln, ohne dass dabei die Federstege kaputt gehen oder die Gehäusehörner zerkratzt werden und vor allem: man hat zu jedem Anlass, zu jedem Wetter, zu jeder Stimmung das richtige Band in der passenden Farbe. Und wenn tatsächlich mal ein Federsteg brechen sollte – so was kann vorkommen –, dann fällt das gute Stück aus Schaffhausen nicht auf den Boden, vom Balkon oder in den See, sondern bleibt am Handgelenk. Erwähnen sollte man schließlich auch, dass selbst hochwertige Bänder für unter 20 Euro zu haben sind. Wem das an seiner Omega Seamaster dann doch etwas zu popelig ist, der ist bei der Züricher Uhrenmanufaktur Maurice de Mauriac gut aufgehoben: da kosten die bunten Bänder immerhin 50 Franken.
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Alexander Grau
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Lederarmbänder wirken leicht etwas streberhaft und sehen schnell speckig aus. Und Metallarmbänder verbreiten mitunter eine zweifelhafte Aura. Zum Glück gibt es Nylonbänder
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außenpolitik
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2013-08-25T10:29:19+0200
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2013-08-25T10:29:19+0200
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https://www.cicero.de//stil/armbanduhren-hoechststrafe-til-schweiger-appeal/55524
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SPD - Die Krise heißt nicht Merkel
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Zu den gängigen Erklärungen für das anhaltende Stimmungstief, in dem die SPD steckt, gehört der Verweis auf Angela Merkel. Stolz sind die Sozialdemokraten auf ihre Politik in der Großen Koalition. Sie sind davon überzeugt, seit der Bundestagswahl fast alles richtig gemacht zu haben: Verlässlich regiert, Wahlversprechen gehalten, die Parteibasis eingebunden und außerdem kaum gestritten. Dass es für die Sozialdemokraten in der Wählergunst in den letzten Monaten nicht wieder aufwärtsgegangen ist, kann deshalb nur daran liegen, dass die Kanzlerin beim Wähler so beliebt ist. Diese Erklärung ist in der SPD dermaßen populär, dass sie mittlerweile zu einer sozialdemokratischen Lebenslüge geronnen ist. Sieht man einmal davon ab, dass Wahlentscheidungen immer kurzfristiger getroffen werden, Meinungsumfragen in der Mitte der Legislaturperiode wenig darüber aussagen, wie in mehr als zwei Jahren die nächste Bundestagswahl ausgeht, lässt sich dennoch konstatieren: Die SPD ist einem besseren Wahlergebnis seit dem September 2013 keinen Schritt näher gekommen. Den Anspruch Volkspartei zu sein und wieder einen Kanzler oder eine Kanzlerin zu stellen, kann sie glaubhaft nicht mehr artikulieren. Das liegt auch an der souveränen Kanzlerschaft Angela Merkels. Doch die Krise der SPD hat vor allem drei strukturelle Gründe. Der deutsche Wählermarkt ist erstens regional dreigeteilt. Nur im Nordwesten der alten Bundesrepublik ist die SPD-Welt noch halbwegs in Ordnung, vom Saarland bis Schleswig-Holstein erstreckt sich eine gewisse sozialdemokratische Normalität. Selbst im schwarz-grünen Hessen steht die SPD so schlecht nicht da. Im deutschen Nordwesten stellt die SPD insgesamt sechs Ministerpräsidenten, dort erzielte die Partei bei der Bundestagswahl 31,3 Prozent. Dort kann die SPD noch Wahlen gewinnen. Der Süden und der Osten hingegen sind mittlerweile sozialdemokratische Krisenregionen. Im Süden, der die Länder Bayern und Baden-Württemberg umfasst, kam die SPD bei der Bundestagswahl nur auf 20,2 Prozent. In beiden Ländern hat die SPD, so scheint es, den Anschluss an das Lebensgefühl der Menschen verloren. Dort gelingt es den Grünen mit einer werteorientierten Politik viel eher unzufriedene CDU-Wähler anzusprechen, dort wird das Grün zum neuen C. Nur einem populären grünen Ministerpräsidenten, der auch in klassischen CDU-Milieus ankommt, konnte es deshalb gelingen, die CDU-Vormachtstellung in Baden-Württemberg zu brechen. Im Osten ist die Lage der SPD noch schlechter, dort erreichte die SPD bei der Bundestagswahl 2013 nur 19 Prozent. In der Wählergunst lagen die Sozialdemokraten sogar noch hinter der Linken auf Platz drei. In Thüringen zeigt sich nun, welche Folgen es hat, wenn die SPD zwischen einer starken CDU und einer selbstbewusst, ostdeutschen Linken zerrieben wird. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als der Linkspartei in einer rot-rot-grünen Landesregierung den Vortritt zu lassen. Thüringen ist dabei mitnichten ein regionaler Sonderfall. In Sachsen-Anhalt könnte schon im kommenden Jahr das zweite ostdeutsche Bundesland mit einem linken Ministerpräsidenten folgen. Auch in Sachsen wird die SPD, die CDU nur aus der Landesregierung vertreiben können, wenn sie dort den Führungsanspruch der Linkspartei im linken Lager anerkennt. Außer Hoffen hat die SPD kein Rezept, wie sie aus diesem strategischen Dilemma wieder herauskommt. Eine Partei, die ganze Regionen des Landes aufgegeben hat und in der Hälfte der Republik, in acht Bundesländern, die zusammen die Hälfte der Wähler stellen, nicht mehr über 20 Prozent kommt, kann eine Bundestagswahl nicht gewinnen. Doch weder im Süden noch im Osten lässt die SPD irgendeine Strategie erkennen, die an dieser strukturellen Schwäche etwas ändern könnte. Die SPD hat keine Idee, wie sie mit dem dreigeteilten Wählermarkt strategisch umgehen soll. In Baden-Württemberg hofft die SPD auf das Ende des Kretschmann-Hypes. Gegen die CSU hat die bayerische SPD bereits kapituliert und der Osten spielt in der SPD bundespolitisch sowohl personell als auch politisch keine Rolle mehr. Eine starke regionale sozialdemokratische Identität gibt es außerhalb vieler Großstädte nur noch in einem Flächenland, in Nordrhein-Westfalen. Aus Sicht der SPD zerfällt der Wählermarkt somit sogar in vier Regionen, was es für sie vor allem deshalb nicht einfacher macht, weil das Kohleland NRW bei einem der zentralen Zukunftsthemen dieses Landes, bei der Energiewende, Sonderinteressen vertritt. Und der SPD somit eine zusätzliche Herausforderung beschert. Dem strategischen Dilemma folgt zweitens das personelle. Es gab Zeiten, da gab es in der SPD gleich im halben Dutzend Politiker, die fest davon überzeugt waren, dass sie das Zeug zum Kanzler haben. Gleich mehrere starke Ministerpräsidenten rüttelten am Zaun des Kanzleramtes. Doch wenn es um die K-Frage geht, ducken sich mittlerweile alle führenden Sozialdemokraten kollektiv weg. Außer Parteichef Gabriel, der quasi per Amt als Kanzlerkandidat zur Verfügung stehen muss, gibt es in Berlin niemanden, den es zur Kanzlerkandidatur drängt. Arbeitsministerin Nahles hat ein Imageproblem, Außenminister Steinmeier war die Niederlage 2009 genug. Aus den Ländern bewirbt sich niemand. Von den neun Ministerpräsidenten, die die SPD derzeit stellt, gibt es nur einen, dem man bundespolitische Ambitionen unterstellen darf, Hamburgs erstem Bürgermeister Olaf Scholz. Doch der ist gerade in seine zweite Amtszeit gestartet. Alle anderen Ministerpräsidenten halten sich demonstrativ von der Bundespolitik fern. Sie wissen, dass ihre Popularität in den jeweiligen Ländern auch damit zusammenhängt, dass sie auf die regionale Karte setzen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat es ihren Wählern sogar versprochen, dass sie nicht nach Berlin geht. Wahlen werden auch von Personen entschieden, von Kandidaten mit Siegeswillen, aber der letzte Sozialdemokrat, der unbedingt an die Macht wollte, hieß Gerhard Schröder. Sein großer Triumph ist mittlerweile siebzehn Jahre her. Dass in der SPD jetzt sogar über einen Kanzlerkandidaten Martin Schulz spekuliert wird, zeigt indes, wie groß das Personalproblem der SPD ist. Sicherlich ist Schulz ein guter Wahlkämpfer, aber er ist als Präsident des Europäischen Parlaments weit weg von Berlin, für die Mehrheit der Deutschen ein völlig unbekannter Politiker. Ihn 2017 gegen Merkel ins Rennen zu schicken, käme einer politischen Kapitulation gleich. Da könnte sich die SPD den Wahlkampf gleich ganz sparen. Zumal der SPD drittens ein Zukunftsthema fehlt, mit dem sie neue Wähler mobilisieren könnte. Mindestlohn, Rente mit 63 und Mietpreisbremse sind aus Sicht des Wählers bereits die Themen von gestern. Dass sie ihre Wahlversprechen von 2013 gehalten hat, ist sicherlich eine notwendige Bedingung für zukünftige Wahlerfolge, aber keine hinreichende. Die Wähler wollen 2017 vor allem wissen, was kommt, nicht, was war. Und da ist die SPD blank, sie hat keine neuen Themen, keine neuen Ideen und vor allem keine neue Botschaft. Nur von der Forderung nach Steuererhöhungen wollen die Genossen nicht lassen. Doch dieses Programm ist schon 2013 beim Wähler durchgefallen. Auch 2017 wird die SPD einen Steuererhöhungswahlkampf nicht gewinnen können. TTIP, Vorratsdatenspeicherung oder Familienarbeitszeit hingegen sind Nischenthemen, mit denen sich sozialdemokratische Funktionäre mit Vorliebe beschäftigen. SPD-Chef Sigmar Gabriel weiß, dass die SPD vor allem mehr wirtschaftspolitische Kompetenz und Zukunftsideen braucht, will sie neue Wähler für sich gewinnen. Doch die Partei folgt ihm nicht und zeigt lieber auf die allmächtige Kanzlerin. Je länger die SPD jedoch an ihrer Lebenslüge festhält, dass nur Angela Merkel einem neuen sozialdemokratischen Zeitalter im Wege steht, desto unerreichbarer werden sozialdemokratische Wahlerfolge.
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Christoph Seils
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Für die Sozialdemokraten ist die Kanzlerschaft weit weg. Zu glauben, es läge nur an der populären Kanzlerin, gleicht einer sozialdemokratischen Lebenslüge. Drei Gründe, warum die SPD in absehbarer Zeit keinen Kanzler stellen wird
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innenpolitik
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2015-04-17T12:14:33+0200
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2015-04-17T12:14:33+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-die-krise-heisst-nicht-merkel/59140
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Der Gipfel in Rio – Wer früher ausstirbt, ist länger tot
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Tiefe Augenränder, zerkratzte Arme, verquollene Lider. Kennen Sie den Eichenprozessionsspinner? Der Forstschädling legt seine Eier gerne in freistehende Bäume in der Nähe von Straßenlaternen. Die langen mit Widerhaken versehenen Härchen, die den Rücken seiner Raupen bedecken, fliegen bis zu 200 Meter weit und lösen bei sommerlich gestimmten Waldbesuchern fies juckende Stellen aus. Es soll bis zu zwei Wochen dauern, bis das Jucken nachlässt. Brandenburg hat gerade besonders damit zu kämpfen. Und ich. Es gibt Tiere, die brauchen wir mehr und andere weniger. In Rio de Janeiro trafen sich in den vergangenen Tagen Menschen, denen unsere Welt und mit ihr die Lebewesen auf ihr sehr am Herzen liegen. Denn es gibt eine Menge von ihnen, die es wahrscheinlich nicht mehr lange machen. Darunter fällt leider nicht der Eichenprozessionsspinner, dafür aber 41 Prozent unserer Amphibien, 33 Prozent der Riffe bildenden Korallen, 25 Prozent der Säugetiere, 13 Prozent der Vögel und eine von fünf Pflanzenarten. 64.000 Pflanzen- und Tierarten hat die Weltnaturschutzorganisation IUCN (International Union for Conservation of Nature) untersucht, fast 20.000 von ihnen sind vom Aussterben bedroht. Schuld am Artenschwund ist nicht nur der Mensch – aber auch. Man kann sich jetzt genüsslich zurücklehnen und sagen: Was macht es schon, wenn es ein paar Korallenarten weniger gibt? Wer braucht schon die Tigerpython in freier Wildbahn? Den Paradiesschnäpper? Nun sind viele der bedrohten Arten aber zuständig für das Leben auf unserem Planeten. Sie sind Quelle für Nahrung, für Medikamente, für sauberes Wasser. Wenn sie wegfallen, gefährden sie die Existenzgrundlage von Millionen Menschen, warnt IUCN-Chefin Julia Marton-Lefèvre und versuchte damit im Vorfeld des Rio+20-Gipfels Druck auszuüben auf die Politik. Die aber hat sich erfolgreich weggeduckt. [gallery:Planet Ocean – Die Welt der Ozeane] 1992, beim ersten UN-Gipfel dieser Art in Rio, lag Aufbruchstimmung in der Luft. Mit Macht und Engagement schrieb man sich damals gemeinsam nichts Geringeres als die Weltenrettung auf die Fahnen. Politiker zeichneten ein hehres Ziel: Alles ihnen Mögliche dafür zu tun, das Überleben der Wälder und Meere, der Menschen und Tiere unseres Planeten zu sichern. Man schmiedete Pläne, deren Vollstreckung allerdings schnell wieder an Schwung einbüßte. Die Entdeckeratmosphäre von damals versuchen die Beteiligten nun vergeblich wieder zu erwecken. Der Geist der Klimarettung hat Staub angesetzt. Revoluzzergedanken, die mit dem Geruch nach Mottenkugeln einhergehen, finden nur schwer ihre Anhänger. Das haben auch die Politiker dieser Erde begriffen und so blieben jene, die der Veranstaltung Gewicht hätten verleihen können, wie Angela Merkel oder Barack Obama, fern. Allein Francois Hollande, noch neu in seinem Schloss, will hinter seine Wahlversprechen nicht so schnell zurückfallen und mischte sich unter die etwa 100 Staats- und Regierungschefs, die den Weg nach Brasilien auf sich nahmen. Dabei hätte man sich all das Kerosin, das Geld für die Sicherheitsmaßnahmen und die Unterbringung der anspruchsvollen Persönlichkeiten sparen können. Um den Ärger gleich hinter sich zu haben, hatte man nämlich die gemeinsame Abschlusserklärung nach nächtlicher Diskussion noch vor der Veranstaltung unterschrieben. Mit den mickrigen Absichtserklärungen wurde der Gipfel damit beendet bevor er überhaupt anfing. Deutschlands neuer Umweltminister Peter Altmaier hatte verkündet, es sei besser, 70 Prozent seiner Ziele zu erreichen, als "in Schönheit zu sterben" und leer auszugehen. In Anbetracht der zweifelhaften Schönheit des Ministers eine Lose-Lose-Situation.
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Beim UN-Gipfel in Rio wurde einmal mehr die Chance vertan, Substantielles für unsere alte Erde zu tun. Für viele Tierarten wird es nun eng, sie könnten aussterben. Nicht dazu gehört der Eichenprozessionsspinner. Leider
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außenpolitik
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2012-06-24T10:04:18+0200
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2012-06-24T10:04:18+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/nachhaltigkeit-gipfel-rio-wer-frueher-ausstirbt-ist-laenger-tot/49802
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Gleichstellung in Parlamenten - Wie geht es weiter mit der Paritätsgesetzgebung?
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Die Verfassungsgerichte in Thüringen und Brandenburg haben die Paritätsgesetze in beiden Ländern für verfassungswidrig erklärt. Trotz dieser Entscheidungen, denen auch allgemeine Bedeutung für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Projekts der Paritätsgesetzgebung zukommt, wird das Projekt weiter verfolgt. Silke Laskowski, eine der maßgeblichen Initiatorinnen dieses Projekts hat als Prozessbevollmächtigte im Namen von Beschwerdeführern aus ganz Deutschland eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts Thüringen beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Diese Verfassungsbeschwerde wird damit begründet, dass das Verfassungsgericht Thüringen mit seiner Entscheidung das Grundgesetz und die auch für die Bundesländer geltende Verpflichtung zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern gemäß Art. 3 Abs. 2 S.2 GG „ausgehebelt“ habe. Dem Projekt der Paritätsgesetzgebung steht mit dieser Verfassungsbeschwerde die nächste sichere Niederlage bevor. Neben den prozessualen Fragen, die es als zweifelhaft erscheinen lassen, dass eine derartige Verfassungsbeschwerde überhaupt zulässig ist, fehlt dieser Verfassungsbeschwerde in der Sache selbst jegliche tragfähige Grundlage. Weder das Verfassungsgericht Thüringen noch das Verfassungsgericht Brandenburg haben das Grundgesetz „ausgehebelt“, sondern gerade umgekehrt der auch die Bundesländer verpflichtenden Gewährleistung der Freiheit der politischen Parteien nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG Geltung verschafft, die mit der Paritätsgesetzgebung in verfassungswidriger Weise beschnitten werden sollte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfaltet Art. 21 GG unmittelbar auch in den Bundesländern rechtliche Wirkung als Bestandteil der Landesverfassung. Die Paritätsgesetzgebung bricht erstmalig mit dem von Art. 21 GG gewährleistetem Prinzip der Staatsunabhängigkeit der politischen Parteien. Die Parteien werden mit der Verpflichtung zur Aufstellung paritätischer Wahllisten vom Gesetzgeber wie ein zur Erfüllung staatlicher Aufgaben verpflichteter Verwaltungsträger instrumentalisiert. Dies kollidiert mit der Programmfreiheit der politischen Parteien und der Freiheit der Selbstbestimmung bei der personellen Aufstellung. Denn die Parteien sind nach Art. 21 GG keine Aufgabenträger, die der Staat in dieser Weise verpflichten kann, sondern freie, staatsunabhängige gesellschaftliche Organisationen, die die politischen Ziele ihrer Mitglieder und Anhänger vertreten. Nach Auffassung von Silke Laskowski, haben die Parteien demgegenüber „nicht die Aufgabe, die Ansichten ihrer Parteimitglieder zu spiegeln im Parlament. Es geht darum, dass sie die gesellschaftliche Perspektive des Volkes, also der Bürgerrinnen und Bürger in die Parlamente bringen“ (aus „Mehr Frauen in die Parlamente“, vom 27.11.2019). Diese Darstellung stellt die Rolle der Parteien nach dem Grundgesetz völlig auf den Kopf. Die Parteien sind nach Art. 21 GG von ihrer Mitgliedschaft und ihren Anhängern getragene Organisationen, die darüber in der Gesellschaft verwurzelt sind, aber nicht im rechtlichen Sinne auf die repräsentative Berücksichtigung des Volks bzw. bestimmter Gruppen verpflichtet sind. Die Parteien stehen der gesamten Bevölkerung offen, und können durch Neugründungen zur Schließung von „Repräsentationslücken“ jederzeit ergänzt werden. Sie sind aber gemäß Art. 21 GG stets freie Organisationen, die über ihr Profil und ihre Kandidatenaufstellung zu den Wahlen ohne jegliche staatliche Einmischung selbstbestimmt entscheiden. Dazu zählt auch die Frage, wie die einzelnen Parteien mit der Frage einer Gleichstellung von Frauen und Männern umgehen. Die der Paritätsgesetzgebung zugrundeliegende Verkennung der Stellung der Parteien nach dem Grundgesetz ist auch über zahlreiche Medienbeiträge weiterverbreitet worden. In vielen Medienbeiträgen wird der Instrumentalisierung der Parteien durch den Gesetzgeber im Sinne der Paritätsgesetzgebung zugestimmt. So auch in einem Kommentar in der taz zu dem Thema. Anders als „die Kneipe nebenan“ seien Parteien „nicht irgendwelche Gebilde, die völlig autonom vor sich hin wurschteln können“. Als staatliche Akteure müssten sie nach dem Parteiengesetz einen Partizipationsauftrag erfüllen, und die Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, und könnten deshalb auch vom Gesetzgeber zu paritätischen Listen verpflichtetet werden. Dieses Beispiel belegt, dass eine wichtige Aufgabe für die politische Bildung darin besteht, derart unzutreffende Darstellungen der Rolle der Parteien nach dem Grundgesetz zu thematisieren und zu korrigieren. Die Ursache für die Fehlentwicklung bei dem Projekt der Paritätsgesetzgebung beruht darauf, dass versucht wurde, das Projekt entgegen vieler Warnungen auf einfachgesetzlichem Weg ohne Verfassungsänderung durchzusetzen. Damit sollte eine schnelle Zielerreichung erfolgen, und zugleich die Hürde der für eine Verfassungsänderung erforderlichen qualifizierten Mehrheit umgangen werden, die politisch derzeit und auf absehbare Zukunft nicht erreichbar ist. Die Träger der Paritätsgesetzgebung, Bündnis/90 Die Grünen, SPD und die Linke sind bei dem Projekt einer einfachgesetzlichen Umsetzung der Paritätsgesetzgebung sehenden Auges in eine selbst gestellte Falle geraten. Dass „ausgerechnet“ NPD und AfD vor den Verfassungsgerichten von Thüringen und Brandenburg Prozesserfolge erzielen konnten, wird von den Trägern und Unterstützern der Paritätsgesetzgebung als ein besonders bedauerliches Signal gesehen (so auch der Deutsche Juristinnenbund). Die Warnhinweise, dass genau das die Folge der unreflektiert eingeführten Paritätsgesetzgebung wird, wurden aber nicht hinreichend ernstgenommen. Auch in einer Debatte zur Einführung einer Paritätsgesetzgebung im Landtag von Schleswig-Holstein empörte sich noch Anfang 2019 Ralf Stegner (SPD) über kritische Anmerkungen eines AfD-Vertreters zur Verfassungsmäßigkeit einer Paritätsgesetzgebung mit folgenden Worten: “Von Rechtsextremisten lässt sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nicht vorhalten, wir machen Vorschläge, die nicht verfassungsgemäß seien“. Die Fixierung auf die auch von AfD und NPD getragene Kritik an der Paritätsgesetzgebung hat den Blick für die verfassungsrechtlichen Probleme dieser Gesetzgebung deutlich getrübt. So auch in einem Kommentar in der taz: „Sie berufen sich auf das hohe Gut der Parteienfreiheit, in Wahrheit geht es ihnen aber vor allem darum, die Quote unbedingt zu killen, weil es für ihre Männerclubs – in der AfD ist nicht mal jedes fünfte Mitglied weiblich – sonst ziemlich düster aussähe. Paritätische Wahllisten kriegen sie nicht so leicht voll“. Die Paritätsgesetzgebung wirft ernsthafte Fragen auf, die nicht über derart vereinfachende Feindbilder verdrängt oder abgetan werden können, wie es auch die ebenfalls erfolgten Anträge der Piratenpartei und von Mitgliedern der Jungen Liberalen in Brandenburg belegen, über die noch nicht entschieden wurde. Im Gegensatz zu der aktuellen Debatte in Deutschland, bestand aber in Frankreich, auf das oft als Vorbild für eine Paritätsgesetzgebung verwiesen wird, von Anfang an Klarheit dahingehend, dass es für dieses Projekt einer Verfassungsänderung bedarf. In der politischen Debatte über eine Paritätsgesetzgebung von 1993 bis 1999 ging es deshalb um die Durchsetzung einer derartigen Verfassungsänderung, um damit überhaupt erst die verfassungsrechtliche Grundlage für eine einfachgesetzliche Paritätsgesetzgebung zu schaffen. Es dauerte 6 Jahre, bis die Forderung nach einer Verfassungsänderung 1999 umgesetzt wurde, und daraufhin ein Paritätsgesetz 2001 in Frankreich eingeführt wurde. Die Verfassungsänderung in Frankreich betraf zwei Verfassungsbestimmungen. Art. 1 Abs. 2 der französischen Verfassung schreibt seit der Neuregelung vor, dass das Gesetz „den gleichen Zugang von Frauen und Männern zu den Wahlmandaten und auf Wahl beruhenden Ämtern sowie zu beruflichen und sozialen Verantwortlichkeiten“ fördert. Damit wurde ausdrücklich bestimmt, dass sich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung auch auf Wahlämter und damit auch die Parlamente erstreckt, was in Deutschland weder in den Landesverfassungen noch im Grundgesetz bislang der Fall ist. In der Debatte in Frankreich bestand aber auch kein Zweifel daran, dass die Paritätsgesetzgebung zu einer grundlegenden Veränderung der Rolle der politischen Parteien führt, die durch die bestehende Verfassung nicht abgedeckt ist. Deshalb wurde Art. 4, der bisher die unbegrenzte Freiheit der politischen Parteien gegenüber dem Staat vorsah, und sie lediglich auf die Grundsätze der nationalen Souveränität und Demokratie verpflichtete, ergänzt. Der ebenfalls 1999 neu eingeführte Absatz 2 des Art. 4 der französischen Verfassung sieht vor, dass die Parteien zur Verwirklichung des Grundsatzes eines gleichen Zugang von Frauen und Männern zu den Wahlmandaten und auf Wahl beruhenden Ämtern gemäß Art. 1 Abs. 2 unter den gesetzlich bestimmten Bedingungen beitragen. Auch in Deutschland könnte nur auf der Grundlage einer zuvor erfolgten Änderung des Art. 21 GG eine Paritätsgesetzgebung eingeführt werden. Dies betrifft sowohl rechtspolitische Initiativen auf Bundesebene wie auch auf Landesebene, was in der aktuellen Diskussion noch nicht hinreichend erkannt worden ist. Da eine Verfassungsänderung derzeit und in absehbarer Zukunft nicht umsetzbar ist, besteht die Chance für eine rechtspolitische Debatte zu der Frage, wie die Chancen für eine stärkere Mitwirkung von Frauen in der Politik erhöht werden können. Das Projekt der Paritätsgesetzgebung ist zwar rechtlich auf eine schiefe Bahn geraten, hat aber Schwung in die Debatte über die verstärkte Mitwirkung von Frauen in der Politik und die hier bestehenden Probleme gebracht, die angegangen werden müssen.
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Wolfgang Hecker
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In Thüringen und Brandenburg wurden Paritätsgesetze verabschiedet. Und in beiden Ländern haben sie die jeweiligen Verfassungsgerichte abgeschmettert. Warum die Befürworter weiter für das Gesetz kämpfen und warum sie wieder scheitern werden.
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"Thüringen"
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innenpolitik
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2020-12-11T14:18:19+0100
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2020-12-11T14:18:19+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/gleichstellung-paritaet-parlamente-thueringen-brandenburg
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FDP-Politiker fordert strengeres Rauchverbot - „Herr Schinnenburg, ist die FDP die neue Verbotspartei?“
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Wieland Schinnenburg ist Bundestagsabgeordneter der FDP und Sprecher der Fraktion für Drogen- und Suchtpolitik. Herr Schinnenburg, Sie fordern ein deutlich strengeres Rauchverbot im öffentlichen Raum. Wollen Sie die FDP zur Verbotspartei machen?
Nein, mit Sicherheit nicht. Ich bin gegen ein generelles Rauchverbot in der Öffentlichkeit. Mir geht es um einen konsequenten Nichtraucherschutz. Der Staat muss eingreifen, wenn Menschen der Gefahr des Passivrauchens nicht ausweichen können. Zum Beispiel vor Schulen, Kitas und Spielplätzen, aber auch auf Bahnsteigen oder an Bushaltestellen. Zumindest, wenn es keinen abgetrennten Raucherbereich gibt. Und vor Gaststätten, wie es jetzt in Schweden verboten ist?
Nein hier wollen wir kein Verbot. Vor Gaststätten kann man ausweichen oder zur Not in eine andere Gaststätte gehen. Warum kann man vor Gaststätten ausweichen, auf Bahnsteigen oder Spielplätzen aber nicht?
Klar können Sie da auch ausweichen, aber am Ende müssen Sie auf dem Bahnsteig bleiben, weil sie auf den Zug warten. Immer kann dabei ein Raucher neben ihnen auftauchen. Insbesondere bei Regen können Sie etwa in einem Bushäuschen nicht ausweichen. Auf Spielplätzen geht es außerdem darum, dass die Leute oft ihre Zigarettenstummel in den Sandkasten werfen und damit Kinder gefährden. Da muss der Staat eingreifen. Die Anzahl der Raucher nimmt immer weiter ab. Woher dieser plötzliche Aktionismus zum Schutz von Nichtrauchern?
Es ist ja gut, wenn die Raucherzahlen zurückgehen. Dadurch gibt es auch weniger Betroffene. Aber nach wie vor werden Menschen durch Raucher nicht nur belästigt, sondern in ihrer Gesundheit gefährdet. Der Schutz für jene, die sich nicht selbst schützen können, war schon immer notwendig. Das gilt für alle Bereiche, auch für den Straßenverkehr. Der Staat muss mich davor schützen, dass andere falsch, zu schnell oder betrunken fahren. Da würde keiner auf die Idee kommen, dass sich das schon von allein regelt. Aber Abgasen kann man auch nicht ausweichen. Sie sind gegen Dieselfahrverbote, aber für Rauchverbote aus Gesundheitsgründen. Wägen Sie da richtig ab?
Wir sind sehr dafür, die Belastungen durch Stickoxide, Feinstaub und ähnliches stark zu verringern. Darum ist es auch nicht hinnehmbar, wie sich die Autohersteller mit ihrer Schummelsoftware verhalten haben. Da muss der Staat rigoros gegen vorgehen. Aber das Beispiel mit den Dieselfahrverboten hat in Hamburg dazu geführt, dass die Menschen die gesperrten Straßen umfahren und dabei noch mehr Schadstoffe ausstoßen. Man könnte doch die ganze Stadt sperren.
Das ist völlig illusionär. Es gibt Menschen, die sind aufs Auto angewiesen. Denen kann man das Autofahren nicht verbieten. Mithilfe von technischen Innovationen die Schadstoffe zu reduzieren, ist hingegen wichtig. Das passiert auch. Die Schadstoffbelastung nimmt überall ab. Als drogenpolitischer Sprecher der FDP befürworten Sie eine Legalisierung von Cannabis. Da wollen Sie die Zügel lockern. Dem Tabak machen Sie aber den Garaus?
Wir wollen Cannabis nur an Erwachsene legal abgeben. Und die können frei entscheiden, ob sie es konsumieren oder nicht. Das Gleiche bleibt dem Tabakkonsumenten ja unbenommen. Beides soll öffentlich konsumiert werden dürfen, aber eben ohne andere zu gefährden. Wer soll das kontrollieren, die Polizei?
Das ist Sache der Länder, so wie es bei den Gaststättengesetzen schon geschehen ist. Aber es muss nicht gleich die Polizei anrücken, die haben wichtigere Aufgaben. Sollten Raucher auf persönliche Ansprache nicht reagieren, muss man zur Not eben den städtischen Ordnungsdienst rufen. Wäre es nicht wichtiger, sich endlich um ein Tabakwerbeverbot in Deutschland zu kümmern?
Kinowerbung und Plakate in ausreichendem Abstand von Schulen sind in der Tat nach wie vor erlaubt. Die FDP-Fraktion hat hierzu noch keine abgeschlossene Meinung. Meine persönliche Meinung als Gesundheitspolitiker ist es, Tabakwerbung vollständig zu verbieten. Welche Partei kann der Marlboro-Cowboy von heute denn dann noch wählen? Treiben Sie mit solchen Vorhaben die Liebhaber des Liberalismus nicht in die Arme der AfD? Die spricht sich gegen solche Verbote aus.
Als FDP wollten wir noch nie totale Freiheit. Das wäre Anarchie. Wir wollen gemäß der Freiburger Thesen von 1971: Im Zweifel für die Freiheit, also lieber eine Regel weniger als eine zu viel. Die Freiheit der einen hört auf, wenn die Gesundheit der anderen gefährdet wird. Beim Thema Auto aber sticht für Sie “A-nach-B -Kommen” die Gesundheit der Passanten und Radfahrer.
Sie werden keine völlig die Gesundheit nicht gefährdende Welt erreichen. Das geht nicht. Ich würde nie jemandem vorschreiben, lieber Zug statt Auto zu fahren. Wir müssen Anreize schaffen. Zum Beispiel, indem in der Bahn das Wlan funktioniert, das Bordrestaurant nicht ausfällt und vor allem nicht die Züge zu spät kommen. Dann passiert ein Umdenken automatisch, ohne Verbote. Haben Sie selbst mal geraucht?
Nein, noch nie. Auch nicht probiert?
Doch. Mit sieben oder acht Jahren hat meine Mutter, die damals noch rauchte, mich einmal ziehen lassen. Das war die beste Erziehungsmaßnahme, die sie je gemacht hat. Das war so schrecklich, dass ich von der Stunde an nie wieder rauchen wollte.
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Bastian Brauns
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In Schweden gilt ein strenges Rauchverbot in der Öffentlichkeit. Ausgerechnet die Liberalen denken nun über härtere Regelungen auch in Deutschland nach. Ein Gespräch über Freiheit, ihre Grenzen und eigene Raucherfahrungen mit dem drogenpolitischen Sprecher der FDP, Wieland Schinnenburg
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wirtschaft
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2019-07-04T16:31:40+0200
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2019-07-04T16:31:40+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/fdp-rauchverbot-freiheit-gesundheit-wieland-schinnenburg
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RKI-Files - Kniefall vor der Corona-Politik
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Im März 2022 wurde die begrenzte Impfpflicht eingeführt, die Bedienstete von Gesundheitseinrichtungen verpflichtete, sich gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 impfen zu lassen (§ 20a Infektionsschutzgesetz – IfSG). Gegen Pflegepersonal ohne gültigen Impf- oder Genesungsnachweis konnte ein Betretungs- und Betätigungsverbot ausgesprochen werden. Diese einrichtungsbezogene Impfpflicht sollte nach dem Willen des Gesetzgebers vulnerable Personen vor Infektion schützen. Ob durch Impfung des Pflegepersonals in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen zugleich ein Schutz der Gepflegten vor Ansteckung durch das Pflegepersonal (Fremdwirkung) erreicht werden konnte, war stets umstritten. Auf eingelegte Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, § 20a IfSG sei verfassungskonform. Das Verwaltungsgericht Osnabrück ist nun nach Auswertung der sogenannten RKI-Protokolle und der Vernehmung des jetzigen Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI) als Zeugen zu der Überzeugung gelangt, § 20a IfSG sei auf Grund aufgetretener neuer Tatsachen spätestens in der zweiten Hälfte 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen. Durch den Vorlagebeschluss vom 03.09.2024 (3 A 224/22) hat das Osnabrücker Gericht dem BVerfG nunmehr Gelegenheit gegeben, seine Entscheidung vom 27.04.2022, in der § 20a IfSG für verfassungsgemäß erklärt worden war, zu überprüfen. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Osnabrück belebt die dahinsiechende Corona-Aufarbeitung. Denn bisher war die Aufarbeitung unterblieben, auch wenn sie fortlaufend wortreich angekündigt wird. So schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 29.06.2024: „Aufarbeitung beginnt“. Am 13.07.2024 erklärte der jetzige Bundesgesundheitsminister Lauterbach (SPD) gegenüber der FAZ mit markigen Worten: „Wir drehen zu den Masken jeden Stein um“ – ohne erkennbare praktische Konsequenzen. Allein bei der Maskenbeschaffung wurden, wie der Bundesrechnungshof (BRH) belegt hat, ca. 10 Milliarden Euro an Steuergeldern „im Ergebnis ohne Nutzen für die Pandemiebekämpfung und damit ohne gesundheitspolitischen Wert“ verschleudert. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Aufarbeitungsverhinderer. Die FAZ findet etwa: Unrecht hin oder her: „Der Albtraum ist vorbei, das zählt.“ Jens Spahn (CDU), mehrfach befragt, sieht kein Fehlverhalten. Im Lichte heutiger Erkenntnisse rechtfertigten sich allenfalls kleinere Korrekturen. Die Parteien im Bundestag können sich nicht über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses einigen. Deshalb berichtet die FAZ am 09.10.2024, die Aufarbeitung der Pandemie durch den Bundestag sei „offenbar vom Tisch“. Stimmen werden laut, die ganze Sache in die nächsten Legislaturperioden zu verschieben und damit dem Vergessen auszuliefern. Ein prominenter Aufarbeitungsverhinderer ist der in Bonn Öffentliches Recht lehrende Klaus Ferdinand Gärditz, der den richtungsweisenden Osnabrücker Beschluss in der FAZ unqualifiziert und besonders polemisch angreift. Es handelt sich bei seiner Kritik um ein treffendes Beispiel, wie vom moralischen Hochsitz aus oder aus Ressentiment vergiftete Ansichten in die Öffentlichkeit getragen werden. Er beginnt mit Formalkritik. Das Verwaltungsgericht habe nicht einmal den § 31 BVerfGG zitiert. Daraus ergebe sich, dass die Entscheidung des BVerfG vom 27.04.2022 wie ein Gesetz für das Verwaltungsgericht bindend gewesen sei. Gärditz verkennt, dass § 31 BVerfGG im vorliegenden Fall überhaupt nicht einschlägig ist. Das Verwaltungsgericht lässt es dahingestellt sein, ob § 20a IfSG im April 2022 verfassungskonform gewesen ist. Es unterbreitet dem BVerfG einen durch Zeugenvernehmung und Inhalt der RKI-Protokolle aufgedeckten anderen Sachverhalt. Nach diesem neuen Sachverhalt ist der § 20a IfSG in der zweiten Hälfte 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen. Dem Verwaltungsgericht gelinge es nicht einmal, meint Gärditz, die Voraussetzungen für die Zulässigkeit darzustellen. Die Vorlage sei von „juristische(r) Schlampigkeit“ geprägt. „Der von Einseitigkeit gekennzeichnete Umgang mit dem Rechtsstoff grenzt an einen Missbrauch der Vorlagepflicht für einen rechtspolitischen Stunt mit billigem Vorführeffekt.“ Diese Vorwürfe schlagen auf Gärditz selbst zurück, wie durch genaueres Hinsehen belegt werden kann. Gärditz wirft dem Verwaltungsgericht vor, die Chronologie der Ereignisse im Jahre 2022 durcheinander zu „wirbeln“ und moniert: „Entscheidend war gewesen, ob der Gesetzesbeschluss im März 2022 auf vertretbarer Erkenntnisgrundlage erfolgte oder nicht. Dazu trifft das Verwaltungsgericht schon keine substantivierten [sic!] Feststellungen mehr.“ Gärditz scheint den Vorlagebeschluss nicht mit der erforderlichen Sorgfalt gelesen zu haben; sonst wäre ihm nicht entgangen, dass Feststellungen zum März 2022 nicht erforderlich waren. Der Vorwurf von Gärditz geht ins Leere, weil das Verwaltungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des § 20a IfSG bei dessen Erlass im März 2022 überhaupt nicht in Frage gestellt hat. Für die von dem Verwaltungsgericht geforderte konkrete Entscheidung ist allein von Bedeutung, ob § 20a IfSG beim Erlass des Betretungsverbots am 07.11.2022 noch verfassungskonform war oder nicht. Deshalb konzentriert sich das Verwaltungsgericht zu Recht darauf, herauszufinden, ob der möglicherweise beim Gesetzesbeschluss im März 2022 noch verfassungsgemäße § 20a IfSG bis zum 07.11.2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen ist. Der Vorwurf von Gärditz geht fehl und ist – mit den Worten von Gärditz gesprochen – ein Produkt juristischer Schlampigkeit. Bei dieser Arbeit ist das Verwaltungsgericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Gesetzgeber einer ihm obliegenden Normbeobachtungspflicht nicht nachgekommen sei. Entgegen der Vorgabe des BVerfG habe der Gesetzgeber § 20a IfSG nicht auf seine Wirksamkeit für das angestrebte Ziel im Blick behalten. Das Bundesverfassungsgericht präzisiert diese Normbeobachtungspflicht wie folgt: Bei einer nicht sicher einschätzbaren tatsächlichen Situation erfordert sie, „dass ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem In- und Ausland zu erfassen, auszuwerten und zu bewerten sind, fortlaufend hinterfragt und erforderlichenfalls angepasst werden“. Gärditz begründet seinen Vorwurf, der Vorlagebeschluss zeichne sich durch „juristische Schlampigkeit“ aus, auch mit der Anmerkung, die Vorlageentscheidung des Verwaltungsgerichts enthalte keine „Auseinandersetzung mit der Literatur und der fachgerichtlichen Rechtsprechung zum Infektionsschutzrecht in der Pandemie“. Dieses weit gefasste Thema mag für eine Seminarveranstaltung an der Universität Bonn geeignet sein und dort, wie Gärditz meint, „die rechtspraktische Bedeutung der politischen Prämissen der Gesetzgebung möglicherweise aufhellen“. Das Verwaltungsgericht hat sich für die fachgerechte Entscheidung des ihm unterbreiteten konkreten Falls nur mit den Expertenmeinungen auseinanderzusetzen, die das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung vom 27.04.2022 zugrunde gelegt hat. Gärditz’ Vorwurf, aus „juristischer Schlampigkeit“ sei diese Auseinandersetzung unterblieben, ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht ist sich bewusst, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 27.04.2022 die Verfassungsgemäßheit des § 20a IfSG bereits festgestellt hat. Gestützt auf BVerfGE 94, 315 (323) ist es jedoch der zutreffenden Ansicht, eine Richtervorlage sei trotzdem zulässig, wenn sich neue Tatsachen ergeben haben oder neue rechtliche Gesichtspunkte auftreten. Ob Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte neu sind, ist ausschließlich zu messen an dem Inhalt der Begründung des verfassungsgerichtlichen Beschlusses vom 27.04.2022 und, entgegen der Ansicht von Gärditz, nicht auf die Gesetzesentscheidung von § 20a IfSG im März 2022 auszudehnen. Das Bundesverfassungsgericht führt in seiner o.g. Entscheidung dazu aus: „Eine erneute Vorlage kommt dann in Betracht, wenn tatsächliche oder rechtliche Veränderungen eingetreten sind, die eine Grundlage der früheren Entscheidungen berühren und deren Überprüfung nahelegen.“ Die allein notwendige Erörterung der Grundlagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 27.04.2022 zur Impfpflicht konnte vom Verwaltungsgericht kurz gehalten werden, weil darin keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Literatur oder den Ansichten der maßgeblichen Institutionen stattgefunden hat. Das Bundesverfassungsgericht nennt dort neben dem ausschließlich entscheidungserheblichen RKI auch andere Institutionen. Was deren wissenschaftliche Positionen sind, wird aus der Entscheidung nicht ersichtlich. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich nicht mit den Expertenmeinungen auseinander. Wenn es Fachgesellschaften bzw. sogenannte Experten zitiert, erfolgt dies nur, um zum Ausdruck zu bringen, sie „schätzten die Situation ähnlich ein wie das Robert-Koch-Institut“. In keinem Fall ergibt sich aus diesen pauschal gehaltenen Verweisen etwas zu dem im konkreten Fall entscheidungserheblichen Fremdschutz durch Impfung. Bei den Zitaten einiger Institutionen geht es um vorhandene Impflücken oder die Anzahl und die Art der Meldungen von Nebenwirkungen, nicht jedoch um die Fremdschutzwirkung der Impfung. Ohne Auseinandersetzung mit Expertenmeinungen hierzu kann es auch keine Diskussion darüber geben. Es ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung unterlassene Auseinandersetzung mit verschiedenen wissenschaftlichen Auffassungen zum Fremdschutz durch Impfung nachzuholen. Das Bundesverfassungsgericht stellt, ohne wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung, schlicht fest, der Gesetzgeber habe sich auf die Datenerhebung und deren Bewertung durch das RKI und die ihm angegliederte Ständige Impfkommission verlassen und verlassen dürfen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich darauf verlassen. Nicht umsonst hat es deshalb wie selbstverständlich für seine Entscheidung fortlaufend die Lageberichte des RKI herangezogen. Das Bundesverfassungsgericht hat geglaubt, die Behauptung, eine Impfung habe einen wirksamen Fremdschutz zur Folge, beruhe auf einer wissenschaftlichen Bewertung und sei deshalb zwingend. Nach den Erkenntnissen des Verwaltungsgerichts Osnabrück ist das Bundesverfassungsgericht einer unbesehen übernommenen Falschinformation aufgesessen. Gärditz’ Vorwurf, das Bundesverfassungsgericht habe sich für seine Einschätzung ausschließlich auf das RKI gestützt, sei eine „Falschbehauptung“, entpuppt sich als haltlos. Gärditz meint, das Bundesverfassungsgericht werde die Vorlage des Verwaltungsgerichts Osnabrück als unzulässig verwerfen, weil es weder neue Tatsachen noch neue rechtliche Gesichtspunkte gebe, die eine Grundlage der Entscheidung vom 27.04.2022 berühren und deren Überprüfung nahelegten. So sei es nicht neu, dass das RKI der Fachaufsicht des Bundesgesundheitsministerium (BGM) unterliege. Das ist nicht zu bestreiten, stellt jedoch nur ein Ablenkungsmanöver dar. Was tatsächlich durch die von dem Verwaltungsgericht durch die Würdigung der durchgeführten Vernehmung des jetzigen Präsidenten des RKI und Bewertung der RKI-Protokolle als neu erkannt worden ist, soll mit einer Nebelkerze unkenntlich gemacht werden. Die sicher allen Beteiligten bekannte Fachaufsicht des BMG über das RKI spielt in der Begründung des Bundesverfassungsgerichts auch nicht ansatzweise eine Rolle. Es liegt offensichtlich außerhalb der Vorstellungskraft der Verfassungsrichter, dass gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht sprechende wissenschaftliche Erkenntnisse, sei es durch direkte Einflussnahme des BGM, sei es durch vorauseilenden Gehorsam des RKI, zurückgehalten worden sind. Das gilt ebenso für die Ungeheuerlichkeit, dass intern beim RKI gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse/Bewertungen der Öffentlichkeit nicht ungefiltert mitgeteilt worden sein könnten. Diese Tatsache eröffnet ein weites Feld für Spekulationen darüber, wem und zu welchem Zweck diese aufgedeckte Irreführung/Unlauterkeit gedient haben könnte. Zum Beleg verweist das Verwaltungsgericht überzeugend auf die Auswertung der RKI-Protokolle und die Zeugenaussage des jetzigen RKI-Präsidenten. Das Bundesverfassungsgericht sieht stattdessen – realitätsfremd – beim RKI das durch Wissenschaftler erarbeitete Fachwissen gebündelt. Diese arbeiten – so das Gericht gutgläubig – an der Bekämpfung von Infektionskrankheiten und der Analyse langfristiger gesundheitlicher Trends in der Bevölkerung zu deren Wohl. Dieses geballte Fachwissen des RKI und der diesem angeschlossenen Ständigen Impfkommission (STIKO) ist nach dem Bundesverfassungsgericht – tatsachenfern – im März 2022 ungefiltert in die Gesetzgebung zu § 20a IfSG eingeflossen. Dass diese Entscheidungsgrundlage unzutreffend ist, ist neu und legt es im Sinne der bereits zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 94, 315 (323)) nahe, die Entscheidung vom 27.04.2022 zu überprüfen. Gärditz gibt sich jedoch nicht mit dem ein Ablenkungsmanöver darstellenden Hinweis der Fachaufsicht des BMG über das RKI zufrieden. Er kann nicht umhin zu konstatieren, dass die RKI-Protokolle und die Aussage des Zeugen hinsichtlich der Fremdschutzwirkung der Impfung zeigten, wie „ernüchtert“ die Mitarbeiter gewesen seien. Man „habe die Schutzwirkung der Impfung relativiert“ und es hätten dort deshalb „Unsicherheit und berechtigte Zurückhaltung“ überwogen. Diese neue, bisher auch dem Bundesverfassungsgericht unbekannte Lageeinschätzung beim RKI hält Gärditz nicht davon ab, undifferenziert zu behaupten: „Tatsächlich ging auch das RKI von einer Fremdschutzwirkung der Impfung aus, also von einer evidenzbasiert geringeren Ansteckungswahrscheinlichkeit Dritter.“ Beim RKI hat man, nach den Protokollinhalten, der Impfung keine Fremdschutzwirkung beigemessen, schon gar nicht eine evidenzbasierte. Das RKI hatte überhaupt keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber, ob die Impfung Fremdschutz entfaltete. Dies ist entgegen der Ansicht von Gärditz eine weitere neue Tatsache, die die Überprüfung der Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht geradezu notwendig macht. Die Neuheit ergibt sich aus der sachkundigen Aussage des jetzigen Präsidenten des RKI. Nach dieser Bekundung fand beim RKI nicht einmal ein Monitoring der Effektivität der implementierten Maßnahmen bezogen auf die bezweckte Reduzierung der Infektionsfälle vulnerabler Personen in Pflegeeinrichtungen statt. Lediglich die Impfquote in den Einrichtungen sei beobachtet worden, bekundete der Zeuge, was natürlich über die Effektivität der Impfung in Bezug auf den Gesetzeszweck (Fremdschutz vulnerabler Personen) nichts aussagt. Selbst Gärditz hält fest: „Zulassungen von Impfstoffen erfolgten aufgrund ihrer Wirksamkeit bei den Geimpften. (…) Der Schutz Dritter ist grundsätzlich nicht Gegenstand klinischer Arzneimittelprüfungen.“ Die Aussage des Präsidenten des RKI geht noch darüber hinaus. Nach seiner Bekundung war schon im Jahre 2022 bekannt, dass der überwiegend verwendete Impfstoff von BioNTech/Pfizer überhaupt nicht zum Fremdschutz zugelassen worden war. Dennoch wurde lange Zeit der Fremdschutz durch Impfung als zwingend, da wissenschaftlich belegt, der Öffentlichkeit dargestellt. Zweifler wurden als Corona-Leugner oder Verschwörungstheoretiker an den Pranger gestellt. Die von dem Verwaltungsgericht zitierten Protokollauszüge bestätigen das völlige Fehlen evidenzbasierter wissenschaftlicher Erkenntnisse betreffend die Fremdschutzwirkung der Impfung. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht mit ihren allseits anerkannten gravierenden und teilweise irreparablen menschlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen wurde im Blindflug durchgesetzt. Auch das Wissen über die fehlende Zulassung für den Fremdschutz hielt das RKI nicht davon ab, den vulnerablen Personen eine Scheinsicherheit vorzugaukeln und gleichzeitig Impfgegnern unter dem Pflegepersonal die Berufsausübung zu entziehen. Die platte Behauptung von Gärditz, das RKI sei von einer evidenzbasierten Drittwirkung der Impfung ausgegangen, ist nach all dem ein Beispiel dafür, wie wegen subjektiver Voreingenommenheit Ansprüche an Wissenschaftlichkeit und Objektivität erodieren. Die beim RKI vorherrschende Unkenntnis über einen Drittschutz der Impfung erschüttern die Grundlagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.04.2022 und erfordern deren Überprüfung. Diese und alle anderen aufgezeigten neuen Tatsachen begründen einen Anspruch auf Überprüfung der Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung über die einrichtungsbezogene Impfpflicht daraufhin, ob die Überzeugung des Verwaltungsgerichts Osnabrück, § 20a IfSG sei schon vor dem am 07.11.2022 gegen die Klägerin ausgesprochenen Betretungsverbot in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen, zutreffend ist oder nicht. Der rechtlichen Bewertung des Vorlagebeschlusses durch Gärditz „fehlt (es) an juristisch-handwerklicher Sorgfalt“. Sie ist gekennzeichnet von „juristische(r) Schlampigkeit“. Ob die „juristische Schlampigkeit“ auch von der Überzeugung getragen ist, die Corona-Aufarbeitung zu erschweren, entzieht sich den Erkenntnismöglichkeiten des Verfassers. Rückschlüsse auf die Einstellung von Gärditz zu dem Problemkreis mag der Leser selbst ziehen aus dessen Verfassungsblog-Beitrag vom 24.01.2022. Auch heute noch abrufbar heißt es dort: „Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) steht allen Menschen gleichermaßen zu und die körperliche Integrität von Angehörigen des vermeintlichen ‚Mainstreams‘ ist normativ nicht weniger wert als die körperempfindsamer Impfverweigerer. Letztere setzen aber die Körper anderer signifikant erhöhten Belastungen und Risiken aus. Aufwändige Operationen werden verschoben, was für Betroffene mit schwerem Leid – von Krebs bis Endometriose – erhebliche Beeinträchtigungen in der körperlichen Lebensführung bedeutet (…). Und wenn es zur Triage kommt, kann die Widerstandsromantik der Impfverweigerer andere Menschen Leben kosten. Solidarität nach dem Motto: ‚Du darfst für meinen Glauben sterben?‘. Hier werden nicht soziale Freiheitsrisiken rational ausgehandelt, sondern unzählige Menschen den subjektiven Phantasmen bizarrer Esoterik geopfert (…) ein Radikalliberalismus, der ohne Rücksicht auf Verluste die Gesellschaft postmoderner Beliebigkeit gefühlter Wahrheit ausliefert.“
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Manfred Kölsch
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Der Jurist Klaus Ferdinand Gärditz argumentiert in der „FAZ“, warum ein Verwaltungsgericht in seiner Auffassung irrt, die einrichtungsbezogene Impfpflicht sei mit der Zeit verfassungswidrig geworden. Seine Kritik zeigt, wie vergiftete Ansichten in die Öffentlichkeit getragen werden.
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"Corona",
"RKI-Files",
"Rechtsstaat",
"Corona-Impfung"
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innenpolitik
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2024-11-01T11:51:46+0100
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2024-11-01T11:51:46+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/kniefall-vor-der-corona-politik
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Migration in Arbeitsmarkt - Eckpunkte für Fachkräfte-Einwanderung beschlossen
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Die Bundesregierung will die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland deutlich erleichtern, um gegen den teils sehr tiefgreifenden Fachkräftemangel vorzugehen. Dafür hat das Kabinett am Mittwoch ein Eckpunktepapier verabschiedet. Es sieht unter anderem vor, dass anerkannte ausländische Fachkräfte künftig auch in Berufen arbeiten können sollen, die mit ihrer Ausbildung nichts oder wenig zu tun haben. Ein Mechaniker könnte etwa als Lagerist oder eine Polizistin als Kellnerin angeworben werden. Berufserfahrung soll bei der Erteilung eines Arbeitsvisums stärker berücksichtigt werden. Die Anerkennung des im Herkunftsland erworbenen Abschlusses muss nicht zwingend vor der Einreise erfolgen. Ein ganz neues Feld betritt die Ampel-Koalition mit der Idee, Nicht-EU-Ausländern über ein Punktesystem die Möglichkeit zu geben, zur Arbeitsplatzsuche nach Deutschland umzusiedeln. In den zwischen den Ministerien abgestimmten Eckpunkten heißt es: „Zu den Auswahlkriterien können Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter gehören.“ Vor allem zu diesem Punkt sind, bis ein Gesetzentwurf vorliegt, noch Diskussionen zwischen SPD, FDP und Grünen zu erwarten. Etwa: Wie viele Punkte gibt es für welches Sprachniveau? Und wie lässt sich der „Deutschlandbezug“ nachweisen? Hintergrund ist hier die Überlegung, dass Integration häufig besser verläuft, wenn man schon mehrere Reisen in das Land unternommen hat, bei einem deutschen Arbeitgeber im Ausland angestellt ist oder Verwandte bereits in Deutschland leben. Ob diese Verwandten selbst auch arbeiten müssen, gehört zu den Fragen, die noch nicht geklärt sind. Die erleichterte Arbeitskräfte-Einwanderung ist Teil eines Pakets von Gesetzesvorhaben zur Asyl- und Migrationspolitik, die bis zum Jahresende verabschiedet oder zumindest auf den Weg gebracht werden sollen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will bald einen Gesetzentwurf ins Kabinett bringen, der die Einbürgerung erleichtert. An diesem Freitag soll der Bundestag über das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht abstimmen. Es soll gut integrierten Ausländern, die schon mehrere Jahre ohne gesicherten Status in Deutschland leben, eine Perspektive bieten. Wer zum Stichtag 31. Oktober 2022 fünf Jahre im Land lebt und nicht straffällig geworden ist, soll 18 Monate Zeit bekommen, um die Voraussetzungen für einen langfristigen Aufenthalt zu erfüllen. Dazu gehören etwa Deutschkenntnisse und die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts. Nach den Eckpunkten soll das Ampel-Kabinett im ersten Quartal 2023 auch die entsprechenden Gesetzentwürfe absegnen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte dem SWR-Hauptstadtstudio: „Das Gesetz wird im nächsten Jahr beschlossen werden (...) und ich will, dass wir spätestens 2025 – und das ist nicht mehr lange hin – die Erfolge dieses Gesetzes auch am Arbeitsmarkt sehen.“ Zustimmung kommt unter anderem aus der Wirtschaft. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) forderte aber Nachbesserungen etwa bei der Gehaltsgrenze und der Anwerbung von Auszubildenden aus dem Ausland. „Hierzu enthält das Eckpunktepapier noch recht wenig. Bei der wachsenden Zahl unbesetzter Ausbildungsplätze in Deutschland müssen wir noch pragmatischer werden, um verstärkt Auszubildende aus Drittstaaten zu gewinnen“, sagte der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks der Rheinischen Post. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer forderte derweil eine Neuausrichtung der Ausländerbehörden und der deutschen Botschaften im Ausland. „Die Ausländerbehörden müssen ,Welcome-Center‘ werden, Visa müssen schneller erteilt werden. Sonst kommen die Leute nicht, zumal Deutschland ja ohnehin nicht den allerbesten Ruf als Einwanderungsland hat“, so Wollseifer. Das könnte Sie auch interessieren: Deutschland sei in den kommenden Jahren auf Zuwanderung angewiesen, sagte auch die geschäftsführende Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Catherina Hinz, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Die Babyboomer gehen in Rente, und die Zahl der Menschen im Erwerbsalter schrumpft – laut einer Prognose des Berlin-Instituts von heute etwa 50 Millionen um rund zwölf Prozent auf 44 Millionen im Jahr 2035.“ Um den prognostizierten Arbeitskräftebedarf geradeso zu decken, brauche es eine jährliche Zuwanderung von mindestens 260.000 Menschen. „Da die Hauptherkunftsländer in der EU ähnliche demografische Entwicklungen erleben wie Deutschland, wird die EU-Zuwanderung aller Voraussicht nach zurückgehen“, sagte Hinz. „Zuwanderung aus Drittstaaten wird an Bedeutung gewinnen.“ Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) begrüßt die Pläne der Bundesregierung zur vereinfachten Einwanderung von Fachkräften. Deutschland gingen bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte verloren, der Verlust müsse durch Maßnahmen im In- und Ausand ausgeglichen werden. „Auch wenn beim inländischen Potenzial alle Hebel greifen, wird das nicht reichen“, sagte BA-Vorstandsmitglied Vanessa Ahuja der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Ergänzend zu den inländischen Anstrengungen brauche es ausländische Arbeits- und Fachkräfte, damit der deutsche Arbeitsmarkt weiterhin gut funktioniere. „Alles was hilft, den Zuzug von Arbeits- und Fachkräften zu erleichtern, ist wichtig“, betonte Ahuja. Das Einwanderungsrecht müsse moderner, schneller, unbürokratischer und flexibler werden. Unterstützung bekommt die Bundesregierung derweil auch von Jörg Hofmann, dem Vorsitzenden der IG-Metall. Er sagte der dpa: „Als Gesellschaft profitieren wir davon, wenn qualifizierte Arbeitskräfte nach Deutschland kommen.“ Kritik kommt weiterhin unter anderem von der Union. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, erteilte dem angepeilten Punktesystem eine Absage. Man brauche mehr Fachkräfte, räumte derweil CDU-Chef Friedrich Merz am Mittwoch zwar im „Morgenmagazin“ des ZDF ein. Deutschland schöpfe aber die vorhandenen Potenziale nicht aus, kritisierte er. Merz verwies darauf, dass in der EU Arbeitnehmer-Freizügigkeit gelte, die Bedingungen hierzulande aber wegen der Bürokratie und hohen Steuern nicht gut seien. Zudem warteten im Ausland Tausende Menschen auf Visa für Deutschland. „Das Potenzial ausschöpfen wäre der erste Schritt“, sagte Merz. Im Zug dessen müsse man auch über die Anerkennung von Berufsabschlüssen sprechen. Nur hätten viele Zugewanderte keinen und seien für den Arbeitsmarkt „einfach nicht verwendbar“. Merz weiter: „Wir bekommen nach Deutschland viele Menschen, die hier im Arbeitsmarkt nicht unterzubringen sind. Und die, die wir brauchen, wollen nicht kommen.“ Merz machte in Richtung Koalition deutlich, dass die Union offen für Diskussionen und gute Argumente sei. CDU und CSU wollten helfen, dass sich die Fachkräfte-Situation verbessere. Ein erster Schritt wäre aber, jene, die schon in Deutschland sind, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sieht die deutsche Sprache als Voraussetzung für die Erwerbsmigration. „Man muss aber schon sehen, es müssen auch wirklich die Fachkräfte sein, die müssen unsere Sprache sprechen können“, sagte der CSU-Politiker am Mittwoch in der Sendung „Frühstart“ von RTL/ntv. „Die müssen dann tatsächlich auch arbeiten, denn wir haben auf der anderen Seite aktuell auch rund eine Million arbeitslose Ausländer in unserem Land“, fügte Herrmann hinzu. Und weiter: „Wir wollen keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, sondern tatsächlich Arbeitskräfte, die mithelfen.“ Im Streit über eine Reform des Einbürgerungsrechts argumentierte Grünen-Chef Omid Nouripour unterdessen ebenfalls mit der Attraktivität Deutschlands für ausländische Fachkräfte. „Viele Unternehmen finden schon jetzt kaum noch Fach- und Arbeitskräfte und die Lücke wird in den nächsten Jahren noch größer werden“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. „Wir konkurrieren weltweit um die klügsten Köpfe und müssen ihnen eine Perspektive in Deutschland anbieten. Die Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts ist daher überfällig.“ Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Am Mittwoch hat das Kabinett Eckpunkte zur Zuwanderung von Fachkräften verabschiedet. Zustimmung kommt unter anderem aus der Wirtschaft, Kritik weiterhin von der Union.
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innenpolitik
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2022-11-30T10:43:36+0100
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2022-11-30T10:43:36+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/migration-arbeitsmarkt-eckpunkte-fachkrafte-einwanderung
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Groko - Bleiben oder gehen?
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Die deutschen Wähler scheinen sich in einer Art lethargischem Zustand zu befinden. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa ist die Große Koalition bei den Befragten zwar unten durch und zu schwach, um zu überzeugen, aber zugleich auch zu stark, um hinweggefegt zu werden.
Vier von zehn Befragten sind dagegen, dass die SPD aus der Groko austritt (40 Prozent). Jeweils jeder Vierte ist für einen Groko-Austritt der SPD (27 Prozent). Ebenfalls jeder Vierte (24 Prozent) weiß nicht, wie er dazu stehen soll.
Einen SPD-Austritt befürwortet man im Osten Deutschlands etwas häufiger als im Westen (30 zu 26 Prozent). Die SPD-Wähler selbst sind zu 19 Prozent für einen Austritt der von ihnen gewählten Partei aus der Groko und zu 60 Prozent dagegen. Die Wähler des Koalitionspartners sind zu 15 Prozent für einen Austritt und zu 67 Prozent dagegen. Mehrheitlich befürwortet wird ein Austritt der SPD aus der Groko von den AfD-Wählern (60 Prozent, 15 Prozent Ablehnung). Häufiger dafür als dagegen sind auch die FDP-Wähler (41 zu 40 Prozent) und die Linke-Wähler (44 zu 36 Prozent). Grünen-Wähler sind zu 46 Prozent dagegen und zu 26 Prozent dafür.
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Cicero-Redaktion
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Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa wünscht sich jeder vierte Befragte, dass die SPD aus der Großen Koalition austritt. 40 Prozent hingegen wollen, dass die Sozialdemokraten mit der CDU weiterregieren
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innenpolitik
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2019-12-17T17:18:20+0100
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2019-12-17T17:18:20+0100
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Impeachment - Ein sehr amerikanischer Film
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Die Politik steht immer vor derselben Herausforderung: Wie kann sie den Wählern einen komplizierten und langwierigen politischen Vorgang so vermitteln, dass die Wähler das von der jeweiligen politischen Seite gewünschte Fazit in sich aufnehmen? Natürlich mit Hilfe der passenden Inszenierung. Und welche Form der Inszenierung ist amerikanischer als der Film? Die Rollenverteilung im amerikanischen Film ist bekanntlich simpel, aber effektiv: Auf der einen Seite die Guten, auf der anderen Seite die Bösen, und letztendlich obsiegt das Gute über das Böse. Aus der Perspektive seiner Anhänger folgte sogar bereits Donald Trumps Aufstieg zum Präsidenten einem beliebten Drehbuch: Der politische Außenseiter, der es mit der Korruption im Washingtoner Sumpf aufnehmen will und deshalb vom scheinbar übermächtigen politischen Establishment an den Rand gedrängt wird, nur um am Wahltag das Unmögliche möglich zu machen und zu triumphieren – eigentlich erstklassiges Material für Amerikas Filmschmieden, wäre der betreffende Kandidat nicht für die „falsche“ Partei angetreten. Doch seitdem haben die Demokraten das Drehbuch an sich gerissen und versuchen, der Geschichte eine Wende zu geben. Ihr erstes Werk, die Mueller-Ermittlungen, machten im übertragenden Sinne zwar ordentlich Kasse, gingen dann aber bei den renommierten Preisverleihungen unerwarteterweise leer aus. Nach diesem Flop soll die Neuauflage unter dem Titel „Impeachment“ es jetzt richten, wie auch der konservative Kommentator und talentierte Schriftsteller Andrew Klavan es beschreibt. Das Budget soll größer, das Skript wasserdichter, die Produktion hochwertiger und die Vermarktung noch effektiver sein. Die (hypothetische) Verbindung der zurückgehaltenen Militärhilfen mit dem Kriegsgeschehen in der Ost-Ukraine ist dabei wie geschaffen, um der Handlung etwas echtes menschliches Leid hinzuzufügen, was sich bekanntermaßen bestens verkauft. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Frontmann der Demokraten im Impeachment-Vorgang, der Kongressabgeordnete Adam Schiff, gelegentlich als Drehbuchautor tätig gewesen ist – wenn auch mit bescheidenem oder „kleinem“ Erfolg. Die Republikaner schicken dagegen „Der Coup, Teil 2“ ins Rennen. In dieser Fortsetzung, die mit anderen Darstellern bereits unter dem Titel „Das Imperium schlägt zurück“ vertrieben wurde, haben sich die Mächte des Bösen – sprich: die Demokraten – nach ihrer überraschenden Niederlage neu formiert, um dem Helden seinen legitimen Sieg doch noch streitig zu machen. Dabei schrecken sie natürlich vor keiner gemeinen Falle und Hinterhältigkeit zurück. Wer bereits in Teil 1 mit dem Helden mitgefiebert hat, wird nun umso mehr Anteil an seiner Rebellion nehmen. Unnötig zu erwähnen, dass die Konsumenten deutscher Medien nur den Film aus der demokratischen Produktion zu sehen bekommen, welcher hierzulande unter Titeln wie „Es wird eng für Donald Trump“ und „Schockwellen ins Weiße Haus“ vermarktet wird. Amerikanische Politik ist dabei für deutsche Leser glücklicherweise immer noch aufregend genug, dass kaum auffällt, dass zu diesem Film bereits mehr Fortsetzungen als im Marvel-Universum existieren, ohne dass sich Skript und Charaktere wesentlich ändern. Doch solange nur die Spezialeffekte weiter aufgewertet werden und ein „epischer“ Spannungsbogen in der Handlung existiert, ist der Durchschnittskonsument glücklich. Das, was den Konsumenten nicht interessieren muss, verschweigt der politische Kommentator fahrlässiger Weise dabei zu oft: Ein Film überzeugt durch seine Story, die er zum Leben erweckt, nicht durch den Wahrheitsgehalt dieser Story. Das politische Filmformat hat den Vorteil, dass es nur lose an Fakten gebunden ist. Letztere sind hilfreich, wenn sie der Inszenierung dienen, ansonsten nicht. Wer nur die Ticker-Meldungen der Nachrichtenagenturen verfolgt, liest die Aussagen von Berufsaußenpolitikern, die ihre Besorgnis und Empörung darüber ausdrücken, wie ein neuer amerikanischer Präsident, der die Nützlichkeit gewisser politischer Normen nicht anerkennt, Außenpolitik betreibt. Was sich dagegen in diesen Meldungen nicht wiederfindet, sind tatsächliche negative Konsequenzen dieser unorthodoxen Form der Außenpolitik. Gute Filme sind deswegen erfolgreich, weil es ihnen gelingt, die Gefühlswelt der Zuschauer gezielt zu manipulieren. Die Zuschauer des demokratischen Films werden dazu verleitet, negative Assoziationen zu Trump zu entwickeln oder zu bestärken, während das republikanische Publikum emotional noch stärker an den Präsidenten gebunden werden soll. Die unzähligen Videoausschnitte aus den Impeachment-Anhörungen, die beide politischen Seiten unter ihren Twitter-Anhängern zirkulieren lassen, verfolgen genau diese Absicht. Die Flexibilität der Fakten zeigt sich auch darin, dass parallel zum fortgeschriebenen Impeachment-Film sowohl Demokraten als auch Republikaner das betreiben, was im Englischen „shifting the goalposts“ genannt wird – das Versetzen der Torpfosten zu den jeweils eigenen Gunsten, während das Spiel noch läuft. Die Republikaner tun sich dabei sichtlich schwer, Trumps „perfektes“ Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj als ebensolches zu verteidigen, weshalb sie noch nach dem besten „Reframing“ suchen – nach einer Umdeutung des Vorgangs. Dabei scheint sich die Interpretation durchzusetzen, dass Politiker verschiedener Staaten immer auf Grundlage eines „quid pro quo“, also in Erwartung einer Gegenleistung, miteinander kommunizieren würden und dass Aufklärung über mögliche korrupte Aktivitäten von Joe und Hunter Biden in der Ukraine auch im nationalen Interesse der USA gelegen hätte. Die Demokraten dagegen haben Schwierigkeiten, das exakte Verbrechen zu benennen, das Trump mit Blick auf die Ukraine ihrer Auffassung nach begangen haben soll. Deshalb verweisen sie darauf, dass ein konkretes Verbrechen für eine Amtsenthebung gar nicht notwendig sei. Dabei kommt ihnen die Unschärfe der amerikanischen Verfassung in diesem Punkt entgegen. Ob dieses interaktive und live übertragene Theater am Ende den Ausgang der Wahl 2020 merklich beeinflussen wird, ist nur schwer abzuschätzen. Fest steht nur eines: Dieser Wahlkampf ist ein Überzeugungswahlkampf, es geht mehr um Emotionen als um Fakten. Das verschafft den Demokraten derzeit noch einen leichten Vorteil. Inhaltlich nutzt ihnen das Theater um Trump aber nichts. Im Gegenteil: Es könnte ihren eigenen Kandidatenhttps://www.sueddeutsche.de/politik/trump-usa-demokraten-praesident-1.4309172 sogar noch die Show stehlen. Angesichts dieser Unwägbarkeiten mag mancher deutscher Politiker dafür dankbar sein, dass das Budget für politische Inszenierungen hierzulande gerade so für eine Episode von „Bauer sucht Frau“ ausreichen würde.
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Andreas Backhaus
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Nach ihrer peinlichen Niederlage in der Mueller-Affäre inszenieren die Demokraten das Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump als Hollywood reifes Spektakel. Doch taugt das Impeachment als Waffe im Präsidentschaftswahlkampf?
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außenpolitik
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2019-11-14T13:51:28+0100
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2019-11-14T13:51:28+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/impeachment-us-praesident-donald-trump-demokraten-robert-mueller
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Gemüse-Bürgertum - Veganer sind moralische Totalitaristen
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Ein Gespenst geht um in den deutschen Medien: der Veganismus. Plötzlich scheint es kein anderes Thema mehr zu geben. Halb Deutschland, so hat man den Eindruck, lässt plötzlich nicht nur Bratwust und Fleischpflanzerl links liegen, sondern gleich auch noch Latte Macchiato und Schokoeis. Selbst Haustiere werden schon, glaubt man einem Online-Bericht, vegan gefüttert. Und wehe, Miezi erlegt nachts eine Maus. Sich Gedanken über Ernährung zu machen, ist ein Privileg. Über Jahrtausende waren die allermeisten Menschen froh, überhaupt etwas zu essen zu haben – und für zu viele Menschen gilt das auch heute noch. Andererseits haben Menschen, sobald sie den dringendsten ökonomischen Sorgen enthoben waren, stets damit begonnen, ihre Nahrung zu verfeinern. Die Speisepläne der Oberschichten der frühen Hochkulturen legen davon beredtes Zeugnis ab. Der Versuch, sich delikater, exklusiver oder auch nur ausgefallener beziehungsweise „anders“ zu ernähren, ist daher mindestens ebenso ein Zeichen menschlicher Kultur wie Literatur, Theater, Musik oder andere Kulturtechniken – man braucht sie nicht zum Überleben, sie machen das Leben aber schöner und lebenswerter. Und sie stiften Identität. Kultur ist Luxus. Insofern ist der Vorwurf der Dekadenz gegenüber kulturellen Errungenschaften wohlfeil. Wer ihn pauschal erhebt, huldigt einem Primitivismus, der jede Form der Verfeinerung, der Raffinesse, des Schönen und damit letztlich auch Überflüssigen nicht nur als degeneriert ansieht, sondern vor allem auch als unmoralisch. Kulturverachtung im Namen irgendeiner Ethik hat allerdings Tradition. Man darf annehmen: seitdem es Kultur gibt. Vermutlich hat auch schon irgendein steinzeitlicher Grieskram gegen das Garen von Fleisch gewettert, als der erste Spieß über ein Feuer gehalten wurde. Das Kernargument gegen jede Form kultureller Verfeinerung hat sich seit jenen prähistorischen Zeiten – so dürfen wir annehmen – kaum geändert. Es lautet: Entfremdung. Kultur und Veredlung entfremden den Menschen von der Natur und von sich selbst. Nun ist im Vergleich zu veganer Ernährung jeder Big Mac ein total authentisches Lebensmittel. Die Veganerbewegung kann daher nur schwer für sich in Anspruch nehmen, besonders „natürlich“ zu sein. Zugleich will man auf dieses in ökologisch bewussten und hochgradig nachhaltigen Zeiten so wertvolle Attribut nicht verzichten. Als künstlich und artifiziell möchte man schon gar nicht gelten – selbst wenn man es ist. Aus diesem Grund hat sich im veganaffinen Milieu eine Art höherer Naturbegriff entwickelt. Als natürlich gilt nicht das Ursprüngliche, sondern das ethisch Gebotene. Denn die natürliche Natur ist schlecht: hier herrscht in der Regel Mord und Totschlag allein aus dem perfiden Motiv der eigenen Lebenserhaltung. In der veganen Natur hingegen grast der Löwe neben dem Lämmlein, die Affen greifen nur zu Bananen, die freiwillig vom Baum fallen, und auch der Mensch ernährt sich ausschließlich von Fallobst, auf dass keinem Lebewesen ein Haar oder auch nur ein Ästchen gekrümmt werde. Das Ganze grenzt natürlich an Irrsinn. Allerdings ist es die logische Konsequenz unseres postmodernen Wohlstandsökologismus. Denn leider ist aus ökologischer Perspektive nicht einmal die Natur so richtig ökologisch: Tierarten sterben aus, das Klima wandelt sich auch ganz ohne Menschen so erheblich, dass es in Mitteleuropa von Wüsten bis zu riesigen Gletschern schon alles gab, Vulkane verwandeln blühende Haine in marsähnliche Landschaften – es ist ein Grauen. Konsequenterweise muss man daher die Natur vor sich selber schützen. Dass das allerdings mit der Lehre vom Haushalt der Natur sehr wenig und mit Anthropozentrismus sehr viel zu tun, lässt die Jünger des Veganismus vollkommen ungerührt. Das wiederum liegt daran, dass es dieser Bewegung auch darum geht, ethische und ästhetische Normen gegeneinander auszuspielen. Ernährung, genauso wie Kleidung, Literatur oder Musik, hat zunächst einmal etwas mit Geschmack zu tun. Menschen essen, hören, lesen und ziehen an, was ihnen gefällt, was ihnen Spaß macht und Wohlbefinden bereitet. Ethische Normen spielen da erst einmal keine Rolle. Das Schöne ist ethikfrei – zum Glück. Vegetarismus und seine Extremform Veganismus versuchen hingegen, das Ästhetische, den Genuss zu moralisieren. Das geht am einfachsten dadurch, dass man sich darüber echauffiert, dass es überhaupt Menschen gibt, für die es neben ethischen Normen auch noch andere Maßstäbe des Handelns gibt – ästhetische zum Beispiel. Ethischen Normen nicht die allerhöchste und alleinige Priorität einzuräumen, gilt in diesen Kreisen als moralischer Hochverrat. Diese Ideologen einer lupenreinen ethischen Lebensführung übersehen allerdings, dass kaum etwas unmoralischer ist als moralischer Totalitarismus. Eine Ethik, die nicht zu ihrer Karikatur verkommen will, muss auch immer in der Lage sein, sich selbst zu relativieren. Ethik, die sich absolut setzt, ist keine Ethik mehr. Im Grunde ist der Veganismus nichts anderes als eine besonders bizarre Mischung aus Wohlstandsdekadenz und Hypermoralismus. Dass sie im Alltag keine Rolle spielt, stimmt daher hoffnungsfroh. Selbst optimistische Studien kommen auf bestenfalls 0,5 Prozent Veganer. Glaubt man hingegen den Medien, werden wir gerade von einer Welle des Veganertums erfasst, veröden die Milchregale in den Supermärkten, schimmeln Tonnen von Käse in den Kühlregalen und vergammeln ganze LKW-Ladungen von Hühnereiern. Das ist zwar Blödsinn, erinnert aber mal wieder daran, wie Medien funktionieren. Die interessieren sich naturgemäß für das Abartige, Bizarre und Absonderliche. Wenn es dann auch noch scheinbar an einen Trend wie halbwegs gesunde Ernährung anschließbar ist, umso besser. Fertig ist der neue Hype. Traurig nur, dass jetzt auch schon harmlose Hauskatzen darunter leiden müssen.
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Alexander Grau
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In der urbanen Bürgerschaft grassiert der Trend zum Veganismus. Die Anhänger geben sich als übertriebene Moralisierer: Für sie ist allein die Tatsache, dass der Mensch lebt, unerhört
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kultur
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2014-05-04T13:46:47+0200
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2014-05-04T13:46:47+0200
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https://www.cicero.de//kultur/veggie-kult-gemuese-buergertum-veganer-sind-moralische-totalitaristen/57512
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Abschied vom Neurosenkavalier
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Die Wahl der Ehefrau wurde von manchem großen Künstler zu wenig durchdacht. Besitzt die prospektive Witwe doch die Macht, der Welt nach seinem Tod zu erklären, wer und wie er eigentlich war. Hervorragend gelang das der mitteilungsfreudigen Alma Mahler-Werfel, geborene Schindler. Ihr verdanken wir das Gustav-Mahler-Bild vom unerträglich nervösen Mann, der an den Nägeln biss, „psychisch impotent“ war und mit seiner Frau nur Liebe machen konnte, indem er sie im Schlaf überfiel. Von Ehrgeiz und Eifersucht zerfressen, zur Rastlosigkeit verdammt, außerstande, das sinnliche Leben auszukosten. „Kein Genießen! Niemals Ausruhen!“, stöhnte die Gattin. Auch die Ursache dieser Probleme diagnostizierte sie sehr bestimmt: „Ahasverismus“. Mahler war für sie der ewige Jude, Wiedergänger Ahasvers, der nirgendwo heimisch und daher zwangsläufig neurotisch wird. Wie gut dieses Bild sich hält, wie emsig es kolportiert wird, ist unübersehbar.„Gustav Mahler, seines Zeichens Neurotiker“ heißt das dem Komponisten und Wiener Hofoperndirektoren gewidmete Kapitel in „Klassische Musik für Dummies“ aus dem Jahr 2008. David Pogue, der Verfasser, hat in Yale Musik studiert und wird als Kolumnist der New York Times und als Bestsellerautor geschätzt. Mahlers Kollegen und Freund Richard Strauss verkauft er den Lesern als einen „nüchternen, ausgeglichenen“ Rosenkavalier – uneingedenk der Tatsache, dass Strauss eine Sängerin heiratete, die ihm zuvor mit einer Partitur auf den Schädel gedroschen hatte, nur durch Juwelen zu sedieren war und deren fortgesetzte verbale und tätliche Übergriffe er mit dem Satz „Ich brauch’ des“ kommentierte. Doch neben diesem entsetzlich netten Strauss scheint Mahler als Neurosenkavalier besonders einprägsam zu wirken. Er hat sich immer am besten verkauft, wenn man ihm das antisemitisch gefärbte Etikett des dekadenten Künstlers aufklebte. Die selbstredende Verfemung Mahlers unter den Nationalsozialisten verklebte selbst 1971 noch die Gehörgänge, als Luchino Visconti mit seiner Verfilmung von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ Mahler schlagartig populär machte. Mann hatte von Mahler nur dessen Vornamen für seinen Protagonisten Gustav Aschenbach entlehnt und, wie ein Zeitungsfoto aus seinem Besitz belegt, dessen Gesichtszüge auf ihn übertragen. Visconti hingegen machte aus dem sterbenden Dichter einen Komponisten. Zwar erklärte er: „Nichts wäre unbegründeter, als eine noch so partielle Identifikation zwischen Gustav Aschenbach und Gustav Mahler herauszuarbeiten.“ Das Erfolgsgeheimnis des Films war jedoch eben diese Identifikation. Suggeriert wurde sie unter anderem durch die Wahl der Filmmusik: Sechsmal erklang das Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie, und während Aschenbach inspiriert wurde zu einem neuen Werk, war das Misterioso der Dritten zu hören. Der Protagonist und seine Musik vermittelten sich so, wie der Dirigent Pierre Boulez das Mahler’sche Werk einmal beschrieben hatte: „degeneriert“ und „reif für den Schlaganfall durch expressiven Überdruck“. Drei Jahre nach Visconti drehte Ken Russell in seinem Film „Mahler“ noch weiter auf. Er zeigte den Komponisten als ein Wesen am Rande des Nervenzusammenbruchs, von perversen Schreckensfantasien sexueller und sadistischer Art heimgesucht. Und im vergangenen Jahr widmeten sich gleich zwei neue Filme einem ähnlichen Thema. Beide haben dieselbe biografische Episode zur Grundlage: Der Neurotiker Mahler sucht während einer dramatischen Ehekrise Sigmund Freud in der Sommerfrische auf, sinnigerweise im niederländischen Leiden. Versucht der französische Regisseur Pierre-Henry Salfati dem Komponisten in „Mahler – In gemessenem Schritt“ durch Indiskretion nahezukommen, versuchen es Percy und Felix Adlon in „Mahler auf der Couch“ durch Humor. Damit wurden Letztere die Überraschungssieger, hatte Alma doch das Bild eines humorbereinigten Mannes gepinselt, vor allem in Gesellschaft. „Er verbreitete dann eine Atmosphäre um sich herum“, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „als läge eine Leiche unter dem Tisch.“ Brachte er andere zum Lachen, war das in ihren Augen nur Folge seiner Unbeholfenheit. So beim Zahnarzt, als er aus dem Behandlungszimmer ins Wartezimmer zurückstürmt und fragt: „Du, Alma, welcher Zahn tut mir eigentlich weh?“ Die Sorge ist nicht unbegründet, dass für das Gros des Publikums Almas Mahler-Bild erhalten bleibt, so gut fügt es sich in gängige Künstlerklischees ein. „Je größer das Genie“, schrieb sie etwa, „desto kränker seine Sexualität.“ Und im Stillen denken wir weiter: desto kränker natürlich auch sein Umgang mit sich selbst und anderen Menschen. Aus Almas Sicht war es für den gestörten Gatten symptomatisch, dass er in einem schönen, konfliktlosen Sommer, nachdem er soeben seine Kinder geherzt hatte, nichts Besseres zu tun wusste, als zwei weitere Kindertotenlieder zu vertonen. Doch dass sie, ohne es zu wollen, Gegenbeweise für Mahlers angebliche Neurosen lieferte, fiel ihr nicht auf. 1905 notierte sie in ihr Tagebuch, dass Mahler am ersten Mai bei einem Arbeiterzug mitgewandert sei: „Alle hätten ihn so brüderlich angesehen“, soll er gesagt haben. „Das eben wären seine Brüder! Diese Menschen seien seine Zukunft!“ Diese Offenheit für das Ungewohnte, Unbekannte, Kommende lassen Neurotiker im Allgemeinen vermissen. Für Mahler war sie kennzeichnend. Bei der Uraufführung von Arnold Schönbergs Kammersinfonie im Musikvereinssaal in Wien war er es, der den Zischern, Pfeifern und Buhern Einhalt gebot und zum Schluss „applaudierte, bis die letzten Scharfmacher aus dem Saal waren“. Mahler über Schönberg: „Ich verstehe seine Musik nicht, aber er ist jung; vielleicht hat er recht. Ich bin alt, ich habe vielleicht nicht mehr das Organ für seine Musik.“ Als Indiz für Mahlers hypochondrische, anhedonische Lebenseinstellung wird von Alma oft seine soziale Unverträglichkeit ins Feld geführt. Freudlos, laut Gattin, seien schon seine Ernährungsgewohnheiten gewesen: „Eigentlich das ganze Leben lang Krankenkost.“ Abgesehen von einer vorehelichen vegetarischen Phase deutet aber nichts auf Enthaltsamkeit oder gar Kasteiung hin. Die häufigen Besuche im Wiener Rindfleischparadies von „Meißl & Schadn“ zeugen vom Gegenteil, Briefe Mahlers sprechen von Schinken, Beefsteak und „stimmungsvollem Zwetschkenkuchen [sic]“, die Zeugnisse des Freundes Alfred Roller davon, dass Mahler „vortrefflich“ schlief, seine Zigarre und das abendliche Bier liebte und gelegentlich Mosel, Chianti oder Asti trank. Berichte von Zeitgenossen sprechen sogar von kulinarischer Fürsorge. Am 20.Dezember 1904 lud Mahler die Mitglieder des Hofopernorchesters zu einem „zwanglosen Beisammensein“ im Rittersaal des Gasthauses „Zur goldenen Birne“ in der Mariahilferstraße ein. Sein Freund Ludwig Karpath berichtet, dass Mahler zu spät kam, verärgert das frugale Mahl registrierte, schnurstracks in die Küche lief und der „wohlgenährten Bratenköchin einen kurzen, aber leicht verständlichen Vortrag über die Magenkapazität eines jungen Musikers hielt“. Mit Erfolg; das Gelage dauerte bis zum frühen Morgen. Mahler war kein Genussverweigerer, er war, nicht nur wegen eines Hämorrhoidenleidens, ernährungsbewusst. Er aß gerne naturrein, leicht, ohne schwere Soßen und vom Einfachen immer nur das Beste, weil ihm das guttat. Sein gesamtes Dasein stellt sich dem unvoreingenommenen Betrachter als Fitnessprogramm dar – obwohl der Hofoperndirektor ein unfassliches Pensum als Dirigent, Bühnenreformator, Talenteförderer und oft noch Starkorrepetitor sowie die hochkonzentrierte Kompositionsphase in der Sommerpause bewältigen musste. Doch der zappelige Mahler mit ausfahrender Gestik passte eben besser ins Klischee des überdrehten Juden, der mit die Händ red’t, als der energiegeladene Mahler, dem die junge Alma im Hause der Wiener Journalistin Berta Zuckerkandl zum ersten Mal begegnet war: „Der Kerl besteht nur aus Sauerstoff“, schrieb sie damals. „Man verbrennt sich, wenn man an ihn ankommt [sic].“ Mahler wegen seiner Nervosität, auch als Dirigent, zu verunglimpfen, war beliebt. Die antisemitische Deutsche Presse hatte sich schon zu Beginn seines Direktorats über „Die Judenwirtschaft an der Wiener Hofoper“ beschwert und Mahlers Dirigierstil beschrieben als Ausdruck eines seelisch Kranken, eines Perversen: „Die Linke Mahlers in konvulsivischen Zuckungen (…) scharrt nach Schätzen, sie tremoliert, sie hascht, sie sucht, sie erwürgt, sie erdrosselt Säuglinge“; wehmütig erinnerte sich der Kritiker an „die Art des Dirigierens unseres Hans Richter“. Das fügte sich ins Bild von Mahler, dem Stubenhocker, der kraftvolle Gesten durch Gefuchtel ersetzt. Wer bei einer Opernprobe Zeuge dessen wurde, wie Mahler aus dem Orchesterraum mit einem Sprung auf die Bühne flankte und einen Sänger, der falsch stand, an die richtige Stelle wuchtete, musste erkennen, dass dieser Mann seine Muskeln so konsequent trainierte wie seine Merkfähigkeit. Alfred Roller, als Bühnenbildner Mahlers Verbündeter an der Hofoper, witterte hinter diesem körperlichen Ehrgeiz kompensatorische Beweggründe. Mahler habe „seine jüdische Abstammung nie versteckt“, so Roller, aber die Ablehnung, die ihm deswegen entgegenschlug, „war für ihn Sporn und Stachel zu umso höherer, reinerer Leistung“. Und zu der wollte er auch physisch imstande sein. Mahlers prägendes Vorbild war kein Komponist, es war ein Ringer: „Ein großartiges Bild für den Schaffenden ist Jakob, der mit Gott ringt, bis er ihn segnet. (…)Mich will Gott auch nicht segnen, nur im fürchterlichen Kampf ums Werden meiner Werke ringe ich es ihm ab.“ Die körperliche Präsenz war für ihn Basis der geistigen. Schon als Schuljunge hatte er in Iglau das Schwimmen gelernt und es neben dem Bergsteigen intensiv gepflegt. Feriendomizile mussten daher an irgendeinem Ufer liegen und in der Nähe von Bergen. Ob in Steinbach am Attersee, in Maiernigg am Wörthersee oder schließlich in Altschluderbach bei Toblach im Pustertal, frühmorgens und mittags warf Mahler sich ins kalte Wasser. Die tägliche Wanderung gehörte zum festen Programm. Alma interpretierte diesen Bewegungsdrang als Unfähigkeit zur Lebenskunst. „Zu schlendern vermochte Mahler überhaupt nicht.“ Roller hingegen beobachtete, dass Alma, fast 20 Jahre jünger, nicht mitzuhalten vermochte; „man konnte mit ihm ein sehr flottes Marschtempo gehen, ohne dass ihm das lästig wurde.“ Nicht selbstquälerisch, sondern genießerisch schien ihm Mahlers Umgang mit dem eigenen Körper, wenn er beobachtete, wie er mit Kopfsprung in den See sprang, unter Wasser weiterschwamm und „weit draußen wieder zum Vorschein“ kam, „sich behaglich im Wasser wälzend wie eine Robbe“. Für Alma war Mahler, 1,60 groß, um die 63 Kilo leicht, „das arme Kind“. Kein Wunder, dass Roller, als er Mahler beim Sonnenbaden nackt sah, eine überraschte Bemerkung zu dessen Muskelpracht entglitt. „Mahler lachte gutmütig, da er merkte, dass auch ich durch das Geschwätz über seine dürftige Körperlichkeit beeinflusst worden war.“ Mit seiner Lust, ein sonnengebräunter, durchtrainierter, drahtiger Mann zu sein, lag Mahler ganz im Trend – einem jüdischen Trend, trotz seiner Konvertierung zum Katholizismus im Jahr 1897. 1894 war in Wien der erste Fußballverein gegründet worden, wichtigster Mäzen war Baron Rothschild; erster Präsident war Ignaz Abeles. Fußball gehörte neben Wasserball, Ringen und Schwimmen, Hockey und Fechten zu den Disziplinen, die der 1909 gegründete jüdische Sportclub Hakoah (hebräisch für Kraft) propagierte, weil sie einen gesellschaftlichen Freiraum boten und nicht national besetzt waren wie das Turnen im Verein. Dass selbst etablierte Mediziner behaupteten, Juden seien von Natur aus mit Plattfüßen und X-Beinen geschlagen, mag durchaus ein Antrieb gewesen sein. Auch der Arzt Max Nordau, ein Mitstreiter des Begründers des Zionismus Theodor Herzl, bewarb den sogenannten „Muskeljuden“ – einen Mann, der auch körperlich imstande war, für sein Judentum zu kämpfen. In jener Zeit brachte in Hamburg der Freund Ludwig Zinner Mahler zum Fahrradfahren. In Wien gelandet, fand sich der sportive Komponist unter Gleichgesinnten. Die Wiener Juden gehörten zu den Pionieren des Alpinismus, das Klettern ohne technische Hilfsmittel wurde erstmals von einem jüdischen Bergsteiger betrieben und beschrieben. Der jüdische Psychoanalytiker Viktor Frankl erklärte im Nachhinein, nur durch seine Bergsteigermentalität habe er vier Konzentrationslager überlebt. Askesis, nicht im Sinn des Entsagens und Verzichtens, vielmehr im Sinne des Sich-Übens, des Nicht-Aufgebens, habe er am Berg gelernt. Auch Mahler war das physische Wohlbefinden für das psychische unabdingbar und Naturerlebnis nicht nur Regeneration, sondern Inspiration. Als derselbe Arzt, der im Juli 1907 den Todeskampf der fünfjährigen, an Scharlach erkrankten Mahler-Tochter Putzi begleitet hatte, bei Mahler ein Herzleiden diagnostizierte und ihm körperliche Beanspruchung untersagte, klagte Mahler im Sommer 1908 dem Dirigenten Bruno Walter: „Sie können sich vorstellen, wie schwer mir letztes wird, ich hatte mich seit vielen Jahren an stete und kräftige Bewegungen gewöhnt. Auf Bergen und Wäldern herumzustreifen und in einer Art keckem Raub meine Entwürfe davonzutragen.“ Als Walter, neben seiner Dirigententätigkeit auch ein Komponist, beim Besuch am Attersee seinen Blick über das Höllengebirge schweifen ließ, hatte Mahler deshalb auch erklärt: „Da brauchen Sie gar nicht hinzusehen, das habe ich schon alles wegkomponiert.“ In Bewegung, in der Natur erntete er. „An den Schreibtisch“, schrieb Mahler, „trat ich nur wie ein Bauer in die Scheune, um meine Skizzen in Form zu bringen. Sogar geistige Indispositionen sind nach einem tüchtigen Marsch gewichen.“ Kein Zufall, dass Mahlers Humor gerade dann aufblitzte, wenn es um Sport ging. „Ich scheine wirklich für das Rad geboren zu sein und werde bestimmt noch einmal zum Geheimrad ernannt werden.“ Nur langsam verändert sich das Bild des neurotischen Mahlers in der musikalischen Öffentlichkeit. Als der nur 32-jährige britische Dirigent Daniel Harding 2008 Mahlers Zehnte einspielte, die als Werk für gereifte Musiker gilt, waren viele hocherstaunt. „So klar und frisch wie Quellwasser“, pries der Musikkritiker Werner Theurich diese Aufnahme. Vielleicht, weil Harding Mahler gut versteht: Er liebt die Natur und ist leidenschaftlicher Fußballfan. Wer Abschied nimmt von Mahler, dem Neurosenkavalier, zerrissen, entkräftet und morbide, entdeckt jenen Mahler, der bekannte: „Vielleicht renne ich manchmal mit dem Kopf durch die Wand, aber dann bekommt die Wand ein Loch.“
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Alma Mahler-Werfel, Thomas Mann, Luchino Visconti und viele Bewunderer sahen in Gustav Mahler die Inkarnation des kranken Künstlergenies. Bis heute hält sich diese Vorstellung und verstellt den Blick. Woher stammt sie? Eine Spurensuche zum 100.Todestag des Komponisten
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kultur
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2011-04-27T00:00:00+0200
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2011-04-27T00:00:00+0200
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https://www.cicero.de//kultur/abschied-vom-neurosenkavalier/41907
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Meistgelesene Artikel 2024: März - „Correctiv“ widerlegt sich vor Gericht selbst
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Am 10. Januar 2024 erzeugte „Correctiv“ eine mediale Schockwelle. In einer Villa in der Nähe des Wannsees hätten sich Mitglieder der AfD getroffen, um die Deportation von Millionen Deutscher mit Migrationshintergrund zu planen – hieß es anschließend in unzähligen Medien. Dieser Vorwurf war der Kern der öffentlichen Empörung. Das bestätigt auch ein Faktencheck der ARD „Die Berichte über Deportationspläne, die auf einem Treffen mit AfD-Politikern besprochen worden sein sollen, haben Hunderttausende mobilisiert.“ Inzwischen wehrt sich Ulrich Vosgerau (CDU), einer der Teilnehmer der Konferenz in der Nähe des Wannsees, gerichtlich gegen die Berichterstattung von „Correctiv“. Vosgerau begehrte, die Berichterstattung in drei Punkten zu korrigieren und gewann vor dem Hamburger Landgericht nur in einem. In diesem Verfahren ist aber gar nicht das interessant, worüber die Parteien streiten. Sondern das, worüber sie gerade nicht streiten. Vosgeraus Anwalt legte insgesamt sieben eidesstattliche Versicherungen von Teilnehmern der Veranstaltung vor, in denen diese die öffentlichen Behauptungen, bei dem Treffen seien Deportationen von Deutschen mit Migrationshintergrund geplant worden, als falsch zurückgewiesen haben. In dem Verfahren vor Gericht reagierte hierauf auch der Anwalt von „Correctiv“. Der entsprechende Schriftsatz liegt „Cicero“ vollständig vor. Es lohnt sich, den Text etwas vollständiger zu zitieren. Er ist ein regelrecht historisches Dokument: „Allen Teilnehmer*innen des Potsdamer Treffens war bewusst, dass eine unmittelbare Ausweisung von Menschen, die aktuell über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, eine derzeit nicht lösbare juristische Schwierigkeit darstellt. (…) Demnach ist in diesem Verfahren nicht umstritten, dass auf dem Treffen unter den Teilnehmern im Rahmen der Diskussion nicht weiter erörtert wurde, welche Möglichkeiten bestehen, aktuell deutsche Staatsbürger mit deutschem Pass unmittelbar auf Grundlage rassistischer Kriterien auszuweisen. Die eidesstattliche Versicherung des Antragstellers suggeriert demnach einen Sachverhalt, der nicht Gegenstand der faktischen Schilderungen des streitgegenständlichen Artikels ist. Die von dem Antragsteller vorgelegte eidesstattliche Versicherung geht also an der Sache vorbei. Eine derartige Tatsachenbehauptung, die dem Beweise oder der Glaubhaftmachung zugänglich wäre, wird in dem streitgegenständlichen Artikel nicht erhoben. Im Gegenteil: Die deutsche Staatsbürgerschaft hat Sellner in seinen Ausführungen ausdrücklich als juristische Sperre für eine Ausweisung anerkannt. Und allen Anwesenden war bewusst, dass insbesondere die grundrechtlichen Hürden dafür zu hoch sind. Dementsprechend entwickelte sich unter den Teilnehmern auch keine Diskussion darüber. Über eine solche Diskussion, inwiefern aktuelle „deutsche Staatsbürger mit deutschem Pass“ ausgewiesen werden könne, berichtet die Antragsgegnerin nicht.“ Man halte sich also fest: „Correctiv“ sagt damit vor Gericht und aller Öffentlichkeit selbst, dass in der Villa in der Nähe des Wannsees nie über die Deportation Millionen Deutscher mit Migrationshintergrund gesprochen worden sei. Aber wogegen wurde dann in den letzten Monaten demonstriert – und worüber eigentlich berichtet? Des Rätsels Lösung ist ganz einfach. Demonstriert wurde nicht gegen eine Tatsache, sondern aufgrund einer Meinung. Bereits am 28. Januar 2024 hatte Annette Dowideit von „Correctiv“ im Presseclub der ARD strikt die Behauptung zurückgewiesen, „Correctiv“ habe jemals über Deportationspläne berichtet. Das hätten dann vielmehr anschließend andere Medien bloß aus ihren Recherchen gemacht. Und tatsächlich heißt es in der „Correctiv“-Recherche „Geheimplan gegen Deutschland“ vom 10. Januar 2024: „Was Sellner entwirft, erinnert an eine alte Idee: 1940 planten die Nationalsozialisten, vier Millionen Juden auf die Insel Madagaskar zu deportieren. Unklar ist, ob Sellner die historische Parallele im Kopf hat. Womöglich ist es auch Zufall, dass die Organisatoren gerade diese Villa für ihr konspiratives Treffen gewählt haben: Knapp acht Kilometer entfernt von dem Hotel steht das Haus der Wannseekonferenz, auf der die Nazis die systematische Vernichtung der Juden koordinierten.“ In dem Text ist zwar letztlich doch von Deportationen die Rede, von der Wannsee-Konferenz und der Vernichtung der Juden durch die Nazis. Aber: Mit keinem Wort behauptet „Correctiv“ dort, dass im November 2023 das geschehen sei, wogegen sich anschließend Millionen von Menschen in Bewegung gesetzt haben. Was „Correctiv“ in dieser und vielen anderen Textpassagen bietet, ist keine Tatsachenbehauptung, sondern selbst bloß eine Meinungsäußerung – gepaart mit ein bisschen Spekulation. Das alles ist in einer freiheitlichen Gesellschaft zulässig. Und genau deshalb wurde über diesen Punkt auch gar nicht vor Gericht verhandelt. Eines allerdings passt zu all dem nicht. In einem aktuellen Newsletter ruft „Correctiv“ nicht nur zu Spenden auf, um die gerichtlichen Auseinandersetzungen finanzieren zu können, sondern sagt seinen Unterstützern auch noch das: „Was besonders wichtig ist: Die Entscheidung des Gerichts bestätigt (…) die Inhalte der Geheimplan-Recherche.“ Das allerdings widerspricht sogar der offiziellen Pressemitteilung des Landgerichtes Hamburg, in der das genaue Gegenteil steht. Das Gericht habe sich damit gar nicht befasst. Mehr zum Thema: Anfangs sah es noch danach aus, als würde sich „Correctiv“ mit seinem Wannsee-Scoop zu einer ersten Adresse des investigativen Journalismus in Deutschland mausern. Aber nun, rund zwei Monate später, scheint Schritt für Schritt eher das Gegenteil einzutreten. Stephan Niggemeier vom Portal „Übermedien“ jedenfalls hält die jüngsten Behauptungen von „Correctiv“ über die angebliche Bestätigung des Inhaltes ihrer Recherche durch das Hamburger Landgericht nicht nur für „falsch“, sondern auch noch für „dreist“. Was bleibt also übrig, acht Wochen nach der Berichterstattung über eine ominöse „Wannsee-Konferenz“? Erstens: Es traf sich eine Gruppe von Menschen in privatem Kreise. Darunter waren Unternehmer und Mitglieder von AfD und CDU. Zweitens: In dieser Privatveranstaltung wurde zweifelsohne auch darüber diskutiert, wie man abgelehnte Asylbewerber und kriminelle Ausländer schnell außer Landes schaffen könne. Und, soweit man weiß, auch noch über etwas mehr. Aber: Auch Bundeskanzler Scholz will seit ein paar Monaten „massenhaft abschieben“. Und nicht nur er. Drittens: Der Kern der Geschichte von „Correctiv“ basierte nicht auf Tatsachen, sondern spekulativen Meinungsäußerungen. Und um diese herum wurden teils korrekte, teils falsche Tatsachenbehauptungen angeordnet, um den Eindruck eines Tatsachenberichts zu erwecken. Es war im Kern aber von Anfang an keiner. Viertens: Im Grunde alle Leitmedien fielen auf dieses Arrangement herein, obwohl es bei unbefangener Lektüre stets offensichtlich war. „Cicero“ berichtete entsprechend bereits am 11. Januar 2024. Fast alle Medien verbreiteten einen Bericht, der im Kern bloß eine Meinungsäußerung war, als eine Tatsachenschilderung. Fünftens: Daraufhin setzten sich aus echter Sorge Millionen von Menschen in Bewegung, um für Demokratie und gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Man kann das kaum kritisieren, sondern sollte vielmehr froh darüber sein. Jeder normale Mensch muss sich darauf verlassen können, dass stimmt, was in den Leitmedien steht. Sechstens: Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Ereignisse am Wannsee und die Demonstrationen erklärte die Bundesregierung, den Kampf gegen rechts durch Einschränkung von Grundrechten intensivieren zu wollen. Sie stützt sich dabei aber ausdrücklich nicht auf Tatsachen, sondern bloße Meinungsäußerungen, wie „Correctiv“ nun einräumte. Allenthalben und seit Jahren wird in Deutschland die politische Spaltung des Landes beklagt. Und das aus gutem Grund. Damit eine Demokratie funktioniert, braucht es Verständigung und Kompromisse – und nicht die Verhetzung des öffentlichen Raumes. Vielleicht aber hat ja die Berichterstattung um den „Scoop vom Wannsee“ auch ihr Gutes. Sie kann immerhin als Beispiel dafür dienen, wie man es nicht machen sollte.
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Mathias Brodkorb
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Die Enthüllungen des Rechercheteams von „Correctiv“ halten die Republik nun schon seit zwei Monaten in Atem. In dieser Woche allerdings bestätigte „Correctiv“ vor Gericht, dass das alles gar nicht auf Tatsachen basiere. Dies war der meistgelesene „Cicero“-Artikel im März.
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"Correctiv",
"AfD",
"Ulrich Vosgerau"
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innenpolitik
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2024-12-17T14:56:57+0100
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2024-12-17T14:56:57+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/meistgelesene-artikel-2024-marz-correctiv-widerlegt-sich-vor-gericht-selbst
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Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse - Die Verfehlten
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Viele Listen überzeugen durch jene, die draufstehen. Wenige enttäuschen durch jene, die in der Aufzählung fehlen. Und dieser Fall liegt nun bei den just bekanntgegebenen Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse vor. Beginnen wir daher ausnahmsweise mit den Unerwähnten, ja, den geheimen und hypothetischen Siegerinnen: Esther Kinsky mit ihrem fantastischen Sprachkunstwerk über eine von Erdbeben erschütterte Landschaft, „Rombo“, Gisela von Wysockis „Der hingestreckte Sommer“, eine Liebeserklärung an die Literatur und das Kino, Angelika Klüssendorfs brillanter Untoten-Roman „Vierunddreißigster September“ oder Katharina Hackers ins fast Märchenhafte enthobene Parabel über die Krisen unserer Tage, „Die Gäste“ – all diese Autorinnen samt ihren beeindruckenden Büchern fehlen. Stattdessen mutet die Auswahl der Jury, der nun noch ihre Messe abhandengekommen ist, uninspiriert bis in Teilen zweifelhaft an. Mit Emine Sevgi Özdamars „Ein von Schatten begrenzter Raum“ findet sich darunter zwar ein profunder, aber wenig überraschender Migrationsroman wieder. Mit Katerina Poladjan hat man eine Schriftstellerin gekürt, die in „Zukunftsmusik“ nicht minder solide-lakonische, aber im Großen und Ganzen recht brave Erzählprosa abliefert. Ein regelrechtes Debakel stellt die Nominierung des schon seit jeher überschätzten Dietmar Dath dar. Dass die Dicke der Bücher nur vermeintlich etwas über den Gehalt der Werke aussagt oder sogar darüber hinwegtäuschen kann, dafür scheint sein nominierter, gewohnt seitenstarker Text „Gentzen oder: Betrunken aufräumen: Kalkülroman“ geradezu beispielhaft zu sein. Berichtet wird darin von der Suche nach jenem vergessenen, titelgebenden Logiker, wobei der Autor immer wieder auch lebende und verstorbene Denker – von Jeff Bezos bis Frank Schirrmacher – anzitiert. Klingt schlau, ist aber letztlich pseudoavantgardistisches, sperriges Diskurs- und Philosophiegeklimpere. Wer unter den Nominierten hingegen noch ästhetische Qualität hochhält, sind Heike Geißler mit „Die Woche“ sowie Tomer Gardi mit „Eine runde Sache“. Was beide Entwürfe eint, lässt sich unter der Hinwendung zum Fantastischen subsummieren. Erstere beschreibt mit Bezug auf klassische Märchen ein Aufbruchszenario in der Gegenwart, letzterer spielt mit großer Verve eine Reise zweier Künstlerfiguren durch, die auf je eigene Weise bereichernde Begegnungen mit dem Fremden durchlaufen. Diese Bücher zeugen von Wagemut, lassen sich nicht in traditionelle Schubladen schieben und werfen mit Witz und einer unverbrauchten Sprache ein Schlaglicht auf die Gesellschaft der Spätmoderne. Mehr von derlei literarischem Elan hätte man sich bei den Preisanwärtern gewünscht. Nachdem nun schon das lange ersehnte Branchentreffen ausfällt, ist das Risiko leider nicht gering, dass eine unambitionierte Prämierung der Chose noch die Krone aufsetzt.
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Björn Hayer
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Nach der Absage der Leipziger Buchmesse fallen nun auch die Nominierungen für den Leipziger Buchpreis unambitioniert aus. Einzig Heike Geißler und Tomer Gardi halten ästhetische Qualität hoch. Emine Sevgi Özdamar und Katerina Poladjan schreiben solide, aber brav. Und Dietmar Dath war sowieso schon immer überschätzt.
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kultur
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2022-02-17T14:52:33+0100
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https://www.cicero.de/kultur/nominierungen-preis-leipziger-buchmesse-geissler-gardi-ozdamar-poladjan-dath
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Banvilles Roman – Griechisches Göttervergnügen in Irland
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«Und», so beginnt ein Satz in diesem Buch, «ich bin der, der sich all das hier ausgedacht hat.» Man merkt in diesem Roman vom ersten bis zum letzten Punkt: Das hat John Banville Spaß gemacht – einmal im Leben als Schriftsteller alle Register ziehen! Einmal im Leben die eigene Phantasie auf Tour durch den antiken Götterhimmel schicken. Einmal im Leben die Unsterblichkeit der griechischen Götter ernst nehmen und ihnen einen Gelegenheitsjob im 21. Jahrhundert zuweisen. Hermes, Pan und Zeus in der Lotterie eines Familienromans einen Platz einräumen, das Spiel von Leben und Tod mit perfider Lust durcheinanderbringen! Einmal im Leben einen Tag vom Morgen bis zum Abend beschreiben und das klassische Versmaß mit dem hundsgewöhnlichen heutigen Umgangston vermischen. Der 67-jährige Ire John Banville ist als Kunsthistoriker mit den Bild- und Mythenwelten des Abendlands vertraut; als Schriftsteller ist er selbst so etwas wie ein Unsterblicher. In seinem neuen Roman «Unendlichkeiten» mischt er jetzt Realität und Mythologie. Zentrum dieses Phantasiespiels ist der im Koma liegende Mathematiker Adam Godley, der durch eine These zur Unendlichkeit berühmt geworden ist. Godley hängt am Tropf, er kann sich nicht mehr wehren, und Banville nutzt dies schamlos aus, er schickt Hermes in das verlassen an einer Bahnstrecke liegende Landhaus, um als Beauftragter von Zeus Godleys Seele abzuholen für die Reise in die Unterwelt. Bevor es aber so weit ist, lässt Banville Hermes als distanzierten und zeitweilig feixenden Ich-Erzähler auf das Leben der Godleys schauen. Hermes’ erster Blick gilt Adam Junior, der mit seiner jungen schönen, blonden Frau Helen zum sterbenden Vater gerufen wurde. Adam («der arme Epigone» des sterbenden Adam) steht im Morgengrauen in seinem ausgewaschenen, zu kleinen Pyjama am Fenster und sinniert – so macht Autor Banville vor der homerischen «Morgenröte» spielerisch seinen Kotau. Adam junior will nicht hinauf ins «Himmelszimmer», er fürchtet sich vor dem Anblick seines sterbenden Vaters. «Wenn unsere Zeit heran ist», spricht Hermes in der Rolle des Erzählers, «gehen wir zusammen, er und ich, in das hinüber, was als nächstes kommt und über das zu sprechen mir verboten ist.» [gallery:LITERATUREN – Die besten Romane für den Sommer] Mitspieler an diesem Schicksals-Tag sind außer den beiden Adams und der schönen Helen noch Ursula, die zweite Ehefrau des Sterbenden, die mit dem Schatten kämpft, den Daisy, Adams erste Frau, hinterlassen hat; sie hatte sich im Stile Virginia Woolfs das Leben genommen. Dann kriecht da auch noch Petra herum, die leicht irre Tochter, die einen Almanach mit allen Krankheiten der Welt anlegt, außerdem Roddy Wagstaff, des großen Godley Biograf – und natürlich Benny Grace. Manchmal lässt dieser fiese fette Typ seinen Klumpfuß sehen, und es ist klar, dass hier Pan seine Runden dreht. Man muss sich also für ein Verwirrspiel wappnen, in dessen Mittelpunkt Angst, Scham und Trauer sind. Die Hilflosigkeit der Familienmitglieder, sich dem Sterbenden zu nähern und ihm ihre Liebe, Wut oder Skepsis mitzuteilen, nutzt Banville, um die menschliche Psyche herrlich respektlos vorzuführen. Denn Hermes ist ein Spötter. Vom Namen Adam bis zum Hund Rex, der die Rolle von Odysseus’ Hund Argos übernimmt, bis hin zu den lässig beigemischten pragmatischen Weisheiten – «Tun, Tun ist das Leben …, und ich dachte immer, Denken wäre das Entscheidende» – ist hier vieles anspielungsreich und doppeldeutig: Die Sprachlust ist das Vergnügliche an diesem Buch. Mit Witz wird Godleys letzter Lebens-Tag der Erdenschwere enthoben, während die Götter das Tun jedes Einzelnen mit respektlosen Kommentaren beschreiben, in denen sie das Profane des Lebens bestaunen. Und so bekommt das Irdische als das Vergängliche eine schöne Leichtigkeit. Ursula sitzt mit der Nagelschere in der Hand am Sterbebett, Petra wirft sich in einem ödipalen Akt aufs Leintuch des Vaters, bereit zu einem nur vorgestellten Liebesspiel. Und der alte Adam selbst hat auch so seine Phantasien. Was soll das, könnte man fragen: Alles hier ist versponnen, typisch irisch, außerdem hat es schon Kleist in seinem Stück «Amphitryon» aufs Beste durchgespielt! Doch Banville hat sein Göttervergnügen mit Blick auf eine nicht ganz normale Familie eingefädelt, um etwas über die Gelassenheit der «Unsterblichen» auszusagen. Mit dem Tod eines Patrons, eines Gelehrten, einer Respektsperson, so abgehoben zu verfahren, ist ein literarischer Spaß. Banville nutzt das homerische Personal, verwickelt Helen(a) in ein Liebesspiel mit «Paps» und borgt sich die «rosenfingrige Morgenröte» aus dem antiken Repertoire – an diesem verhangenen irischen Sommertag stellt Banville Thanatos und Eros einander gegenüber. Über den Tod zu schreiben aber ist eine Kunst, und sie ist John Banville hier überzeugend gelungen.
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Adam Godley liegt im Sterben, deshalb muss sich Hermes im Auftrag Zeus' auf den Weg machen, um die Seele des Iren abzuholen. In seinem Roman „Unendlichkeiten" macht sich John Banville einen Spaß und schickt griechische Götter nach Irland
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kultur
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2012-07-11T17:23:33+0200
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2012-07-11T17:23:33+0200
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https://www.cicero.de//kultur/john-banvilles-unendlichkeiten-roman-griechisches-goettervergnuegen-irland/51175
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Das Bundesverfassungsgericht und die geschlechtliche Identität - Auf den Leim gegangen
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Wenn man, was nicht mehr überflüssig ist, in Deutschland auf den seit Jahrtausenden bekannten Sachverhalt hinweist, dass es nur zwei Geschlechter gibt und die Geschlechtszugehörigkeit von objektiven biologischen Fakten, nicht vom subjektiven Empfinden abhängig ist, wird einem von gewissen Kreisen unter anderem gern das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum sogenannten dritten Geschlecht vorgehalten. Dieses Urteil zeigt jedoch lediglich, dass das BVerfG sich hat schlecht beraten lassen und dass der kulturelle Einfluss unwissenschaftlicher Ideologien auch institutionell mächtiger ist, als liberalen Demokraten lieb sein kann. Das Urteil ist nämlich nicht so sehr „progressiv“ denn, wie im folgenden gezeigt wird, begrifflich unklar, empirisch haltlos und logisch unschlüssig. Im Übrigen hat das BVerfG zwar einige Interessengruppen um Rat gefragt – aber keine, die gezielt die Interessen von Frauen vertreten würde. Die im Urteil ausgedrückte offizielle Sorge um Gleichberechtigung wird daher von dem angewandten Verfahren konterkariert. Auch inhaltlich sind Frauen von dem Urteil in besonders negativer Weise betroffen, da es die ominöse „Geschlechtsidentität“ über die biologische Realität stellt und es somit Männern erleichtert, in geschützte Bereiche vorzudringen, die aus guten Gründen Frauen vorbehalten werden sollten. Mehr noch, der berechtigte Versuch, solche Eindringlinge abzuwehren und beim Namen („Mann“) zu nennen, wird durch die Geschlechtsidentitätspolitik und der ihr folgenden Rechtsprechung in Diskriminierung umgedeutet. Ähnliches widerfährt auch Ärzten und Therapeuten, welche es wagen, sich modisch „im falschen Körper“ wähnende Minderjährige zu hinterfragen und sie und ihre Eltern vor den irreversiblen Auswirkungen von Pubertätsblockern zu warnen. Während in angelsächsischen Ländern Whistleblower von „Genderkliniken“ mit schockierenden Berichten an die Öffentlichkeit treten und vor allem weibliche Autoren und Kritiker auf die katastrophalen Auswirkungen der Ideologie auf Frauen und Minderjährige hinweisen, wird sie in weiten Teilen der deutschen Medienlandschaft unkritisch als „progressiv“ gefeiert – und droht sich bei den Koalitionsverhandlungen weiter durchzusetzen. Kann das BVerfG den Ideologievorwurf entkräften? Anlässlich eines Falls mit chromosomaler Störung fordert es einen dritten „positiven Geschlechtseintrag“. Es beruft sich dabei auf die Medizin und impliziert somit, dass es de facto und nicht nur als juristische Fiktion ein drittes Geschlecht gibt. Dafür sollte es dann eine sehr gute Begründung haben. Es hat jedoch überhaupt keine. Dies erkennt man, wenn man sich klarmacht, wie eine Begründung für die Existenz einer bestimmten Anzahl von Geschlechtern aussehen müsste. Man benötigt eine Definition des Geschlechtes, eine für die Anzahl derselben relevante empirische (also aus der Erfahrung gewonnene) These, und aus beiden muss man logisch das Ergebnis ableiten. Die Definition lautet: Das Geschlecht ist die Entwicklungsrichtung eines Organismus hin auf die Produktion einer bestimmten Art von anisogametischen Keimzellen. Weist der Organismus auf Entwicklungsschritte hin auf die Produktion der einen Art von anisogametischen Keimzellen, gehört er dem einen Geschlecht an; weist er auf Entwicklungsschritte hin auf die Produktion einer anderen Art von anisogametischen Keimzellen, gehört er einem anderen Geschlecht an. (Sogenannte „Paarungstypen“ bei isogametischen Organismen – Menschen sind anisogametisch – werden im Folgenden nicht als „Geschlecht“ bezeichnet.) Empirische These: Es gibt nur zwei Arten von Keimzellen: große (Eizellen) und kleine (Spermien). Schlussfolgerung: Es gibt genau zwei Geschlechter (weiblich und männlich). Diese Definition von Geschlecht und die Zuschreibung der damit verbunden Zweigeschlechtlichkeit, die mit dem Phänomen der Intersexualität logisch völlig vereinbar ist, ist hier nicht neu erfunden worden, sondern findet sich in einschlägigen Lehrbüchern und Fachaufsätzen zur Genetik und Entwicklungsbiologie. Das BVerfG will es besser wissen als diese biologischen Fachtexte. Wie aber könnte es, und zwar logisch und aufgrund empirischer Fakten, zu seiner abweichenden Auffassung kommen? Zum einen könnte es, nobelpreisverdächtig, einen dritten anisogametischen Keimzellentyp entdeckt haben. Das hat niemand. Oder es könnte eine andere Definition von Geschlecht verwenden und sich auf etwas anders als Keimzellentypen stützen. Tatsächlich aber findet sich in der Urteilsbegründung überhaupt keine Definition von Geschlecht wie auch keine Angabe, welches die relevanten empirischen Prämissen sind und warum sie relevant sind, und mithin erfolgt auch keine logische Ableitung. Kurz, das BVerfG bleibt nicht nur ein logisch schlüssiges Argument für seine These vom dritten Geschlecht schuldig, sondern erklärt nicht einmal, was es mit „Geschlecht“ überhaupt meint. Es weiß offenbar buchstäblich nicht, wovon es redet. Aber überrascht das? Das BVerfG befragte keinen einzigen Biologen. Stattdessen beruft es sich für die Feststellung, dass aus „medizinischer Sicht […] an einer allein binären Geschlechtskonzeption nicht festgehalten werde“ auf eine Stellungnahme der Bundesärztekammer und zitiert diese mit der Erklärung, dass das Geschlecht einer Person mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung … nicht mehr eindeutig den biologischen Kategorien ‚männlich’ oder ‚weiblich’ entspreche“. Die Bundesärztekammer führt hierzu aus, dass unter „Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung […] angeborene Variationen der genetischen, hormonalen, gonadalen und genitalen Anlagen eines Menschen mit der Folge verstanden [werden], dass das Geschlecht einer Person nicht mehr eindeutig den biologischen Kategorien ‚männlich’ oder ‚weiblich’ entspricht“. Da die Bundesärztekammer jedoch auf eine Definition der Begriffe „Geschlecht“, „männlich“ oder „weiblich“ verzichtet, ist die zuerst gemachte Aussage eine bloße Behauptung. Im Lichte der oben angeführten biologischen Definitionen ist diese Behauptung zudem falsch. Verschiedene genetische und hormonale Einflüsse sind lediglich ein Mechanismus, welcher in Organismen die Entwicklung in Richtung der Produktion von kleinen oder großen Keimzellen verursacht, aber es ist diese gerichtete Entwicklung selbst, welche das biologische Geschlecht definiert, nicht der sie verursachende Mechanismus (der zwischen verschiedene Arten erheblich differieren kann und innerartlich nicht in jedem individuellen Fall denselben Effekt zeitigt). Dies bedeutet auch, dass Individuen mit biologischen Störungen der sexuellen Entwicklung mitnichten die Binarität des Geschlechts in Frage stellen. Sie lassen sich meist eindeutig dem einen oder dem anderen Geschlecht oder vielleicht sogar beiden zuordnen, aber immer eindeutig keinem dritten, da es keinen dritten Keimzellentyp gibt. Des Weiteren zitiert das BVerfG die Deutsche Gesellschaft für Psychologie mit der Erklärung, das Geschlecht sei „ein mehrdimensionales Konstrukt, dessen Entwicklung durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener körperlicher, psychosozialer und psychosexueller Einflussfaktoren bedingt” sei. Auch dies ist jedoch keine Definition, sondern klingt wie eine Entschuldigung für die eigene Unfähigkeit, eine zu geben. Zur Veranschaulichung: Auch ein Swingerclub ist ein mehrdimensionales Konstrukt, dessen Entwicklung durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener körperlicher, psychosozialer und psychosexueller Einflussfaktoren bedingt ist. Aber ein Swingerclub ist kein Geschlecht. Jedoch ist er in der Tat ein Konstrukt, sogar ein soziales, etwas von Menschen Geschaffenes. Vom Geschlecht kann man das nicht sagen. Das existierte schon bei Algen lange vor der Menschheit. Auch der Deutsche Ethikrat, eine andere Institution, auf die das BVerfG sich beruft, weiß anscheinend nicht, zwischen biologischen Phänomen und sozialen Konstrukten zu unterscheiden – ein typischer Fehler der Philosophie des sozialen Konstruktivismus, der Hausphilosophie der Genderideologen. So erklärt der Ethikrat in seiner ausführlichen Stellungnahme zur Intersexualität, es handele sich beim Geschlecht „um eine komplexe Kennzeichnung, die sich aus der Kombination mehrerer, ganz unterschiedlicher Eigenschaften ergibt. Diese treten auf der genetischen, hormonellen und anatomischen Ebene in Erscheinung. Hinzu kommt die Selbstwahrnehmung der betreffenden Menschen, die sich einem Geschlecht, beiden Geschlechtern oder keinem Geschlecht als zugehörig empfinden, sowie ihre soziale Zuordnung zu einem Geschlecht, das heißt die Einordnung durch andere.“ Das Geschlecht als „Kennzeichnung“ zu bezeichnen ist ein Kategorienfehler. Klassifikationen sind Begriffe, Kennzeichnungen sind Worte, und dann gibt es die Dinge, die bezeichnet und kategorisiert werden. Spanier und Deutsche etwa klassifizieren bestimmte Dinge in derselben Weise, zum Beispiel Wespen. Sie begreifen sie als derselben Klasse zugehörig; sie haben somit einen Begriff von Wespen. Diesen Begriff drücken sie jedoch mit zwei unterschiedlichen Worten aus, nämlich „avispa“ und „Wespe“. Offenbar sind aber Begriffe sowie Worte wie „avispa“ und „Wespe“ selbst keine Wespen, was man daran erkennt, dass Wespen manchmal fliegen und stechen, Worte und Begriffe hingegen nicht. Und Wespen sind für ihre Existenz nicht von der Existenz menschlicher Worte und Begriffe abhängig. Menschliche Worte und Begriffe von den Dingen schon. Klassifizierungen und Worte sind also sozial konstruiert, das gilt auch für das Wort „Geschlecht“. Wespen sind es nicht. Das Geschlecht auch nicht. Es ist, was es ist. Also was ist es, das Geschlecht? Darauf gibt der Ethikrat keine Antwort. Er unterscheidet zwar, wie wir gerade sahen, zwischen biologischem, psychischem und sozialem Geschlecht. Er liefert aber für keins dieser sogenannten Geschlechter eine Definition, das heißt, die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen dafür, eins dieser Geschlechter zu sein. Zwar finden sich im Glossar des Textes Angaben, die offenbar als Begriffsklärungen dieser drei vermeintlichen Geschlechtsbegriffe gemeint sind. Sie klären aber tatsächlich nichts und sind keine Definitionen, sondern zirkulär. So steht im Glossar unter „Geschlecht, biologisch“: „Körperliches Geschlecht (auch als sex bezeichnet), das das chromosomale, gonadale und hormonale Geschlecht umfasst.“ Dass dies nichts klärt, sieht man, wenn man das Wort „Geschlecht“ mit dem Word „Bruzni“ ersetzt: „Bruzni, biologisch: Körperliches Bruzni (auch als schnarz bezeichnet), das das chromosomale, gonadale und hormonale Bruzni umfasst.“ Wissen Sie jetzt, was ein biologisches Bruzni ist? Offenbar nicht. Dafür müsste man Ihnen zunächst erklären, was ein Bruzni (oder schnarz) ist. Ebenso müsste der Ethikrat zunächst erklären, was ein Geschlecht (oder sex) ist. Zu diesem Begriff findet sich im Glossar jedoch bemerkenswerterweise kein Eintrag. Zudem redet der Ethikrat vom männlichen oder weiblichen Geschlecht. Es ist aber offensichtlich, dass das Wort „Geschlecht“ in „männliches Geschlecht“ nicht dasselbe meinen kann wie das Wort „Geschlecht“ in „psychisches Geschlecht“. Dies erkennt man am verunglückten folgenden Dialog: „War der Verdächtige männlichen Geschlechts?“ „Nein, Herr Kommissar, psychischen Geschlechts.“ Und natürlich verweigert der Ethikrat dem Leser wiederum jedwede Definition, was er mit Geschlecht im ersten und was mit Geschlecht im zweiten Sinne meint. Klar aber ist, dass der Ethikrat offenbar glaubt, das Geschlecht im ersten Sinne sei irgendwie durch die „Kombination“ der drei anderen (biologischen, psychischen und sozialen) sogenannten Geschlechter konstituiert. Wie genau? Auch dies erklärt der Ethikrat nicht. Voraussehbar also führt der inflationäre Gebrauch des Wortes „Geschlecht“ nicht zu analytischer Klarheit, sondern zu konzeptueller Konfusion. Das Ausmaß der Konfusion zeigt sich auch darin, dass der Ethikrat die „Geschlechtsidentität“, also das „psychische Geschlecht“, mal als „Sammelbezeichnung“ und mal als „inneres Gefühl“ bezeichnet. Mindestens eins von beiden ist falsch, denn Bezeichnungen sind keine Gefühle. Bleiben wir bei der weniger unplausiblen zweiten Version. Der Ethikrat meint: „Unter Geschlechtsidentität ist dabei das innere Gefühl eines Menschen zu verstehen, sich einem Geschlecht zugehörig zu fühlen, wobei sich dies darauf beziehen kann, weiblich, männlich oder auch anders zu sein.“ Nun hat der Ethikrat aber nicht definiert, was ein Geschlecht ist, auch nicht, was ein weibliches, männliches oder anderes Geschlecht ist. Wie, fragt man sich, bringen Mitglieder des Ethikrates ein Zugehörigkeitsgefühl zu etwas auf, von dem sie nicht wissen, was es ist? Wie kann man sich als Bruzni fühlen, wenn man nicht weiß, was ein Bruzni ist? Der Ethikrat erklärt zudem, die „sexuelle Identität“ (gemeint ist die Geschlechtsidentität) müsse „dem Körpergeschlecht nicht entsprechen und kann in einem Spannungsverhältnis dazu stehen“. Da der Ethikrat weder das eine noch das andere definiert, gibt es tatsächlich keine Grundlage für die Unterstellung, das „Körpergeschlecht“ sei etwas anderes als die „Geschlechtsidentität“. Aber nehmen wir an, es ist etwas anderes. Woher kommt dann das „Spannungsverhältnis“? Wenn eine „weibliche Geschlechtsidentität“ meint, sagen wir stereotyp, dass man rosa Kleidung mag und gern Liebesfilme schaut und sich in diesem Sinne eher „feminin“ fühlt, dann gibt es ein „Spannungsverhältnis“ zum männlichen Körpergeschlecht allenfalls in den Köpfen von Menschen mit einem starren Verständnis von Geschlechterrollen. Definiert man hingegen das „Körpergeschlecht“ als Entwicklungsrichtung hin auf die Produktion einer der beiden anisogametischen Keimzellen und die „Geschlechtsidentität“ als das „Gefühl“, körperlich einem bestimmten dieser beiden biologischen Geschlechter anzugehören, dann kann es sehr wohl ein Spannungsverhältnis geben – jedoch nur in Form eines Irrtums. Irrtümer darüber aber, welchem von zwei Geschlechtern man angehört, schaffen kein drittes. Somit fehlen dem BVerfG sowohl die analytischen als auch die empirischen Grundlagen für sein Urteil. Es ist schlicht unmöglich, ein nicht-existentes drittes Geschlecht dadurch zu diskriminieren, dass man Passkennzeichnungen nur für die beiden existierenden Geschlechter zulässt. Die Beschwerdeführende selbst etwa weist nach Aussagen des BVerfG einen atypischen Chromosomensatz auf, der als Turner-Syndrom bezeichnet wird. Es gibt verschiedene Ausprägungen des Turner-Syndroms, aber in diesem Falle wies die Beschwerdeführende die sogenannte klassische Variante auf (Fehlen eines X-Chromosoms), nicht eine mosaische Variante, bei denen Körperzellen auch ein Y-Chromosom enthalten können. Das BVerfG erklärt, die Einordnung dieser Person als Frau sei „fehlerhaft“. Tatsächlich aber sind Menschen mit klassischem Turner-Syndrom im Sinne der oben angegebenen biologischen Definition – und nochmals: eine alternative Definition hat das BVerfG nicht zu bieten – immer weiblich, und die Ärzte hatten das weibliche Geschlecht bei der Geburt auch ganz richtig festgestellt. Dem Duden zufolge wiederum sind erwachsene Personen weiblichen Geschlechts Frauen. Also handelt es sich bei der beschwerdeführenden Person um eine Frau. Das BVerfG meint aber zudem, ein solcher Eintrag entspreche nicht ihrer „Geschlechtsidentität“. Es erklärt: „Verlangt das Personenstandsrecht einen Geschlechtseintrag, verwehrt es einer Person aber zugleich die personenstandsrechtliche Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität, ist die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit dieser Person spezifisch gefährdet.“ Erstens gibt es keine validen empirischen Studien dazu, wie sich Einträge des Geschlechts im Personenstandsregister auf die Persönlichkeit von Personen auswirken. Zweitens müsste man nach derselben Logik dann auch Reichsbürgern ihren Eintrag als solche bewilligen, sofern die simple Notierung „deutsch“ ihrer „nationalen Identität“ widerspricht und somit die Wahrung ihrer Persönlichkeit „spezifisch gefährdet“. Drittens notiert der Pass das Geschlecht, nicht die „Geschlechtsidentität“, so wie er ja auch tatsächliche Nationalität, Größe und Augenfarbe notiert, nicht „Augenfarbenidentität“. Viertens gäbe es eine tatsachenkonforme Lösung des vermeintlichen Anerkennungsproblems: Man trägt sowohl das Geschlecht als auch die „Geschlechtsidentität“ ein, etwa „männlich“, „betrachtet sich als weiblich“. Natürlich wird das Frauen, die sich einem „dritten Geschlecht“ zugehörig fühlen und Männer, die sich für Frauen halten, nicht in jedem Fall zufriedenstellen, denn zwar längst nicht alle, aber doch viele solcher Personen wollen nicht nur „anerkannt“ sehen, dass sie entsprechende Gefühle haben, sondern vor allem, dass diese der Realität entsprechen. Jedoch ist es nicht Aufgabe des Staates, die Gefühlsregungen oder Selbsteinschätzungen seiner Bürger in deren Pässe einzutragen und als realistisch „anzuerkennen.“ Wenn er dies bei niemandem tut, ob sie sich nun mit ihrem Geschlecht oder ihrer Größe „identifizieren“ oder nicht, behandelt er alle gleich. Von Diskriminierung kann daher von vornherein keine Rede sein. Umgekehrt ist es aber sehr wohl Pflicht des Staates, seine Bürger nicht dazu zu zwingen, Personen wider besseren Wissens und Gewissens als etwas „anzuerkennen“, was sie nicht sind. Solcher Zwang widerspräche dem Persönlichkeitsrecht sowie der Gewissens- und Meinungsfreiheit. Im Übrigen löst die Einführung eines imaginierten „dritten Geschlechts“ das angebliche Problem nicht einmal. Die Beschwerdeführende erklärt, ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht werde verletzt, wenn sie sich in ein „binäres System“ einordnen müsse, das ihrem eigenen „Identitätsempfinden“ nicht entspreche. Das BVerfG gibt ihr recht und proklamiert das dritte Geschlecht. Unglücklicherweise gibt es jedoch auch zahllose Menschen, denen selbst ein triadisches System zu eng ist. Ein Blick auf die kindisch, wenn nicht närrisch anmutende immer länger werdende Liste von vermeintlichen Geschlechtern auf Facebook genügt. Warum aber sollten dann nicht auch all die anderen „Geschlechtsidentitäten” im Pass ihre „Anerkennung“ finden? Man kann nur hoffen, dass das BVerfG dem Kaninchen der Genderideologie nicht bereits so weit in den Bau gefolgt ist, dass es bereit ist, eine solche schrankenlose Geschlechterinflation mitzutragen. Doch die Geister, die es rief, kann es vor dem Hintergrund seines eigenen Urteils nur noch mit purer Willkür dämmen, nicht mehr mit rationaler Argumentation. So mag es vielleicht sagen, dass Notierungen wie „drittes Geschlecht“ oder „divers“ Sammelbezeichnungen für all die anderen Geschlechter seien. Aber dies hilft nicht, denn ist es nicht „diskriminierend“, wenn „männlich“ und „weiblich“ einen eigenen Eintrag bekommen, aber all die vermeintlichen anderen Geschlechter oder „Geschlechtsidentitäten“ de facto unter „ferner liefen“ verbucht sind? Oder aber das BVerfG behauptet, es sei eine objektive Tatsache, dass es genau drei „positive“ Geschlechter gebe. Dafür hat es jedoch kein Argument angeführt, ja, es mangelt an jedweder Grundlage für ein Argument. Umgekehrt wurde für die Existenz von genau zwei Geschlechtern das auf empirischen Fakten und einer klaren Definition beruhende logisch schlüssige Argument oben bereits gegeben. In einer liberalen, der Aufklärung verpflichteten Demokratie aber ist ein binäres System, für das es schlüssige Argumente gibt, einem triadischen, für das es keins gibt, sicher vorzuziehen. Die Haltlosigkeit des Urteils des BVerfG ist bedauerlich genug, aber ihrerseits Ausdruck sowohl tiefer liegender als auch allgemeinerer Probleme. Zum einen ist das BVerfG nicht gut beraten, wenn es Organisationen wie die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie quasi als Quellen objektiven wissenschaftlichen Rats in Anspruch nimmt. Bei der ersten handelt es sich erklärtermaßen um einen Interessenverband, und derweil die zweite angeblich nur gemeinnützige Zwecke verfolgt, arbeitet sie mit den psychologischen Berufsverbänden zusammen. In jedem Falle werden einige Mitglieder beider Organisationen durchaus Interessen haben, welche mit jenen der Genderideologie übereinstimmen. „Therapien“ für die seit Kurzem erschreckend steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die sich von der Genderideologie animiert „im falschen Körper“ wähnen (siehe Abigail Shriers Buch Irreversible Damage), sind eine gute Einnahmequelle; vor allem, wenn sie, wie die Genderideologie fordert, „affirmativ“, das heißt, den Patienten in seinem Glauben bestärkend, verlaufen. Diese „Affirmation“ führt den Patienten auf einen langen und letztlich in der Tat irreversiblen Weg, den der Therapeut und Arzt über Jahre lukrativ begleiten kann. Dies soll weder heißen, dass Hormongaben und operative Eingriffe an den Geschlechtsmerkmalen (die Rede von „Geschlechtsumwandlung“ ist irreführend) immer und grundsätzlich falsch sind noch dass es nicht zahlreiche Ärzte und Psychologen gäbe, die der Genderideologie und der Forderung unkritischer Affirmation mit Skepsis oder offener Ablehnung gegenüberstehen. Nichtsdestoweniger wäre es blauäugig anzunehmen, dass es nicht auch jene gäbe, bei denen ideologische Ausrichtung und finanzielle Interessen unheilvoll konvergieren. Sich ihrer selbst unsichere Jugendliche, die ohne hormonelle und chirurgische Eingriffe besser dastehen würden, sind Leidtragende dieser Konstellation. Die Enthüllungen um die britische Tavistock „Genderklinik“ bestätigen dieses Bild und dürften nur die Spitze des Eisbergs sein. Das noch grundsätzlichere Problem freilich ist der kulturelle Einfluss der Genderideologie selbst, welche ihrerseits auf der philosophischen Irrlehre des sozialen Konstruktivismus aufbaut. Diese Lehre sucht den Unterschied zwischen Worten oder „Diskursen“ einerseits und Dingen andererseits einzuebnen. Frauen (interessanterweise wird in diesem Zusammenhang weniger von Männern geredet) sind demnach „sozial konstruiert“, nicht biologisch gegeben. Dass solche Irrlehren zu hanebüchenen Verwirrungen führen, steht zu erwarten. Exemplarisch sei hier auf einen das Urteil kommentierenden Artikel in der Zeit verwiesen, in dem die Autorin Antje Schrupp erklärt, die Bedeutung von Wörtern sei „immer ein Ergebnis langfristiger gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse“. Wenn man „Aushandlungsprozesse“ metaphorisch versteht, ist dies richtig, aber dennoch kann man zum Beispiel transsexuelle Männer nicht zu Frauen oder Äpfeln machen, indem man sich darauf verständigt, die Worte „Frau“ oder „Apfel“ auf transsexuelle Männer anzuwenden. Dann würden zwar in Zukunft transsexuelle Männer als „Frauen“ oder „Äpfel“ bezeichnet werden, aber da in der regulären deutschen Sprache dieses Artikels die Worte „Frau“ und „Apfel“ weder auf gegenwärtige noch zukünftige transsexuelle Männer angewendet werden, bliebe und bleibt die Feststellung richtig, dass transsexuelle Männer keine Frauen sind und auch nie sein werden. Auch gegenwärtige sektiererische Privatbedeutungen ändern dies nicht. So erkennt Schrupp zwar die „reproduktive Differenz“ an, doch will sie diese genderideologisch sogleich „von der Geschlechterdifferenz […] lösen“, nämlich mit der Erklärung „Männer gebären Kinder“. Zum Beweis verlinkt sie zu einem englischen Artikel, der davon berichtet, dass ein „Transgendermann ein Kind geboren“ habe. Hier offenbart sich abermals die Konfusion zwischen Worten und Dingen. Man muss nämlich unterscheiden zwischen der normalsprachlich verfasste Nachricht über eine wissenschaftliche Sensation und der in sensationsheischend idiosynkratrischer Sprache verfassten Nachricht über eine Banalität. Wenn eine Sekte das Wort „Transauto“ erfindet und definiert, dass etwas ein „Transauto“ genau dann ist, wenn es eine Elefantenkuh ist, die einmal an einem Auto vorbeigegangen ist, dann lehrt uns die von dieser Sekte verkündete Botschaft „Ein Transauto hat Nachwuchs geboren“ nichts Neues über Schwangerschaften oder Autos. Da analog „Transgendermann“ lediglich die idiosynkratrische Bezeichnung für transsexuelle Frauen ist, sagt der verlinkte Bericht gleichermaßen nur, dass eine transsexuelle Frau, keineswegs ein Mann, ein Kind geboren hat. Dies unterminiert nicht, sondern bestätigt die Validität der Unterscheidung von Männern und Frauen. Beunruhigend konstruktivistisch klingt auch die von der Bundesärztekammer getätigte Aussage, die „Diskussion um die Nomenklatur“ verdeutliche, „dass die Medizin nicht eine rein naturwissenschaftlich geprägte Disziplin darstellt, sondern in Inhalt und Ausdruck auch kulturell geprägt wird und damit aktuellen gesellschaftlichen Strömungen unterliegt“. In einem trivialen Sinne ist dies richtig, nämlich in dem Sinne, in dem Franzosen ihre Resultate eher in einer französischen statt deutschen Nomenklatur zum Ausdruck bringen und puritanische Zeitalter allzu explizite Nomenklaturen vermeiden. Aber erstens wird die Bundesärztekammer diese Aussage nicht getätigt haben, um lediglich Triviales zum Ausdruck zu bringen, und zweitens gilt die triviale Aussage auch für rein naturwissenschaftlich geprägte Disziplinen. Es ist also zu befürchten, dass die Bundesärztekammer durchaus mehr aussagen will, nämlich dass auch die Wahrheit der in einer bestimmten Nomenklatur aufgestellten medizinischen Behauptung von kulturellen Einflüssen abhängt statt lediglich von den mit der Behauptung konstatierten Fakten. Doch diese Aussage ist für die Medizin ebenso falsch wie für die Naturwissenschaften. Im Übrigen ist die Rede von „Aushandlungsprozessen“ und „gesellschaftlichen Einflüssen“ im Kontext der Genderideologie verharmlosend. Genderideologen versuchen ihren Sprachgebrauch mit massivem sozialen Druck, Diffamierungskampagnen und Cancel Culture durchzusetzen. Das kürzlich gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hat sich nicht zufällig auch im Widerstand gegen den genderideologischen Druck formiert. Und in der Tat ist die Wissenschaft entschieden zu verteidigen gegen ideologischen und moralistischen Aktivismus, der ihre Ergebnisse im Sinne einer vermeintlich a priori erkannten Wahrheit zensieren und ihre Terminologie zugunsten eines ideologischen Neusprechs säubern und verzerren will. Sonst fällt sie als objektiver Ratgeber nicht nur für Politik und Juristen, sondern auch für den Normalbürger mit fatalen Folgen aus. Die vermeintlich objektiven Ratgeber, einschließlich des Ethikrates, haben als Transmissionsriemen für eine Ideologie gedient, der sich das BVerfG offenbar nicht zu entziehen wusste – oder auch wollte. Vielleicht liegt dies daran, dass es selbst Schwierigkeiten hat, zwischen neuen Erkenntnissen in der Sache und lediglich neuen Verwendungen von Worten zu unterscheiden. So erklärt es: „Dass dem Verfassungsgeber 1949 bei der Formulierung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG kaum Menschen weiteren Geschlechts vor Augen gestanden haben dürften, hindert die Verfassungsinterpretation nicht daran, diese Menschen angesichts des heutigen Wissens um weitere geschlechtliche Identitäten in den Diskriminierungsschutz einzubeziehen.“ Das BVerfG suggeriert, dass es hier neues Wissen gebe und dies für die Auslegung der Verfassung relevant sei. Da irrt es sich. Ein Beispiel mag helfen: Nehmen wir an, das BVerfG fällt das Urteil, dass die absichtliche Tötung aus niedrigen Beweggründen von Rothaarigen kein Mord sein kann, da Rothaarige, wie angeblich neue Erkenntnisse beweisen, keine Menschen sind. Dieses Urteil wäre völlig verfassungskonform, wenn man tatsächlich herausgefunden hätte, dass Rothaarige keine Menschen sind. Wie hätte man dies herausfinden können? Nun, in einem Science-Fiction-Szenario zum Beispiel, indem man mithilfe neuer Verfahren und empirischer Untersuchungen entdeckt, dass Rothaarige nur nanotechnologisch unglaublich avancierte Roboter sind, Infiltratoren einer vermutlich außerirdischen Macht. In diesem Fall wäre das Urteil verfassungsgemäß, weil es das in der Verfassung implizit vorausgesetzte biologische Verständnis von „Mensch“ akzeptiert und eben ganz richtig feststellt, dass Rothaarige keine Menschen im Sinne der Verfassung sind. Betrachten wir nun ein zweites Szenario. Hier kommt das BVerfG zu seinem Urteil, weil es ratgebenden Organisationen glaubt, dass erstens Rothaarige sich im Gegensatz zu anderen nicht mit ihrem Menschsein „identifizieren“ und dass zudem „Speziesidentität“ in Form der Identifikation mit der menschlichen Spezies Teil der Bedeutung von „Mensch“ sei. Selbst jedoch, wenn es in diesem Szenario wahr wäre, dass Rothaarige sich im Gegensatz zu anderen nicht als Menschen identifizieren, so wäre dies verfassungsrechtlich dennoch irrelevant, da der in der Verfassung vorausgesetzte Begriff des Menschseins die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch keineswegs von der Selbstidentifikation, sondern allein von den biologischen Fakten abhängig macht. Anders gesagt, das BVerfG hätte in diesem zweiten Szenario, anders als im ersten, den Boden der Verfassung verlassen, weil es die Bedeutung, die deren Worte haben, bei der Rechtsprechung ignoriert oder verdreht. Analoges gilt für „Geschlecht“ und „Geschlechtsidentität“. Es ist eine Sache, ein drittes Geschlecht tatsächlich zu entdecken, nämlich indem man einen dritten Keimzellentyp entdeckt. Es ist eine völlig andere Sache, die in der Verfassung vorhandenen Begriffe von Mann, Frau und Geschlecht umzudefinieren oder zu verdunkeln, indem man der in der Verfassung überhaupt nicht vorkommenden „Geschlechtsidentität“ immense Wichtigkeit zuschreibt und behauptet, das Geschlecht sei von der „Geschlechtsidentität“ irgendwie mitbestimmt. Den in der Verfassung verwendeten Geschlechtsbegriff hat man damit hinter sich gelassen, und zwar mit einiger Willkür. Man kann ein solches Vorgehen getrost illiberal nennen. Zudem ist es auch undemokratisch. Wenn von einer demokratischen Mehrheit verabschiedete Gesetzestexte, die Frauen besonderen Schutz durch Frauenhäuser, Frauengefängnisse oder Frauensport oder auch besondere Vorteile durch Frauenquoten zugestehen, durch die ideologische Umdeutung des Wortes „Frau“ ausgehebelt werden, so ist dies ein Affront gegen die demokratische Selbstbestimmung – und gegen Frauen. Solche Probleme lassen sich vermeiden, wenn man an dem tatsächlich in der Verfassung und der deutschen Sprache vorausgesetzten Geschlechtsbegriff festhält. Dieser ist biologisch und objektiv und impliziert in Konjunktion mit empirischen Fakten die Zweigeschlechtlichkeit.
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Uwe Steinhoff
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten dritten Geschlecht ist weder logisch schlüssig – noch wird erklärt, was mit „Geschlecht“ überhaupt gemeint ist. Die Richter wissen offenbar nicht, wovon sie reden. Die Geister, die es rief, kann das Gericht deshalb nur noch mit purer Willkür dämmen. Das ist illiberal und undemokratisch.
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"Geschlechtsumwandlung",
"Geschlecht",
"Drittes Geschlecht",
"Bundesverfassungsgericht",
"Ethikrat",
"Wissenschaftsfreiheit"
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kultur
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2021-10-26T18:58:33+0200
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2021-10-26T18:58:33+0200
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https://www.cicero.de//kultur/bundesverfassungsgericht-drittes-geschlecht-auf-den-leim-gegangen-ideologie-ethikrat-geschlechtsidentitaet-biologie-wissenschaft
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Generation Y - Vom Stipendiaten zum Campuscrasher
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Ein Hintergarten in Berlin-Kreuzberg. Ben Paul, der bekannteste Hochschulabbrecher Deutschlands, sitzt auf einem schwarzen Plastikklappstuhl und referiert über seinen Weg außerhalb der Institutionen. Er nennt sich selbst „Education Hacker“: Er ist der Programmfehler im System Bildung. Als ihn die Hochschule ausbrannte, tauschte er das Studium gegen Selbstverwirklichung. Jetzt will er im Internet anderen erklären, wie das geht. Sein Blog trägt den plakativen Titel „Anti-uni.com“. Mehr als 20.000 Leser verfolgen seine Einträge. Bens Mantra: Selbstfindung ohne Uni, aber mit Ben. 2.200 junge Leute haben bei Facebook ein „Gefällt mir“ dafür gegeben. Verlage traten bereits an ihn heran, Ben schreibt gerade ein Buch. In den Kommentaren schildern Bens Fans ihre eigenen Erweckungserlebnisse. Leserin Miriam brach ihr Abitur ab, studierte nach einer schulischen Ausbildung Kommunikationsdesign. Jetzt jobbt sie als Kellnerin und freie Designerin. Sie empfand ihr Studium als sinnlos und wünscht sich mehr Freiheit. Natalja beklagt, die Gesellschaft sei eine bloße Terrakottaarmee. „Wir brauchen dringend Individualisten.“ Sie suchen nach einer beruflichen Vision, sie fürchten den grauen Alltag und sie fragen nach dem Sinn ihres Tuns: die „Generation Y“. Im Englischen spricht sich der Buchstabe wie das Wort „Why“ aus – „Warum“. Dieses Warum beschäftigt laut der Wirtschaftsprofessorin Julia Rump alle 20- bis 35-Jährigen, denen zwischen der Informationsflut der sozialen Medien und dem Überangebot an Möglichkeiten irgendwo die Bodenhaftung verloren ging. Alle, die sich nicht entscheiden können. Ob Ben sich als ein Gesicht dieser Generation sehen würde? Er nickt. Er möchte den Suchenden einen Weg zeigen, den Fragenden Antworten liefern. Sein Traum ist eine Ich-Generation zwischen MacBook und Jutebeutel, die nach Selbstoptimierung strebt. „Ich möchte so vielen jungen Menschen wie möglich helfen, dass sie das machen können, was sie wirklich möchten.“ Ben brach sein Jurastudium an der Buscerius Law School in Hamburg ab, als die Unipsychologin Burnout diagnostizierte. Seitdem sucht er. Er ging ein Jahr zum Freiwilligendienst nach Nicaragua, aber Sozialarbeit strebt er nicht an. Er hielt Workshops, aber als Coach würde ihm der Freiraum fehlen. Er wollte eine Webseite für Urlaubsreisen entwerfen, aber scheiterte noch beim Versuch. Jetzt probiert er sich als Autor. „Es wird ein populärwissenschaftliches Sachbuch werden – passend zum Blog.“ Er schwankt zwischen kindlichem Idealismus und finanzieller Unabhängigkeit. Mit dem Dilemma der Generation Y lässt sich durchaus Geld verdienen. In den Vereinigten Staaten gründete der Unternehmer Dale J. Stephens bereits 2011 als Zwanzigjähriger das „Uncollege“. Auf der Schulbank saß Stephens zuletzt in der fünften Klasse. Danach brachte sich Stephens selbst Französisch bei, paukte, wie man Geschäftsmodelle aufbaut. Er bekam ein Stipendium von Peter Thiel, dem Deutschen, der auch Facebook Starthilfe gab. Stephens machte seine Abneigung gegen das amerikanische Schulsystem zu Geld. Lebenshungrige Individualisten zahlen schlappe 15.000 Dollar, um bei ihm zu lernen. Am Ende soll ein eigenes Projekt stehen – der Weg zur Erfüllung. Reich werden möchte Ben als Campusaussteiger nicht. Sein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes warf er weg. Er arbeitet jetzt in einem Start-Up, bei dem sich alle duzen. Das „Creative Loft“ Berlin ist ein Büro mit Couch, Einbauküche und einer Wanne im Badezimmer. Mieter des Lofts ist die Unternehmensgesellschaft „Idea Camp“. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss verschiedener Start-Up Inhaber, die in Workshops ihr Rezept für den Start in die Selbstständigkeit weitergeben. Ben betreut für das „Idea Camp“ seit März 2013 den Blog „onedayprofits.de“ und bekommt dafür 500 Euro pro Monat. Mit eigenen Workshops und Produktplatzierungen auf „Anti-uni.com“ erwirtschaftet der Uniabbrecher zusätzlich 300 bis 500 Euro. Als Anstellung betrachtet Ben sein Arbeitsverhältnis mit dem Idea Camp nicht. So etwas würde er nicht wollen. „Ich kann nicht für jemanden arbeiten, der weniger clever ist als ich.“ Schnell relativiert Ben sich. „Naja, zumindest nicht in einem Unternehmen mit krassen Hierarchien.“ Überheblich wirkt die Generation Y auf dem Arbeitsmarkt. „Wir lassen uns im Job nicht versklaven,“ schreibt Zeit-Autorin Kerstin Bund als Vertreterin ihrer Altersgruppe. Doch meinen junge Erwachsene wirklich, von niemandem etwas lernen zu können? Bereits vor vier Jahren beschrieb die Shell Studie das Bild einer strebsamen Generation. Ein unbefristeter Job nach der Ausbildung, eine Familie – das wünschen sich drei Viertel aller Befragten für ein glückliches Leben. Die Studie „Jugend.Leben“ der Universität Gießen bestätigt den Trend. Für die Erhebung 2013 wurden junge Menschen unter 18 Jahren befragt, was sie sich im Leben wünschen. Für mehr als die Hälfte war Sicherheit wichtiger als pure Selbstverwirklichung. Schulabschlüsse und höhere Bildungsziele gelten nach wie vor als zukunftssichernd. Ben weiß noch nicht genau, wo er in fünf Jahren steht. Allerdings, sagt er, seien ihm in der letzten Zeit ein, zwei Studiengänge in den USA oder Dänemark ins Auge gefallen. Die fand der Hochschulverweigerer gar nicht so uninteressant.
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Maike Hansen
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Noch nie hatten Schulabgänger mehr Möglichkeiten in der Auswahl von Ausbildung oder Studium als heute. Doch der Blogger Ben Paul hält von alledem nichts: Er brach sein Studium ab und etablierte sich im Netz als Gegner des klassischen Bildungsweges
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innenpolitik
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2014-09-09T14:17:27+0200
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2014-09-09T14:17:27+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/generation-y-das-dilemma-vom-erwachsen-werden/58145
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Schwellenländer mit Währungsfonds - Der Westen hat Kredit verspielt
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Wer sich für unangreifbar hält, dem gerät auch eine gut gemeinte Geste schnell daneben. Das demonstrierte kürzlich Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Regierungen der Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, kurz Brics genannt, hatten bei ihrem Gipfeltreffen im Juli im brasilianischen Fortaleza die Gründung eines Währungsfonds und einer Entwicklungsbank unter ihrer Regie beschlossen. Erstmals erwächst damit den von Europäern und Amerikanern gelenkten Institutionen IWF und Weltbank Konkurrenz. Und genauso ist es auch gemeint. Die alten Weltenlenker des Westens sind ausdrücklich nicht zur Teilhabe eingeladen. Das focht die frühere französische Finanzministerin Lagarde freilich nicht an. Sie gratulierte den Brics-Regierungen und versprach ganz unverfänglich, „die IWF-Mitarbeiter wären erfreut, mit dem Brics-Team die Zusammenarbeit aller Teile des globalen Sicherheitsnetzes zu stärken“, sagte sie – gerade so, als ob sie und der IWF selbst gar nichts mit dem Vorgang zu tun hätten. Das aber verwandelte die Gratulation in eine Geste des Hochmuts. Denn es waren Lagarde und ihre Kollegen aus der EU und aus den USA, welche die Aufsteiger der Weltwirtschaft überhaupt erst zu ihrem Beschluss getrieben haben. Wenn Staaten in Zahlungsprobleme gerieten, blieb ihnen bisher stets nur der Gang zum IWF nach Washington, um Notkredite zu erhalten. Dort haben aber seit je die Mehrheitseigentümer aus Europa und Amerika das Sagen. Das nutzten diese rücksichtslos aus. So erzwang der IWF während der Asienkrise 1997 in Südkorea, Thailand und Indonesien eine radikale Liberalisierung und Privatisierung, und verschaffte den Konzernen des Westens Marktanteile und wertvolle Unternehmen zum Schnäppchenpreis. „Die Probleme der Tiger-Ökonomien eröffneten eine goldene Chance für den Westen“, bekannte der damalige US-Handelsminister Mickey Cantor offen. „Wenn die Länder die Hilfe des IWF suchen, dann sollten Europa und Amerika den IWF wie einen Rammbock benutzen, um Vorteile zu gewinnen.“ Darum drängen die Schwellenländer seit Jahren auf eine Neuverteilung der Stimmrechte im Fonds, der ihrem wirtschaftlichen Gewicht entspricht. Aber selbst eine Minireform zur Umverteilung von drei Prozent der Anteile scheiterte, weil der US-Kongress die Zustimmung verweigert. Noch immer verfügen so allein Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien gemeinsam über 17,6 Prozent der Stimmen, obwohl sie nur 13,4 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erbringen. Demgegenüber gestehen sie den Brics-Staaten lediglich 10,3 Prozent der Anteile zu, obwohl diese mehr als ein Fünftel der Weltwirtschaft auf sich vereinen. Diese Konstruktion machte es auch möglich, dass Deutschland und Frankreich in Allianz mit den USA und Großbritannien die Kreditmittel des IWF missbrauchten, um ihre Banken aus deren Fehlinvestitionen in Osteuropa und den Euro-Krisenländern freizukaufen. Darum sind nun mehr als 80 Prozent aller IWF-Kredite in Europa gebunden – und das gegen ausdrückliche Kritik der übrigen Mitgliedsländer. Im Fall Griechenland zum Beispiel warnte der brasilianische Exekutivdirektor Paulo Nogueira Batista im Mai 2010, das Programm könne „nicht als Rettung von Griechenland gesehen werden, sondern als Rettungspaket für die privaten Gläubiger von griechischen Schulden, vor allem europäische Finanzinstitute“. Aber die Abgesandten der Finanzminister aus den Euro-Staaten verweigerten einen Schuldenerlass zu Lasten der Banken, obwohl selbst die IWF-Experten vor Ort dies für nötig hielten. So ist es nur logisch, dass die Brics-Staaten versuchen, das Monopol des IWF zu brechen. Doch das ist nicht nur eine gute Nachricht. Denn das instabile globale Finanzsystem kann nur in Kooperation aller großen Akteure reformiert werden. Dringend nötig wäre etwa eine weltweite Koordination der Notenbanken, um chaotische Wechselkurssprünge abzuwehren, die ganze Volkswirtschaften ruinieren. Der von China und seinen Verbündeten betriebene Aufbau einer alternativen Finanzarchitektur droht dagegen, noch mehr Chaos zu stiften. Viel besser wäre, wenn die Finanzgewaltigen des Westens endlich die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den Schwellenstaaten ermöglichen, bevor das alte System auseinander bricht. Der Brics-Beschluss von Fortaleza war womöglich nur ein letzter Warnschuss.
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Harald Schumann
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Die Schwellenländer setzen auf ihren eigenen Währungsfonds. Das ist das Ergebnis amerikanisch-europäischen Hochmuts – Staaten wie China oder Brasilien wollen einfach nicht mehr, dass immer nur Washington bestimmt. Ein Kommentar in Kooperation mit dem Tagesspiegel
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außenpolitik
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2014-08-08T14:56:29+0200
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2014-08-08T14:56:29+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/schwellenlaender-mit-eigenen-waehrungsfonds-der-westen-hat-kredit-verspielt/58046
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Fußball-WM - Rote Karte für die Politik
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In wenigen Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Nicht nur die Teams formieren sich, auch die Politik bringt sich in Stellung, um im Windschatten von „König Fußball“ ein gutes Bild abzugeben. Das sind Momente, in denen wie unter einem Brennglas deutlich wird, wie es um die politische Kultur bestellt ist – nicht nur hierzulande, sondern in der Welt. Die öffentliche Erregung über die politische Instrumentalisierung des Turniers durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist ein Beleg dafür, wie löchrig zuweilen das kollektive Gedächtnis und wie einseitig und getrübt die öffentliche Wahrnehmung der Wirklichkeit ist. Dass sich die Politik gerne im Scheinwerferlicht des Spitzenfußballs sonnt, ist weder ein neues Phänomen noch eine Besonderheit autoritärer Staaten. Dies allein wäre auch noch keine Politisierung des Sports. Was kümmert es das Licht, wenn es viele Motten anzieht? Dies ist höchstens ein Beleg seiner Strahlkraft. Interessant wird die Beziehung zwischen Sport und Politik erst dadurch, dass sich ersterer vor den Karren der zweiten spannen lässt und dies als Aufwertung der eigenen Rolle feiert. Wie dieser Prozess vonstatten geht, hat Deutschland im Zuge des „Sommermärchens“ von 2006 erfahren. Schon etliche Monate vor Beginn des Turniers schien sich die gesamte deutsche Öffentlichkeit – und mit ihr Wirtschaft und Politik – nahezu verzweifelt an den WM-Zug zu klammern, um ein Gefühl von Aufregung, Bewegung, Dynamik oder einfach nur ein bisschen Fahrtwind zu spüren. Dies war angesichts hoher Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stagnation und einem ausgeprägten Mangel an Zukunftsoptimismus auch bitter nötig. Das spürte auch die frisch gewählte Kanzlerin Angela Merkel: Nicht von ungefähr übernahm sie gleich in ihrer ersten Adresse an die Nation die Fußballsprache und betonte mehrere Minuten lang die nationale Bedeutung des anstehenden Turniers: Zehntausende Arbeitslose sollten auf neue Jobs, Unternehmen auf rasante Umsatzsteigerungen, Geldanleger auf Gewinne aus WM-Finanzprodukten, das Bruttoinlandsprodukt auf ein halbprozentiges Wachstum, die Umwelt auf ein klimaneutrales Turnier und die ganze Nation auf einen regelrechten Befreiungsschlag hoffen. Die Fußball-Weltmeisterschaft wurde als Ereignis inszeniert, in dem die Nation „zu sich selbst finden“, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollte. Fast jedes Bundesministerium unterhielt eine eigene Werbekampagne mit Fußballbezug. Nationale Kampagnen wie „Land der Ideen“ oder „Du bist Deutschland!“ sollten zusätzlich Offenheit, Orientierung und Optimismus ausstrahlen. Es schien, als müssten die vier Wochen, in denen „Die Welt zu Gast bei Freunden“ (das Motto der WM) sei, zur Lösung beinahe aller Probleme genutzt werden, da sich sonst das Zeitfenster für Veränderungen schließe. Man fühlte sich ein wenig wie in einem mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur weil der König mit seinem Gefolge hindurchreitet. Die Art und Weise, in der das Sportereignis zu einem Katalysator für einen neuen Aufbruch stilisiert wurde, war bezeichnend für den politischen und wirtschaftlichen Stillstand des Landes. Angesichts dieser nationalen Herkulesaufgabe, die dem Turnier aufgebürdet wurde, ist der niedrige Millionenbetrag, der offenbar aus schwarzen Kassen wohin auch immer floss, um die Entscheidung der Fifa bei der Vergabe des Turniers zugunsten Deutschlands zu beeinflussen, geradezu schnäppchenhaft niedrig. Dennoch reichte dieser Betrag aus, um das „Sommermärchen“ in der heutigen öffentlichen Erinnerung in eine Lüge und gewissermaßen in einen „Sommernachtsalbtraum“ zu verwandeln. Dabei waren die Erwartungen an die WM 2006 in Deutschland enorm: Der Hoffnung, ein solches Großereignis könne die politische wie wirtschaftliche Situation eines Landes nachhaltig verbessern, wurde nahezu alles untergeordnet. Als die deutsche Mannschaft im Vorfeld des Turniers bei einem Testspiel in Italien eine heftige Niederlage erlitt, kam hektische Betriebsamkeit im politischen Berlin auf. Bundestagsabgeordnete von CDU, SPD und FDP wollten sogar den damaligen DFB-Teamchef Jürgen Klinsmann vor den Bundestags-Sportausschuss zitieren, damit dieser darlegen könne, wie er die WM zu einem guten Ende zu führen gedenke. Die Nervosität hatte Gründe: Schließlich hatte man das Beispiel Südkorea vor Augen: Immerhin konnte sich das asiatische Land, dass vier Jahre zuvor gemeinsam mit Japan die Fußball-Weltmeisterschaft ausgerichtet hatte, über direkte wirtschaftliche Wachstumseffekte von mehr als 3,4 Mrd. Euro freuen. Diese Aussicht wollte man sich nicht durch schlechten Fußball zerschießen lassen. Letztlich blieb die Fußball-WM 2006 für Deutschland wirtschaftlich nahezu irrelevant. Kein Wunder, war doch der Vergleich mit Südkorea von Anfang an surreal: Da die Wirtschaft Südkoreas bereits in den Jahren vor 2002 überaus dynamisch war, fiel der leichte Fußball-Impuls auf fruchtbaren Boden – ein Umstand, der in Deutschland so gerade nicht gegeben war. Dementsprechend bezifferten Ökonomen den WM-bedingten Primär-Effekt durch Mehrausgaben für Übernachtungen und Ticketkäufe in Deutschland auf eine halbe Milliarde Euro – viel zu wenig, um den Konsum messbar zu beeinflussen. Auch die Baubranche profitierte kaum: Da neben der erforderlichen Infrastruktur auch schon viele moderne Stadien im fußballbegeisterten Deutschland vorhanden waren, waren große Bauvorhaben kaum nötig. Daher hatte die WM auch auf den Arbeitsmarkt keinen nachhaltigen Effekt: Die zusätzlichen Jobs waren zeitlich eng befristet und endeten, kurz nachdem der Fifa-Tross und der Weltpokal das Land wieder verlassen hatten. Auch die Weltmeisterschaft von 2010 in Südafrika wurde zu einem zutiefst politischen und politisierten Ereignis. Erstmals fand das Turnier in Afrika statt, und noch dazu in Südafrika, also genau in jenem Land, das die Hoffnung für die Überwindung von Rassismus und Unfreiheit nährte und zugleich den Aufstieg Afrikas symbolisierte. Doch kaum waren die ohrenbetäubenden Vuvuzelas in den Stadien verklungen, versank das Land in gewalttätigen Streiks und politischen Intrigen, in Korruption und in Versuchen, die Rechte der freien Presse zu beschneiden. Insgesamt entstanden dem Land durch die WM Kosten von 6 Milliarden Euro – ohne dass der erhoffte Entwicklungsschub eintrat. Fünf neue Stadien wurden gebaut, und keines erwirtschaftet bis heute Überschüsse. Der südafrikanische Tourismus entwickelte sich nach 2010 sogar rückläufig. Forscher bezifferten den Konjunktureffekt insgesamt auf maximal 0,5 Prozent – viel zu wenig, um Südafrika wirtschaftlich voran zu bringen. Auch die großen Hoffnungen auf eine bessere politische Zukunft am Kap der guten Hoffnung erfüllten sich nicht: Die gesellschaftliche Depression nimmt seither immer weiter zu. Nicht viel positiver fällt die Bilanz Brasiliens nach der Weltmeisterschaft von 2014 aus – und dies nicht nur wegen der historischen Halbfinalniederlage. Schon in den Wochen vor dem ersten Anpfiff hatten immer wieder Hunderttausende gegen die horrenden Kosten des Großereignisses protestiert und die Verschwendung von Steuergeldern angeprangert. Positive Impulse für die Wirtschaft des Landes gingen von dem Turnier ebenfalls nicht aus – schwerer wog die Ernüchterung ob der ausbleibenden Verbesserungen, die die Politik immer wieder versprochen hatte. Der Fußball blickt also auf eine lange Geschichte der Instrumentalisierung durch die Politik zurück. In dem Maße, in dem es Politik immer weniger gelingt, gesellschaftliche Dynamik und Begeisterung zu erzeugen, wächst die Bedeutung des Fußballs. Das Fußballstadion ist einer der wenigen Orte, an denen Politiker sich heute „eins“ fühlen können mit den Wählern: als Anhänger eines Teams. Gleichzeitig bietet der Sport der Politik eine Ebene, um den Menschen näher zu kommen. Man erinnere sich daran, wie lange die Aufnahmen der im Stadion jubelnden Kanzlerin Merkel ihr Image positiv beeinflussten. Immer wieder versuchte sie seither, diese Wirkungen zu wiederholen: Doch ihre mittlerweile zur Routine verblassten Besuche im Trainingslager des DFB-Teams haben nicht mehr den öffentlichen Effekt, sondern wirken inszeniert. Das politische Klima hat sich verändert, und diese Veränderung lässt sich auch nicht durch Aufnahmen im Kreise siegestrunkener und verschwitzter Fußballer überdecken. Ähnlich gewollt und künstlich wirken auch die Bemühungen von Wladimir Putin, sich selbst sowie Mütterchen Russland als fußballbegeistert zu präsentieren. Schließlich ist bekannt, dass Putins Herz nicht für den Spitzenfußball schlägt. Die russische Equipe bietet dazu auch keinen Anlass. Im Kern tut der Kremlchef zwar nichts anderes als alle anderen Politiker, die die Nähe zum Spitzensport suchen. Nur ist es in seinem Fall besonders wenig überzeugend. Was es wiederum leicht macht, Putin der Instrumentalisierung des Sports zu überführen. Wie so oft sind aber nicht die offensichtlichen und direkt in Erscheinung tretenden Akteure das Hauptproblem. Der Vorwurf, die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland sei „Putins WM“, offenbart das Fehlen sowohl eines historische Bewusstseins als auch echten Interesses an der Entwicklung des Fußballs. Das Turnier in Russland wird aufzeigen, wie westlich Russland tatsächlich ist und wie wenig sich die Politik und die Kultur des Westens in Wirklichkeit von der Putins unterscheiden. Es wäre im Sinne des Sports, der Politik insgesamt die Rote Karte zu zeigen, denn sie hat auf dem Fußballplatz nichts verloren. Doch dazu müssten aber nicht nur die offensichtlichen, sondern auch die versteckten politischen Fouls geahndet werden – und das auf beiden Seiten.
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Matthias Heitmann
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Politikern gelingt es immer weniger, die Massen zu begeistern. Sie benutzen stattdessen große Sportevents wie die Fußball-WM. Warum lässt sich der Fußball das gefallen? Von Matthias Heitmann
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kultur
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2018-06-08T11:42:18+0200
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2018-06-08T11:42:18+0200
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https://www.cicero.de//kultur/fussball-wm-putin-deutschland-wirtschaft-merkel
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Cicero im August - Durchwinken
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Was bereitet den Deutschen am meisten Sorgen? Laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos nannten 45 Prozent der Befragten die Inflation, unmittelbar gefolgt von Migration mit 44 Prozent. Wobei sich die Besorgnis kaum auf die gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern bezogen haben dürfte. Sondern auf Menschen, die unkontrolliert in die Bundesrepublik kommen und von denen wir nicht wissen, wer sie sind, woher sie stammen oder was sie bei uns wollen. Und davon gibt es viele. In einem funktionierenden Gemeinwesen würde man davon ausgehen, dass die Politik sich dieser Fehlentwicklung annimmt und gegensteuert – allein schon aus Eigeninteresse, weil anderenfalls andere Parteien sich des Themas im demokratischen Wettbewerb annehmen werden. Im Auswärtigen Amt sieht man das alles offenbar ganz anders – zumindest, seit Annalena Baerbock die Verantwortung im Ministerium am Werderschen Markt trägt. Wie unsere Recherchen und von uns eingesehene interne Dokumente zeigen, hat man von dort aus die deutschen Botschaften sogar dazu ermuntert, Einreisevisa an Personen zu vergeben, die ganz offenkundig mit gefälschten Papieren vorstellig geworden waren. Wenn deutsche Diplomaten vor Ort deswegen höchste Sicherheitsbedenken hatten und entsprechende Alarmsignale nach Berlin meldeten, wurde das alles nicht nur beiseite gewischt. Die Beamten wurden von der Baerbock-Zentrale sogar ausdrücklich dazu aufgefordert, nicht so genau hinzuschauen. Dass dieses „Durchwinken wider besseres Wissen“ im Außenamt noch dazu von sogenannten Nichtregierungsorganisationen mit klarer Migrations-Agenda befördert wurde, gehört bekanntlich zum politischen Stil insbesondere von grünen Teilen der Ampelregierung. Für die ohnehin angespannte gesellschaftliche Stimmung, an der besagte Ampelregierung erheblichen Anteil hat, sind solche Vorgänge natürlich pures Gift. Im Oktober vorigen Jahres hatte Olaf Scholz vollmundig verkündet, „wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben“. Was von diesen Kanzlerworten zu halten ist, wenn gleichzeitig die Außenministerin Einreisepapiere an Personen verteilen lässt, die erkanntermaßen das Botschaftspersonal etwa in Islamabad zum Narren halten, ist klar: reine Augenwischerei. Der Vertrauensverlust gegenüber der Politik schreitet voran. Besonders beunruhigend: Die Bundesregierung scheint es so zu wollen. Die August-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen. Online können Sie die Titelgeschichte außerdem hier lesen. Jetzt Ausgabe kaufen
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Alexander Marguier
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Gefälschte Pässe, zweifelhafte Verwandtschaftsverhältnisse und mutmaßliche Tarnidentitäten: Lesen Sie in der August-Ausgabe von Cicero, wie das Auswärtige Amt unter Baerbock zum Migrations-Ministerium der „No nations, no borders“-Ideologie wurde.
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innenpolitik
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2024-07-24T19:22:44+0200
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2024-07-24T19:22:44+0200
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Paris-Attentäter kam über Flüchtlingsroute - Durchs offene Tor
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Die Ermittlungen der französischen Fahnder nach den Anschlägen von Paris haben ergeben: Einer der Bomber von Paris, Ahmed Al Mohamed, hat die französische Hauptstadt über die Flüchtlingsroute erreicht. Er kam zusammen mit Flüchtlingen aus der Türkei auf die griechische Insel Leros. Die Ermittler haben bestätigt, dass seine Fingerabdrücke mit jenen eines Mannes übereinstimmen, der Anfang Oktober über Griechenland in die Europäische Union kam. Der 1990 in Syrien geborene Attentäter soll dann über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Österreich weitergereist sein. Der britische Guardian berichtet präzise über den Fall und dokumentiert die mutmaßliche Route des Attentäters. Damit ist die Befürchtung zur Wahrheit geworden: Die Strategen des IS-Terrors haben die Flüchtlingsroute über Griechenland und den Balkan genutzt, um nach Europa zu kommen und dort ihre Attentate zu verüben. Wir haben die Lage im Griff, hat Kanzlerin Angela Merkel nur wenige Stunden vor den Schüssen und Bomben von Paris im deutschen Fernsehen gesagt. Und ihr Vizekanzler, SPD-Chef Sigmar Gabriel, behauptet: „Durch Paris darf sich in Deutschland nichts ändern.“ Mit Verlaub und mit allem Respekt: Erstens beweist der Attentäter, dass die Regierung mit ihrer Politik des offenen Schlagbaums wenig im Griff hat. Zweitens muss sich natürlich etwas ändern in Deutschland, wenn sich nun erweist, dass die Flüchtlinge von Attentätern wie eine Schafherde genutzt werden, um sich unerkannt darunter zu mischen und so unbehelligt an die Ziele ihrer Anschläge zu gelangen. Man mag nun über Markus Söder, den bayrischen Finanzminister, herfallen, wie man will, und sein Satz, natürlich sei „nicht jeder Flüchtling ein IS-Terrorist“, ist schwer missglückt. Aber Söder hat in seiner zentralen Botschaft recht, spätestens jetzt, wo sich erweist, dass ein Attentäter auf diese Weise in die EU kam: „Die Zeit der unkontrollierten und zum Teil illegalen Zuwanderung muss endlich vorbei sein.“ Es ist ein politisch untragbarer und unverantwortbarer Zustand und grotesk obendrein, wenn nach Paris die Kontrollen auf den Flughäfen verschärft und zugleich an den EU-Außengrenzen sowie an der deutschen Landesgrenze Tausende von Menschen entweder unregistriert oder aber registriert und notgedrungenerweise wegen der schieren Masse ungeprüft ins Land gelassen werden. Das müsste jedem vernunftbegabten Menschen einleuchten. Und jemandem, der einen Eid darauf geleistet hat, Schaden von seinem Land abzuwenden, erst recht.
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Christoph Schwennicke
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Eine zentrale und von offizieller Seite bestätigte Information geht bisher unter in den deutschen Info-Kanälen: Einer der Attentäter von Paris kam über die Flüchtlingsroute
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außenpolitik
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2015-11-16T13:50:46+0100
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2015-11-16T13:50:46+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/attentaeter-paris-durchs-offene-tor/60127
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Fortschritt durch Bildung - Muslimische Mädchen starten durch
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„Wie hoch ist an Ihrer Schule der Ausländeranteil?“ – Diese Frage an den Direktor eines renommierten Gymnasiums im Berliner Bezirk Mitte richtete keinesfalls ein besorgter bildungsbeflissener Vater aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Nein, sie kam von einem türkischen Vater, der seine 13-jährige Tochter zum Schulbesuch anmelden wollte. Die Tochter sei klug und wolle unbedingt das Abitur machen, und er habe vom guten Ruf des Gymnasiums gehört. Dem Wunsch stand nichts entgegen. Der verblüffte Direktor stellte allerdings die Gegenfrage: „Sind Sie denn nicht selbst Ausländer?“ Der Vater antwortete nicht ohne Stolz, mit den Türken, den Syrern und Irakern in Neukölln wolle er nichts zu tun haben, mit den dortigen Schulen schon gar nichts. Sein Mädchen könne nur vernünftig lernen, wenn an der Schule – auch in den Pausen – Deutsch gesprochen werde. Dieses Beispiel zeigt einen Trend, den Soziologen schon seit geraumer Zeit feststellen. In Deutschland ist ein türkischer Mittelstand entstanden, der leistungs- und aufstiegsorientiert eingestellt ist und auch die Kinder in dieser Haltung erzieht. Türkisch-deutsche Unternehmen finden sich in international orientierten Dienstleistungs- und Industrieunternehmen genauso wie in Handwerksbetrieben oder technologieorientierten Start-ups. Sie beschäftigen über 500.000 Mitarbeiter. In Berlin versuchen türkische Mittelstandsfamilien, ihre Kinder an Schulen anzumelden, an denen hohe Leistungsstandards gelten und wo auch eine störungsfreie Lernkultur garantiert ist. Um das in Berlin geltende Wohnortprinzip bei der Schulwahl zu umgehen, wird das Kind schon einmal bei einer Tante oder Kusine in einem bürgerlichen Wohnbezirk polizeilich gemeldet. Lange Wege nimmt man billigend in Kauf. Ganz anders sieht es noch in den Stadtteilen aus, die die Stadtsoziologen als „Brennpunkte“ bezeichnen. Dort sitzen in den Klassen der Schulen mitunter über 80 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund. In den Pausen erklingen alle Sprachen der Herkunftsländer in einem babylonischen Sprachengemisch. Einige Schulen haben Deutsch auf dem Schulhof verordnet, um die Sprachkompetenz in der Unterrichtssprache Deutsch zu fördern. Prompt hat der Türkische Bund Berlin Brandenburg (TBB) diese Verordnung als diskriminierend bezeichnet und den Berliner Senat aufgefordert, die „Deutschpflicht“ auf Schulhöfen wieder abzuschaffen. Einige Schulen taten das von sich aus, weil sie Konflikte mit ausländischen Schülern und ihren Eltern vermeiden wollten. Außerdem fühlten sie sich außerstande, die Kommunikation der Schüler auf dem Pausenhof zu überwachen. Wenn man sich Schulen in sozialen Brennpunkten anschaut, kann man die Vorbehalte bildungsorientierter Eltern verstehen. Die Lernkultur in den Klassen mit hohem Migrationsanteil ist problematisch, die Arbeit der Lehrkräfte mühsam, oft frustrierend. Viele Lehrkräfte lassen sich nach Jahren zermürbender Arbeit in bürgerliche Wohnbezirke versetzen, um ungestört unterrichten zu können. Ich habe selbst zwölf Jahre an einer Gesamtschule in einem solchen „belasteten“ Kiez unterrichtet und dabei eine Zweitqualifikation als Sozialarbeiter erworben, Streitschlichtung und kriminalistische Ermittlung inklusive. Mir ist sehr schnell aufgefallen, dass unter den muslimischen Schülern die Mädchen besonders benachteiligt sind. Während die türkischen und arabischen Jungen ihre Affekte oft hemmungslos ausagieren und dadurch Stärke und Dominanz demonstrieren, ziehen sich die Mädchen, die Haare streng unter dem Kopftuch verborgen, in sich zurück. Neidvoll sehen sie auf ihre deutschen Klassenkameradinnen, die sich locker und ungezwungen geben und auch ein freizügiges Outfit pflegen. Der spielerische Umgang mit dem anderen Geschlecht zur Erprobung der Rollenmuster ist ihnen streng verboten, weil sie von ihren oft orthodox eingestellten Familien sonst schnell als „Schlampen“ eingestuft werden. Ich habe Fatima (Name geändert), ein Mädchen aus einer libanesischen Familie, erlebt, das unter diesem Rollenkonflikt litt. Oft kam sie morgens zur ersten Stunde zu spät. Die Fachlehrer wandten sich deshalb mit der Bitte an mich, als Klassenlehrer auf Fatima einzuwirken. Im Gespräch erfuhr ich den Grund für ihre Verspätung. Sie brachte vor der ersten Stunde immer zehn Minuten auf der Toilette zu, wo sie sich ihres Kopftuches und Umhanges entledigte und in enge Jeans und ein gewagtes Top schlüpfte. Ihre Haare ließ sie frei flattern, die Lippen schminkte sie im typischen Teenie-Style. Mehr von Rainer Werner: Fatima wollte in der Klasse eben so aussehen wie ihre Freundinnen Anna, Katrin und Elsa. Nach der Schule kam die Rückwärtsverwandlung. Nur im strengen Habitus der Verhüllung konnte sie ihrem Bruder, der die Schule geschmissen hatte und sich jetzt als moralischer Aufpasser über seine intelligente Schwester betätigte, unter die Augen treten. Moral („Ehre“) kompensiert Bildungsdefizit. Und der Bruder geleitete die Schwester sicher ins elterliche Heim, weil sie nur so den Gefährdungen der „unmoralischen“ Großstadt widerstehen könne. Man stelle sich die Gefühle solcher Mädchen vor, die an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehindert werden und dem Dauerverdacht unterliegen, sie könnten zu einer „deutschen Schlampe“ werden, wenn sie sich nicht unter die schützende Obhut männlicher Familienmitglieder begeben. Ich konnte Fatima in diesem familiär bedingten Konflikt nicht wirklich helfen. Ich ermunterte sie nur, die Schule weiterhin erfolgreich zu meistern, weil sie nur so – langfristig – den Banden ihrer patriarchalischen Familie würde entfliehen können. Wann hat das Bonmot von Karl Kraus, wonach „das Wort Familienbande einen Beigeschmack von Wahrheit“ habe, je mehr Berechtigung gehabt als hier? Nach meinem Wechsel ans Gymnasium erlebte ich Erfreuliches. In den unteren Klassen (in Berlin beginnt das Gymnasium mit der 7. Klasse) saßen ca. 40 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund. Sie waren eifrig, ehrgeizig und gut erzogen. Besonders engagiert waren muslimische Mädchen. Auch wenn sie durch das Kopftuch ihre religiöse oder kulturelle Prägung zum Ausdruck brachten, taten sie alles, um durch gute Leistungen zu glänzen. Probleme gab es noch mit der deutschen Sprache. Auch wenn diese Schüler in Deutschland geboren sind, können sie nicht die sprachliche Differenziertheit erwerben, die bei einem Kind aus dem deutschen Bildungsbürgertum selbstverständlich ist. Für die sprachliche Verständigung auf Alltagsniveau benötigt man ca. 5000 Wörter (für Touristen genügen oft schon 1000). Wenn man sich aber den Kosmos der klassischen deutschen Literatur erschließen will, muss man 20.000 Wörter beherrschen. Ich las mit meiner 9. Klasse die Erzählung „Unterm Rad“ (1906) von Hermann Hesse. Die Sprache Hesses ist noch dem epischen Stil des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Ich sah das Scheitern der Kinder mit ausländischen Wurzeln bei der Klassenarbeit voraus. Also gründete ich einen Lesekreis zur gemeinsamen Lektüre des Textes für die Schüler, die mit der Sprache der Novelle nicht zurechtkamen. Obwohl der Förderkreis nach der Schule stattfand, fanden sich zehn Schüler – ein Drittel der Klasse – ein, neun türkische oder arabische Mädchen und nur ein türkischer Junge. Die anderen Jungen hatten es vorgezogen, sich auf dem Bolzplatz zu vergnügen. Vier Wochen lang lasen und analysierten wir den Text, oft Wort für Wort. Der Erfolg stellte sich tatsächlich ein: Von den muslimischen Mädchen erreichten beim Aufsatz alle zumindest eine befriedigende Leistung. Was Bildungsexperten immer wieder betonen, hat sich glänzend bestätigt: Die Beherrschung der Sprache ist das A und O des Aufstiegs durch Bildung, das beste Zeichen für eine gelungene Integration. Die volle Integration in die Gesellschaft ist mitunter ein langer Weg. Er kann mehrere Generationen dauern. Bei der ersten Generation von zugewanderten Türken lag der Anteil von Menschen mit Hochschulreife nur bei 15 Prozent. Bei den in Deutschland geborenen Nachkommen lag er immerhin schon bei 25 Prozent, aber dennoch noch weit unter dem Wert der einheimischen Bevölkerung mit inzwischen 45 Prozent. Daraus kann man schlussfolgern, dass immer noch viele Migranten ihren geringen Bildungsstand an ihre Kinder weitergeben. Ein Hoffnungsschimmer sind die Mädchen. Türkische Mädchen erreichen deutlich häufiger das Abitur als türkische Jungen, bei denen sich dafür mehr Schulabbrecher als bei den Mädchen finden. „Generell gehören unter allen Migranten die Frauen zu den Bildungs- und damit Integrationsgewinnern“ („Neue Potenziale“, Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“, 2014). Eines Tages kam Faizah (Name geändert), ein arabisches Mädchen, neu in die Klasse. Sie trug kein Kopftuch und glich auch sonst dem schrillen Outfit ihrer Klassenkameradinnen. Vom ersten Tag an war sie aufmüpfig und renitent – bis zur massiven Unterrichtsstörung. Aus der Schülerakte erfuhr ich, dass sie wegen diverser Vergehen von ihrer vorigen Schule, einem Gymnasium, verwiesen worden war. Es gehört zum pädagogischen Einmaleins, dass man alle Konflikte im Unterricht zuerst friedlich – also ohne Strafen und Sanktionen – beizulegen versucht. Bei Faizah fruchtete dies nicht, weil sie alle Friedensangebote schroff zurückwies. Von dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig stammt die Einsicht: „Schulprobleme unserer Kinder sind oft Lebensprobleme.“ Aus dem Schülerbogen war leider nicht ersichtlich, ob das Verhalten Faizahs auf häusliche Probleme zurückzuführen war. Leider verliefen alle Gesprächsversuche mit Faizah erfolglos. Sie weigerte sich auch, die Schulpsychologin aufzusuchen. Schließlich kam mir der Zufall zur Hilfe. Unsere Schule feierte ein Fest der Kulturen. Eltern aller ethnischen Gruppen waren aufgefordert, bei einem kulinarischen Basar typische Gerichte ihrer Herkunftsländer anzubieten. Faizah bot zusammen mit ihrer Mutter Kofta mit Fattoush-Salat feil. Ich fand das Gericht köstlich. Faizah übersetzte meine lobenden Worte ins Arabische, weil ihre Mutter kein Deutsch verstand. Dadurch war der Bann gebrochen. Faizah war danach auch in der Schule offener als zuvor. Manchmal suchte sie sogar von sich aus das Gespräch, wenn ich Pausenaufsicht hatte. Das zuvor rotzige Gehabe und die aggressive Sprache fielen immer mehr von ihr ab, und sie gab sich als normales 15-jähriges Mädchen. Mir blieb nicht verborgen, dass sie ihr Verhalten in meinem (leider nur in meinem) Unterricht grundlegend veränderte und produktiv mitarbeitete, wie ihre Mitschülerinnen auch. In den Gesprächen mit ihr habe ich herausgefunden, was ihr Problem war. Sie wurde zu Hause vom strengen Vater unterdrückt, der – arbeitslos und gesellschaftlich isoliert – versuchte, in fremder Umgebung die Würde eines arabischen Familienoberhaupts zu wahren. Statt in die innere Emigration – eine melancholische Haltung – zu flüchten, wie es viele Schüler bei solchen häuslichen Konflikten tun, kompensierte Faizah ihre seelischen Nöte in einer aggressiven Extraversion, die letztlich nichts anderes war als ein Hilfeschrei. Wenn man dieses Mädchen auch noch in der Schule bestraft und gedemütigt hätte, wäre aus ihr eine Schulflüchtige geworden. Bei meinen Kollegen musste ich, wenn ich für sie um Schonung bat, viel Überzeugungsarbeit leisten. Die Schulpsychologin, der ich den Fall schilderte, meinte, Faizah habe zu mir deshalb Zutrauen gefasst, weil sie mich in einem Akt von Übertragung als eine Art von Ersatzvater betrachtete. Die Psychologen sprechen von einer „positiven Vater-Imago“. Faizah – im Arabischen bedeutet der Name „die Siegreiche“ – ging ihren Weg. Nach vielen Windungen und Wendungen hat sie das Abitur geschafft und studierte danach an einer Berliner Universität Psychologie. An den Gymnasien haben die Mädchen inzwischen die Jungen, was die Abiturzahlen angeht, überrundet. Der Anteil von Schülerinnen eines Jahrgangs, die das Abitur ablegen, liegt inzwischen um 17 Prozent höher als der Anteil von Jungen (Zahl von 2020). Auch qualitativ sind Mädchen spitze: Unter den besten zehn Schülern eines Abiturjahrganges finden sich in der Mehrzahl Mädchen. Verhaltenspsychologen glauben zu wissen, warum Mädchen in der Schule besser abschneiden als Jungen. Es liegt nicht an der Intelligenz, sondern an Verhaltensweisen, die das Lernen in der Gruppe begünstigen. Mädchen besitzen ein besseres Sozialverhalten, mehr Einfühlungsvermögen und Selbstverantwortung. Sie sind angepasster und fleißiger als Jungen. In der Pubertät können sie zwar schon einmal zickig werden, sie liefern sich aber keine wochenlangen Kämpfe mit einzelnen Lehrern, wie sie bei Jungen nicht selten vorkommen. Hinzu kommen genetische Vorteile: Mädchen gelten als sprachbegabter als Jungen. Da Sprechen im Unterricht wichtig ist, trägt diese spezielle Begabung zum Schulerfolg der Mädchen bei. Mädchen mit Migrationsgeschichte schließen mit ihrem Bildungserfolg an die Erfolge deutscher Mädchen an. Auch bei ihnen führen die mädchentypischen Sekundärtugenden zum Erfolg. Hinzu kommt noch die Motivation, durch das Abitur und einen akademischen Beruf die Fesseln patriarchalischer Familienstrukturen abstreifen zu können. Studiert man die Namenslisten der Abiturjahrgänge, die sich stolz in der Lokalpresse präsentieren, kann man den schulischen Erfolg ausländischer Schülerinnen an den fremdländischen Namen ablesen. Auch im öffentlichen Leben sind diese Mädchen und jungen Frauen unübersehbar: Als Fernsehmoderatorinnen, als Schauspielerinnen, Sportlerinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen. Im Sommer 2022 wurde die Grünen-Politikerin Aminata Touré in Kiel erste schwarze Ministerin in Deutschland. Ihre Eltern waren 1992 aus dem muslimischen Mali nach Deutschland gekommen. Muslimische Mädchen starten durch. Wir sollten alles tun, um sie auf diesem Weg zu unterstützen. Im Cicero-Podcast spricht Sandra Kostner (hier Klicken für Links zu Spotify und Co) vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit über den wachsenden Einfluss von Ideologien in Forschung und Bildung.
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Rainer Werner
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Mädchen mit Migrationsgeschichte schließen mit ihrem Bildungserfolg an die Erfolge deutscher Mädchen an. Meist sind sie dabei auch fleißiger und erfolgreicher als ihre Brüder. Mädchentypische Sekundärtugenden kommen ihnen zugute, aber auch der Wunsch, durch das Abitur und einen akademischen Beruf die Fesseln patriarchalischer Familienstrukturen abzustreifen. Wir sollten alles tun, um diese Schülerinnen dabei zu unterstützen.
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"Migration",
"Bildung",
"Zuwanderung",
"Islam",
"Türkei"
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kultur
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2022-07-22T16:37:50+0200
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2022-07-22T16:37:50+0200
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https://www.cicero.de//kultur/bildung-integration-muslime-maedchen-schule-islam
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Energiewende - Sigmar Gabriel im Cicero-Foyergespräch
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Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist am Sonntag, 11. Mai 2014, zu Gast beim Cicero-Foyergespräch im Berliner Ensemble. Gemeinsam mit dem Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke und Cicero-Kolumnist Frank A. Meyer sprechen sie über die wesentlichen Fragen zum Gelingen der Energiewende und der Zukunft Europas. Gabriel hat sich viel vorgenommen. Vom Gelingen der Energiewende macht er seinen persönlichen Erfolg als Minister abhängig: „Sicher, bezahlbar und umweltschonend“ soll sie sein. Wie können Arbeitsplätze erhalten und die Verbraucher nicht mehr belastet werden? Auch Europa steht vor entscheidenden Fragen: Welchen Wandel braucht der Kontinent, damit sich antieuropäische Strömungen nicht durchsetzen? Was muss geleistet werden, damit die EU zu einem sozialen, gerechten und wirtschaftlich starken Lebensraum wird? Wo sieht Sigmar Gabriel die Sozialdemokratie und sich in diesen Wendezeiten? Informationen zum Cicero-Foyergespräch „Wendezeit. Welchen Wandel braucht Europa, welche Erneuerung die Energiewende?“ Datum: 11. Mai 2014, 11 Uhr Ort: Bertolt-Brecht-Platz 1, 10117 Berlin Eintritt: 12,- Euro – inklusive aktuellem Cicero-Magazin (Online-Vorverkauf: 13,- Euro) Tickets unter www.berliner-ensemble.de oder an der Theaterkasse Der Gast: Sigmar Gabriel, geboren 1959 in Goslar, ist Vize-Kanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Energie. 1977 trat er in die SPD ein. Von 1990 bis 2005 war er Mitglied des Niedersächsischen Landtags, davon in den Jahren 1999 bis 2003 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, 2003 bis 2005 Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen. In den Jahren 2005 bis 2009 hatte er das Amt des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit inne. Seit 2009 ist er Parteivorsitzender der SPD. Das CICERO-FOYERGESPRÄCH lädt regelmäßig zur kritischen und kurzweiligen Debatte ein. Im Berliner Ensemble können die Zuschauer prägende Persönlichkeiten unserer Zeit erleben und an der Diskussion mit ihnen teilnehmen. Foyergespräch verpasst? Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Thilo Sarrazin: [video:Protest gegen Cicero-Podium mit Thilo Sarrazin] Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Christian Lindner Sehen sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Martin Walser und Peter Sloterdijk Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Peer Steinbrück Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Heinz Buschkowsky Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Claus Peymann Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Richard David Precht Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Margot Käßmann: „Ich predige nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger“ Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Cem Özdemir: "Es gibt keinen Rabatt auf die Verfassung" Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Klaus Wowereit: "Klaus Wowereit will Berlin umkrempeln" Sehen Sie hier Auszüge aus dem Foyergespräch mit Hamed Abdel-Samad: "Umbrüche in der arabischen Welt"
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Cicero-Redaktion
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Leserinnen und Leser des Cicero können Sigmar Gabriel am kommenden Sonntag live erleben. Der Bundeswirtschaftsminister spricht im Rahmen des Cicero-Foyergesprächs im Berliner Ensemble über die Herausforderungen der Energiewende
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2014-05-06T17:54:06+0200
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2014-05-06T17:54:06+0200
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https://www.cicero.de//kultur/energiewende-sigmar-gabriel-im-cicero-foyergespraech/57527
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Meyers Blick auf... - ...den allgegenwärtigen Deal-Begriff | Cicero Online
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Frank A. Meyer hält den Begriff „Deal“ für politisches Handeln für problematisch
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https://www.cicero.de//meyers-blick-deal
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Cicero im Juni - Der Wettlauf mit dem Coronavirus - eine Menschheitsaufgabe
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Peter Piot kennt sich aus mit Viren, er hat 40 Jahre lang an Ebola und HIV geforscht. „Wir sollten uns da nichts vormachen“, sagt der belgische Mediziner mit dem ganzen Hintergrund seiner Erfahrung: „Ohne einen Impfstoff werden wir nie wieder normal leben können.“ Und selbst wenn es gelänge, dieses Serum zu entwickeln, bedürfe es einer enormen logistischen Leistung, Milliarden von Dosen herzustellen und die ganze Welt damit zu beliefern. Die Suche nach dem Serum ist eine Menschheitsaufgabe. Ob und wann wir unser normales Leben wiederhaben können, entscheidet dieser Wettlauf mit dem Virus. Wird das ein Sprint oder ein Marathon? Warum ist es so schwer, und warum dauert das so lange? Die Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner ist diesen Fragen nachgegangen, die nicht nur in Labore führen. Wer diesen Impfstoff eines Tages sein Eigen nennen könnte, ein Staat oder eine Firma oder beides, der hätte die Macht über die Welt fast wie in einem James-Bond-Film. Nach einer Firma, die aussichtsreich im Rennen liegt, hatte US-Präsident Donald Trump schon die Finger ausgestreckt. Weil die Immunisierung durch Impfung keine Frage von Reich und Arm werden darf, haben der französische Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel und einige andere europäische Regierungschefs einen Fonds eingerichtet, der supranational Milliarden sammelt und das Geld der Forschung uneigennützig zukommen lässt. Unser Cicero-Hausökonom Daniel Stelter blickt in den wirtschaftlichen Krater, den das Virus geschlagen hat, und er weist auch einen Weg wieder heraus aus dem tiefen Loch. Mein Kollege Alexander Marguier hat sich mit den gesellschaftlichen Folgen des Lockdowns beschäftigt und kommt zu dem Befund, dass das Virus mitnichten alle gleich macht, sondern die Spaltung der Gesellschaft in fast allen Lebensbereichen forciert. Es gibt erste Meldungen, dass ein Impfstoff in Sicht ist. Wir sollten aber nicht zu sicher davon ausgehen, dass dieser Albtraum mit einem kleinen Pikser in den Arm bald vorbei ist. Piot, selbst beinahe an Corona gestorben, hat das Ebolavirus 1976 mitentdeckt. Der Impfstoff dagegen wurde im November 2019 in Europa zugelassen. Bei HIV, entdeckt 1983, steht er bis heute aus. Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. Jetzt Ausgabe kaufen
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Christoph Schwennicke
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Ohne einen Impfstoff gegen das Coronavirus gibt es kein Zurück zur Normalität. Dabei könnte die Suche danach länger dauern als vielfach angenommen. In der Juni-Ausgabe des „Cicero“ folgen wir daher den Spuren des Virus. Eines ist sicher: Wer den Impfstoff findet, hat die Macht über die Welt.
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"Coronakrise",
"Coronavirus",
"Impfstoff"
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innenpolitik
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2020-05-21T17:53:21+0200
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2020-05-21T17:53:21+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/cicero-magazin-juni-wettlauf-virus-impfstoff
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Große Koalition - Welche Hürden Union und SPD nehmen müssten
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Wahlprogramme formulieren Ziele einer politischen Partei, sie dienen als Mittel der Profilierung im Wahlkampf. Es gibt in der parlamentarischen Demokratie nur ein einziges Wahlergebnis, von dem man die unbedingte Gültigkeit eines Wahlprogramms für die folgende Legislaturperiode ableiten kann: Die absolute Mehrheit. Kommt eine Partei nicht allein an die Regierung, muss sie bei der Verfolgung der formulierten Ziele in den Koalitionsverhandlungen mit anderen Parteien Abstriche machen und Kompromisse suchen. So viel zur Theorie. Der praktische Blick auf den Wahlausgang am vergangenen Sonntag zeigt: Es gibt keine Partei mit absoluter Mehrheit. Und nur eine einzige im Bundestag vertretene Partei, nämlich die CDU, hat versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen. „Ich sage ein klares Nein zu allen Steuererhöhungen“, hat CDU-Chefin Angela Merkel in den vergangenen Monaten immer wieder beteuert. Alle anderen Parteien, SPD, Grüne und Linkspartei, haben die Anhebung der Steuern für Besserverdienende versprochen. Ob Steuern erhöht werden und welche das sein sollen, das wird man am Ende der Verhandlungen zum Koalitionsvertrag sehen. Zur Finanzierung des Haushaltes sehen CDU und CSU keine Notwendigkeit einer Steuererhöhung. Sowohl im Wahlprogramm als auch im Wahlkampf der Union hatte es daran keinen Zweifel gegeben. Im Gegenteil: Schwarz-Gelb hatte noch kurz vor der Wahl einen Gesetzentwurf zur Abmilderung der „kalten Progression“ eingebracht, nach dem vor allem Bezieher mittlerer Einkommen steuerlich entlastet würden. Gleichwohl hat Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) in einem Interview mit der „Zeit“ nicht ausgeschlossen, dass es Steueranhebungen geben könnte. „Wir sollten jetzt schauen, wie die Gespräche (über den Koalitionsvertrag) laufen“, hat Schäuble gesagt, nachdem er eine Vermögenssteuer als „schweren Fehler“ abgelehnt hat. Diese Unklarheit ist Schäuble am Mittwoch als verstecktes Angebot an SPD oder Grüne ausgelegt worden, mit der Union in Koalitionsgespräche zu treten und ihre steuerpolitischen Ziele durchzusetzen. Umso mehr, als auch andere CDU-Politiker, etwa der nordrhein-westfälische Landeschef Armin Laschet Steuererhöhungen nicht ausschlossen. Seither herrscht Aufregung in der Union. „Wir sollten jetzt niemanden verunsichern“, mahnte am Donnerstag ein hoher Parteifunktionär, „weder künftige Koalitionspartner noch unsere eigenen Leute.“ Vor allem Letztere hatten sich besorgt gefragt, warum die Union mit ihrem guten Wahlergebnis ohne Not ein wichtiges Wahlversprechen vor Beginn von Gesprächen verhandelbar stellt. Für die SPD ist die Anhebung des Spitzensteuersatzes genauso wie die Einführung einer Vermögenssteuer, die Anhebung der Erbschaftssteuer und die Erhöhung der Kapitalertragssteuer eine Frage von Gerechtigkeit. Wobei man wissen muss, dass der ehemalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück von Anfang an kein Freund der Vermögenssteuer war, weil er fürchtete, dass Unternehmen zu stark beschnitten werden. Denkbar ist, dass die Union einer Anhebung des Spitzensteuersatzes zustimmt, weil auch ihre Wähler das Auseinanderdriften von Arm und Reich beklagen. Im Gegenzug könnte die kalte Progression gemildert werden – Mittelstand und Mittelschicht würden ein wenig entlastet. Bei Erbschafts-, Vermögens- und Abgeltungssteuer wird die Union nicht verhandlungsbereit sein. Fazit: Gute Einigungsmöglichkeiten. „Gutes Geld für gute Arbeit“ haben SPD und Grüne im Wahlkampf versprochen. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro wollten sie einführen. Das Thema steht ganz oben auf der politischen Agenda der SPD, denn es trifft ihre Kernwählerschaft, Menschen, die arbeiten gehen und dennoch vom Lohn nicht leben können. Die Union hat ebenfalls lange um das Thema gerungen, denn auch in ihrem Selbstverständnis gibt es keinen Platz für Leistung, die sich nicht lohnt. Allerdings konnte sich der Teil der CDU durchsetzen, der branchen- und regionalspezifische Ergebnisse von Tarifverhandlungen und nur im Notfall staatliche Eingriffe vorsieht. Eine Lösung, wie sie die SPD anstrebt, wird es womöglich nicht geben. Aber einen Kompromiss gewiss. Fazit: Große Einigungschancen. Der Kampf gegen das Betreuungsgeld war eines der Mobilisierungsthemen der SPD, denn zwei Drittel der Deutschen lehnen diese Leistung ab. Die Sozialdemokraten versprachen, das Betreuungsgeld sofort abzuschaffen und stattdessen in den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung zu investieren. Die Leistung beantragen können Eltern, deren Kinder keine öffentliche Betreuung in Anspruch nehmen. Das Problem ist: Nicht für die gesamte Union, aber für die CSU ist das Betreuungsgeld ein Symbolthema von großer Bedeutung. CSU-Chef Horst Seehofer hatte zur Durchsetzung der auch in der schwarz-gelben Koalition ungeliebten Leistung mehrfach mit dem Ende der Regierung gedroht. Angesichts des starken CSU-Bundestagswahlergebnisses wird er sich gegen den Gesichtsverlust stemmen. Auch mit ihrer Forderung nach dem vollen Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Lebenspartner dürfte die SPD bei der Union auf Granit beißen. Fazit: Die Familienpolitik wird eines der schwierigsten Themen. Seit Jahren wirft die SPD Merkel vor, sie halte die Zusagen nicht ein, die sie der SPD als Preis für deren Zustimmung zum ständigen Euro-Rettungsschirm ESM 2012 geben musste. Die Bundesregierung verschleppe ein umfassendes Investitionspaket für Krisenländer, dränge nicht auf Realisierung von Finanztransaktionssteuer und Bankenregulierung, monierten die Sozialdemokraten. Eine große Koalition könnte nun das Bekenntnis zu diesen Instrumenten bekräftigen, denn nicht über die Euro-Rettung, sondern nur über die Instrumente zur Euro-Rettung streiten Union und SPD. Denkbar ist auch, dass die Union einen Schritt auf die Sozialdemokraten zugeht und sich unter strengen Bedingungen zu einer stärkeren gemeinsamen Haftung bereit erklärt. Viele Euro-Länder würden das sehr begrüßen. Fazit: Die Einigungschancen auf diesem Gebiet sind sehr gut. Ein großes Pfund der SPD in möglichen Verhandlungen ist ihre starke Stellung in den Ländern und im Bundesrat - und ohne die Länderkammer kann auch eine Bundesregierung wenig bewegen. Die große Koalition würde im Bundestag über die nötige Zweidrittelmehrheit verfügen, um das Grundgesetz zu ändern. Die Sozialdemokraten drängen darauf, die Vorschrift aufheben, wonach Bund und Länder in der Bildungspolitik nur in Ausnahmefällen kooperieren dürfen. Die Union ist anderer Meinung. Verbessern will die SPD auch die Finanzsituation der Kommunen, die die schwarz- gelbe Koalition ihrer Meinung nach auszehrte. Fazit: Sehr große Probleme, sehr unterschiedliche Positionen, aber gemeinsame Lösungen nach langen Verhandlungen vorstellbar. Das Ringen mit den Ländern bliebe aber auch nach Abschluss eines Koalitionsvertrages spannend.
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Hans Monath
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Die Union will in Sachen Steuern womöglich auf die SPD zugehen. Welche Knackpunkte gäbe es bei Koalitionsgesprächen?
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innenpolitik
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2013-09-27T07:33:00+0200
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2013-09-27T07:33:00+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/grosse-koalition-welche-huerden-union-und-spd-nehmen-muessten/55955
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Guttenbergsche Bilderstreit – Politische Ikone vs. gute Argumente
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In die Ratlosigkeit der Intellektuellen in Deutschland tropften allmählich einige Begriffe, aus denen ganz unerwartete Erkenntnisse hergeleitet werden können: „Charisma“, „Strahlemann“, “Ikone“, „Heiligenschein“, „Droge“. Dies waren tatsächlich die Navigationsinstrumente, mit denen das Rätsel wenigstens nachträglich zu lösen sein sollte. Gemeinsamer Nenner solcher noch stochernder Annäherungen war die Nähe zum Unbewußten und Transzendenten. In solchen Worten kam die Verzweiflung denkender Bürger über die Kräfte des Irrationalen in der Gesellschaft zum Ausdruck. Der Verstand schien von Emotionen besiegt zu sein. Woody Allen hatte seine Wahlkampferfahrungen auf den Punkt gebracht, als er die Wirkungslosigkeit seiner Argumente gegen George W. Bush feststellen mußte. „You are absolutely right“, war ihm entgegen gehalten worden, „but we just like this guy“. Auch diese Erklärung griff noch zu kurz. Es war letztlich wieder nur ein rationales Argument. Der Sprachtherapeut in „The King’s Speech“ wußte instinktiv, wie er die zungenlähmende Angst des künftigen Monarchen überspielen konnte. Nicht mit den Argumenten der Tiefenpsychologie, sondern mit Gefühlen, die noch stärker wirken konnten als die erschreckende Erwartung weiterer Blamagen. Mit dem Wohlfühlfaktor schöner Musik bei gleichzeitiger Unterbrechung der Rückkoppelung eigener Sprache in das eigene Gehirn. Mit dem von höfischen Fesseln befreienden Einsprengseln von Flüchen, Fäkalsprache und four letter words. Mit dem unwiderstehlichsten Angebot an einen Einsamen: Freundschaft. Wie hätte eine vergleichbare Strategie gegen die „Ich mag ihn aber“ Festung gefunden werden können? Man mußte weiter fragen: Warum liebten sie ihn? Warum lieben sie ihn trotz allem immer noch? Die Antwort führt in noch tiefere Schichten des Unbewußten. Die Erscheinung des Adligen war nicht von einem Heiligenschein gekrönt, sondern von gegeltem Haar. Wie bei Kai Diekmann (!), Michael Friedmann und wie bei vielen pubertierenden Jungen. Die innere Empfindung, daß ein wachsender, älter werdender Körper auch ein anderes Bewußtsein verlangt, mischt sich mit der Angst, sich in diesen Veränderungen nicht mehr selbst immer neu und angemessen identifizieren zu können. Der Unsichere klammert sich an ein unveränderliches Erscheinungsbild, in der Furcht, geistig nicht Schritt halten zu können. Das Problem manifestiert sich sonst in der Angst des Diplomaten beim Friseur. Sich in einer noch nicht wirklich beherrschten Fremdsprache die Haare schneiden zu lassen, verlangt innere Souveränität. Das Erscheinungsbild könnte sich ja ändern. Diese Furcht steht paradigmatisch für die bange Frage, wie das Eintauchen in eine fremde Kultur das eigene Weltbild ins Wanken bringen könnte. Können wir aber das Haar gegen jeden Windstoß fixieren, dann kehrt auch Ruhe ein in den Gefühlshaushalt. Deshalb wurde der Minister geliebt, denn er versicherte uns, es bleibt alles wie es war. Das Erscheinungsbild heißt so, weil es in der Bildzeitung erscheint. Es liegt also nahe, diese die Republik bewegende Streitfrage als Erscheinungsform eines säkularisierten Bilderstreits zu analysieren. Nicht zufällig hat die FAZ am Sonntag ihre Breitseite gegen den Minister zugleich vehement gegen die Bildzeitung gezielt. Und zwar ganz unfazmäßig verziert mit vielen bunten Comicbildern, die den Angeklagten und seine ebenso schillernde Ehefrau als die ebenfalls längst als Ikonen erkannten Puppen Barbie und Ken portraitierten. Ein Bilderstreit, in dem die führende deutsche Tageszeitung dem führenden deutschen Tabloid zum Duell mit gleichen Waffen entgegentreten wollte. Jedenfalls sollten die Emotionen auch mit Bildern mobilisiert werden. Die kulturgeschichtlichen, religionsgeschichtlichen, rechtsgeschichtlichen Dimensionen des Bilderstreits in den monotheistischen Buchreligionen werden im deutschen Bildungskanon nicht gelehrt. Günter Lüling, ein querdenkender Alttestamentler, hat aus diesem Zusammenhang ein argumentatives Gerüst geliefert, mit dem auch die heutige Kunst und die gegenwärtige Medienlandschaften in der westlichen Welt als quasi-religiöse Heilsbringer verstanden werden können. (Vgl. den provozierenden Aufsatz mit dem faszinierenden Titel „Das Passahlamm und die Altarabische ‚Mutter der Blutrache', die Hyäne. Das Passahopfer als Initiationsritus zu Blutrache und heiligem Krieg“.) Es geht um Fragen, die die Menschen seit mehr als 3000 Jahren umtreiben. Das Verhältnis zwischen Körper und Geist, zwischen Gefühl und Verstand. Ein unfaßbarer Gott gegen das Idol, abstrakte Normen gegen Opfer und Blut, Argumente gegen Bilder, FAZ gegen BILD. Zwischen diese beiden (unvereinbaren, aber in der Religionsgeschichte oft nebeneinander tradierten) Narrative ist der adlige Minister geraten. Auf dem Boulevard flanierte der Charismatiker mit dem Heiligenschein der ewigen Jugend. Die angeblich klügeren Köpfe zeigten entrüstet mit dem Finger und mit den in der Tasche geballten Fäusten auf den Sünder am geschriebenen Wort. Am Anfang war das Wort – oder war es doch das Bild? Es ist kaum überraschend, daß sich solche anthropologischen Grundmuster auch in scheinbar säkularen Ersatzreligionen spiegeln, wenn eine Boulevardzeitung an die Stelle der 10 Gebote getreten ist. Die Fälle sind nicht zu zählen, in denen demokratische Politiker Entscheidungen weniger für ihre Wähler, sondern zur Besänftigung „der Presse“ getroffen haben. Sie beten in den Kathedralen der Mediengesellschaft. Solange aber der Glaube an das unveränderliche Bild einer politischen Ikone nicht erschüttert wurde, konnte kein noch so gutes Argument greifen, kein juristisches, keines aus der weiten Welt der Forschung, kein wertkonservatives. Hat der Bildersturm jetzt gesiegt? Die von Kapitän Haddok beschimpften Ikonoklasten hießen Lammert und Vogel, Biedenkopf und Schavan. Erst die in tiefen emotionalen Schichten verankerte Rolle als Verräter (wenn sogar die von der Fahne gehen!) erlaubte es, die Verwechslung des Haargels mit einer Krone zu demaskieren. Von einem Erdbeben, das die aus Meinungsumfragen, Populismus und entgleister journalistischer Berufsethik errichtete Kathedrale zum Einsturz hätte bringen können, kann hingegen bisher nicht berichtet werden.
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Erste Dellen, so sagten die Meinungsforscher, seien erkennbar. Trotzdem: die heftigsten Vorwürfe schienen an Karl-Theodor zu Guttenberg abzuprallen. Wie machte er das bloß? Warum konnte er selbst den Rücktritt noch wie von einem anderen Stern inszenieren?
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innenpolitik
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2011-03-09T00:00:00+0100
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2011-03-09T00:00:00+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/politische-ikone-vs-gute-argumente/41754
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AfD - Maske Verrutscht
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Fast eine Woche ist das jetzt her. Passiert ist nichts. Oder fast nichts. Eine Rüge des Parteivorstandes. Das war‘s. Mehr ist der AfD nicht eingefallen zu André Poggenburgs Rede beim offiziellen politischen Aschermittwoch der Partei im sächsischen Pirna. Diese Stille ist sprechend. Sie spricht aus: In dieser Partei gibt es keinen Aufstand der Anständigen, wenn sich jemand wie Poggenburg als Funktionsträger (er ist Fraktionsvorsitzender im Landtag von Sachsen-Anhalt und Landesvorsitzender) bei der zentralen Veranstaltung mit einer ausländerfeindlichen, von Nazi-Anspielungen gespickten, rassistischen Rede ins Szene setzt. Mit dieser Rede hat Poggenburg und damit die AfD insgesamt den Boden dessen verlassen, was man früher einmal die freiheitlich-demokratische Grundordnung nannte. Mit der Anrede „Kameraden“ hob er an, vor einem Saal prall gefüllt mit Patriotismus, wie er fortfuhr. In der Passage zu Martin Schulz dann die noch viel perfidere Widerlichkeit als die „Kümmelhändler“ und „Kameltreiber“ (gemeint waren türkischstämmige Mitbürger in Deutschland), die sich zurück in ihre „Lehmhütten“ scheren sollten, derentwegen die Rüge ausgesprochen wurde. „Jedem das ... (Kunstpause) ... was ihm gebührt“, rief Poggenburg dem gescheiterten SPD-Vorsitzenden hinterher und weckte dabei Assoziationen zu dem Ausspruch „Jedem das Seine“. Die Nationalsozialisten hatten über dem Eingang des Vernichtungslagers Buchenwalde ein Schild mit der Aufschrift angebracht. Manche maskieren sich an Fasching, Karneval oder Fastnacht. Andere, wie die AfD, demaskieren sich zu diesem Anlass. Es sind nicht die einzelnen Teile, die die Fratze bilden. Sondern die Zusammenschau all dessen, was Poggenburg da zu einer Rede zusammengekleistert hat wie Pappmaché für einen Karnevalswagen. Wenn diese Rede, die sich jeder in Gänze anschauen kann, nicht mit einem allgemeinen Aufschrei der Empörung, nicht mit einem Parteiausschlussverfahren und einer Entschuldigung in die verschiedensten Richtungen quittiert wird, nimmt man nicht nur billigend in Kauf, dass sich das Braune zum Blauen gesellt. Wer einem Redner wie Poggenburg bei der offiziellen Veranstaltung die zentrale Rede zugesteht, der will das so. Anders gesagt: Parteichef Alexander Gauland und Fraktionschefin Alice Weidel wollen das offenbar so. Es gehört für sie mit ins Spektrum ihrer Partei. Nicht zuletzt aus den Reihen der AfD kommen nach islamistischen Terroranschlägen mit Recht immer wieder rhetorische Fragen, wo denn nun der Aufstand der anständigen Muslime bleibe gegen diese Massenmorde im Namen ihrer Religion. Und genau diesen Aufschrei bleibt die AfD, ihre Führung und ihre Basis, nun nach Poggenburgs rhetorischem Attentat von Pirna schuldig. Poggenburg ist kein Funktionär aus der Peripherie, sondern gehört zum Kern der Partei, die sein Tun weitgehend duldet. Es gibt dafür leider nur eine Erklärung: Die AfD ist in ihrer dritten Mutation nach der Lucke- und der Petry-Partei auf dem Weg, zu einer NPD im Tweedjackett zu werden. Für sie gibt es keinen rechten Rand, den sie nicht auch noch eingemeinden würde. Sie stimuliert diesen Rand, wie man bei Poggenburgs Auftritt sehen kann. Denn schlimmer noch als dessen Rede waren die Reaktionen im Saal. Die Ausrichtung der CDU in Richtung einer bürgerlichen SPD hat der AfD einen politischen Platz eingeräumt, den man auch mit einer bürgerlich konservativen-Position einnehmen könnte. Im Moment verfährt die Parteiführung offenbar nach einem einfachen mathematischen Prinzip: Zehn Prozent frustrierte Konservative plus fünf Prozent mehr oder weniger latente Neonazis, das macht 15 Prozent. Diese AfD-Führung wird nur verstehen, dass diese Rechnung nicht aufgeht, wenn ihnen die Erstgenannten einen Strich durch dieselbe machen. Und jeder Bürgerlich-Konservative in der AfD sollte sich intensiv mit dieser Frage beschäftigen. Die Drift der AfD 3.0 ist unverkennbar.
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Christoph Schwennicke
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Der schändliche politische Aschermittwoch der AfD ist fast eine Woche her, doch eine wirkliche Distanzierung der Parteiführung ist ausgeblieben. Für Alice Weidel und Alexander Gauland gehören die rassistischen Auslassungen von André Poggenburg offenbar dazu. So wird die AfD zu einer NPD im Tweedjackett
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"AfD",
"politischer Aschermittwoch",
"Alice Weidel",
"Alexander Gauland"
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innenpolitik
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2018-02-19T15:18:21+0100
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2018-02-19T15:18:21+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/politischer-aschermittwoch-afd-andre-poggenburg-alice-weidel-alexander-gauland
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Schulschließungen wegen Corona - Die Lehrer tragen Verantwortung
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Viele pädiatrische Ärzte, Psychiater, Pädagogen und Sozialarbeiter hatten frühzeitig vor den Maßnahmenkonsequenzen gewarnt – Angst- und Essstörungen, Depression und vielfach eine retardierte Kindesentwicklung. Ihre Stimmen wurden meist ignoriert, bewusst hingenommen, in ihrer Bedeutung relativiert oder gar verneint. Eine Aufforderung zur offenen Diskussion innerhalb der Lehrerschaft von Alexander Wittenstein in der Berliner Zeitung am 26.01.2023, gemeinsam zu reflektieren und Verantwortung zu übernehmen, blieb unbeantwortet. Es scheint, Lehrkräfte weichen einer umfassenden, faktenbasierten und selbstkritischen Überprüfung ihres eigenen, am gesetzlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag orientierten Handelns und Unterlassens sowie dem Beutelsbacher Konsens aus. Es mutet fast an wie eine Flucht in eine kollektive, schamhafte, überforderte Stille, als wäre nie etwas geschehen. Schülerinnen und Schüler müssen nun selbst aktiv werden und die Aufarbeitung mit Nachdruck in ihren Vertretungsorganen auf Landes- und Bundesebene forcieren. Grund-, Menschen- und Bildungsrechte sowie ethische Fragen der Pädagogik müssen wieder mehr in den Vordergrund des öffentlichen Diskurses rücken. Dazu gründete sich 2024 das Pädagogische Netzwerk zur Aufarbeitung der Coronazeit. Es bietet im Internet dazu umfangreiche Informationen. Ein bundesweiter Zusammenschluss von Pädagogen, die Pädagogen für Menschenrechte e.V., arbeitet ebenfalls seit Jahren an der Aufarbeitung der Geschehnisse in der Corona-Krise an deutschen Schulen. Am 13.03.2020 überraschte die Kultusministerkonferenz (KMK) mit flächendeckenden Schließungen von Schulen, Kitas und anderen Bildungseinrichtungen als Teil des Infektionsschutzes, obwohl das Robert-Koch-Institut noch im Pandemieplan vom 30.01.2016 keine Evidenz für derartige Maßnahmen feststellen konnte. Es wurden Monate der Zerstückelung des vertrauten, geregelten Lebens für elf Millionen Kinder und Jugendliche. Im Chaos aus sich überschlagenden Medienberichten, Angst, politischem Entscheidungs- und Durchsetzungswillen sowie Meinungswissen wurden zwar Ende April 2020 Schulen wieder geöffnet, aber nur schrittweise, nur für bestimmte Jahrgänge und in geteilten Gruppen. Es fand überwiegend nur digitaler Fern-, Wechsel- oder Hybridunterricht statt. Probleme zeigten sich schnell. Diese Form des technisierten, technokratischen Lernens blendete alle notwendigen menschlichen Kontexte und sozialen Bedingungen für gelingendes schulisches Lernen aus. Das neue Schuljahr 2020/21 startete zunächst im Normalbetrieb. Fortwährend neue Anordnungen, Maskenpflicht, Isolationsanweisungen, Wechselunterricht und zeitweise abrupte Schließungen von Einrichtungen aufgrund von positiv getesteten Lernenden und Lehrenden beherrschten aber den Schulalltag. Im März 2020 entwickelte das Bundesinnenministerium ein internes Arbeitspapier zur öffentlichen Angstkommunikation, das Anfang April 2020 in die Öffentlichkeit gelangte. Lockdowns und Schulschließungen waren darin vorgesehen. Das folgende Zitat daraus zeigt deutlich, dass Kinder, Jugendliche, Eltern- und Lehrerschaft dazu bewegt werden sollten, die drastischen Freiheitseingriffe zu akzeptieren und in deutschen Schulen durchzusetzen (Hervorhebungen durch den Unterzeichner): „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend. (…) „Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden”: Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.” Die Rationalität und Evidenz der Risikobewertung von Sars-CoV-2 und die Maßnahmen im Bildungswesen hinterfragte damals öffentlich fast niemand. Die täglich medial verbreiteten kumulierten Infektionszahlen (in Wahrheit positive Testzahlen) heizten die gesellschaftliche Stimmung auf. Bilder eines Militärkonvois aus Bergamo vom 21.03.2020, die maßgeblich zur allgemeinen Hysterie beitrugen, wurden durch den Bayerischen Rundfunk am 13.09.2021 als manipulative Sensationsberichterstattung entlarvt. Mitte Dezember 2020 folgte erneut ein bundesweiter Schul-Lockdown. Erst zwei Monate später, im März 2021, wurde Präsenzunterricht wieder ermöglicht – nur in geteilten Gruppen, nur mit Maskenpflicht. Mehrfach belegten Schulstudien wie die der Medizinischen Fakultät der TU Dresden vom 13.07.2020 und 24.11.2020 und der am 06.08.2020 veröffentlichten Studie der LMU Klinikum München eindeutig, dass Kinder keine Treiber der Infektionen waren. Ihr Risiko, ernsthaft an Corona zu erkranken, war extrem gering. So stellten die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) mit einer öffentlichen Stellungnahme vom 18.04.2021 zur Einordnung des Gesundheitsrisikos klar, dass im Zusammenhang mit einer Sars-CoV-2-Infektion von ca. 14 Millionen Kindern und Jugendlichen bis dato wurden, während im Vergleich lag. Trotzdem waren regelmäßige Selbsttest das gesamte Schuljahr 2021/2022 Pflicht. Der Schulbetrieb gestaltete sich dauerhaft belastend, die Jüngsten der Gesellschaft blieben stärker eingeschränkt als der Rest der Bevölkerung. Fast täglich wechselnde neue Verordnungen erzeugten mitunter konfuse, verängstigte oder rigorose Reaktionen von Schulleitungen und Lehrkräften, auch aus ständiger Sorge davor, selbst in Quarantäne genommen zu werden. Der zusätzliche Organisationsaufwand für Selbsttests, Kontaktnachverfolgung oder Beschulung von Lernenden in Quarantäne parallel zum Präsenzunterricht war enorm kräftezehrend. Die Schulen in Deutschland waren durchschnittlich 183 Tage ganz oder teilweise geschlossen. Das entspricht zeitlich einem ganzen Schuljahr. Psychologen, Kinderkliniken und -fachärzte wie die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin sowie die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie hatten seit April 2020 vor den erwartbaren schweren negativen Folgen der Schul- und Kita-Schließungen für Kinder und Jugendliche eindringlich gewarnt. Die Zahl der Suizidversuche bei Jugendlichen verdreifachte sich nahezu, allein zwischen März und Mai 2021 gab es ca. 500 Selbsttötungsversuche. Die Zahlen der stationär mit sozialen Störungen behandelten Grundschulkinder und Ess-Angst-Störungen bei Schulkindern schnellten nach Auswertung des DAK-Kinder- und Jugendreports von 2020 zu 2021 deutlich nach oben. Im Jahr 2020 erreichte die Statistik zu Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern einen Höchststand. Der Bericht zu „Gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ des Bundesfamilien- und -gesundheitsministeriums vom 15.09.2021 fasst den damaligen Forschungsstand wie folgt zusammen: „Kinder und Jugendliche sind aufgrund der COVID-19-Pandemie besonders belastet. Zwar ist ihr Risiko für schwere COVID-19-Krankheitsverläufe und dadurch bedingte Krankenhausaufenthalte in den allermeisten Fällen deutlich geringer als für Erwachsene, aber die sozialen Einschränkungen aufgrund der Pandemie belasten sie auf vielfältige Weise. Das gilt umso mehr für Kinder und Jugendliche, die bereits vor der Pandemie in schwierigen Lebenslagen aufwuchsen.” Das Schulbarometer von 2024 belegt eindeutig die weitreichenden Schäden durch die Corona-Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen. Über 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler, mehr als jedes fünfte Kind, zeigt psychische Auffälligkeiten. Über ein Viertel der Kinder und Jugendlichen schätzt seine Lebensqualität als gering ein, immer noch geht es einem großen Anteil von ihnen nicht gut. Die positive Bedeutung der Lehrkräfte wird bestätigt. Ihre konstruktive Unterstützung im Erziehungs- und Lernprozess ist ganz zentral für das kindliche Wohlbefinden. Der in der Krise stark verminderte Kontakt zum Lehrpersonal hat auch ihre schulische Lern- und Leistungsentwicklung beeinträchtigt, so die PISA-Studie von 2023. Möglicherweise wurde ein grundsätzlicher Abwärtstrend „lediglich“ verstärkt. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass deutsche Schülerinnen und Schüler im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften so schlecht wie noch nie zuvor abschnitten. Im Vergleich zu „PISA 2009“ liegt ein Lernrückstand von eineinhalb Schuljahren vor. Insgesamt, so die Ergebnisse der COPSY-Längsschnittstudie, hat sich das psychosoziale Niveau immer noch nicht erholt. Die wöchentlichen Corona-Tests für Kinder wurden öffentlich oft verharmlosend dargestellt, etwa im April 2021 durch den Kasperl der Augsburger Puppenkiste. Grundschulkinder schädigten sie jedoch nachhaltig mit ärztlichen Folgebehandlungen. So berichtete am 13.06.2021 eine Lokalzeitung: „Nach dem Testen blutet bei immer mehr Kindern die Nase. Das beobachtet das Team der Praxis von Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Dr. Faleh Zohbi aus Bassum (…) „Kindernasenschleimhäute sind sehr empfindlich und bluten sehr schnell, wenn das Stäbchen zu grob eingeführt wird. Die Eltern kommen dann mit den Kindern in die Praxis und Dr. Zohbi und sein Team müssen den kleinen Patienten eine Vollnarkose für etwa fünf Minuten geben. In dieser Zeit veröden sie die geplatzten Äderchen mithilfe einer elektrischen Pinzette. Doch das nützt auch nicht viel, wenn sie am nächsten Tag wieder getestet werden (…) Zu tiefes Einführen des Stäbchens sei nicht ungefährlich, denn der Knochen, der das Gehirn schütze, sei bei Kindern noch dünner als bei Erwachsenen.” Demgegenüber konnte das Oberverwaltungsgericht Münster weder in seinen Entscheidungen vom 22.04.2021 (Eilverfahren) noch vom 13.11.2023 (Hauptsacheverfahren) – mehr als zwei Jahre später – bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Schnelltests in NRW-Schulen ein relevantes Gesundheitsrisiko für Grundschulkinder erkennen. Ohne eine intensive Auseinandersetzung mit den Risiken im Realbetrieb oder der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens stellte das Gericht fest, dass bei einem Nasenabstrich Hirnschäden fernliegend, das Risiko des Nasenblutens sehr gering und der mit dem Nasenabstrich verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Kindern allenfalls eine „bloße Unannehmlichkeit” seien. Auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 zeigt deutlich, dass die von den Schulschließungen in ihren Grundrechten verletzten Kinder und Jugendlichen gegen die (vermeintlich) alles überragenden Belange des kollektiven Gesundheitsschutzes keine Chance auf Rechtsschutz hatten. Dieser Linie folgt auch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22.01.2025, welches die Rechtmäßigkeit von Test- und Maskenpflicht von Grundschülern feststellte. Dem liegt eine ungerührt auf die amtlichen Auskünfte des RKI abstellende Rechtsprechung zugrunde , die sich mehrheitlich weigert, die ans Licht gelangte evidenzschwache Risikohochstufung des RKI vom 17.03.2020 und die prozessrechtlichen Konsequenzen aus dem Inhalt der freigeklagten und geleakten RKI-Protokolle zu ziehen. Hierzu gehört auch, dass nicht protokollierte mündliche Anweisungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) an das RKI existieren, die nach Art, Umfang, Themenfeld und Zeitpunkten unbekannt sind und daher kein Gericht zuverlässig feststellen kann, ob und wieviel ministerielle Einflussnahme in der jeweiligen wissenschaftlichen Fachinformation des RKI steckt, auf die sich auch das Paul-Ehrlich Institut (PEI) und die Ständige Impfkommission (STKO) stützen. Viele Beschwerden von Kindern und Jugendliche werden in der heutigen öffentlichen Interpretation rasch Long-Covid zugeschoben. Diese Behauptungen lassen sich nicht validieren. Selbst das BMG kann keine Aussagen zur Häufigkeit machen. Unklar ist auch, ob diese Symptome bei gegen Covid-19 geimpften Kindern und Jugendlichen nicht tatsächlich Folgen dieser Impfung sind. Die Beschwerden lassen sich klinisch nicht voneinander unterscheiden, darauf wies die Ständige Impfkommission (STIKO) am 19.08.2021 hin. Zwar haben Maßnahmen wie „social distancing“ und das Tragen von Masken die Zahl der Atemwegsinfektionen damals reduziert. Allerdings war nach dem Wegfall der Maßnahmen eine stärkere RSV-Welle (Respiratorischen Synzytial-Virus) unter Kindern festzustellen, was einen beträchtlichen „Nachholeffekt“ begründet haben könnte. Alles in allem ist inzwischen unstrittig, dass Kinder und Jugendliche am meisten von allen unter den Corona-Maßnahmen litten. Die Bedeutung von Kitas und Schulen für die positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist hinlänglich bekannt. Trotzdem gab Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erst Ende Januar 2023 zu, dass Schulschließungen (und ihre Dauer) ein Fehler gewesen seien. Man habe zum damaligen Zeitpunkt nur wenig über die Übertragung des Corona-Virus gewusst. Die damalige Bundesregierung habe auf Empfehlung der Wissenschaft die Schule geschlossen. Die freigeklagten Sitzungsprotokolle des Corona-Krisenstabs im Robert-Koch-Institut (RKI) zeigen inzwischen, dass dies so nicht stimmen kann: „Altersverteilung: Kinder 2% der Fälle in großer Studie, Kinderkrankenhaus bestätigt alle ohne Komplikationen; auch in Transmissionsketten nicht prävalent; Schulen, Kitas stehen nicht im Vordergrund, Kinder keine wichtigen Glieder in Transmissionsketten; scheiden lange im Stuhl aus aber unklar, ob lebendes Virus; Rolle der Kinder eher untypisch untergeordnet (anders als Influenza), mehr Studien müssen erfolgen.” (RKI-Protokoll vom 26.02.2020, S. 3) „Das RKI hält Schulschließungen nur in besonders betroffenen Gebieten für sinnvoll.”(RKI-Protokoll vom 12.03.2020, S. 9) „In einer weiteren Publikation (zitiert von Hr. Drosten) wurde die Effektivität von Schulschließungen modelliert, Publikation bezieht sich aber auf Influenza. (…) Es ist unklar was die Konsequenz ist wenn die Schulen jetzt für 4 Wochen schließen, ggf. kommt bei Wiedereröffnung zu einer verstärkten Aktivität (sowohl von Influenza wie auch von COVID-19, 2009 hat man das gesehen).” (RKI-Protokoll vom 13.03.2020, S. 6 f. / Tag der öffentlichen Bekanntgabe der Schulschließungen) „Neue Publikation, systematisches Review zur Effektivität von Schulschließungen: Ergebnis: keine harten Daten zum Beitrag von Schulschließungen zur Übertragungskontrolle verfügbar. Modellierungen sagen voraus, dass durch Schulschließungen nur 2-4% der Todesfälle verhindert werden können. Bereits 1 Woche vorher kam eine Untersuchung aus Norwegen zu dem Ergebnis, dass keine Daten zu finden sind.” (RKI-Protokoll vom 09.04.2020, S. 4) „Es wird angemerkt, dass das Tragen von Masken „den Kern jedes Unterrichts torpediere“ (Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Susanne Lin-Klitzing).”(RKI-Protokoll vom 08.06.2020, S. 4) „Anmerkung dazu: Schulen sind nicht das Mittel um die Pandemie einzudämmen, das zeigen auch andere Länder;” (RKI-Protokoll vom 09.12.2020, S. 9) Noch bedenklicher sind die bereits dem RKI und damit auch dem Bundesgesundheitsminister sowie Bundesregierung erwartbaren Schädigungen auf die Psyche von Kindern:„Kritisch diskutiert wird Maskenpflicht für Grundschüler, evtl. Langzeitfolgen. Einzelschicksale: Depressionen, Suchtmittelkonsum steigen.” (RKI-Protokoll vom 21.10.2020, S. 8) Trotzdem waren Schulschließungen an der Tagesordnung. Im Herbst und Winter 2021 liefen über 1000 Schulen ohne oder im eingeschränkten Präsenzbetrieb. Die Maskenpflicht galt bis April 2022. Die Strafrechtlerin Prof. Frauke Rostalski hob in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 14.08.2024 hervor: „Die RKI-Protokolle zeigen, wie die Politik willentlich die wissenschaftlichen Befunde übergangen hat. Dies erfordert eine Untersuchung unter juristischen Aspekten.“ Das Bundesverfassungsgericht beurteilte die Schulschließungen als verfassungsgemäß und, trotz massiver gegenteiliger Gutachten, verhältnismäßig. Die erdrückenden Widersprüche und eindeutige Faktenlage erfordern Antworten: Ebenso ist eine sachliche Auseinandersetzung zwischen der Schülerschaft und Lehrkräften sowie Schulleitungen notwendig, wie die meist widerspruchslose Kommunikation und Umsetzung der Corona-Maßnahmen der Jahre 2020 bis 2023 sowie das bis heute andauernde große Schweigen in den Schulen im Lichte der Leitlinien des Beutelsbacher Konsens zu beurteilen ist. So wurden auf Einladung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in Beutelsbach im Rahmen einer Tagung drei wesentliche Prinzipien für die demokratisch orientierte politische Bildung formuliert: 1. das Überwältigungsverbot (Verbot des Einsatzes von Mitteln zu Überrumpelung der Schülerschaft im Sinne erwünschter Meinungen zur Hinderung einer eigenen Urteilsbildung)2. das Kontroversitätsgebot (Kontroverse Meinungen in Wissenschaft und Politik müssen auch im Unterrichtsinhalt abgebildet werden) und 3. die Interessenlagen (Befähigung der Schülerschaft zur Analyse einer politischen Situation und der eigenen Situation sowie der Anwendung von Mitteln zur Einflussnahme auf die politische Situation zur Geltendmachung der eigenen Interessen). Diese Prinzipien sind ebenso wie das für die Vitalfunktionen eines demokratischen Rechtsstaats notwendige Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Abs. 1 Grundgesetz auch in einer Krisenlage zu achten. Alexander Wittenstein forderte frühzeitig medial zur offenen Diskussion und selbstkritischen Überprüfung des eigenen Wissens innerhalb der Lehrerschaft auf. Zum einen spricht er die Methodik der eigenen Meinungsbildung im Rahmen der persönlichen Informationsverarbeitung an. Sein zweiter Punkt gilt den ausufernden Infektionsschutzmaßnahmen und wie ihre Verhältnismäßigkeit bewertet wurde. Er weist auf das Tatsachenwissen hin, das sich seit 2020 kontinuierlich erweitert und abseits der Auskünfte weisungsgebundener Behörden verfügbar ist, jedoch unberücksichtigt blieb. An der Grundsorge hat sich bisher prinzipiell nichts geändert: Die Gefahr ist, dass in einer möglichen neuen, diffusen Risikolage elementare Rechte von Kindern und Jugendlichen durch staatliche Maßnahmen wiederholt verletzt und massive Schäden billigend in Kauf genommen werden könnten. Gründe hierfür liegen in mangelndem bis fehlendem Engagement zur Aufklärung durch die Beteiligten aus Bildungspolitik und den Interessenvertretungen von Lehrkräften, Schüler- und Elternschaft. Auch in Politik und Medien herrscht nahezu Schweigen. (Vorgeschobenes) Nicht-Wissen begründet das eigene Handeln und damit die Schäden der Maßnahmen. Doch Wissen ist eine Holschuld. Es muss durch Selbststudium in einer sachlichen, thematischen Auseinandersetzung und auf Basis von Fakten und der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit aus Artikel 5 Grundgesetz gebildet und fortgeschrieben werden. Sich ausschließlich über Angaben politisch weisungsgebundener Behörden, gleichlautender Interpretationen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder der selbsternannten „Faktenchecker“ zu informieren, führt rasch zur Selbstentmündigung und Täuschung. Dies entlastet gleichzeitig nicht von Verantwortung für das daraus resultierende eigene Handeln. Nimmt man diese Systematik ernst, hätte es im Bildungsbereich nicht nur mehr und faktenbasiertes Wissen geben können, sondern sogar geben müssen! Stattdessen gab es kaum öffentliche Kritik am Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Vermutlich wurden diese kritischen Stimmen zur Lageeinschätzung und den Maßnahmen – auch durch Gewerkschaften und Verbände – in den Bereich von „Verschwörungstheorien“ oder „Coronaleugnung“ verbannt oder sogar in einen Zusammenhang mit rechtsextremen Demokratiefeinden gestellt. Dies führte zu einer aufgeheizten Gemengelage aus einseitiger Informiertheit, der Abwertung von Fragen (und der Fragenden) und Einschüchterung. Vermutlich waren auch viele Lehrkräfte daher nicht mehr in der Lage, sachlich-kritisch auf die Situation zu schauen und selbstständig zu einer durchdachten und begründeten Beurteilung zu gelangen: Es herrschte Angst vor Tod und schwerer Erkrankung, vor einer Überlastung des Gesundheitssystems sowie davor, für Krankheit und Tod anderer verantwortlich zu sein. Vor diesem Hintergrund konnte die mit erheblichen Evidenzlöchern und Widersprüchen belastete Argumentationskette des Schutzkonzeptes mit Inzidenzerfassung einerseits und Abstand, Schulschließungen, Masken und Tests andererseits vielen Menschen als schlüssig erscheinen. Auch wenn die hochbelastenden Maßnahmen in Bildungseinrichtungen als das kleinere Übel für alle erschienen, stellten sie qualitativ durch Vernachlässigung psychosozialer Entwicklung und Teilhabe qualitativ eine Kindeswohlgefährdung dar. Dass epidemiologische Daten und Modellrechnungen mit Unsicherheiten belastet und die Maßnahmen keineswegs alternativlos waren, wurde so gut wie gar nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wurden abweichende Stimmen aus den medizinischen Wissenschaften und der Pädagogik verbannt. Ihre Kritik und konstruktiven Vorschläge zur rationalen Bewertung der Risikolage und Anwendung evidenzbasierter Maßnahmen auf Basis des bis dato etablierten Grundlagenwissens wurden im Wissens- und Meinungsbildungsprozess systematisch ignoriert. Auch aus Sorge vor möglichen arbeits- bzw. dienstrechtlichen Konsequenzen äußerten sich Lehrkräfte nur vereinzelt sachlich-kritisch zu schulischen Corona-Maßnahmen. In das Recht von Kindern und Jugendlichen auf schulische Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit wurde massiv eingegriffen. Fünf Jahre nach den ersten Schulschließungen steht fest, dass eine Verbesserung ihrer Situation auf das Niveau vor der Zeit der Corona-Maßnahmen bisher nicht erfolgt ist. Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von 2022, vertreten durch Stefanie Raysz, ist immer noch anhängig. Es fehlt an einer ernsthaften pädagogischen Aufarbeitung mit zwingend tiefgehender wissenschaftlicher Analyse der Art und des Umfangs des verfügbaren Tatsachenwissens zu bestimmten Zeitpunkten sowie der Ursachen und der Folgen der ergriffenen Maßnahmen im Bildungsbereich. Dies setzt voraus, dass Lehrkräfte einsehen, dass auch sie beigetragen und Fehler gemacht haben. Sie müssen sich über die Gründe der Missstände klar werden. Nur so können sie diese künftig vermeiden. Zentral dafür wird aber die Haltung sein, eingestehen zu können, dass sie selbst von angstmachenden Bildern, ausgrenzenden Worten und nicht angemessenen Vorstellungen über das Virus, die Erkrankung sowie die Wirksamkeit scheinbar schützender Maßnahmen und der genbasierten Impfstoffe in unredlicher Weise beeinflusst gewesen bzw. sogar davon getäuscht worden sind. Was uns an gesellschaftlichen Folgen aus der Corona-Krise erwartet, lässt sich nicht verdrängen. Eine gemeinsame, tiefgehende Aufarbeitung und Übernahme von Verantwortung seitens der Lehrer- und Elternschaft birgt die Chance, Polarisierung und Misstrauen zu überwinden und zukünftig weitere Schäden zu verhindern. Kinder und Jugendliche müssen tonangebend zu Wort kommen. Auch müssen sich endlich die Organisationen von Lehrkräften wie Gewerkschaften und Verbände, Interessengruppen von Schülerinnen und Schülern, Studierenden sowie Eltern der Notwendigkeit einer Aufarbeitung und ihrer Verantwortung bewusst werden. Ein demokratischer Staat muss Kindern und Jugendlichen Schutzraum und politische, juristische und wissenschaftliche Transparenz bieten. Ursachen, Wirkung und Folgen von Handlungen müssen in Beziehung gesetzt und offen debattiert werden. Es droht eine individualisierte, traumatisierte gesellschaftliche Zukunft – wir tragen deshalb strukturell, persönlich und kollektiv gemeinsam die Verantwortung, sie positiv zu gestalten. Der vorliegende Artikel bildet die persönlichen Ansichten der Autorinnen und Autoren als Privatpersonen ab.
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Sebastian Lucenti, Michael Klundt
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Vor fünf Jahren führten Corona-Maßnahmen dazu, dass Schulen über Monate hinweg geschlossen wurden. Trotz immenser psycho-sozialer, medizinischer und schulischer Folgen für Millionen von Kindern fehlt bis heute eine pädagogische Aufarbeitung.
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"Corona",
"Lockdown",
"Schule",
"Kinder"
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kultur
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2025-03-14T09:56:25+0100
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2025-03-14T09:56:25+0100
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https://www.cicero.de/kultur/fuenf-jahre-schulschliessungen-corona-aufarbeitung
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Deutsche Afghanistanpolitik - Nichts als Durchwursteln
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Der Bundesminister des Äußeren sorgt sich angesichts der Lage in Afghanistan um seine Gefühle. „Wenn man die Bilder in Afghanistan sieht, sind die Gefühle alles andere als schön.“ Sagte Maas. Zur Machtübernahme der Taliban in Kabul ersann er: „Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung, die die komplette internationale Gemeinschaft, auch ich und die Bundesregierung, hatten.“ Das ist sprachlich amüsant. „Ich und die Bundesregierung“ sagen eitle Bundeskanzler. Maas erhöht sich – ein gewöhnliches Verhalten, wenn der Boden unter den Füßen bricht. Wichtiger aber ist: Diese Aussage hat den Wahrheitsgehalt eines Trump-Tweets. Erstens: Die Annahme, dass die NSA, die jedes Wort und jede Zeile weltweit sammelt und auswertet, ebenso wie ihre 16 Schwesterorganisationen in den USA die planmäßige Machtübernahme in Afghanistan nicht sahen, ist absurd. Allein schon wegen der Verbindungen zu Pakistan, dessen Sicherheitsorgane eng an den USA sind. Was nun in Afghanistan geschieht, ist die Folge von Präsident Bidens bewusster Entscheidung. Er sah das voraus und akzeptierte den Preis. Wer meinte, Biden würde anders entscheiden, konnte sich spätestens seit Mitte April keinen Illusionen mehr hingeben. Zweitens: Die Regierung in Frankreich war illusionslos. Sie begann am 10. Mai mit der Evakuierung von Ortskräften, weil der Abzug der US-Streitkräfte, so die Einschätzung in Paris, unweigerlich den Taliban die Machtübernahme ermögliche. Drittens: Im Juni antwortete die Bundesregierung auf Fragen, wie sie die Sicherheitslage in Afghanistan nach dem Truppenabzug einschätzt. Ob mit Angriffen der Taliban zu rechnen sei, wollte sie aus Gründen des Staatsschutzes nicht offenlegen. Dafür bekannte sie: „Eine sichere Prognose hinsichtlich der zukünftigen Sicherheitslage ist aufgrund der volatilen Situation derzeit jedoch nicht möglich.“ Was sprach dafür, dass sich die Lage zwischen Juni und August verbessert, dass ein monatelanger Abzug möglich sei? Nichts. Im Gegenteil. Kartographisch lässt sich belegen, dass überall dort, wo die ausländischen Streitkräfte abzogen, die Taliban unverzüglich die Macht übernahmen. Clan-Strukturen und Korruption hatten die Staatsschwäche in Afghanistan verfestigt. Die Regierung übte kein legitimes Gewaltmonopol landesweit aus. Die Übernahme Kabuls war abzusehen, als in Washington „Saigon“ gesagt wurde: Bilder der amerikanischen Botschaft unter Belagerung mussten vermieden werden. Der Flughafen in Kabul schreckt die amerikanische Öffentlichkeit auf, aber es ist nicht ihre Botschaft. Hatte das Auswärtige Amt keine eigenständige Analyse der Lage vor Ort und in den USA? Die vergangenen vier Bundesregierungen hatten sich für diesen Einsatz in außen- und sicherheitspolitischer Indifferenz behaglich eingerichtet. Der Einsatz in Afghanistan lief nebenher, als internationale Krisen die volle Aufmerksamkeit erforderten. Jedenfalls, solange auf ihnen regierungsamtlich gesurft wurde. Eines hatten alle Krisen – von Griechenland bis zur Ukraine, von der Staatsverschuldung zur Migration – gemeinsam: Sie blieben ungelöst. Es perpetuierte sich eine permanente lösungsfreie Simulation von Krisenmanagement. Es mag in manchen Fällen ganz hilfreich sein, sich durchzuwursteln. In allen Fällen aber ist es sinnvoll zu fragen: Welche Interessen bestehen? Welcher politische Zweck soll erreicht werden? So wäre es auch in Afghanistan sinnvoll gewesen, einen Plan zu haben, welche Ziele dort realisiert werden sollen. Die Bundesregierung hatte gleich mehrere – Terrorbekämpfung, Aufstandsbekämpfung und gesellschaftliche Emanzipation, die einander aber widersprachen. Am Anfang stand die Terrorbekämpfung, bei der Deutschland in der hinteren Reihe agierte. Voll ausgerüstetes Militär, martialisch auftretend, Türen eintretend auf der Suche nach Verdächtigen. Den Schutz der eigenen Person sichernd und jederzeit angriffsbereit, so traten die Soldaten auf. Es gelang nicht, das Land zu befrieden. In der zweiten Phase wurde Aufstandsbekämpfung verordnet. Dabei wurden nicht die Täter gejagt, sondern das soziale Wasser abgegraben. Es ging darum, die Herzen und Gemüter der Afghanen zu gewinnen, um den Taliban den gesellschaftlichen Rückhalt zu nehmen. Diese insbesondere mit General David Petraeus verbundene Konzeption ging einen völlig neuen Weg, setzte die Soldaten größeren Gefahren aus und blieb in Afghanistan ohne nachdrücklichen Erfolg. Denn parallel tobte in dem sozial und politisch zerklüfteten Land ein Kampf unterschiedlicher Kulturen, der aufgeklärten Moderne gegen die patriarchalische Tradition, der auch jetzt wieder ausgetragen wird. Die patriarchalische Gewalt im islamistischen Gewand – von dem sie in Afghanistan nicht abgezogen werden kann – setzt nun erneut die Regeln. Seit 2015 wurden Sicherheitsorgane ausgebildet, ohne zu fragen, wen diese verteidigen sollen. Die urbane Moderne gegen die traditionellen Kräfte? Daran beteiligte sich Frankreich nach 2014 schon nicht mehr. In Paris war man 2011 zu dem Urteil gelangt, dass der Aufbau der Sicherheitsorgane scheitert. Das grobe Versagen des Bundesministers des Äußeren in der Endphase des Afghanistan-Einsatzes lenkt nun davon ab, dass 20 Jahre lang ziel- und planlos agiert wurde. Zu keinem Zeitpunkt wurde eine eigenständige Konzeption deutscher Afghanistanpolitik (im Bündnisverbund) ausgearbeitet. Freilich gab es Hochglanzbroschüren: „Frieden und Entwicklung in Afghanistan – Sicherheit für uns“ verantwortete Außenminister Steinmeier 2008. Lachende Kinder, Frauen in allen Berufen und (ganz wenige) Soldaten in zugänglicher Haltung. Erfolge wurden gefeiert: Der afghanische Staat sei glaubwürdiger geworden, die Bevölkerung habe besseren Zugang zu Bildung und Gesundheit, die Infrastruktur werde aufgebaut, der Schlafmohn durch Weizen ersetzt und die afghanische Kultur erhalten. Kein Außenminister hat der Afghanistanpolitik operative Priorität zugemessen. Gleichzeitig fand keiner den Mut, zu erklären: Deutschland hat dort keine unmittelbaren Interessen. Im Fortschrittsbericht der Bundesregierung 2018 hieß es: „Ein hinreichend stabiles Afghanistan, von dem für Deutschland, seine Verbündeten und die Region keine Bedrohung ausgeht, bleibt ein wesentliches deutsches Interesse.“ Wären ohne die Anschläge vom 11. September 2001 deutsche Minister überhaupt einmal dorthin gereist? Ohne klare Interessenlage ist es schwierig, eine politische Entwicklung zu beeinflussen. Das gilt auch für die Zukunft Afghanistans, über die jetzt gesprochen wird. Es fehlen Motiv, Interesse und Einsatz. Das gilt für die Spitze der Regierung: Bundeskanzlerin Merkel hat nie ein Wort zum Einsatz in Afghanistan gesagt, das einer politischen und strategischen Analyse standgehalten hätte. Dasselbe gilt für die Ressortverantwortlichen: Kein Außenminister hat ein strategisches Konzept vorgelegt oder dessen Mangel beklagt. So wichtig waren die wesentlichen deutschen Interessen dann eben doch nicht.
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Thomas Jäger
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Die vergangenen vier Bundesregierungen haben sich in außen- und sicherheitspolitischer Indifferenz behaglich eingerichtet. Der Einsatz in Afghanistan lief nebenher. Zu keinem Zeitpunkt wurde eine eigenständige Konzeption deutscher Afghanistanpolitik ausgearbeitet. Das rächt sich jetzt.
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"Afghanistan",
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"Angela Merkel",
"USA",
"Taliban"
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außenpolitik
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2021-08-24T14:15:15+0200
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2021-08-24T14:15:15+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/deutsche-afghanistanpolitik-nichts-als-durchwursteln-merkel-maas
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Internes Papier - Darum entschied sich die SPD gegen Rot-Grün-Rot und für die CDU
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Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und der SPD-Landesvorstand haben sich am Mittwochabend entschieden: Sie wollen mit der CDU in Koalitionsgespräche eintreten. Ein Weiterführen der alten rot-grün-roten Koalition ist für die SPD vorerst vom Tisch. In einem internen Sondierungspapier erklärt die Sondierungsgruppe um Franziska Giffey, Raed Saleh, Cansel Kiziltepe, Kian Niroomand, Ina Czyborra, Rona Tietje und Michael Biel, warum eine Koalition mit der CDU derzeit besser ist. Wir veröffentlichen das interne Papier hier im Wortlaut: Im Mittelpunkt der Sondierungen stand die politische Frage, ob das rot-grün-rote Bündnis als echtes gemeinsames Projekt im Interesse der Berlinerinnen und Berliner zielorientiert, dauerhaft und belastbar zusammenarbeitet. Die Auslotung der inhaltlichen Schnittmengen mit der CDU hat wegen gesellschaftspolitischer Vorbehalte demgegenüber zunächst eine untergeordnete Rolle gespielt. Als dritter Aspekt war selbstverständlich die Frage der Perspektive der Sozialdemokratie in Berlin bedeutsam. Das Ergebnis der Sondierungen mit Grünen und Linken ist von der gemeinsamen Einschätzung getragen, dass Rot-Grün-Rot in Berlin derzeit kein gemeinsames dauerhaftes und belastbares Projekt darstellt, das mit hinreichender Sicherheit bis 2026 trägt. Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel an der Umsetzungsbereitschaft derzeitiger und zukünftiger Koalitionsverabredungen. In nahezu allen politischen Teilbereichen haben die Grünen erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Verabredungsfähigkeit aufkommen lassen. Selbst bezüglich des bestehenden Koalitionsvertrages sah sich die Sondierungsgruppe mit ständigen Relativierungen konfrontiert. Insbesondere wurden sektorübergreifend Zielzahlen oder die Verbindlichkeit von Absprachen in Abrede gestellt. Das betrifft beispielsweise den Wohnungsbau und die Wohnungsbauförderung, den Schulneubau und die Schulsanierung, die Lehrkräftebildung, die Fortführung sowohl des 9-Euro-Sozialtickets als auch des 29-Euro-Tickets, Verbesserungen bei der Besoldung und Vergütung der Landesbeschäftigten und die Wiedereingliederung von Töchtern in die Landesunternehmen. Es bestehen keine Zweifel an der verbindlichen Herangehensweise und Verabredungsfähigkeit der politischen Führung der Linkspartei. Dennoch steht die Partei vor einer Zerreißprobe, deren Ausgang aktuell ungewiss erscheint. Zentrale Protagonist:innen arbeiten derzeit aktiv an einer Spaltung der Partei. Auf Landesebene bestehen erhebliche Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit verabredeter Positionen in der Breite der Partei. In den Sondierungen hat sich die Überzeugung herausgearbeitet, dass die Aufweichung von Beschlüssen und die Verzögerung von Prozessen, zum Beispiel bei der Wohnungsbauförderung oder bei Bebauungsplänen, sich nicht nur verstetigen, sondern verstärken werden. Die Sondierungen mit der CDU haben zu der Überzeugung geführt, dass die wesentlichen politischen Positionen der SPD sich bei der Kompromissfindung widerspiegeln und eine positive Prognose zur realistischen Umsetzbarkeit gegeben werden kann. Im Ergebnis konnten mit der CDU in allen Bereichen große Schnittmengen festgestellt werden, die sich wie folgt darstellen: Der Neubau soll gemeinsam und mit ambitionierten Zielsetzungen vorangetrieben werden. Das Neubauziel von durchschnittlich bis zu 20.000 neuen Wohnungen pro Jahr bleibt erhalten. Dabei werden alle Akteure einbezogen: Landeseigene Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften und private Akteure. Bau- und Verkehrsplanung werden stärker miteinander verzahnt. Vereinbarte Neubauprojekte werden von allen Beteiligten Akteuren unterstützt und zur Realisierung gebracht. Auf Landes- und Bundesebene soll für eine Verschärfung der Mietpreisbremse und weiterer Maßnahmen zum Schutz von Mieterinnen und Mietern und zur Mietpreisregulierung eingetreten werden. In der Liegenschaftspolitik soll weiter gelten: keine Privatisierungen, keine Verkäufe. Dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ wird im Fall eines entsprechenden Votums der Expertenkommission durch die Entwicklung eines Vergesellschaftungsrahmengesetzes und dem weiteren Ankauf von Wohnungsbeständen für die kommunale Hand Rechnung getragen. Gemeinsam mit den Bezirken wird die Verwaltungsreform ohne Verzögerungen und mit klarem Zielbild vorangetrieben. Zuständigkeiten zwischen Land und Bezirken werden klarer gefasst und eine Verfassungsänderung angestrebt. Alle Verfahren sollen im Laufe der Legislatur bis 2026 abgeschlossen werden. Im Mittelpunkt der Verwaltungsreform steht die Dienstleistung gegenüber den Berlinerinnen und Berlinern. Dafür sind die Digitalisierung und Vereinfachung von Verfahren gezielt voranzubringen. Es gilt die Haltung, unmissverständlich und unterstützend hinter der Arbeit von Polizei und Rettungskräften in Berlin zu stehen. Mehr Personal, bessere Ausstattung und Modernisierung der Infrastruktur der Dienststellen und Wachen von Polizei und Rettungskräften zählen zu den prioritären Projekten. Sicherheit und Sauberkeit sollen stärker zusammen gedacht werden. Dafür sollen insbesondere auch in den Bezirken die personellen Voraussetzungen geschaffen werden. Die Ergebnisse des Gipfels gegen Jugendgewalt, insbesondere auch im Bereich der Präventionsarbeit, werden umgesetzt. Die Umsetzung der Verkehrswende hat Priorität. Dabei wird stärker als bislang der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer gesucht. Der Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs in Berlin und die Zusammenarbeit mit dem Bund und dem Land Brandenburg hat einen hohen Stellenwert. Dazu gehören S- und U-Bahnlinien ebenso wie die Tram. Preisgünstige Angebote für den ÖPNV in Berlin bleiben erhalten. Es gibt ein klares Bekenntnis für die Fortführung des 29-Euro-Tickets. In der Friedrichstraße wird gemeinsam mit Anwohnenden und Gewerbetreibenden an Lösungen für eine Stadtraumgestaltung gearbeitet, die einer modernen europäischen Metropole gerecht wird. Mehr zum Thema: Berlin soll früher als 2045 klimaneutral werden. Dazu soll die Innovationskraft des Wirtschaftsstandorts Berlin genutzt und bestehende Programme zum Ausbau erneuerbarer Energien und zur Energieeffizienz weiter verstärkt werden. Zur Umsetzung zusätzlicher Maßnahmen für die klimaneutrale Stadt wird ein Sondervermögen eingerichtet. Berlin wird deutlich mehr Lehrkräfte ausbilden als bisher, um den wachsenden Schülerzahlen gerecht zu werden.
Die Schulbauoffensive wird weiter vorangetrieben. Die Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule bleibt erhalten. Der Kampf gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit muss weiter verstärkt werden. Die vielfältige und weltoffene Stadt Berlin ist zu fördern. Berlin bleibt die Stadt der Frauen und wird seine moderne Gleichstellungspolitik fortsetzen. Das Landesantidiskriminierungsgesetz bleibt erhalten und wird weiter umgesetzt. Die Erhöhung der Zahl von Einbürgerungen, die Errichtung eines Landeseinbürgerungszentrums und die Beschleunigung der Verfahren sind wichtige Anliegen. Das Neutralitätsgesetz wird gerichtsfest angepasst. Zur Einführung des Wahlalters 16 werden verfassungsändernde Mehrheiten im Parlament ausgelotet. Die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der vergangenen Monate und die Umsetzung des Neustart-Programms werden fortgesetzt. Die Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge über landeseigene Unternehmen wird fortgesetzt. Dazu gehört auch der Erwerb der Fernwärme und von Anteilen an der GASAG. Landesmindestlohn und Vergabemindestlohn bleiben erhalten und werden dynamisch erhöht. Perspektivisch sollen die Töchterfirmen von Charité und Vivantes zu den Mutterkonzernen zurückgeholt werden. Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ soll gelten. Die Bekämpfung der Kinderarmut bleibt ein wichtiges Ziel. Die Arbeit zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und die Unterstützung von Menschen bei der Vermeidung von Wohnungslosigkeit werden fortgeführt. Berlin muss weiter die Unterbringung von Geflüchteten gewährleisten. Dafür sind weitere Flächen für die Errichtung modularer Unterkünfte für Geflüchtete zu erschließen und der Bau dieser Unterkünfte in allen Bezirken zügig voranzubringen. Das historisch schwächste Ergebnis für die SPD Berlin mit 18,4 Prozent der Zweitstimmen hat vielfältige Ursachen. Die niedrigen und weiter sinkenden Zustimmungswerte für die Arbeit der seit 2016 bestehenden Koalition legen nahe, dass es für die Berliner SPD in dieser Konstellation schwer wird, einen echten Neuanfang zu vermitteln, der Voraussetzung für eine Trendumkehr mit Blick auf die Zustimmungswerte wäre. Die hohe Anzahl ungelöster koalitionsinterner Konflikte im Verlauf der vergangenen sechs Jahre legen nahe, dass eine Verbesserung der Bilanz in für die SPD Berlin wesentlichen Themenfeldern, etwa beim Bau bezahlbarer Wohnungen oder der Verbesserung von Sicherheit und Sauberkeit, im derzeitigen Bündnis kaum glaubhaft darstellbar ist. Entsprechend sind die Aussichten für die Wahlen 2026 vor dem Hintergrund einer geschwächten SPD in einem krisenbelasteten Bündnis kaum positiv darstellbar. Eine Erhöhung der Gestaltungsmacht in einem Zweierbündnis mit geringeren Reibungsverlusten bei den koalitionsinternen Abstimmungen lässt erwarten, dass eine bessere Umsetzung der eigenen Vorhaben und eine verbesserte Profilbildung in einer Koalition mit der CDU mit Blick auf die Wahlen in 2026 möglich ist. In den sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der Innenstadt und in den Außenbezirken zeigt sich, dass eine verbindende Kraft dringend benötigt wird. Die SPD Berlin hat die Möglichkeit in einem Bündnis mit der CDU als diese ausgleichende und verbindende soziale Kraft in der Stadt wahrgenommen zu werden. Soziale Politik für Berlin, für eine klimaneutrale, moderne Metropole stehen im Zentrum unseres Engagements. Wir sind die Berlin-Partei, die wieder zur alten Stärke zurückfindet.
Berlin steht vor riesigen Herausforderungen. Die Berlinerinnen und Berliner haben eine Koalition verdient, die die Lösungen der Probleme zügig angeht und nach vorne schaut. Nur in einer solchen Koalition wird es uns gelingen, die SPD zu profilieren und Berlin voranzubringen. Nach Auswertung der Sondierungsgespräche mit Grünen, Linken und CDU kommt die Sondierungskommission der SPD Berlin, namentlich Franziska Giffey, Raed Saleh, Cansel Kiziltepe, Kian Niroomand, Ina Czyborra, Rona Tietje und Michael Biel, zu dem Beschluss, dem Landesvorstand der SPD Berlin die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU Berlin zu empfehlen. Weiter wird empfohlen, die Entscheidung über den Koalitionsvertrag in einem Mitgliedervotum durch die breite Basis der Partei zu treffen. In der nächsten außerordentlichen Sitzung des Landesvorstandes am 6. März 2023 wird der Landesvorstand auf Vorschlag des GLV über die Zusammensetzung der Verhandlungsgruppen für die Aushandlung des Koalitionsvertrages beschließen. In Kooperation mit:
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Cicero-Gastautor
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Die Berliner Sozialdemokraten wollen lieber mit der CDU als mit Grünen und Linken koalieren. In einem internen Sondierungspapier begründet die Hauptstadt-SPD diesen Schritt. Haupthindernis für eine Fortführung der rot-grün-roten Koalition: die mangelnde „Verabredungsfähigkeit“ der Grünen.
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innenpolitik
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2023-03-02T11:58:19+0100
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2023-03-02T11:58:19+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/internes-papier-darum-entschied-sich-die-spd-gegen-rot-grun-rot-und-fur-die-cdu
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Nato-Gipfel - „Liebes Amerika, schätze Deine Verbündeten“
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Es ist nicht ganz einfach, Nato-Botschafterin für einen Präsidenten wie Donald Trump zu sein. Denn der hat vor dem Beginn des Brüsseler Gipfels klar gemacht, was er von der westlichen Militärallianz hält: Eigentlich nichts – oder genauer: Die Nato sei genauso schlimm wie Nafta, das von ihm gehasste nordamerikanische Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada, das er aufgekündigt hat. Nato-Botschafterin Kay Bailey Hutchison also versucht, das Beste daraus zu machen. In einer Telefonkonferenz mit Journalisten aus Europa betonte sie demonstrativ, die Einheit der Nato sei „niemals so stark gewesen“ wie jetzt. Warum sind dann vor dem Auftakt zum Gipfel in Brüssel alle so nervös? EU-Ratspräsident Donald Tusk etwa hielt es für angemessen, Donald Trump zu warnen, es nicht zu übertreiben mit seiner Dauerkritik an den Nato-Verbündeten. „Liebes Amerika, schätze Deine Verbündeten, schließlich hast Du nicht so viele“, erklärte Tusk. Amerika habe keinen besseren Verbündeten als Europa. „Heute geben die Europäer zusammen vielfach mehr für die Verteidigung aus als Russland und genauso viel wie China.“ Trump feuerte gleich zurück, natürlich auf Twitter. „Mache mich fertig, um nach Europa zu reisen. Erstes Treffen – Nato. Die USA geben vielfach mehr aus als jedes andere Land, um sie zu schützen. Nicht fair für den US-Steuerzahler“. Many countries in NATO, which we are expected to defend, are not only short of their current commitment of 2% (which is low), but are also delinquent for many years in payments that have not been made. Will they reimburse the U.S.? Das hatte er auch schon in einem Brief an die deutsche Kanzlerin Angela Merkel geschrieben. „Andauernde deutsche Unterfinanzierung untergräbt die Sicherheit der Allianz“, schrieb Trump, und das diene dann auch noch als Ausrede für andere Staaten, ebenfalls nicht genug zu zahlen, denn sie sähen Deutschland „als Vorbild“. Kaum in Brüssel angekommen, legte Trump auch gleich mit einem Frontalangriff auf Deutschland los. Beim Frühstück mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte der US-Präsident: „Es ist traurig, dass Deutschland massive Deals mit Russland macht, während von uns erwartet wird, es gegen Russland zu verteidigen.“ Alles, so scheint es, dreht sich in Brüssel um eine Zahl: Zwei. Dieser prozentuale Anteil vom Bruttosozialprodukt ist die Zielmarke für den finanziellen Beitrag zur Allianz. Donald Trump fordert sie ein, wo immer er kann, ganz besonders von dem Land seiner deutschen Vorfahren, von dessen Zahlungsunwillen er geradezu besessen ist. Aber unmittelbar vor dem Gipfel ist klar: Trumps Forderung an Berlin wird nicht fruchten, jedenfalls nicht so, wie er sich das vorstellt. Angela Merkel hat sich da schon öffentlich festgelegt. 1,5 Prozent ist das deutsche Ziel bis 2024, mehr nicht. Mit dieser Koalition aus Union und SPD ist politisch nicht mehr drin. Basta. Es gehe auch nicht um Aufrüstung, so Merkel, sondern um Ausrüstung – gemeint ist die in weiten Teilen marode Bundeswehr. Allerdings ist dieser Betrag keineswegs so dürftig, wie das aus Donald Trumps Sicht aussieht. In Berlin weist man eifrig darauf hin, dass die deutschen Verteidigungsanstrengungen zwischen dem Tiefpunkt 2014 bis 2024 in absoluten Zahlen um satte 80 Prozent ansteigen werden. Und auch sonst ist die deutsche Seite bemüht, in Brüssel gute Figur zu machen. Deutschland, so wird sich Trump anhören müssen, sei schließlich in Europa der zweitgrößte Truppensteller der Allianz. Das Land führt die Nato-Präsenz in Litauen an und demnächst auch wieder die schnelle Eingreiftruppe, die sogenannte Speerspitze. Von ihren 7600 Soldaten werden allein 4700 aus Deutschland kommen – und die Deutschen seien im Nato-Budget auch der zweitgrößte Beitragszahler. Auch unterstütze man das neue wichtige Ziel, das in Brüssel beschlossen werden wird: die Nato-Truppen mobiler zu machen. Dafür entstehen zwei neue Hauptquartiere, in den USA und eben in Deutschland, in Ulm. Auch beim Nato-Einsatz in Afghanistan, am zweiten Tag des Gipfels das große Thema, ist die Bundeswehr mit mehr als 1000 Soldaten weiterhin der zweitgrößte Truppensteller. Und Deutschland wird sich im Abschlusskommuniqué zu einem weiteren Groß-Ziel dieses Gipfels verpflichten, was schon jetzt als Erfolg gefeiert wird: das 30-Mal-Projekt: 30 Batallione, 30 Flugzeugstaffeln, 30 Kriegsschiffe sollen in 30 Tagen für die Nato im Ernstfall verfügbar sein, und zwar bis 2020. Deutschlands Anteil: Zehn Prozent. Doch wie beim Zwei-Prozent-Ziel wird die Bundesregierung da erst einmal unter der Messlatte durchlaufen. Im Verteidigungsministerium haben die zuständigen Generäle klar gemacht, dass die Bundeswehr auf keinen Fall so schnell dafür bereit wäre. Das könnte in Brüssel peinlich werden. Unklar bleibt auch, wie sich die Bundesregierung zu einem weiteren Beschluss der Allianz verhalten wird: die Nato wird sich für eine Ausbildungsmission im Irak verpflichten. Da ist die Bundeswehr bereits aktiv, und es bleibt offen, ob und wie sie sich in die Nato-Mission integrieren wird. Ob Donald Trump das alles beeindrucken wird, ist fraglich. Das 34-seitige Abschlusskommuniqué wird erneut scharf mit Russland ins Gericht gehen, vor allem wegen der andauernden Ukraine-Krise. Gleich danach wird Trump sich in Helsinki mit Russlands Präsident Putin treffen, und zur Brüsseler Nervosität trägt die Sorge bei, Trump könne dabei die Nato-Beschlüsse vom Tisch fegen, um mit Putin einen Deal zu machen. Seine Brüsseler Botschafterin Kay Bailey Hutchinson versucht, ihren Präsidenten hier einzuhegen und die Verbündeten zu beruhigen. Trump werde die Botschaft mit nach Helsinki bringen, dass Putin sein „bösartiges Verhalten“ verändern müsse. Gesprächsthemen gebe es neben der Ukraine genug, Syrien etwa oder das Abkommen über die Begrenzung atomarer Mittelstreckenraketen, das Russland verletze. Und mehr Europa bei der Sicherheitspolitik? Alles schön und gut, vermittelt Hutchinson die US-Position dazu. Allerdings nur, solange die Nato der unbestrittene Schirm für die Verteidigung bleibe. Dann stellt sie doch noch einen schönen Erfolg der Allianz heraus. In Brüssel, so Trumps Vertreterin, sei man stolz darauf, dass bei der Fußball-Weltmeisterschaft alle vier Finalisten Nato-Mitglieder seien.
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Werner Sonne
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Vor dem Nato-Gipfel in Brüssel liegen bei den europäischen Bündnispartnern die Nerven blank. US-Präsident Donald Trump fordert, dass sie ihre Beiträge erhöhen. Besonders Deutschland steht unter Druck. Das verdeutlichte ein Angriff des US-Präsidenten gleich zu Beginn
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außenpolitik
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2018-07-11T11:07:14+0200
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2018-07-11T11:07:14+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/nato-gipfel-donald-trump-deutschland-bundeswehr-verteidigung
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Freiheit und Demokratie - Das Gespenst namens Instabilität
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Der Spiegel nennt die nach dem Scheitern der schwarzgelbgrünen Sondierungsverhandlungen entstandene Situation die „Stunde Null“ der deutschen Demokratie. Das klingt jedoch mehr nach Zusammenbruch als nach Aufbruch. Offensichtlich sehnt man sich nach einer Regierung, fast schon egal, nach welcher. Zugegeben: Als der Spiegel in Druck ging, lag die Neuauflage der gerade erfolgreich abgewählten Großen Koalition noch in etwas weiterer Ferne: Die SPD gab sich weitgehend noch als prinzipientreu-oppositionell, und noch hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Parteiführern noch nicht die Leviten gelesen. Mittlerweile aber wird frischer Beton angerührt, um das Loch im Schutzwall, den die etablierten Parteien um sich herum errichtet haben und durch das nun Frischluft einzudringen droht, schnell wieder zu verfüllen. Es darf darüber spekuliert werden, wie haltbar solche Ausbesserungsarbeiten sein werden, wenn doch das gesamte Bauwerk schon durch relativ moderate Wählerwanderungen in seinen Grundfesten zu erschüttern ist. Die tatsächlichen Erschütterungswellen kommen erst noch: Es dauert eine Weile, bis sie die Köpfe erreichen und sie ins Schleudern bringen. Die christdemokratische Schockstarre heuchelt Stabilität, die vor allem daher rührt, dass in der CDU niemand ist, der sich um den Job von Angela Merkel reißen würde oder eine Idee hätte, wie dieser anders zu machen wäre. Vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz wird nun Unmögliches verlangt: Er soll möglichst unbeschadet sein entschiedenes „Nein“ zu einer Zusammenarbeit unter Angela Merkel in ein Verantwortungsbewusstsein und Glaubwürdigkeit signalisierendes „Ja“ umdeuten – oder aber seinem eigenen Nachfolger oder einer Nachfolgerin in den Sattel helfen. Horst Seehofers Abgang ist hingegen nur noch eine Frage der Zeit: offen ist nur noch, wie sanft die CSU das Ende auszugestalten bereit ist. Den Bündnisgrünen wird es bald dämmern, dass es ein Fehler war, der FDP das vorzuwerfen, was man bisher als Grundpfeiler der eigenen Identität behauptet hatte: fehlende Unterwürfigkeit, Kratzbürstigkeit und ein oppositionelles Urgefühl. Mit der Reaktion auf das Scheitern von Jamaika hat sich die einstige Anti-Partei endgültig zum Wurmfortsatz der Christdemokraten degradiert: Der Vorwurf gegenüber der Lindner-FDP, erstmals in ihrer Geschichte nicht umgefallen zu sein, ist nicht mehr als ein drollig-verzweifelter Versuch, anderen den Morast hinterherzuwerfen, in dem man selbst bis zum Halse steckt. Befeuert wird dieses groteske Szenario von einer tiefsitzenden Angst vor Veränderung – also genau von demselben Treibstoff, der über viele Jahre die Vorherrschaft der Alternativlosigkeit sicherstellte. 28 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer weigert sich die politische Elite der Bundesrepublik, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Wähler nicht nur die Zufuhr von frischer Luft – ganz gleich welcher Geschmacksrichtung – verordnet, sondern auch ein Neu- und Umdenken angemahnt haben, auch wenn die Richtung nicht eindeutig ist. Daher wurde das Experiment „Jamaika“ zunächst auch von der Öffentlichkeit interessiert beobachtet. Schnell wurde dann aber deutlich, dass politische Engstirnigkeit sowie Fantasie- und Mutlosigkeit keine einfach abzulegenden Marotten, sondern fundamentale politische und persönliche Charakteristika sind. Die Hoffnung, dass sich „frischer Wind“ dadurch vortäuschen ließe, dass die immergleichen Menschen in geschlossenen Räumen ziellos durcheinanderlaufen, musste schnell begraben werden. In dieser Ernüchterung nun von der SPD doch die Bereitschaft einzufordern, genau das zu tun, was ihre Wähler nicht wollten, und dies als Beleg hoher politischer Verantwortung zu preisen, ist eine Beleidigung der Intelligenz des Souveräns. Der noch amtierende Bundesjustizminister Heiko Maas formulierte dies am 23. November 2017 sehr plastisch in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“: Die SPD könne sich zu der Frage, ob man nicht doch mit der CDU über eine künftige Zusammenarbeit reden wolle, „nicht wie ein trotziges Kind verhalten“, ließ er wissen. Oder anders formuliert: Wer den Wählerauftrag versucht ernst zu nehmen, den hält Maas für einen bockigen Unmündigen. Diese Haltung gegenüber dem Wähler ist bekannt: Sie gehört zum Standardargument einer verzweifelten politischen Klasse, die den Wunsch der Menschen nach Veränderung als einen populistischen Belästigungsversuch und als einen kindischen Angriff auf die nationale Stabilität deutet. Damals wie heute: Die Mauer muss weg! Dass in dieser Situation alles vermieden werden soll, um den Menschen nochmals die Möglichkeit zu geben, ein politisches Beben auszulösen, leuchtet ein. Auch die meisten Wähler sind nicht besonders erpicht darauf, sich erneut zwischen Politikern entscheiden zu müssen, die entweder nicht wollen oder können oder beides. Bunte Bezeichnungen wie „Jamaika“ oder seit Kurzem „Kenia“ (Schwarz-Rot-Grün) verleihen dem Wahlangebot einen exotischen und neuartigen Glanz. Die letzten Wochen haben aber eindrucksvoll gezeigt, dass es nicht ausreicht, in schillernden Farben „Aufbruch“ an die Wände zubetonierter Gedankengänge zu schreiben. Die politische Kultur im Jahre 2017 braucht keine Betonmischer, sondern genau wie vor 28 Jahren: Mauerspechte, die alles wollen, nur keine Stabilität und kein „Weiter so“. Das Unwirkliche an der aktuellen Situation ist, dass die etablierten Politiker am eben abgewählten „Weiter so“ als einziger Möglichkeit festhalten, um Demokratie und Zivilisiertheit zu garantieren. Das Scheitern von Jamaika – ein eigentlich beeindruckender Beweis für die Notwendigkeit von Veränderung – wird umgedeutet zu einem Beleg dafür, dass Veränderung nicht möglich ist. Und so taucht nun die bereits beerdigte Große Koalition als Rettung in der Not wieder auf, nur dieses Mal nicht als Schreckgespenst, sondern als guter Geist aus guten alten Zeiten, in denen man zwar auch nicht wusste, wo es lang gehen soll, sich dessen aber zumindest sicher war. Wir sollten dieses politische Einbetonieren der Gesellschaft verhindern. Die Versteinmeierung der Politik als Fortschreibung der Merkel‘schen Alternativlosigkeit führt dazu, dass die Vorstellung, die die Menschen von den Möglichkeiten und den eigentlichen Zielsetzungen der Demokratie haben, immer technischer, enger und somit auch unattraktiver wird. Entgegen der elitären Lesart ist es nämlich nicht die Hauptaufgabe der Demokratie, stabile Regierungen zu erzeugen. Demokratie ist auch weitaus mehr als das Wählengehen. Ihr oberstes Ziel ist es, einen öffentlichen Wettstreit um Ideen und Konzepte zu ermöglichen, sie soll den Geist anregen und gleichzeitig alte Geister vertreiben. Sie soll in der Gesellschaft zu einem Klima der Offenheit, der Dynamik und der Freiheit beitragen, das Raum bietet für Innovation, für neues Denken und für Fortschritt. An all diesem fehlt es der deutschen Demokratie. Die Angst vor Kontroversen, vor Menschen, deren Überzeugungen und vor der Schwäche der eigenen Argumente entkernt die Demokratie: Was übrig bleibt, ist deren leere Hülle und die Gewissheit, dass hieraus nichts Neues entstehen kann. Wahlen werden so zu einem therapeutischen Ritual. Wenn das Problem also darin besteht, dass alles so festgefahren und unbeweglich erscheint, dann hilft nur eines: Instabilität. Keine eindeutigen festgefrorenen Mehrheiten, sondern die Notwendigkeit, Gräben, Mauern und eigene Schatten zu überspringen und miteinander zu reden und sich überraschen zu lassen, was im Einzelnen dabei herauskommt. „Irgendetwas ist anders. Alles, was anders ist, ist gut“, so kommentiert Phil Conners im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ das Ende seines Martyriums, das ihn solange immer denselben Tag erleben ließ, bis er seinen eigenen Zynismus und seinen Menschenhass überwunden hatte. Damit ist nicht gemeint, dass tatsächlich alles gut ist, was anders ist. Aber Veränderung schafft Möglichkeiten. Alles, was Deutschland aus dem zum Dogma erstarrten Streben nach stabilen Regierungen und möglichst weichgespülten politischen Auseinandersetzungen befreit, kann dabei helfen, die tatsächliche Bedeutung von Demokratie wiederzuentdecken. Wir brauchen das „Gespenst der Instabilität“ nicht fürchten. Es ist in Wirklichkeit der Geist der Freiheit.
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Matthias Heitmann
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Durch Chefetagen und Redaktionsräume geistert das Gespenst der Instabilität. Sein Unwesen treibt es aber im Auftrag der Wähler. Und die hegen lediglich den normalen Wunsch nach Freiheit und Demokratie
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innenpolitik
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2017-11-24T14:50:43+0100
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2017-11-24T14:50:43+0100
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https://www.cicero.de//freiheit-demokratie-grosse-koalition-minderheitsregierung-instabilitaet
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Hambacher Forst - Fake News machen Wäldchen zu „Europas letztem großen Mischwald”
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Die groß angelegte Räumung des Hambacher Forsts läuft seit Tagen, und kein Tag vergeht ohne spektakuläre Bilder, die sich rasch verbreiten. Im Gefolge erleben aber auch Fake News eine bedenkliche Blüte, wie der Nordkurier, die Regionalzeitung aus Neubrandenburg aufzeigt. So ist die Behauptung, dass es sich bei dem Wald um „Europas letzten großen Mischwald” handelt, schlicht nicht wahr, und zwar auf spektakuläre Weise. Der Wald war einst rund 5.500 Hektar groß, davon übrig geblieben sind 550 Hektar. Der Pfälzerwald in Rheinland-Pfalz zum Beispiel ist 175.000 Hektar groß, erklärt den Journalisten ein Professor für Botanik und Waldbau-Grundlagen. Der sagt auch, dass allein in Nordrhein-Westfalen wo der Hambacher Forst steht, noch 900.000 Hektar Wald existieren. Das hinderte jedoch zahlreiche Politiker, von den Grünen, der Linkspartei und der SPD, aber nicht daran, in den sozialen Netzwerken den Alarmruf zu verbreiten, dass hier ein riesiges Naturparadies den Kettensägen zum Opfer fällt. Auch Sahra Wagenknecht (Die Linke) postete sich so ihre Empörung von der Seele. Dabei hatte sie selbst auf Facebook geschrieben: „Nur wer selbst sauber und seriös arbeitet, kann auch glaubwürdig die Lügen der anderen aufdecken und verurteilen. ”
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Constantin Wißmann
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Fake News sorgen dafür, dass zwischen echten und „alternativen” Tatsachen die Wahrheit verloren geht. Beim Hambacher Forst zeigt sich, dass auch von links gern mit dieser Technik gearbeitet wird, wie der „Nordkurier” aufzeigt
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innenpolitik
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2018-09-21T11:10:13+0200
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2018-09-21T11:10:13+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/hambacher-forst-fake-news-rwe-proteste-polizei
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Vladimir Karaleev - Modedesigner mit Anziehproblemen
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HOSE, SCHUHE, T-SHIRT. Mein Outfit ist meine Uniform. Ich trage sie täglich. Was ich trage, muss bei meiner Arbeit im Studio genauso wie bei repräsentativen Anlässen funktionieren, wie eine Art Panacea: die Antwort auf alle Fragen. Jeden Morgen entscheiden zu müssen, was ich anziehen soll, stresst mich zu sehr. Von mir entworfene Kleidung würde ich nie anziehen. Es wäre ein komisches Statement: Der Designer ist so überzeugt von seinen eigenen Entwürfen, dass er sich selbst nur darin kleidet. Ich designe nicht für meine eigenen Bedürfnisse und bin auch nicht meine Zielgruppe. Überhaupt habe ich keinen konkreten Trägertyp meiner Mode im Kopf. Zuerst ist ein Kleidungsstück ein Objekt, und wenn sich später eine Person damit identifizieren kann, ist das super. Ich mag die aktuelle Herrenmode, weil sie sehr zugänglich und verständlich ist. Anders als früher, wo Paris und Mailand den Ton angegeben haben und sich jeder danach richten musste, kommt die Mode heute von der Straße. Sie wird von den Designern nur auf ein qualitativ höheres Niveau transportiert und dort neu interpretiert. Aber ich finde die aktuelle Entwicklung, die sehr demokratisch ist, toll: Jeder kann anziehen, was er will. Ich bin in Bulgarien aufgewachsen, und dort sahen die Leute alle gleich aus, Mode existierte nicht. Das sozialistische Regime legte keinen Wert auf die individuelle Entfaltung des Einzelnen. Erst Mitte der achtziger Jahre kamen über Schmuggelwege erste Mode-Magazine ins Land, und unterm Ladentisch wurde auch mit spezielleren Stoffen gehandelt. Meine Tante hatte eine Freundin in einem Textilgeschäft und nähte, für die damaligen Verhältnisse, ziemlich verrückte Sachen. Sie hat mir einmal eine Bermuda-Shorts und ein Hawaii-Hemd aus einem mit Palmen bedruckten Stoff genäht: Ich wurde auf dem Schulhof ausgelacht, und meine Klassenlehrerin sagte mir, dass so etwas nicht gehen würde. Die Provokation gefiel mir, gerade weil es so einfach war. Vladimir Karaleev
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Tim Berge
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Nachwuchsdesigner Vladimir Karaleev würde nie seine eigenen Entwürfe tragen. Stattdessen trägt er jeden Tag dieselbe „Uniform“: Jeans und T-Shirt
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außenpolitik
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2013-10-13T13:42:23+0200
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2013-10-13T13:42:23+0200
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https://www.cicero.de//stil/kleiderordnung-warum-ich-trage-was-ich-trage/55948
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Presse in Russland - „Wir schämen uns sehr für diesen Schritt“
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Die russische Regierung hat ein Gesetz gegen kritische Berichterstattung im Krieg gegen die Ukraine erlassen. Für die letzten unabhängigen Zeitungen und Radiosender kommt das einer Katastrophe gleich, die nicht nur die freie Berichterstattung verunmöglicht, auch Journalisten und Medienvertreter selbst setzen sich unkalkulierbaren Gefahren für Leib und Leben aus. Auch die Nowaja Gaseta, eine der letzten unabhängigen Medienstimmen in Russland ist von dem Gesetz betroffen. In einer beeindruckenden Stellungnahme hat sich Nikita Kondratjew, Nachrichtenredaktion der Nowaja Gaseta an seine Leser gewandt. Cicero hat den Text übersetzt, der tiefe Einblicke in die aktuelle Situation in Moskau ermöglicht. han Hallo, hier ist Nikita Kondratyev, Leiter der Nachrichtenredaktion der Nowaja Gaseta. Heute gehört unsere Redaktion zu den wenigen verbliebenen Vertretern des unabhängigen Nachrichtenjournalismus in Russland. Echo Moskwy wird buchstäblich aus der modernen Geschichte getilgt, Meduza hält sich trotz Blockade in den sozialen Netzwerken, und Mediazona arbeitet weiter wie bisher, aber ich bin sicher, dass es sich auch aller Risiken bewusst ist. Heute hat das russische Parlament die militärische Zensur eingeführt, ohne sie tatsächlich zu erklären. Für die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte“ können wir Nachrichtenjournalisten bis zu 15 Jahre ins Lager kommen. „Bewusst falsche“ Informationen sind Daten über Gefangene, getötete Menschen und den Beschuss von Zivilisten in der Ukraine. Wir werden aufgefordert zuzugeben, dass nichts von alledem geschehen ist. Ja, wir können sagen, dass der Weg zum freien Journalismus über Kasernen und Stacheldraht führt. Das ist alles sehr schön, aber verrückter Blödsinn. Die Wahrheit ist, dass es außer uns und ein paar anderen Redaktionen niemanden im Land gibt, der die Nachrichtenarbeit macht. Deshalb bleiben wir bis zur letzten Minute. Wir gehen nicht in Haftanstalten und Kolonien. Wir gehen nicht nach Europa oder Georgien. Wir bleiben in Russland, es ist unser Land. Sobald die militärischen Zensurgesetze in Kraft treten (die Unterschrift von Wladimir Putin bleibt), müssen wir leider auf die Veröffentlichung von Zusammenfassungen von den Fronten verzichten. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, wahrheitsgemäß über die Kämpfe in der Ukraine zu berichten und beiden Seiten das Wort zu erteilen. Wir werden den Beschuss der Städte des Bruderlandes vorübergehend vergessen müssen. Wir werden wieder einmal – vorübergehend – das Schicksal unserer Soldaten, unserer Kameraden, vergessen müssen, die sich oft gegen ihren Willen in Krisengebieten befinden. Was bleibt zu berichten? Welche Fakten müssen überprüft werden? Die Schließung eines weiteren Einkaufszentrums? Der Abschied der Unternehmen von unserem bequemen Leben? Das ist lächerlich. Wir werden weiterhin Informationen sammeln. Aber wann und in welcher Form sie veröffentlicht wird, wissen wir nicht. Wir schämen uns sehr, diesen Schritt zu tun, während unsere Freunde, Bekannten und Verwandten in der Ukraine die Hölle durchmachen. Und zwar auf beiden Seiten. Aber es wäre noch beschämender, wenn man sich weigern würde, überhaupt über die Ereignisse zu berichten. Die militärische Zensur erstreckt sich nicht auf die Tatsache, dass der Krieg in uns selbst stattfindet. Wie wirkt sich das Geschehen auf die mentale Verfassung der Russen und Ukrainer aus? Was bringt die Zukunft für unsere Wirtschaft und unsere persönlichen Finanzen? Wird Russland gegen das Geschehen protestieren? Welche Form wird die Repression annehmen? Was wird aus der Medizin? Ist das Thema der Folter im Strafvollzug abgeschlossen? Wir bleiben dabei, diese große Bandbreite an Themen abzudecken. Die Korrespondenten der Nowaja Gaseta haben in diesen Tagen ohne Schlaf gearbeitet und werden dies auch weiterhin tun, allerdings in einer anderen Funktion – wir werden vorsichtig und leise darüber berichten, wohin die globale Zäsur am Morgen des 24. Februar das Leben aller Menschen führt. Aber der Versuch, dem Leser ein Bild von der Realität zu vermitteln, indem man nur Nachrichten des Verteidigungsministeriums und Nachrichten aus dem zivilen Leben verwendet? Nein, das wird nie passieren. Philip Graham, der erste Nachkriegsverleger der Washington Post, sagte: „Nachrichten sind der erste Rohentwurf der Geschichte“. Wir, die erste militärische Generation in Putins Russland (viele von uns sind nicht einmal fünfundzwanzig), sagen: Wir können die russische Realität nicht verlassen, ohne zumindest diese groben Entwürfe der Geschichte zu kennen. Andernfalls wird alles, was in den 2020er Jahren in Russland geschah, in der Erinnerung unserer Kinder als eine von jemand anderem erdachte Fiktion bleiben. Ab 00:00 Uhr in der Nacht vom 4. auf den 5. März wird die Nowaja Gaseta unter Androhung der strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten ihre Berichterstattung für eine Weile einstellen. Ganz einfach, weil Gesetze in Kriegszeiten eher im Morgengrauen in Kraft treten. Wir werden auf jeden Fall herausfinden, wie wir überleben können, ohne ins Gefängnis zu gehen, und wir werden in derselben Eigenschaft und mit zumindest einigen guten Nachrichten zu Ihnen zurückkehren. Nikita Kondratjew, Nachrichtenredaktion der Nowaja Gaseta Den Originaltext lesen Sie hier.
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Cicero-Redaktion
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Unter welchen Bedingungen kann die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine derzeit noch in russischen Medien publiziert werden? Eine beeindruckende Stellungnahme aus der Redaktion der unabhängigen Zeitung „Nowaja Gaseta“ offenbart das erdrückende Klima aus Verfolgung, Lüge und Scham.
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"Ukraine"
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außenpolitik
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2022-03-06T15:22:31+0100
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2022-03-06T15:22:31+0100
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https://www.cicero.de//ausland/presse-zensur-ukraine-Nowaja-Gaseta
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China Cables - The Pressure on China
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Diese englischsprachige Kolumne erscheint regelmäßig auf Cicero Online in Kooperation mit der Denkfabrik Geopolitical Futures. Chinese detention of Uighurs is not new. We have been hearing about this for over a year. What is startling is the leak of documents so sensitive that they validate claims of mistreatment that the Chinese long denied, for obvious reasons. This raises a key question: Who released the documents? They might have been leaked by Chinese officials, appalled at what is going on in Xinjiang. They might have been released by the Chinese government as a warning to other dissident groups. They may have been released by senior members of the Chinese government who have become disillusioned by President Xi Jinping, hoping to force him out. All three are possible, but to understand the events in Xinjiang, we need to also consider what’s happening in Hong Kong. The Xinjiang detentions predate protests in Hong Kong by quite a while but demonstrated a turn of the Chinese government away from liberalization. Xi had already taken that turn during his massive anti-corruption purge, which obviously was a cover for a systematic purge of real and potential opponents. The demonstrators in Hong Kong watched the purges and the events in Xinjiang and realized that the fairly radical extradition bill, which sparked the initial protests, was the cutting edge of an attempt to force Hong Kong to submit to the Chinese framework and to Beijing’s power. That is what is happening in Xinjiang, a province that is formally part of China but not Han Chinese, the majority ethnic group in China. Han China is surrounded by four buffer states: Manchuria, Inner Mongolia, Tibet and Xinjiang. Its eastern coast is dotted by former European enclaves, such as Hong Kong and Macao. Over the years, the Chinese struggled to retain these buffers. Japan seized much of Manchuria in World War II, with less than unanimous opposition. There have been uprisings and resistance in Tibet. Xinjiang was rumbling with Islamist sentiment. And while Macao accepted mildly the redefinition of its status, Hong Kong exploded at what it saw as an attempt to redefine its status prior to negotiated dates. Tibet’s resistance, led by the Dalai Lama, remains. Manchuria and Inner Mongolia are pacified. But Hong Kong and Xinjiang are the real dangers. They cannot be left to fester, lest Islamist terrorism spread to Chinese cities, or Hong Kong serves as an inspiration to other cities in eastern China. The efforts needed to pacify them, however, carry costs outside of China. The Belt and Road Initiative could turn from being an ambitious Chinese project into a symbol of Chinese repression. This is not an image China wants to project. For months, riots on the streets of Hong Kong have been broadcasted on global television and discussed over social media. Those who have been paying attention have known about the repression of Uighurs in Xinjiang for a while, but it had not entered the global zeitgeist. Until now. Xi, who came into office as the central power that would modernize China and make it a great power, is now facing three domestic problems. The first is the fading memory of the anti-corruption purges. The second was the festering repression in Xinjiang now made virally public. The third is the riots in Hong Kong. In the first two cases, China is made to seem Stalinist and fascist. In the last case, it appears inept, unable to bring the matter to a close. To put it another way, the Chinese clearly wanted Hong Kong to settle down without action from Beijing to drive home the message that China is modernizing despite the Xinjiang affair and the purges. But Hong Kong may not fade away, and the PLA might have to enter Hong Kong in force. China needed to present itself to the world as a burgeoning economic power and a benign political power, overseeing a united mass of people moving forward in history. The purges raised eyebrows but could be dismissed as what they were claimed to be: an anti-corruption campaign. Xinjiang was far away and, for most people, out of focus. But Hong Kong is not far away or out of focus. It forces us to see the other two issues in a different light. Now we see China not as a symbol of progress, but as a fearful nation struggling to repress discordant elements. This brings us back to the question of who leaked the documents. There are three possible explanations for the leak. First, Xi’s team might have leaked them to show his determination. Second, they might have been leaked by someone in the government who was appalled by what they saw. Finally, they could have been leaked by an emerging anti-Xi faction in the Central Committee, appalled by Xi’s handling of the United States and Hong Kong and using the documents to weaken him. Of the three, I favor the third explanation. Too many important things are going wrong in China for such a faction, however small at this point, not be forming. Xi’s incompetence is manifest. The major task of the Chinese president is to handle the American president, and Barack Obama, George W. Bush and Bill Clinton were handled. He failed to bring Donald Trump under control with promises of future meetings and postponed studies. As a result, China is in a trade war with its largest customer. In addition, quite apart from the trade issue, the Chinese financial system is unstable and growth is slowing. Now, Hong Kong is out of control, and the global talk is of Chinese concentration camps. This is not what was expected from Xi. The Central Committee is the ultimate arbiter of what China does, particularly if the president weakens and loses his way. There must be some in the Central Committee who remember Xi’s inauguration and have concluded that China’s evolution has not gone the way they expected and Xi promised. The Central Committee is usually opaque, as it is now, but if there is opposition developing to Xi, and it is hard to imagine there is not, then release of these documents merely turns a known event into a global event, further showing Xi’s incompetence. All of this is framed by a primordial fear. Before Mao’s victory, regional conflicts tore China apart and allowed the Japanese to seize major parts of the country. Regional conflicts in the future are the single biggest threat that China does not want to face again. The Chinese are suppressing the threat in Xinjiang, and now maybe in Hong Kong. But China does not want to have to suppress regional threats. Xi, however, is doing just that, and he also came in suppressing political threats with the purges. Between that and mishandling the Americans, many nerves are being touched. I would bet that the leak came from the Central Committee – and that Xi has enemies.
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George Friedman
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Who released the documents, that got new insights in the detection of muslim Uighurs in China? Anyway, the „re-education“ of people by the Chinese government shows their turn away from liberalization. To understand what is going on in Xinjiang, one needs to understand what happens in Hong Kong
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"Weltmacht China",
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"Xi Jinping",
"Hongkong",
"Hongkong-Proteste",
"Xinjiang"
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außenpolitik
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2019-11-25T10:20:48+0100
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2019-11-25T10:20:48+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/china-cables-camps-xianjing-uighurs-muslim-communist-xi-jinping
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Nach Gift-Anschlag auf Sergej Skripal - Krise in Londongrad
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Sogar der sonst Putin-freundliche Nigel Farage möchte lieber heute als morgen eine neue Ära einleiten: „Für uns dauert es Monate, um ein Bankkonto zu eröffnen, gleichzeitig ist London zur Spielwiese für russische Oligarchen geworden. Die Londoner Hauspreise sind explodiert, weil Millionen und Abermillionen investiert wurden und keiner gefragt hat, wo das Geld herkommt.“ Für den Exchef der EU-feindlichen UKIP-Partei ist klar: „Etwas muss und wird dagegen jetzt unternommen werden. Und dann werden hoffentlich weniger Leute vor U-Bahnen fallen und unter anderen mysteriösen Umständen ums Leben kommen“, sagte Farage gegenüber Cicero. Seit der Vergiftung des russischen Ex-Spions Sergei Skripal und seiner Tochter Julia am 4. März 2018 im englischen Salisbury eskaliert der Streit zwischen der britischen und der russischen Regierung. Mehr als ein Dutzend verdächtiger Todesfälle in England, die mit dem russischen Geheimdienst in Verbindung gebracht werden, gab es seit der Vergiftung des ehemaligen FSB-Agenten Alexander Litwinenko im Jahr 2006 in London. Nach dem Anschlag auf die Skripals hat Premierministerin Theresa May die russische Regierung direkt verantwortlich gemacht und 23 russische Diplomaten ausgewiesen. Jetzt hat auch noch der britische Außenminister Boris Johnson das Seine dazu getan, die Spannungen zu verstärken und den russischen Präsidenten Wladimir Putin indirekt mit Adolf Hitler verglichen. Putin werde sich beim World Cup 2018 in Moskau ähnlich wie Hitler bei den Olympischen Spielen 1936 im Glanz der sportlichen Wettkampfes sonnen, sagte Großbritanniens Chefdiplomat am Mittwoch: „Der Vergleich mit 1936 stimmt.“
Der historische Vergleich stimmt zwar nicht – Putin ist als autoritärer Präsident Russlands schlimm genug, aber noch lange kein Führer eines totalitären, massenmörderischen Regimes – der Schaden aber ist angerichtet. Unter den russischen Exilanten in Großbritannien verstärkt sich das mulmige Gefühl, dort nicht mehr so willkommen zu sein. Etwa 300.000 Russen leben heute in Großbritannien, die Mehrheit von ihnen in London. Nicht nur Putinfreunde haben London zu ihrer zweiten Heimat gemacht. Der russische Oligarch Boris Beresowski etwa residierte bis zu seinem überraschenden und nicht geklärten Tod 2013 genauso dort, wie der in Ost und West gut vernetzte Milliardär Roman Abramowitsch. Die beiden bekriegten sich bis knapp vor Beresowskis Ableben vor einem britischen Gericht. Abramowitsch gewann den Prozess, Beresowski war ruiniert. Die Oligarchen nutzen nicht nur Annehmlichkeiten wie das Luxuskaufhaus „Harrods“ und englische Edelinternate für ihre Kinder, sie tragen auch ihre Rechtsstreitigkeiten vor den unabhängigen Gerichten Britanniens aus. Vor allem aber diente England bisher als ein Ort, in dem ausländische Staatsbürger recht bequem ihr Vermögen in Immobilien anlegen konnten, ohne dass große Fragen zur Herkunft der Millionen gestellt wurden. Dazu dienen Off-shore-Firmen in den Übersee-Gebieten der britischen Krone. Die eigentlichen Besitzer werden mittels Briefkastenfirmen verschleiert. So hat sich etwa der russische Vizepremier Igor Schuwalow laut des russischen Korruptionsbekämpfers Alexei Nawalny im Regierungsviertel ein Penthouse geleistet, von dem aus er ins britische Verteidigungsministerium blicken kann. Bei Schuwalows offiziell deklariertem Jahresgehalt von 150.000 Euro ist die Frage aufgekommen, woher denn die 13 Millionen Euro für die Londoner Wohnung stammen. Auf der Höhe der Zeit hat die BBC gerade die Serie „McMafia“ ausgestrahlt, in der ein britischer Banker mit russischem Background in London zum Paten einer international organisierten Mafiagruppe aufsteigt. Innerhalb weniger Wochen hat die Realität die Fiktion der Fernsehserie überholt. Dass der russische Geheimdienst einen Ex-Spion und seine Tochter am hellichten Tag mitten in England vergiftet haben soll, hat aber auch Russland-Experten überrascht. Misha Glenny, der Autor des der Serie zugrundeliegenden Buches, hofft, dass die britische Regierung diese Vorfälle zum Anlass nimmt, den korrupten Investoren in London das Handwerk zu legen: „Es gibt 10.000 Gebäude in Londons zentralem Bezirk Westminster, deren Besitzer wir nicht kennen. Das sollten wir ändern.“ Die Nachforschungen könnten nun demnächst beginnen. Denn seit Kurzem ist in Großbritannien ein Gesetz in Kraft getreten, für das Anti-Korruptionsaktivisten lange gekämpft haben: Besitz von Ausländern kann künftig eingezogen werden, wenn nicht schlüssig geklärt wurde, woher das Kapital für den Kauf stammt. Diese „Verfügung über ungeklärtes Vermögen“ könnte einigen Hausbesitzern in Zukunft Probleme bereiten. Roman Borissowitsch, der Sekretär von ClampK, des „Komitees für die Gesetzgebung gegen Geldwäsche im Besitz von Kleptokraten“, hofft nun: „Die britische Regierung kann mit dieser Verfügung zur Transparenz beitragen und korrupte Günstlinge Putins stoppen, die hier ihr Geld waschen.“ Borissowitsch organisiert originelle Stadtrundfahrten: Der 48-jährige ehemalige Banker fährt in einem Bus durch London und zeigt die Villen vor, die über Off-Shore-Firmen von Superreichen aus aller Welt gekauft wurden. Es gibt allerdings längst nicht nur verdächtige Besitztümer russischer Oligarchen. Chinesische Geschäftsleute sind darauf spezialisiert, in lukrative Wohnprojekte am Südufer der Themse zu investieren. Nahost-Prinzen vom Golf kaufen sich gerne prestigeträchtig im Nobel-Stadtteil Knightsbridge ein. Das Kaufhaus „Harrods“ wurde 2010 ganz offiziell an die katarische Herrscherdynastie der Al-Thanis verscherbelt. Die großzügigen Neo-Londoner haben die britische Metropole in den vergangenen 20 Jahren zu dem gemacht, was sie heute ist: eine glitzernde, multikulturelle Großstadt; und eine extrem überteuerte, für den Großteil der britischen Bevölkerung unerschwingliche Hauptstadt. Unter den Superreichen sind auch Geschäftsleute, die sogar schon von Queen Elizabeth II. geadelt wurden. Sir Leonard Blavadnik etwa, der in Odessa geborene reichste Mann Großbritanniens, hat dem Vernehmen nach 75 Millionen Pfund für das „Institute for Government“ in Oxford und 60 Millionen Pfund für den neuen Anbau der Kunstgalerie Tate Modern in London gespendet. Beide Einrichtungen tragen stolz seinen Namen. Blavatnik wird keine übertriebene Nähe zu Wladimir Putin vorgeworfen. Das ist bei Roman Abramowitsch anders. Der ehemalige Gouverneur von Tschuchotka ist einer der russischen Oligarchen, die in den 18 Jahren von Putins Herrschaft eine seltene Mischung aus Nähe und Distanz zum Kreml gehalten haben. Der 51-jährige Abramowitsch hat seine russischen Besitztümer inzwischen fast alle aufgelöst und hat sich für um die 125 Millionen Pfund einen Palast auf den Kensington Palace Gardens gekauft. In direkter Nachbarschaft zu Leonard Blavatnik und Prinz William. Ganz inoffiziell gilt er aber immer noch als einer, der zwischen den Staatsspitzen seiner zwei Heimaten vermitteln könnte. London aber ist auch der Hort für explizite Putin-Kritiker und Ex-Oligarchen wie Michail Chodorkowski. Der ehemals reichste Mann Russlands verbrachte zehn Jahre in einem sibirischen Straflager, nachdem er 2003 wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verhaftet worden war. Die Prozesse gegen ihn galten als politisch motiviert. Heute leitet Chodorkowski von London aus die Organisation „Open Russia“, die sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft in Russland einsetzt. „Ich würde davor warnen, die gesamte russische Regierung verantwortlich zu machen“, sagte er Cicero mit Bedacht, „Putin ist heute von kriminellen Gruppen umgeben, die ihn manipulieren.“ Chodorkowski unterstützt deshalb die Forderungen von konkreten Sanktionen gegen russische Individuen: „Wirtschaftssanktionen schaden Russland, aber sie nützen Putin politisch.“ Belegte man aber einzelne Individuen um ihn herum mit Einreiseverbot in westliche Länder, dann könnte man direkt den Verantwortlichen schaden, ohne die russische Zivilbevölkerung zu treffen. „Vergessen Sie nicht“, sagt Chodorkowski, „manche russische Politiker verwechseln ihren Beruf mit jenem eines Spions.“
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Tessa Szyszkowitz
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Russische Oligarchen haben sich gern in London niedergelassen und dort ihr Geld angelegt. Fragen über die Herkunft des Vermögens wurden kaum gestellt. Nach der Vergiftung des Ex-Spions Sergej Skripal und der diplomatischen Krise zwischen Russland und Großbritannien könnte es damit vorbei sein
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"Sergej Skripal",
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"Michail Chodorkowski"
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außenpolitik
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2018-03-22T15:58:43+0100
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2018-03-22T15:58:43+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/sergej-skripal-london-russland-grossbritannien-wladimir-putin-michail-chodorkowski
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Sonderrechte für geimpfte? - Diskriminieren, aber richtig
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„Keine Sonderrechte für Geimpfte“ – so lautet das aktuelle Mantra der Bundesregierung. Geimpfte sollen danach keinerlei rechtlichen Privilegien genießen. Aber heißt das automatisch, dass an den Impfstatus im gesellschaftlichen Umgang miteinander keinerlei Konsequenzen geknüpft werden dürften? Verfassungsrechtlich wird man differenzieren müssen. Beginnen wir mit einem Blick auf die allgemeine Privatwirtschaft, die bekanntlich vom Grundsatz der Privatautonomie geprägt wird. Danach kann grundsätzlich jeder autonom darüber entscheiden, mit wem er einen Vertrag eingehen möchte oder nicht – eine Erfahrung, die jeder schon einmal gemacht haben dürfte, der vor der Pandemie versucht hat, den berüchtigten Berliner Club „Berghain“ zu betreten. Etwas drastisch formuliert: Private dürfen in gewissen Grenzen diskriminierend agieren. Eine rechtliche Verpflichtung, mit einer anderen Person einen Vertrag einzugehen, besteht grundsätzlich nicht. Das ist in der Praxis freilich schon deshalb kein Problem, weil Unternehmerinnen und Unternehmer in der Regel ein finanzielles Interesse daran haben, mit möglichst vielen zu kontrahieren und ihnen eine diskriminierende Vertragspraxis zudem den Ruf schädigen würde. Könnte ein Restaurantbetreiber oder eine Bäckerin nicht-geimpften Personen damit zukünftig den Zutritt zu ihrem Geschäft untersagen? Aus rechtlicher Perspektive lautet die Antwort zunächst: Selbstverständlich. Und das gilt für rein private Akteure auch bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht alle Personen überhaupt die Chance hatten sich impfen zu lassen – eine solche Praxis wäre dann eher ein moralisches, denn ein rechtliches Problem. Gleiches gilt im Übrigen für Reedereien in Bezug auf Kreuzfahrten oder Fluglinien im Hinblick auf Flugreisen. Private Akteure wären in diesen Fällen auch nicht verpflichtet, sich mit einem Schnelltest als Alternative zufrieden zu geben. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit greift nicht. Gewisse Ausnahmen vom „freien Diskriminierungsrecht“ finden sich mittlerweile zwar im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Dort sind allerdings nur bestimmte Arten von Diskriminierungen untersagt, und das Verlangen eines Impfnachweises gehört nicht dazu. Da durch eine Impfung möglicherweise auch reale Gesundheitsgefahren minimiert werden können (sicher ist das bisher nicht), ist die Sache freilich auch anders gelagert als etwa bei einer Diskriminierung wegen des Geschlechts. Ob ein solches „Diskriminieren“ im eigenen Interesse läge, muss also jeder Unternehmer und jede Unternehmerin selbst entscheiden. Aktuell dürfte allerdings wohl kaum einer auf die Idee kommen, entsprechend zu verfahren – die meisten wären froh, überhaupt wieder öffnen zu können. Etwas anders liegt die Sache im Bereich der sogenannten Daseinsvorsorge. Hier kennt das Recht in bestimmten Bereichen durchaus sogenannte Kontrahierungszwänge, zwingt also private Akteure dazu, einen Vertrag mit einer anderen Person einzugehen. Für die meisten Bereiche wie die Energieversorgung, den Wasser- oder den Telefonanschluss dürfte die Frage eines Impfnachweises allerdings keine Rolle spielen. Wo es im Dorf nur einen einzigen Bäcker gibt, könnte man über einen Kontrahierungszwang zumindest nachdenken. Eine gesetzliche Regelung dazu gibt es nicht, es dürfte auch nicht angezeigt sein, hier im vorauseilenden Gehorsam etwas zu regeln, da es sich vermutlich eher um theoretische Scheinprobleme handelt. Und im Arbeitsrecht? Kann der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin Auskunft über eine durchgeführte Impfung verlangen? Im Grundsatz gilt hier: Nein. Den Gesundheitszustand abzufragen ist in dieser Form unzulässig, auch im Übrigen trifft die Arbeitnehmer keine Informationspflicht. Das heißt freilich nicht, dass die unbeantwortete Frage nach der Impfung konsequenzlos bleiben müsste. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen für die jeweilige Tätigkeit die notwendige Tauglichkeit aufweisen. Insofern kann es durchaus Tätigkeiten geben, bei denen eine Impfung von Arbeitgeberseite vorausgesetzt werden darf (man denke vor allem an die Pflegeberufe). Kommt in solchen Fällen die Betreuung mit einer anderen Tätigkeit nicht in Betracht, kann das im schlimmsten Fall auch zur Kündigung führen. Hier sollte daher der Gesetzgeber partiell tätig werden und festlegen, in welchen Bereichen eine Impfung arbeitsrechtlich vorausgesetzt werden darf; eine ähnliche Regelung findet sich heute bereits für die Masernimpfung. Gleichwohl sind dem Staat hier Grenzen gesetzt: Letztlich ist auch das Arbeitsrecht vom Prinzip der Privatautonomie geprägt, und hier liegt die Sache wie erwähnt eben anders als in den bereits bestehenden Diskriminierungsverboten. Den größten Einfluss auf den Umgang mit nicht-Geimpften hat der Staat zwangsläufig da, wo er die Verträge selbst schließt. Geht es also um den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, gilt der Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, der eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung untersagt. Solange eine allgemeine Impfpflicht nicht besteht, dürfen diese Einrichtungen also grundsätzlich nicht zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften unterscheiden. Auch hier mag es für bestimmte Einrichtungen wie staatliche Pflegeheime und Krankenhäuser Ausnahmen geben. Allerdings greift hier sowohl der Gleichheitsgrundsatz als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Die Einrichtung muss also nicht nur gute Gründe für den Impfnachweis nennen können, sie muss sich unter Umständen (etwa für Besucher) auch auf Alternativen wie Schnelltests verweisen lassen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass sich jedenfalls im privaten Umgang miteinander gewisse Privilegien für geimpfte Personen rechtlich kaum verhindern lassen. Private haben grundsätzlich das Recht, über den eigenen Umgang und damit auch über die eigenen Vertragsbeziehungen frei zu entscheiden. Ob und wie man von diesem Recht Gebrauch macht, ist damit freilich ebensowenig vorgegeben. Der demokratische Verfassungsstaat setzt hier auf die Vernunft der Rechteinhaber. Natürlich ist es nicht verfehlt, wenn sich der Gesetzgeber punktuell Gedanken macht und einige besondere Konstellationen explizit regelt. Im Übrigen aber ist das Vertrauen auf die allgemeine Vernunft auch in diesem Fall vielleicht nicht das Schlechteste.
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Alexander Thiele
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Manche Airlines wollen nur noch Passagiere befördern, die einen Impf-Nachweis vorzeigen können. Droht wegen Corona jetzt eine Zwei-Klassen-Gesellschaft? Gewisse Privilegien für geimpfte Personen werden sich rechtlich jedenfalls nicht verhindern lassen.
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"Impfpflicht",
"Impfen",
"Grundgesetz"
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innenpolitik
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2020-12-29T16:21:23+0100
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2020-12-29T16:21:23+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/sonderrechte-geimpfte-flugreisen-zwei-klassen-gesellschaft
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Internetmetropole Berlin - Willkommen in der „Silicon Alley“
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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Mai). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Einen Hinterhof weiter verkaufte früher der Modedesigner Andreas Murkudis seine Kleidung, bis es ihn aus Berlin-Mitte weg nach Schöneberg zog. Jetzt frisst sich das Start-up „Outfittery“ von Anna Alex durch das Jugendstilgebäude an der Münzstraße. Outfittery ist ein virtueller Einkaufsberater, Anna Alex stellt Kleidung für Herren zusammen, die entweder allergisch aufs Einkaufen reagieren oder wenig Zeit haben. Ein Jahr nach der Gründung hat das Unternehmen bereits 50 000 Kunden und beschäftigt 30 Mitarbeiter. Outfittery ist eines von 2500 Internet-Start-ups, die seit 2008 in Berlin gegründet wurden. Das jedenfalls ist die Zahl, die der neu gegründete Bundesverband deutscher Startups e. V. ermittelt hat. Berlin kämpft dabei mit Städten wie Istanbul, Warschau oder Tel Aviv um die digitale Vormachtstellung diesseits des Atlantiks. In Europa dürfte derzeit keine Stadt mehr Gründer und Investoren anziehen als die deutsche Hauptstadt. Wie viele es tatsächlich sind, weiß zwar niemand genau, weil täglich neue Firmen entstehen, es keine vernünftige Branchenstudie gibt, nicht klar ist, ob sich schon Start-up nennen darf, wer nur eine Idee ausbrütet, oder ob der Eintrag im Handelsregister entscheidet. Die New York Times jedenfalls adelte Berlin – in Anlehnung an das Silicon Valley – schon zur „Silicon Alley“. „Internet-Start-ups haben in den vergangenen Jahren rund 20 000 Arbeitsplätze in Berlin geschaffen“, sagt Florian Nöll, Vorstandsmitglied im Start-up-Verband. Wenn man jede IT-Firma mitzählt, sind es laut einer Studie der Industrie- und Handelskammer sogar 45 000 neue Jobs. Jede 25. Stelle in Berlin hängt inzwischen von der Branche ab. So entsteht in der industriefreien Hauptstadt etwas, das sich zum Mittelstand von morgen auswachsen könnte. Weil der Mittelstand von heute sich in der Finanzkrise als Rückgrat der deutschen Wirtschaft erwiesen hat, lassen sich neuerdings auch Politiker mit den Jungunternehmern ablichten. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Bilder bis zur Wahl im September halten und sich weder Kanzlerin noch Herausforderer mit Nachwuchs-Pleitiers verewigt haben. Berlin scheint für den Boom wie geschaffen, geht es hier doch unangepasster und wilder zu als anderswo. Jeder kann hier sein Ding machen. Getragen von einer Melange aus Euphorie, Unsicherheit und Zweifeln fühlt sich Berlin ja selbst ein wenig an wie ein Start-up. Noch fehlt das große Geld, der ganz große Deal, noch ist Berlins Start-up-Boom vor allem eins: ein Zukunftsversprechen. Gründer wie Investoren vereint dabei die Hoffnung, ein neues Instagram zu entwickeln. Instagram ist eine Foto-App, die es den Nutzern erlaubt, die mit dem Smartphone geschossenen Bilder direkt mit ihren Freunden online zu teilen. Das soziale Netzwerk Facebook kaufte den Instagram-Entwicklern deren Unternehmen kurz vor dem eigenen Börsengang für eine Milliarde Dollar ab. Von derartigen Deals ist die deutsche Szene noch weit entfernt: So heißt es in einer Analyse des renommierten Tech-Blogs Startup Genome zwar, Berlin sei zurzeit der beste Standort, um eine Firma zu eröffnen. Allerdings sei „das Ökosystem noch nicht reif genug, um sie hier auch wachsen zu lassen“. Im Global Startup Ecosystem Index liegt Berlin deshalb abgeschlagen hinter Städten wie Toronto, Paris, São Paulo oder Hongkong auf Platz 15. Zwar sitzen in Berlin eine Menge Business Angels und Inkubatoren, also Brutkästen, die sich in eine Idee verlieben, die neue Ideen mit Cash päppeln und auf Rendite hoffen. Um es aber mit dem richtigen Valley aufzunehmen, fehlen in der Alley die großen Investoren, die auch bereit sind, in späteren Finanzierungsrunden ins Risiko zu gehen. Nach einer Analyse der Nachrichtenagentur Dow Jones haben Deutschlands Gründer im vergangenen Jahr 822 Millionen Euro eingesammelt, das sind zwar 48 Prozent mehr als 2011, und ein Großteil davon floss auch nach Berlin. Insgesamt ist das aber nicht viel mehr als die Summe, die Investoren vor dem Börsengang allein in Facebook pumpten. Vor allem die deutsche Erbengeneration scheut das Wagnis, sich mit Start-ups einzulassen. Das meiste Geld, das nach Berlin fließt, kommt aus dem Ausland: „Ab einem Volumen von über 15 Millionen Euro finanzieren fast nur die großen angelsächsischen Venture-Capital-Fonds“, sagt Florian Nöll vom Start-up-Verband. Auch bei der jüngsten Finanzierungsrunde des Online-Händlers Zalando kamen die knapp 300 Millionen Euro von der schwedischen Beteiligungsgesellschaft Kinnevik. Innerhalb der EU investieren schwedische Wagniskapitalgeber im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung am stärksten, deutsche Investoren liegen nur auf Rang zwölf. Um die Risiko- und Unternehmerkultur am Standort Deutschland zu verbessern, hat Nöll im Oktober mit drei anderen Gründern den Bundesverband deutscher Startups e. V. gegründet. „Um gegenüber der Politik mit einer Stimme sprechen zu können“, sagt er. Die Themen sind: Steuererleichterungen, eine Reform der Insolvenzordnung oder eine Verbesserung der Einwanderungspolitik. Die Politik hat inzwischen erkannt, dass der Hype um Berlins Start-up-Szene auf lange Sicht gerechtfertigt sein könnte. Im Wahlkampf hat SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück bereits kurz nach Ostern die Factory, einen Gründer-Campus an der Bernauer Straße besucht, in den Google eine Million Euro investiert hat. Die Kanzlerin schaute Anfang März beim Spieleentwickler Wooga und bei Researchgate, einer Vernetzungsplattform für Wissenschaftler, vorbei und rief eine „neue Gründerzeit“ aus. Wirtschaftsminister Philipp Rösler protegiert die Gründerelite mit speziellen Investitions- und Förderprogrammen. Ende Februar war der Vizekanzler sogar auf Dienstreise im Silicon Valley. Dort gefiel es ihm so gut, dass er im Mai für eine ganze „German Valley Week“ hinfliegen will. Berlins Gründer wollen ihn in einem eigenen Charterflieger begleiten. Auch Outfittery-Gründerin Anna Alex will mitfliegen. Auf der Reise will sie Rösler als Kunden gewinnen. „Genau unsere Zielgruppe: einer, der keine Zeit zum Shoppen hat“, sagt die 28-Jährige, die Volkswirtschaft in Paris und Freiburg studiert hat. Rösler und Alex eint der Traum von einem deutschen Apple, Google oder Facebook. „Noch fehlt Berlin die ganz große Idee von internationaler Bedeutung“, sagt Kolja Hebenstreit vom Inkubator Team Europe. Zwar gab es auch schon Exits, so nennen Gründer und Investoren den Verkauf eines Start-ups oder dessen Börsengang, die zu Träumen verleiten. Ende 2012 etwa hat der Online-Reisevermarkter Expedia 477 Millionen Euro für das Vergleichsportal Trivago bezahlt, und im Sommer davor kaufte die US-Firma Care, eine Plattform für Betreuungsdienstleistungen, für einen zweistelligen Millionenbetrag ihre deutsche Kopie Betreut.de. Aber im Vergleich zu den USA nehmen sich die Summen noch bescheiden aus. Der Online-Versandhändler Zalando könnte der erste Berliner Milliardendeal sein, wenn er es bis an die Börse schafft. Oder die Musiktauschbörse Soundcloud, die inzwischen mehr als zehn Millionen Menschen nutzen. Die Firma des Schweden Alexander Ljung, die auch in der Berliner Factory residiert, hat es zumindest in die dritte Finanzierungsrunde geschafft und vor gut einem Jahr 50 Millionen Euro vom US-Investor Kleiner Perkins Caufield & Byers eingesammelt. „Vielleicht braucht die Stadt aber auch noch ein paar Jahre, bis sie eine große Company ausspuckt. Im Silicon Valley machen die das schließlich etwas länger“, sagt Jens Munk, Deutschland-Chef der britischen Investmentbank Torch Partners. „Berlin war immer eine kreative Stadt, das verbindet sich jetzt mit den relativ günstigen Immobilienpreisen und hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern.“ Munk glaubt fest daran, dass der aktuelle Start-up-Boom beständiger ist als das Phänomen der New Economy um die Jahrtausendwende. Heute dominieren die Berliner Szene die nach dem Dotcom-Crash zur Jahrtausendwende übrig gebliebenen Gründer, die mit ihrem Geld jetzt andere Firmen finanzieren. Lukasz Gadowski mit Team Europe gehört dazu, Verlage wie Dumont, Madsack oder Holtzbrinck hoffen, im Netz ihr wegbrechendes Kerngeschäft kompensieren zu können. Handelskonzerne wie Otto oder Tengelmann sind angefixt vom E-Commerce. AWD-Gründer Carsten Maschmeyer und SAP-Mitgründer Hasso Plattner wetteifern um die heißesten Geschäftsideen. Angeführt wird diese Generation von den Samwer-Brüdern Marc, Oliver und Alexander, die einst Alando, Jamba und Citydeal teuer an Ebay, Verisign und Groupon verkauften. Ihre Holding Rocket Internet, über die sie an diversen Internetunternehmen beteiligt sind, beschäftigt 8000 bis 10 000 Mitarbeiter auf der ganzen Welt, die meisten bei Zalando. Auch Anna Alex hat dort vorher gearbeitet, ihre Mitgründerin Julia Bösch kennengelernt und den Kontakt zu ihrem ersten Investor Holtzbrinck Ventures geknüpft. Und so ist ihr junges Unternehmen längst Teil eines immer engmaschigeren, immer größer werdenden Netzwerks in Berlin, das sich schon bald aus sich selbst heraus nähren könnte. Marcus Pfeil beobachtet als Kolumnist des Wall Street Journal die deutsche Internetszene.
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Marcus Pfeil
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Die Hauptstadt entwickelt sich zu Europas Internetmetropole. Niedrige Mieten, der attraktive Standort und gut ausgebildete Mitarbeiter locken Gründer und Investoren an
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wirtschaft
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2013-06-28T10:02:16+0200
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2013-06-28T10:02:16+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/internetmetropole-berlin-willkommen-der-silicon-alley/54818
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Buchtipp: „Replay“ – Spiel’s noch einmal, Implantat
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Wer heute Huxley, Orwell oder Bradbury liest, die großen dunklen Visionen von gesellschaftlicher Kontrolle in der Literatur des 20. Jahrhunderts, der staunt, wie nah wir ihnen inzwischen gekommen sind. In Benjamin Steins drittem Roman „Replay“ geht es nun um die digitale Überlagerung der Realität, wenn auch nicht ausschließlich. In Harvard hat ein Mann namens Ed Rosen den Brückenschlag zwischen organischem Nervengewebe und anorganischen, nervenähnlich arbeitenden Systemen erforscht. Der Firmengründer Matana, dem er sich im Silicon Valley als einfacher Codierknecht andient, kennt diese Arbeiten, und Rosens rechtes Auge, das von Geburt an nach außen starrt, hat es ihm angetan. Rosen soll seine Forschungen fortsetzen, und er soll als sein eigener Testpatient den Prototyp einer Sehprothese implantiert bekommen, deren elektronische Transmitter mit dem Nervengewebe vernetzt werden. Die ersten Erfahrungen sind ermutigend, nur die fortwährende Anwesenheit von Ärzten und Personenschützern stört. Also wird eine Brille mit Sender gebaut, die Rosens Daten an die Mediziner funkt. Die weiteren technischen Entwicklungsschritte sind folgerichtig wie folgenreich: Die Brille wird von Modell zu Modell kleiner, bis der Sender ganz ins Implantat wandert und überdies zum Empfänger wird. Mit einem Folgemodell kann sich der Träger schließlich auch Träume und Erinnerungen anderer einspielen – oder sie eingespielt bekommen. [gallery:Die 20 Cicero-Cover zum Tatort] Alle reißen sich um dieses „UniCom“. Wer etwas auf sich hält, den erkennt man am Pulsieren der blauen Indikatoren an den Schläfen. Und wer nicht ganz aus der Technologiebranche verschwinden will, kooperiert: Längst sind Mark Zuckerberg und Steve Jobs (der im Roman noch lebt) ins Projekt eingestiegen, siebzig Prozent der Amerikaner haben sich ein Gerät implantieren lassen; wer es nicht tut, macht sich verdächtig. Mit seinen Möglichkeiten zur Überwachung und Beeinflussung ist das Unternehmen zur zentralen Kontrollinstanz des Landes und Ed Rosen zum Minister für Kommunikation und Bürgerbeziehungen geworden. Als gelernter Informatiker geht Benjamin Stein unaufgeregt mit den technischen Grundlagen seiner Geschichte um. Die Zukunftsvision aber nutzt er lediglich als Folie, um über Gefühle zu schreiben: über Herausforderungen und Grenzüberschreitung, über Gewissensbisse und Zynismus. Und über die Liebe, schließlich werden die Einsatzmöglichkeiten des Geräts auch mit erotischer Phantasie erprobt. Wenn dem Leser klar wird, dass der Unterschied zwischen Tagtraum, Halluzination und Manipulation verschwimmt, ist er schon tief in das Spiel mit eigentümlichen Wahrnehmungen verstrickt. Wir können von Glück sagen, dass unsere digitale Realität noch nicht ganz auf dem Stand von „Replay“ ist. Benjamin Stein: Replay. Roman
C.H. Beck, München 2012
176 Seiten, 17,95 Euro
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Auf einmal wollen alle diesen Chip im Hirn haben: In Benjamin Steins „Replay“ können sich Menschen dank Implantaten in fremde Träume begeben – ein Science-Fiction-Roman, der erschreckend realitsnah an Klassiker von Huxley und Orwell erinnert
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kultur
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2012-08-30T14:37:30+0200
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2012-08-30T14:37:30+0200
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https://www.cicero.de//kultur/benjamin-stein-replay-digitale-realitaet-spiels-noch-einmal-implantat/51504
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Von Corona bis Ukraine - Das neue lineare Denken
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Am 14. August 1892 war es soweit: Das mit Fäkalien verseuchte Elbhochwasser erreichte den oberen Einlass der Trinkwasserversorgung Hamburgs, in den nächsten Tagen starben knapp 9000 Frauen und Männer an der Cholera. Endlich gab die ständische Gesellschaft der Hansestadt ihren Widerstand auf und vertraute Robert Koch die Reorganisation der öffentlichen Verwaltung und Gesundheitspflege an. Koch repräsentierte nicht nur die wissenschaftliche These, dass die Cholera eine Ansteckungskrankheit sei, sondern auch die preußische Staatsstruktur, die top-down organisiert war und Kompetenzen anhand hierarchischer Position und Fachkompetenz in den Mittelpunkt stellte. Diese „Bürokratie“, damals hochmodern, hat über die letzten 150 Jahre erheblich an Strahlkraft verloren: Bei unerwarteten Ereignissen gab es keine Zuständigkeiten, Innovationen wurden behindert, jeder hatte Angst, seine eng umgrenzten Kompetenzen zu überschreiten und für die Folgen zu haften. Statt vertikalem Top-down haben sich heute laterale Strukturen durchgesetzt, quer zu den Linien, projektbezogen, auf Flexibilität ausgerichtet. Die unerwartete „Störung“ wird zum Normalfall, Strukturen stehen nur bis zur nächsten Innovation, das Umgehen mit Unsicherheit (Ambiguität) gehört zur Grundkompetenz. In dieser Situation kam „Corona“. Im Jahr 1992 war das Bundesgesundheitsamt in „Robert-Koch-Institut“ umbenannt worden, eine Hommage an den großen Forscher, aber auch ein Rückgriff, so muss man heute erkennen, auf die Strukturvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Denn was ist (nicht) geschehen? Erste Corona-Fälle bei Webasto in München – wer war vor Ort? Cluster in Heinsberg – hat jemand 100 Leute vom RKI vor Ort gesehen, die die wichtigen Fragen bearbeitet haben (Übertragungswege, Sterblichkeit ...)? Die ersten Cluster in Altersheimen in Wolfsburg und Würzburg – war jemand aus Berlin dort und hat mit modernen Konzepten der Epidemiekontrolle ausgeholfen? Wir kennen die Antwort. 1150 Mitarbeiter, knapp die Hälfte davon Akademiker, blieben auf ihren Sesseln sitzen, sammelten Meldedaten, von denen alle Fachleute wussten, dass sie nichts taugten (außer den Meldeeifer widerzuspiegeln), veröffentlichten Appelle (und änderten sie nächtens), steigerten die Bedrohungsszenarien, statt sich kompetenter Krisenkommunikation zu bemüßigen, waren nicht in der Lage, eine Epidemie als komplexes System zu begreifen und entsprechend zu handeln. Interviews mit Matthias Schrappe: An dieser Stelle aber sollen nicht die vergebenen Handlungsoptionen der zuständigen Stellen im Mittelpunkt stehen, sondern die erstaunliche Reaktion von Politik und Gesellschaft. Wir waren über Jahrzehnte darauf hingewiesen worden, dass das einfache Oben-Unten, das einfache Durchregieren, die Person als Rädchen nicht der Weisheit letzter Schluss sei. Mitarbeiter wurden aufgerufen, die Chefs zu kritisieren, und Projektstrukturen kennt wohl jeder zur Genüge – doch jetzt gaben wir uns mit reinen Top-down-Anweisungen zufrieden. Masken bei Windstärke 5 – kein Problem. Schulen monatelang schließen und Kinder zu Hause betreuen – kein Problem. Ausgangssperre (und sich zu Hause infizieren) – genauso wenig ein Problem. Die öffentliche Diskussion zum Thema zeitgemäßes Pandemie-Management, das sich an modernen Strukturvorstellungen orientiert und den Bürger als selbständig denkendes und handelndes Individuum wahrnimmt, eine solche Diskussion fand nicht statt. Statt Diskussion Vereinfachung: Täglich die RKI-Zahlen zur Kenntnis nehmen, einen Podcast aus der Charité hören, das reicht. Willkommen in der linearen Zufriedenheit. Und die Politik ergriff die Chance und reaktivierte die süße Versuchung des Durchregierens, endlich konnte man der Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen wieder klares Handeln entgegensetzen. Diese Begeisterung ging sogar so weit, dass sich eine der führenden Parteien ihrer Chancen im Bundestagswahlkampf beraubte, indem sie die vorgeblichen politischen Top-down-Optionen personalisierte, statt sich zu inhaltlichen Lösungen zu positionieren. Diese „neue Linearität“ kann nur eines nicht gebrauchen, nämlich Störungen von der Seitenlinie. Ähnlich wie Bürokratien bei unvorhergesehenen Ereignissen („dafür bin ich nicht zuständig“) aus dem Tritt geraten, können die auf einfache lineare Lösungen eingeschworene Öffentlichkeit und politische Steuerung kritische Gegenfragen nicht mehr sinnvoll integrieren. Dies aus einem simplen Grund: Die kritischen Fragen liegen so auf der Hand und gefährden die neue Einfachheit deswegen so direkt, dass man zum kategorischen Ausschluss greifen muss. Die Folgen, die Ausschluss- und Verhetzungsstrategien sind bekannt. Allerdings ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese Neigung zu einfachen Lösungen verstetigt und uns noch beschäftigen wird, wenn die Corona-Pandemie längst in ihre endemischen Ebenen abgetaucht ist. Das wichtigste Indiz ist das Umgehen mit der Ukraine-Krise. Die üblichen salvatorischen Klauseln sollen hier unterbleiben, aber es ist nicht zu übersehen, dass kritische Fragen sofort mit Delegitimierung konfrontiert werden: Putinversteher, Verharmlosung des Angriffskrieges, Befürwortung von Folter und Vergewaltigung. Dabei stehen hinter diesem Pulverdampf ganz verständliche und einer modernen Gesellschaft angemessene Fragestellungen, zum Beispiel zum Ziel der Maßnahmen, zur Strategie (Russland besiegen?), zu den Gefahren, auch zum Pazifismus. Wenn laut Umfragen die Hälfte der Bevölkerung pazifistische Überlegungen (partiell) teilt, warum sind nicht auch die Hälfte der Talkshow-Teilnehmer aus diesem Lager? Woher der aggressive Ton der Befürworter von Waffenlieferungen gegenüber den Beteiligten von Unterschriftensammlungen, die zu mehr Vorsicht und Umsicht aufrufen? Der Verdacht drängt sich auf, dass auch hier weite Teile der Gesellschaft und der Politik der Verlockung der groben Vereinfachung unterliegen. Je mehr Waffen, umso mehr Frieden, umso weniger Ungerechtigkeit – eine wahrhaft ahistorische, unterkomplexe Vorstellungswelt. Aber die dahinter stehende Frage ist noch gewichtiger: Was passiert, wenn unsere Gesellschaft – anders als die letzten Jahrzehnte es hätten vermuten lassen – sich wirklich auf Dauer in einer „neuen Linearität“ einrichtet? Muss man sich nicht fragen, ob solche Vorstellungen eigentlich noch zeitgemäß sind, ob diese in der Lage sind, unsere Gesellschaft zu vertreten, weiterzuentwickeln, sie in der heutigen Welt mit dem notwendigen Maß an Lösungskompetenz auszustatten? Erhebliche Zweifel sind hier angebracht. Robert Koch hat seinerzeit der Modernität zum Durchbruch geholfen, und die heutige Modernität, die auf dem Umgang mit komplexen Strukturen beruht, wird genauso wenig zu bremsen sein – nur sollten wir uns nicht von dieser Entwicklung abkoppeln.
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Matthias Schrappe
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Während der Corona-Pandemie feierten Strukturvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert ihre Wiederauferstehung: Statt auf den mündigen, selbstverantwortlichen Bürger zu setzen, galt es, lediglich Anweisungen zu befolgen. Kritische Gegenfragen wurden rhetorisch und ganz praktisch delegitimiert. Eine Ausschlussstrategie, die sich jetzt in Debatten über den Ukraine-Krieg fortsetzt.
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"Corona",
"Covid-19",
"Meinungsfreiheit",
"Robert-Koch-Institut",
"Ukraine-Krieg"
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innenpolitik
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2022-05-16T12:45:23+0200
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2022-05-16T12:45:23+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/corona-ukraine-das-neue-lineare-denken-waffenlieferungen-pazifismus
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Journal – Insel der gebratenen Tauben
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Im Jahr 1999 hätte
Nauru einmal fast die Weltmeisterschaften im Gewichtheben
ausgetragen. Es hätte für das Land so etwas wie ein Neuanfang
werden können. Ein Neuanfang, der dem Selbstbewusstsein der
mikronesischen Insel gut getan hätte. Immer wieder: hätte. Die
Weltmeisterschaft fand hier nämlich nie statt. Plötzlich war das
Geld für die Organisation ausgegangen, und so sprang Samoa in
letzter Sekunde als Veranstalter ein.
Das ist nur eines von vielen Beispielen, anhand derer der
französische Journalist Luc Folliet vom Sturz des ehemals reichsten
Landes der Erde erzählt. In den 1970er und 1980er Jahren wies Nauru
weltweit das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf; dieses kam
aber nur sehr wenigen zugute: Die Inselrepublik zählte etwa 10.000
Einwohner und war damit der drittkleinste Staat der Welt. Vom
«Stern» bis zum «Time Magazine» – überall erschienen ausführliche
Reportagen über den wundersamen Reichtum dieser winzigen Insel im
Pazifik.
«Nauru. Die verwüstete Insel» heißt Folliets Buch, in dem Reportage
und historische Erzählung miteinander verknüpft sind. Der
präzisierende Untertitel verweist auf den Übergang von der
Dorfgeschichte ins globale Geschehen. Folliet erzählt davon, «Wie
der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte». Das
Schicksal Naurus zeigt tatsächlich, was passiert, wenn im
Kapitalismus plötzlich die Scheiße ausgeht, mit der das Geld
gemacht wurde. Das darf man an dieser Stelle so drastisch sagen,
weil der Reichtum dieser Insel buchstäblich auf Exkrementen gebaut
war, nämlich auf denen von Vögeln. Jahrtausendelang war die Insel
eine Zwischenstation von Zugvögeln, die riesige Mengen Guano
zurückließen, eine Mischung aus Vogelkot und den Skeletten
verendeter Tiere. Daraus aber lässt sich der wirksamste
Phosphat-Dünger herstellen, und so verkauften die Nauruer den
Rohstoff so lange in die danach gierende Welt, bis er schließlich
fast vollständig abgetragen war. Solange das Geld aber floss, war Nauru ganz real zu dem globalen
Dorf geworden, von dem der Medientheoretiker Marshall McLuhan immer
nur geschrieben hatte. Dieser 21 Quadratkilometer große Felsen im
Pazifik sendete seine frohe Botschaft in alle Welt: Seht her, man
kann aus Scheiße Geld machen! Und zwar so viel davon, dass man
nicht mehr arbeiten muss, weil einem die gebratenen Tauben von
selbst in den Mund fliegen. Einen Reichtum, der die Arbeit als
Voraussetzung des grenzenlosen Konsums überflüssig macht, hat
bereits der Ökonom Joseph Schumpeter als das große Heilsversprechen
einer jeden kapitalistischen Geldwirtschaft beschrieben. Es gehört
seit je zum Kapitalismus, auch wenn protestantische Arbeitsethiker
von Benjamin Franklin bis zu Guido Westerwelle Anderes
behaupten. Überaus anschaulich
rekonstruiert Folliet, wie diese Utopie auf Nauru vorübergehend
verwirklicht wurde. Regelmäßig brachten Schiffe und Flugzeuge
alles, was man zum Leben brauchte: Brot, Eier, Fleisch, Salat und
Container voller Tiefkühlprodukte. All das war extrem teuer, sieben
Dollar kostete ein Salat, aber die Nauruer konnten es sich leisten;
und sie leisteten sich auch, was man nicht unbedingt zum Leben
braucht: Autos, Boote, Motorräder, Videorekorder und
Stereoanlagen.
In Naurus goldenen Jahren gab es kaum eine Reportage, die nicht
auch auf die Auswüchse dieses Reichtums hinwies. Wenn manchem
Nauruer bei seinen täglichen Rundfahrten auf der einzigen Straße
der Insel ein Reifen des nagelneuen Mercedes platzte, ließ er den
Wagen einfach stehen und kaufte vom nächsten Frachter einen neuen.
Zum Reifenwechsel wären die meisten Insulaner kaum fähig gewesen,
denn dazu waren sie zu fett. Auch wenn die Bilder des
Südsee-Phantasten Paul Gauguin davon nichts zeigen: Fettleibigkeit
ist auf allen Pazifikinseln sehr verbreitet. Das aber täuschte
lange darüber hinweg, dass es sich auf Nauru um eine für die Region
untypische Wohlstandserkrankung handelte, wie sie auch in den USA
oder den Golfstaaten grassiert. Hinzu kam Zuckerkrankheit. Auch auf
diesem Gebiet hält das ehemals steinreiche Land einen bedenklichen
Rekord: Hier leben noch heute nicht nur einige der dicksten
Menschen überhaupt, sondern, prozentual betrachtet, auch die
meisten Diabetiker der Welt.
Dies führt zu einem etwas makaber klingenden Fazit aus diesem Buch:
Tatsächlich ist wohl Geldarmut das beste Mittel, die Nauruer wieder
in Form zu bringen. Denn seit die Frachter mit den ungesunden
Lebensmitteln nicht mehr kommen, die heute ohnehin keiner mehr
bezahlen könnte, tun die Insulaner wieder das, was ihnen in all
den Jahrhunderten vor der Entdeckung des Phosphatvorkommens längst
vertraut war: Sie fischen sich ihr Essen aus dem Meer. Wie sie das
machen, schildert Luc Folliet in einer der eindrücklichsten
Passagen dieses Buches. Es erzählt auf exemplarische Weise die
Realgeschichte der Arbeit des Kapitals.
Luc Folliet
Nauru, die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das
reichste Land der Erde zerstörte
Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz. Wagenbach, Berlin
2011.
144 S., 10,90 €
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Nauru war einmal der reichste Staat der Welt. Die tragische Geschichte seines Niedergangs ist eine Fabel auf die Zerstörungskraft des Kapitalismus
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kultur
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2011-02-17T12:49:25+0100
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2011-02-17T12:49:25+0100
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https://www.cicero.de//kultur/insel-der-gebratenen-tauben/47324
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Lifeline, Aquarius und Co. - „Seenotretter senden ein Signal, das die Politik nicht gewollt hat“
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Herr Daum, in den vergangenen Wochen haben wir im Fernsehen immer wieder Bilder von überfüllten Rettungsschiffen gesehen, die tagelang im Mittelmeer trieben, weil sie nicht mehr in Häfen in Italien oder Frankreich einlaufen durften. Erst musste die „Aquarius“ nach Spanien ausweichen, dann landete die „Lifeline“ in Malta. Sind EU-Länder nicht verpflichtet, Menschen in einer Notlage aufzunehmen?
Das ist eher eine politische Entscheidung, würde ich sagen. Rechtlich bleibt es den Ländern überlassen, ob sie ihre Häfen öffnen oder nicht. Es gibt keine internationale Pflicht, die Häfen für Flüchtlinge zu öffnen.
Auch in Notfällen?
Sie spielen auf die Genfer Flüchtlingskonvention an. Die schreibt vor, dass Staaten keinen Flüchtling abweisen dürfen, der direkt vor der Tür steht. Das bedeutet aber nicht, dass die Länder ihren Hafen automatisch freigeben müssen. Aber wenn sie sich weigern, überlassen Sie die Flüchtlinge doch sich selber und nehmen damit ihren Tod in Kauf. Auf der „Lifeline“ befanden sich 230 Flüchtlinge. Die Vorräte waren knapp geworden. Augenzeugen sagen, die Lage an Bord sei dramatisch gewesen.
Genau das ist das Dilemma. Die Staaten wollen die Flüchtlinge nicht haben. Das führt dazu, dass die Flüchtlinge sich selber überlassen werden. Das ist eine Praxis, die die australische Regierung in den vergangenen Jahren angewandt hat. Wie sieht die aus?
Australien hat keine Bootsflüchtlinge aus Indonesien ohne gültiges Visum mehr ins Land gelassen. Es hat stattdessen Flüchtlingslager auf pazifischen Inseln errichtet und Aufnahmeabkommen mit Ländern wie Kambodscha ausgehandelt. Die Abschottungspolitik haben Malta, Italien und Frankreich von Australien übernommen. Es ist ja ein Spagat, den die EU-Länder schaffen müssen. Sie müssen sich an das Gesetz halten, die eigenen Wähler ruhig stellen – und den Bedürfnissen der Geflüchteten gerecht werden. In Malta steht jetzt mit dem Kapitän der „Lifeline“ zum ersten Mal der Vertreter einer Rettungsorganisation vor Gericht. Was wirft ihm die Inselregierung vor?
Dass er unter falscher Flagge gefahren also mit einem nicht ordnungsgemäß registrierten Schiff, und ohne Erlaubnis in die maltesischen Hoheitsgewässer eingedrungen ist. Man wirft ihm NICHT vor, dass er Menschenschmuggel begangen haben soll. Der Verein Mission Lifeline sagt, das Schiff sei ordnungsgemäß in Holland registriert gewesen. Italiens Staatschef Guiseppe Conte habe dem Kapitän nach einem Telefonat mit Maltas Regierungschef eine Genehmigung für Malta in Aussicht gestellt.
Die Situation war sehr schwierig. Die maltesischen Behörden haben Kenntnis davon erhalten, dass die „Lifeline“ vor den Territorialgewässern von Malta wartete. Für solche Situationen gibt es das so genannte Hafennotrecht. Das gebietet es den Hafenbehörden, den Hafen im Notfall zu öffnen. Es gibt Juristen, die sagen, der Fall „Lifeline“ sei ein solcher Notfall gewesen. Ist es vor diesem Hintergrund nicht grotesk, dass Maltas Regierung den Spieß umgedreht und den Kapitän vor Gericht gestellt hat?
Einer muss ja verantwortlich sein. Fakt ist, dass sich die maltesischen Behörden vom Kapitän erpresst fühlen konnten. Er hat gesagt: „Ihr müsst uns reinlassen, sonst sterben die Passagiere.“ Was blieb ihm anderes übrig?
Ganz ehrlich? Weiß ich nicht. Das ist eine Situation, vor die kein Mensch gestellt werden möchte. Und was ist, wenn das Gericht zu dem Schluss kommt, der Kapitän habe verantwortungsbewusst gehandelt – steht Maltas Regierung dann nicht bis auf die Knochen blamiert am Pranger?
Kann man so sagen. Über die Lösung des ganzen Problems haben eigentlich Politiker zu entscheiden, und die Regierung hat sie jetzt nur ans Gericht weitergeschoben. In so einem Fall kann es aber ganz heilsam sein, wenn es ein Gerichtsurteil gibt, das als Wegweiser für künftige Fälle dienen kann. Im Augenblick gibt es eine große Unsicherheit bei den EU-Staaten, wie man sich in so einer Situation verhält. Nett formuliert. Man könnte auch sagen: Die Mittelmeer-Anrainer pokern in der Asylpolitik – mit Menschenleben als Einsatz.
Zweifelsohne. Solange das Gericht in Malta kein Urteil gefällt hat, bleibt der Status Quo erhalten. Flüchtlinge werden immer noch an Bord genommen, aber die Schiffe stehen dann vor den Häfen und hoffen, dass sie reingelassen werden. Im Moment wäre Spanien das nächste Ausweichquartier. Allein in den ersten Monaten dieses Jahres sind 1.405 Menschen im Mittelmeer ertrunken – so viel wie noch nie. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen spricht von einer „humanitären Krise“. Wird die „Lifeline“ zum Präzedenzfall für die neue harte Linie in der EU-Asylpolitik?
Offenbar. Spätestens seit die CSU eine Obergrenze für Flüchtlinge gefordert hat, konnte man ahnen, dass es irgendwann dazu kommen würde, dass die Bombe platzt. Wenn wir die Augen schließen und so weitermachen wie bisher, könnte das tatsächlich passieren. Deshalb warten jetzt alle gespannt auf das Urteil im Fall der „Lifeline“. Aber das gilt doch bloß für Malta.
Das stimmt. Für Spanien oder Italien wäre das erstmal irrelevant. Wenn das Urteil gesprochen wurde, kann es aber angefochten werden. Der Fall könnte weitergehen, entweder zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg oder unter Umständen an den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg. Dann sind auch andere Staaten an das Urteil rechtlich gebunden. Rechtliche Grundlage für die Seenotrettung sind die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen, das Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und das Internationale Übereinkommen über Seenotrettung. Welche Gesetze greifen denn im Fall der „Lifeline“?
Alle. Das ist schon für Juristen ganz schön kompliziert. Wie soll es da erst dem Kapitän eines Rettungsschiffs gehen, der Zeuge wird, wie vor seinen Augen ein völlig überfülltes Schlauchboot untergeht?
Das ist auch für Juristen nicht immer eindeutig entscheidbar. Wichtig ist, dass man die Grundregeln kennt. Die wichtigste ist, dass man Hilfe leisten muss, wenn man Zeuge wird, wie jemand in Seenot geraten ist. Diese Regel kennt jeder Kapitän. Aber im Mittelmeer Hilfe zu leisten, wird immer schwieriger. Rettungsorganisationen beklagen, dass die libysche Küstenwache ihre Arbeit behindert. Es sind sogar schon Schüsse auf Helfer gefallen. Die Organisationen haben die Bundeskanzlerin in einem offenen Brief aufgefordert, sie zu unterstützen – ohne Erfolg. Kann man sagen, Angela Merkel ist mit verantwortlich für die Toten?
Aus juristischer Sicht: Nicht mehr als Sie und ich. Das Recht liegt bei den unmittelbar Beteiligten. Aber Deutschland unterstützt die libysche Küstenwache – finanziell und technisch. Merkels Verbündeter ist ein libyischer Warlord, der eigenmächtig eine 74 Seemeilen breite Such- und Rettungsregion vor der Küste eingerichtet hat, in der er nach Gutdünken regiert.
Wie die Gesetze in Libyen sind, damit haben wir in Deutschland nicht zu tun. Es würde gegen das Prinzip der Souveränität verstoßen, wenn wir es uns als Deutsche anmaßen würden, da einzugreifen. Ab der Küstenlinie fängt das Territorialgewässer an, das gehört zum Staat. Innerhalb dieses Streifens gilt das Recht der friedlichen Durchfahrt für alle anderen Schiffe. Über die Einhaltung wacht der Küstenstaat. In diesem Fall eben nicht.
Das kann ich von hier aus nicht beurteilen. Große Rettungsorganisationen wie die Ärzte ohne Grenzen haben ihre Einsätze im Mittelmeer vorübergehend eingestellt. Eine kluge Entscheidung?
Kommt auf den Standpunkt an: Die EU begrüßt es und die Geflüchteten bedauern es. Die Rettungsorganisationen müssen sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, sie würden den Schleppern erst ihr Geschäft ermöglichen. Eine berechtigte Kritik?
Diese Frage kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Positiv ist natürlich, dass sich Aktivisten für die Flüchtlinge einsetzen – und zwar dort, wo es niemand anderes tut. Das ist eine ehrenwerte Aufgabe. Andererseits senden sie damit ein Signal, das die Politik nicht gewollt hat: Okay, kommt, wenn Ihr es bis zum Mittelmeer schafft. Wir übernehmen den Rest und bringen Euch rüber. Und genau das ist für die EU das Problem. Die Menschen sollen zwar gerettet werden. Aber das heißt ja nicht, dass sie nach Europa gebracht werden müssen. Wohin sollten sie stattdessen?
Die können ja auch in einen sicheren Staat in Nordafrika zurückgebracht werden. So stellt es sich Bundesinnenminister Horst Seehofer vor. Der Haken ist bloß: Diese nordafrikanischen Länder haben alle schon abgewunken.
Kann ich gut verstehen. Die Idee von Herrn Seehofer ist schwer umzusetzen. So ein Transitzentrum in so einem nordafrikanischen Staat wirkt ja wie ein Magnet. Und innenpolitisch kann das zu erheblichen Unruhen führen. Diese Staaten haben ja ein niedriges Bruttoinlandsprodukt. Sie könnten nicht verantworten, dass es den Insassen der von Europa finanzierten Zentren besser geht als den eigenen Staatsangehörigen. Durch die Politik der Abschottung ist die Zahl der Flüchtlinge zwar schon zurückgegangen. Aber Häfen dichtzumachen, löst das Problem auch nicht. Seit Italien seine geschlossen hat, sind dort zwar 80 Prozent weniger Flüchtlinge angekommen. Dafür ist die Zahl in Griechenland um 50 Prozent und in Spanien sogar um 140 Prozent gestiegen. Wie soll die Politik das Problem dann lösen?
Versucht wird, es schon in Nordafrika einzuzäunen, damit der Schritt nach Europa gar nicht erst erfolgt. Was dabei herauskommt, erleben wir gerade in Libyen. Dort werden Flüchtlinge in lager-ähnlichen Camps interniert, um sie von der Überfahrt nach Europa abzuhalten.
Langfristig ist das natürlich auch keine Lösung. Aber ich glaube, die wird es auch nicht geben. Irgendjemand zahlt immer drauf. Die EU hofft, dass sich unser Problem von allein lösen wird. Oliver Daum ist promovierter Jurist mit den Schwerpunkten Internationales Seerecht und Humanitäres Völkerrecht. Als freier Mitarbeiter am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel berät er auch Politiker.
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Antje Hildebrandt
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Oliver Daum ist Jurist für Internationales Seerecht und Humanitäres Völkerrecht. Ein Interview über die komplizierte Situation im Mittelmeer für Seenotretter der „Lifeline“ oder „Aquarius“ einerseits, für die EU und Gerichte anderseits
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"Lifeline",
"Aquarius",
"Mittelmeer-Route",
"Mittelmeer",
"Flüchtlinge"
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außenpolitik
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2018-08-02T13:10:46+0200
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2018-08-02T13:10:46+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/seenotretter-lifeline-aquarius-eu-mittelmeer-fluechlinge-oliver-daum
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Schwarzmeerraum - Das Wiedererstarken der Türkei
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Die Schwächung Russlands, insbesondere nach der Invasion in der Ukraine, hat schwerwiegende Auswirkungen auf dessen Südflanke. In den kommenden Jahren wird Moskaus Fähigkeit, seine Macht im Schwarzmeerraum zu demonstrieren, abnehmen – und einer der Hauptprofiteure wird die Türkei sein. Obwohl die Türkei derzeit von politischen und wirtschaftlichen Problemen im eigenen Land überrollt wird, ist mittel- bis langfristig damit zu rechnen, dass sie das strategische Vakuum ausfüllen wird, das Russlands schwindender Einfluss in der Kaukasusregion hinterlässt. Die Länder der Region beginnen sogar, Russlands Niedergang öffentlich anzuerkennen. In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica vom 4. September sagte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan, Russland habe es versäumt, die Sicherheit seines Landes gegenüber einem zunehmend aggressiven Aserbaidschan zu gewährleisten, das seit Ende 2020 in der umstrittenen Region Berg-Karabach die Oberhand gewonnen hat. Als Reaktion auf die Behauptungen erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gegenüber Reportern, sein Land sei weiterhin der „Garant für Sicherheit“ in der Region. Peskow betonte außerdem, dass Moskau eine beständige Rolle bei der Stabilisierung der Region gespielt habe und dies auch weiterhin tun werde. Unabhängig davon bezeichnete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, die Äußerungen Paschinjans als öffentliche Rhetorik, die an Unhöflichkeit grenze, und fügte hinzu, dass die Armenier die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen sollten, anstatt anderen die Schuld zu geben. Einen Tag zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium bekannt gegeben, dass es den Leiter seiner Friedenstruppen im Südkaukasus ausgetauscht hat – die zweite wichtige Veränderung in den vergangenen Monaten. Die Äußerungen des armenischen Premierministers waren außergewöhnlich, vor allem wenn man bedenkt, dass Eriwan seit langem ein enger Verbündeter Moskaus und bei seiner Sicherheit und seinem wirtschaftlichen Wohlergehen auf den Kreml angewiesen ist. Die Reaktion Russlands war ebenso aufschlussreich und spiegelt wider, wie schwach seine Position geworden ist – zumindest im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, beides ehemalige Sowjetrepubliken, die Beziehungen zu Russland unterhalten. Paschinjan erklärte die Unfähigkeit Moskaus, für die Sicherheit Armeniens zu sorgen, damit, dass der Kreml mit dem Ukrainekrieg beschäftigt sei. Tatsache ist jedoch, dass die Situation im Südkaukasus dem Konflikt in der Ukraine vorausgeht. Im Sommer 2020 brachen die Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach erneut aus. Aserbaidschan eroberte Gebiete zurück, die Armenien seit dem Ende des ersten Berg-Karabach-Kriegs, der 1994 endete, kontrolliert hatte. Die Aserbaidschaner waren in der Lage, das regionale Gleichgewicht der Kräfte umzukehren, vor allem dank der militärischen und geheimdienstlichen Unterstützung durch ihren Verbündeten Türkei. Die Türken nutzten eine Öffnung in einem Gebiet, das zweifellos zum Einflussbereich Russlands gehörte. Das könnte Sie auch interessieren: Erdogans Wende gen Westen (Ekaterina Zolotova)
Der kommende Kompromiss mit Russland und die Rolle der USA (George Friedman)
Folgen des Ukrainekriegs: Russisches Roulette (Ekaterina Zolotova) Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Moskau jahrzehntelang der Sicherheitsgarant der Region gewesen – was erklärt, warum der Berg-Karabach-Konflikt ein Vierteljahrhundert lang zugunsten Armeniens eingefroren blieb. Die Türkei und Aserbaidschan sahen eine Chance darin, dass sich Russland seit dem Sturz der prorussischen Regierung in Kiew im Februar 2014 auf seinen westlichen Nachbarn konzentriert. Ankara und Baku erkannten, dass Moskau abgelenkt war und wahrscheinlich nicht in Berg-Karabach intervenieren würde – trotz der Tatsache, dass es Truppen in der Region stationiert hatte und immer noch hat. Ihre Wette ging auf: Als die Kämpfe im Jahr 2020 eskalierten, konnten die Russen allenfalls die formelle Einstellung der Feindseligkeiten im selben Jahr verkünden. Russlands friedenserhaltende Operation, die im Anschluss an den Konflikt im Jahr 2020 begann, war ohne Effekt, weil Moskau sich wahrscheinlich bereits auf den Krieg in der Ukraine vorbereitete, von dem es glaubte, dass er seine Position gegenüber dem Westen stärken oder zumindest seinen weiteren Niedergang verhindern würde. 19 Monate nach Beginn des Ukraine-Feldzuges befinden sich die Russen in einer weitaus schwächeren Position angesichts der schlechten Leistungen der russischen Streitkräfte vor Ort, der wirtschaftlichen Auswirkungen der westlichen Sanktionen und – in jüngster Zeit – der internen Streitigkeiten im Kreml, die durch die Wagner-Krise verdeutlicht wurden. Auch wenn Paschinjan dies erst kürzlich öffentlich geäußert hat, sieht er die Russen schon seit einiger Zeit taumeln. Seine Äußerungen zeigen, dass er erkannt hat, dass sich sein Land nicht mehr auf Russland verlassen kann und eine neue Strategie braucht. Er hat auch verstanden, dass Washington trotz der offiziellen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch das Osmanische Reich im April 2021 nur sehr wenig getan hat, um die türkisch-aserbaidschanische Annäherung im Südkaukasus in Frage zu stellen. In der Tat wird immer deutlicher, dass die Interessen der USA und der Türkei konvergieren, insbesondere angesichts der Situation in der Ukraine. Aus diesem Grund hat Paschinjan trotz des Widerstands im eigenen Land versucht, mit den Türken zusammenzuarbeiten, um sein Land gegen ein zunehmend selbstbewusstes Aserbaidschan abzuschirmen. Die Armenier sind nicht die Einzigen im nahen Ausland, die die tektonischen Verschiebungen in Russland bemerken. Auch die Georgier beobachten die Situation genau. Für sie steht mit der Präsenz russischer Streitkräfte in zwei abtrünnigen Regionen, Abchasien und Südossetien, viel auf dem Spiel. Jede weitere Schwächung Moskaus könnte es ihnen ermöglichen, die Kontrolle über diese beiden Gebiete wiederzuerlangen. Angesichts der Anzeichen für eine zunehmende Annäherung zwischen Ankara und Tiflis würde Georgien die Hilfe der Türkei sicherlich nicht ablehnen, wenn sie ihm angeboten würde. Im Moment konzentrieren sich die Türken darauf, den Ukraine-Konflikt zu nutzen, um ihren Einfluss im nördlichen Schwarzmeerraum zu stärken, den die Russen im späten 18. Jahrhundert vom Osmanischen Reich übernommen hatten. Seit 2014 wehren sich die Türken gegen die russische Annexion der Krim, deren tatarische Bevölkerung sie als ihre ethnische Verwandtschaft betrachten. In jüngster Zeit sind die Rolle Ankaras bei der Vermittlung des inzwischen gescheiterten Schwarzmeergetreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine und seine Bemühungen um dessen Wiederbelebung ein kleiner, aber wichtiger Teil der türkischen Strategie in diesem Bereich. Letztlich versuchen die Türken, auf Kosten Russlands die Führung über ihren früheren Einflussbereich wiederherzustellen. In Kooperation mit
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Kamran Bokhari
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Wegen des Ukraine-Krieges schwindet Moskaus Einfluss im Südkaukasus. Das nimmt man nicht nur in Armenien wahr. Die Türkei ist bestrebt, auf Kosten Russlands die Führung in einem ihrer ehemaligen Einflussgebiete wiederherzustellen.
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"Türkei",
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"Berg-Karabach",
"Kaukasus"
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außenpolitik
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2023-09-07T17:06:45+0200
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2023-09-07T17:06:45+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/turkei-russland-kaukasus-armenien-aserbaidschan
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„Anne Will“ zu Missbrauch in Katholischer Kirche - „Herr Bischof, vielleicht müssen Sie die Reformation nachholen“
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Sie war neun, als sie von dem Mann vergewaltigt wurde, der nicht nur ihr Lehrer und ihr Priester war, sondern der fleischgewordene liebe Gott. Das liegt jetzt schon 52 Jahre zurück, doch was das mit ihr gemacht hat, kann man erahnen, wenn man erlebt, wie Agnes Wich darüber redet. Am Sonntag war sie zu Gast bei „Anne Will“. „Wie entschlossen kämpft die Katholische Kirche gegen sexuellen Missbrauch?“, lautete das Thema nach dem viertägigen Krisengipfel im Vatikan, verharmlosend „Kinderschutzkonferenz“genannt. Die 61-jährige war die einzige Frau in einer illustren Männerrunde, die unter anderem mit dem Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, und mit Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung besetzt war. Das, was Wich „den Vorfall“ nennt, hat ihr Leben geprägt. Sie ringt nach Worten, um auszusprechen, was noch immer unaussprechlich ist. Mit 18 tritt sie aus der Kirche aus – und mit 61 wieder ein. Als Sozialpädagogin klärt sie heute selber über sexuellen Missbrauch auf, „um Heilung zu bekommen“, wie sie sagt. Das Trauma zu bewältigen, den Verlust dessen, was man Gottvertrauen oder Urvertrauen nennt, ist ein lebenslanger Prozess. Viele Opfer zerbrechen daran. Dementsprechend groß dürften Wichs Erwartungen an den Krisengipfel in Rom gewesen sein. Dass Priester ihre gottgleiche Stellung ausnutzen, um sich an Kindern zu vergehen, ist seit mehr als 30 Jahren bekannt. Das Ausmaß dieses Skandals ist erschreckend. Allein für Deutschland hat eine Studie der Deutschen Bischofskonferenz 3677 Fälle seit 1946 registriert. Das setzt die Kirche unter Druck. Es war jetzt das erste Mal in ihrer Geschichte, dass der Papst Bischöfe aus der ganzen Welt nach Rom einbestellt hat, um – ja, wofür eigentlich? Die ketzerische Frage stellte Heribert Prantl gleich zu Beginn der Sendung. Denn Missbrauchsopfer hatte der Vatikan nicht eingeladen. Sie mussten draußen bleiben. Ein befremdliches Szenario. Während der Papst drinnen in gesalbten Worten „von den Schreien der Kleinen“redete, die Gerechtigkeit forderten, standen die – inzwischen großgewordenen – Opfer vor der Tür. Einer von ist Matthias Katsch. Als Schüler wurde er am Berliner Canisius-Kolleg von einem Jesuitenpater missbraucht. Heute ist er Sprecher der Opfer-Initiative „Eckiger Tisch“. Die Rede des Papstes sei der schamlose Versuch gewesen, sich an die Spitze einer Bewegung zu setzen, ohne sich der Schuld und dem Versagen zu stellen, kritisierte er bei „Anne Will“. Wo bleibe eine finanziellen Entschädigung für die Opfer? Wo blieben Regeln für die systematische Aufarbeitung der Verbrechen? Man sah da schon, wie es im Gesicht von Bischof Stephan Ackermann arbeitete. Als Missbrauchsbeauftrager der Katholischen Kirche hatte er die undankbare Aufgabe, die dürren Ergebnisse des Krisengipfels als Erfolg zu verkaufen. Das konnte nicht gut gehen. Da konnte Ackermann noch so pflichtschuldig behaupten, er sei insgesamt zufrieden mit dem Krisengipfel und der Papst habe das Fundament für eine Kultur der Aufarbeitung gelegt. Wenn selbst er aber am Ende kleinlaut einräumen muss, er persönlich hätte sich auch eine To-do-Liste gewünscht, einen Plan, der genau auflistet, wie es jetzt weitergehen soll. Wenn er bestätigen muss, dass es in der Kirche immer noch erhebliche Widerstände dagegen gibt, ihre Archive für die Ermittlungsbehörden zu öffnen, dann ahnt man, dass dieser Krisengipfel nicht schon das Ende eines schon lange gärenden Prozesses war, sondern erst ein Anfang sein kann. Von einer „Jahrtausendkrise“, die eine Jahrtausendreform erfordere, sprach Heribert Prantl, sich selbst zitierend. Prantl ist Jurist. Er hat als Staatsanwalt gearbeitet. Er sagt, er habe es erlebt, wie die Kirche mit Mitarbeitern umgegangen sei, die Kinder sexuell missbraucht hätten. Statt sie zur Rechenschaft zu ziehen, habe man sie in ein Kloster abgeschoben. Prantl forderte einen eigenen Straftatbestand für„Vertuschung.“ Was aber sagt die Bundesregierung zu dieser Form von Paralleljustiz, der es lange nicht um Gerechtigkeit ging, sondern in erster Linie darum, das Ansehen der Kirche zu retten? Mit Johannes-Wilhelm Rörig hat sie 2011 einen eigenen Missbrauchsbeauftragten eingesetzt. Vor dem Krisengipfel hatte er gesagt, wenn die Veranstaltung kein Wendepunkt werde, werde sie ein Fiasko. Bei „Anne Will“ drückte er sich jetzt vor einer Verurteilung der Kirche. Die Straftaten müssten verfolgt werden, forderte er. Auch verjährtes Unrecht müsse anerkannt werden. Ein Forderungskatalog im Konjunktiv. Was man eben so sagt, wenn man weiß, dass der Staat die Kirche nicht zwingen kann, den Ermittlern Zugang zu den Akten der Täter zu verschaffen. Der sexuelle Missbrauch, das war das Fazit dieser Sendung, ist ein strukturelles Problem der Kirche. „Er steckt in der DNA der Kirche“, so hatte es der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer vor dem Krisengipfel formuliert – und damit eine Antwort auf die Frage vorweggenommen, warum sich die Kirche mit dem Thema so schwer tut. Es geht um Männerbünde, die sich im Licht der eigenen Selbstherrlichkeit sonnten und nicht bereit seien, von ihrem Sockel herunterzukommen. Doch der Missbrauchsskandal zwinge sie jetzt dazu, ihr Fundament in Frage zu stellen, auch das Zölibat und warum Frauen immer noch nicht zu Priesterinnen geweiht werden dürfen. Heribert Prantl bemerkte das süffisant grinsend mit Blick auf Stephan Ackermann. „Herr Bischof, vielleicht müssen Sie die Reformation nachholen.“ So weit würde Agnes Wich nicht gehen. Auch sie äußerte sich enttäuscht über den Ausgang des Krisengipfels. Aber Maximalforderungen zu stellen, dafür fehlt ihr das Selbstbewusstsein. Es ist vielleicht auch eine Folge „dieses Vorfalls“ vor 52 Jahren. Agnes Wich sagt, sie tue sich schwer mit der gesalbten Sprache des Papstes. Sie würde sich wünschen, dass er endlich Klartext spricht.
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Antje Hildebrandt
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Bei „Anne Will“ ging es um die Bilanz des Krisengipfels der Katholischen Kirche zum Thema sexueller Missbrauch. Opfer und Ankläger zeigten sich enttäuscht. Und sogar der Mann, der die Kirche verteidigen sollte, geriet in Erklärungsnot
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"Anne Will",
"Katholische Kirche",
"Sexueller Missbrauch",
"Papst Franziskus",
"Heribert Prantl"
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kultur
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2019-02-25T08:03:38+0100
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2019-02-25T08:03:38+0100
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https://www.cicero.de//kultur/anne-will-katholische-kirche-sexueller-missbrauch-papst-franziskus-heribert-prantl
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Nir Baram im Bibliotheksporträt – Gegen den Strich gelesen
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Und das soll eine Bibliothek sein – ein paar metallicgraue
Baumarktregale wie in einer Studenten-WG? Dazu ein Hausherr, der
sich in Jeans und ausgeleiertem T-Shirt irgendwann aus der Sofaecke
eines weiträumigen, leer wirkenden Tel Aviver Wohnzimmers schält
und barfuß über den Fliesenboden schlurft. „Dann darf ich also die
vielen Bücher zeigen …“, sagt Nir Baram mit jener merkwürdig
kristallinen Adoleszentenstimme, die in Israel jeder literarisch
und politisch interessierte Radiohörer oder Fernsehzuschauer seit
langem kennt. Macht er womöglich Witze? Mehr oder minder schmale,
windschief dastehende oder übereinandergestapelte Exemplare mit
hebräischen Lettern. Vielleicht handelt es sich dabei ja um
Anleitungsbüchlein für den Bau von Regalen. „Ich würde eher von Dekonstruktion sprechen. Etwa da drüben, bei
Nikolai Gogols ‚Mantel‘. Ich war 14, es war der Jom-
Kippur-Gedenktag 1991, und als wäre es gestern gewesen, erinnere
ich mich an meinen damaligen Schock: Verdammt, der Erzähler sagt ja
gar nicht immer die Wahrheit, sondern spielt mit dem Leser.“ Weil
es ohnehin keine Wahrheit gibt und nur Nuancen des mehr oder minder
Fiktionalen? „Von wegen“, entgegnet der preisgekrönte Romancier,
dessen Zweiter-Weltkriegs-Roman „Gute Leute“ in diesem Monat in
deutscher Übersetzung im Hanser-Verlag erscheint. „Einfache
Wahrheiten gibt es nicht, doch umso dringender stellt sich eine
Frage. Wie in seiner Zeit leben ohne Lügen, trotz aller Masken und
Projektionen? F. Scott Fitzgerald jagt seine Helden auf diese
Erkundungstour, und der ‚Große Gatsby‘ ist tatsächlich der Größte
von ihnen – eine Art Geistesbruder von Ulrich.“ Welcher Ulrich
denn? Nir Baram kneift die dunkelbraunen, in tiefen Höhlen liegenden
Augen spöttisch zusammen, legt den Kopf schief und wuselt sich in
gespielter Verzweiflung das Haar. „Könnte sein, dass gerade von
Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ die Rede ist …“ Der
lakonische Fitzgerald und der kunstvoll mäandernde Musil als
prägende Einflüsse für einen 35‑jährigen Tel Aviver Schriftsteller,
dem sein älterer Kollege Amos Oz erst kürzlich bescheinigt hat, er
öffne der israelischen Literatur neue Wege? „Aber klar doch, der
Intellektuelle Ulrich! Wobei es übrigens weniger um den Stil geht
als um die Aneignung von Sujets, den Blick auf Mentalitäten.“ Aber
weshalb ist dann Musils Wälzer vor uns im Regal so dünn, als sei er
geschrumpft? Statt einer Antwort zieht Baram ein weiteres, eher
handliches Buch heraus und öffnet es von hinten – quadratische
schwarze Buchstaben, am unteren Rand die arabische Ziffer 1 und
wenige Hundert Seiten weiter, von rechts nach links geblättert:
„Natürlich ‚Schuld und Sühne‘!“ Das Hebräische ist einfach
kompakter als andere Sprachen, also benötigt es gedruckt auch
weniger Raum. Den Fjodor-Dostojewski-Roman hat übrigens
irgendjemand aus dem Polen vor dem Krieg hierher gerettet, es
gehörte Nir Barams vor ein paar Jahren verstorbenen Mutter, die es
geradezu verschlungen hat, wie auch die Bücher von Iwan Turgenjew
und Lew Tolstoi und selbst die der sozialistischen Realisten
Michail Scholochow und Maxim Gorki, die in den fünfziger und
sechziger Jahren im israelischen Gewerkschaftsverlag erschienen
sind. Die Mutter las aus Liebe zur Literatur, aber auch zur Festigung
der eigenen Identität, erzählt Baram. Sie hatte ägyptisch-spanische
Vorfahren, die Eltern seines Vaters kamen aus Polen und Syrien, und
um beim damals den Ton angebenden, vor allem aus Osteuropa
stammenden aschkenasischen Establishment akzeptiert zu werden, las
sie all die Russen. Seite 2: Alles andere als ein Außenseiterspross Wobei – und auch das weiß im überschaubaren Israel ein jeder –
Nir Baram alles andere als ein Außenseiterspross ist. Sowohl sein
Großvater als auch sein Vater hatten in den Regierungen von Ben
Gurion und Jitzchak Rabin Ministerämter inne, unkorrumpierbare
linksliberale Zionisten, deren dennoch zwiespältiges Erbe Baram in
seinem 2009 erschienenen Roman „Der Wiederträumer“ geradezu
apokalyptisch fiktionalisiert hat: Am Schluss geht das sich stets
als emanzipatorisches Eiland verstehende Tel Aviv in einem Hurrikan
unter. Folgt man den öffentlichen Einsprüchen und Reden, die Baram
als eine Art eloquenter Nachfolger von Amos Oz und David Grossman
auf Buchmessen und bei den Demonstrationen der israelischen
Friedensbewegung hält, ist seine Sorge nicht gering, der
demokratische Judenstaat könnte irgendwann auch in der Realität
untergehen. Bedroht von außen, vor allem aber unterminiert von den
ultrarechten und fundamental- religiösen Kräften im Inneren. „Aber stopp mal, palavern wir etwa wieder über den ewigen
Nahostkonflikt, oder geht’s um die Bibliothek?“ Nir Barams Lächeln
wird unverschämt breit; gleich wird die helle Stimme Provozierendes
verkünden. „Fehlen also hier in den Regalen die entsprechenden
Bücher über den Unabhängigkeits- und den Sechstagekrieg, und könnte
außer dem Standardwerk von Raul Hilberg nicht auch die
Holocaust-Literatur umfangreicher vertreten sein? Das ist es doch,
was man im Ausland von einem schreibenden Israeli erwartet: In
seinen Romanen hat er über die Besatzung oder über Terroranschläge
zu schreiben, nicht zu vergessen diese Familiengeschichten über die
Schoah.“ Stattdessen: Der von Nir Baram geradezu kultisch verehrte
Roberto Bolaño, dazu Jorge Luis Borges, Louis-Ferdinand Céline,
Marcel Proust und Salman Rushdie, auch sie alle in einer
vermeintlich „schmalen“ hebräischen Ausgabe, die Amerikaner von Dos
Passos und Norman Mailer bis Saul Bellow, William Gaddis und Thomas
Pynchon. Man ahnt die postmoderne Präferenz und wundert sich dann
zum ersten Mal nicht, als nebenan – obwohl ebenso anarchisch
gestapelt – die üblichen Universitätsverdächtigen auftauchen:
Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean Baudrillard
oder Maurice Blanchot. „Meine Studentenlektüren, denen ich viel
verdanke“, sagt Baram. „Was kein Widerspruch ist: Theorielektüre
muss das Fabulieren ja nicht notwendigerweise zerstören, im
Gegenteil: Flexibel und gegen den Strich gelesen, wappnet sie gegen
unnütze Psychologisierungen und Bedeutungshuberei.“ Nun hat der längst erwachsene Sohn einer russische Literatur
verschlingenden Mutter jedoch diesen neuen, in Israel lebhaft
diskutierten Roman „Gute Leute“ geschrieben, der im
Vorkriegs-Berlin und in Stalins Sowjetunion spielt, dessen
Protagonistin Alexandra sich mit dem Geheimdienst NKWD einlässt,
während der Deutsche Thomas als apolitischer Individualist in der
mittleren Ebene der Nazi-Administration den geplanten
Massenverbrechen zuarbeitet – und dies bereits vor dem berüchtigten
„Plan Barbarossa“. Ein diktaturvergleichendes Aufarbeitungsepos
also? „Gehen wir mal ins Arbeitszimmer!“ Vorbei an den DVD- und
CD-Stapeln im Flur – ein kurzes Hallo ins Schlafzimmer, wo Barams
Freundin für ein Universitätsexamen büffelt – und dann in einem
kleinen Raum mit Schreibtisch und PC linker Hand erneut ein
Baumarktregal, bis obenhin gefüllt. Nicht ohne die Überraschung des
Besuchers auszukosten, liest Nir Baram die Namen: Joachim Fest,
Karl Dietrich Bracher, Christopher Browning, Ian Kershaw, Nadeshda
Mandelstam, Warlam Schalamow. „And here we go: All die Bücher, die
ich lesen musste, ehe ich ‚Gute Leute‘ schreiben konnte. Vor allem,
um die Täter nicht als Monster ästhetisieren zu müssen, wie es
Jonathan Littell so effektvoll in den ‚Wohlgesinnten‘ getan hat.“
Und wieder ist da dieses Nesteln am T-Shirt und das teenagerhafte
Lächeln. Vermutlich ist es Nir Barams Art, auch im Alltagsgestus
Zuschreibungen und Erwartungen zu unterlaufen. Ganz zu schweigen
von seinen Büchern.
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Nir Baram ist angetreten, um die israelischen Starintellektuellen Amos Oz und David Grossman zu beerben. Sein jüngster Roman „Gute Leute“ tut genau das – mit einem Paukenschlag. Zu Besuch in Tel Aviv
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kultur
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2012-09-22T10:13:47+0200
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2012-09-22T10:13:47+0200
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https://www.cicero.de//kultur/gegen-den-strich-gelesen/51589
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Merkel und die Flüchtlingskrise - Die Getriebene
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Die vergangene Woche hatte es für Angela Merkel in sich. Dienstag stundenlange Diskussion in der Bundestagsfraktion, Mittwoch an der CDU-Basis. Donnerstag früh Regierungserklärung, abends EU-Gipfel. Am Sonntag reist Merkel in die Türkei. Interviews im Fernsehen, bei Bild und FAZ. Man kann nicht sagen, die Bundeskanzlerin habe den Ernst der Lage nicht erkannt – angesichts von geschätzt mehr als einer Million Flüchtlingen, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen könnten. Und auch nicht den Ernst ihrer persönlichen Lage. Es hilft Merkel wenig, dass sie in der Flüchtlingskrise bislang vieles richtig macht. Es hilft ihr wenig, dass sie sich nicht von dem CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer auf einen populistischen Pfad hat locken lassen. Eine Obergrenze zu nennen, würde nur dazu führen, dass alle nur darauf warten, dass diese Obergrenze geknackt wird. Merkel stünde blamiert da. Auch ein Zaun wäre ein haltloses Versprechen. Auf 3757 Kilometer summieren sich die deutschen Außengrenzen zu insgesamt neun Nachbarländern, allein die Grenze zu Österreich ist 815 Kilometer lang, die zur Tschechischen Republik 811 Kilometer. Hinzu kommt: Kein Zaun ist, wenn er denn einmal steht, so dicht, dass er nicht überwunden werden könnte. Spätestens, wenn Tausende von Flüchtlingen auf der anderen Seite stehen und gemeinsam gegen den Zaun drängen, dann müsste ein solcher wieder geöffnet werden. Es sei denn, man ist bereit diesen gegebenenfalls militärisch zu schützen. Das wird Deutschland nicht tun können. Altkanzler Gerhard Schröder hat schließlich recht, wenn er mit Blick auf die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge aus Budapest fragt: „Was wäre wohl in Europa los gewesen, wenn Deutschland, vor dem Hintergrund seiner Geschichte, seine Hilfe verweigert hätte?“ Angela Merkel steht trotzdem politisch unter gewaltigem Druck. Sie erlebt derzeit die schwierigsten Tage ihrer Amtszeit. Vor allem die permanente Kritik aus Bayern nagt an ihrem Nimbus einer Krisenkanzlerin, die immer dann zur Höchstform aufläuft, wenn der politische Druck steigt. Allen voran Horst Seehofer untergräbt derzeit vorsätzlich das Vertrauen der Wähler in die Kanzlerin. Bis in die Union hinein ist der Schlachtruf „Merkel muss weg“ mittlerweile zu hören. Schon werden im politischen Berlin die ersten Wetten darauf abgeschlossen, dass die Kanzlerin die Flüchtlingskrise politisch nicht überlebt. Auch das Bild mit der Forderung „Merkel entthronen!“, das Parteifreunde bei der Zukunftskonferenz der CDU im sächsischen Schkeuditz hochhielten, wird die Kanzlerin nicht so schnell wieder loswerden. So wirkt Angela Merkel in diesen Tagen wie eine Getriebene. „Wir schaffen das“, hat Merkel Ende August verkündet, aber die Zahl der Deutschen und vor allem die Zahl der Christdemokraten, die an dieser Botschaft zweifeln, steigt. Zumal Flüchtlinge aus Syrien und vielen anderen Regionen der Welt weiterhin unkontrolliert nach Deutschland drängen. Schnell wird sich daran nichts ändern. Wir schaffen das, an diesem Anspruch wird Merkel in ihrer Flüchtlingspolitik gemessen werden. Viel erreicht hat sie allerdings noch nicht. Die Asylrechtsreform, die der Bundestag in der vergangenen Woche verabschiedet hat, enthält viel Symbolik. Vor allem kurzfristig wird diese kaum wirken. Die Staaten der Europäischen Union lassen Deutschland weitgehend im Stich, der türkische Präsident Erdogan lässt sich bitten. Und vor allem verlangt er einen hohen Preis. Auf den Winter zu hoffen und darauf, dass allein wegen des schlechten Wetters der Flüchtlingsstrom versiegt, könnte trügerisch sein. Ein Ende des Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen. Erlebt die Bundeskanzlerin also schon bald ihren Gerhard-Schröder-Moment? Der sozialdemokratische Bundeskanzler hatte einst Teile seiner Partei mit seinen Agenda-Reformen gegen sich aufgebracht und flüchtete sich nach einer Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen 2005 in Neuwahlen, um einer innerparteilichen Revolte zuvorzukommen. Droht Merkel ein Aufstand ihrer Partei? Noch nicht. Zumal sich die Lage von Gerhard Schröder vor zehn Jahren an einem entscheidenden Punkt von der Lage Angela Merkels unterscheidet. Schröder hatte eine Agenda, Merkel keinen Plan. Schröder konnte agieren, Merkel muss reagieren. Schröder wollte demonstrieren, dass er seine Politik durchsetzen kann. Merkel muss mit einem Krisenmanagement überzeugen, bei dem sie von der Unterstützung einiger Partner abhängig ist, die nur begrenzt bereit sind, Deutschland in seiner misslichen Lage zu helfen. Die Herausforderung von Merkel ist somit eine ganz andere. Allen Spekulationen zum Trotz jedoch, sitzt die Kanzlerin noch fest im Sattel. Noch hat Merkel in ihrer Partei viele Fürsprecher, ihre Stellvertreter schirmen sie gegen innerparteiliche Kritik ab, auch einflussreiche Konservative in der Partei, wie Finanzminister Wolfgang Schäuble und Fraktionschef Volker Kauder haben Merkel zuletzt öffentlich den Rücken gestärkt. Auch der mitgliederstarke Landesverband Nordrhein-Westfalen steht geschlossen hinter der Kanzlerin. Gleichzeitig hat Merkel demoskopisch noch Luft. Bei der Sonntagsfrage war ihre Lage in den letzten Jahren schon manches Mal bedrohlicher als derzeit. Im Oktober 2006 zum Beispiel lag die Union im Deutschlandtrend der ARD bei 30 Prozent und vor allem die SPD drei Punkte davor. Im Oktober 2010 lag die Union bei 31 Prozent. SPD und Grüne lagen zusammen bei 49 Prozent und bereiteten sich bereits auf die Regierungsübernahme vor. Es kam 2013 bekanntermaßen anders, viel hat nicht gefehlt und die Union hätte sogar die absolute Mehrheit erreicht. Viel Zeit bleibt Merkel allerdings nicht. Denn die unkontrollierte Einwanderung wird von den meisten Wählern jenseits aller Debatten über den Islam, die Unterbringung der Flüchtlinge und über die Kosten der Flüchtlingskrise auch als Staatsversagen wahrgenommen. Und damit als Versagen der Union in einem Politikfeld, das ein Teil ihrer Kernkompetenz ausmacht. Je länger Flüchtlinge unkontrolliert einwandern, desto mehr nimmt damit der Markenkern der CDU schaden. Spätestens nach den drei Landtagswahlen am 13. März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt wird deshalb innerparteilich abgerechnet. Nach Lage der Dinge wird der Wahlkampf im Frühjahr kommenden Jahres nicht nur von der Flüchtlingskrise bestimmt werden. Die drei Landtagswahlen werden auch eine Vertrauensabstimmung über die Kanzlerin sein. Eigentlich hatte die CDU fest eingeplant, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz von Grünen und SPD zurückzugewinnen und Sachsen-Anhalt zu verteidigen. 18 Monate vor der Bundestagswahl sollte so der Grundstein für einen erfolgreichen Bundestagswahlkampf 2017 gelegt werden. Alle politischen Zumutungen der Kanzlerin hat die CDU in den letzten zehn Jahren auch deshalb ertragen, weil Angela Merkel die Macht garantierte. Beginnen die Christdemokraten nach den Landtagswahlen im Frühjahr daran zu zweifeln, dann könnte es für Merkel in ihrer Partei ungemütlich werden. Fünf Monate hat die Getriebene noch Zeit.
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Christoph Seils
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Angela Merkel erlebt derzeit die schwierigsten Tage ihrer Amtszeit. Auch aus ihren eigenen Reihen werden die Forderungen nach einem Rücktritt lauter. Aber noch sitzt die Kanzlerin fest im Sattel. Im Frühjahr kann sich das ändern
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innenpolitik
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2015-10-20T16:36:44+0200
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2015-10-20T16:36:44+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/merkel-und-die-fluechtlingskrise-die-getriebene/60001
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