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Fortschritt - Warum wir mehr und nicht weniger Mobilität brauchen
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Mobilität gilt als ein zentraler Wert der modernen Welt und vielen Menschen als eine entscheidende Grundbedingung für ein gutes Leben. Niemand will auf ewig und ohne Unterlass an seinem Heimatort bleiben. So gut wie jeden zieht es ab und zu „raus in die Ferne“, um etwas anderes zu sehen. Das zumindest temporäre Verschieben des Lebensmittelpunktes, gerne auch „Tapetenwechsel“ genannt, wird häufig mit der Hoffnung auf einschneidende Veränderungen verknüpft. Heute beschränkt sich Mobilität nicht nur darauf, dass man ab und an den Standort wechselt und auf Wanderschaft geht; sie ist selbst zum Alltagszustand geworden. Nicht wenige Menschen legen innerhalb einer Woche größere Strecken zurück als manch einer vor nur wenigen Generationen innerhalb einer ganzen Lebensspanne. Es wird erwartet, dass man beweglich und reisebereit ist: Nahezu alles, was Menschen früher an einem festen Ort taten, können sie heute „mobil“ tun: Arbeiten, fernsehen, telefonieren, im Internet surfen, einkaufen, Kontakte pflegen, ja sogar wohnen und „leben“, all das wird gerne von unterwegs erledigt. Dennoch spüren wir, dass unsere Mobilität an Grenzen stößt und diese immer enger gezogen werden. Damit ist nicht in erster Linie der Stau im Berufsverkehr gemeint, der Reisen gleichwohl zu einer Qual machen kann. Es gibt noch schwerwiegendere Widerstände: Denn obwohl Mobilität als Grundvoraussetzung für das Leben in der modernen Welt gilt, wird sie gleichzeitig von vielen kritisiert. Die Kritik beschränkt sich dabei nicht nur auf die Art und Weise, wie wir mobil sind, sondern richtet sich zunehmend auch gegen unser generelles Streben nach immer größerer Beweglichkeit. Das Unterwegssein wird häufig mit Stress, Gehetztsein sowie mit einem Gefühl der Entwurzelung und Desorientierung verbunden. Dass Fehlen eines Ortes, eines fixen Bezugspunkts oder auch der Verlust einer persönlichen Heimat, wo unser Leben tatsächlich stattfindet, wird gerne als Begleiterscheinung übersteigerter Mobilität gedeutet. Auch das Gefühl, dass sich das Leben enorm beschleunigt habe und uns überfordere, gilt als Folge von zu viel Mobilität. „Entschleunigung“ lautet daher das moderne Zauberwort: Sie soll dazu führen, dass sich der vom rasenden Alltag geplagte Mensch zumindest kurzfristig an paradiesische Zustände erinnert – selbst wenn diese so zumeist nie existiert haben. Nicht wenige Sinnsuchende meinen daher, ihr Heil in Langsam- und Beschaulichkeit finden zu können. Kein Zweifel: Es ist nur allzu menschlich, einfach einmal zu Hause bleiben zu wollen. Und doch stehen der Wunsch nach Entschleunigung sowie die Einschätzung, all unser Tun und ruheloses Mühen habe ohnehin wenig Sinn und Zweck, in direkter Verbindung zueinander und entwickeln sich parallel. Anders formuliert: Wer kein erstrebenswertes Ziel sieht, der empfindet Mobilität schnell als Belastung. Das Problem ist mithin nicht die Geschwindigkeit, es geht um den fehlenden (Orientierungs-)Sinn. Die verbreitete Ambivalenz gegenüber Mobilität zeigt sich daran, dass sich ein Großteil der heutigen öffentlichen Auseinandersetzungen um Themen dreht, die etwas mit Mobilität zu tun haben: Brauchen wir wirklich eine neue Autobahn, eine Umgehungsstraße, einen neuen Bahnhof, eine neue Bahntrasse, einen neuen Flughafen oder eine neue Landebahn, und brauchen wir die ganzen Fahrzeuge, die sie benutzen sollen? Können wir uns nicht einfach alle ein wenig langsamer und vor allen Dingen weniger bewegen? Wäre es nicht besser, wir würden alle häufiger mit dem Fahrrad fahren, zu Fuß gehen oder zu Hause bleiben? Müssen wir wirklich im Sommer in ferne Länder fliegen? Wozu brauchen wir eigentlich die Raumfahrt, ist sie nicht eine völlig sinnlose Geldverschwendung? Brauchen wir wirklich eine Welt, in der wir nicht nur uns selbst, sondern auch alle möglichen Güter „mobil machen“ und am besten im Handumdrehen um den Globus transportieren? Im Verlauf solcher zum Teil sehr emotionalen Auseinandersetzungen wird klar: Wer heute Mobilität generell verteidigt, ohne direkt die konkrete Notwendigkeit zu belegen, gerät schnell in Konflikt mit dem als verantwortungsbewusst geltenden Zeitgeist, der Mäßigung, Entschleunigung und die Rückbesinnung auf das Langsame und Lokale predigt. Im Zentrum der Kritik an Mobilität steht der Verweis auf ihre schädlichen Nebenwirkungen für Mensch und Umwelt. So wird häufig auf die Abfallprodukte menschlicher Mobilität sowie auf deren Einfluss auf den globalen Klimawandel hingewiesen. Aber auch regionale Umweltzerstörungen durch Mobilitätinfrastrukturen sind häufig Streitpunkt im politischen Diskurs. Auffällig ist, dass hierbei dann kaum noch zwischen umweltfreundlicheren und weniger umweltfreundlichen Mobilitätstechnologien unterschieden wird: Ganz gleich, ob es um den Ausbau eines Flughafens, einer Autobahn oder des Schienenverkehrs geht – der regionale Protest ist gleichermaßen heftig. Deutlich wird, dass sich hinter dem Verweis auf die bedrohte Natur noch andere Motive verbergen: Es ist das Misstrauen gegen Mobilität und gegen menschliche Infrastrukturen per se, das sich in der romantischen Verklärung der „unberührten“ Natur Bahn bricht. In der Abwägung mit dem Naturschutz werden die Bedeutung und auch der Sinn von Mobilität relativiert. Die Argumente lauten dann, dieses oder jenes Ausbauprojekt sei „zu laut“, „zu teuer“ oder schlicht und ergreifend „unnötig“. Die Überzeugung, dass Mobilität an und für sich einen Sinn hat und für die Entwicklung eines jeden wie auch der Gesellschaft von unschätzbarem Wert ist, ist heute nicht sonderlich weit verbreitet. Dabei kann man doch gar eigentlich nicht mobil genug sein: Denn nur so kann man im wahrsten Sinne des Wortes die Dinge „von einer anderen Warte aus“ betrachten. Nicht zufällig findet der Begriff der Mobilität jenseits der räumlichen Dimension auch bei der Beschreibung unserer persönlichen und intellektuellen Fähigkeiten Anwendung: „Geistige Mobilität“ würde wohl niemand als „unnötig“ bezeichnen oder gar ernsthaft fragen, wofür sie gut sein soll. Dabei sind geistige und räumliche Mobilität direkt miteinander verbunden. Es ist kein reines Vorurteil, dass man von Menschen, die die Welt bereist haben, annimmt, sie hätten dadurch ihren „geistigen Horizont“ erweitert und verfügten über eine andere, weltoffenere Sicht auf die Wirklichkeit als die Daheimgebliebenen. Natürlich macht das Reisen allein niemanden zu einem weltoffenen Durchblicker. Andererseits kann man aber konstatieren, dass es jemandem, der die Welt gar nicht sehen will, zumeist an geistiger Flexibilität, an Offenheit und an Neugier mangelt. In der grundlegenden Kritik an Mobilität und der dafür notwendigen Infrastrukturen steckt häufig eine sehr fundamentale Ablehnung des menschlichen Strebens nach „Fort-Schritt“, die nicht im Voranschreiten, sondern in der Rückbesinnung und im Rückzug eine positive Entwicklung sieht. Haltungen wie diese verkennen die Verwobenheit von räumlicher und geistiger Mobilität. Diese wird nicht zuletzt durch den Blick in die Geschichte bestätigt. Es ist kein Zufall, dass die Menschheit erst dann ein halbwegs schlüssiges Weltbild entwickeln konnte, als die Menschen über ein relativ breites Wissen über diese Welt verfügten und sie mit eigenen Augen gesehen hatten. In diesem Zusammenhang ist auch der eigentliche Nutzen der Raumfahrt zu betrachten: Die Erfahrungen, die hierdurch gemacht den, gehen weit über das Betreten des Mondes hinaus. Gerade durch das Verlassen der Erde haben wir unschätzbares Wissen über sie gewonnen, das jedem von uns im Alltag zugutekommt. Was im Großen gilt, stimmt auch im Kleinen: Manchmal müssen wir „raus“, um zu erkennen, wie schön oder schrecklich oder beides die eigene Heimat ist. Reisen hilft dabei, Dinge realistisch einzuordnen und sich so besser zu orientieren. Wenn überhaupt, dann ist für das Gefühl von Orientierungslosigkeit und Entwurzelung eher fehlende Mobilität ausschlaggebend als ein Übermaß an Mobilität. Vielmehr erscheint denjenigen, die unter diesem Gefühl leiden, Mobilität als besondere Belastung und Bedrohung des eigenen Sicherheitsgefühls. Sich auf die Suche machen, frischen Wind spüren und auch mal gedanklich „Abstand von etwas gewinnen, sein Leben verändern und zu neuen Ufern aufbrechen wollen, sind jedoch zutiefst humane Bedürfnisse, wie auch der Kampf gegen die Fesseln des Alltags. Hierfür müssen wir nicht nur in jeder Hinsicht mobil sein, wir sollten sogar noch viel mobiler werden! Mobilität ist kein Luxus, sondern die Grundlage unserer Entwicklung und unserer gemeinsamen menschlichen Zivilisation.
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Matthias Heitmann
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Grenzenlose Mobilität ist eine zentrale Errungenschaft der europäischen Einigung. Dennoch wird der Ruf nach Entschleunigung immer lauter. Mobilsein gilt vielen als Belastung oder gar als Bedrohung. Dabei wäre ohne Mobilität ein Fort-Schritt nicht möglich
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"Mobilität",
"Fortschritt",
"Entschleunigung"
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wirtschaft
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2019-05-24T16:59:44+0200
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2019-05-24T16:59:44+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/mobilitaet-fortschritt-grenzen-entschleunigung
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lesen: Journal – Vier Personen bilden eine Fahrbahn
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Der Quizkandidat hat die Wahl: Vertraut er dem einzelnen Experten oder folgt er der Mehrheitsmeinung? Wenn er sich für die Einschätzung der Gruppe entscheidet, so richtet er sich nach einem Prinzip, das seit einigen Jahren als Schwarmintelligenz für Aufsehen sorgt. Neu ist es hingegen nicht: Bereits Aristoteles vermutete im dritten Buch seiner «Politik», dass die Gesamtheit klüger sei als einzelne Fachleute. Vor über zwanzig Jahren in der Robotik geprägt, wird der Begriff Schwarmintelligenz heute vor allem auf Phänomene aus der Verhaltensbiologie und Sozialpsychologie angewandt. Diese beiden Disziplinen bilden den Schwerpunkt in dem Buch des australischen Chemikers Len Fisher, gegenwärtig Gastforscher an der Universität Bristol. Er ist darin einer grundlegenden Frage auf der Spur: Wie lässt sich die Komplexität des Alltags am besten bewältigen?
Zunächst widmet sich der Autor den Anwendungen der Schwarmintelligenz, wie sie in der Natur zu beobachten sind. Wanderheuschrecken, Bienen und Ameisen sind bekannt dafür, dass sie Aufgaben, die kein Angehöriger der Gruppe für sich allein lösen könnte, im Kollektiv bewältigen. Fisher macht deutlich, dass dabei ganz einfache Gesetze zur Anwendung kommen, die beim Prozess der Selbstorganisation helfen. Erweiterungen dieser Regeln, die etwa auf Konsenstechniken, Datensuche oder Vernetzung beruhen, greift der Autor im zweiten Teil seines Buches auf. Darin schildert er beispielsweise die paradoxe Situation, dass Staus ausgerechnet dort entstehen, wo eine Verbreiterung des Fluchtwegs beginnt. Und wussten Sie, dass Fußgänger ab einer Dichte von vier Personen pro Quadratmeter anfangen, menschliche Fahrbahnen zu bilden? Schließlich geht es auch etwas mathematischer zu, daher kommt es dem Leser zugute, wenn ihm Stochastik und Graphentheorie nicht völlig fremd sind. Der Autor ist aber um einleuchtende Erklärungen mathematischer Gesetze und statistischer Regeln immer bemüht. Dies ist die größte Stärke und zugleich eine Schwäche dieses Buches: Augenzwinkernd greift Fisher auf seinen Erfahrungsschatz aus fast sieben Lebensjahrzehnten zurück und führt zahlreiche Beispiele aus seinem Familien- und Bekanntenkreis an, um das Abstrakte wirklichkeitsnah zu veranschaulichen. Das Spektrum seiner Beispiele reicht von Sandkörnern, Fischen und der Finanzkrise bis zu Onlineshops, Harry Potter und muslimischen Pilgern. Das hat eine relativ kurzweilige Lektüre zur Folge, man muss sich jedoch bei fast jedem Absatz auf ein neues Thema einlassen. Die Grenze zwischen Anschaulichkeit und übergroßem Anekdotenreichtum wird dabei manchmal überschritten.
Im letzten Teil kippt die durchaus spannende Darstellung der immer wichtiger werdenden Schwarmintelligenz in einen sonderbaren Ratgeberstil. Was etwa Autos angeht, empfiehlt
Fisher: «Ich fahre sie, bis die erste größere Reparatur ansteht, und dann kaufe ich umgehend ein neues.» Auch mit Ratschlägen wie diesem weiß man als Leser nicht viel anzufangen: «Wenn Sie gewinnen, machen Sie weiter wie bisher. Wenn Sie verlieren, ändern Sie die Strategie.» Insgesamt hätte der Autor auf die oft etwas trivialen Anregungen gut verzichten und dafür der Schilderung aufschlussreicher wissenschaftlicher Theorien und Phänomene mehr Raum geben können. Sie sind es, die das Buch so lesenswert machen.
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Von der Heuschrecke bis zum Internet stellt sich die Frage nach der Schwarmintelligenz. Das Phänomen findet immer größere Beachtung.
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kultur
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2010-12-10T13:06:37+0100
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2010-12-10T13:06:37+0100
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https://www.cicero.de//kultur/vier-personen-bilden-eine-fahrbahn/47258
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erfahren: Gedankenstrich – Ach so!
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Weil ich so oft aus dem Mustopf komme, bin ich froh, Deutscher zu sein, denn uns steht die schwer übersetzbare Wendung «Ach so!» zur Verfügung. Viele Annahmen stellen sich ja im Laufe des Lebens als falsch heraus. Ein Freund dachte bis zu seinem 30. Lebensjahr, der Strafraum sei gar nicht rechteckig, sondern der Halbkreis um den Elfmeterpunkt markiere den Raum, in dem der Torwart den Ball noch in die Hand nehmen darf. Ach so! Die Nachrichtensendung hieß für mich lange «He-ute», bis meine Cousine mir erklärte, dass man «e» und «u» zusammen wie «eu» liest. Dann stand dort also «Heute». Ach so! Aber wieso hieß die Sendung «Heute»? Weil dort die Nachrichten von heute kamen. Ach so! An meinem fünften «Gebotstag» machte die Kindergartentante so einen Umweg mit dem Mund, dass es wie «Geburt» klang. Ach so! Das weiße Ding am Kopf vom Sandmann war gar kein seltsames Kleidungsstück, sondern der Bart. Ach so! Und Wicky war für mich immer ein Mädchen. Schließlich hieß es im Lied: «Hey, hey, Wicky, hey, Wicky, hey, sie fässt das Segel an!» «Zieh fest das Segel an»? Ach so! Erst letztes Jahr stutzte ich beim Lesen der S-Bahn-Anzeige und dachte an einen Schreibfehler, weil dort «Königs Wusterhausen» stand und nicht «Wursterhausen». In «Hinter Glas», einem Roman von Robert Merle über den Mai ’68 in Paris, kam eine seltsame politische Gruppierung vor, die Trotz-Kisten.
Kürzlich el mir auf, dass «King of Queens» ein Wortspiel ist, «König der Königinnen». Ach so! Und eine sitcom heißt gar nicht so, weil man beim Zugucken sitzt, sondern wegen «situation comedy». Ach so! Morrissey, der Sänger von The Smiths, ist gar nicht Morrissey, der Filmemacher aus dem Umfeld von Andy Warhol, der heißt nämlich Paul. Ach so! Dafür ist Floris, der Mann mit dem Schwert, derselbe Schauspieler wie der Replikant aus «Blade Runner». Ach so! Das Obi-Eichhörnchen ist ein Biber? Ach so! «Ich werde dieses Geheimnis hüten wie meinen Augapfel», hieß es in fast jedem Märchen. Der Augapfel war aber gar nicht die kleine Pustel, aus der die Tränen kamen. Ach so! Anfangs setzte ich meine Tochter immer im Hausflur auf die Treppe und trug schnell die Einkaufsbeutel die vier Stockwerke hoch, voller Angst, dass sie in der Zwischenzeit entführt wird. Bis mich eine Freundin darauf brachte, dass ich es ja andersrum machen könne, also erst die Tochter hochtragen, und dann die vollen Einkaufsbeutel. Ach so! Erdbeeren muss man gar nicht mühsam kleinschneiden, man kann sie einfach waschen und unzerschnitten essen. Ach so! Die zweifarbigen Klosteine muss man nicht, bevor man sie in die dreckige Halterung schiebt, aus der Plastehülle fummeln, weil die sich auflöst. Ach so! Das «Spiegel»-Cover soll wie ein Spiegel aussehen? Ach so! Und wenn der Friseur sagt, «Sie haben da einen Wirbel», meint er gar nicht, dass man einen Halswirbel am Hinterkopf hat, sondern dass die Haare sich drehen. Ach so! In meinem Lieblingslied von Bob Marley heißt es: «No woman, no cry!», also: «Keine Frauen, kein Ärger!» Wie oft habe ich es mit den anderen leer Ausgegangenen begeistert mitgesungen, wenn es am Ende der Disko gespielt wurde. Dabei singt Bob Marley: «Nein, Frau, weine nicht!» Ach so! Und auf Französisch kann man auch «Ach so!» sagen: Ah bon?
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Königs Wusterhausen heißt gar nicht Königs Wursterhausen? Und das Obi-Eichhörnchen ist ein Biber?Jochen Schmidt revidiert einige Irrtümer
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kultur
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2011-04-20T14:52:40+0200
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2011-04-20T14:52:40+0200
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https://www.cicero.de//kultur/ach-so/47385
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Antisemitismus in Deutschland - Empathie gibt es nur für tote Juden
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Die Reaktionen auf die Verleihung des „Echo“ an Kollegah und Farid Bang sind überraschend heftig ausgefallen. In vielen Medien werden die beiden populären Rapper auf einmal für judenfeindliche Liedzeilen kritisiert. Dabei verbreiten die beiden schon seit Jahren antisemitischen Unflat, ohne jemals nennenswerten Anstoß erregt zu haben. Kollegah, mit bürgerlichem Namen Felix Blume, verwendet beispielsweise antisemitische Verschwörungstheorien in seinen Texten. In seinem Lied „Apokalypse“ etwa kämpft „die letzte Bastion der Menschheit“ in Jerusalem gegen „eine endlose Übermacht auf dem Tempelberg“, sprich: die Juden. Im dazugehörigen Video sieht man, wie die Rothschilds, eine jüdische Bankierdynastie, zu jenen 13 Familien gezählt werden, die als Illuminaten angeblich die Welt beherrschen. Blume bewahrt als Held den Planeten schließlich vor dem Untergang und singt: „Die Menschen auf der Erde leben friedfertig zusammen, man sieht, wie Buddhisten, Muslime und Christen gemeinsam die zerstörten Städte wieder errichten.“ Juden gehören nicht dazu, sie sollen die Zerstörungen schließlich vorher angerichtet haben. Doch solche antisemitischen Phantasmen ließ man Kollegah durchgehen, erst die Zeile „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ sorgte jetzt für einen Skandal. Antisemitismus beginnt für allzu viele erst beim Holocaust, bei sechs Millionen toten Juden. In Berlin hat Deutschland das größte Mahnmal der Welt gebaut – allerdings weniger für die ermordeten Juden, als vor allem für sich selbst. Der Historiker Eberhard Jäckel sagte dazu freimütig: „In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig bewahren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir.“ Wer gegen diese „Vergangenheitsbewältigung“ verstößt, muss daher mit einem Shitstorm der Wiedergutgewordenen rechnen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die nicht-jüdischen Deutschen deshalb Empathie für lebende Juden übrig hätten. Wenn sie überhaupt welche kennen, begegnen sie ihnen oft wie fremdartigen, unheimlichen Wesen, zu denen man besser auf Distanz bleibt. Sie bekommen, wie der Unternehmensberater Gabriel Yoran bei Übermedien schreibt, „nicht mal das Wort ‚Jude‘ über die Lippen, ohne zu zögern, weil sie es nur als Schimpfwort kennengelernt haben, weil ihr erster Kontakt mit Juden die Schwarzweißfotos ausgemergelter KZ-Häftlinge sind, die man ihnen pflichtschuldig in der Schule zeigt.“ Dann bemühten sie „Verrenkungen wie den ‚Menschen jüdischen Glaubens‘, selbst wenn er gar nichts glaubt. Oder die ‚jüdische Herkunft‘ als maximal gut gemeintes Distanzierungsgeschwurbel.“ Geht es um Antisemitismus, der sich keiner nationalsozialistischen Terminologie bedient und nicht von Rechtsextremisten kommt, hält man es in Deutschland für normal, dass sich Juden und jüdische Organisationen selbst darum kümmern. Hasserfüllte Demonstrationen gegen Israel, wie sie vor allem Muslime nach der Entscheidung der US-Regierung, Jerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates anzuerkennen, veranstaltet haben, lassen deutsche Politiker allenfalls kurz mahnend den Zeigefinger heben. Gleiches gilt, wenn es zu verbalen und körperlichen Übergriffen auf Juden durch Muslime kommt. In Deutschland und Europa herrscht ein gesellschaftliches Klima, das immer mehr Juden über eine Auswanderung nachdenken lässt. Eine Studie zu antisemitischer Gewalt in Europa, die Johannes Due Enstad von der Universität Oslo im Juni 2017 vorgelegt hat, unterstreicht das. Er dokumentiert und analysiert darin gewalttätige antisemitische Vorfälle, die sich zwischen 2005 und 2015 in sieben europäischen Ländern ereignet haben: Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Russland. Enstad stellt fest, dass die Zahl antisemitischer Gewalttaten dort im untersuchten Zeitraum beständig zugenommen hat. Etwa zehn Prozent der französischen Juden gäben inzwischen an, schon einmal aus antisemitischen Gründen physisch angegriffen worden zu sein, in Deutschland und Schweden sind es 7,5 Prozent, in Großbritannien fünf Prozent. Zudem vermeiden es 64 Prozent der in Deutschland lebenden Juden nach eigenen Angaben manchmal (32 Prozent) oder sogar immer (32 Prozent), Symbole oder Gegenstände wie beispielsweise eine Kippa zu tragen oder einen Davidstern zu zeigen, durch die sie als Juden erkennbar sein könnten. In Frankreich liegt dieser Wert bei 74 Prozent (23 Prozent manchmal, 51 Prozent immer). Fast die Hälfte der Juden in Frankreich erwägt nach Israel auszuwandern, während es in Deutschland 25 Prozent sind. Auch in Erhebungen zu antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung zeigt sich eine alarmierende Entwicklung. Dem Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus zufolge, der im Mai 2017 dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde, ist die Zustimmung zum klassischen Antisemitismus in Deutschland zwar gesunken. Die Werte beim sekundären Antisemitismus sind jedoch nach wie vor hoch. So stimmen beispielsweise 26 Prozent der Aussage zu: „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ Der israelbezogene Antisemitismus kommt auf noch höhere Zustimmungswerte, die Expertenkommission beziffert sie auf 40 Prozent: So viele können beispielsweise „bei der Politik, die Israel macht, gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“, und glauben, Israel führe „einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“. Es ist vor allem diese Form des Antisemitismus, die verschiedene Milieus und politische Strömungen zusammenführt. Der Gazakrieg im Sommer 2014 hat diesbezüglich wie ein Katalysator gewirkt. Als es in ganz Europa zu teilweise gewalttätigen Demonstrationen gegen Israel kam, begegneten viele linke Organisationen dem antisemitischen Treiben der überwiegend muslimischen Teilnehmer mit Verständnis. Sie warfen dem jüdischen Staat ihrerseits vor, Massaker zu verüben, Kriegsverbrechen zu begehen und das Völkerrecht zu brechen. Auch in den Medien habe „eine systematische Asymmetrie in der Darstellung der Akteure“ zulasten Israels vorgeherrscht, wie der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch schreibt. „Die jüdische Gemeinschaft in Europa wird von ganz rechts, von ganz links und von radikalen Islamisten angegriffen“, sagt Moshe Kantor, der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Wie immer sei „die einzige Verbindung zwischen diesen Gruppen der Hass gegen Juden“. Es ist ein Hass, der hierzulande von einer großen Empathielosigkeit der vielbeschworenen gesellschaftlichen Mitte gegenüber den Juden und dem jüdischen Staat begleitet wird. Die Reaktionen auf die „Echo“-Verleihung waren deshalb auch keineswegs eine Parteinahme für die Juden – also für diejenigen, die der Antisemitismus meint und trifft. Vielmehr dienten sie der Selbstvergewisserung.
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Alex Feuerherdt
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Der Echo-Preis an Kollegah und Farid Bang, religiöses Mobbing an Schulen oder Angriffe gegen Juden auf der Straße – Fälle von Antisemitismus scheinen sich zu häufen, und Deutschland gibt sich plötzlich empört. Tatsächlich aber hat man viel zu lange weggesehen
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"Judentum",
"Antisemitismus",
"Schoah"
] |
kultur
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2018-04-24T11:20:32+0200
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2018-04-24T11:20:32+0200
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https://www.cicero.de/kultur/antisemitismus-in-deutschland-empathie-gibt-es-nur-fuer-tote-juden
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Beginn des Ramadans - Die Coronakrise als Chance für den Islam
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Ahmad Mansour ist ein deutsch-israelischer Psychologe und Autor. Die von ihm gegründete Initiative Mind Prevention realisiert Projekte zur Förderung der Demokratie, gegen Extremismus, religiösen Fundamentalismus, Antisemitismus und Unterdrückung im Namen der Ehre. Zu diesen Themen hat der Islamismus-Experte mehrere Bestseller geschrieben, darunter „Klartext zur Integration“ (2018) und „Generation Allah“ (2015). Die Sehnsucht nach Normalität ist auch bei uns Muslimen groß – besonders im Fastenmonat Ramadan. Beim traditionellen Fasten ist das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Familie besonders stark, selbst bei denjenigen, die ihren Glauben ansonsten eher nicht praktizieren. Der Einkauf im Laden um die Ecke und die Zubereitung der aufwendigen Gerichte für das Fastenbrechen nach Sonnenuntergang gehören dazu. Ebenso der Brauch, das Festmahl gemeinsam mit vielen Familienmitgliedern und Freunden einzunehmen. In Coronazeiten stehen wir Muslime nun vor einer riesigen Herausforderung. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt. Weltweit mussten und müssen Christen, Juden und andere Religionsgemeinschaften ihre religiösen Rituale quasi „neu erfinden“, um sich, ihre Familie und die Gesellschaft vor einer Ansteckung mit Covid-19 zu schützen. Es ist viel, was von den Gläubigen verlangt wird. Zum einen belastet die physische Trennung von der Großfamilie, zum anderen sind Orte des Gebets und der Zusammenkunft wie Moscheen, Kirchen, Synagogen sowie Kulturstätten geschlossen. Hinzu kommen die unklare Zukunftsperspektive und die akuten Sorgen, die viele jetzt haben. Noch schwerer als muslimische Migranten-Familien haben es die Geflüchteten im Ramadan. Besonders die vielen jungen Männer wollen jetzt alleine, getrennt von der Familie, gerne mit Freunden ein Stück Heimat gemeinsam auf den Tisch und in den Mund zaubern. Doch all das muss jetzt aufgegeben werden. Wir müssen jetzt alle auf Normalität verzichten, aus Solidarität, aus Nächstenliebe. Das ist nicht leicht. Doch genau diese Krise ist ein guter Zeitpunkt, unsere Religion neu zu verstehen und zu praktizieren. Corona sorgt dafür, das gerade jetzt die Sehnsucht nach Spiritualität und Zusammenhalt wächst. Es ist eine Zeit, die Verantwortung für sich selbst und andere verlangt. Übertragen wir Muslime dies auf unseren Umgang mit unserer Religion. Lassen wir uns endlich mündig eigene Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Wir brauchen keinen Imam in Saudi Arabien, der uns sagt, dass wir jetzt in Gemeinschaft beten sollen. wir brauchen auch keine Fatwa von religiösen Autoritäten, um aus gesundheitlichen Gründen vom Fasten befreit zu werden. Wir brauchen nicht den Imam aus der Türkei, nicht den selbsternannten Gelehrten, nicht den Radikalen. Es ist an der Zeit, uns von der Abhängigkeit von jenen zu befreien, die meinen, im Namen Allahs sprechen zu dürfen. Es ist an der Zeit, die Religion zu individualisieren und uns mit eigenem Verstand und kritischem Geist mit den Texten des Korans auseinanderzusetzen. Wir können uns von einem patriarchalischem Gottesbild lösen und das werden, was schon die Aufklärung für uns Menschen wollte: mündige Bürger und Gläubige, die sich nicht scheuen, mit Gott zu streiten und Texte neu zu interpretieren. Die Religionsfreiheit, die wir alle in Deutschland genießen, ist nur im Rahmen des geltenden Rechts möglich, und ich hoffe, dass die Mehrzahl der Muslime, auch hier in Deutschland, den Schutz der Allgemeinheit und deren Gesundheit vor religiöse Rituale stellen wird. Deshalb appelliere ich an meine muslimischen Mitbürger: Lassen Sie uns endlich Teil von Deutschland werden, indem wir nicht nur als Gemeinschaft, sondern auch als Individuum unsere Bürgerpflicht erfüllen, vorbildlich agieren, unsere religiösen und traditionelle Rituelle erst einmal hinten anstellen und diesen Monat nutzen, um die Gesundheit aller zu schützen. Die nächsten Tage und Wochen werden entscheidend sein. Wir Muslime sollten verantwortlich handeln und das Fastenbrechen nur mit der im Haushalt lebenden Kernfamilie vollziehen. Wir sollten beim Einkaufen und auf der Straße Abstand voneinander halten, die Hygienevorschriften strikt befolgen und auf den Gang in die Moschee vorerst verzichten. Und wir sollten diese große Krise auch dazu nutzen, die Kontrolle über unsere Religion zu übernehmen. Das Virus unterscheidet nicht zwischen Muslimen, Christen, Juden, Atheisten, Frauen, Männer, Arm und Reich. Der Kampf gegen die Pandemie und für unsere aller Freiheit ist nur gemeinsam zu gewinnen. Wir sollten unsere Schubladen neu sortieren, in die wir Menschen vorschnell sortieren: in Freund und Feind, Gut und Böse, Mächtig und Schwach, Himmelsreiter und Höllenschmorer. Nun ist die Gelegenheit, unsere Prioritäten neu zu setzen. Vielleicht wird eine israelische „zionistische“ Firma den Impfstoff gegen Covid-19 als erstes herstellen und dadurch Millionen Leben retten. Vielleicht werden muslimische Patienten von einer Ärztin behandelt und gerettet, obwohl das dem patriarchalischen Weltbild vieler Muslime widerspricht. Und vielleicht wird der „ungläubige“ Nachbar, der Atheist, ihren Vater oder Großvater vor der Ansteckung mit dem Virus bewahren, indem er auf der Straße oder im Supermarkt Abstand von ihm hält. Religion ist kein höheres Gut als die Mitmenschlichkeit. Religion ist Menschlichkeit. Eines wird angesichts der Coronakrise mehr als je offenbar: Alle Menschen sind gleich.
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Ahmad Mansour
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Am heutigen Freitag beginnt der muslimische Fastenmonat Ramadan. Die Coronakrise gibt Muslimen die Chance, mit ihrer Religion selbstbestimmt und mündig umzugehen und sich als verantwortungsbewusster Teil Deutschlands zu zeigen, schreibt Ahmad Mansour.
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[
"Ramadan",
"Coronakrise",
"Islam"
] |
kultur
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2020-04-23T16:25:50+0200
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2020-04-23T16:25:50+0200
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https://www.cicero.de//kultur/ramadan-coronakrise-islam
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Corona-Maßnahmen - Bundestag verschärft - Impfpflicht kommt schrittweise
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Im Kampf gegen die Corona-Pandemie hat der Bundestag eine erste begrenzte Impfpflicht und weitere Krisenregelungen beschlossen. Den Gesetzesplänen der neuen Koalition von SPD, Grünen und FDP stimmte am Freitag – trotz Zweifeln – auch die CDU/CSU zu. Sie sehen vor, dass Beschäftigte in Einrichtungen mit schutzbedürftigen Menschen wie Pflegeheimen und Kliniken bis Mitte März 2022 nachweisen müssen, dass sie geimpft oder genesen sind. Möglichkeiten für die Länder zu regional härteren Regelungen werden ergänzt und verlängert. Für das Gesetz stimmten 571 Abgeordnete. Es gab 80 Nein-Stimmen und 38 Enthaltungen. In seiner ersten Bundestagsrede als Gesundheitsminister sagte Karl Lauterbach: „Wir geben das Instrument, was notwendig ist, lokal, aber auch bundesweit, die Delta-Welle zu brechen und die Omikron-Welle so gut, wie wir können, zu verhindern.“ Sprecher der CDU/CSU kritisierten, dass es keine Rückkehr zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite gebe. Auch jetzt erhielten die Länder nicht alle nötigen Befugnisse, sagte der CDU-Abgeordnete Volker Ullrich. Für die Linke kritisierte Susanne Ferschl, dass zu wenig für die unter starkem Druck stehenden Pflegekräfte getan werde. „Die neue Bundesregierung bringt innerhalb von vier Tagen eine einrichtungsbezogene Impfpflicht auf den Weg, kann sich aber nicht auf eine Prämie für Pflegekräfte verständigen.“ Der Änderung des Infektionsschutzgesetzes soll später am Freitag auch noch der Bundesrat in einer Sondersitzung zustimmen. Ein Überblick über die Maßnahmen: - Spezial-Impfpflicht: Beschäftigte in Einrichtungen wie Kliniken, Pflegeheimen und Arztpraxen müssen bis Mitte März 2022 Nachweise über vollen Impfschutz oder eine Genesung vorlegen – oder eine ärztliche Bescheinigung, dass sie nicht geimpft werden können. Neue Beschäftigte brauchen das ab dann von vornherein. - Mehr Impfungen: Neben Ärzten dürfen befristet auch Apotheker, Tier- und Zahnärzte Menschen ab 12 Jahren impfen. Voraussetzungen sind eine Schulung und geeignete Räumlichkeiten oder die Einbindung in mobile Impfteams. - Regionale Maßnahmen I: Bei sehr kritischer Lage können die Länder ohnehin schon härtere Vorgaben für Freizeit oder Sport anordnen, aber keine Ausgangsbeschränkungen oder pauschalen Schließungen von Geschäften und Schulen. Nun wird präzisiert, dass Versammlungen und Veranstaltungen untersagt werden können, die keine geschützten Demonstrationen sind – besonders bei Sport mit größerem Publikum. Schließungen etwa in der Gastronomie sind möglich, aber nicht von Fitnesscentern und Schwimmhallen. - Regionale Maßnahmen II: Einzelne Länder hatten kurz vor Ende der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ am 25. November noch auf dieser alten Rechtsgrundlage härtere Maßnahmen beschlossen. Diese können nun bis zum 19. März verlängert werden. - Testpflichten: Für Beschäftigte und Besucher von Arztpraxen, Kliniken und Pflegeheimen wurden schon Testpflichten festgelegt. Nun wird präzisiert, dass Patienten und „Begleitpersonen, die die Einrichtung oder das Unternehmen nur für einen unerheblichen Zeitraum betreten“ nicht als Besucher gelten. Das gilt zum Beispiel für Eltern beim Kinderarzt oder Helfer bei Menschen mit Behinderung. - Kliniken: Kliniken erhalten wieder Ausgleichszahlungen – etwa für frei gehaltene Betten oder Belastungen durch Patientenverlegung. - Kurzarbeitergeld: Es wird ermöglicht, das schon bis Ende März verlängerte Kurzarbeitergeld aufzustocken. Ab dem vierten Bezugsmonat werden 70 Prozent der Nettoentgeltdifferenz gezahlt – wenn ein Kind im Haushalt lebt 77 Prozent. Ab dem siebten Bezugsmonat sind 80 und mit Kind 87 Prozent geplant. Dies gilt für Beschäftigte, die bis Ende März 2021 während der Pandemie einen Anspruch auf Kurzarbeitergeld hatten. - Masern-Impfpflicht: Teil des Gesetzes ist auch eine Änderung bei der Masern-Impfpflicht, die seit März 2020 für Neuaufnahmen in Kitas und Schulen gilt. Die Frist zur Vorlage von Impfnachweisen für Kinder, die davor schon in den Einrichtungen waren, wird nun bis Ende Juli 2022 verlängert. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Der Bundestag hat eine begrenzte Impfpflicht für Mitarbeiter in Pflegeheimen und Kliniken beschlossen und gibt den Ländern Möglichkeiten für verschärfte Maßnahmen an die Hand. Der CDU/CSU geht das noch nicht weit genug, Kritik kommt von der Linken.
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"Covid-19",
"Corona",
"Karl Lauterbach",
"Impfpflicht"
] |
innenpolitik
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2021-12-10T13:01:54+0100
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2021-12-10T13:01:54+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/corona-massnahmen-bundestag-verscharft-impfpflicht-kommt-lauterbach-delta-omikron-pflegekrafte
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Maria Eichhorn in Venedig 2022 - Eine Störung im System
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Man hätte doch eigentlich erraten können, wen er für den deutschen Pavillon auf der Venedig-Biennale auswählen würde, hatte Kurator Yilmaz Dziewior vor einigen Tagen im Gespräch mit dem Kunstmagazin Monopol gesagt. Die Website zum deutschen Beitrag auf der Biennale 2022, die bereits seit einigen Wochen online ist, habe doch genügend Spuren gelegt. Die Geschichte des Pavillons als Repräsentationsbau der Nazis wird dort verhandelt, der ökonomische und politische Kontext der Biennale generell, die nicht nur des edlen Wettbewerbs der Nationen wegen, sondern auch für die aufkeimende Tourismusindustrie gegründet wurde. Und auch, wenn damals niemand das Ratespiel gewonnen hat: Maria Eichhorn ist genau die Künstlerin, die diese Kontexte mit einer intelligenten Arbeit reflektieren kann. Seit den 1990er-Jahren lenkt sie den Blick der Öffentlichkeit auf die äußeren Bedingungen der Kunst. 2001 ließ sie für ihre Ausstellung „Das Geld der Kunsthalle Bern“ die Halle komplett leer und legte nur eine Broschüre aus, in der die Hintergründe zur Finanzierung der Institution erklärt wurden. Und in der Londoner Chisenhale Gallery verschloss sie 2016 die Türen und gab den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Dauer ihrer Ausstellung frei - nachdem sie bei einem Symposium über deren Arbeitsbedingungen diskutiert hatte. Mehrmals konzipierte sie Projekte, bei denen sie Grundstücke oder Häuser durch Kauf der Immobilienwirtschaft entzog. So sollte für die Documenta 14 ein Haus in Athen erworben und in Nicht-Eigentum umgewandelt werden – ein juristisch kompliziertes Unterfangen, das fast philosophische Dimensionen annahm. In unserer vom Grundbesitz bestimmten Gesellschaft können wir andere Rechtsformen von Immobilien kaum mehr denken, geschweige denn vertraglich regeln. Auf der Documenta 14 in Kassel stellte sie ein Projekt vor, das sich mit dem Erbe des Nationalsozialismus befasste. Ihr „Rose Valland Institut“ stellte sich die Aufgabe, nach Objekten aus jüdischem Besitz zu forschen, die unrechtmäßig in private Haushalte in Deutschland und Europa gelangt sind. In den Ausstellungsräumen in Kassel zeigte sie eine ganze Bibliothek von geraubten Büchern aus den Beständen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und dokumentierte die Suche nach den rechtmäßigen Erben – eine so intensive wie berührende Arbeit. Man darf vermuten, dass sich Eichhorn auch bei ihrem Projekt für den deutschen Pavillon in die Geschichte vergraben wird. Was nicht heißt, dass sie sich dabei in irgendeiner Form als Repräsentanz Deutschlands vereinnahmen lassen will. Im Gespräch mit Yilmaz Dziewior, das auf der Seite des Pavillons veröffentlicht wurde, erklärt sie: „Die meisten Künstler*innen, die einen Biennale-Pavillon, auch den deutschen Pavillon, gestalten, fassen es ganz einfach als Aufgabe oder Auftrag auf, entweder ihrer gewohnten Arbeit nachzugehen und diese zu zeigen, oder Missstände offenzulegen, Politik zu hinterfragen, Formen solidarischen Austauschs zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu initiieren, Stellung zu beziehen und so weiter. Künstler*innen sind aus meiner Sicht nicht die Stellvertreter*innen eines Landes, sondern repräsentieren eine bestimmte Haltung, eine bestimmte Denk- und Handlungsweise in Bezug zur gegebenen Situation.“ Yilmaz Dziewior hat mit Maria Eichhorn eine Künstlerin ausgewählt, von der ein dezidiert politischer Beitrag zu erwarten ist, aber kein politischer Aktivismus. Im Zweifelsfall wählt sie das Zögern und die zusätzliche Reflexionsschleife statt den Slogan. Ein Beitrag zu identitätspolitischen Debatten ist auch eher weniger zu erwarten. „Nicht meine Person, sondern meine Arbeit soll im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Ich mache meine Arbeit und trete dann zurück“, sagt Eichhorn im Gespräch mit Dziewior. Ihre Kunst störe die imaginären Beziehungen zwischen dem Werk und dem Feld der Kunst, das seinen Kontext bildet, so hat Maria Eichhorn es mal formuliert. Für die Betrachter und Betrachterinnen kann diese Störung gelegentlich zu sehr reduzierter Kunsterfahrung führen. Es könnte karg werden im kommenden Jahr im Deutschen Pavillon. Andererseits hat beispielsweise Hans Haacke gezeigt, dass ein simpler Eingriff in die Strukturen des Raums – der aufgebrochene Fußboden – zu einem nicht nur intellektuell, sondern auch von der sinnlichen Erfahrung her absolut großartigen Effekt führen kann. Und wer nun Angst hat, er werde in Venedig vor verschlossener Tür stehen, während die Aufsichten Gondel fahren, der sei getröstet, denn Eichhorn verspricht: „Die Arbeit ist zugänglich. Sie kann sowohl gedanklich als auch vor Ort körperlich und in Bewegung erfahren werden“. Ob sie darüber hinaus auch ein intellektuelles und vielleicht sogar physisches Ereignis wird – daran wird man sie am Ende messen müssen. Dieser Artikel erschien zuerst im Monopol Magazin.
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Elke Buhr
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Maria Eichhorn stellt im Deutschen Pavillon auf der 59. Biennale in Venedig 2022 aus. Die 58-jährige Berlinerin wäre in der Lage, den Kontext der Venedig-Biennale mit einer intelligenten Arbeit zu reflektieren. Doch egal, wie der Beitrag am Ende ausfallen wird, es könnte karg werden im deutschen Pavillon von 2022, aber auch großartig.
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"Biennale",
"Kunst",
"Maria Eichhorn"
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kultur
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2021-02-18T11:33:50+0100
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2021-02-18T11:33:50+0100
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https://www.cicero.de//kultur/biennale-venedig-deutscher-pavillon-maria-eichhorn-ankuendigung
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Integration – „Zu viel Verständnis entbindet von Eigenverantwortung“
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Frau Durmaz, nach dem Integrations-Indikatorenbericht
der Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer scheint sich
besonders im Bereich Bildung ein positiver Trend abzuzeichnen. Wird
die Diskussion um die Integration in Deutschland also zu hysterisch
geführt? Ich bin keine Wissenschaftlerin, deshalb kann
ich nicht für die gesamte Nation sprechen. Aber bei mir in
Gelsenkirchen hat sich gar nichts getan. Nichts hat sich verbessert
– im Gegenteil. Momentan mag es zwar keine Aufreger geben, Thilo
Sarrazin verhält sich ruhig, aber Fortschritte gab es nicht. Wir
haben es nach wie vor mit gettoisierten Schulen in gettoisierten
Stadtteilen zu tun. Von
den Migranten in zweiter Generation heißt es aber, die
Bildungsorientierung würde steigen, Schulabschlüsse besser werden,
viele Einwanderer würden sich Deutschland stärker zugehörig
fühlen. Überhaupt nicht. Ich arbeite mit der dritten
und vierten Generation von Migranten und glauben Sie mir, die
Bildungsabschlüsse werden bei uns nicht besser. Wir bekommen Briefe
vom Schulamt, die sich wundern, dass nur wenige Migranten eine
Empfehlung fürs Gymnasium bekommen würden. Mich wundert das
nicht. Warum? Weil wir es hier meistens mit
bildungsfernen oder sogar –ablehnenden Familien zu tun haben. Und
das ist ein soziales Problem, das auch in der deutschen
Unterschicht zu finden ist. In diesen Familien ist der Sprung aufs
Gymnasium milieubedingt oftmals gar nicht vorgesehen. Wo müsste man also ansetzen, dass das anders
wird?
Ich plädiere schon seit Jahren dafür, dass der verpflichtende
Kindergarten eingeführt wird. Kinder, die mit sechs Jahren
eingeschult werden, brauchen eine Basiskompetenz. Und Schule kann
das, was in den Jahren davor vielleicht versäumt wurde, nicht
kompensieren. Das betrifft die deutsche ebenso wie die migrantische
Unterschicht. Auf der anderen Seite brauchen wir eine andere
Methodik, weg von diesem 45-Minuten-Rhythmus. Damit erfassen wir
nur eine ganz kleine Gruppe von Schülern. Eine Chantal oder ein
Ahmed, die vielleicht gut malen können, werden in diesem
vorherrschenden System immer scheitern, weil es auf Auswendiglernen
und nicht auf ihr individuelles Potenzial ausgerichtet ist. Auch
hochbegabte Schüler brechen hier aus, weil sie sich langweilen. Wir
brauchen kleinere Klassen, grundsätzlich doppelt besetzt, die
darauf schauen, welche Fähigkeiten unsere Kinder bergen. Das ist der
Gerald-Hüther-Ansatz, der sagt: „Jedes Kind ist hochbegabt.“
Aber kann eine Schule, die nicht entsprechend strukturiert oder
konzipiert ist, das überhaupt leisten? Nein. Ich
arbeite seit über einem Jahr im gemeinsamen Unterricht, in dem
Förder- und Regelschüler so lange wie möglich gemeinsam beschult
werden. Inklusion ist ein wichtiges Thema. Und ich kann Ihnen
sagen: Da wird sich dermaßen in die Tasche gelogen! Wir orientieren
uns an erfolgreichen skandinavischen Ländern, wie Finnland, wo man
in der Oberstufe zu sechst in einer Klasse mit zwei Lehrer nach
individuellen Stundenplänen unterrichtet wird. Aber investieren
will hierzulande keiner! Sie haben die Versäumnisse angesprochen, bei denen es
bis zur Einschulung kommen kann. Was ist so wichtig an der
frühkindlichen Förderung? Kinder lernen spielend die
deutsche Sprache. Wer sie erst ab dem sechsten Lebensjahr erlernt,
lernt sie wie eine Fremdsprache. Wer im Kindergarten einen
deutschen Freund hat, wird sich niemals abwertend über Deutsche
äußern. Hier werden soziale Kompetenzen gefördert, Beziehungen
entstehen, auch zwischen den Eltern. Derweil bietet die hiesige
Regierung eine
Herdprämie an, die meiner Meinung nach ein gänzlich falsches
Signal sendet. Seite 2: Die Herdprämie setzt das falsche Signal Aber sollte es den Eltern nicht freigestellt sein, ob
sie ihre Kinder selbst erziehen wollen oder in die Hand des Staates
geben? Wenn es um Integration geht, schadet das
Betreuungsgeld dem Kind mehr, als es ihm nützt. Ein
Mittelstandskind kommt mit mit ca. zwei- bis dreitausend
Vorlesestunden in die Grundschule. Andere Kinder hatten bis dahin
noch nicht mal einen Stift in der Hand. In der ersten Klasse sollen
dann diese Kinder gemeinsam beschult werden. Bei einer Klassengröße
von bis zu 24 Kindern ist das schier unmöglich. Dann sind Sie hier mit Ihrer Meinung ganz nah an
Heinz Buschkowsky, der die Kita-Pflicht gerade für
Migrantenkinder ab einem Jahr fordert. Grundsätzlich
bin ich für den verpflichtenden Kindergarten, so früh wie möglich.
Ich würde das aber nicht nur an der Ethnie festmachen. Nicht die
geografische Herkunft bedingt das Scheitern, sondern die soziale.
Wenn alle Einjährigen in den Kindergarten sollen, dann bitte aber
nicht nur die mit schwarzen Haaren oder braunen Augen. Da brauchen
wir eine gesetzlich einheitliche Regelung. So wie bei Sprach- und Integrationskursen, nicht nur für
die Kinder, auch für Erwachsene? Natürlich ist die
Sprache eine Grundvoraussetzung für Integration, aber auch Arbeit
und Beschäftigung. Die erste Generation an Einwanderern, die
Generation meiner Eltern, war deutlich besser integriert als die
heutige. Die hatten Arbeit. Durch die Globalisierung sind in vielen
Bereichen einfache Tätigkeiten weggebrochen. Und was bleibt diesen
Menschen dann noch? Sie besinnen sich auf ihrer Religion und
Tradition. Sie ziehen sich zurück und schaffen einen Bereich, in
dem sie sich aufwerten können. Was mich dabei aber am meisten
ärgert, ist dieses „wir haben Verständnis für alles“. Sprach- und
Integrationskurse für Kinder und Erwachsene beispielsweise müssen
meiner Meinung nach an Bedingungen geknüpft werden, sonst
legitimieren wir die Unfähigkeit der Menschen, Verantwortung zu
übernehmen. Wenn jemand nach einem Jahr seinen Sprachtest nicht
schafft, dann muss er ihn eben selbst finanzieren. Bei meinem
Bruder und mir ist wahrlich auch nicht alles glatt gelaufen.
Trotzdem sind wir zu dem geworden, was wir heute sind. Dass sich Schulen Migrantenfamilien gegenüber also
multikulturell öffnen wollen, ist falsch verstandene
Solidarität? Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht
finde ich wunderbar. Darum geht es nicht. Ich verstehe einfach
nicht, warum diesen Menschen die Eigenverantwortung abgenommen
wird. Warum wird diese Verantwortung gänzlich auf die Gesellschaft
abgeschoben? Jeder muss seinen Beitrag leisten. Und zu viel
Verständnis führt zu Verantwortungslosigkeit. Wie steht es um das Verständnis für Islamunterricht an
deutschen Schulen?
Islamunterricht war bisher keine Körperschaft des öffentlichen
Rechts. Die Leute hatten ihre Ausbildung im Ausland erworben und
keiner wusste so genau, was da vermittelt wurde. Erst jetzt ist es
ein Studienfach, das man auch in Deutschland belegen kann. Und das
finde ich auch richtig so. In Ihrem Einzugsgebiet haben ca. 60 Prozent der Kinder
einen Migrationshintergrund. Wie steht es hier um die
„Deutschenfeindlichkeit“ in „deutschen“ Klassenzimmer? Stimmt der
Eindruck, dass in den Klassenzimmer ethnische Kämpfe
toben? Ja, an meiner Förderschule bleiben einzelne
Gruppen unter sich und die migrantische Unterschicht hackt auf der
deutschen herum. Man versucht sich aufzuwerten, indem man andere
niedermacht. Das hat soziale Gründe, man bleibt eben unter sich. Es
werden keine Freundschaften angestrebt und auch von zuhause aus
nicht gefördert. Seite 3: Der Islam neigt zur Humorlosigkeit Eine Art Kulturkampf im Kleinen. Könnten man den
unterbinden, wer weiß, vielleicht würde dann auch irgendwann kein
Schmäh-Video mehr für solche Aufregung sorgen… Ach,
zum Schmäh-Video hätte ich auch noch so viel sagen können, weil
mich das so aufregt! Was regt Sie denn auf? Die Zurückhaltung
der deutschen Politiker. In Deutschland gibt es eine Presse- und
Meinungsfreiheit, und ich finde, der Islam neigt zu einer solchen
Humorlosigkeit. Es gibt so viele Karikaturen über Frau Merkel und
andere große Politiker. Da werden keine Häuser angezündet oder gar
ein Konsul getötet. Frau Merkel ist auch weder eine zentrale religiöse
Leitfigur, noch lebt sie in Bengasi. Ja, aber bei
allem, was den Islam betrifft, heißt es immer gleich: „Ach, das tut
uns jetzt aber wirklich leid…“ Anstatt, dass sich einer hinstellt
und sagt: Sorry, aber hier herrscht Meinungsfreiheit! Das vermisse
ich. Sie sind doch aber selbst Muslima. Ja, aber
eine ganz humorvolle. Sie können also über Mohammed-Karikaturen und
Schmäh-Videos lachen? Ich wundere mich einfach über
eine solche Eskalation. Jeder Idiot kann so etwas ins Netz stellen,
aus der rechten Ecke, Salafisten, einfach nur, um zu
provozieren. Aber die Frage ist doch, warum es zu so einer derartigen
Eskalation kommt. Könnte man der islamischen Welt nicht einfach
etwas Humor beibringen? Geschmack und Humor kann man
nicht kaufen und schon gar nicht anerziehen. Da mangelt es ganz
einfach an Aufklärung. Was wir also an Luther hatten, wird dort noch
vermisst?
Ja, wir brauche eine geistige Revolution! Bisher hinken wir noch
etwas nach… Kommt das noch? Ich hoffe doch sehr. Ich
bin doch auch schon angekommen! Frau Duramz, vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Sarah Maria
Deckert „Ich
kann die Welt nicht retten, aber ich kann für meine Schüler da
sein.“ Betül Durmaz ist Deutsche mit Migrationshintergrund,
Muslimin, alleinerziehende Mutter und unterrichtet an einer Schule
in Gelsenkirchen, in der die meisten Schüler als „sozial
problematisch“ gelten. In ihrem Buch „Döner, Machos und Migranten“
hat sie ihr Leben, ihren Alltag aufgeschrieben.
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Beim Thema Integration wird sich dermaßen in die Tasche gelogen, findet Deutsch-Türkin und Lehrerin Betül Durmaz. Im Interview erklärt sie, warum die misslungene Integration die migrantische ebenso wie die deutsche Unterschicht betrifft und warum der Islam zur Humorlosigkeit neigt
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innenpolitik
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2012-09-28T12:38:27+0200
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2012-09-28T12:38:27+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/zu-viel-verstaendnis-entbindet-von-eigenverantwortung/52018
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Brexit - So zerlegen sich die Konservativen selbst
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„Ich will den Premierminister nicht hinterrücks erdolchen“, gestand ein konservativer Abgeordneter der Sunday Times, „ich will ihm das Messer von vorne in die Brust rammen und dabei seinen Gesichtsausdruck sehen.“ Seinen Namen wollte der rachsüchtige Verräter zwar nicht nennen, doch langsam dämmert es auch David Cameron: Die Briten haben zu viele Episoden der blutrünstigen Fernsehserie „Game of Thrones“ gesehen. Er selbst könnte wie TV-Held Jon Snow bald tot am Boden liegen. Ermordet von den eigenen Leuten. Am 23. Juni stimmen die Briten in einem Referendum über ihren Verbleib in oder den Austritt aus der EU ab. „Remainers“ und „Brexiters“ liegen Kopf an Kopf. In einer Umfrage des Telegraph führen die Pro-Europäer mit fünf Punkten, in jener des Guardian haben die Anti-Europäer die Nase um vier Prozentpunkte vorn. 18 Prozent Unentschlossene machen die Abstimmung zu einer Zitterpartie. Drei Wochen vor dem Votum haben sich die beiden Lager polarisiert. Bedachte Diskussionen über Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union scheinen kaum mehr möglich. Fiktion ersetzt Fakten, Feindschaften jahrzehntelange Freundschaften. Im Zentrum des Sturms steht David Cameron, der das EU-Referendum auf die britische Tagesordnung gesetzt hatte in der Hoffnung, den EU-Skeptikern in den eigenen Reihen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dies ist nicht passiert. Für den Chef der konservativen Tory-Partei steht alles auf dem Spiel: die Zukunft Großbritanniens, seine eigene politische Karriere und letztlich auch sein Ruf. Er kämpft daher mit allen Mitteln. Sogar mit Sadiq Khan, dem frisch gewählten Bürgermeister von London, tritt er gemeinsam auf. Die neue Labour-Hoffnung ist für den Verbleib in der EU. So wie der Großteil der linken Opposition. Auch der linke EU-Kritiker und Labour-Chef Jeremy Corbyn hat sich aus Staatsräson entschlossen, das proeuropäische Lager zu unterstützen. Die große Schlacht spielt sich innerhalb der konservativen Partei ab. „Blau gegen blau“ titeln die Tageszeitungen täglich und berichten von peinlichen Schreiduellen zwischen Tory-Abgeordneten im „Tea Room“ des Parlaments in Westminster. Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, das schnellfeuernde Mundgewehr des Brexit-Lagers, griff Cameron in einem offenen Brief direkt an. Den Wählern sei versprochen worden, die Einwanderung drastisch zu kürzen: „Dieses Versprechen ist nicht einzuhalten, solange das Vereinigte Königreich in der EU ist. Dieses Versagen untergräbt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik.“ Da wird heftig an Camerons Stuhl gesägt. Boris Johnson sucht derzeit einen neuen Job und es käme ihm nicht ungelegen, stürzte sein Parteifreund Cameron über die EU-Frage. Immigration ist nicht zufällig das letzte große Thema, dass die „Vote-Leave“-Kampagne in den Tagen vor dem Referendum ganz oben auf die Tagesordnung setzt. Die Briten fürchten mehr Zuwanderung aus der EU. Tatsächlich lässt sich die Einwanderung wie in allen entwickelten Ländern nicht einfach durch den Austritt aus der EU regeln. Von rund 600.000 Menschen im Jahr 2015 kamen 257.000 aus der EU und 273.000 aus dem Rest der Welt, etwa aus den Commonwealth-Staaten Pakistan und Indien. Weder die einen noch die anderen werden so leicht zu stoppen sein: „Wenn Großbritannien nach einem Brexit über ein Handelsabkommen mit der EU verhandelt, um freien Zugang zum gemeinsamen Markt zu erhalten, dann wird das mit weitgehender Freizügigkeit für EU-Bürger einhergehen“, sagt Simon Hix von der „London School of Economics“. Doch um Analysen von Akademikern geht es auf dem blauen Schlachtfeld schon längst nicht mehr. Auch konservative Blätter wie Daily Telegraph und The Times können sich genauso wenig auf eine klare Linie einigen wie die obersten Tories auf der Regierungsbank. Fünf Minister in David Camerons Regierung sind offen für den Brexit. Darunter die Staatsekretärin für Beschäftigung, Priti Patel. Diese warf ihrem Parteichef in einem Interview mit dem Telegraph vor, er sei zu privilegiert, um die Sorgen der kleinen Leute zu verstehen: „Es ist schändlich, dass die Befürworter der EU sich so wenig um jene kümmern, die nicht deren Vorteile genießen.“ Das mag zwar stimmen, aber der parteiinterne Angriff auf „Posh Boy“ David Cameron muss ihn hart treffen, wo er doch gerade um die wichtigste Entscheidung seiner gesamten Amtszeit kämpft. Oder ist das alles Kalkül? Die schmerzhaften persönlichen Angriffe, sagt Iain Duncan Smith, seien in Großbritannien Teil des politischen Spiels: Die konservative Partei sei immer eine „broad church“, eine undogmatische Organisation, gewesen, erklärt der ehemalige Arbeitsminister im Hintergrundgespräch: „Unterschiedliche Meinungen haben bei uns immer Platz. Wir sind robuste Debatten gewöhnt.“ Iain Duncan Smith trat im März als Arbeitsminister zurück und ist einer der führenden Brexit-Befürworter. Er macht sich keine Hoffnungen auf den Chefposten mehr. Bei Schatzkanzler George Osborne denke er „an Pinocchio, dem eine lange Nase wächst“, sagte er unlängst frech, als jener wieder ein paar pro-europäische Zahlen an die Öffentlichkeit befördert hatte. Ob er glaubt, dass Osborne sich noch einmal mit ihm an den Tisch setzen wird? „Wir werden uns vielleicht keine Weihnachtskarte schreiben. Aber Politik sollte man nicht persönlich nehmen.“ Viele Beobachter bezweifeln, dass die Tories nach erfolgtem Referendum so einfach wieder geeint werden können. Manche prophezeien gar, die Partei werde in zwei Teile zerbrechen. Stimmt Britannien für einen Verbleib in der EU, bleibt der glatte Cameron bis zu den nächsten Wahlen 2018 Premierminister. Sollten die Briten den Brexit wählen, hofft der wirrhaarige Exbürgermeister Boris Johnson seinem Konkurrenten nachzufolgen. In jedem Fall braucht es viel Versöhnungsarbeit. Gewinnt Cameron aber das Referendum, dann hat er etwas geschafft, was bisher von vielen bezweifelt wurde: Er hätte die EU-Debatte in der eigenen Partei durchgezogen und die rechtspopulistische UKIP-Partei weitgehend ausmanövriert. Der EU-Phobiker Nigel Farage kommt zwar bei den Leuten im Pub immer noch gut an, hat sich aber ob seines Alkoholismus und cholerischen Gemüts in der eigenen UKIP-Partei unmöglich gemacht. Boris Johnson, das hat die Brexit-Kampagne gezeigt, ist der bessere Rechtspopulist. Stimmen die Briten am 23. Juni für ihren Verbleib in der EU, dann hat Cameron auf allen Ebenen gewonnen. Vor zwei Jahren hat er das schottische Referendum knapp überstanden und Großbritannien nicht zu „Little Britain“ geschrumpft. Vor einem Jahr hat er die Regierungsmehrheit für die Tories erkämpft. Jetzt geht es um die EU-Mitgliedschaft. Kann sein, dass es den Meuchelmördern in den eigenen Reihen ganz schön leid tun wird, dass sie ihrem Vorsitzenden beim Verrat in die Augen sehen wollten. Bei Game of Thrones, das sollten sie inzwischen wissen, stehen Totgesagte wie Jon Snow manchmal einfach wieder auf. Und dann kommt die Stunde der Abrechnung.
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Tessa Szyszkowitz
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Das britische Referendum über den Verbleib in der EU spielt sich nicht so sehr zwischen links und rechts ab. Die große Schlacht tobt innerhalb der konservativen Partei: An dem Brexit-Entscheid könnten die Tories sogar zerbrechen, fürchten einige
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"David Cameron",
"EU"
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außenpolitik
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2016-06-02T11:10:33+0200
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2016-06-02T11:10:33+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/brexit-so-zerlegt-man-eine-ehrwuerdige-konservative-partei/60981
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Ahnenforschung – Violinenklänge am Soldatengrab
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Als ich vor einigen jahren mein erstes Buch „Familienstücke“ schrieb, begab ich mich auf eine Spurensuche durch meinen Stammbaum. Mütterlicherseits hatte ich eine starke deutsche Komponente in meiner Vorgeschichte entdeckt, überschattet freilich vom unheilvollen Ende, das die meisten Familien jüdischer Abstammung fanden. Die Familie väterlicherseits war für mich aber nicht minder interessant. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Burenkriegs 1899 wurde der britische Oberst Robert Baden-Powell zusammen mit einer Handvoll Offiziere in die Kapregion nach Südafrika geschickt, um die Mafeking-Provinz zu schützen. Am 12. Oktober 1899 brachen die Kampfhandlungen aus. Die Buren marschierten in die Kapkolonie und Natal ein und belagerten die britischen Garnisonen Ladysmith, Kimberley und Mafeking. Um seine wenigen Soldaten zu entlasten, stellte Baden-Powell ein Korps von elf- bis 16-jährigen Jungen zusammen, die als Boten, Signalgeber und Sanitäter dienten – einer dieser Jungen war Daniel McKenna, mein irisch-katholischer Urgroßvater, nach dem ich benannt wurde. Gegen eine Übermacht von 9000 Buren gelang es Baden-Powell schließlich, mit nur knapp 1000 Mann und viel List der Belagerung, die 217 Tage dauerte, standzuhalten und Mafeking zu verteidigen. Als 1944 mein Vater, der Schriftsteller Christopher Hope, in Südafrika auf die Welt kam, wütete ein anderer Krieg. Sein Vater, Dennis Tully, hatte sich im August 1940 freiwillig zur britischen Luftwaffe gemeldet. Bald wurde er nach Kairo versetzt, Rommels Armee rückte auf die Stadt vor. Als Dennis’ Sohn – mein Vater – zu früh geboren wurde, durfte Dennis nach Hause reisen. Das Baby litt unter schweren Blutungen. Mein Großvater hatte dieselbe Blutgruppe, er spendete sein Blut und saß drei Tage vor dem Zimmer seines Sohnes. Als sich die Gesundheit meines Vaters besserte, sagte Dennis: „Gott hat das Leben meines Sohnes gerettet, dafür wird er meines nehmen.“ An einem Sonntag flog er wieder in Richtung Norden. Am Sonnabend darauf war er tot: Abgestürzt im Flugzeug, die Ursache wurde nie bekannt. Während der Recherche für das Buch besuchte ich meinen Vater in Südfrankreich, wo er heute lebt. Plötzlich fing er an, von seinem Vater zu sprechen. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo Dennis begraben sei. Nein, in der Familie heiße es immer nur: „irgendwo in Nordafrika“. Als ich am Abend wieder zu Hause in London war, suchte ich im Internet nach Spuren. Zuerst erfolglos, aber schließlich stieß ich auf eine Webseite der „Commonwealth War Graves Commission“. Ich gab seinen Namen und das Jahr seines Todes in die Suchmaske ein. Einige Sekunden später las ich: „Dennis Hubert Tully Lieutenant, Son of William and Mary Tully; Husband of Kathleen Tully, of Johannesburg, Transvaal, South Africa. Remembered with honour.“ Nur einen Mausklick weiter ein Foto: das Grab meines Großvaters. Dennis Tully starb am 12. August 1944, begraben wurde er in Ramla, einer kleinen Stadt in Palästina, heute Israel. Er war 25 Jahre alt. Ich sah auf die Datumsanzeige meiner Uhr: Es war der 12. August 2004 – auf den Tag genau 60 Jahre danach. Als ich meinem Vater berichten konnte, wann genau sein Vater gestorben sei, war das ein bewegender Moment für uns beide. Erst in diesem Sommer ist es mir jedoch gelungen, einen gemeinsamen Besuch mit meinem Vater nach Israel zu organisieren. Bis zu den Kreuzzügen im 11. Jahrhundert war Ramla die Hauptstadt Palästinas, berühmt für seine extravaganten Moscheen und Paläste. Heute ist Ramla eine eher nüchterne Industriestadt unweit des Flughafens Tel Aviv. Zwischen einer Autobahn und einem Fabrikgelände liegt ein britischer Friedhof mit grünem, perfekt getrimmtem Rasen. Das Grab meines Großvaters haben wir sofort gefunden. Es liegt gegenüber einem wunderschönen Baum, umringt von den Kriegsgräbern Tausender anderer Männer, die alle um die 20 Jahre alt waren, als sie fielen. Nachdem mein Vater fast sieben Jahrzehnte nach dessen Tod Abschied von seinem Vater nehmen konnte, saß er schweigsam unter dem Baum, zückte seinen Füller und ein Notizblatt und fing an, seine Gedanken niederzuschreiben. Und ich tat das, was ein Musiker in einem solchen Moment am besten tun kann: Ich spielte ein Stück auf meiner Geige, ein Stück für meinen Großvater Dennis. Musik schien für mich in diesem Moment das einzig Richtige. Schweigen konnte ich nie. Vielleicht bin ich auch deshalb Musiker geworden: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Das ist ein Satz von Victor Hugo, der mir immer gefallen hat. Und so klingen die Stücke meiner Familie nun nach. Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband „Familienstücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die CD „The Romantic Violinist“. Er lebt in Wien
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Violonist Daniel Hope begab sich auf Spurensuche durch sein Stammbuch – und machte dabei erstaunliche Entdeckungen. In diesem Sommer reiste er an das Grab seines Großvaters nach Israel und lies seine Geige sprechen
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kultur
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2012-12-01T08:54:28+0100
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2012-12-01T08:54:28+0100
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https://www.cicero.de//kultur/ahnenforschung-violinenklaenge-am-soldatengrab/52725
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US-Präsidentschaft - Das Trumpeltier ist nicht das Problem
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Ich persönlich habe keine Illusionen, was die politischen Ziele des neuen US-Präsidenten Donald Trump anbelangt: Das meiste von dem, was er ankündigt, gefällt mir nicht. Ich hätte ihn auch nicht gewählt. Aber letztlich ist nicht das wichtig, was Trump ankündigt – wichtiger ist, was er aufkündigt. Und in dieser Hinsicht kann nach dem Brexit-Votum der Briten der Wahlsieg von Trump der zweite Startschuss für eine große Entrümpelung sein, aus der die Welt ein bisschen freier, beweglicher und zukunftsfähiger hervorgeht. Offensichtlich ist, dass der Konsens der Akzeptablen, Wohlmeinenden, Kultivierten, Schönen, Reichen und Gebildeten, der über Jahre hinweg ungefragt wie selbstverständlich den Kurs der Welt dirigierte, zerfällt. Die Zeiten, in denen das politische wie kulturelle Establishment freihändig auf dem Rücken der schweigenden Massen Schlitten fahren konnten, neigen sich dem Ende zu. Wie weit diese sich liberal, progressiv und weltoffen fühlenden Eliten von tatsächlicher Zivilisiertheit und Kultiviertheit entfernt sind, offenbaren sie im Moment ihrer Niederlage: Öffentlichkeitswirksam richten sie in wutschäumenden oder mit tränenerfüllt-zitternden Stimmen vorgetragenen Appellen ihren Hass auf den neuen stärksten Mann der Welt, meinen aber in Wahrheit den kleinen Mann, der ihn gewählt hat. Insofern erscheint vielen US-amerikanischen Wählern der Trump-Tower heute als realer, authentischer, ehrlicher und bürgernäher als das Weiße Haus. Der selbst vor der Verwendung niveauloser Verschwörungstheorien nicht zurückschreckende Elitenprotest ist selbst zutiefst elitär: er richtet sich nicht gegen den Milliardär Trump und dessen Ankündigung, das Land wie ein Unternehmen führen zu wollen. Wogegen von oben rebelliert wird, ist Trumps Rolle als gewählter Repräsentant der einfachen, „unzivilisierten“ und „ungebildeten“ Leute aus den unteren Schichten und aus der Provinz. Es ist dieser Aspekt, der vor uns stehenden politischen Veränderungen, der mich neugierig und zugleich auch optimistisch macht: Meine Zuversicht ist gänzlich unabhängig von Trump und dessen politischer Agenda. Sie basiert vielmehr darauf, dass eine politische Agenda demokratisch abgewählt wurde, die jeden Bezug zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen verloren hat und keinesfalls so progressiv und aufgeklärt war, wie sie sich immer darstellte. Die Risse, die die politischen Erdrutsche des letzten Jahres in der Fassade dieser „alternativlosen“ Politik erzeugt haben, werden sich nicht ohne Weiteres übertünchen lassen. Zu grotesk und absurd sind die Versuche, die Trümmer der alten Technokratenherrschaft als Mahnmale moderner und lebendiger Architektur zu deklarieren. Die Hysterie, mit der die Nomenklatura auf die politischen Erschütterungen des vergangenen Jahres – Trump, Brexit, Italien-Referendum, die Eliten- und EU-Krise sowie der europaweite Aufstieg von Wut- und Angstparteien infolge einer kopflosen Migrationspolitik – reagiert, lässt eine Rückkehr in die Zeiten pseudopolitischer Konsensorientierung als unrealistisch erscheinen. Nach Jahren des desillusionierten Schweigens und Nichtwählens wird der Führungsanspruch der orientierungslosen Stagnationsverwalter wieder offener hinterfragt und herausgefordert. Natürlich ist nicht jede alternative Antwort, die in den Ring geworfen wird, wirklich eine Antwort oder gar eine alternative. Dennoch ist es gut und lebenswichtig für die Demokratie, dass überhaupt wieder hinterfragt und um Standpunkte gerungen wird. Wer einmal eine seit Jahren ungenutzte Wasserleitung wieder in Betrieb genommen hat, der weiß, dass er zunächst hauptsächlich ungenießbares Brackwasser zu Tage fördern wird. Unsere politische Kultur erinnert ein wenig an eine solche Wasserleitung: Sie hat jahrelang brach gelegen, bedeckt und verstopft von einer dicken Schicht schlammiger Alternativlosigkeiten. Um diesen Pfropfen zu lösen, reichen filigranes Kleinstwerkzeug und wohltemperierte Widerspenstigkeit in homöopathischen Dosen nicht aus. Wie stark der politische Schlick der vergangenen Jahre die Sinne verstopft und unser Urteilsvermögen beeinträchtigt hat, wird durch den grotesken Existenzkampf der noch vorherrschenden Eliten deutlich. Die Heiligenverehrung des nun ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama ist so skurril, dass es einem fast die Sprache verschlägt. Man erinnere sich: Dieser Präsident, Friedensnobelpreisträger seines Zeichens, hat allein im vergangenen Jahr 26.000 Bomben über dem Nahen Osten abgeworfen. „Yes, we can“, rief er und schob in seiner Präsidentschaft mehr Immigranten gewaltsam ab als jeder seiner Vorgänger. „Yes, we can“, rief er und führte jeden einzelnen Tag in seiner Amtszeit Krieg: in Syrien, in Libyen, in Afghanistan, im Yemen, in Somalia und in Pakistan. Derzeit schickt Obama Truppen nach Polen. Und wir sollen uns allen Ernstes darüber aufregen, dass Trump ein unzivilisierter Kerl ist? Trump wird zweifellos die politische Kultur verändern. Viele sagen, er werde sie zerstören, da er unbedacht spricht und agiert. Die Frage muss aber gestattet werden: In wessen Zuständigkeitsbereich fällt es, wenn ein Trumpeltier zum Präsidenten gewählt wird? Was sagt es über eine politische Kultur, wenn sie in der Selbstaufgabe gipfelt? Es sagt, dass ihre Zeit abgelaufen ist, dass tiefgreifende Veränderungen nötig sind und Verkrustungen gelöst werden müssen. Es muss Tacheles geredet werden, es müssen Denkverbote ignoriert und alte Hierarchien über den Haufen geworfen werden. Meine Zuversicht begründet sich darauf, dass die Menschen bei den vergangenen großen demokratischen Abstimmungen in Großbritannien, in den USA oder in Italien sich eben gerade nicht verführen ließen, wie heute gerne vonseiten des politischen Establishments argumentiert wird, im Gegenteil: Die Menschen haben sich vielmehr trotz des enormen politischen Drucks von den seit Jahren an den Schalthebeln der (Meinungs-)Macht sitzenden Verführern abgewandt. In Europa und in den USA findet man zunehmend Gefallen daran, den Status quo infrage zu stellen, den mächtigen und bequemen Verführungen zu widerstehen und die Herrschenden abzuwählen. Dass dies Ängste provoziert, versteht sich von selbst. Das haben Veränderungen so an sich. Und dennoch treiben Menschen immer wieder Veränderungen voran, vor allen Dingen dann, wenn eine Fortsetzung des Gegenwärtigen nicht als lohnende Perspektive wahrgenommen wird, und selbst dann, wenn unklar ist, wie die Zukunft aussehen soll und wird. Letztlich ist Donald Trump nicht mehr als der Abrissunternehmer für eine bereits seit Längerem baufällige politische Kultur. Seine Aufgabe ist es nicht nur, die Abrissbirne zum Einsatz zu bringen. Er soll auch Wertvolles von Wertlosem trennen, Müll entsorgen und so den Boden für Neues bereiten. Niemand würde indes einen Abrissunternehmer für einen Architekten halten, auch wenn er zuerst zum Zug kommt. Was nach dem Abriss mit der Baustelle geschieht, darüber hat die demokratische Gesellschaft zu befinden. Hier muss die Debatte über die Zukunft beginnen. Je offener und breiter diese geführt wird, desto besser.
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Matthias Heitmann
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Kolumne: Schöne Aussicht. Die liberalen Eliten sind sich einig – Donald Trump stellt das Feindbild der Demokratie dar. Dabei könnte der US-Präsident als Repräsentant der einfachen Menschen genau diese wieder auf Vordermann bringen
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außenpolitik
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2017-01-20T17:29:57+0100
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2017-01-20T17:29:57+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/uspraesidentschaft-das-trumpeltier-ist-nicht-das-problem
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Doku über Weihnachtsmänner - Willkommenskultur in rot und weiß
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Drei natürliche Feinde hat der Weihnachtsmann: den Fernseher, den Straßenverkehr und die Betriebsfeier. Diese harte Lektion hält ein charmanter Film bereit, der am kommenden Sonntag in der Reportagereihe „7 Tage“ im NDR Fernsehen ausgestrahlt wird. Der direkte Widersacher also lädt nachmittags um halb vier zur Besichtigung einer Branche, die Jahr um Jahr die Glöckchen klingeln und den Schnee rieseln lässt. Und deren Vertreter, kaum betreten sie Wohnstube, Heim oder Mehrzweckraum, erst einmal bang zum Flimmerkasten schauen. Eiserne Regel: die Kiste muss aus, damit Weihnachtsmann und Knecht ihr Spiel beginnen können. Sonst ist alles vergebens. Insofern werden nicht allzu viele Saisonarbeiter nun am dritten Advent, passenderweise Gaudete gerufen, sich den halbstündigen Spaß (Regie und Buch: Lars Kaufmann und Julian Amershi) gönnen können. Aber ist es überhaupt ein Spaß, dem Berliner Ober-Weihnachtsmann Stefan auf dem Weg in Kirchen, Flüchtlings- und Obdachlosenheime, Heilanstalten und Kleinfamilien zu folgen? Wie er sich von einem Steppke eine Abfuhr holt – nein, nein, singen wolle man nicht, man sei zu alt dafür und habe keine Lust –, oder wie er tapfer in die gelangweilten Gesichter bei einer Betriebsfeier von Alarmanlagenspezialisten hinein singt? Es ist ein trockener Boden, den Stefan und sein Kompagnon beackern, der Knecht-Ruprecht-Azubi Julian, einer der beiden Filmemacher. „In dieser Weihnachtswelt“, sagt Julian einmal, „ist alles Fake: Bauch, Bart, Kostüm. Und trotzdem macht es etwas mit den Menschen.“ Aber was genau? Ob der dicke Herr in Rot und Weiß und Kunstpelzsaum Weihnachtsmann gerufen und ergo schon durchkommerzialisiert ist bis ins Mark oder klassischerweise Nikolaus und den Faden zum kleinasiatischen Heiligen noch nicht gekappt hat: Für die Wirkung ist es unerheblich. Immer ist es jemand, sind es zwei, die da kommen ohne Arg und die etwas verschenken. In nicht vielen Lebenssituationen kann man sich einer solchen zuverlässig milden Begegnung sicher sein. Der Weihnachtsmann rügt nicht, er muntert auf. Er will nichts, er gibt. Er geht nie ganz – obwohl er dank Staus und Baustellen regelmäßig zu spät am Auftrittsort erscheint. „Schön, dass Sie gekommen sind. Bitte kommen Sie wieder“, sagt die Patientin eines Heims für psychisch Kranke. Begeistert singen Flüchtlingskinder Lieder in einer eben noch fremden Sprache, die sie kaum verstehen. „Dass hier der deutsche Weihnachtsmann kommt, ist etwas ganz Besonderes“, erklärt der Verantwortliche des Flüchtlingsheims. In der Tat: Stellte man sich Willkommenskultur in ihrer schönsten Form vor, sie müsste weihnachtsmännliche Züge haben. Der lustige Dicke und sein harmloser Spießgesell‘ schauen vorbei, blicken in fremde Augen, singen und schütteln Hände, die ihre Fremdheit im Moment verlieren. Gewiss, es sind gekaufte Gesten letztlich. Doch echt sind die Herzlichkeit und die Freude am Tun bei diesem Stefan dann doch. Alkoholiker ist er einmal gewesen, trocken sei er, seit er den Weihnachtsmann gibt. Auch Azubi Julian hat am Ende seines Selbstversuchs gelernt: Weihnachten sei die „Erinnerung an etwas bedingungslos Gutes“. So liefert der halbstündige Film en passant eine kleine Einweisung in den sonst unter Kitsch oder frommer Routine begrabenen Geist von Weihnachten. Der große Theoretiker des Weihnachtsfests, Gilbert Keith Chesterton, hätte seine Freude daran. Schrieb er doch in einer Betrachtung über den Unterscheid zwischen Routine und Ritual: Weihnachten jedes Jahr zu feiern, müsse ein Ritual bleiben, denn nur als Ritual gehorche es einem gesunden Prinzip. Man tue an Weihnachten „gewisse sinnlose Dinge, weil sie etwas bedeuten. Das Prinzip der modernen Routine dagegen ist es, gewisse sinnvolle Dinge so auszuführen, als ob sie bedeutungslos wären.“ Weihnachten ist ein Hochfest der Bedeutung.
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Alexander Kissler
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Vom weißen Bart über das rote Kostüm bis zum Bäumchen ist die durchkommerzialisierte Weihnachtswelt künstlich. Doch für die Wirkung des Weihnachtsmannes ist dies unerheblich, wie der Film „7 Tage... unter Weihnachtsmännern“ zeigt. Denn der milde Mann in rot und weiß will nichts außer geben
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kultur
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2014-12-12T13:06:16+0100
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2014-12-12T13:06:16+0100
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https://www.cicero.de//kultur/doku-ueber-weihnachtsmaenner-willkommenskultur-rot-und-weiss/58617
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Streitgespräch - „Die AfD sollte man nicht mit Geschäftsordnungstricks bekämpfen“ – „Wir müssen sie inhaltlich stellen“
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Müller-Vogg: Mit der AfD werden zum ersten Mal Rechtspopulisten und Rechtsradikale im Bundestag sitzen. Martin Schulz hat bereits angekündigt: „Ich schmeiß‘ die raus.“ Wobei ich nicht weiß, auf welcher Rechtsgrundlage er das machen will. Zudem fordert er den Verfassungsschutz auf, die AfD zu beobachten. Auch wenn ich sehr gut auf diese Rechtsausleger verzichten könnte: Halten Sie es für politisch klug, den Kampf gegen ganz Rechts an den Verfassungsschutz zu delegieren? Müssten die Volksparteien diese Ausländerfeinde und „Völkischen“ nicht inhaltlich stellen – und zwar gerade im Bundestag? Marquardt: Herr Müller-Vogg, ich muss Sie zunächst korrigieren. Im Bundestag saßen bedauerlicherweise schon Nazis. Es gibt eine umfangreiche Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, Mitglieder der SA und auch Mitglieder der SS, die im Bundestag saßen. Mit Carl Carstens konnte sogar ein SA-Mitglied Bundespräsident werden. Sie haben jedoch recht, mit der AfD wird vermutlich das erste Mal seit 1945 eine Partei der organisierten Rechtspopulisten, ich würde sogar Nazis sagen, in den Bundestag einziehen. Das stellt alle Demokraten vor eine große Herausforderung. Die Feinde der Demokratie, die AfD ist in meinen Augen ein solcher, sollte, ja kann man nur mit den Mitteln der Demokratie bekämpfen. Der Verfassungsschutz ist für mich kein geeignetes Mittel. Hat doch gerade die Aufarbeitung des NSU gezeigt, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, ohne über geheimdienstliche Mittel zu verfügen, sich oft besser auskennen als der Verfassungsschutz. Es kommt aus meiner Sicht darauf an, die Demokratiefeindlichkeit der AfD zu entlarven und ihr so die Basis zu entziehen. Müller-Vogg: Ja, Sie haben Recht: Im Bundestag saßen eine Reihe ehemaliger Mitglieder von Nazi-Organisationen, und zwar mehr oder weniger bei allen Parteien. Dem Bundestag gehörten auch ehemalige Kommunisten an, mit Herbert Wehner als einflussreichstem. Ein Abgeordneter der Linken war sogar Mitglied der in Westdeutschland verbotenen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Und viele ältere ostdeutsche Linke-Abgeordnete haben eine Vergangenheit als Mitglieder der Moskau-hörigen SED. Aber lassen wir die Vergangenheit. Es geht es um die bevorstehende Auseinandersetzung mit der AfD. Meine Sorge ist, dass die Union ebenso wie die SPD versuchen werden, die neuen Konkurrenten am rechten Rand mit Geschäftsordnungstricks auszumanövrieren, ihnen keinen Bundestagsvizepräsidenten zuzugestehen oder den Vorsitz im Haushaltsausschuss zu verwehren. Die Neuregelung der Bestimmung des Alterspräsidenten, um dieses Amt nicht der AfD überlassen zu müssen, gab ja schon einen Vorgeschmack. Auch in den Landtagen von Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen haben die etablierten Parteien mit allen Tricks gearbeitet. Ich halte das für bedenklich und politisch für dumm: Wer frei gewählten Abgeordneten bestimmte Rechte vorenthält, weil einem deren Gesinnung nicht passt, der spielt den Nationalkonservativen und Rechtsradikalen geradezu in die Hände, macht sie zu politischen Märtyrern und bei ihren Wählern noch attraktiver. Marquardt: Mensch Herr Müller-Vogg, was machen wir denn gerade? Wir sollen doch kontrovers diskutieren (lacht). Die Feinde der Demokratie zu bekämpfen, indem man demokratische Strukturen einschränkt oder nach Gutdünken anpasst, wird meines Erachtens nicht von Erfolg gekrönt sein. Wie Sie sehen, bin ich strikt dagegen, der AfD nach der Geschäftsordnung zustehende Rechte zu verweigern. Deren Opfermythos muss nicht noch bedient werden. Anstatt sich mit Geschäftsordnungstricks zu beschäftigen, sollten die Ursachen und eigenen Versäumnisse für diese Entwicklungen ehrlich reflektiert werden, da nur vor diesem Hintergrund im Interesse einer demokratischen Gesellschaft extremen Rechten legitim entgegengetreten werden kann. Wir müssen sie inhaltlich entlarven, was ja auch schon an der ein oder anderen Stelle gelungen ist. Der Preis der Freiheit ist es, ihre Gegner ausschließlich mit demokratischen Mitteln zu delegitimieren, und nicht die Demokratie an ihre Feinde „anzupassen“. Ich habe aber noch einen konkreten Vorschlag: Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen, dass die AfD nicht stärkste Oppositionspartei wird. Müller-Vogg: Ob die AfD dritt-, viert- oder fünftstärkste Fraktion wird, ist mir eigentlich gleichgültig. Um die Nummer drei macht nur die politische Klasse einen Hype. Kein Mensch hat bemerkt, dass seit der letzten Wahl die Linke einen Abgeordneten mehr hatte als die Grünen. Aber wir werden damit leben müssen, dass eine chaotische Truppe aus Nationalkonservativen, Rechtspopulisten, Völkischen und Rechtsradikalen im Bundestag sitzt. Dass mir ein Bundestag ohne AfD lieber wäre, versteht sich von selbst. Das Wahlergebnis wird freilich abbilden, was in der Bevölkerung gedacht wird. Wenn beim Thema Euro und Zuwanderung die vier bisherigen Bundestagsfraktionen mehr oder weniger auf einer Linie liegen, dann fühlen sich viele Menschen nicht mehr vertreten; dann entsteht eine neue Partei. Das ist sogar ein Zeichen einer funktionierenden, pluralistischen Demokratie. Deshalb bin ich entsetzt, dass Kanzleramtsminister Peter Altmaier AfD- und Linken-Wählern empfiehlt, ungültig zu wählen. Unsere Demokratie ist nicht an der Westausdehnung der PDS zerbrochen; sie wird auch der rechtspopulistisch-rechtsradikalen AfD standhalten. Die kann man auch wieder kleinkriegen. Aber nicht mit Tricks und Aufrufen zur Wahlenthaltung. Sondern mit einer Politik, die auch Sorgen und Befürchtungen aufgreift, die aus dem Blickwinkel der Berliner Eliten politisch nicht korrekt sind. Marquardt: Ich teile Altmaiers Aufforderung zum Nichtwählen auch nicht. Ich finde es jedoch richtig, dass er noch einmal betont hat, dass eine Stimme für die AfD und damit aus meiner Sicht für Nazis, nicht zu rechtfertigen ist. Das Wahlrecht aber ist hart genug erkämpft worden. Es ist die einzige Möglichkeit, mitzubestimmen. Das sollte nicht leichtfertig in Frage gestellt werden. Aber es ist aus meiner Sicht schon ein Unterschied, ob am Ende die Nachricht steht „AfD drittstärkste Partei“ oder „die AfD ist in den Bundestag eingezogen“. Wer Oppositionsführer wird, ist ja erst nach der Regierungsbildung klar. Deswegen fände ich es gut, wenn wir beide dafür werben, wählen zu gehen. Und zwar so, dass die AfD möglichst wenig Stimmen bekommt. Am Ende kommt es darauf an, in den kommenden vier Jahren Demokratie, Pluralismus und eine offene Gesellschaft zu verteidigen. Wir brauchen konkrete Angebote zur Verbesserung der Lage der Menschen und wir müssen zeigen, dass die Integration funktioniert. Eine stabile Demokratie, in der zivilgesellschaftliche Werte und Normen fest etabliert wären, hätte weniger Probleme, sich mit einer solchen Partei auseinanderzusetzen. Lassen Sie mich mit einem Zitat des amerikanischen Rechtstheoretikers Ronald Dworkin schließen: „Wir mögen die Macht haben, Leute zum Schweigen zu bringen, deren Meinung wir verabscheuen. Aber wir täten das um den Preis unserer politischen Legitimität – die uns wichtiger sein sollte als unsere Gegner.“ Das ist die letzte Diskussion unserer Serie von Streitgesprächen zwischen der linken SPD-Politikerin Angela Marquardt und dem konservativen Publizisten Hugo Müller-Vogg. Trotz der politischen Unterschiede verbindet beide eine Freundschaft. Vor der Bundestagswahl haben sie regelmäßig das Politgeschehen kommentiert.
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Hugo Müller-Vogg, Angela Marquardt
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Kolumne: Lechts und Rinks. Kommenden Sonntag wird die AfD erstmals in den Bundestag einziehen. Doch wie soll mit dieser Partei umgegangen werden? Im letzten Teil unseres Streitgesprächs sind sich Angela Marquardt und Hugo Müller-Vogg in dieser Frage erstaunlich einig
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innenpolitik
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2017-09-22T10:51:12+0200
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2017-09-22T10:51:12+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/streitgespraech-afd-geschaeftsordnungstrick-bekaempfen-inhalt-stellen
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Wahl in Österreich - Viele Möglichkeiten und wenig Optionen
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„Wer nicht kann, was er will, muss eben wollen, was er kann.“ Diese hyperrealistische Weltsicht ist gut 500 Jahre alt. Der Satz wird Leonardo da Vinci zugeschrieben. Und perspektivisch wird sich Sebastian Kurz, einer der großen Pragmatiker unter der politischen Sonne, daran halten – und halten müssen. Denn der Chef der konservativen ÖVP hat nach dem gestrigen Wahlsonntag in Österreich zwar einige Möglichkeiten, aber nur wenig realistische Optionen. Seine türkise Bewegung hat auf rund 37 Prozent Zustimmung zugelegt. Als Koalitionäre kommen in Frage: die zweitplatzierten, aber dennoch schwer gebeutelten Sozialdemokraten; die abgestrafte FPÖ; die parlamentarisch wiederauferstandenen Grünen. Und, in einer Dreier-Koalition, die liberalen Neos. Im Wahlkampf sagte Kurz mit Blick auf enttäuschte freiheitliche Wähler, er wolle seine „ordentliche rechtskonservative Politik“ fortsetzen. Die Strategie ging auf, rund 260.000 Wähler, die 2017 noch die FPÖ gewählt hatten, schwenkten auf die ÖVP um – der größte Wählerstrom bei dieser Wahl. Die FPÖ verlor zehn Punkte auf nun 17 Prozent Zustimmung. Sie scheidet nach dem Ibiza-Desaster und vor allem dem wenige Tage vor der Wahl aufgeflogenen Spesenskandal um Ex-Parteichef Heinz Christian Strache trotz Kurz‘ Ansage als Koalitionspartner mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus. Zu risikoreich wäre eine neue Mesalliance mit den Rechtspopulisten. Es ist nicht abzuschätzen, welche Malversationen Staatsanwälte und Finanzbehörden in der schlingernden Partei noch aufdecken könnten. Daneben gibt es weiterhin die ungeklärte Abgrenzung der FPÖ von ihren ultrarechten Rändern, die bei Kurz und international für erhebliche Irritationen gesorgt hat. Mit der SPÖ wird der alte und mutmaßlich neue Bundeskanzler in Sondierungsgespräche treten, in denen sich wohl bald herausstellen dürfte, dass die inhaltlichen Schnittmengen zwischen den Parteien enden wollend sind. Überdies gibt es gut dokumentierte persönliche Animositäten zwischen dem Führungspersonal beider Parteien, und die politische Sozialisation des Wahlsiegers, der in Zeiten der gelähmten Großen Koalition groß geworden ist. Am wichtigsten aber ist: Die SPÖ ist unter Parteichefin Pamela Rendi-Wagner ideologisch und organisatorisch dermaßen ausgezehrt geblieben, dass sie realistisch eingeschätzt schon mit der Oppositionsrolle überfordert ist. Der beredte Beleg dafür ist das historisch schlechteste Ergebnis der SPÖ mit knapp 22 Prozent Zustimmung. Die Grünen dagegen haben ein fulminantes Comeback hingelegt und ihren Stimmenanteil auf 14 Prozent beinahe vervierfacht. Mit diesem (erwarteten) Ergebnis im Rücken haben sie versucht, ihren Preis schon vor der Wahl in die Höhe zu treiben. Am Wahlabend legte Parteichef Werner Kogler polternd noch ein paar Schäuferl nach. Und obwohl es in Wien eine hochtourig linksdrehende, grüne Landespartei gibt, die Kurz beinahe schon persönlich hasst, stehen die Chance für eine Koalition nicht schlecht. Bundespräsident Alexander van der Bellen hat eine solche Variante bereits 2002 schon einmal erfolglos verhandelt. Er wird diesmal – diskret – wieder zu helfen versuchen. Inhaltlich müssten sich beide Seiten einiges zumuten, aber ein neues Projekt für die Alpenrepublik könnte am Ende der Gespräche stehen. Das müssten Kurz und Kogler ihrer Wählerschaft dann erklären, in beiden Lagern ist die jeweils andere Seite nicht sonderlich beliebt. Die Grüne Basis muss dem Projekt jedenfalls zustimmen. Manche Beobachter sehen als Kompromissvariante die Neos als eine Art Puffer zwischen beiden Polen, wenngleich eine Dreier-Konstellation immer schwieriger auf Kurs zu halten ist als eine Zweier-Variante. Für den Fall, dass gar nichts geht in Wien, hat Kurz als Rückfallposition nun jedenfalls nicht mehr die FPÖ. Deshalb hat er wenige Tage vor der Wahl in einer TV-Konfrontation eine Minderheitsregierung ins Spiel gebracht. Für das stabilitätsgewohnte Österreich wäre das äußerst ungewöhnlich und vor allem ein teurer Spaß. Das „Spiel der freien Kräfte“ im Parlament zwischen dem Bruch der ÖVP-FPÖ-Regierung im Frühsommer und den Wahlen am vergangenen Sonntag hat die Steuerzahler einige Milliarden Euro gekostet. Wechselnde Mehrheiten beschlossen etwa üppige Pensionserhöhungen und ein früheres Pensionsantrittsalter für bestimmte Personengruppen (Kostenschätzung des Finanzministeriums bis 2023: rund zwei Milliarden Euro). Der gravierendste Nachteil einer Minderheitsregierung aber wäre, dass in absehbarer Zeit wieder gewählt werden müsste. Bruno Kreisky hat das Anfang der 1970er Jahre in einem bisher einzigartigen Experiment mit dieser Regierungsform in Österreich vorexerziert – mit der FPÖ, die damals ein kleinparteienfreundliches Wahlrecht bekam. Seine Minderheitsregierung hielt gerade mal 18 Monate. Den wahlmüden Österreichern, denen in den kommenden Monaten auch noch vier Landtagswahlen bevorstehen, könnte selbst ein Kommunikationstalent wie Sebastian Kurz erneute Neuwahlen in einem Jahr nicht schlüssig erklären.
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Christoph Prantner
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Sebastian Kurz wird wieder Bundeskanzler, aber mit wem sollen er und seine ÖVP koalieren? Vier Parteien stehen im Prinzip zur Wahl, doch das macht die Sache nicht einfacher – im Gegenteil
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außenpolitik
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2019-09-30T13:15:58+0200
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2019-09-30T13:15:58+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/wahl-oesterreich-sebastian-kurz-koalition-kanzler
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Sound zum Jahreswechsel 2020/2021 - Unser musikalischer Ausweg aus dem Corona-Jahr
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Liebe Leserinnen und liebe Leser, wir wünschen Ihnen nach diesen turbolenten Monaten einen fulminanten Jahreswechsel. Lassen Sie es krachen – ohne Böller, aber mit Musik. Hier kommen unsere Songs aus der Redaktion. Auf Ihre Musik-Tipps freuen wir uns schon jetzt in den Kommentaren. Bis 2021!
Ihre Cicero-Redaktion Ralf Hanselle Helge Schneider – „Heute hab ich gute Laune“ Wenn es ein Wort für das nun endlich auslaufende Jahr 2020 gibt, dann ist vielleicht dieses: „Gaga!“ Man muss ja gar nicht mal politisieren, medizinisieren oder sonst irgendwelche Stammtischlieder anstimmen, um zu bemerken, dass man mit Ernsthaftigkeit alleine einem solchen annus horribilis nur schwer beikommen konnte. Was es vielmehr brauchte, war ein Clown. Und ein solcher war für mich spätestens mit Erscheinen von Helge Schneiders 14. Album „Mama“ gefunden. Gleich das Eingangslied „Heute hab ich gute Laune“ wurde während der letzten Monate zu meinem Lockdown-Soundtrack sowie zum Soundteppich unter den morgendlichen Pegelständen des Robert Koch-Instituts oder der Frankfurter Börse. Schabernack, statt harter Zahlen. Wahnsinn, statt Weltuntergangsstimmung. Das tolle am Clown ist schließlich dieses: Ganz wie ein Kind bleibt er im Moment. Er macht keine Prognosen, keine Simulationen, keine Modelle. Er tut nur das, was gerade am nächsten liegt: „Dann küssen wir uns und kaufen Pommes“. Stück für Stück, Schritt um Schritt, Kuss für Kuss: Anders wäre dieses Jahr doch kaum zu ertragen gewesen. Denn nur wer gaga war, konnte noch gute Laune haben. Alexander Marguier
Van Morrison – „Dark Night of the Soul“ Van Morrison habe ich vor langer Zeit einmal live erlebt. Mitte der Nullerjahre muss das gewesen sein, in der Frankfurter Jahrhundert-Halle. Seine Band war unglaublich gut eingespielt, fast schon ein bisschen zu perfekt. Der Frontmann, inzwischen bereits Mitte 70, machte während des ganzen Konzerts trotzdem einen schlechtgelaunten Eindruck – was aber offenbar zu seinem Image gehört. Es war jedenfalls ein großartiger Abend, und hinterher war ich noch ein bisschen mehr Fan von Van Morrison als schon zuvor. Aber die Alben, die er in den darauffolgenden Jahren herausbrachte, wurden nach meinem Eindruck leider immer langweiliger. Irgendwann interessierte ich mich nicht mehr für seine Musik. Vor kurzem kam ich bei der Suche nach LED-Birnen (warum geben die Dinger eigentlich ständig ihren Geist auf?) in einem Media-Markt zufällig am CD-Regal vorbei – und nahm aus purer Nostalgie die jüngste Van-Morrison-Einspielung mit nach hause. „Three Chords & the Truth“ heißt das 2019 erschienene Album – und es ist schlichtweg ein Meisterwerk. Eine der besten Plattenaufnahmen des gebürtigen Nordiren überhaupt. Und wiederum einer der besten Titel darauf ist die Nummer „Dark Night of the Soul“, die ich zum Leidwesen meiner Frau (sie mag Van Morrisons Stimme nicht) am liebsten gleich ein paar Mal nacheinander anhöre. Achten Sie auf die seidige Gitarre und die unglaublich wohltemperierte Hammond-Orgel! Das Stück geht runter wie Honig. Christoph Schwennicke
Black Sabbath – „End of the Beginning“ Klar, man könnte es auch mit was Lustigerem versuchen. Den Song des Jahres bei The Cure, Joy Division oder den Einstürzenden Neubauten suchen. Aber bei der Suche nach dem passendem Song zu diesem ausgehenden Jahr 2020 bin ich unweigerlich bei Black Sabbath und deren letztem Studioalbum „13“ gelandet. Brillant produziert von Rick Rubin. Eine Wiederauferstehung vor dem endgültigem Ende, ein grandioses letztes Aufbäumen gegen die Endlichkeit. „Is This The End Of The Beginning Or The Beginning Of The End?“ quäkt Ozzy Osbourne mit seiner unverwechselbaren, koboldhaften Stimme ins Mikrofon: „Losing Control Or Are You Winning?“ fragt er weiter, „Is Your Life Real Or Just Pretend?“ Dann setzen die schwermütige Gitarre von Tony Iommi und das infernalische Bassgeblubber von Geezer Butler wieder ein. Verlieren wir gerade die Kontrolle, oder gewinnen wir sie zurück? Ist das ein Leben, oder tut das nur so? Direkt nach Black Sabbath wieder Karl Lauterbach im Radio gehört. Er hat auch eine unverwechselbare Stimme und sagt näselnd: Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, und die nächste kommt bestimmt. Prince of Darkness haben sie Ozzy Osbourne immer genannt. Aber der Gute ist vergleichsweise ein Sonnenscheinchen. Der wahre Fürst der Finsternis heißt Karl Lauterbach. Ob das alles mal wieder anders wird? Ich wünschte es sehr. Seit über zwei Jahren liegen bei uns in der Küche zwei Karten für ein Ozzy-Osbourne-Konzert in Berlin. Es hätte am 19. Februar 2019 stattfinden sollen, dann wurde erst Ozzy krank, danach kam Corona. Es wäre schön, wenn ich diese Karten nochmal einlösen und ihn auf der Bühne sehen könnte. Ich glaube eher nicht daran. Antje Hildebrandt
Bilderbuch – „Softdrink“ Ich liebe Cola. Nicht Pepsi oder Fritz, nein, Coca Cola muss es sein, wenn möglich zero, wegen der Kalorien. Cola macht hellwach. Cola erfrischt. Und wenn jetzt einer sagt, mit Cola kann man auch Toiletten putzen, dann zucke ich mit den Schultern und nehme noch einen Schluck aus der Dose. Vor Jahren trampte ich mal über die israelisch-jordanische Grenze, ich war halb-verdurstet, und was tauchte da plötzlich in der Wüste auf? Richtig, ein Cola-Automat.
So ein ähnliches Erlebnis hatte ich, als ich zum ersten Mal den Song „Softdrink“ von Bilderbuch hörte. Bilderbuch ist eine österreichische Band, die den Geist des genialen Falco atmet. Schwarzhumorig, größenwahnsinnig und unberechenbar, aber genau das macht ja die Magie von Pop aus. „Softdrink“ stammt von dem grandiosen Album „SchickSchock“, das 2015 erschien. Der Song ist eine Hommage an all die Colas, Fantas, Pepsis, Seven-ups und Sprites, klingt aber, als besinge der Sänger eine Geliebte. Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Song 2020 gehört habe. Er erfrischt. Er macht hellwach. Man hat auf dem Fahrrad gleich Rückenwind, wenn man ihn hört. Mehr kann man von geiler Musik wirklich nicht erwarten. Moritz Gathmann
Meute – „You & Me“ Stellen Sie sich einen dieser wahnsinnigen Corona-Lockdown-Tage vor: Alle Kinder zuhause, es gab Stress wegen der Hausaufgaben, jetzt schmollen sie in den Zimmern, die Wäsche werden die jetzt auch nicht mehr zusammenlegen, na gut, dann quillt der Korb eben über; auf dem Handy vier unbeantwortete Anrufe von Arbeitskollegen, aber Sie werden nicht zurückrufen, weil Sie gerade einkaufen waren und die Familie jetzt auf das Abendessen wartet; kehren müsste man auch mal wieder, fällt Ihnen auf, als Sie unter den Tisch schauen; draußen nieselt und dunkelt es. Bevor Sie jetzt das große Küchenmesser in die Hand nehmen, schalten Sie diesen Song der elfköpfigen Hamburger Blaskapelle Meute an, der die Coverversion der Coverversion eines ursprünglich todlangweiligen Liedes ist. Jetzt lassen Sie sich vom Saxophon und dem dezent begleitenden Marimbaphon an der Hand nehmen. Spätestens, wenn Schlagzeug, Tuba und die anderen Bläser einsetzen, haben Sie Corona vergessen, und spüren für ein paar Minuten einen sommerlichen Tag im Berliner Görlitzer Park, voller Freiheit, Sonne und Lebensfreude. Wirkt garantiert! Marko Northe
Tocotronic – „Die neue Seltsamkeit“ Landet da ein Ufo? Oder tut sich eine Singularität auf? 20 Jahre lang waren für mich die kryptischen Zeilen dieses Songs ein Rätsel. In diesem Jahr nun machten sie plötzlich Sinn: Corona. Dirk von Lowtzow, der Punkdandy mit der Adidas-Trainingsjacke, singt über eine Pandemie. Über Corona. Tocotronic als Hellseher? Jedenfalls lässt sich der Virus-Layer gut über dieses Lied legen: Man wisse zwar nicht, wann und wie es passiert
Und ob man gewinnt, oder ob man verliert
Man habe vorsorglich schon mal Geld gespart
Und für Donnerstag dem Verein abgesagt Da bricht etwas über uns herein, das wir nicht ganz begreifen können, und zunächst versuchen wir, den Alltag aufrecht zu erhalten („Man habe ja auch noch den Hund zu versorgen“), bevor wir resigniert und erschöpft dem unerhörten Geschehen dort draußen seinen Lauf lassen: „Und ich liege im Bett, und ich muss gestehen / Ich habe große Lust, mich nochmal umzudrehen“. Dazu dieser schleppende und scheppernde Tocotronic-Sound des endenden Jahrtausends, die immer gleiche Akkordabfolge, G, Am, F, C, G, die leiernde Stimme von von Lowtzow. Die Eintönigkeit des Lockdowns spricht aus dieser Musik und trotzdem hört man gerne hin. Ein schöner Soundtrack für dieses triste Jahr der Seltsamkeit 2020. Bastian Brauns Patti Smith – „These are the words“ Auf die Gefahr hin, das Jahr 2020 als esoterisch Angehauchter zu beenden, so kann ich trotzdem nicht verhehlen, dass ich dieser vielfach erzwungenen inneren Einkehr auch etwas Tröstliches abgewinnen konnte – zumindest, wenn der Sound dazu passte. Erschreckend war aber auch, immer wieder das Gefühl erfahren zu haben, mit einem Schlag um 40 Jahre gealtert worden zu sein. So wohnen seit Corona zwei Seelen in meiner Brust. Diese dürften in etwa dem jungen und dem alten Dasein von Patti Smith entsprechen. Die eine, zurzeit still gelegte Seele hängt ihrem Song „Because the Night“ von 1978 hinterher, den ich allerdings zuerst in der 90er-Dance-Cover-Version von CoRo kennenlernte. Wo sind die Feste, Parties und Ausgelassenheiten nur hin? Die andere Seele hingegen ist offenbar mit Patti Smith gealtert und besinnlicher. 40 Jahre nach ihrem Welthit sang sie 2018 im Soundtrack zu Wim Wenders Film über Papst Franziskus („Pope Francis: A Man of His Word“) den Song „These are the Words“. Zwar kann einen der Taizé-hafte Singsang im Hintergrund auch irritieren. Aber mir verschaffte das Gelassenheit angesichts immer neuer Negativ-Nachrichten. Ich glaube fest daran, dass es ein Leben nach Corona geben wird. Und entgegen aller pessimistischen Annahmen kann es auch wieder so sein wie zuvor. Freuen wir uns auf dieses Gefühl, wenn die Sonne wieder scheint und wir Luft ohne Mund-Nasen-Schutz ein- und ausatmen werden. Awake everyone, the dawn has come
Life is streaming from the sun
A garden blessed, the bird that sings
Nature gives us everything Jakob Arnold
Christopher Tin – „Sogno di Volare“ Kein Lied könnte dieses Jahr aus meiner Sicht besser beschreiben. Statt die Freunde vom Schüleraustausch in Spanien zu besuchen oder mit einem Uni-Seminar nach Rom zu reisen, bin ich monatelang im Hotel Mama eingecheckt. Ehrlicherweise habe ich wieder gelebt wie mein 10-jähriges Ich. Und das heißt konkret: Videospiele. Vor allem für Strategiespiele habe ich eine Schwäche. Eines der populärsten ist die Civilization-Reihe. Ich habe mich dieses Jahr im neuesten Teil verloren: Civilization 6. Das ganze Spiel ist eine Ode auf das Menschsein. In jedem Ableger führt man seine Zivilisation von der Steinzeit bis ins heutige Informationszeitalter. Am Ende steht immer der Stolz, Teil dieser wunderbaren Spezies Mensch zu sein. Von diesem Gefühl ist auch die Titelmusik getragen. Wenn Sie wie ich ein Ohr für etwas Pathos haben, hören Sie doch einmal herein. Dieses Mal ist es das Lied „Sogno di Volare“… Wie ironisch, dass das übersetzt „Der Traum vom Fliegen“ heißt. Also dann; auf ein Jahr 2021, in dem wir wieder den Traum vom Fliegen leben können.
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Cicero-Redaktion
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2020 war ein Jahr, das weitgehend ohne Livekonzerte vorüberging. Doch bei uns in der Redaktion und im Homeoffice blieb es trotzdem nicht nur leise. Unsere Cicero-Playlist zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen deshalb auch diesmal.
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"Corona",
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"Song"
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kultur
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2020-12-31T12:07:26+0100
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2020-12-31T12:07:26+0100
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https://www.cicero.de//kultur/2020-corona-musik-songs-2021
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Stockende Zeitenwende - Deutschland im Dornröschenschlaf
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Drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine rief Olaf Scholz vor dem Bundestag eine „Zeitenwende“ aus. Er erklärte die postsowjetische Friedenszeit für beendet und räumte die über 16 Jahre von Angela Merkel verantwortete Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik ab. Offen und offensiv stellte er sich gegen den russischen Präsidenten Putin und, ohne es auszusprechen, aber auch gegen Merkel und seine Partei, die SPD, die über ein halbes Jahrhundert für die Partnerschaft mit Russland gestanden hat. Wie kann man gleichzeitig mit Putin und Merkel brechen? Die Antwort darauf ist, dass Putins Politik der Aggression ohne Merkels Politik der Beschwichtigung kaum hätte gedeihen können. Beide haben den in ihren Ländern nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums herrschenden Zeitgeist in Politik umgesetzt. Merkel hat das neurotische Verlangen eines durch Naziherrschaft und verbrecherischem Angriffskrieg traumatisierten Volkes nach moralischer Erhöhung und bedingungslosem Frieden bedient. Putin hat den Phantomschmerz der russischen Seele über den Zerfall des Sowjetimperiums als Auftrag gesehen, ein russisches Imperium wiederherzustellen. Wer wäre für diese Rollen besser geeignet gewesen als eine evangelische Pfarrerstochter aus der Uckermark und ein Streetfighter aus Leningrad? Obwohl die Besetzung perfekt war, sind beide Akteure schlussendlich daran gescheitert, wovor schon der österreichische Ökonom und Finanzminister Eugen von Böhm-Bawerk im 19. Jahrhundert gewarnt hatte: am Triumph des ökonomischen Gesetzes über die politische Macht. Putin hat mit der Verfolgung seines Ziels der Wiederbelebung eines russischen Imperiums seine eigenen Erfolge bei der ökonomischen Konsolidierung der Russischen Föderation zerstört. Die Russen werden ärmer, und ihr Land ist auf der Weltbühne auf dem Weg zu einem Schurkenstaat nach nordkoreanischem Muster. Angela Merkel hat ihre Politik an einem von Vollkaskoversicherung und unbedingtem Pazifismus bestimmten Zeitgeist orientiert und dadurch ein fettes und träges Deutschland entstehen lassen, das in hohem Maße militärisch von Russland, wirtschaftlich von China und finanziell von der Europäischen Union erpressbar geworden ist. Das könnte Sie auch interessieren: Der Deutsche Bundestag begrüßte Olaf Scholz „Zeitenwenderede“ mit großem Beifall. Viele Bürger erwarteten, dass nun ein „Ruck“ durch Deutschland gehe. Doch dann folgte lange – nichts. Mit Zögern und Zaudern lief die deutsche Militärhilfe für die Ukraine an. Durch Zögern und Zaudern wurde die nach der langen Regentschaft von Angela Merkel notwendige Staatsreform bis heute verschleppt. Auch ein Jahr nach der Zeitenwende, bleibt die Bundeswehr kriegsunfähig, die Staatsbürokratie mit ihren Faxmaschinen und Büroklammern im vordigitalen Zeitalter gefangen und der fettleibige Politikbetrieb bräsig und selbstreferentiell. Dank des Zusammenrückens des Westens kann sich das post-merkelsche Deutschland wenigstens unter den Rockschößen seiner Verbündeten verstecken. Lange wird das nicht gutgehen. Der in den Merkel-Jahren geschaffene und von der Ampelregierung weiter aufgeblähte bürokratisch-sozialistische Staatsapparat hat einen Grad an Dysfunktionalität erreicht, der an den früheren „real existierenden Sozialismus“ auf deutschem Boden erinnert. Die Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft verschwimmen zunehmend dadurch, dass der Staat die Wirtschaft mit einer hohen Steuerlast und kafkaesk anmutenden Regelwerken überzieht. Gegen die Abwanderung insbesondere von mittelständischen Firmen kann er sich noch mit der „Wegzugsteuer“ schützen. Aber irgendwann werde auch diese bereit sein, das Lösegeld zu bezahlen, um fliehen zu können. Auf der geopolitischen Ebene dürfte die Zukunft einen Rückfall in einen neuen Kalten Krieg bringen. Statt eines weiteren Siegeszugs der liberalen Gesellschaftsordnung erleben wir die Neuauflage eines Kampfs der Gesellschaftssysteme. Ein autokratisch regiertes China rivalisiert mit den USA um die Weltherrschaft und lässt den russischen Wolf auf Europa los. Statt einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft erfahren wir den Rückbau der Globalisierung zu semipermeablen Blöcken: dem „Westen“ und den Anhängern westlicher Werte im pazifischen Raum, dem Bund der asiatischen Diktaturen China und den „Blockfreien“ wie Indien, die opportunistisch mal dem einen und mal dem anderen Lager zuneigen. Innerhalb der Blöcke mögen die wirtschaftlichen Beziehungen weiter gedeihen, zwischen den Blöcken dürften sie nur noch in nach geopolitischen Gesichtspunkten vorgenommenen Abstufungen möglich sein. Dazu passt, dass wir nun statt Preisstabilität und wachsendem finanziellem Wohlstand die Wiederkehr der Inflation, steigende Zinsen und die Verunsicherung der Finanzmärkte erleben. Ein weiteres Mal ist der Westen gefordert, im Kampf der Systeme zu bestehen. Das wird ihm aber nur gelingen, wenn er sich auf seine Werte besinnt, die ihn groß gemacht haben, und zusammensteht. Deshalb brauchen wir die Rückkehr zu einer liberalen Gesellschaftsordnung, in der die Freiheit des Einzelnen im Mittelpunkt steht, statt einer die Gesellschaft in Kollektive spaltenden Identitätspolitik. Wir brauchen die Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards, in welcher der Markt im Mittelpunkt steht, statt des alle Lebensrisiken übernehmenden, planenden Versicherungsstaats. Und wir brauchen eine Geldordnung, die für kaufkraftstabiles Geld sorgt, statt das Geld in einer dysfunktionalen Europäischen Währungsunion der Politik als Spielball zu überlassen. Das alles kann Europa aber nur verwirklichen, wenn Deutschland darin eine Führungsrolle übernimmt und für den Schulterschluss mit den USA sorgt. Die liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wurde uns von den angelsächsischen Militärregierungen nach dem zweiten Weltkrieg geschenkt. In der Zeit des Wirtschaftswunders war sie unser „geteiltes mentales Modell“ (Douglas North). Von den 1968ern wurde dieses Modell infrage gestellt und nach deren „Marsch durch die Institutionen“ von einem links-grünen Modell des bürokratischen Ökosozialismus abgelöst. Dieser ist nun für alle sichtbar an das Ende seiner Leistungsfähigkeit gekommen. Es liegt an uns, den Bürgern, von Olaf Scholz die versprochene Zeitenwende einzufordern. Dafür müssen wir bereit sein, wieder eigene Verantwortung zu übernehmen, statt die Verantwortlichkeit einem Staat zu übertragen, der dazu unfähig ist. Und auf globaler Ebene müssen wir Mut zeigen, statt uns aus Angst vor dem großen, bösen russischen Wolf mit „Mutti Olaf Merkel“ hinter anderen zu verstecken. Von Thomas Mayer erscheint heute (23. Februar) das Buch „Russlands Werk und Deutschlands Beitrag. Wie Putins und Merkels Politik uns zum Verhängnis wurden“. ecoWing, 208 S., 26 €
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Thomas Mayer
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Deutschland ist unter Angela Merkel träge geworden und hat sich zu lange an einem pazifistischen Zeitgeist orientiert. Damit wir für den Systemwettbewerb mit China und die militärische Bedrohung aus Russland gerüstet sind, bedarf es dringend der versprochenen Zeitenwende.
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innenpolitik
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2023-02-17T17:38:17+0100
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2023-02-17T17:38:17+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/zeitenwende-angela-merkel-olaf-scholz-russland-ukraine-krieg
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Keine Frauenrechte ohne Religionsfreiheit - Die Bundesregierung vernachlässigt religiöse Frauen
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Religionsfreiheit steht weltweit zunehmend unter Druck. Muslime und Christen in Asien sind gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt, während Atheisten in vielen islamischen Ländern verfolgt werden und indigene Religionsgemeinschaften in Lateinamerika unter Einschüchterungsversuchen leiden. Frauen und Mädchen sind von diesen Menschenrechtsverletzungen besonders betroffen. Ein besonders grausames Beispiel ist Maira Shahbaz, die im Alter von 14 Jahren in Pakistan entführt, gefoltert und vergewaltigt wurde. Mit Videoaufnahmen der Taten wurde sie zur Aufgabe ihres Glaubens und zur Konversion gezwungen. Maira und ihre Familie konnten fliehen und halten sich seitdem versteckt. Seit Langem berichten verschiedene NGOs wie zum Beispiel das Hilfswerk Open Doors oder die päpstliche Stiftung Aid to the Church von Entführungen, sexueller Ausbeutung und Zwangskonversionen von Frauen unter Todesdrohungen. Trotz dieser alarmierenden Lage scheint das Problem in der Bundesregierung noch nicht angekommen zu sein. Dies ist umso besorgniserregender, da die Regierung eine wertegeleitete und feministische Außenpolitik fordert. In den kürzlich veröffentlichten zehn Leitlinien des Auswärtigen Amtes wird zwar eine solche Politik dargelegt, jedoch ohne das Thema der Religionsfreiheit zu erwähnen. Droht dieses wichtige Menschenrecht in Deutschland ins politische Abseits zu geraten? Der weltweite Kampf für Religionsfreiheit erhält in Deutschland immer weniger politische Aufmerksamkeit. Dies liegt an zwei Entwicklungen: Erstens hat der Einsatz für Religionsfreiheit ein parteiübergreifendes Personalproblem. Für die Generationen Y und Z ist das Thema keine Herzensangelegenheit. Hier stehen Klima- und Gerechtigkeitsfragen im Vordergrund. Gleichzeitig scheiden immer mehr Personen, die sich für das Menschenrecht Religionsfreiheit einsetzen, aus der aktiven Politik aus. Volker Kauder und Heribert Hirte beendeten ihr parlamentarisches Wirken 2021. Stefan Ruppert von der FDP verließ bereits 2020 und Volker Beck von den Grünen 2017 den Bundestag. Bei SPD und Linkspartei gilt Religionspolitik schon seit Längerem als Orchideenfach. Weitere Artikel zum Thema: Zweitens ist das Interesse der aktuellen Bundesregierung an religiösen Themen sehr gering. Insbesondere die Bundesaußenministerin betont immer wieder, „den Genderblick in den Köpfen verankern“ (Annalena Baerbock) zu wollen. Allerdings scheint die Bundesregierung dem Irrtum aufzusitzen, dass Feminismus ein wesenhaft säkulares Projekt ist und sich Emanzipation und Religion grundsätzlich ausschließen. Dieses offenbar ideologisch motivierte Ausblenden von Religion könnte erklären, weshalb wachsende Angriffe auf die Religionsfreiheit von Frauen kontinuierlich von der Regierung übersehen werden und warum kein substanzieller Einsatz für Religionsfreiheit in ihrer politischen Arbeit erkennbar ist (s. auch Iran). Obwohl das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit neu besetzt wurde, ist es weder mit angemessener personeller Ausstattung noch einem entsprechenden Budget versehen. In Hinblick auf eine wertebasierte Politik gibt es drei Handlungsfelder, die angegangen werden müssen, um die Religionsfreiheit zu stärken: Erstens müssen Verbündete der kommenden Generationen im Einsatz für Religionsfreiheit durch gezielte On- und Offline-Kampagnen gewonnen werden. Diese Bemühungen um den Nachwuchs müssen die Verbindung zwischen Religionsfreiheit und den in der jüngeren Generation bereits beliebten Themen der Geschlechter- und Klimagerechtigkeit betonen. Zweitens benötigt das Engagement für Religionsfreiheit eine andere institutionelle Gewichtung, an deren Anfang eine personelle und finanzielle Aufwertung sowie Erhaltung des Amtes des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit jenseits von Legislaturperioden steht. Der Erfolg dieser Arbeit hängt entscheidend von regelmäßigen Reisen in Krisengebiete und dem Aufbau und der Pflege von Netzwerken ab. Wie auf der letzten „International Ministerial Conference on Freedom of Religion or Belief“ zu beobachten war, machen die zwischen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren entstandenen Koalitionen im Kampf für weltweite Religionsfreiheit Hoffnung. Deutschland sollte sich endlich diesen Initiativen verbindlich anschließen. Drittens muss Religionsfreiheit verstärkt als Querschnittsthema begriffen und entsprechend institutionell abgebildet werden, da nachweislich die Angriffe gegen das Menschenrecht Religionsfreiheit zunehmend gleichzeitig Frauenrechte, aber auch andere Menschenrechte betreffen. Den eigenen Anspruch, im Sinne einer „Feministischen Außenpolitik“ zu handeln, sollte die Bundesregierung als Gelegenheit begreifen, beim Thema Menschenrechte auch die intersektionalen Verbindungen zwischen Frauenrechten und Religionsfreiheit zu beachten. Am Anfang dieses Umdenkens muss die Einsicht stehen: Ohne Religionsfreiheit sind Frauenrechte nicht zu haben.
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Richard Ottinger
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Der weltweite Kampf für Religionsfreiheit erhält in Deutschland immer weniger politische Aufmerksamkeit. Dabei sind gerade Frauen zunehmend gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt. Wo bleibt hier die „feministische Außenpolitik“?
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"Religionsfreiheit",
"Feminismus",
"Annalena Baerbock"
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außenpolitik
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2023-05-04T06:16:31+0200
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2023-05-04T06:16:31+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/religionsfreiheit-feminismus-baerbock
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Wird Putins Vasall abtrünnig? - Lukaschenko geht auf Polen und die EU zu
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Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko hielt letzte Woche eine Rede, in der er dem Westen die Hand zu reichen schien. Belarus ist seit Jahren ein enger Verbündeter Russlands, man könnte es sogar als Satellitenstaat bezeichnen. Bei mehreren Gelegenheiten haben die Russen politischen Einfluss genommen, um Lukaschenkos Präsidentschaft zu stabilisieren. Nach dem Putschversuch der Wagner-Gruppe im Juni gewährte Lukaschenko der Gruppe mit offensichtlicher Zustimmung des russischen Präsidenten Wladimir Putin Zuflucht in Belarus – obwohl es Hinweise darauf gibt, dass viele dieser Truppen das Land verlassen haben. Unabhängig von ihrem Verbleib ist Lukaschenko eng mit Russland verbunden. Wichtig ist, dass Lukaschenko auch eine neue wirtschaftliche Ausrichtung für Belarus vorschlug und sagte: Jetzt verdienen wir unser Geld vor allem im Osten: in Russland und China. Aber wir dürfen die Kontakte mit dem High-Tech-Westen nicht vernachlässigen. Sie sind in der Nähe, die Europäische Union ist unser Nachbar. Und wir sollten die Kontakte zu ihnen aufrechterhalten. Wir sind dazu bereit, aber wir sollten unsere Interessen gebührend berücksichtigen. Glauben Sie mir, die Zeit wird kommen (um mit Ihren Fachbegriffen zu sprechen, würde ich sagen, dass wir jetzt die Zeit der Turbulenzen durchlaufen), und 2024-2025 wird es ernsthafte Veränderungen in der Welt geben. Lukaschenko sagte auch, dass Belarus mit den Polen sprechen müsse und dass er den Premierminister gebeten habe, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. „Wenn sie wollen, können wir reden und unsere Beziehungen wieder in Ordnung bringen“, sagte er. „Wir sind Nachbarn, und das kann man sich nicht aussuchen, Nachbarn sind von Gott gegeben.“ Der stellvertretende polnische Außenminister antwortete, wenn Belarus gute Beziehungen zu Polen haben wolle, müsse es die Angriffe an der gemeinsamen Grenze einstellen und polnische Gefangene aus belarussischen Gefängnissen freilassen. Mehr zum Thema: Oberflächlich betrachtet sehen Lukaschenkos Äußerungen wie ein vorsichtiger Versuch aus, Belarus aus seiner starken Abhängigkeit von Russland zu lösen und ein Gleichgewicht mit der EU und – überraschenderweise – mit Polen herzustellen. Minsk und Warschau sind einander feindlich gesinnt und haben Truppen an ihrer Grenze zusammengezogen. Das Problem ist, dass es schwer vorstellbar ist, dass Russland angesichts der Haltung Polens zur Ukraine, seiner Hilfe für Kiew und seiner Bereitschaft, als Waffendepot für die Vereinigten Staaten zu dienen, bereit wäre, diese Öffnung gegenüber Polen zu tolerieren. Eine Öffnung gegenüber der EU könnte für Russland als vorteilhaft angesehen werden, da Moskau ebenfalls engere Beziehungen zu diesem Block anstrebt. Die Annäherung von Belarus an Polen eröffnet eine weitere Möglichkeit. Der ukrainisch-russische Krieg scheint immer mehr zu einem eingefrorenen Konflikt zu werden, den keine der beiden Seiten gewinnen kann, der aber auch nach all dem Blutvergießen auf beiden Seiten nur schwer beizulegen sein wird. Eine Beendigung des Krieges ohne so etwas wie einen Sieg wäre äußerst problematisch. Gleichzeitig kann der Krieg nicht einfach weitergehen, da beide Seiten in Bezug auf Soldaten, Waffen und öffentliche Unterstützung an ihre Grenzen stoßen. Vor diesem Hintergrund könnte Lukaschenkos Wunsch nach engeren Beziehungen zur Europäischen Union und vor allem zu Polen von Moskau unterstützt worden sein. Belarus steht Russland sehr nahe und hat eine – wenn auch geringe – Rolle im Krieg gespielt. Es könnte möglich sein, dass die EU mit Belarus zusammenarbeitet, und von dort aus könnte der Weg nach Moskau leichter zu beschreiten sein. Bei den Polen stellt sich eine andere Frage. Ihre Feindseligkeit gegenüber Belarus ist groß, und Polen könnte von Minsk unüberwindbare Zugeständnisse verlangen. Dennoch gibt es auch in Europa den Wunsch nach einem Ende des Krieges, und die EU könnte das Klopfen an die Tür von Belarus als Möglichkeit zur Verbesserung der Beziehungen zu Russland betrachten. Was Polen anbelangt, so gibt es viele in Europa, die Warschaus Haltung zum Krieg als einzigartig für Polen und seine geografische Lage betrachten und nicht in ihrem eigenen Interesse sehen, ihr zu folgen. Sie könnten Polen belohnen oder Druck auf es ausüben, damit es seine Position ändert. Ich neige dazu, dies als eine Geste Lukaschenkos zu betrachten, der vielleicht versucht, die Rolle eines Staatsmannes zu spielen. Aber ich muss bedenken, dass Belarus seine Position und möglicherweise Lukaschenko sein Leben Putin verdankt. Und Lukaschenkos Rückhalt in Belarus ist unklar. Es ist schwer vorstellbar, dass er eine diplomatische Initiative ergreift, die nicht von Moskau gebilligt wird. Abgesehen von meiner Bauchgefühlsreaktion muss ich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es sich hierbei um eine Art Öffnung gegenüber Europa handelt, wobei das Angebot an Polen ein erster Schritt zur Mäßigung seiner Haltung zum Krieg ist. Eine direkte Annäherung ist nicht zu erwarten, aber es ist klar, dass alle Beteiligten des Krieges überdrüssig sind. Das gilt auch für die USA, wo die Wahlen 2024 einen großen Einfluss auf die Haltung der USA zu diesem Konflikt haben werden. Lukaschenkos verwirrender Ansatz könnte also ein von Russland unterstützter Versuch sein, die Kriegsmüdigkeit der Europäer zu messen. Wenn er abgelehnt wird, ist es nur Belarus, das in Verlegenheit gerät. Wenn dies kompliziert erscheint, so liegt das daran, dass die Situation sehr komplex ist und wir uns dem Zeitpunkt nähern, an dem die Seiten subtile Ansätze ausprobieren werden. Oder es handelt sich um Lukaschenkos eigenen Versuch, die belarussische Unabhängigkeit von Russland zu sichern, was ich wirklich nicht glauben kann.
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George Friedman
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Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko spricht überraschend freundlich über die EU und besonders Polen. Entweder er will Unabhängigkeit gegenüber Russland demonstrieren. Oder er handelt in Absprache mit dem Kremlherrscher.
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"Alexander Lukaschenko",
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"Ukraine"
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außenpolitik
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2023-08-21T17:20:43+0200
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2023-08-21T17:20:43+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/lukaschenko-Belarus-polen-eu-russland
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Alles ist anders - Über Monogamie und linke Feindbilder
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Nichts ist mehr, wie es mal war. Versuchen Sie mal einer älteren Dame in einer voll besetzten Bahn einen Platz anzubieten. Es kann passieren, dass Sie einen bösen Blick kassieren, weil sich die Dame darüber erbost, dass Sie sie für sitzreif halten. Unweigerlich führt uns die heutige Zeit ein Im-Bus-Aufsteh-Dilemma vor Augen: Wann darf ich, wann kann ich, wann muss ich? Selbst im Zwischenmenschlichsten aller Bereiche ist der Wurm drin. Jetzt sind es nicht mehr die Männer, die Monogamie biologisch überfordert. Jetzt sollen Frauen auf einmal für treusame Geschlechtigkeit schlichtweg nicht geeignet sein. Das zumindest behauptet der US-amerikanische Journalist Daniel Bergner in seinem Buch „Die versteckte Lust der Frauen“. Darin stellt er die These auf, dass Frauen innerhalb kürzester Zeit das sexuelle Interesse an ihrem Partner verlieren und folglich für die Monogamie nicht geschaffen seien. Potzblitz. Ob andersherum der Mann die eigene Frau noch nach Jahren begehrt, oder sie vielleicht nur deswegen beschläft, weil sie eben verfügbar ist, sei einmal dahingestellt. Ja, endlich hat mal jemand die Geschlechterdebatte vom Kopf auf die Füße gestellt. Erst war der Mann Schuld und jetzt die Frau, die im Zuge der Emanzipation zum schlechteren Mann geworden ist. Fast alle populären Publikationen zum Thema versuchen, das Scheitern von Beziehungen auf der Geschlechterebene zu verhandeln. Mario Barth im Empiriemäntelchen sozusagen. Männer sind so und Frauen anders. Der Beziehungskonflikt sei vorprogrammiert. Aber: Zeigen nicht gerade die homosexuellen Beziehungen, die mit denselben Höhen und Tiefen zu kämpfen haben, dass das Problem ein zwischenmenschliches und kein intersexuelles ist? Egal. Nichts ist bekanntlich mehr, wie es war. Auch in deutschen Ställen ist das so. Beziehungsweise eben nicht mehr so. Plötzlich lesen wir von Kühen, die ihre Behausung in Flammen pupsen, von einem FC Bayern, der sich jetzt mit Traumtoren zum späten Sieg duselt, von olympischen Winterspielen, die in subtropischen Regionen stattfinden, oder von einer Außerparlamentarischen Opposition in Deutschland, die sich plötzlich libertär und konservativ gibt. Ja, die BILD will, die FDP muss APO sein. Nicht einmal der gemeine Einbrecher ist vor Innovationen sicher. In den hiesigen Discountern werden TV-Simulatoren angeboten. Richtig, Geräte, die das Flimmern eines Fernsehgerätes simulieren, damit Conny und Marc-Antonio in Ruhe auf Teneriffa Jetski fahren können, ohne Angst haben zu müssen, dass zuhause eingebrochen wird. Wobei die Frage erlaubt sein muss, was mehr Strom verbraucht? Ein laufendes TV-Gerät oder ein TV-Simulator? Und ob man neben einem TV-Simulator nicht auch, der Authentizität halber (immerhin ist so ein Einbrecher ja nicht völlig bescheuert), einen TV-Geräusche-Simulator braucht, damit die Simulation ihr ganzes Abschreckungspotenzial dann auch wirklich entfalten kann. Willkommen im WTF-Zeitalter. In dem nicht einmal ein öffentlich-rechtlicher Durchschnittsmoderator unerträglich unterirdisch moderieren kann, ohne dass die Mitmachdemokratie per Mausklick ihn gleich zum Teufel wünscht. Und in der Politik? Auch alles anders. Die Neue Rechte gibt plötzlich ganz offen zu, dass sie reaktionär ist. Sie will das Alte jetzt nicht mehr nur bewahren, sondern zurückdrehen und halten – um jeden Preis. Alles anders also. Halt. Nein. Auf eine ist verlass. Auf die Linke. Wie so oft solidarisiert sie sich mit den Falschen. In Hamburg war der Aufschrei groß, als die Polizei mit zum Teil fragwürdigen Methoden versuchte, die Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Die Unverhältnismäßigkeit autonomer Gewalttäter wurde allerdings kaum in Frage gestellt. Statt die Gewaltbereiten aus dem Viertel zu jagen, weil sie der eigentlichen Sache einen Bärendienst erwiesen, wurde der böse Polizeistaat zum Feind auserkoren. Mal wieder. Diese Art der schweigenden Solidarisierung ist mindestens mal doppelt problematisch, weil es die gewaltbereiten Autonomen nicht nur ins gemeinsame Boot des Protestes holte, sondern diese Gruppe gleichermaßen politisch auflud – statt ihnen zuzurufen: Ihr seid alles, nur nicht links. Und sie anschließend aus der Stadt zu jagen. Wenn die linkere Linke also endlich kapiert, dass sie sich viel zu oft mit den Falschen solidarisiert, und dass die Feinde der Feinde nicht automatisch Freunde sind, dann, erst dann ist wirklich nichts mehr, wie es mal war. Und das wäre tatsächlich einmal gut so.
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Timo Stein
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Die Welt steht Kopf: Frauen sind plötzlich nicht gemacht für Monogamie, die Rechte ist offen reaktionär und Einbrecher werden durch Simulatoren abgeschreckt. Nur auf die Linke ist verlass. Sie solidarisiert sich weiterhin mit den Falschen
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kultur
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2014-01-31T16:49:54+0100
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2014-01-31T16:49:54+0100
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https://www.cicero.de//kultur/alles-ist-anders-ueber-monogamie-und-linke-feindbilder/56954
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Generation Y - Work-Life-Bullshit
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Es ist morgens, noch vor dem Frühstück. Er arbeitet. Es ist Nachmittag, wir trinken Kaffee. Er arbeitet. Es ist Sonntagmittag. Er arbeitet. Samstag? Hat er auch gearbeitet. Ist er unzufrieden? Meckert er? Nein. Das neue Leben als Bauer hat aus ihm einen Workaholic gemacht. Einen ziemlich glücklichen Workaholic. Und als Frau Bauer betrachte ich mit Wohlwollen, wie da draußen Ställe in die Höhe, Zäune in die Breite, Tomatenpflänzchen, Stachelbeersträuche und Birnenbäume in alle Richtungen wachsen. Und ich denke um. Öffentlich mokierte man sich vor einiger Zeit über diese doofen Amis, die im Schnitt 500 Stunden mehr arbeiten als der Deutsche, wie die Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf schrieb. Die leben wohl nur, um zu arbeiten. Was für eine kranke Moral. Work-Life-Balance ist das Motto der Stunde. Eine Generation, die schon in Vorstellungsgesprächen eine gehörige Portion Freizeit eintütet, übernimmt das Ruder. Aber ist das der richtige Weg? Kann „Life“ etwas anderes sein als „Work“? Thomas Vašek, Chefredakteur eines Philosophiemagazins, verteidigt in seinem Buch „Work-Life-Bullshit. Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt“ leidenschaftlich ein Leben voller Arbeit. Er propagiert, dass das Leben erst durch die Arbeit lebenswert wird. Arbeit mache glücklich, kreativ, schaffe Identität. Unsere Arbeit heute läuft deutlich gesünder ab, wir arbeiten weniger – und doch steigt die Zahl psychischer Krankheiten im Job. Vašeks Erklärung: Davon gebe es nicht mehr, sie werde nur erst in einer Welt mit viel „Life“ und wenig „Work“ sichtbar, weil sich der Mensch dann viel mit sich selbst beschäftige. Dass es auch schlimme, entwürdigende Arbeit gibt, liegt auf der Hand, aber auch Freizeitgestaltung kann entwürdigend und sinnlos sein. Der Gedanke kommt mir immer öfter, seitdem wir hier auf dem Land beim Holzstapeln und -hacken ins Schwitzen kommen, während in der Stadt glänzende Oberkörper hinter Glas auf Fitnessgeräten herumjuckeln. Es geht nicht darum, wie viel jemand arbeitet. Es geht darum, welche Arbeit er macht. Und für wen er sie macht. Gute Arbeit, so Vašek steht im Einklang mit unseren Werten und Gefühlen, bereichert, vermittelt (nicht nur finanzielle) Anerkennung, fördert soziale Bindungen, findet das Maß zwischen Über- und Unterforderung, enthält frei verfügbare Zeit und erzeugt Gewohnheiten. Heute kommen aber mehrere Dinge zusammen: Wir arbeiten viel, vor allem aber arbeiten wir häufig für Unternehmen, mit denen wir nur eine Episode unseres Lebens verbringen. Identifikation kommt so keine auf. In vielen Branchen rechnen die Mitarbeiter ständig damit, dass ein Projekt beendet, eine Finanzierung abgesagt, ein Pitch verloren oder eine Unternehmenssparte abgestoßen wird. Wer aus dieser Unsicherheit eine Tugend macht und sein Arbeitsglück in die Hand nimmt, kann davon profitieren. Wer unter seiner Arbeit leidet, der hat den falschen Beruf. Und nur er selbst kann versuchen, etwas daran zu ändern. In der Debatte um die Einführung des Mindestlohns argumentieren Politiker wie die CDU-Vizechefin Julia Klöckner, dass „jemand, der die Ausbildung noch nicht hat, sagt [...]: Warum soll ich denn eine Ausbildung fertig machen, wenn ich die Kohle jetzt kriege?“ Dahinter steckt der Irrglaube, dass junge Menschen einem Scheißjob mit Mindestlohn hinterherhecheln und dafür eine Ausbildung sausen lassen. Es ist genauso ein Irrglaube, wie der Mythos des faulen, antriebsarmen und unsozialen Hartz-IV-Empfängers. Die Ruhr-Universität Bochum veröffentlichte vor kurzem die Erkenntnisse einer Studie, nach der Arbeitende und Arbeitssuchende etwas ganz anderes voneinander unterscheide: Jenen, die seit längerer Zeit nicht in den Arbeitsmarkt hineinfinden, fehlen, so die Studie, Führungsmotivation, Wettbewerbs- und Teamorientierung. Es gilt also herauszufinden, welches Betätigungsfeld dem Einzelnen liegt, welche Arbeit für ihn „gut“ ist. Und es geht nicht darum, jeden Menschen auf Teufel kommt raus in ein Arbeitsumfeld zu pressen, in dem Teamgeist, Führungswille und Ellenbogen gefragt sind.
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Marie Amrhein
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Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Es übernimmt eine Generation das Ruder, die noch im Vorstellungsgespräch ihre Freizeit regelt, die Work-Life-Balance sucht und weniger statt mehr Arbeit propagiert. Vielleicht aber sollte ein Umdenken stattfinden. Wir arbeiten nicht zu viel, wir haben nur die falschen Jobs
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innenpolitik
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2014-03-28T16:43:00+0100
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2014-03-28T16:43:00+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/generation-y-work-life-bullshit/57311
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Dauer-Nörgler - Warum Gottschalks Politiker-Bashing schadet
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Die Firma Haribo hat extra zur Bundestagswahl einen Fernsehspot produziert. Darin schiebt Thomas Gottschalk ein rotes Gummibärchen über den Tisch. „Und nun die Roten zur Wahl: Blablabla.“ Er stellt ein grünes Bärchen dazu. „Und jetzt die Grünen: Blablabla“. Er platziert ein weißes Bärchen auf dem Tisch. „Und die Schwarzen: die werden auch immer blasser.“ Gottschalks Resümee: „Die Politiker: Blabla, dabei ist das mein Job“. [video:Der Haribo-Spot zur Bundestagswahl] Der Auftritt enthält gleich drei Botschaften, die zu denken geben. Erstens sagt der Spot, dass in der Politik zwar die Farben variieren, dass sich aber im Prinzip trotzdem alle Figuren nicht wesentlich unterscheiden. Kurz: Die Politiker sind alle gleich. Zweitens: Die Politiker tun nichts, sondern schwatzen nur. Das ist unter der Prämisse ein Defizit, dass ein starker Politiker handelt, während ein schwacher nur debattiert. Das Miteinanderreden als demokratisches Prinzip seit dem alten Athen? Blablabla. Am Beispiel der Union zeigt der Film drittens, dass die Politik blass wird. Oder vielmehr: „immer blasser“. Denn es geht abwärts. Immer schlimmer. Politik – hör mir damit auf. Je fauler die Leute, desto lauter das Schimpfen auf die Politik Die drei Thesen sind nicht neu. Das Bild vom Parlament als „Schwatzbude“, das nichts entscheiden kann, hat Kaiser Wilhelm II. etabliert. Bis heute reden eine Menge Leute so. Ziemlich häufig gilt die Formel, dass diese Leute umso lieber auf die Politik schimpfen, je stärker bei ihnen die Eigenschaften Feigheit, Trägheit und Teigigkeit ausgeprägt sind. Sie futtern Goldbären, furzen ins Sofa und machen Blabla des Inhalts, dass die da oben – die alle gleich sind – eh nur Blabla machen. Das ist aber vielleicht genau das Publikum, das Haribo mit Gottschalk ansprechen möchte, wobei die Texter des Unternehmens vergessen haben, Gottschalk noch zwei weitere Standardbotschaften aufzuschreiben, die in diesem Vorurteilsschublädchen ebenfalls drinstecken: Politiker sind faul. Politiker wollen nur abkassieren. Oder haben wir da was falsch verstanden? Mail an Marco Alfter, Leiter Unternehmenskommunikation der Haribo GmbH & Co. KG. Was will der Film über Politik aussagen? „Die Botschaft von sämtlichen Haribo-Spot´s ist Spaß, Freude und Humor. Auch bei unserem aktuellen 'Wahlspot' geht es nicht darum bestimmte politische Richtungen einzuschlagen, sondern wie bei allen anderen soll auch dieser Spot einfach nur mit einem 'Augenzwinkern' und typisch für die Marke Haribo als 'Lustig' verstanden werden. Ferner würden wir uns selbstverständlich freuen, wenn unsere aktuelle TV-Werbung den positiven Nebeneffekt hätte, die Wahlbeteiligung für die Bundestagswahl im September zu erhöhen.“ Nach dieser Logik würde es die Wahlbeteiligung erhöhen, wenn die Menschen die Politik für möglichst blass und blabla halten. Haribo schätzt das Ansehen der Politik immerhin noch als so hoch ein, dass die Firma sich überhaupt mit ihr abgibt. Dagegen haben die „Toten Hosen“ kürzlich eine wütende Pressemitteilung herausgegeben. Sie richtete sich dagegen, dass ihr Schlager „Tage wie diese“ auf Wahlkampfveranstaltungen gespielt wird. „Wir empfinden es aber als unanständig und unkorrekt, dass unsere Musik auf politischen Wahlkampfveranstaltungen läuft.“ Igitt, Politik. Die Demokratie leidet unter der kategorischen Distanzierung. Sie leidet unter dem Genörgel. Ihr schadet auch die Botschaft, dass es bei Wahlen um nichts geht. Ja ist es denn so schwer? Mindestlohn oder nicht. Bürgerversicherung oder nicht. Betreuungsgeld oder nicht. Mehr Staat oder mehr Privat. Mehr Umweltschutz oder weniger. Versuchen wir, uns gegen Schnüffelei zu schützen oder vertrauen wir unseren Freunden in Washington? Aber erzählt wird die Mär von Blabla, dem schlappen Bären. An ihr stricken auch die politischen Korrespondenten gern mit. Sogar das Fernsehduell wurde erst als Laberrunde vorbemäkelt und dann als inhaltsarmes 0:0 nachbemäkelt. Dabei schauten es über 17 Millionen Menschen. 2009 waren es nur 14 Millionen. Aber Moment: 2005 waren es schon Mal über 20 Millionen. Maue Quoten bei Merkel gegen Steinbrück! Alles wird immer schlimmer, schlimmer geht’s nimmer, erst nächstes Mal. Paradox: Die Medien schreiben sich das eigene Geschäft kaputt. Denn langweiliger Wahlkampf heißt: Den politischen Journalismus kann ich mir auch sparen. Das ist sehr selbstlos. Oder sehr dumm. Dagegen ist Gottschalk klug. Er bekommt Spaß und Freude beim Politikerbashing und dafür Geld von Haribo. Blabla. Abkassiert.
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Georg Löwisch
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Die Nörgelei an den Politikern und dem Wahlkampf nervt nicht nur, sie ist auch gefährlich
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innenpolitik
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2013-09-06T17:27:14+0200
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2013-09-06T17:27:14+0200
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https://www.cicero.de//die-maer-von-blabla-dem-baer/55678
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Zukunft der Drohnenkriegsführung - Blaupause Ukrainekrieg
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Seit Jahren wird behauptet, dass Drohnen die Zukunft der Kriegsführung seien. Ihre Vorteile liegen auf der Hand: Sie sind leicht und wendig und können Lasten abwerfen, ohne das Leben ihrer Bediener direkt zu gefährden. Die Vereinigten Staaten haben sie bei ihren Feldzügen in Afghanistan und im Irak ausgiebig verwendet, um Präzisionsschläge und groß angelegte Einsätze durchzuführen. Die von den USA eingesetzten Drohnen waren jedoch teuer und komplex (und wiederverwendbar). Außerdem setzten sie hochentwickelte Mehrzwecktechnologien ein, die sich deutlich von den kleineren, billigeren Schwarmdrohnen unterscheiden, die bisher im Ukraine-Krieg so prominent in Erscheinung getreten sind und deren Einsatz in gewisser Weise revolutioniert wurde. Verteidigungsbeamte und militärische Führungskräfte sind sich dessen bewusst, und obwohl es einige offensichtliche Nachteile hat, sich zu sehr auf unbemannte Luftfahrzeuge zu verlassen, werden ihre Drohnen-Pläne die künftige Rüstungsindustrie entsprechend beeinflussen. Da sich der Begriff „Drohne“ auf jedes ferngesteuerte Luftfahrzeug bezieht, gibt es eine große Bandbreite an Möglichkeiten und Verwendungszwecken. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die meisten technologischen Fortschritte darauf konzentriert, wie Drohnen gegen Landziele eingesetzt werden können. Die USA verfügen über eine riesige Flotte dieser Art von Drohnen, die Aufgaben wie die Durchführung von Streumunitions- und Präzisionsschlägen, Fernüberwachung aus der Luft und Zielerfassung übernehmen. (Zum Vergleich: Eine Gray-Eagle-Drohne und eine Reaper-Drohne, die beide Präzisionsschläge ausführen, kosten mehr als 20 bzw. 30 Millionen Dollar). Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass diese Waffen zwar immer einen Platz in modernen Militärarsenalen haben, dass aber auch andere, weniger hoch entwickelte Drohnen auf dem Schlachtfeld vertreten sein werden. Dazu gehören kleine, kommerziell hergestellte Drohnen, die in erster Linie als Einweg-Angriffsflugkörper eingesetzt werden, aber zunehmend auch für Ziel-, Aufklärungs- und Überwachungsoperationen Verwendung finden. Das ständige Dröhnen der Drohnen über den Köpfen hat auch Auswirkungen auf die Psyche der Truppen, die in Positionen kämpfen, von denen sie wissen, dass sie dort ungeschützt sind. Seit Beginn des Krieges hat Russland „stumme“ Angriffsdrohnen eingesetzt, um seine Raketenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur zu ergänzen – Hunderte von Drohnen mit Sprengstoff, die alle auf einmal losgehen. Präzision ist nicht das Ziel; niemand erwartet, dass alle Drohnen treffen. Das Ziel ist vielmehr ein zweifaches: Es sollen genug Drohnen durchkommen, um ein Gebiet zu beschädigen, und die Ukraine soll einen angemessenen Aufwand betreiben müssen, um sie abzuwehren. Die russischen Luftfahrzeuge sind derart effizient, dass Moskau versucht hat, sein Arsenal mit iranischen Shahed-131- und 136-Drohnen zu verstärken. Berichten zufolge kaufte Russland im Jahr 2003 insgesamt 6000 136er-Drohnen für 193.000 Dollar pro Stück, baut jetzt aber seine eigenen unter Lizenz von Teheran. Seitdem hat es mit ihnen erfolgreich ukrainische Stellungen in einer Entfernung von bis zu 2000 Kilometern angegriffen. Die Ukraine hat derweil ihre Luftabwehr auf die Bedrohung eingestellt. Mit Hilfe eines zunehmend effektiven Frühwarnsystems, das aus fest installierten Radar-, elektro-optischen und akustischen Sensoren besteht, konnte sie nach Angaben des ukrainischen Militärs im Mai 94 Prozent der ankommenden Shaheds abfangen. Ein vielseitiges Konzept für den Abschuss dieser Flugkörper durch spezialisierte Teams wird derzeit noch entwickelt und verfeinert. Wenn sie erfolgreich sind, werden sie künftig wahrscheinlich von Militärs auf der ganzen Welt eingesetzt werden. In der Zwischenzeit hat Kiew nach Möglichkeiten gesucht, seinerseits Drohnen offensiv einzusetzen. Angesichts des knappen Budgets haben die Ukrainer sich dazu entschieden, ihre eigene Produktion zu verbessern. Die AQ 400 Scythe beispielsweise ist eine kostengünstige Drohne aus Sperrholz, deren Herstellung weniger als 15.000 Dollar kostet, während die AQ 100 Bayonet (eine Artillerie-Spotting- und Loitering-Munitionsplattform mit doppeltem Verwendungszweck) mit rund 2000 Dollar pro Stück sogar noch günstiger ist. Diese kleinen Drohnen sind in der Lage, eine Vielzahl von Kameras, Sensoren und kinetischer Munition zu tragen. Vorigen Monat wurden sie effektiv als Flammenwerfer eingesetzt, als sie Thermit in russische Schützengräben warfen. Ukrainische Drohnen haben sich auch gegen Seestreitkräfte bewährt. Sie haben Patrouillenboote und Landungsboote versenkt und Korvetten mit Schwärmen von hochmanövrierfähigen, präzisen Überwasserfahrzeugen zerstört. Das Magura V5 USV (unbemanntes Oberflächenfahrzeug), das in der Herstellung 273.000 Dollar kostet, hat mindestens acht russische Marineschiffe versenkt. Moskau hat Schwierigkeiten, sich gegen diese Angriffe zu verteidigen, obwohl es seine Seestreitkräfte in den letzten zehn Jahren weitgehend modernisiert hat. In Kombination mit Raketenangriffen ist es der Ukraine gelungen, etwa ein Drittel der gesamten russischen Schwarzmeerflotte auf billige Weise zu versenken – und das ohne eine eigene traditionelle Kriegsflotte. Es überrascht daher nicht, dass Militärs auf der ganzen Welt damit begonnen haben, verstärkt in neue Drohnentechnologien zu investieren. Im Rahmen der als Aukus bekannten australisch-britisch-amerikanischen Sicherheitspartnerschaft werden beispielsweise maritime offensive und defensive Drohnenfähigkeiten für den Einsatz in integrierten Systemen entwickelt. Bestehende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu älteren Drohnen werden nun auf kleinere Schwarmdrohnen angewandt, und es werden Gegenmaßnahmen gegen Schwarmdrohnen formuliert. Nachdem man sich in der Ukraine von der Effektivität der Drohnen überzeugt hat, bemühen sich Washington, Paris und London darum, dass ihre Arsenale der Aufgabe gewachsen sind. Im August 2023 startete das US-Verteidigungsministerium das Replicator-Programm, um Zehntausende von autonomen Systemen für die See- und Luftstreitkräfte zu entwickeln – angeblich, um China zu bekämpfen und die Abschreckung gegenüber Taiwan zu erhöhen. Das milliardenschwere Programm, das in zwei Jahren abgeschlossen sein soll, wird große Flotten billiger Drohnen umfassen, die potenzielle Gegner überwältigen können. Als integriertes Netzwerk haben Tausende von Drohnen, die gleichzeitig angreifen, das Potenzial, traditionelle Marine-, Luftwaffen- und Armeeeinheiten in ihrem jeweiligen Gebiet herauszufordern. Auch die Türkei und der Iran – zwei der produktivsten Drohnenhersteller der Welt – nutzen ihr Knowhow für geopolitische Zwecke. Und viele afrikanische Regierungen sind zu der Erkenntnis gelangt, dass sie Drohnen brauchen, um ihre riesigen Gebiete zu überwachen – wobei Ankara und Teheran dies in für sie selbst günstige Handels- und politische Beziehungen ummünzen. Ihre Drohnen sind vielleicht nicht so ausgeklügelt wie die amerikanischen, aber ihre schnelle Produktion, ihre günstigen Baukosten und ihre erwiesene Wirksamkeit machen sie nicht weniger begehrenswert. All diese Faktoren machen Drohnen auch für nichtstaatliche Akteure wie die Huthis im Jemen attraktiv, die Schiffe auf dem Roten Meer mit vom Iran gelieferten Raketen und Drohnenschwärmen angegriffen haben. Die Kosten für die Abwehr solcher Angriffe sind um eine Größenordnung höher als die Kosten für die Herstellung der Drohnen selbst, was zeigt, wie wirtschaftlich Drohnen sein können, wenn sie richtig eingesetzt werden. Traditionelle Militäraktionen folgen der so genannten „Combined Arms“-Doktrin, die den gemeinsamen Einsatz verschiedener Kräfte vorsieht, um ein Militär stärker zu machen als die Summe seiner Teile. Drohnen sind lediglich ein weiterer Teil dieser Doktrin. In gewisser Weise werden sie die Schlachtfelder der Zukunft verändern, nicht aber die Grundlagen des Krieges an sich. Sie werden nicht die Notwendigkeit von Bodentruppen ersetzen, sondern die „traditionellen“ militärischen Fähigkeiten unterstützen und ergänzen. Deshalb ist zu erwarten, dass sie noch stärker in die konventionellen Militärdoktrinen integriert werden. Die Drohnenkriegsführung in der Ukraine hat eine Art Blaupause dafür geliefert, wie das aussehen wird.
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Ronan Wordsworth
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Seit Jahren wird behauptet, dass Drohnen die Zukunft der Kriegsführung seien. Mittlerweile haben Militärs auf der ganzen Welt damit begonnen, verstärkt in neue Drohnentechnologien zu investieren. Ein Grund: der vielseitige Drohneneinsatz im Ukraine-Krieg.
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"Ukraine",
"Russland",
"Kampfdrohnen"
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außenpolitik
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2024-10-14T14:09:12+0200
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2024-10-14T14:09:12+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/zukunft-drohnen-industrie-ukraine-washington
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Digitalisierung in Deutschland - Die Grundsteuerreform ist ein staatlicher Offenbarungseid
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Der Besitz von Wohneigentum genießt spätestens seit 1945 einen zwiespältigen Ruf. Für die jetzt in Rente gehende Boomer-Generation repräsentierte er in den Nachkriegsjahren einen biederen Rückzug ins Private. Den stillen Stolz meines Vaters auf sein Eigenheim habe ich erst nach seinem Tod so richtig verstanden. Nachdem er in den Ersten Weltkrieg hineingeboren und in den Zweiten als Soldat hineingezogen worden war, bedeuteten die eigenen vier Wände etwas, das ihm, wenn es gut ging, keiner nehmen konnte. Es war nichts Prahlerisches dabei, außer der Selbstgewissheit, es aus eigener Kraft geschafft zu haben. Wir, seine Söhne, wollten nur weg. Uns treiben lassen, unterwegs sein. Das biedere Image hat sich gehalten. Als ich mich unlängst bei einem Freund über die Qualen beklagte, die das Erstellen der Grundsteuererklärung heraufbeschwor, verweigerte er sowohl Mitleid als auch Interesse. Jetzt hat dich also auch noch das Spießertum ereilt, erwiderte er bloß. Meine Versuche, ihm am Beispiel Grundsteuererklärung die gescheiterte Digitalisierung der deutschen Verwaltung zu erläutern, wies er derart schnöde ab, dass ich es hier in schriftlicher Form noch einmal versuche. Bis zum 31. Januar sind Immobilienbesitzer in Deutschland verpflichtend dazu aufgerufen, den Finanzbehörden Grundstücksdaten zu übermitteln: Größe, Lage, Bebauungsarten etc. Es geht um rund 35 Millionen Immobilien. Ausgelöst hat sie ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem den Gesetzgebern aufgegeben worden ist, die seit Jahrzehnten kaum veränderten Voraussetzungen zur Erhebung der Grundsteuer neu zu bewerten und zu regeln. Klingt plausibel, und so wurde die Aufgabe von den Finanzverwaltungen kurzerhand an die Eigentümer weitergereicht. Seither löst das Rätselraten darüber, was genau verlangt wird, Nervenzusammenbrüche, Wut- und Verzweiflungsschreie aus. Wer weiß schon Bescheid über Bodenrichtwert, Gemarkung und Grundbuchblattnummer? Immerhin ist der Hälfte der Eigentümer bereits gelungen, all das in die elektronischen Speichermedien einzufüllen, was die Datenkrake Staat ungeachtet der emotionalen Bedeutung des Besitzes von Grund und Boden wissen will. Das könnte Sie auch interessieren: Das ist gar nicht so einfach. Zur Ermittlung des Bodenrichtwerts etwa gibt es ein hilfreiches Onlineportal namens Boris. Wer nicht aufpasst, landet indes bei einem räuberischen System gleichen Namens, das Gebühren für den Datenservice aufruft. Das ist kein Einzelfall. In der Internetökonomie haben sich inzwischen viele mit Raffinesse und Hinterhalt darauf spezialisiert, für staatliche Dienstleistungen, etwa das Erstellen einer Geburtsurkunde, parasitär abzukassieren. Das organisierte digitale Verbrechen weiß, wo die Lücken im Verwaltungssystem sind und wie man sie gewinnbringend schließt. Das große Ärgernis der Grundsteuerform besteht jedoch nicht allein in dem Bedürfnis des Staates, die Daten zu erheben und neu zu bewerten. Skandalös ist vielmehr, dass er bereits über die Daten verfügt, diese aber nicht sinnvoll und verlässlich zusammenführen kann. Die Immobilienbesitzer sind gewissermaßen die Angeketteten einer Strafexpedition, die ausgezogen sind, die Digitalisierung des Landes auf den Weg zu bringen. Augen zu und durch also? Die Menschen wissen sich zu helfen. Wer einigermaßen beflissen und nicht völlig ignorant ist, erfuhr irgendwann von jemanden, der die Tortur am Rechner bereits hinter sich hatte. Und so entstanden Lerngruppen nach dem Prinzip „Each one teach one“. Man bringt sich gegenseitig bei, worauf der Finanzminister begierig ist. Die Frage wird sein, was nun den renitenten Verweigerern und all jenen blüht, für die das Bodenrichtwertlatein auch in Chinesisch geschrieben sein könnte – Hilfsbedürftige und all jene, für die die digitalen Versprechen wohl zu spät kommen. Die Grundsteuererklärung ist nämlich nur das markante Beispiel, auf das die spätmoderne „Titanic“ deutscher Bauart gerade zurast. Die Orchester der Behörden halten noch weitere Aufgaben bereit, auch wenn sie nicht so monströs wie die Grundsteuerreform daherkommen. So sind die Boomer angehalten, ihre Fahrzeugführerscheine aus Papier umzutauschen. Eigens dazu muss man die ausstellende Behörde des Dokuments darum bitten, eine Karteikarte des gut 50 Jahre alten Stücks zur Beglaubigung durch die Republik zu schicken. Achtung! Wenn hierzulande das Wort Digitalisierung fällt, ist Vorsicht angebracht. Nicht selten entpuppt es sich als Drohung, in der die ganze Pracht der vormodernen Ordnungssysteme zum Vorschein kommt. Wer gute Nerven hat, betrachtet es als verwaltungshistorisches Lehrstück. In Kooperation mit
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Cicero-Gastautor
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Der Finanzminister will aktuelle Daten über den Besitz von Grund und Boden, und mal wieder kommt die ganze Pracht der vormodernen Ordnungssysteme zum Vorschein. Über eine Eisbergspitze der gescheiterten Digitalisierung.
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"Immobilien",
"Steuerreform",
"Ampelkoalition",
"Bürokratie"
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innenpolitik
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2023-01-23T14:46:35+0100
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2023-01-23T14:46:35+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/digitalisierung-grundsteuer-reform-behoerden-bodenrichtwert-nutt
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Julian Reichelt im Gespräch mit Alexander Marguier - Cicero Politik – der Podcast: „Es war eine hoch infame Vernichtungskampagne“
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Ex-Bild-Mann Julian Reichelt redet Klartext – so, wie man es vom einstigen Chefredakteur der größten deutschen Boulevardzeitung erwarten darf. Über die Umstände seines Rauswurfs bei Bild zeigt er sich einerseits ratlos: „Worum ging es eigentlich am Ende? Ich kann es Ihnen bis heute nicht sagen.“ Gleichzeitig hält er aber fest: „Es war eine hoch infame, hoch erfolgreiche, abstoßende, extrem persönlich motivierte Vernichtungskampagne.“ Reichelt war voriges Jahr unter anderem vorgeworfen worden, seine Position genutzt zu haben, um Affären mit Kolleginnen einzugehen. Nach einem Compliance-Verfahren kehrte er zunächst an seinen Arbeitsplatz im Axel-Springer-Verlag zurück, um wenig später endgültig den Stuhl vor die Tür gesetzt zu bekommen – mit dem Argument, er habe eine Beziehung zu einer Kollegin verschwiegen. Reichelt bestreitet das vehement: Alles sei längst bekannt gewesen. Und ohnehin: „Das, was mir da vorgeworfen wird, habe ich niemals getan. Das sind Lügen und Verleumdungen – und das werde ich zum gegebenen Zeitpunkt auch noch beweisen.“ Seine Entlassung sieht er denn auch in einem größeren Zusammenhang, zu dem nicht zuletzt das Engagement des Springer-Verlags auf dem amerikanischen Markt gehöre. Julian Reichelt übt aber auch scharfe Kritik an der deutschen Medienbranche, der er vorwirft, grundsätzlich eine distanzlose Nähe zur Politik zu pflegen und keine wirklich kritischen Fragen mehr zu stellen. Als ein Beispiel nennt er die Talkshow von Anne Will, deren Interviews mit Angela Merkel am Ende so weit gegangen seien, dass die Moderatorin schon vor Gesprächsbeginn erklärt habe, es sei während der Corona-Pandemie nicht ihre Aufgabe, die damalige Bundeskanzlerin hart zu befragen: „Das war ja Realsatire“, so Reichelt. Auch über Olaf Scholz äußert er sich kritisch: „Wenn der Regierungschef unseres Landes sagt, die Lage ist zu ernst für das Wort ,Freiheit‘, merken wir: Dort findet die Diskursverschiebung statt, und sie ist anti-freiheitlich.“ Über seine eigene Rolle bei Bild sagt Reichelt rückblickend: „Ich glaube tatsächlich, dass ich für Bild sehr wichtig war – und Bild für mich nicht so wichtig war, wie das allgemeinhin unterstellt wird. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, was ich in meinem Leben getan habe. Ich weiß, wer meine Freunde sind. Ich weiß, wen ich liebe. Ich weiß, was ich liebe. Und ich weiß, dass ich ohne Bild sehr gut leben und auch sehr viel aus eigener Kraft aufbauen kann.“ Derzeit arbeitet an einem neuen journalistischen Projekt, bei dem er versuche, seine Leidenschaft am Beruf „in reichweitenstarkes Fernsehen zu übersetzen“. Das Gespräch zwischen Julian Reichelt und Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier ist der Auftakt zu „Cicero Politik – der Podcast“. Interessante Persönlichkeiten werden an dieser Stelle in hintergründigen Gesprächen über politische Interna und aktuelle Entwicklungen berichten. Sie können das Interview direkt hier hören, ebenso wie auf den gängigen Podcast-Plattformen. Hier gelangen Sie zur ersten Ausgabe – bei der Direktwiedergabe werden Sie eventuell gebeten, vorab den Button „Inhalte aktivieren“ anzuklicken: Artikel zu Julian Reichelt: Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Alexander Marguier
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Unser erster Podcast: Julian Reichelt, ehemaliger „Bild“-Chefredakteur, spricht im Interview mit Alexander Marguier über die Hintergründe seiner Entlassung bei Deutschlands größter Boulevardzeitung. Reichelt, der wegen angeblichen Machtmissbrauchs selbst Gegenstand aufgeregter Berichterstattung war, gibt während des 50-minütigen Gesprächs auch Einblick in sein Verständnis der Rolle von Medien und deren Verhältnis zur Regierung, übt Kritik an der deutschen Corona-Politik – und skizziert seine Zukunftspläne.
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"Springer-Verlag",
"Interview"
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2022-02-23T10:59:05+0100
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2022-02-23T10:59:05+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/julian-reichelt-cicero-politik-podcast-bild-springer
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Rainald Goetz – Über einen, der alles will
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Plötzlich war Rainald Goetz wieder da – wie eine Art
Marienerscheinung mitten im kreuzprotestantischen Berlin. Man hatte
ihm den Berliner Literaturpreis verliehen, zum Preis gehörte eine
Gastprofessur an der Humboldt-Universität. Es gab eine
Antrittsvorlesung, zu der das intellektuelle Berlin antrat wie zur
Sonntagsmesse und von der man ganz und gar ergriffene
Beschreibungen findet. Im Augustheft des Merkur erzählt Jan Kedves,
wie Goetz vor der Vorlesung im Häuschen der Bushaltestelle
Hittorfstraße in Dahlem hin- und hertigert: „Er formte die Worte,
die auf seinen Blättern standen, stumm mit dem Mund nach, als könne
eine Kombination aus Fuß- und Lippenbewegung das Geschriebene
letztmalig auf Wahrheitsgehalt prüfen.“ Kurz: Berlin lag auf den
Knien. Und er hat es verdient. Man muss Goetz huldigen. Nun das
Wetter. *** Wie das Wetter ins literarische Schaffen des Rainald Goetz
gekommen ist, wird vielleicht immer ein Rätsel bleiben. In seinem
neuen Buch, dem Roman „Johann Holtrop“ mit dem doppeldeutigen
Untertitel „Abriss der Gesellschaft“, wettert es in Sätzen wie
diesem: „Es schneite schwere dicke weiße Flocken, hellweiß senkten
sie sich festlich nieder und tauten unten auf den glänzend
schwarzen Straßensteinen aufgekommen sofort weg. Sprißler zog die
Schultern hoch, raffte seinen dunklen Ledermantel vor der Brust
zusammen und ging mit ausgreifenden Schritten quer durch die vom
Neuschnee turbulent erneuerte Welt nach Hause.“ (Rainald Goetz:
„Johann Holtrop“; Suhrkamp, Berlin 2012; 343 Seiten, 19,95
Euro) Das Wetter will also wirklich festliche Natur sein, und es macht
etwas mit den Romanfiguren. Die Romanfiguren sind Teil dieser vom
Autor evozierten Natur und verhalten sich dazu. Naturalismus. Ein
naturalistischer Roman? Von Rainald Goetz? Wozu? Es ist dann auch so, dass Goetz sich für die Form, auf die er
sich eingelassen hat, gar nicht weiter interessiert. Er ditscht und
surft so darüber hinweg, auch sprachlich ist das alles eher
schlampig, „Abriss“ deutet hier eher auf die rasche Skizze hin.
Worauf der Autor hinauswill, ist eine General- und
Partikulardiagnose der sogenannten Nullerjahre, eines ganzen
Jahrzehnts. Und ungeduldig teilt er uns schon auf der ersten Seite
mit, dass die Diagnose abgeschlossen ist, sein Urteil gefällt: Da
steht ein Bürogebäude in der Naturlandschaft, „so kaputt wie
Deutschland in diesen Jahren“. Kaputt also. Außerdem „hysterisch
kalt“, „verblödet konzeptioniert“, von „Gier“ und dem „Kalkül auf
Eigennutz getrieben“, „falsch“, „lächerlich“, „blind gedacht“,
„infantil größenwahnsinnig“. So weit der schöne Wutanfall von Seite
eins; weitere folgen. Erzählt wird die Geschichte der „Nullerjahre“ anhand der Figur
des Thomas Middelhoff, des gescheiterten Bertelsmann- und
Karstadt-Managers, an dessen Karriere sich Goetz für seine Figur
des Johann Holtrop orientiert. Holtrop-Middelhoff ist narzisstisch
bis zum Umfallen, egozentrisch bis zur völligen
Wirklichkeitsuntauglichkeit, ein „komplett entscheidungsverrückter,
sprunghafter und rücksichtsloser Entscheidungshysteriker“. Also
erst Hoch- und Überflieger, dann Abstürzler. Boom und Krise. Das
ist alles extrem einleuchtend. Und auch ein bisschen banal:
Zeitdiagnose geglückt, danke, setzen. Mehr Spaß gewinnt man an der Sache, wenn man das
Deutschlandverstehspiel ignoriert und hinter Holtrop nicht
Middelhoff sucht, sondern Goetz selbst, diesen sprunghaften und
rücksichtslosen Weltdeutungshysteriker. Vielleicht verweist das
ganze Jahrzehnt auf ihn! Vielleicht ist Holtrop eine
Goetz-Erscheinung. Die Goetz-Erscheinung war schließlich immer
schon Teil des Goetz-Werks. Die erste dieser Erscheinungen war die
des jungen Literaten, der sich während seiner Lesung in Klagenfurt
1983 mit einer Rasierklinge die Stirn aufschlitzte und sich das
Manuskript vollblutete. Der Versuch, die Grenzen vom Text, dem
Selbst des Autors und der Wirklichkeit zu verwischen, gehört bei
Goetz dazu. Es geht nicht um das Werk, es geht um das Leben, das
zum Werk führt und darin störrisch wütet, bis das Leben Werk ist
und das Werk Leben. Wer noch einmal nachlesen will, wie groß Goetz ist, wenn er
einfach alles ganz selbstverständlich auf sich bezieht, muss zu
seinem Internettagebuch des Jahres 1998 greifen, „Abfall für alle“,
das er schon genauso „Roman“ genannt hat wie den viel romanigeren
„Holtrop“. (Rainald Goetz: „Abfall für alle. Roman eines Jahres“;
Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2003; 864 Seiten, 19,50 Euro) Der Text
spannt sich auf zwischen analytischer Weltzugewandtheit und
neurasthenischem Zurückschaudern. Morgendliches Unwohlsein, der
Ärger mit dem Vermieter, das Staunen über die Soziologie Niklas
Luhmanns, die Lektüre der von ihm notorisch überschätzten
Feuilletonisten – all das wird in der Masse zu einem monumentalen
Goetz-Lebensdenkmal. Das Leben, das da zugleich ausgebreitet und
verdichtet wird, zittert ständig zwischen Sozialphobie, Lebensgier
und Gier nach intellektuellem Verstehen. Analyse ist Erotik. Sie
ereignet sich im Affekt, im Wutanfall. [gallery:Literaturen: Die beste Belletristik der Buchmesse
Leipzig 2012] Der Schriftsteller Rainald Maria Goetz will unbedingt
Zeitgenosse sein. Er will sich ekstatisch auflösen im Hier und
Jetzt, und gleichzeitig will er die feuilletonistische
Deutungshoheit. Bei Goetz erschien einem früher ja selbst die sonst
eher trottellummendumme Technobewegung irgendwie beseelt! Er will
die Zeit, er will die Gegenwart, und die fünfbändige
Taschenbuchausgabe seiner Gegenwartssucht hieß „Heute Morgen“. Nur
die Seitenzahl verwies auf gestern, auf das Jahr der Französischen
Revolution. (Rainald Goetz: „Heute Morgen“; Fünf Bände, Suhrkamp
Taschenbuch, Berlin 2004; 1789 Seiten, 50 Euro; die Bände enthalten
auch „Abfall für alle“.) Dabei ist dieser Autor viel größer und
interessanter als seine Zeit. Man sollte es ihm sagen. Leider wäre
Goetz ohne diese Widersprüche nicht mehr Goetz. Man wird sie also
weiter aushalten müssen. Diese Widersprüche: Die oben erwähnte Antrittsvorlesung vom
10. Mai dieses Jahres zeigt das Zittern des Dichters zwischen Welt,
Kunst und Selbst geradezu nackt und auf rührende Weise. Man kann
sie sich kostenlos als Video im Internet ansehen. Ungefähr nach elf
Minuten Einführung stellt Goetz sich hin und spricht, sehr
entschlossen, sehr verletzlich, von seinen Dämonen, unter anderem
dem der Kreativität. Geradezu autoritär und gleichzeitig fast
bettelnd beharrt er darauf, dass wir seine Widersprüche mit ihm
aushalten. Die Binnenspannung ist ungeheuer, und so viel davon
erzeugt in Berlin außer ihm zurzeit keiner.
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Rainald Goetz will alles: Leben! Literatur! Zeitdiagnose! Eine Huldigung – und ein paar Anmerkungen zu seinem überraschenden Versuch, einen naturalistischen Roman zu schreiben
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kultur
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2012-11-24T11:12:52+0100
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2012-11-24T11:12:52+0100
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https://www.cicero.de//kultur/ueber-einen-der-alles-will/52656
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Meinungsforschung - Sind kurzfristige Sonntagsfragen schädlich?
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Der Chefredakteur des WDR und Wahlmoderator der ARD, Jörg Schönenborn, hat in der Taz vom 5. September ein denkwürdiges Interview zur Bedeutung der Sonntagsfrage gegeben. Sie können das Interview im Original nachlesen. In aller Kürze zusammengefasst sagt er unter anderem folgendes: 1. Politische Umfragen, die kurz vor der Wahl veröffentlicht werden, können sehr zufällige Ergebnisse liefern, da sich ein Drittel der Wähler erst in den letzten acht Tagen entscheidet. Obwohl das so ist, glaubt er, dass Umfragen sechs Wochen vor der Wahl aussagekräftiger sind als drei Tage davor, weil dann das Fehlerrisiko höher ist. Gerade die aktuellsten Zahlen sind aus seiner Sicht manchmal ein Datennebel, der die Bürger irritieren kann. 2. Obwohl empirische Belege dafür fehlen, können seiner Meinung nach Umfrage-Ergebnisse die Stimmung beeinflussen, was sich wiederum wie ein Perpetuum mobile auswirken kann. Gerade in der volatilen Endphase vor der Wahl kann eine Umfrage die Wirklichkeit beeinflussen. Diese Aussagen bedürfen einer kritischen Auseinandersetzung. Schauen wir sie uns einmal im Detail an: Zu 1) Kurzfristige politische Umfragen vor der Wahl können sehr zufällige Ergebnisse liefern. Es ist richtig, dass bei jeder Umfrage bei der mit Stichproben - und nicht mit einer Vollerhebung - gearbeitet wird, der sogenannte Stichprobenfehler, also eine Zufallsschwankung, vorkommt. Das liegt daran, dass man eben nicht alle 61,8 Millionen wahlberechtigte Bürger befragen kann, sondern man versucht anhand von 1000 oder 2000 zufällig und repräsentativ ausgewählten Bürgern Aussagen über die Gesamtheit der Wähler zu machen. Der Stichprobenfehler ist definiert als die Differenz zwischen der Ausprägung eines Parameters in der Grundgesamtheit und dessen Ausprägung in der Stichprobe. Deshalb findet sich bei Pressemitteilungen zu Umfragen immer der Hinweis, dass sich Werte in einem sogenannten Vertrauensbereich, auch Konfidenzintervall befinden. Das heißt, dass mehrere identische Umfragen aufgrund der Befragung immer anderer Stichproben, zu leicht abweichenden Ergebnissen kommen würden. Wenn die FDP also in einer Umfrage bei fünf Prozent liegt, dann wird der Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Intervall um diese fünf Prozent liegen (je nach Stichprobengröße und Anteilswert). Sechs Stunden vor der Wahl haben sich wahrscheinlich 90 Prozent der Wähler entschieden Das ist immer so. Zu jedem Zeitpunkt. Völlig egal, ob man die Umfrage sechs Monate, sechs Wochen, sechs Tage oder sechs Stunden vor der Wahl durchführt. Warum eine Umfrage, die sechs Tage vor der Wahl veröffentlicht wird, zufälligere Ergebnisse liefern soll als wenn sie sechs Wochen vor der Wahl durchgeführt wird, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Rein nach der statistischen Lehre ist das Gegenteil der Fall: Die Sonntagsfrage ist unmittelbar vor der Wahl allein schon deshalb präziser, weil die Anzahl derer, die sich entschieden haben – und in die Berechnung der Sonntagsfrage eingehen- , immer größer wird, je näher der Gang zur Wahlurne rückt. Je größer die Stichprobe, desto kleiner das Konfidenzintervall. Haben sich sechs Wochen vor der Wahl 60 Prozent der Befragten fest entschieden, wem sie ihre Stimme geben, so sind das sechs Stunden vor der Wahl wahrscheinlich 90 Prozent der Wähler. Und das ist die auswertbare Menge für die Sonntagsfrage. Das heißt: Je mehr entschiedene Wähler es gibt, desto präziser wird die Prognose. Auch deshalb sind ja die Umfragen am Wahltag selbst, die direkt nach dem Wahlgang durchgeführt werden, so viel präziser als die Sonntagsfragen, die sechs Wochen vor der Wahl erhoben werden. Ganz abgesehen davon, dass die Stichprobengrößen der Wahltagsbefragung bei 20.000 Befragten liegen. Zu 2) Umfrage-Ergebnisse können die Stimmung beeinflussen und damit eventuell den Wahlausgang Dieser Punkt wird – auch wenn bislang empirische Belege dafür fehlen – immer wieder diskutiert. Umfragen könnten den Wahlausgang beeinflussen. Es werden zum Beispiel Mobilisierungseffekte vermutet, wenn man fürchtet, dass die präferierte Partei nicht über die 5-Prozent-Hürde kommt. Aber auch andere Dinge stehen in der Diskussion, den Wahlausgang zu beeinflussen, wie zum Beispiel das Wetter. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit können auch vorangegangene Wahlen den Wahlausgang nachfolgender Wahlen beeinflussen. Und genau das ist bei der 2013er Wahl die Ausgangssituation: Eine Woche vor der Bundestagswahl findet die Landtagswahl in Bayern statt. YouGov hat Anfang August eine Umfrage zu diesem Thema im Auftrag der dpa durchgeführt: 32 Prozent der Deutschen glauben, dass die Bayernwahl eine Signalwirkung für die Bundestagswahl hat. Das ist eine ganze Menge. Auch wenn Umfragen in den Medien gerne aufgenommen werden, so wird die Medienresonanz (und damit die Reichweite) einer kurzfristigen Sonntagsfrage am 19. September bei weitem nicht so groß sein, wie der Wahlausgang in Bayern selbst. Das heißt, die Wirklichkeit in der Woche vor der Wahl dürfte stärker vom Wahlausgang in Bayern geprägt werden als von einer Sonntagsfrage, die am Donnerstag vor dem Wahltag veröffentlicht wird. Deshalb ist die Entscheidung des ZDF, am 19. September die letzten Umfragewerte zu präsentieren, absolut richtig und nachvollziehbar. Und die Entscheidung der ARD in gewisser Weise so, als würde man zehn Minuten vor Ende der Spielzeit eines Fussballspiels die Übertragung mit dem Hinweis beenden, dass man ja nun den wahrscheinlichen Spielausgang wüsste, da der Spielstand nach 80 Minuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dem Spielstand nach 90 Minuten entsprechen dürfte. Stimmt schon, die Vorhersagekraft des Spielstands nach 80 Minuten ist sicherlich prima. Aber schon der selige Sepp Herberger wusste: „Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten.“
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Holger Geißler
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WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn kritisiert die Aussagekraft kurzfristiger Sonntagsfragen. Hat er Recht?
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innenpolitik
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2013-09-06T11:02:07+0200
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2013-09-06T11:02:07+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/meinungsforschung-sind-kurzfristige-sonntagsfragen-schaedlich/55672
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Hagia Sophia wird wieder Gotteshaus - Die Heilige Weisheit am Bosporus
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Zu den berührendsten Erzählungen, die sich um die Hagia Sophia ranken, gehört die Legende vom Engel als Wächter der Kirche. Durch ein mit List abgenommenes Versprechen war er gezwungen, den Schutz des Baus für alle Zeiten zu übernehmen. Nun, er hat viel zu tun bekommen – im Laufe der Jahrhunderte war das Monument immer wieder gefährdet und in Teilen zerstört worden, Kuppel und Gebäudeteile wurden erneuert und umgebaut. Das Weltwunder der Baukunst hat viele Umnutzungen erfahren: Als Hauptkirche des oströmischen Reiches erbaut, wurde sie unter Sultan Mehmed II. Fâtih 1453 zur Hauptmoschee des Osmanischen Reiches, die Mosaiken abgedeckt und mit Minaren versehen, 1934 säkularisiert und zum Museum gemacht. Der neueste Umwidmungsakt ist gerade im Gange: Seit diesem Freitag finden in der Hagia Sophia wieder öffentliche Freitagsgebete statt. Damit wird aus dem von Mustafa Kemal Atatürk eröffneten Museum wieder ein Gotteshaus. Die Liste der Umwidmungen von Tempeln, Synagogen, Kirchen und Moscheen in Heiligtümer anderen Glaubens oder in Profanbauten ist lang. Es gibt sie seit es Religionen gibt, bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed wurden christliche oder säkulare Gebäude zu Moscheen und später oft wieder umgewidmet. Ist die neuerliche Umwandlung der Hagia Sophia also nur ein Ereignis in einer langen mäandrierenden Kette religiöser Umwidmung, Säkularisierung und Re-Sakralisierung? Vor fast 1.500 Jahren ließ Kaiser Justinian I. eine prächtige Palast- und Hofkirche im Palastbezirk im Zentrum des alten Konstantinopel errichten. Sie sollte die nach der personifizierten göttlichen Weisheit Ἁγία Σοφία, romanisiert „Hagia Sophia“, benannte und mehrfach abgebrannte konstantinische Vorgängerbasilika ersetzen – und grandios übertrumpfen. Ab 532 wurde das monumentale Gebäude von 80 Metern Länge und 70 Metern Breite in einer Rekordzeit von nur sechs Jahren nach den Plänen des experimentierfreudigen Physikers und Mechanikers Anthemios von Tralles sowie des Architekten und Meisters der Geometrie Isidor von Milet errichtet. Der Kuppelbau – im Wesentlichen der heutige Bau – ist als die Summe der Errungenschaften antiker Baukunst zu verstehen, in symbolischer, technischer und formaler Hinsicht: Die Hagia Sophia vereint Longitudinalbau mit zentralem Kuppelraum, erweitert durch Konchen und Mantelräume zu einem schier unüberschaubaren genialen Raumkomplex, weshalb sie als „achtes Weltwunder“ gilt – auch weil die Baupläne der ingeniösen Erfinder verschollen sind. Die Leerstellen in der Quellen- und Baugeschichte spornen Wissenschaftler bis heute dazu an, dem Wunder der Hagia Sophia auf die Spur zu kommen. Es gibt Theorien, dass dem frühchristlichen Bau die an Ptolemaios angelehnte geometrische Figur des „Analemmas“ zu Grunde liegen könnte: Tatsächlich findet sich die Figur eines Quadrats, das von einem Kreis umschrieben wird, in ihrem Grundriss und Aufriss. Demnach vereint der Entwurf die beiden kosmologischen Modelle der Antike, Kubus und Sphäre, die für die Gestalt und die Ordnung der Welt stehen und so das duale Selbstverständnis des Auftraggebers Justinian als Patriarch und Kaiser Ostroms verkörpern. Wundersam erscheint vor allem die Konstruktion der tonnenschweren Kuppel, die sich über den hohen Hauptraum der ehemaligen Sophienkirche spannt: Trotz ihres gewaltigen Durchmessers von mehr als 30 Metern scheint sie in beinahe 60 Metern Höhe über dem Marmorboden zu „schweben“, wie schon antike Quellen preisen. Die Kuppel wird von nur vier Pfeilern getragen, deren Masse geschickt versteckt ist durch nach innen gezogene Schildwände und die einschleifenden Halbkugelschalen, sodass die stützenden Bauteile verschwinden. Die gewaltige Kuppel erscheint umso schwereloser, als sie am Fuß von 40 Fenstern durchbrochen wird, die den gewölbten Raum mit direktem Licht fluten. Es entsteht der Eindruck, die Kuppel hänge an einer „goldenen Kette“ vom Himmel herab. Formulierungen wie diese finden sich bereits in den frühen Texten über die Kirche, es war somit ein beabsichtigtes symbolträchtiges Bild, das von den Gläubigen verstanden wurde. Der immaterielle Eindruck wird unterstützt durch das Flimmern der Mosaiken auf den oberen Galerien. Mit dem byzantinischen Bilderstreit und der Frage nach der Darstellbarkeit des Göttlichen im 8. Jahrhundert wurde dem Licht eine entscheidende Rolle beigemessen. Darstellungen von Christus als Pantokrator sowie die Kaisermosaiken bedienen sich des Lichts wie eines Materials und werden so zu über sich selbst hinausweisenden Abbildern des Himmels. Durch die Mosaiken erscheinen die lichtdurchflutete Kuppel, die Gewölbezonen und Apsis fast unwirklich, als würde der Raum aus sich selbst heraus leuchten. Als Konglomerat unterschiedlicher religiöser und künstlerischer Traditionslinien treffen in der Hagia Sophia Wehrhaftigkeit und Zentralität auf Innerlichkeit, Immaterialität und Licht-Symbolik auf kosmologische Vorstellungen, monumentale Bilder auf programmatische Bilderlosigkeit. Die aktuellen Vorgänge um das einzigartige Bau- und Kulturdenkmal sind symptomatisch, gerade weil das Monument eine solch breite und wechselvolle Wirkungsgeschichte aufweist. Hier prallten immer schon Politik, Religionsgeschichte, Kunst- und Kulturgeschichte aufeinander. Und gerade deshalb geht von dieser abermaligen Umwidmung eine kalkulierte Signalwirkung aus, zumal im aufgeheizten Klima des vermittlerlosen Nahost-Konfliktes. In der Kunst- und Kulturwissenschaft ist es kein Geheimnis: Jede Auslegung sagt etwas über das Wesen des Objektes und dessen über die Zeiten wandelndes Verständnis aus. Am allermeisten aber verrät es etwas über die Interpreten selbst.
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Teresa Ende
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Die im sechsten Jahrhundert errichtete Hagia Sophia war fast ein Jahrtausend lang das größte Gotteshaus der Christenheit. Seit diesem Freitag wird die Kirche für das islamische Gebet geöffnet. Politisch ein Fanal, kulturhistorisch ein weiterer Streit.
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"Byzanz",
"Hagia Sophia",
"Weltreligionen",
"Freitagsgebet",
"Islam",
"Erdogan"
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kultur
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2020-07-24T11:17:26+0200
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2020-07-24T11:17:26+0200
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https://www.cicero.de//kultur/hagia-sophia-kulturgeschichte-byzanz-christentum-islam
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Hohenschönhausen - „Die Täter klammern sich an ihre Lebenslüge“
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Kurz nach der Wende begegnet Gilbert Furian seinem ehemaligen Peiniger auf einer Rolltreppe im Einkaufszentrum am Alexanderplatz. Zum ersten Mal sieht Furian jenes Gesicht, das sich so genau in sein Gedächtnis eingebrannt hat, außerhalb der Gefängnismauern. Monatelang hatte er es angestarrt. In stundenlangen Verhören musste er immer wieder dieselben Fragen beantworten. Weil er Interviews mit DDR-Punkbands im Bekanntenkreis verbreitet hatte, wurde Gilbert Furian 1985 nach zwanzig Jahren in der „operativen Personenkontrolle“ zu zwei Jahren Haft im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen verurteilt. Hohenschönhausen, ein weißer Fleck auf der DDR-Karte, war einst das bestgehütete Geheimnis der Staatssicherheit. Hier wurden politische Gefangenen verwahrt. In Potsdam gab die Stasi Unterricht in „operativer Psychologie“. Das Ziel: die Insassen gefügig zu machen. Sie sollten als linientreue, gebrochene Charaktere wieder entlassen werden. Es war auch ein Zeichen der Abschreckung an potenzielle politische Nachahmer, wie eine neue Dauerausstellung in der Berliner Gedenkstätte zeigt. Die Schau trägt das Motto „Gefangen in Hohenschönhausen: Zeugnisse politischer Verfolgung 1945 bis 1989“. Als Furian seinen ehemaligen Vernehmer im Kaufhaus erkennt, dauert es einige Sekunden, bis er sich von der Schockstarre befreien und ihm folgen kann. Am Wühltisch konfrontiert Furian ihn, tippt ihm von hinten auf die Schulter. Er dreht sich um und begrüßt den ehemaligen Insassen wie einen alten Freund: Gilbert! Einige Zeit nach dieser Entdeckung steht Gilbert Furian in der Wohnung seines ehemaligen Peinigers, mit Mikrofon und Schreibblock. Eine „subtile Form der Rache“ nennt der elegant gekleidete Mann das mit einem leichten Schmunzeln. Furian arbeitet an einem Buch, in dem politische Häftlinge ebenso wie ihre Verfolger zu Wort kommen sollten. Der Kontakt zwischen den beiden Männern bricht bis zum Tod des Vernehmers im vergangenen Jahr nicht ab. Furian gibt regelmäßig Führungen durch Hohenschönhausen. Er sagt, sein ehemaliger Vernehmer sei stets bereit gewesen, Fragen zu beantworten – und auch, aus seinen Fehlern zu lernen. Damit sei er eine Ausnahme gewesen. Normalerweise gibt es keinen Kontakt zwischen ehemaligen Häftlingen und Gefängnismitarbeitern, erklärt eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Informationen über die Welt der Opfer gibt es reichlich: Viele der ehemaligen Insassen geben Führungen durch das Gefängnis, haben ihre Erlebnisse zu Papier gebracht. Doch die Welt der Täter bleibt unterbeleuchtet. Die vielen Annäherungsversuche von Seiten der Gedenkstätte werden bestimmt zurückgewiesen. Dabei gibt es viele offene Fragen. Es ist nicht einmal genau bekannt, wie viele Häftlinge insgesamt in Hohenschönhausen eingesperrt waren. Die Historiker stehen bei ihren Recherchen noch ganz am Anfang. Ohne die Hilfe ehemaliger Gefängnisangestellter ist es ein beschwerlicher Weg. Zu viele Akten wurden zerstört. In der Ausstellung ist dennoch gelungen, einen kleinen Einblick in das Arbeitsleben der Täter zu gewähren. Eine Datei führt einige der Gefängniswärter mit Lebenslauf und Führungszeugnis auf. Immerhin: Ein früherer Mitarbeiter hat sich einmalig für die Ausstellung dazu bereit erklärt, Auskunft zu geben. Die Räume des ehemaligen Gefängnisleiters sind für die Ausstellung originalgetreu rekonstruiert worden. Siegfried Rataizick hat Hohenschönhausen in den siebziger und achtziger Jahren geführt. Heute wohnt er, wie so viele ehemalige Stasi-Mitarbeiter, immer noch in unmittelbarer Nähe. Er möchte nichts mit der Gedenkstätte zu tun haben. Er findet, man verbreite dort Unwahrheiten. Aus der Gedenkstätte heißt es, man treffe Rataizick gelegentlich bei Lidl um die Ecke. Unangenehm seien diese Begegnungen. Eine ältere Anwohnerin gibt nur widerwillig Auskunft zu den früheren Vorgängen in ihrem Viertel. „Damals hat sich niemand an dem Gefängnis gestört“, sagt sie. Heute aber geschehe Unheil: „Denn es werden Lügen verbreitet innerhalb der Mauern.“ Sie hat die Gedenkstätte noch nie besucht und habe es auch nicht vor, erklärt sie. Mit dieser Meinung steht die Dame nicht alleine da. Im Internet formiert sich der Protest. Gelegentlich marschieren ehemalige Gefängnismitarbeiter vor den Mauern der Gedenkstätte auf. Die Täter berufen sich stets auf DDR-Gesetze, beharren darauf, diese nicht gebrochen zu haben. Sie scheinen sich gegenseitig in ihrem Glauben zu bestätigen, erpicht darauf, ihre Version der Wahrheit am Leben zu halten. Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit erklärte ihr Verhalten am vergangenen Freitag für beschämend: „Die Täter von einst haben nichts gelernt und agieren dreist in der Öffentlichkeit. Das geht an die Schmerzensgrenze." Norbert Krebs war 1989 für sechs Wochen in Hohenschönhausen inhaftiert. Er hatte Anzeige gegen die DDR-Führung wegen Wahlfälschung gestellt. Bereits in der Schule war Krebs aufgefallen: In Gegenwart seiner Lehrerin hatte er die DDR als „Marionettentheater“ bezeichnet. Vor etwa zehn Jahren kam der gelernte Koch das erste Mal zurück nach Hohenschönhausen, dem Ort des Grauens, an dem er mit psychologischen Maßnahmen systematisch zersetzt werden sollte. Heute arbeitet er in der Kantine der Gedenkstätte und gibt regelmäßig Führungen durch das Gefängnis. „Mich wundert es nicht, dass die Täter von damals weiter die Vergangenheit verklären, sich an ihre Lebenslüge klammern“, sagt Krebs. Die älteren Menschen jetzt noch bekehren zu wollen, hält er für zwecklos: „Sie haben ihre Welt damals anders gesehen und werden sie auch heute noch anders sehen wollen.“ Der 55-Jährige mit dem bunten Schal wirkt, als hätte er ein wenig Mitleid mit den Tätern von damals. Ein DDR-Lebenslauf sei in erster Linie auf das Umfeld zurückzuführen, sagt Krebs. Er habe das Glück gehabt, von einer kritischen Mutter erzogen worden zu sein. Eine Menge zu verdanken habe er ihr, denn sie habe ihm damals immer eingetrichtert: Nur wer ehrlich ist, dem kann man die Ehre nicht nehmen. So räumt Krebs auch bei den Witwen der Stasi-Männer, deren Häuser direkt neben seinem stehen, den Schnee von der Einfahrt weg. Es kommt vor, dass sie ihm ein Abzeichen der verstorbenen Männer vorbei bringen, vielleicht als Zeichen der Wiedergutmachung. Doch über die Vergangenheit reden wollen sie nicht. Krebs hat gelernt, mit den systemtreuen Menschen aus der alten Welt umzugehen. Ihm wurde wohl schnell klar, dass sie immer ein Teil seines Lebens bleiben würden. Nicht nur, weil sie sich in sein Gedächtnis eingebrannt haben, sondern auch, weil sie Teil seines Alltages sind. Einmal ging Krebs mittags mit einem Kollegen der Gedenkstätte zum Fleischer um die Ecke. Dort begegnete er einem ehemaliger höheren Stasi-Offizier an einem Stehtisch. Der frühere Insasse fragte ihn: „Na Genosse, dürfen wir uns zu Ihnen stellen?“ Dauerausstellung: „Gefangen in Hohenschönhausen: Zeugnisse politischer Verfolgung 1945 bis 1989“Öffnungszeiten: täglich von 9 bis 18 Uhr. Eintritt frei.
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Antonia Oettingen
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Eine neue Ausstellung der Gedenkstätte Hohenschönhausen soll Einblick in die Arbeitswelt des Gefängnispersonals gewähren. Doch die Täter von damals blockieren jegliche Annäherungsversuche, formieren sich im Internet und protestierten sogar schon vor den Gefängnismauern
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innenpolitik
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2013-10-12T10:07:05+0200
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2013-10-12T10:07:05+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/hohenschoenhausen-damals-hat-sich-niemand-dem-gefaengnis-gestoert/56092
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Kriminalstatistik - Wie gefährlich ist Deutschland?
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Was sind die häufigsten Verbrechen? Insgesamt wurden 2012 in Deutschland etwas weniger als sechs Millionen Straftaten registriert. Mit einem Plus von nur 0,1 Prozent bleibt die Zahl wie schon im Vorjahr damit relativ konstant. Auch die sogenannte Häufigkeitszahl, die Straftaten pro 100.000 Einwohner angibt und ein Indikator für die durch Kriminalität verursachte Gefährdung in Deutschland sein soll, blieb mit 7327 nahezu gleich (2011: 7328).Das größte Problem der Polizei sind der Statistik zufolge Diebstähle. Mit 2,3 Millionen Fällen pro Jahr machen sie den größten Anteil aller Straftaten aus, auch wenn es im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang von etwa einem Prozent gab. Sorgen macht den Ermittlern aber, dass im vergangenen Jahr fast 150.000 Mal in Wohnungen eingebrochen wurde. 8,7 Prozent häufiger als im Vorjahr. Ein Großteil der Täter wurde dabei nicht gefasst: Lediglich 15,7 Prozent der Einbrüche konnten von der Polizei aufgeklärt werden. Das liegt weit unterhalb der Gesamtaufklärungsquote aller Straftaten von 54,4 Prozent. Auffällig ist allerdings, dass rund 40 Prozent der insgesamt etwa 20.000 versuchten Einbrüche nicht erfolgreich waren, also durch Sicherheitsmaßnahmen oder aufmerksame Nachbarn vereitelt wurden. Die Versicherungswirtschaft kosteten die Einbrüche laut Minister Pistorius rund 600 Millionen Euro. Positive Neuigkeiten gibt es im Bereich Jugendkriminalität: Sie sinkt. Rund 21.000 Jugendliche wurden 2012 der gefährlichen oder schweren Körperverletzung verdächtigt. 16,5 Prozent weniger als im Vorjahr. Allerdings bleibt sie trotzdem auf einem hohen Niveau. Bundesinnenminister Friedrich betonte, es werde noch mehrere Jahre dauern, bis das Ausmaß der Jugendkriminalität wieder auf dem Niveau der 90er Jahre angelangt sei. Helfen könnte – zumindest statistisch – dabei der demografische Wandel. Da es immer weniger Junge Menschen gibt, tauchen sie in der Statistik weniger auf. Auffällig ist auch das wachsende Problem der Cyberkriminalität. Die Polizei fasst darunter im weitesten Sinne Straftaten zusammen, die mit Computern beziehungsweise Software begangen wurden. Mit rund 64.000 Fällen wurden Unternehmen und Privatpersonen zu 7,5 Prozent häufiger Opfer eines Hackerangriffs als im Vorjahr. Das gesamte Ausmaß geht aus der Statistik nicht einmal hervor, da nur die Straftaten erfasst werden, die auch von Deutschland aus verübt wurden. „Cyberkriminalität ist ein flexibler und anonymer Deliktbereich“, sagte Friedrich. Die Sicherheitsbehörden müssten darauf reagieren. Erst gestern hatte sich in Bonn ein Expertenrat konstituiert, der Cyberkriminalität im Blick halten und betroffenen Unternehmen beraten und die Entwicklung von Abwehrsoftware veranlassen soll. Was sagt die Statistik über die Täter? Die polizeiliche Kriminalstatistik erfasst nur von der Polizei registrierte Straftaten, das sogenannte Hellfeld. Die Dunkelziffer ist von Delikt zu Delikt dabei unterschiedlich hoch. Oft wissen Opfer von Cyberkriminalität beispielsweise gar nicht, dass ihre Daten gestohlen wurden und können dies nicht anzeigen. Nicht berücksichtigt werden außerdem politisch motivierte Taten und Verkehrsdelikte. Zudem wird in der Statistik nicht aufgeführt, ob Tatverdächtige verurteilt oder freigesprochen wurden. Etwa 70 Prozent aller Tatverdächtigen waren Deutsche. Bekannt ist zudem, dass etwa dreiviertel aller Straftaten von Männern verübt werden. Insgesamt wurden 2,1 Millionen mutmaßliche Täter gefasst. Davon waren allerdings etwa 75 000 strafunmündige Kinder unter 14 Jahren. Mit fast einem Viertel der Verdächtigen hat die Polizei jährlich gleich mehrfach zu tun: Knapp 9000 Kriminelle wurden im letzten Jahr mehr als 20 Mal bei einer Straftat erwischt. Wo ist die Kriminalität in Deutschland besonders hoch? Die vermeintlich höchste Kriminalitätsrate hat laut Statistik – wie auch im Vorjahr – Frankfurt am Main. Auf 100.000 Einwohner kamen dort 16 310 Straftaten. Die Stadt Frankfurt weist dies aber als rufschädigend zurück. Tatsächlich ist die Zahl nur bedingt aussagekräftig. Da Frankfurt über den größten deutschen Flughafen verfügt, werden sämtliche Straftaten, die dort von Reisenden begangen werden, wie etwa Schmuggel, der Stadt zugerechnet. Es gilt das Tatort- und nicht das Herkunftsprinzip. Am sichersten ist es laut Statistik in München. Dort werden pro 100.000 Einwohner nur 7 153 Verbrechen verübt.Berlin, das ein ähnlich hohes Besucheraufkommen hat wie Frankfurt hat, verzeichnet bundesweit die vierthöchste Kriminalitätsrate. Wie ist die Lage in der Hauptstadt? Einen richtigen Grund zur Freude hat Berlin nicht. Laut der Berliner Kriminalitätsstatistik ist die Zahl der Straftaten (495 297) im Jahr 2012 zwar nur leicht gestiegen, doch in einzelnen Bereichen, wie den Wohnungseinbrüchen, gibt es einen starken Anstieg (plus 12 Prozent) oder Mord und Totschlag (plus 16 Prozent), der besorgniserregend ist. Zudem ist die Aufklärungsquote in Berlin mit nur 44,7 Prozent auf den niedrigsten Wert seit 1997 gesunken. Nach der Veröffentlichung der Zahlen für Berlin vor einigen Wochen hatte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) diese als „wahr gewordenen Alptraum“ bezeichnet. Und auch die jüngste „Kiezstatistik“ zeigt dies. Laut einer kleinen Anfrage des CDU-Abgeordneten Peter Trapp im Berliner Abgeordnetenhaus hat die Berliner Polizei im vergangenen Jahr mehr als 488.000 Anzeigen aufgenommen.Das Ergebnis ist wenig überraschend: Im Zentrum Berlins werden mehr Straftaten angezeigt als am Stadtrand. Die Gründe: Dort, wo mehr Leute wohnen und es mehr Touristen sowie Geschäfte, Kneipen und Bars gibt, passieren auch mehr Straftaten. Dass die Anzahl der Anzeigen in den einzelnen Bezirken im Vergleich zu 2011 um rund 8 600 zurück gegangen ist, führen Beamte auf das Präventionskonzept der Berliner Polizei zurück, das langsam greife. Was tut die Politik? Während der Bund der Kriminalbeamten (BdK) Personalmangel für die gestiegene Zahl der Wohnungseinbrüche und die geringe Aufklärungsquote verantwortlich macht, will Boris Pistorius, Vorsitzender der Innenministerkonferenz, eher darauf setzen, die Qualität der Tatortsicherung zu erhöhen. Derzeit befasse sich eine Arbeitsgruppe damit. Zudem forderte Pistorius gesetzliche Vorschriften zum Schutz vor Wohnungseinbrüchen bei Neubauten einzuführen. Die Bauministerien der Länder müssten einen entsprechenden Gesetzentwurf nun diskutieren. Er könne etwa bessere Schlösser an Wohnungstüren, abschließbare Fenster oder Balkontüren, die sich nicht aufhebeln lassen, vorsehen. Neben den hohen Sachkosten verursachten Einbruchsdiebstähle oft schwerwiegende Folgen für die Betroffenen, sagte Bundesinnenminister Friedrich. Sie empfänden die Einbrüche oft als Eingriff in ihre Intimsphäre und bekämen Angstzustände. Friedrich nutzte die Vorstellung der Kriminalstatistik, um erneut für mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum zu werben. Derzeit stehe er in Verhandlungen mit der Deutschen Bahn, die an ihren Bahnhöfen die Videoüberwachung ausbauen solle. Den Innenministern der Länder empfahl er, ebenfalls gesetzliche Regelungen zu schaffen, die mehr Überwachung ermöglichten. Friedrich verteidigte außerdem die umstrittene „Anti-Terror-Datei“, die einen besseren Austausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden ermöglichen soll. Im April hatte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz gebilligt, allerdings Änderungen bis 2015 angemahnt. Etwa, dass das bloße Befürworten von Gewalt nicht ausreiche, um die Daten eines Menschen in dieser Sammlung zu speichern. Friedrich kündigte außerdem an, nötigenfalls die Strafen für Angriffe auf Polizisten verschärfen zu wollen. Im letzten Jahr gab es deutlich mehr Attacken auf Polizisten als im Vorjahr. Friedrich bezeichnete diese Entwicklung als „völlig inakzeptabel.“
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Tanja Buntrock
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In der Summe werden in Deutschland seit Jahren etwa gleich viele Straftaten verübt. Doch bei einzelnen Verbrechensarten gibt es große Schwankungen. Besonders Wohnungseinbrüche und Cyberkriminalität nehmen zu.
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innenpolitik
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2013-05-16T08:49:25+0200
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2013-05-16T08:49:25+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/wie-gefaehrlich-ist-deutschland/54443
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Leitkultur ist... - „Dass die Religion nicht über der Verfassung steht“
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Als Gastarbeiterkind war für mich all das, was das Leben hier so erstrebenswert macht, nicht selbstverständlich. Ich habe mir die Freiheit erobert, ich musste sie lernen und ich werde sie verteidigen. Und ich sage gern, welche Werte aus meiner Sicht verbindlich sind: Wir leben hier in einem Rechtsstaat, einem Sozialstaat, nach den Prinzipien der Demokratie. Es gelten die Grundrechte – wie Religions- und Meinungsfreiheit. Wir haben das Recht auf Würde und körperliche Unversehrtheit. Das Recht jedes Einzelnen wird im Idealfall vom Staat auch vor dem Staat geschützt. Je mehr sich der nationale Gedanke des „Deutschseins“ in Europa aufzulösen scheint, desto mehr sind wir darauf angewiesen, dass jeder Bürger weiß, was Europa ausmacht und was es zu verteidigen gilt. Die Einheit der Werte und die Freiheit des Einzelnen. Der Sozialstaat kann auf Dauer nur funktionieren, wenn er nicht vorsätzlich missbraucht wird. Religionsfreiheit kann nur funktionieren, wenn klar ist, dass Religion ein Teil der Freiheit ist, jeder das Recht hat zu glauben – aber auch, vor Religion geschützt zu werden. Und dass die Religion nicht über der Verfassung steht. Der Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn der Geist der Gesetze von allen getragen wird. Demokratie kann nur funktionieren, wenn Bürger sich einmischen und Verantwortung übernehmen. Es ist unsere Aufgabe, alle – auch die Hinzukommenden – von den Vorteilen dieser Freiheit zu überzeugen. Und wir müssen darauf bestehen, dass die Regeln, die diese Freiheit eben auch braucht, eingehalten werden. Es mag sein, dass die Europäer die europäischen Werte für sich nicht mehr brauchen. Aber die Eingewanderten und die, die jetzt vor der Tür stehen, brauchen sie. Viele sind auch aus ihren archaischen Gesellschaften geflohen und wollen endlich Freiheit. Für sie und für mich ist Europa eine große Sache und so wunderbar wie das tägliche Brot.
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Necla Kelek
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Seitdem jeden Tag Tausende Flüchtlinge nach Deutschland kommen, ist plötzlich wieder von Leitkultur die Rede. Aber wie soll eine deutsche „Leitkultur“ aussehen? In der Dezemberausgabe eröffnet Cicero die Debatte und lässt dazu viele prominente Persönlichkeiten zu Wort kommen. Heute schreibt Necla Kelek, was Leitkultur für sie bedeutet
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innenpolitik
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2015-11-24T12:09:27+0100
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2015-11-24T12:09:27+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/necla-kelek-leitkultur-ist-dass-die-religion-nicht-uber-der-verfassung-steht
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Schwerpunkt: Science & Fiction – Ein Genre und seine Helden
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Wie auf Jahrmärkten die Wunderwirkung von Schlangenöl angepriesen wird, so ist schon oft behauptet worden, Science Fiction besitze die wundersame Gabe der technologischen Weissagung. Schon Jules Verne hat doch über Unterseeboote geschrieben,
heißt es, bei H. G. Wells kommen Luftschlachten vor, in den Büchern Samuel Butlers ist von Telefon und Fernsehen die Rede, und Karel Capek hat sich Roboter (und eine Superbombe) ausgedacht – all das in fiktiven Werken, die der Wirklichkeit fünfzig oder hundert Jahre voraus waren.
Spötter wollen das nicht gelten lassen. Sie liefern sarkastische Gegenbeispiele, um Erzählwerken, die Zukunftsvisionen entwerfen, einen lächerlichen Mangel an Vorstellungskraft nachzuweisen. Die vielen Schriftsteller, die sich den Supercomputer als ein Ungetüm wie Leviathan vorstellten, vollgestopft mit unzähligen Reihen von Vakuumröhren, hätten doch keinen blassen Schimmer von der Mikrotechnologie gehabt, die nur zehn oder zwanzig Jahre später alles aufs winzigste verkleinerte.
Im Nachhinein lässt sich leicht sagen, sie hätten
jedenfalls eine Ahnung haben sollen. Schließlich hat die Natur ein Wunder der Mikro-Miniaturisierung vollbracht, als sie das menschliche Gehirn entwarf – und Proteine statt Silikon-Chips benutzte.
Stanislaw Lem hat einmal bemerkt, dass der professionelle Prophet immer zur Zielscheibe des rückblickenden Spotts wird, egal ob der technische Fortschritt im langsamen Trott oder ob er in Riesenschritten vorangeht. Dabei hat Lem selbst in seinen Geschichten und
Essays bereits in den sechziger Jahren die Technologie der virtuellen Realität vorausgesagt – dreißig Jahre vor ihrer Erfindung.
Ein Renaissancemensch: Stanislaw Lem
Lem ist einer der wenigen Menschen im 20. Jahrhundert, der als Essayist wie als Erzähler Brillantes an der Grenze zwischen Wissenschaft und Literatur geschrieben hat. Ausgebildet als Physiker und gleichzeitig Autodidakt, offenbart er erstaunliches Wissen in Biologie, Physik und Ingenieurswesen. Mit seinen universalen Kenntnissen wirkt er beinahe wie ein Renaissancemensch. Er unterhält sich mit Priestern wie mit Astronomen.
Schon in den frühen fünfziger Jahren erkannte Lem, welche moralischen Probleme die Kybernetik, die Entwicklung der Roboter und die neuen Befruchtungstechniken aufwarfen. Er behandelte diese neuen Bedrohungen auf satirisch-komische Art, etwa in «Kyberiade», untersuchte sie in ernster Science-Fiction-Manier, etwa in «Solaris», und in Sachbüchern wie «Dialoge» und «Summa technologiae». Geradezu als Prophet erwies er sich, als er beispielsweise die rechtlich-ethischen Schwierigkeiten bei der Definition von Elternschaft aufgriff, wenn eine Person den Samen, eine zweite die Gebärmutter und eine dritte die Pflege bereitstellt. Zwar ist Lems phänomenale Leistung weitgehend unbeachtet geblieben, weil er in einer zunehmend vom Englischen dominierten Welt auf Polnisch schreibt, aber auch heute noch sind die Tiefe und Subtilität seiner Intelligenz erstaunlich. Ein gruseliges Beispiel ist seine Erörterung einer Krypto-Kriegsführung der Zukunft, die mit Hilfe von Nanotechnologie und Molekularbiologie einen Völkermord so bewerkstelligen kann, dass er vom Gegner erst entdeckt wird, wenn es zu spät ist.
Es war vor allem die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, die uns gezeigt hat, dass wissenschaftliche Forschung die Macht zur Zerstörung oder zum Schutz des Menschen verleiht, und die uns zweierlei gelehrt hat: dass erstens Wissenschaft nichts Esoterisches ist, sondern eine durch und durch praktische Angelegenheit, die man nur zum eigenen Schaden geringschätzen darf, und dass zweitens die belletristische Literatur – so wie jede wilde Spekulation – in dieser praktischen Angelegenheit eine Hilfe sein kann. So wurde der Träumer-Schriftsteller zu einer natürlichen Ressource im Rüstungswettlauf. Die Sowjetunion hat beispielsweise die extra-sensorische Wahrnehmung (ESP) für militärische Zwecke erforscht, immer nach dem Prinzip: «Mag sein, dass die Leute jetzt lachen, aber was ist, wenn wir irgendeine neue Kraft anzapfen? Dann ist uns der Gegner hilflos ausgeliefert.»
In den fünfziger Jahren fanden sich in den USA viele Wissenschaftler und Ingenieure unter den Autoren und Lesern von Science Fiction. Sie waren es, die in den ersten Nachkriegsjahren einige Langzeit-Forschungsprojekte auf die Beine stellten, zum Beispiel Flugsimulatoren für Piloten, aus denen die heutigen Video-Spiele entstanden – und auch die ‹intelligenten› Raketen, die bei der «Operation Wüstensturm» eingesetzt wurden.
Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ist vielleicht das anschaulichste Schreckensbild von einer Wissenschaft der Zukunft – und spätere Generationen von Science-Fiction-Filmen in Japan haben diesen Alptraum immer wieder durchgespielt: Außerirdische Eindringlinge oder Dinosaurier mit Laser-Augen wie Godzilla löschen auf der Leinwand alle Hauptstädte der Welt aus und üben so eine kryptische, stellvertretende japanische Rache am Westen.
Erstaunlich viele Naturwissenschaftler lesen Science Fiction und sehen sich Science-Fiction-Filme an, und man darf vermuten, dass sie sich manchmal von diesen Fantasien zu ihren Ideen anregen lassen. Ich selbst bin da skeptisch. Die Wissenschaftler aus meinem Bekanntenkreis, die
Science Fiction konsumieren, scheinen das Genre eher zur Zerstreuung als zur Inspiration zu nutzen.
Es stimmt jedoch, dass Science Fiction zum Teil von Naturwissenschaftlern geschrieben wird, man denke etwa an die Romane von Gregory Benford. Oft steht ökonomisches Kalkül dahinter, wie auch bei den Romanen von Rechtsanwälten oder Ärzten, ausgehend von der Überlegung, dass man das Expertenwissen des eigenen Berufs nutzen kann, um den gewöhnlichen Leser mit ihm unbekannten Realien zu verblüffen und so eine schöne Stange Geld zu verdienen.
Ursprünglich waren die Verfasser wie auch die Leser von Science Fiction Menschen, die sich für die Naturwissenschaften interessierten, sich darin auskannten und sie faszinierend fanden, entweder als strahlende Verheißung zukünftiger Wunder (Utopisten) oder als düstere Warnung vor zukünftigen Schrecken (Anti-Utopisten). In den sechziger Jahren jedoch brachte eine anti-wissenschaftliche und anti-rationalistische Kultur Science-Fiction-Autoren hervor, die alle Naturwissenschaftler als Schurken ohne Herz, Humor und Stil betrachteten. Es ist spannend zu sehen, wie viele Schriftsteller seither kritiklos die Vorstellung übernommen haben, die Naturwissenschaften seien unmenschlich und autoritär und nicht das große menschliche Abenteuer, das sie tatsächlich sind. In Science-Fiction-Filmen herrscht das Bild vom unmenschlich-autoritären Naturwissenschaftler eindeutig vor. Spielbergs «E. T.» ist nur ein Beispiel von vielen.
Wer versteht schon Stephen Hawking?
Erst kürzlich äußerte die National Science Foundation ihre Sorge darüber, dass die Naturwissenschaften in der Öffentlichkeit dermaßen in Verruf geraten sind, dass immer weniger junge Amerikaner diese Disziplinen studieren wollten. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts führten zwei Entwicklungen dazu, dass die Naturwissenschaften schwerer zugänglich wurden: Zum einen entwarfen neue Theorien Bilder von der Welt, die zum ersten Mal von den Alltagserfahrungen abwichen. Und zum andern teilten sich die Naturwissenschaften in Fachgebiete auf, die so viele technische Kenntnisse erforderten, dass sie ohne ein spezielles Hochschul-Studium nicht mehr zu verstehen waren.
So griffen Science-Fiction-Autoren häufig ein Konzept heraus, zum Beispiel die Heisenbergsche Unschärferelation, und trivialisierten es zum Zwecke der fiktiven Verarbeitung. Auch heute wird noch so verfahren. Konzepte wie Schwarze Löcher werden benutzt, um die Figuren einer «Space Opera» auf bequeme Art in andere Universen oder Zeitdimensionen zu katapultieren. Wissenschaft stellt hier nur das fiktive Mobiliar, Kulissen und Requisiten.
Stephen Hawking kann einen Bestseller über Schwarze Löcher und den Pfeil der Zeit schreiben, und wahrscheinlich hat nicht einmal ein Promille seiner Leser auch nur die vageste Ahnung, wovon er spricht. Das Gleiche gilt für viele populärwissenschaftliche Bücher über Kosmologie: Was passierte in den ersten fünf Sekunden des Big Bang? Wird sich unser Universum für alle Zeiten ausdehnen oder sich mit einem großen Knirschen zusammenziehen? Und was sindeigentlich Superstrings? Ohne Kenntnisse der Quantenmechanik kann man davon kaum etwas wirklich verstehen. Die Menschen lesen Hawking wie sie vielleicht das I Ging lesen: Außenseiter blinzeln durch einen Schleier und versuchen erregt, ein klares Bild zu bekommen. Die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, eben dieses klare Bild zu gewinnen, ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Erregung.
Weil die Naturwissenschaften so schwierig geworden sind, wurde Science Fiction im Gegenzug «weicher» – während «harte» Science Fiction versucht, mit den technologischen Tücken zurande zu kommen. Als «weiche Science Fiction» bezeichnet man jene, die sich mehr mit den psychologischen, soziologischen und politischen Auswirkungen neuer Erfindungen beschäftigt, mit Invasionen aus dem All, mit der Entstehung neuen Lebens im Reagenzglas und ähnlichem, also mit der menschlichen Dimension. Aber wie «weich» und «menschlich» kann Science Fiction sein und trotzdem noch Science Fiction bleiben?
Gentechnik ist kein Thema
Schon vor Jahrzehnten schrieben Science-Fiction-Autoren ausführlich über Genmanipulation. In den letzten Jahren nun hat es enorme Fortschritte auf dem Gebiet der Gentechnik gegeben. Das Klonen von Menschen steht vermutlich unmittelbar bevor. Die Erforschung des menschlichen Genoms hat eine vollständige Landkarte unserer DNA hervorgebracht – was nicht bedeutet, dass diese Landkarte den Menschen «erklärt», doch ist man mit Sicherheit dieser Erklärung einen wichtigen Schritt näher gekommen. Das führt dazu, dass das Thema Gentechnik an Dramatik verliert – und aus dem Bereich der Science Fiction herausfällt. Wie kann man hoffen, seine Leser in Furcht und Staunen zu versetzen, wenn sie jeden Tag in den Zehn-Uhr-Nachrichten das sehen und hören können, worüber man selbst schreibend spekuliert? Gentechnisch verändertes Gemüse wie Tomaten und Mais hat vor zehn Jahren die Gemüter erhitzt, heute kann man es im Supermarkt kaufen.
Oft hört man die Einschätzung: «Nein, das ist keine
Science Fiction, dafür ist es zu gut.» Das gilt etwa für Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» oder für Margaret Atwoods «Der Report der Magd». Obwohl beide Romane in zukünftigen, durch Extrapolation entworfenen Welten spielen, stellen sie Extremformen heutiger Gesellschaften dar – gentechnisch veränderte bei Huxley, politisch manipulierte bei Atwood – und sagen Tiefgreifendes über die conditio humana aus.
Gegen Science Fiction wird oft angeführt, sie präsentiere nur zweidimensionale Gestalten, einen mittelmäßigen Schreibstil und jede Menge Klischees – also die gleichen Vorwürfe, die auch gegen die Genres Kriminalroman, Western oder Liebesroman erhoben werden. Genre-Literatur ist formelhaft, seicht und lahm, sagt die Kritik, sie nudelt Fließbandprosa heraus, so vorhersehbar und substanzlos wie Popcorn. Es ist bedauerlich, dass diese oft mehr als gerechtfertigte Kritik auch einige herausragend begabte und aufregende Science-Fiction-Autoren mittrifft. Ihre Bücher werden selten in den großen Tageszeitungen besprochen. In gewisser Weise sind sie totgeboren.
Ein Genre, fest in amerikanischer Hand
Wo immer man sich Science-Fiction-Zeitschriften ansieht, findet man Übersetzungen von Geschichten amerikanischer Autoren und daneben Nachrichten über amerikanische Herausgeber und Verleger von Science Fiction sowie Informationen über amerikanische Science-Fiction-Preise. Science-Fiction-Autoren vieler Länder beklagen, dass Leser – und Verleger – immer zuerst nach amerikanischen Autoren greifen und die begabten Schreiber im eigenen Lande übergehen. Schlimmer noch ist jedoch, dass viele nicht-amerikanische Autoren dieses Genres Bücher schreiben, die nichts weiter sind als Derivate: Nicht nur kopieren sie sklavisch amerikanische Muster, sie kopieren auch noch alte amerikanische Muster. Kopien von Kopien.
Die jährlich stattfindende World Science Fiction Convention wird nur von wenigen Japanern, Ukrainern, Australiern oder Brasilianern besucht – die Mehrheit ist eindeutig amerikanisch. Franz Rottensteiner hat einmal
eine Anthologie europäischer Science-Fiction-Texte mit dem Titel «View From Another Shore» zusammengestellt. Jeder verstand den Titel so, dass die erste Küste die amerikanische war. Paradoxerweise war aber der Begründer der modernen Science Fiction nicht Amerikaner, sondern Brite: H. G. Wells.
Nimmt die Vorherrschaft Amerikas ab? Das ist schwer zu sagen, zumal amerikanische Filme – von denen so viele Science-Fiction-Filme sind – nach wie vor die internationale Szene beherrschen. Doch wäre es schön zu sehen, wenn das Imperium ins Wanken geriete, aus dem einfachen Grunde, weil das der Vielfalt nützen würde. Trotz all ihrer Vorzüge unterliegt amerikanische Science Fiction einer gewissen Gleichförmigkeit.
Diese Gleichförmigkeit lässt sich besonders gut aufzeigen, wenn man einen Blick ins Ausland wirft – nach Polen zum Beispiel, in die Heimat von Stanislaw Lem. Polnische
Science Fiction unterscheidet sich in einem interessanten Punkt von der amerikanischen: Sie ist politisch, und sie macht deutlich, wie lächerlich pubertär und politisch einfältig ein Großteil amerikanischer Science Fiction ist.
«Slipstream» verwischt die Genre-Grenzen
Wenn ein amerikanisches Raumschiff auf einem Planeten landet und mit anderen Wesen Verbindung aufnimmt,
kann man sicher sein, dass die Wesen auf dem Planeten monolithisch sind. Unterschiedliche Sprachen oder multikulturelle Probleme mit Minoritäten wird man da nicht vorfinden. In «Kolory Sztandarów» (Die Farbe der Standarten), einem polnischen Roman von Tomasz Kolodziejczak, hingegen wird eine Gesellschaft in einem Sonnensystem beschrieben, die zwischen zwei überlegenen
Zivilisationen – beide kommen von außen, beide sind auf unterschiedliche Art böse – gefangen ist und von ihnen bedroht wird. Es gibt aus dieser (den Polen sattsam vertrauten) Situation kein Entrinnen, es bietet sich keine glückliche Lösung.
Eine halbe Generation vor Kolodziejczak schrieb der polnische Physiker Janusz Zajdel einen Roman mit dem Titel «Limes inferior», der dem herkömmlichen anti-totalitären Roman einen bösen Dreh gab. Ich sage «herkömmlich», weil diese Form (von Orwells Roman «1984» übernommen, der wiederum von Zamjatins «Wir» beeinflusst war) nach wie vor ein Klischee amerikanischer Science Fiction ist: Der Held rebelliert gegen die reglementierte Gesellschaft und entflieht ihr, oft in Begleitung einer attraktiven, gleichgesinnten Frau, oder er zerstört das System und baut an seiner Stelle – was sonst? – eine Demokratie auf, oder er wird getötet oder aber zu einem gefügigen Rädchen im Getriebe der Gesellschaft gemacht.
Zajdels Roman hingegen zeigt, dass es in der Wirklichkeit Wahrheiten gibt, die zu bitter sind, als dass sie in einer so schlichten Fabel aufgehen könnten. Sein anti-totalitärer Held, ein Rebell, der aufgrund seiner Gewitztheit unabhängig vom System leben kann, erkennt schließlich, dass die Weltgesellschaft zu ihrem eigenen Wohl in eine Zwangsjacke gesteckt wurde. Die Menschheit ist in den Händen außerirdischer Eindringlinge dem Tode geweiht; die Außerirdischen erlauben der Regierung der Menschen, diese schreckliche Wahrheit zu verbergen und das Ende so schmerzlos wie möglich zu gestalten – so wie ein Arzt einem Todkranken den Schmerz der Verzweiflung zu ersparen versucht.
Ein amerikanischer Science-Fiction-Roman, der kein Happy-End hat, ist eine Seltenheit: Der Junge bekommt das Mädchen, Frieden wird hergestellt, das böse Regime wird zu Fall gebracht.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die Genre-Definitionen der Vergangenheit («Das ist Science Fiction», «das ist ein Mainstream-Buch») von einer neuen Generation von Schriftstellern und Lesern ignoriert werden. «Slipstream» ist der Begriff, der gern benutzt wird, um das Verwischen oder die Aufhebung von Genre-Grenzen zu beschreiben, oder auch «Magischer Realismus».
Philip K. Dick ist ein frühes Beispiel für «Slipstream». Seine Bücher erschienen meist als billige Paperbacks mit den traditionellen Science-Fiction-Umschlägen. Seine Geschichten handeln von Außerirdischen, von der Zukunft, von Raumfahrt und Zeitreisen – aber mit einem entscheidenden Unterschied. Dick machte etwas Neues: Er stellte die Wirklichkeit der Wirklichkeit in Frage. (Slavoj Zizek hat einen Artikel über den Film «Matrix» geschrieben und Dick in dieser postmodernen Diskussion erwähnt; man kann das im Internet lesen.)
Die Realität einer Welt, die man geschaffen hat, selbst in Frage zu stellen, heißt, auf sehr literarische Weise eine Grundregel von Science Fiction zu unterlaufen, nämlich die, dass die einmal gesetzten existenziellen Parameter absolut sind. Wenn eine Zeitreise auf Seite 6 drei Trillionen Megawatt verbraucht, darf man diesen Wert auf Seite 58 nicht ändern, ohne eine überzeugende Erklärung zu liefern. Wenn alles möglich ist, wenn die Wirklichkeit subjektiv ist, dann sind wir in einem Traum – oder die Raumschiffe und die tödlichen Strahlen sind nur Metaphern oder vielleicht Symbole im Sinne C. G. Jungs. Ein Science-Fiction-Leser würde den Umstand, dass Gregor eines Morgens in einen Käfer verwandelt aufwacht, nicht als Science Fiction deuten, es sei denn, Herr Samsa wäre am Tag zuvor, als er zufällig an dem Labor von Dr. Zarkov vorbeiging, einer Ladung Epsilon-Strahlen ausgesetzt gewesen.
Zeit seines Lebens wurde Philip K. Dick vorgeworfen, seine Bücher seien «eigenartig», aber man dachte nicht weiter über die Eigenart nach, da die fiktionale Ausstattung seiner Bücher dem traditionellen Science-Fiction-Repertoire entsprach. Einige Jahre nach seinem Tod ließ ihn die «New York Times Book Review» unerwartet wieder aufleben als einen «wirklichen Schriftsteller», also als Nicht-Science-Fiction-Autor.
Das Herz von Science Fiction schlägt links
Dick war einer der ersten Science-Fiction-Autoren, dessen Bücher erfolgreich verfilmt wurden. Die Kurzgeschichte «Erinnerungen en gros» lieferte den Stoff für den Film
«Total Recall» mit Arnold Schwarzenegger, «Träumen Roboter von elektrischen Schafen?» wurde als «Blade Runner» mit Harrison Ford verfilmt. Seit «Star Wars» und «2001 – Odyssee im Weltraum» ist es nicht mehr ungewöhnlich, wenn von zehn neuen Filmen, die in einer Saison in Umlauf kommen, mehr als die Hälfte Science-Fiction- oder Fantasy-Filme sind oder Elemente dieser Genres enthalten. Millionen von Menschen sind inzwischen vertraut mit den Tropen von Zeitreise, alternativer Wirklichkeit, mechanischer Intelligenz, ESP und Kontakt mit Außerirdischen. «The Day The Earth Stood Still» war 1951 ein Meisterwerk, doch gab es kaum andere Filme, die man ihm an die Seite stellen konnte.
In Amerika ist Science Fiction seit den fünfziger Jahren links orientiert, abgesehen von gelegentlichen spekulativen Ausflügen in den Faschismus, etwa bei Robert Heinlein. Der Feminismus spielte in der Science-
Fiction-Literatur eine starke Rolle, und zwar schon zehn Jahre, bevor er im akademischen Leben aufzutauchen begann – und dann zu einem nationalen Anliegen wurde. Das ist deswegen interessant, weil Science Fiction in den fünfziger Jahren fast ausschließlich eine Männerdomäne war.
Science Fiction bemühte sich, auch im Multikulturalismus und in der Schwulen- und Lesbenbewegung eine avantgardistische Rolle zu spielen. Vieles davon ist Pose:∈Männliche Autoren wählen eine weibliche Hauptfigur, heterosexuelle Autoren entscheiden sich für einen schwulen Protagonisten, weiße Autoren machen einen Chicano oder Asiaten zu ihrem Helden, nicht, weil sie eine innere Notwendigkeit verspürten, sondern einzig aus dem Wunsch, im
Sinne der political correctness avantgardistisch zu sein.
Es gibt nostalgische Reden vom Goldenen Zeitalter der Science Fiction und nostalgische Anthologien, die ihm gewidmet sind: den Werken etwa von Robert Heinlein oder James Blish. Doch kann es passieren, dass die Großen von damals nach heutigen Standards nicht bestehen können, wegen primitiver Sprache oder unreifer Thesen.
Es ist zu hoffen, dass eines Tages das System eines Kanons der großen Namen vorbei sein wird. Es ist zu hoffen, dass die Leser einige wunderbare neue – und nicht so neue – Schriftsteller entdecken und sich nicht darum kümmern werden, ob das, was diese Autoren schreiben, Science Fiction, Fantasy, Slipstream, Magischer Realismus oder nichts von alledem ist. Vielleicht gibt es in einem neuen Goldenen Science-Fiction-Zeitalter nicht einige wenige große Namen, sondern ein Meer von Namen, vielgestaltig, fluktuierend, ehrfurchtslos, non-konformistisch und sich unendlich vermehrend – wie Bakterien oder Rock-Gruppen. ||
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Amerikas Weltherrschaft über Science Fiction schwindet
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kultur
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2010-10-04T14:29:44+0200
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2010-10-04T14:29:44+0200
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https://www.cicero.de//kultur/ein-genre-und-seine-helden/47173
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Susanne Schröter im Gespräch mit Clemens Traub - Cicero Podcast Politik: „Die pro-palästinensischen Studenten blenden die Realität komplett aus“
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Die Ethnologin und Bestsellerautorin Susanne Schröter warnt im Cicero Podcast Politik vor der Hegemonie des Postkolonialismus an den Universitäten, der mit seiner anti-westlichen Ideologie den Nährboden des derzeit grassierenden israelbezogenen Antisemitismus bilde: „Ich hätte nie gedacht, dass diese postkoloniale Theorie mal so dominant werden wird, dass sie sozusagen unhinterfragt ist, und dass alleine Kritik daran schon komplett moralisch diskreditiert wird.“ Pro-palästinensische und israelfeindliche Studenten besetzten in den vergangenen Wochen immer wieder Universitäten. Die Folge sei ein Klima des Hasses und der Einschüchterung gegen Juden, so Schröter. Damit jüdische Studenten endlich wieder angstfrei ihre Hochschulen besuchen können, fordert sie vor allem auch von den Universitätspräsidenten ein entschiedenes Eintreten gegen Antisemitismus: „Ich erwarte von den Universitätsleitungen, dass sie ihr Hausrecht auch in Anspruch nehmen und dass sie dafür sorgen, dass jüdische Studenten ohne Angst und ohne Bedrohung ihr Studium weiterführen können.“ Das Gespräch wurde am 17. Mai 2024 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Clemens Traub
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Die Ethnologin Susanne Schröter spricht über die antisemitischen Proteste an den Universitäten und den Einfluss des Postkolonialismus auf die Geisteswissenschaft.
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"Podcast",
"Universität",
"Antisemitismus",
"Postkolonialismus",
"Eurovision Song Contest"
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2024-05-21T13:11:17+0200
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2024-05-21T13:11:17+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/susanne-schroeter-clemens-traub-podcast-antisemitische-Proteste-Universitaeten-ESC
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Merkwürdiges Trio – Das letzte Aufgebot des deutschen Liberalismus
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Die FDP stemmt sich gegen ihren Niedergang. Kämpferisch gaben
sich die Delegierten am Wochenende auf dem Bundesparteitag in
Karlsruhe. Artig feierten sie ihren Vorsitzenden Philipp Rösler mit
minutenlangem Applaus. Geschlossen verabschiedeten sie ein neues
Grundsatzprogramm. Selbstbewusst präsentierten sich die Liberalen
als letzte Partei der bürgerlichen Mitte. Dennoch konnte auch die
beste Parteitagsinszenierung nicht über die tatsächliche Lage der
FDP hinwegtäuschen. Der Parteitag der FDP war eine politische Pflichtübung, mehr
nicht. Mit ihren sogenannten „Karlsruher Freiheitsthesen“
demonstrierte die Partei eindrücklich, dass sie eben nicht nur im
Stimmungstief steckt, sondern in einer politischen Identitätskrise.
Die FDP präsentiert in ihrem neuen Grundsatzprogramm keine
politischen Ideen, keine programmatische Strategie, auf der sich
eine liberale Zukunft im 21. Jahrhundert aufbauen und auf der sich
die Wähler neu begeistern ließen. Klammheimlich haben sich die
Liberalen von ihrem Steuersenkungsmantra verabschieden. Stattdessen
versprechen sie nun Freiheit, Wachstum und Bürgerrechte. Der
liberale Wachstumsbegriff ist bieder; maßlos hingegen ist die
Feststellung, die FDP sei die „einzige Partei der Freiheit“ in
Deutschland. Wenig originell ist es, dass nach der CDU nun auch die
FDP auf Haushaltskonsolidierung setzt. Und in Sachen digitale
Bürgerrechte laufen die Liberalen längst den Piraten hinterher. Hinzu kommt: Philipp Rösler ist ein FDP-Vorsitzender auf Abruf.
Seine Tage als Vizekanzler und Wirtschaftsminister scheinen
gezählt. Wenig spricht derzeit dafür, dass es ihm gelingen könnte,
sich nach den beiden Landtagswahlen am 6. Mai in Schleswig-Holstein
und am 13. Mai in Nordrhein-Westfalen im Amt zu halten. Noch vor einem Jahr hatte
Rösler als neuer Hoffnungsträger der Liberalen die Nachfolge von
Guido Westerwelle angetreten. Doch mittlerweile zeigen auch die
Daumen seiner Parteifreunde nach unten. Genauso pflichtschuldig
diese ihrem Vorsitzenden in der Öffentlichkeit den Rücken stärken,
so selbstverständlich spekulieren sie hinter vorgehaltener Hand
bereits über dessen baldigen Abgang. [gallery:Die FDP im
Krisenwahlkampf: Von Daumen, Fröschen und Zerwürfnissen] Faktisch ist Philipp Rösler als FDP-Chef schon Geschichte.
Stattdessen wird es in den kommenden Wochen und Monaten von dem
Trio Rainer Brüderle, Wolfgang Kubicki und Christian Lindner
abhängen, ob es der FDP gelingt, 2013 noch einmal in den Bundestag
einzuziehen. Linder und Kubicki müssen zunächst Anfang Mai zeigen,
dass die FDP noch Wahlen gewinnen kann. Dem Fraktionsvorsitzenden
Brüderle wird wohl nach dem voraussichtlichen Sturz Röslers die
Aufgaben zufallen, als dessen Nachfolger die FDP
zusammenzuhalten. Ein merkwürdiges Trio ist da angetreten, um die FDP in die
politische Zukunft zu führen. Programmatisch verbindet sie wenig,
jeder der drei kämpf nur für sich selbst und auf eigene
Rechnung. Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie sich Lindner als
liberaler Heilsbinger feiern lässt Da ist zunächst Wolfgang Kubicki. Der 60-jährige Rechtsanwalt
präsentiert in Schleswig-Holstein seit Jahren seine politische
One-Man-Show, auf Parteifreunde und Parteiprogramm nimmt er dabei
keine Rücksicht. Munter profiliert er sich daheim im Norden auf
Kosten der Parteispitze. Schon Guido Westerwelle hatte er mit
seinen legendären Interviews fast im Alleingang aus dem Amt
getrieben und nun teilt er auch gegen dessen Nachfolger Rösler nach
Belieben aus. Auf dem Parteitag in Karlsruhe trat Kubicki sogar für
eine Reichensteuer ein, genauer gesagt für die Erhöhung des
Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent für Einkommen über 250.000 Euro.
Das klang mehr nach SPD als nach jener FDP, die noch im letzten
Bundestagswahlkampf mit der Parole „mehr Netto vom Brutto“
angetreten war. Am 6. Mai soll Kubicki den Grundstein für die liberale
Auferstehung legen. Das Fundament soll eine Woche später Christian
Lindner in Nordrhein-Westfalen gießen. Der 33-Jährige, der sein
ganzes Leben nichts anders gemacht hat als FDP, lässt sich im
Wahlkampf bereits als Retter seiner Partei feiern, als liberaler
Heilsbinger. Er stilisiert die Landtagswahl zur
Richtungsentscheidung über die Zukunft nicht nur
Nordrhein-Westfalens, sondern ganz Deutschlands. Von der Bundes-FDP
und der schwarz-gelben Bundesregierung setzt er sich, anders als
Kubicki, jedoch eher in leisen Tönen ab. Wie viel Schein und wie
viel politische Substanz in Christian Lindner steckt, wie viel
Selbstbewusstsein und wie viel Selbstüberschätzung sich hinter der
PR-Maske verbergen, lässt sich allerdings schwer sagen. [video:FDP:
Wahlkampf als Überlebenskampf] Seit 2009 war Lindner FDP-Generalsekretär, erst von Westerwelle
und anschließend von Rösler. Nachhaltige politische Akzente konnte
Lindner vor seinem überraschenden Rücktritt im Dezember 2011
allerdings kaum setzen. Für den Niedergang der FDP seit der
Bundestagswahl ist er eigentlich genauso verantwortlich. Doch nun
versucht er, sich an Rhein und Ruhr mit jugendlichem Elan als Vater
einer erneuerten FDP zu profilieren. Wenn Kubicki und Lindner ihr politisches Werk vollbracht haben,
wird anschließend in Berlin viel von Fraktionschef Rainer Brüderle
abhängen. Gefühlt war Brüderle in der FDP schon immer dabei, seit
vier Jahrzehnten ist er Mitglied der Partei, seit fast 20 Jahren
sitzt er im Bundesvorstand, seit zehn Jahren ist er
stellvertretender Parteichef. In Rheinland-Pfalz hat der 66-Jährige
zusammen mit CDU und SPD regiert, im Bund wurde er 2009
Wirtschaftsminister, musste aber im vergangenen Jahr nach einem
verlorenen Machtkampf dem neuen Parteichef Philipp Rösler und
seiner Boygroup weichen. Seite 3: Eine kalte Ego-Show, jugendliche
Selbstüberschätzung und launige Motivationsreden sind zu
wenig Brüderle ist sozusagen die lebende liberale Tradition in der
FDP. Nur, er steht für die Vergangenheit, nicht die Zukunft, für
den alten Mittelstand und nicht für neue Wählerschichten. Dass
ausgerechnet er noch einmal zum liberalen Hoffnungsträger
avancieren konnte, hätte er sich vor ein paar Monaten selbst nicht
träumen lassen. Auf dem Parteitag in Karlsruhe profilierte sich
Brüderle schon mal als liberaler Motivationskünstler. Selbst mit
billigen Witzen und einfachen rhetorischen Kniffen ließ er
Parteichef Rösler vor den Delegierten alt aussehen. Brüderle, Kubicki und Rösler – in drei Wochen wird es für das
Trio ernst. Entweder haben die Liberalen am Tag nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen wieder Mut gefasst oder es regiert das Chaos.
Entweder müssen die drei dann auf die Euphorie-Bremse treten oder
sie müssen die Erosion ihrer Partei sowie ein Auseinanderfallen der
schwarz-gelben Bundesregierung verhindern. Es mag sein, dass es Kubicki und Lindner gelingt, mit ihren
beiden politischen Solonummern den liberalen Tod noch einmal
abzuwenden. Es mag sein, dass die liberale Mitleidsnummer zieht. Es
mag sein, dass es in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen
genügend Wähler gibt, die der FDP eine letzte Chance gewähren
wollen. Es mag auch sein, dass Brüderle ein besserer
Parteivorsitzender ist als Rösler. Aber für eine politische Zukunft der FDP sind eine kalte
Ego-Show, jugendliche Selbstüberschätzung und launige
Motivationsreden zu wenig. Um die FDP in einen erfolgreichen
Bundestagswahlkampf zu führen und tatsächlich zu retten, wird dem
letzten Aufgebot des deutschen Liberalismus in den kommenden
Monaten mehr einfallen müssen. Und auch mehr ein uninspiriertes
Grundsatzprogramm. Wenn Kubicki und Lindner bei den beiden Landtagswahlen im Mai
scheitern, wenn die FDP in Schleswig-Holstein und vor allem in
Nordrhein-Westfalen unter die Fünf-Prozent-Marke stürzt, wäre es
aber selbst dafür zu spät.
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Philipp Rösler ist als FDP-Chef faktisch schon Geschichte. Stattdessen steht das Trio Rainer Brüderle, Christian Lindner und Wolfgang Kubicki an der Spitze des liberalen Überlebenskampfes. Doch jeder der drei kämpft nur für sich und spielt auf eigene Rechnung
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innenpolitik
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2012-04-23T11:29:09+0200
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2012-04-23T11:29:09+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/das-letzte-aufgebot-des-deutschen-liberalismus/49053
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UN-Untersuchungskommission zu Syrien - Zwischen Anspruch und Realität
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Carla Del Pontes Rücktritt als Mitglied der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für Syrien wird kontrovers diskutiert. Während einer Podiumsdiskussion am Rande des Filmfestivals in Locarno hatte Del Ponte Anfang August ihren Rücktritt bekannt gegeben und auch gleich mit den Vereinten Nationen abgerechnet. Die Kommission sei nutzlos und lächerlich. Nach fünf Jahren als Sonderermittlerin habe sie resigniert. Das Medienecho fiel unterschiedlich aus. Einerseits wurde Del Pontes persönlicher Frustration mit Verständnis begegnet. Allerdings zeuge die Begründung für ihren Rücktritt von einer erstaunlichen Naivität und Unkenntnis, hieß es. Es sei falsch, der Untersuchungskommission Tatenlosigkeit vorzuwerfen, bloß weil der blockierte UN-Sicherheitsrat kein Sondertribunal für die Kriegsverbrechen in Syrien einrichte. Vielmehr habe die Kommission in den vergangenen Jahren trotz widriger Rahmenbedingungen Informationen gesammelt, die für die Aufarbeitung des Krieges von großer Bedeutung seien. Andererseits wurde Del Pontes Kritik an den Vereinten Nationen geteilt. Die Berichte der Untersuchungskommission seien sinnlos, solange es kein Sondertribunal gebe, also einen vom Sicherheitsrat legitimierten Gerichtshof für die Kriegsverbrechen in Syrien. Del Pontes Rückzug führe vor Augen, wie sehr die UN in Syrien versagt hätten. Ist Del Pontes Rücktritt nun die Folge persönlicher Frustration oder ein wichtiges Zeichen, um auf die Untätigkeit der viel beschworenen internationalen Gemeinschaft aufmerksam zu machen? Immerhin hat der Krieg mehr als zehn Millionen Syrer in die Flucht getrieben und hunderttausende getötet. Die Antwort ist: Beides trifft zu. Der Rücktritt der 70-jährigen Schweizerin, die acht Jahre als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für die Kriegsverbrechen in Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda fungierte, weist Parallelen zu Kofi Annans Rücktritt als UN-Sonderbotschafter für Syrien im Jahr 2012 auf: Auch Annan übte damals scharfe Kritik am UN-Sicherheitsrat, dessen Unterstützung für seine Arbeit er als unzureichend bezeichnete. Die Untersuchungskommission wurde im August 2011 auf Initiative des UN-Menschenrechtsrats mit dem Auftrag gebildet, Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu untersuchen. Von eben jenem Menschenrechtsrat wurde auch die entsprechende Resolution verabschiedet. An dieser Stelle begannen die Probleme: Die Untersuchungskommission ist auf den UN-Sicherheitsrat angewiesen, wenn es darum geht, die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen der Justiz zuzuführen. Dazu wird es allerdings im Fall des Assad-Regimes schon deshalb nicht kommen, weil das verbündete Russland als Vetomacht jede entsprechende Resolution verhindern kann. Del Pontes Wahrnehmung, sie sei nicht mehr als eine „Alibi-Ermittlerin“, ist deshalb nachvollziehbar. Genauso nachvollziehbar ist die allzu menschliche Reaktion, aus einer gefühlten Ohnmacht heraus die Position der Sonderermittlerin nicht mehr besetzen zu wollen. Del Pontes Kritik an den UN-Institutionen und insbesondere dem UN-Sicherheitsrat verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Realität internationalen Rechts. Letzteres ächtet von Staaten ausgehende Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Doch in der Praxis ist das verhältnismäßig junge Rechtsgebiet oft nur so stark, wie die Staaten es zulassen. Ohne Konsens im Sicherheitsrat gibt es keine bindenden Entscheidungen. Und ohne bindende Entscheidungen folgen keine Konsequenzen. Belanglos ist das Völkerrecht samt der Vereinten Nationen deswegen jedoch nicht. In einer prinzipiell anarchischen Welt sind sie so etwas wie der unverzichtbare, kleinste gemeinsame Nenner. Die zahlreichen im Syrienkrieg involvierten Staaten versuchen vor allem ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Gerechtigkeit kann es im Rahmen dieses Machtpokers nur selten geben. Entsprechend führt die Sonderermittlerin in einer Kommission für die Untersuchung von Kriegsverbrechen stets einen Kampf gegen Windmühlen. Diesen Kampf hat Carla Del Ponte sechs Jahre lang erfolgreich ausgetragen. Einen Frieden wird es in Syrien in absehbarer Zeit nicht geben. Der Krieg ist zum Alltag geworden. Dennoch werden die Menschen in Syrien eines Tages vor der enormen Herausforderung stehen, die Gräueltaten aufzuarbeiten. Die dutzenden detaillierten Berichte der Untersuchungskommission können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, da sie chronologisch und umfassend Verbrechen dokumentieren, die angesichts des täglichen Leids schwer zu fassen sind. Sei es seitens des Assad-Regimes, der bewaffneten Opposition, islamistischer Gruppen, der Dschihadisten, kurdischer Milizen oder der USA. Del Pontes Rücktritt bedeutet nicht das Ende für die Kommission. Paulo Sérgio Pinheiro und Karen Koning AbuZayd, die zwei weiteren Personen an der Spitze, dankten ihr für ihre unermüdliche Arbeit, während UN-Generalsekretär António Guterres die Wichtigkeit sowie das Fortbestehen der Untersuchungskommission beschwor. Carla Del Ponte hat eine persönliche Entscheidung getroffen und diese öffentlichkeitswirksam in Locarno verkündet. Damit hat sie einerseits Aufmerksamkeit für einen präsenten und doch vergessenen Krieg erzeugt. Offen bleibt andererseits, ob ihre Kritik an dem fraglos reformbedürftigen System der Vereinten Nationen Früchte tragen kann.
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Lars Hauch
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Die Sonderermittlerin für Syrien, Carla Del Ponte, hat ihren Rücktritt aus der UN-Untersuchungskommission mit scharfer Kritik verbunden. Ohne Frage ist das System der Vereinten Nationen reformbedürftig. Doch ohne die UN-Berichte würden Kriegsverbrechen wohl nie aufgeklärt werden
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"Carla Del Ponte",
"Syrien",
"UN",
"Sicherheitsrat",
"Rücktritt",
"Kofi Annan"
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außenpolitik
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2017-08-10T12:06:13+0200
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2017-08-10T12:06:13+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/UN-Untersuchungskommission-zu-Syrien-zwischen-anspruch-und-realitaet
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EU Beitritt der Balkanländer - Zähe Prozedur
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Lange bevor Schloss Gymnich in den neunziger Jahren als Residenz der Kelly-Family zu Popularität gelangte, war es der Ursprungsort einer besonderen Art diskreter Diplomatie. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher lud 1974 europäische Amtskollegen zu einem Treffen auf die Wasserburg in der rheinländischen Erftaue ein. Sie sollten in idyllischer Umgebung und zwangloser Atmosphäre über politische Probleme der Zeit und mögliche Lösungsstrategien konferieren. Der Inhalt ihrer Gespräche blieb vertraulich, Journalisten war der Zutritt verwehrt. Genschers Idee erwies sich als nachhaltig und Gymnich-Treffen wurden zur Tradition. Jedes EU-Land richtet im Rahmen seiner halbjährlichen EU-Ratspräsidentschaft ein solches aus. Das Gymnich-Treffen, das in diesen Tagen in Sofia stattfand, war indes kein typisches. Bereits im Vorfeld wurde kommuniziert, worüber gesprochen werden sollte: Syrien, Nordkorea und den Westbalkan. Zwar lud auch Bulgariens Außenministerin Ekaterina Sacharieva ihre Kollegen in einen Palast, doch Sofias Nationaler Kulturpalast (NDK) hat so gar nichts gemein mit der Gymnicher Wasserburg. Er ist eine architektonische Megastruktur und ein Kulturdenkmal des Bulgariens der spätsozialistischen 1980er Jahre. „Es ist nicht intim, aber bequem, schön, sehr schön“, lobte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini den frisch renovierten, noch nach Farbe riechenden Konferenzsaal des NDK höflich. Statt sich zwanglos auszutauschen, mussten Europas Top-Diplomaten zähe protokollarische Prozeduren durchlaufen. Beim „Doorstep“ hatten sie den am NDK-Eingang in eisiger Kälte lauernden Journalisten kurze, meist belanglose „Statements“ in die Kameras zu sagen. „Was erwarten Sie vom heutigen Treffen?“. „Es ist ein Gymnich-Treffen. Ich erwarte, dass wir über die Themen Syrien, Nordkorea und Westbalkan sprechen werden“. Beim „Handshake“ standen sich Gastgeberin Ekaterina Sacharieva und Federica Mogherini über eine Stunde die Beine in den Bauch, um mit jedem Minister einmal in die Kamera gelächelt zu haben. Von einem Besuch in der kosovarischen Hauptstadt Pristina kommend, absolvierte Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) seinen Doorstep mit einstündiger Verspätung. Er äußerte sich besorgt über die Konfrontation zwischen der Türkei und den USA im Nordirak und forderte, die EU müsse „den politischen Prozess in Gang" bringen, um die militärische Eskalation zu stoppen. Die Frage zu seiner persönlichen Situation ließ er unbeantwortet. „Die Situation in Syrien wird immer schwieriger und dramatischer“, gestand EU-Außenbeauftragte Mogherini zu. Die EU sei bereit, Ressourcen für die Wiederherstellung des Landes und den demokratischen Übergang zu sichern. Am 24. und 25. April 2018 werde es eine weitere Syrien-Konferenz in Brüssel geben, kündigte sie an. „Aber alle Wege führen nach Genf.“ Es seien vor allem die Vereinten Nationen, die in dem Konflikt vermitteln müssten. Die Sanktionen gegen Nordkorea will die EU „trotz ermutigender Signale von den Olympischen Spielen“ nicht aufheben, so Mogherini. Zu einer der nächsten Ministerratssitzungen will sie Südkoreas Außenministerin Kang Kyung Hwa nach Brüssel einladen Der zweite Tag war dem Schwerpunkt Westbalkan gewidmet. Bundesaußenminister Gabriel und sein britischer Amtskollege Boris Johnson waren dann schon wieder weg. Dafür stießen die Außenminister von Albanien, Bosnien-Herzegovina, Mazedonien, Montenegro und Serbien dazu. Albaniens Außenminister Ditmir Bushati begrüßte die von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 6. Februar 2018 verkündete EU-Westbalkanstrategie. Sie nennt das Jahr 2025 als zeitlichen Horizont für eine mögliche EU-Erweiterung durch Westbalkanstaaten, definiert Schwerpunktbereiche für verstärkte Kooperationen und verspricht eine Erhöhung der finanziellen Beitrittsvorbereitungsunterstützung. „Ich würde mir genauere Informationen wünschen über die nächsten Schritte, die von den Beitrittskandidaten erwartet werden und über die Maßnahmen und Finanzinstrumente, die die Europäische Union anbieten kann“, sagte Minister Bushati. Montenegros Außenminister Srdjan Darmanovic erhofft sich für sein Land einen früheren EU-Beitrittstermin. „Wir glauben an das Regatta-Prinzip und daran, dass jedes Land an seinen Verdiensten gemessen werden sollte“, sagte er, 2025 sei ein Zeitrahmen, aber kein fixer Termin. Eine frühere EU-Erweiterung befürwortet auch sein ungarischer Kollegen Péter Szijjártó. „Serbien und Montenegro sind durchaus bereit, auch schon zum Jahr 2022 der EU beizutreten“, sagte er. Es war erwartet worden, die Außenminister Griechenlands und Mazedoniens, Nikos Kotsias und Nikola Dimitrov, würden am Rande des Gymnich-Treffens über den seit nunmehr 27 Jahren anhängigen Streit um den Staatsnamen Mazedonien sprechen. Dazu kam es nicht. Dennoch wird für die kommenden Tage erwartet, dass Griechenland einen Namensvorschlag unterbreiten wird, nachdem die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien (EJRM) bereits signalisiert hat, einen geographischen Zusatz zum Landesnamen Mazedonien akzeptieren zu können. Die Lösung des Namensstreits gilt als Voraussetzung für Mazedoniens Beitritt zur NATO und zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen. Noch im Rahmen der bis Ende Juni 2018 dauernden bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft könne der Namensstreit beigelegt werden, hofft EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Skeptischer ist er bezüglich der Beziehungen der EU zur Türkei; da gebe es „keine ausreichenden Signale für eine Wiederannäherung an die EU“. Deshalb sei es zu früh, um von Entspannung im Verhältnis zu Ankara zu sprechen. Nach wie vor seien die rechtsstaatliche Entwicklungen in der Türkei „nicht zufriedenstellend". Am 26. März 2018 wird es in der bulgarischen Schwarzmeerstadt Varna einen EU-Türkei-Gipfel geben. Während auf dem Gymnich-Treffen in Sofia die Integrationsperspektiven der EU-Beitrittskandidaten erörtert wurden, äußerte sich Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissov auf der Münchner Sicherheitskonferenz unzufrieden darüber, dass die EU-Integration seines Landes zehn Jahre nach seinem Beitritt noch immer unvollständig ist. „Nachdem wir seit Jahren alle Kriterien erfüllt haben, wird es Zeit für die Aufnahme unseres Landes in den Schengener Raum und die Eurozone“, sagte er. Bayerns designierter Ministerpräsident Markus Söder hat sich beim politischen Aschermittwoch indes explizit gegen eine Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die Eurozone ausgesprochen.
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Frank Stier
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Das Gymnich-Treffen hat eine lange diplomatische Tradition. Dieses Jahr fand es in Sofia statt. Im Mittelpunkt stand die mögliche Erweiterung der EU um die Länder des Westbalkans. Doch große Fortschritte gab es nicht. Der Name eines Staates sorgt immer noch für Streit
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"Gymnich Treffen",
"EU Beitritt",
"Westbalkan",
"Mazedonien",
"Sigmar Gabriel"
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außenpolitik
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2018-02-16T18:17:45+0100
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2018-02-16T18:17:45+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/eu-beitritt-westbalkan-mazedonien-sigmar-gabriel
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Fridays for Future - „Es ist krass hart, zuversichtlich zu bleiben“
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Pünktlich zum Beginn der Mahnwache am Platz des 18. März klart der Himmel über Berlin auf. Die Menschen, die es an diesem Freitag zum globalen Klimastreik von Fridays for Future auf die Straße treibt, fühlen sich trotzdem im Regen stehen gelassen. Nach wie vor ist ihr Ziel eine Politik, die die globale Erwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius begrenzt. Es ist das erste Mal seit Ausbruch der Corona-Pandemie, dass die Bewegung wieder analog demonstriert – mit Masken und Hygieneabständen. Es sind die üblichen Verdächtigen: Schülerinnen und Schüler, „Omas gegen rechts“, Eltern, die mit ihren Kindern und für ihre Kinder auf die Straße gehen, Punks sowie Ökos in Multifunktionsjacke. Doch ist mit dem ersten globalen Klimastreik wirklich alles wieder so wie vor der Pandemie? Oder haben die vergangenen Monate die Fridays for Future-Bewegung verändert? Hannah steht alleine da. Sie hat gerade Abi gemacht. Blonder Zopf, ein Rucksack auf den Schultern. Auf einer weißen Markierung auf dem Asphalt, die die Mindestabstände sichern soll, wippt sie im Takt der Musik, mit der die Organisatoren des Berliner Klimastreiks Stimmung machen wollen. Als alle Protestierenden gleichzeitig einen Schlachtruf brüllen, hält sie ihr Handy in die Luft und filmt. „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“ Ob sie mitsingt, ist nur schwer erkennbar – wie alle anderen Teilnehmer trägt auch sie eine Maske. Der Mund-Nasen-Schutz verhindert Infektionen, wirklich ansteckend ist nun allerdings auch die Stimmung nicht mehr. Hannah wollte eigentlich mit ihren Freunden kommen. Doch weil die Sorge vor einer möglichen Ansteckung noch groß ist, sind die lieber zuhause geblieben. Sie verfolgen den Klimastreik online, Hannah schickt ihnen fleißig Videos. Auch nach dem Ende strenger Kontaktbeschränkungen findet der Protest noch immer zumindest teilweise im digitalen Raum statt. Das zeigt sich auch auf der Straße: Nahmen im vergangenen Jahr noch Hunderttausende am Berliner Klimastreik teil, waren für die Veranstaltung am Brandenburger Tor an diesem Freitag nur noch 10.000 Leute angemeldet, jeweils 4.000 nahmen an zwei Fahrraddemos teil, die zeitgleich stattfanden. Für Hannah ist es trotzdem wichtig, auf die Straße zu gehen, wenn auch ohne Begleitung: „Wir müssen alles geben, um an das anzuknüpfen, was wir im letzten Jahr geschafft haben. Natürlich hat Corona bei vielen die Prioritäten verschoben, das ist ja klar. Aber der Klimawandel ist nicht weniger bedrohlich.“ Die Fridays for Future Bewegung steht vor einer neuen Herausforderung, sie muss zwei Krisen miteinander verknüpfen. Die Pandemie und der Rattenschwanz, den sie nach sich zieht, versetzt nicht wenige in existenzielle Ängste, während der Klimawandel und dessen Konsequenzen für viele noch in weiter Ferne scheint. Erfordert die Corona-Krise also einen Strategiewechsel für Fridays for Future? Moritz und seine Freunde, allesamt Studenten an der Freien Universität Berlin, finden schon. Für sie geht es jetzt mehr denn je darum, aufzuzeigen, wie schnell es zu spät sein kann. Die Erfahrungen aus der Pandemie könnten dabei helfen, hoffen sie. Auf ihren Schildern steht „Treat every crisis as a crisis“ und „Klimawandel – so akut wie Corona“. Die vergangenen Monate hätten vor allem gezeigt, was möglich ist, wenn der Wille da ist. „Corona und der Klimawandel sind gar nicht so unterschiedlich, und trotzdem reagieren wir nur bei einem Problem“, sagt einer, während er sein Pappschild repariert. „Ja genau“, pflichtet sein Kommilitone ihm bei. „Das Virus hat zuerst die getroffen, die eh schon sozial schwach sind. Das ist bei der Klimakrise nicht anders. Wir verursachen die zwar, kriegen aber als letzte die Konsequenzen zu spüren. Eigentlich sollten wir aus den letzten Monaten lernen und es jetzt besser machen.“ Einer bindet noch seine Schnürsenkel, dann müssen sie los. „AnnenMayKantereit spielt gleich auf der Hauptbühne.“ Die Kölner Band ist jedoch nicht der einzige Star des späten Vormittags, auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer tritt auf. Sie trägt eine Maske mit dem Motto der Bewegung: „Kein Grad weiter.“ Neubauer wirkt gestresst. Auf kritische Fragen von Journalisten reagiert sie schnippisch. Der Medienrummel hat sie dünnhäutig gemacht. Auch das ist eine Erfahrung der vergangenen Monate. Die Bewegung hat pausiert, aber für Luisa Neubauer ging der Rummel weiter. Hier eine Talkshow, dort ein Interview. In Zeiten des Lockdowns wurden die sozialen Netzwerke für viele Klimaaktivisten zur Bühne. Über 171 000 Instagram-Follower sitzen bei Neubauer in der ersten Reihe. Ihre Ansprache in Berlin ist rhetorisch einwandfrei, sie wimmelt nur so von Anaphern und Analogien, eine Klimax jagt die nächste – der Applaus zum Schluss fällt allerdings verhältnismäßig bescheiden aus. Auf einen Satz können sich, der Lautstärke nach zu urteilen, jedoch alle Teilnehmer einigen: „Es ist krass hart, zuversichtlich zu bleiben in dieser 1,3 Grad wärmeren Welt.“ Fridays for Future ist an diesem Freitag leiser, aber nicht weniger entschlossen. Die Bewegung hat Federn gelassen, doch das ist kein Wunder: Schulstreik ohne Schule, Demo ohne Massen, eine andere Krise dominiert die Debatte – den Aktivisten fehlte in den vergangenen Monaten jegliche Grundlage. „Corona hat natürlich alles verändert, kann man sagen. Das ist auch für eine Protestbewegung, die vor allem Massen auf der Straße organisiert, plötzlich eine ganz andere Situation“, sagt Neubauer dem Cicero. Die Radikalität der Bundesregierung im Umgang mit der Pandemie stelle jedoch keine höheren Erwartungen an die Klimapolitik: „Wir fordern eine Umsetzung von Paris, das ist unveränderbar.“ Der Appell an die Bundesregierung: Zur Bundestagswahl 2021 sollten alle „demokratischen Parteien“ einen „1,5 Grad-Plan“ haben. Der Tenor ist derselbe wie noch vor einem halben Jahr, und doch scheint es, als hätten die Ereignisse der vergangenen Monate neue Schwerpunkte gesetzt. Auf der Agenda steht nicht mehr „nur“ das Klima, es geht viel um soziale Ungerechtigkeit und Rassismus. Auch an Fridays for Future sei der Tod von George Floyd nicht spurlos vorbei gegangen, man habe als politische Bewegung jedoch viel zu spät reagiert, räumt ein Sprecher ein. Die Klimakrise treffe – global gesehen – vor allem diejenigen, die am wenigsten dafür verantwortlich seien, auch das sei Rassismus. Dieser Freitag hat gezeigt, dass die Bewegung dazu gelernt hat. Man könnte sogar sagen, sie ist erwachsener geworden. Dieses Jahr hat einmal mehr verdeutlicht, dass alles mit allem zusammenhängt, das Bühnenprogramm des ersten Klimastreiks seit der Pandemie spiegelt das wieder. Nach Klimaaktivisten, Rassismus-Experten und Wissenschaftlern kommt auch eine Krankenpflegerin zu Wort. Ihre Botschaft: „Nur eine gute Klima- und Sozialpolitik sorgen dafür, dass ich irgendwann weniger zu tun habe.“
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Johanna Jürgens
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Nach monatelangen Onlineprotesten hat Fridays for Future den Klimastreik auf der Straße fortgesetzt. Die Bewegung ist jetzt leiser, aber nicht weniger entschlossen. Mit Luisa Neubauer hat sie eine Galionsfigur, die weiß, wie man die Medien bedienen muss. Aber wo wollen die Aktivisten jetzt hin?
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"Fridays for future",
"Klimawandel",
"Klimastreik"
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innenpolitik
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2020-09-25T17:15:54+0200
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2020-09-25T17:15:54+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/fridays-for-future-klimastreik-berlin-corona-klimawandel-luise-neubauer
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Gute Chancen für den „Brücken-Lockdown“ - Rückendeckung von der Kanzlerin
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Die Meldung ist erwartbar gewesen: Auch wenn zahlreiche Ministerpräsidenten Armin Laschets Vorschlag eines sogenannten „Brücken-Lockdowns“ skeptisch gegenüberstehen, so erhielt der CDU-Vorsitzende nun Rückendeckung von der Kanzlerin. Auf die Frage, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Laschets Vorschlag bewerte, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Mittwoch in Berlin, es gebe im Moment bei den Corona-Neuinfektionen keine gute Datenbasis, die Zahl der belegten Intensivbetten spreche aber eine sehr deutliche Sprache. Mag die Inzidenz also auch rückläufig sein und die Todeszahlen im niedrigen Bereich stabil, Merkel ist weiterhin für ein erneutes deutliches Herunterfahren des öffentlichen Lebens in Deutschland. Jede Forderung nach einem kurzen einheitlichen Lockdown sei richtig, so ihre Sprecherin Demmer, die zudem für ein bundeseinheitliches Vorgehen plädierte. Zum genaueren Prozedere äußerte sich Merkels Sprecherin indes nicht. Sie sehe derzeit aber keine erkennbare Mehrheit dafür, die Bund-Länder-Runde, wie von Laschet gefordert, vorzuziehen. Die nächsten Beratungen der Kanzlerin mit den Länderchefs sind für Montag geplant. Unterdessen verteidigte auch Laschet seinen Vorschlag für einen «Brücken-Lockdown» und forderte Kritiker wie Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und die SPD-Ministerpräsidenten auf, ihre eigenen Ideen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorzulegen. dpa / Ralf Hanselle
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Cicero-Redaktion
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Zahlreiche Ministerpräsidenten stehen Armin Laschets Vorschlag zu einem „Brücken-Lockdown“ skeptisch gegenüber. Doch jetzt bekommt er Rückendeckung von der Kanzlerin, und ein neuer Lockdown ist wieder zum Greifen nah.
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"Armin Laschet",
"Lockdown",
"Corona",
"Schließung"
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innenpolitik
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2021-04-07T14:53:43+0200
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2021-04-07T14:53:43+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/laschet-bruecken-lockdown-kanzlerin-merkel-corona-virus-schliessungen
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Leitkultur - Die Verfassung darf nicht über der Religion stehen
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In jüngster Zeit wird wieder inflationär nach der Grundgesetztauglichkeit der Muslime gefragt. Politiker wie Julia Klöckner, Cem Özdemir, Volker Beck und Horst Seehofer, aber auch einzelne Vertreter von Islamverbänden fordern, „Muslime nicht in Watte zu packen“. Immer wieder diskutieren wir, was Muslime alles aufgeben müssen. Aber nie reden wir darüber, was Muslime der Gesellschaft geben können. Sie sollen sich vielmehr einer Leitkultur einfügen. Diese Forderung ist ein Symptom dafür, mit dem Pluralismus der Lebensformen in einer offenen Gesellschaft, von der ununterbrochen die Rede ist, ganz einfach überfordert zu sein. Von Willkommenskultur erfüllte Menschenfreunde reden unumwunden wie Hausmeister, die für Ruhe und Ordnung zuständig sind, für Regeln und Gebote. Im deutschen Hause kann nicht jeder machen, was er will, sagen sie. Die Leitkultur ist ein Mittel, jeden an die Leine zu nehmen und fürsorglich in „unsere“ Wertegemeinschaft zu integrieren. Leitkultur, Wertegemeinschaft und Integration sind völlig beliebige Vorstellungen. Sie müssen mit Inhalten gefüllt werden. Alle gesellschaftlichen Kräfte bemühen sich darum, wollen ihnen Verbindlichkeit verschaffen. Das Ziel ist die Homogenisierung der Gesinnungen in der Wertegemeinschaft als Religions- und Kirchenersatz. Diese „Glaubensgemeinschaft“ hat das Grundgesetz längst zum Heiligen Buch erhoben. Es dient dazu, die freiheitlich-rechtliche Grundordnung der profanen Welt zu entrücken und sie zu sakralisieren. Eifersüchtig sind die Apostel dieser innerweltlichen Erlösungslehre als Fundamentalisten darauf bedacht, dass kein anderes Heiliges Buch über diesem Fundament ihre Glaubens stehen dürfe. Sie verwischen damit die säuberliche Trennung zweier Sphären und Rechtsgebiete. Die freie Kirche im freien Staat gehörte zum liberalen Rechtsstaat, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelte. Selbstverständlich blieb das für den Christen höchste Gebot unangetastet, unter Umständen Gott mehr gehorchen zu müssen als dem irdischen Gesetzgeber. Klassische Liberale waren sich noch bewusst, dass die Mächte, die das sittliche Leben bestimmen, der göttliche Geist und der individuelle Menschengeist, außerhalb des Staatsbereiches sind. Überschreiten der Staat sowie gesellschaftliche Gruppen und Parteien die ihnen gesetzten Schranken, schaden sie mit solchen Übergriffen sich und der Sittlichkeit. Eine Verfassung legt den äußeren Rahmen fest, in dem sich das Zusammenleben entfalten kann. Was der Einzelne über die Verfassung denkt, ob er sie überhaupt liest, geht keinen etwas an. Diese Gleichgültigkeit gilt den Anhängern des Verfassungskultes mittlerweile als Frevel verstockter Irrgläubiger. Deshalb machen sich zunehmend Bemühungen bemerkbar, Gesinnungen und nicht Handlungen zu kontrollieren. Dazu verleitet auch die Ideologie der one world und des ihr gemäßen überall gleichen Menschen. Sie fordert die Normierung und die Reduzierung der verwirrenden Vielfalt auf eine monotone Einfalt. Darüber gerät die Freiheit mit ihren mannigfachen Ausdruckformen in erhebliche Bedrängnis. Zu ihr gehört unbedingt die Freiheit der Religion, mit der die Geschichte der bürgerlichen Freiheit begann. Die Religion ist Privatsache, aber zugleich bedarf sie des öffentlichen Raumes, um in aller Freiheit dort gelebt werden zu können. Ein Bekenntnis in den eigenen vier Wänden hat nichts mit Freiheit zu tun. Das muss eine Öffentlichkeit aushalten, die sich übrigens die Freiheit nimmt, Bekenntnisse nicht zu tolerieren, sondern sie verächtlich zu machen. Eine Öffentlichkeit, die übrigens sehr genau aufpasst, ihre sogenannte Wertegemeinschaft vor Spott oder Verunglimpfung zu schützen. Mit dem Grundgesetz als Heiligem Buch darf kein Schabernack getrieben werden, wie mit der Bibel oder dem Koran. Die immer gröber und geschmackloser werdende Unduldsamkeit gilt mittlerweile jeder Religion. Der Glaube der Christen oder Muslime wird in gleicher Weise als lästige Herausforderung empfunden, weil er im Widerspruch zur „Aufklärung“ steht. Dabei gibt es die Aufklärung genauso wenig wie das Christentum oder den Islam, auch sie zerfällt in unterschiedlich nuancierte Richtungen. Außerdem gibt es die fast in Vergessenheit geratene Dialektik der Aufklärung, das Bündnis im Namen der Freiheit mit dem mörderischen Schrecken während der Französischen Revolution. Der Terror ist nicht steinzeitlich oder mittelalterlich, sondern ganz modern. Die Dinge zu verstehen, heißt, sie zu komplizieren. Es genügt, die einwandernden Muslime mit dem bürgerlichen Recht vertraut zu machen und ihnen die Gelegenheit zu geben, sich zu Staatsbürgern zu bilden. Mehr wird in einem Rechtsstaat auch von keinem Christen verlangt. Mehr darf gar nicht verlangt werden. Vom Islam geht keine besondere Gefahr aus, höchstens von vereinzelten Islamisten. Der Rechtsstaat erhält und schützt sich durch das Recht. Will er sich aber zur Wertegemeinschaft überhöhen, dann erkennt er über dem Recht höhere, heilige Mächte an, eben die Werte, die dann die Rechte aushöhlen, vor allem im Namen der Sicherheit die Freiheitsrechte. Nicht von den Religionen gehen für die Rechtsordnung Gefahren aus, sondern von Wertsetzern, die als radikale Fundamentalisten ihren Werten absolute, höchste Geltung verschaffen wollen.
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Eren Güvercin
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Eren Güvercin und Eberhard Straub warnen davor, Verfassungswerte zu überhöhen und über die Religion zu stellen. Aus ihrer Sicht gibt es sogar eine radikale „Glaubensgemeinschaft“, die das Grundgesetz zum Heiligen Buch erhebt. Dadurch sei die Freiheit bedroht. Eine Replik auf den Beitrag von Necla Kelek zur Leitkultur
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innenpolitik
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2015-12-02T11:15:35+0100
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2015-12-02T11:15:35+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/verfassungspatriotismus-islam-leitkultur-religion-es-gibt-auch-fundamentalisten-einer-wertegemeinschaft
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Politik und Wahrheit - Willkommen in der postfaktischen Welt
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Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das hat nicht irgendwer gesagt, sondern die Kanzlerin Angela Merkel. Genauso hat sie es gesagt. Das ist ein Fakt. Wir konnten es alle sehen in der Bundespressekonferenz. Der Begriff „postfaktisch“ aber waberte schon vorher durch Zeitungen, Radio und Fernsehen. Die Kanzlerin selbst hatte es auf dem Rückflug vom G-20-Gipfel in China von Journalisten aufgeschnappt. Das Wort müsse sie erst einmal in ihren Wortschatz aufnehmen, sagte sie, so jedenfalls stand‘s im Spiegel. Ist das jetzt ein Fakt? Dazu später mehr. Fakt ist aber, dass „postfaktisch“ das „Wort des Jahres“ ist, ja, vielleicht wird es sogar einmal die Ära der Kanzlerschaft Angela Merkels definieren. Reingefallen. Das war jetzt natürlich Spekulation, mehr so ein Gefühl. Aber genau darum geht’s ja in der postfaktischen Welt, um die Vermischung von Tatsachen mit Gefühlen und Spekulationen und was dabei herauskommt. Ganz neu ist das alles nicht. Schon Friedrich Nietzsche sagte, dass es keine Fakten gebe, nur Interpretationen. Diesen Gedanken griffen postmodernistische und relativistische Denker auf, um zu argumentieren, dass jede Version eines Ereignisses eine eigene Realität habe, dass Unwahrheiten „eine alternative Sichtweise“ darstellten, weil sowieso alles relativ sei. In den vergangenen 30 Jahren sickerte dieses Denken durch in die Medien, in die Gesellschaft und in die Politik. In den achtziger Jahren prägte der US-Amerikaner Lee Atwater den Satz „perception is reality“, Realität sei das, was man empfinde. Atwater arbeitete als Wahlkampfmanager für Ronald Reagan und George Bush Senior. Er galt als skrupellos – und erfolgreich. Bei der Präsidentschaftswahl 1988 gelang es Atwater für Bush, einen Rückstand von 17 Prozent auf den demokratischen Kandidaten Michael Dukakis wettzumachen und die Wahl zu gewinnen. Vor Schmutzkampagnen und gefälschten Umfragergebnissen schreckte er nicht zurück, Fakten interessierten ihn nicht. Denn indem er die Gefühle der Wähler beeinflusste, würde er die Fakten eben schaffen. Wenn Menschen an etwas glauben, ist es dann noch wichtig, dass dieses etwas wahr ist? Dass aber gerade jetzt alle von postfaktischen Zeiten reden, hat vor allem mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump zu tun, und dem auch in Deutschland beliebten Satiriker John Oliver. Letzterer zeigte während des Wahlkampfes in seiner Show den Ausschnitt eines Interviews, das eine CNN-Reporterin beim Parteitag der Republikaner mit Newt Gingrich geführt hatte. Gingrich ist ein hohes Tier in der Partei, in den neunziger Jahren organisierte er als Fraktionschef den Aufstand gegen den Demokraten Bill Clinton. Die Reporterin legte Gingrich eine Statistik vor, die aufzeigt, dass die Kriminalität in den letzten Jahren stark gesunken ist. Das bedeute gar nichts, konterte Gingrich, die Linken würden für alles irgendeine Statistik haben. Die Statistik stamme aber vom FBI, es handle sich um offizielle Fakten, entgegnete wiederum die Moderatorin. Jetzt kommt der entscheidende Moment. Es möge ja sein, dass dies Fakten seien, sagte Gingrich, er jedoch verlasse sich auf das Gefühl der Menschen. Und dieses Gefühl sage ihm, dass die Verbrechen zugenommen hätten. Das sei genauso viel wert wie Fakten. Unseren eigenen Gingrich-Moment erlebten wir im Vorfeld der Berlin-Wahlen. In der Elefanten-Runde im RBB-Fernsehen wurde AfD-Spitzenkandidat Georg Pazderski mit den Kriminalitätsstatistiken des Bundesinnenministeriums konfrontiert, die nahelegen, dass Ausländer nur unwesentlich mehr Straftaten begehen als die deutsche Bevölkerung. Aber Pazderski ließ sich von Zahlen nicht beeindrucken. Es gehe eben „nicht nur um die reine Statistik, sondern darum, was der Bürger empfindet“, sagte er. Das ist die neue Dimension, die wir auch erleben, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin im Fernsehen sagt, dass keine russischen Soldaten in der Ukraine seien, obwohl wir auf anderen Bildern russische Soldaten in der Ukraine sehen. Wir erleben es, wenn Michael Gove von der britischen Brexit-Kampagne sagt, die Leute hätten die Schnauze voll von Experten und wir erleben es vor allem bei Donald Trump, der Fiktion und Realität in seinen Reden geradezu beliebig vermischt. Schaut her, scheint er zu sagen, ich bin genauso, wie ihr immer geglaubt hat, dass Politiker sind. Ich bin ein Behaupter, ein Wortverdreher, ein Lügner. Trump ist ehrlich unehrlich.Lügen und Interpretationen der Wahrheit gehören zur Politik seit jeher dazu. Es ist die demonstrative Schamlosigkeit, mit der Politiker wie Trump auftreten, die neu ist. Sie lügen nicht nur, die Wahrheit ist ihnen auch egal. Wie kommt das, und warum passiert es gerade jetzt? Es scheint – Achtung, jetzt wird wieder spekuliert – mit der Entwicklung der Technologie und der globalen Ökonomie zu tun zu haben, wie das Granta Magazin argumentiert. Noch im Kalten Krieg war die Wahrheit unheimlich wichtig. Kommunisten und Kapitalisten setzten auf Fakten, um zu belegen, dass ihre Ideologie die richtige ist. Beide Seiten fälschten ihre Bilanzen, vor allem die Kommunisten, aber wenn sie dabei erwischt wurden, waren sie zutiefst verärgert. Und am Ende verloren die Kommunisten, weil ihnen niemand mehr glaubte. Beide Seiten versuchten aber, jedenfalls offiziell, eine Art rationalen Fortschritt nachzuweisen, und dazu benutzten sie Ideologie, Geschichte und Fakten. Dann kamen die neunziger Jahre, und es gab nichts mehr zu beweisen. Die Fakten wurden von der politischen Geschichte, die es zu erzählen gab, getrennt. Die neuen Herren der Politik waren PR-Berater, Spin-Doctors wie Joe Lockhart unter Bill Clinton in den USA, Alastair Campbell in Großbritannien unter Tony Blair und Uwe-Karsten Heye, Bodo Hombach und Matthias Machnig als Mitglieder der „Kampa“ unter Gerhard Schröder. In Russland entstand eine Art „virtuelle Politik“, in der es künstliche Parteien und künstliche Nachrichten gab. Dennoch versuchten die Spin-Doctors immer noch, zumindest eine Illusion der Wahrheit zu erzeugen. Paradoxerweise hat das Informationszeitalter den Trend noch verstärkt. Obwohl so genannte Fakten-Checks in allen Medien hoch im Kurs stehen, und jedes Provinzblatt mittlerweile einen Datenjournalisten engagiert hat, verbreiten sich Lügen im Internet wie digitale Waldbrände. Sobald ein Faktenchecker eine Lüge ausfindig macht, entstehen gleichzeitig tausend neue. Durch das schiere Volumen dieser Informationskaskaden verbreiten sich die Unwahrheiten in Windeseile. Alles was zählt, ist, dass die Lüge klickbar ist. Das wird wiederum durch die Vorurteile der Menschen bestimmt. Google und Facebook haben Algorithmen entwickelt, die sich nach den bisherigen Suchanfragen und Klicks der Menschen richten. Und die sozialen Netzwerke, für viele bereits die wichtigste Nachrichtenquelle, führen uns in Echokammern der Gleichgesinnten, in denen wir nur Dinge zu hören bekommen, die unsere Sicht der Dinge bestätigen, egal ob sie wahr oder falsch sind. Natürlich sind wir Journalisten nicht ganz unschuldig daran. „Da brauchen wir noch eine Studie“, in jeder Redaktion ist dieser Satz bekannt. Irgendeine wird sich schon finden lassen, die unser jeweiliges Argument bestätigt. Und dass diese Studie wiederum untersucht wird, ob sie auch wirklich relevant und empirisch korrekt ist, kommt selten vor. Auch beschränkt sich die Entwicklung nicht auf Kräfte der rechten Politikseite. Ohne länger darauf einzugehen, gibt es auch bei „linken“ Themen wie Gentechnik, Atomkraft und den immer alarmierenderen Armutsberichten starke Tendenzen, die Fakten zu ignorieren oder zu verdrehen. Zur Technologisierung kommt die generelle Desorientierung in einer immer globaleren Welt. Wenn die Fakten aussagen, dass es keine ökonomische Zukunft gibt, wer will diese Fakten schon hören? Wenn die Regierung die Kontrolle verloren zu haben scheint, warum soll man dieser Regierung vertrauen? Kein Wunder also, das die postfaktische Welt, oft eine nostalgische Welt der Vergangenheit ist. Deswegen lässt Putin die Menschen von einem restaurierten Russischen Reich träumen, deswegen verspricht Trump, Amerika „great again“ zu machen, deswegen nähren die Brexiteers die Sehnsucht nach einem „verlorenen England“ und deswegen glorifizieren die ISIS-Videos ein mythisches Kalifat. „Das 21. Jahrhundert ist nicht geprägt von der Suche nach Neuheit“, schreibt die russisch-amerikanische Philologin Svetlana Boym, „sondern von der Ausbreitung der Nostalgie. Die gibt das kritische Denken zu Gunsten einer emotionalen Verbundenheit auf. In extremen Fällen entsteht daraus eine Phantomheimat, für die man bereit ist, zu sterben und zu töten.“ Keine Frage, eine postfaktische Welt kann auch befreiend sein. Es hat etwas von jugendlicher Euphorie, die Fakten, diese schweren Symbole der Erziehung und der Autorität, von sich abzuschütteln, es ist rebellisch. Nicht umsonst nannte die rechtskonservative Kolumnistin Ann Coulter die Trump-Bewegung voller Enthusiasmus eine „Rebellion des Volkes gegen das Establishment“. Dagegen an die Wahrheit zu appellieren wirkt langweilig, von gestern, fast altväterlich. Nachprüfen, hinterfragen, herausfinden, das ist oft harte Arbeit und selten sexy. Doch genau darum geht es in der Aufklärung, das meint Immanuel Kant mit seinem „sapere aude“. Eine postfaktische Welt ist kein Fortschritt, sondern eine Rückkehr in dunkle Zeiten, wie hell sie auch im nostalgisch verbrämten Licht erscheinen mögen. Eine Version dieses Textes erschien bereits im September auf Cicero Online. Aus aktuellem Anlass haben wir ihn aktualisiert und erneut veröffentlicht.
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Constantin Wißmann
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Das Wort „postfaktisch“ wurde zum „Wort des Jahres“ gewählt. Damit wird die Praxis beschrieben, Gefühlen und Spekulationen mehr zu glauben als Tatsachen. Das ist verführerisch. Aber vor allem gefährlich
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"postfaktisch",
"Angela Merkel",
"Wahrheit",
"Donald Trump"
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kultur
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2016-09-23T13:21:20+0200
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2016-09-23T13:21:20+0200
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https://www.cicero.de/kultur/politik-und-wahrheit-willkommen-in-der-postfaktischen-welt
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Die US-Republikaner nach Trump - Zwischen Clown-Show und Arbeiterpartei
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Oren Cass sagt, was man von Sozialdemokraten alter Schule erwartet. „Die Politik muss Kompromisse machen, um die nationale Industrie zu beschützen. Dabei wird uns die Wirtschaftswissenschaft nicht immer helfen.“ Denn letztere könne nicht langfristig denken. Viele Ökonomen seien nur auf Effizienz erpicht, nicht jedoch auf wahren Wohlstand, der den Arbeitern ein stabiles Leben ermögliche. Darum sei es auch an der Zeit, die Dogmen neoliberaler Granden wie Friedrich Hayek und Milton Friedman zu überdenken. Im Konferenzraum des Hilton-Hotels in Alexandria, einem wohlhabenden Vorort von Washington DC, kamen diese Aussagen von Cass sehr gut an. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn Cass sprach dort auf einer Konferenz des konservativen Intercollegiate Studies Institute (ISI), die vom 23. bis 24. Juli die „Zukunft der amerikanischen politischen Ökonomie“ beleuchtet hat. Das ISI wurde 1953 gegründet, um als intellektuelles Gegengewicht zum dominanten New Deal zu fungieren. Der New Deal, so die damals aufstrebende konservative Bewegung, hätte den Staat zu sehr ermächtigt und dafür die Eigenverantwortung des Individuums herabgesetzt. Cass selbst war 2012 Wahlkampfberater des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney, der die Wahl gegen Barack Obama auch deswegen klar verlor, weil Romney als ökonomisch kaltherziger und mit Staatsausgaben knauserig umgehender Neoliberaler galt. Dem Image arbeitete Romney kaum entgegen. Während einer Debatte mit Obama, die vom öffentlich finanzierten Fernsehsender PBS ausgestrahlt wurde, erklärte er, dass PBS der Geldhahn abgedreht werden müsse, um die Staatsschulden zu reduzieren. Das hieße auch, so Romney in einem fatalen Moment, dass davon die quirlige Figur „Big Bird“ (Bibo) aus der PBS-Sendung „Sesamstraße“ von den Budgetkürzungen nicht unbetroffen bleiben würde. Der Fauxpas wurde vom Obama-Team schonungslos ausgebeutet, und Romney konnte seinen Ruf des rücksichtslosen Gegners beliebter Kinderhelden nie mehr abschütteln. Heute sitzt Romney im US-Kongress als republikanischer Senator aus Utah – und plädiert für die Einführung eines pauschalen Kindergeldes, das von Experten als viel großzügiger angesehen wird als ähnliche Reformvorschläge der Biden-Regierung. Ob Cass wohl etwas mit diesem Herzenswandel zu tun gehabt haben könnte? 2020 gründete er den rechten Think Tank „American Compass“, dessen Mission nach eigener Aussage die „Neuausrichtung der politischen Aufmerksamkeit weg von Wachstum um des Wachstums willen“ ist. Stattdessen solle die industrielle Basis der USA neu begründet werden, was wiederum den Bürgern des Landes dabei helfen solle, Wurzeln zu schlagen und Familien aufzubauen. Ein dringendes Vorhaben, denn Amerika schreitet auf die demographische Klippe zu, da immer mehr Menschen die Familiengründung aufgrund akuten ökonomischen Druckes bis auf ungewisse Zeit aufschieben. Darum war auch die Diskussion einer konservativen und doch zukunftsweisenden Familienpolitik eines der Hauptaugenmerke der ISI-Konferenz. Ein ganzes Panel widmete sich dem Thema, und keiner der Sprecher schien der Einführung eines großzügigen Kindergeldes sonderlich abgeneigt – und das, obwohl sich die Republikaner in den vergangenen 40 Jahren eher die Verhinderung neuer Sozialleistungen zur Räson gemacht hatten. Dieser neoliberale Konsens zerbrach jedoch nicht aus heiterem Himmel. Der Anstoß zur Neuausrichtung kam aus unübersehbarer Richtung, wie die Gründerin der Organisation „Network of Enlightened Women“, Karin Lips, auf dem Familienpanel erinnert – nämlich von Donald Trump, der während des Wahlkampfes 2016 auch eine Einführung des staatlich garantierten Elternurlaubs forderte. Der größere Widerstand gegenüber der Idee, wie auch sonst jeglicher Wohlfahrtsstaatspolitik, kam während seiner Präsidentschaft aus eigenem Lager. Die Republikaner beharren seit einem halben Jahrhundert auf innenpolitischer Austerität und außenpolitisch auf ungezügeltem Freihandel, der zur rapiden Deindustrialisierung des Landes geführt hat. Zwar waren im selben Zeitraum beide Ansichten auch weit unter den Demokraten verbreitet, doch werden sie vor allem mit den Republikanern identifiziert – insbesondere wegen des regelrechten Kultes, den die Partei um Ronald Reagan aufgebaut hat. Für Reagan roch staatliches Eingreifen stets nach Totalitarismus. So wütete er schon in den 1960er Jahren gegen die Einführung einer öffentlichen Gesundheitsversorgung, da diese den Sozialismus verhieße. Millionen Amerikaner haben bis heute die zweifelhafte Freude, dem sozialistischen Joch entgangen zu sein – denn sie sind unversichert, ein Schicksal an dem auch die hoffnungslos bürokratische Gesundheitsreform Barack Obamas wenig änderte. „Ich bin ein Konservativer, aber wen juckt das schon heutzutage“, polterte Trump 2016 gegenüber dem ansonsten eintönigen Feld an republikanischen Präsidentschaftsbewerbern, die sich stets zur Reinkarnation Reagans aufblähten. „Wir müssen das Land wieder auf Kurs bringen.“ Und das bedeutete für Trump eben, dass man viele republikanische Orthodoxien über den Haufen werfen müsse. Die Grenze gehöre für Billigarbeitskräfte geschlossen und nicht, wie von den Arbeitgebern gefordert, weit geöffnet. Die von George Bush angestifteten Kriege nannte Trump einen fatalen Fehler. Der Freihandel müsse gedrosselt werden, um der US-Industrie zur Renaissance zu verhelfen. Das Kindergeld wurde bereits erwähnt. Die staatliche Sozialversicherung solle nicht angetastet werden, obwohl selbst Obama mit versteckten Mitteln ihre Kürzung hatte herbeiführen wollen. Und einer Ausweitung der staatlichen Gesundheitsversorgung war Trump noch nie abgeneigt. Das alles war den Ansichten des neoliberalen Konsenses, der in beiden Parteien lange Zeit vorherrschte, diametral entgegengesetzt. Seit Richard Nixon ging kein republikanischer Präsidentschaftskandidat mit einer ähnlich populistischen Agenda ins Rennen. Das Label des „Populismus“ haftete auch dem selbsterklärten Sozialisten Bernie Sanders an, der Hillary Clinton 2016 das Leben schwer gemacht hatte und damals die unter Demokraten verpönte Aussage traf, dass offene Grenzen nur den Arbeitgebern nützten. Letzten Endes markiert der Populismus-Begriff heutzutage wenig mehr als eine Abwendung vom Neoliberalismus hin zu einer eher nationalistisch ausgerichteten Politik. Und dass Trump sich den Begriff nutzbar machte, führte zu bemerkenswerten Wählerwanderungen: Bis dato eher eine Partei reicher Country-Club-Mitglieder, verloren die Republikaner unter Trump weite Teile dieser Stammwählerschaft an die Demokraten. Fast ausschließlich alle der reichsten Wahlbezirke gingen 2016 und 2020 an die Demokraten, während sich die Arbeiterschaft vermehrt zu Trump hinwendete. Im US-politischen Diskurs redet man daher wieder vermehrt vom sogenannten „realignment“, also der Neuordnung der sozio-politischen Zusammensetzungen der beiden großen Parteien. Die Republikaner und Demokraten sind keine Parteien im klassischen Sinne, da sie formal keine Mitglieder haben. Stattdessen „registriert“ man sich auf von den einzelnen Bundesstaaten geführten Wählerverzeichnissen zumeist als republikanisch, demokratisch, oder „unabhängig“. Der oftmals einzige Nutzen dieser Registrierung besteht darin, dass man dann bei den Vorwahlen der jeweiligen Parteien abstimmen darf. Doch führt dieses lose Verhältnis eben auch dazu, dass die Loyalitäten der Wähler nicht absolut sind und schließlich zu solchen Schockergebnissen wie 2016 führen können. Was wiederum Trump dazu bewegte, die Republikaner von nun an „die Partei des amerikanischen Arbeiters“ zu nennen. Nur machte er die Rechnung ohne den Rest der republikanischen Elite, die auf Gewerkschaften oder staatliche Intervention weiterhin verachtend herabblickt. Eine Arbeiterpartei also, die keine sein will. Noch nicht. „Das ist eine lange Schlacht, und sie lässt sich nicht im Zuge einer vierjährigen Amtszeit gewinnen“, sagt Daniel McCarthy, der Chefredakteur des ISI-Magazins Modern Age, während einer Tagungspause. „Eine neugeordnete, populistische Rechte muss genauso langfristig denken wie die Anhänger des Freihandels vor ihr. Diese brauchte nämlich etwa 15 Jahre, um die Republikaner hin zur Partei Ronald Reagans zu verwandeln.“ Denn bis zur Präsidentschaft Richard Nixons, erinnert Cass bei seinem Vortrag, galten die Republikaner alles andere als marktradikal. Letzteres war eher die Ideologie der Demokraten, einer Partei, die sich historisch aus Sklavenhaltern und Plantagenbesitzern zusammensetzte, die lange auf die Absatzmärkte Englands angewiesen war, um die landwirtschaftlichen Erträge aus dem Süden der USA verkaufen zu können. Seit der Gründung der Vereinigten Staaten bis hin zur Mitte des 20. Jahrhunderts nannte man das republikanische Programm das „American System“. Dieses schrieb hohe Strafzölle vor, um die heimische Industrie zu fördern. Eine mächtige Zentralbank wiederum sollte dieser Industrie einfache Kredite ermöglichen. Für Cass wäre eine Rückkehr zu dieser interventionistischen Politik alles andere als ein Verrat am Konservatismus, sondern seine Verwirklichung. „Wir hatten schon lange keinen Konservatismus in den USA“, pointierte er seinen Vortrag. „Bloß einen linken und rechten Liberalismus.“ Trumps einzige größere Reform während seiner Präsidentschaft war eine vor allem den Wohlhabenden nützliche Steuerkürzung. Reagan hätte es nicht anders gemacht. Und doch gibt es Risse in der marktradikalen Front unter den Republikanern. Marco Rubio, der amtierende Senator aus Florida, schaltete sich per Video in die ISI-Konferenz zu und beharrte darauf, dass es im nationalen Interesse der USA sei, eine starke industrielle Basis zu haben. Dabei sei auf die multinationalen Unternehmen mit Sitz in den USA kein Verlass, denn diese seien vor allem ihren Aktionären verpflichtet, welche wiederum quer durch die Welt verstreut sind und sich kaum ums Wohl der amerikanischen Arbeiterschaft scheren. Trumps Steuerreform wäre damals fast an Rubios Widerstand gescheitert, bis dieser ein (wenn auch eher moderates) Kindergeld durchsetzen konnte. Und kürzlich stellte Rubio sich abermals quer und stimmte gegen ein Reformvorhaben, das die heimische Halbleiterindustrie stärken sollte, weil der Gesetzesvorschlag ihm zu zahm war und keine expliziten protektionistischen Maßnahmen beinhaltete. Da fand Rubio sich plötzlich auf einer Seite mit Bernie Sanders, der ebenfalls gegen die Reform stimmte. Der Star der Konferenz jedoch war J.D. Vance. Mit seiner Autobiographie „Hillbilly Elegy“ gelang ihm 2016 literarischer Ruhm. Das Buch schildert sein Großwerden in Middletown, einer Industriestadt in Ohio, die mit den Umwälzungen der sich wandelnden Wirtschaft zu kämpfen hat. „Hillbilly Elegy“ wurde voriges Jahr vom Regisseur Ron Howard verfilmt – Amy Adams und Glenn Close spielten die Hauptrollen – und bescherte Vance den Ruf eines intellektuellen Konservativen, der auch unter Lesern der liberalen New York Times Sympathien sammeln konnte. Nicht zuletzt fußte dieser parteiübergreifende Appeal auch darauf, dass Vance den damaligen Kandidaten Trump in mehreren Tweets scharf angegriffen hatte. Doch da Vance sich jetzt um die Nominierung zum Senator von Ohio in den republikanischen Vorwahlen bemüht, entschuldigte er sich kürzlich für diese Kritiken und schwört nun, ganz auf einer Linie mit Trump zu sein. Entsprechend populistisch sind seine Wahlkampfthemen ausgerichtet. Besonders die Familienpolitik steht bei ihm im Fokus: „Was haben Kamala Harris, der jetzige Verkehrsminister Pete Buttigieg und die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez gemein? Keiner von ihnen hat Kinder.“ Um den Einfluss von Familien zu stärken, so Vance, gehöre das Wahlrecht reformiert. Für jedes Kind sollten Eltern eine zusätzliche Stimme erhalten, die sie in deren Namen abgeben könnten. Unter den Konferenzteilnehmern führte diese Vorschläge zu feurigstem Applaus. Vance hatte offenbar ein zentrales Thema formuliert, mit dem populistische Republikaner um Wähler buhlen könnten: die familienfreundlichen Republikaner gegen die kinderlosen Säkularisten der Demokratischen Partei. Chancen auf Realisierung hat Vance’ Reformvorschlag eher nicht. Und auch sein eigener Wahlerfolg steht in den Sternen. Derzeit dümpelt er in Umfragen bei sechs Prozent vor sich hin; klar vorne liegt der Kandidat Josh Mandel, der gerne mit demagogischen Aussagen Aufmerksamkeit erregt. So wurde Mandels Twitter-Konto kurzzeitig gesperrt, als er seine Follower darüber abstimmen ließ, welche „Illegalen“ wohl mehr Verbrechen begehen würden, „muslimische Terroristen“ oder „mexikanische Gangster“. Ein junger republikanischer Student, der Vance’ Rede gebannt verfolgte, ist zwar ebenso vom Schriftsteller aus Ohio hingerissen, erklärt jedoch, dass genau das Vance zum Verhängnis werden würde: „Wenn er wirklich die populistische Energie innerhalb der republikanischen Wählerschaft anzapfen möchte, dann sollte er öffentlich eine Maske verbrennen.“ Alles, um irgendwie Mandel zu überholen. Die Beobachtung fasst den Richtungskampf, der die sich neu ordnenden Republikaner seit Trumps Wahl in Bann hält, sehr gut zusammen. Auf der einen Seite findet sich die Intelligenzija der Partei, die im Hilton-Hotel vom Heranwachsen einer Arbeiterpartei träumt; auf der anderen Seite sind die ungezügelten Trump-Epigonen, die eher dem Celebrity-Status hinterher trachten, als sonderlich durch neue Ideen zu überzeugen. Der Ausgang dieses Konflikts wird also darüber entscheiden, ob das „realignment“ die Rückkehr einer gewissen Seriosität in der amerikanischen Politik zur Folge haben wird – oder eine unendliche Fortsetzung der Clown-Show, die die Supermacht dem Abgrund immer näher treibt.
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Gregor Baszak
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Die Abwahl Donald Trumps hat die Republikaner in den Vereinigten Staaten in eine Sinnkrise gestürzt. Derzeit wird eifrig um den künftigen Kurs der Partei gerungen. Es sieht alles danach aus, als wolle sie sich auf die Interessen der Arbeiter konzentrieren und dem Neoliberalismus endgültig abschwören.
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[
"USA",
"Republikaner",
"Donald Trump",
"Mitt Romney"
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außenpolitik
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2021-07-30T15:25:41+0200
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2021-07-30T15:25:41+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/us-republikaner-nach-trump-arbeiterpartei-marco-rubio
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Doppelte Staatsbürgerschaft - Zwei Pässe sind undemokratisch
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Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger hat ein Thema
entdeckt: die doppelte Staatsbürgerschaft. Die will sie generell
zulassen. Denn angeblich führe die geltende Optionslösung dazu,
„dass sich Menschen von Deutschland abwenden“. Ob die Liberale damit von den zahlreichen FDP-Querelen ablenken
oder die Freien Demokraten für eine „Ampel“ aus SPD, Grünen und FDP
herausputzen will, ist nebensächlich. Viel schwerer wiegt, dass
ihre Begründung falsch ist. Neun von zehn jungen Leuten, die sich
zwischen zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden müssen, optieren
nämlich für die deutsche. Statt uns über dieses Bekenntnis zu
unserem Land zu freuen, jammern wir über den Entscheidungsdruck,
dem sich diese jungen Doppelstaatler angeblich ausgesetzt fühlen.
Deutscher geht’s nimmer. Nun leben in unserem Land viele Menschen mit zwei Pässen. Bürger
aus EU-Staaten können das ohne weiteres. Auch Angehörige solcher
Staaten, die das Ablegen ihrer Staatsangehörigkeit gar nicht
zulassen, sind darunter. Von völkerrechtlich komplizierten
Spezialfällen einmal abgesehen, ist die doppelte Staatsbürgerschaft
eigentlich ein Unding. Niemand kann sich vorbehaltlos zu zwei
Ländern und ihren jeweiligen Grundordnungen bekennen. Da muss man
sich schon entscheiden. Zwei Pässe sind im Grunde auch undemokratisch. Warum darf ein hier lebender Deutsch-Italiener dank
seiner zwei Pässe jetzt das italienische Parlament ebenso mitwählen
wie am 22. September den deutschen Bundestag? Er kann am
Sonntag für Berlusconi stimmen und damit für ein Ende der
Sparmaßnahmen und im September bei uns für eine der Parteien, die
den südeuropäischen Schlendrian gerne finanzieren. Was privilegiert
diesen Deutsch-Italiener eigentlich, in Europa mehr politischen
Einfluss zu haben als ein „einfacher“ Deutscher mit nur einem Pass
und nur einer Stimme? Man kann es drehen und wenden, wie man will: Zwei Pässe bieten
mehr Optionen als einer. Ob bei Sozialleistungen, in der
Krankheits- oder Altersversorgung: Rosinenpickerei ist ganz legal
möglich. Ganz bedenklich wird es, wenn jemand Deutschland verlassen
kann, um in seinem Zweit-Land Schutz vor Strafverfolgung zu
genießen. Ein Rechtsstaat kann so etwas nicht immer verhindern,
aber er sollte es nicht auch noch fördern. nächste Seite: In erster Linie geht es um die in Deutschland
geborenen Kinder türkischer Eltern Ganz nebenbei: Alle deutschen Parteien (mit Ausnahme der
Piraten) haben in ihren Satzungen eine Bestimmung, wonach die
gleichzeitige Mitgliedschaft in einer anderen Partei zum Ausschluss
führt. Wenn aber zwei Pässe angeblich nicht zu Loyalitätskonflikten
führen, wieso dann zwei Parteibücher? Oder ist aus Sicht von
Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten das Bekenntnis zu
einem Staat nicht so ernst zu nehmen wie das zu einer Partei? Das
wäre ein seltsames Staatsverständnis. Nun geht es in der aktuellen Debatte ja – leider – nicht um die
grundsätzlichen Probleme, die mit doppelten Staatsbürgerschaften
verbunden sind, sondern in erster Linie um die hier geborenen
Kinder türkischer Eltern. Bei denen besteht aus vielfältigen
Gründen die Gefahr, dass sie sich in ihrer Parallelgesellschaft
sehr wohl fühlen, sie also gar keinen Grund sehen, sich in die
deutsche Gesellschaft zu integrieren. Da ist der deutsche Pass dann
eine nette Beigabe zum türkischen – und damit kein Instrument der
Integration. Die Türkei lässt die doppelte Staatsbürgerschaft ausdrücklich
zu. Dem derzeitigen Regierungschef graut zwar vor einer
„Assimilation“ seiner Türken an die Deutschen. Aber er möchte
schon, dass sie hier mit ihrer Stimme die deutsche Politik
beeinflussen können. Umgekehrt ist der Einsatz von Rot-Grün für die
doppelte Staatsbürgerschaft nicht ganz selbstlos: Sie kalkulieren
kühl mit dem Dank türkischer Doppelstaatler an der Wahlurne. Nun gibt es aus der Sicht von hier aufgewachsenen Menschen
türkischer Abstammung ein nachvollziehbares Interesse an zwei
Pässen. Denn die Türkei benachteiligt Nicht-Türken beispielsweise
beim Erbrecht und beim Erwerb von Grundbesitz. Auch deshalb sind
zwei Pässe sehr hilfreich. Aber nahe liegend wäre, die
Bundesregierung spräche mit der Türkei ernsthaft über diese
Benachteiligung von ausgebürgerten Türken, statt großzügig einen
Zweitpass auszustellen. Auch müsste Berlin mit Ankara einmal über
die gängige Praxis reden, dass Türken nach Erlangung der deutschen
Staatsbürgerschaft sich in der alten Heimat einfach wieder einen
türkischen Pass ausstellen lassen. In einem Punkt haben die Liberalen ja Recht: Wir brauchen eine
„Willkommenskultur“. Und zwar für alle, die dieses Land zu ihrem
machen wollen, die sich ohne wenn und aber für die Bundesrepublik
entscheiden, aber nicht für die, die sich aus zwei Welten jeweils
das Beste herauspicken wollen.
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Hugo Müller-Vogg
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Bei der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft wird ein entscheidender Punkt oft vergessen: Zwei Pässe sind undemokratisch und räumen Doppelstaatlern mehr politischen Einfluss ein als „einfachen“ Deutschen. Schluss mit der Rosinenpickerei, fordert Hugo Müller-Vogg
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innenpolitik
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2013-02-22T10:06:51+0100
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2013-02-22T10:06:51+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/zwei-paesse-sind-undemokratisch/53621
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Wolfgang Kubicki über „Trusted Flagger“ - Das Handeln der Bundesnetzagentur ist ein Angriff auf die freie Rede
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Es gibt einen SPD-Bundestagsabgeordneten, der Jens Zimmermann heißt und sich jüngst im Handelsblatt an mir abarbeitete. Von „unwürdig“ war die Rede und von „Stammtischniveau“. Auch einige grüne Abgeordnete und Influencer meldeten sich in den sozialen Netzwerken mit einem ähnlichen Grad artikulierter Empörung zu Wort. Anlass waren meine Äußerungen in der Bild, in denen ich das Vorgehen des Chefs der Bundesnetzagentur in Sachen „Trusted Flagger“ mit deutlichen Worten kritisierte. Offenbar nicht deutlich genug, denn die Äußerungen zeigen mir, dass manch einer unserer Koalitionspartner nicht in der Lage oder willens ist, den Kern meiner Ausführungen zu verstehen. Nach 34 Jahren in Parlamenten und insbesondere nach drei Jahren gemeinsamer Ampel-Koalition ist meine pädagogische Geduld jedoch nahezu unermesslich. Deswegen erkläre ich die Geschichte gerne noch einmal ganz von vorne. Am Anfang steht ein Satz: „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.“ Er wurde vor 175 Jahren in der sogenannten Paulskirchenverfassung, dem ersten ernstzunehmenden Versuch, ein liberales gesamtdeutsches Gemeinwesen zu errichten, veröffentlicht. Es ist ein einfacher, klarer und unmissverständlicher Satz. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes in die Tradition der Freiheitskämpfer von 1848/49 stellten, ihn in sehr ähnlicher Form übernahmen und sogar noch ergänzten: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ In Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es zur Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Auch hier bleibt das Grundgesetz in einer bemerkenswerten Klarheit und Kürze, die den Leser nicht überfordern sollte. Eine Gesetzgebungskunst, die in jüngster Zeit immer mehr verloren gegangen ist. Jedenfalls dachte ich bis jetzt, dass es daran nicht viel misszuverstehen gibt. Dann trat am Anfang des Monats Klaus Müller und die von ihm geführte Bundesnetzagentur, die neuerdings auch „Digital Service Coordinator“ ist, auf den Plan. Müller verkündete mit großem Stolz die Zertifizierung des ersten „Trusted Flagger“. Unter anderem führte er aus: „Plattformen sind verpflichtet, auf Meldungen von Trusted Flaggern sofort zu reagieren. Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden. Das hilft, das Internet sicherer zu machen.“ Ist das so? Es war nicht ich, sondern der Zeit-Journalist und Jurist Jochen Bittner, der diese Aussage früh als „offenkundig verfassungswidrig“ bezeichnete. Die Aussage Müllers bedeute, „dass neben illegalen Inhalten auch legale Inhalte entfernt werden können“. Diese Einschätzung ist korrekt. Hass ist natürlich ein abscheuliches Gefühl. Er macht auf Dauer bitter und humorlos, weswegen er bei mir als treibende Gefühlsregung nie eine große Chance hatte. Er schadet also vor allem auch denen, die ihn in sich reifen lassen und zu lange nicht loswerden. Man schaue nur auf Greta Thunberg, die mit ihrem Hass auf die Vorgenerationen zum internationalen Superstar wurde („How dare you!“, „I want you to panic!“) und mit ihrem Hass auf Israel ihr Thema für eine weitere Welttournee gefunden hat. Die jüngsten Gastspiele in Deutschland haben uns das noch einmal eindrücklich vor Augen geführt. Aber Hass ist nicht per se illegal. So würde Klaus Müller wohl nicht auf die Idee kommen, dass der von Klimaangst getriebene Hass auf den „alten weißen Mann“ entfernt werden müsste. Immerhin ist dieser Hass der Impulsgeber des grünen Vorfelds, der Thunberg über Jahre zur Ikone erhoben hat. Und was passiert eigentlich mit Parolen wie „Ganz Deutschland hasst die AfD!“, wie sie Jan Böhmermann auf X verbreitet hat? Ähnliche Bekenntnisse zum eigenen Hass findet man inzwischen auf jeder Demonstration gegen die AfD, und im Internet lassen sich problemlos Sticker bestellen, die bekunden, dass „ganz Hamburg“ die AfD hasse. Und so frage ich: Was nun, Herr Müller? Böhmermann löschen? Aufrufe zu entsprechenden Demonstrationen untersagen? Sticker beschlagnahmen? Sie würden das wohl entschieden zurückweisen. Gut so! Aber was, wenn morgen jemand auf X postet: „Ganz Hamburg hasst die Grünen“? Vermutlich wird man dem entgegenhalten, dass die Grünen ja wohl etwas ganz anderes sind als die AfD. Stimmt. Aber das Recht – und diese Erkenntnis scheidet den Liberalen vom Grünen offenbar immer häufiger – ist in beiden Fällen dasselbe. Herr Müller ruderte nach der Diskussion mit Jochen Bittner auf X zurück, räumte aber ein, dass seine Äußerungen missverständlich seien. Natürlich gehe es nur um illegale Inhalte. Nun gut, könnte man meinen. Dann bleibt die Frage, wieso der Staat einen privaten Dritten mit dem Aufspüren von solchen Inhalten beauftragt. Es geht um Meinungsfreiheit, also „das vornehmste Menschenrecht“, wie das Bundesverfassungsgericht es einst klassifizierte. „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“ Hat der Leiter des ersten „Trusted Flagger“, der auf sozialen Netzwerken schon mal mit Hamas-Sympathisanten posierte, das wirklich verstanden? Und wie kommt es, dass ausgerechnet eine von Lisa Paus Ministerium finanzierte und eng mit der baden-württembergischen Landespolitik verwobene Organisation den ersten Zuschlag für die hochsensible Aufgabe erhält? Alles gut, versichert Müller, am Ende entschieden ja Gerichte. Ganz so, als wäre das besonders erwähnenswert. In Deutschland entscheiden am Ende immer Gerichte. Die Kritik am Konstrukt der „Trusted Flagger“ trifft hier nicht den deutschen Gesetzgeber oder die Bundesnetzagentur. Es handelt sich um europäisches Recht, das umgesetzt wurde. Dieses europäische Recht halte ich für hochproblematisch und habe das in meinem Statement gegenüber Bild auch deutlich gemacht. Das muss dem SPD-Bundestagsabgeordneten in seiner Empörung über eben jenes Statement durchgerutscht sein, als er auf diesen Umstand abstellte. Rein vorsorglich weise ich darauf hin, dass es nicht nur legitim ist, europäisches Recht zu kritisieren, es ist sogar legal. EU-Verordnungen sind keine göttlichen Eingebungen und nicht sakrosankt. Ich bin sogar davon überzeugt, dass wir uns zu wenig über die Gesetzgebungsverfahren in Brüssel und Straßburg streiten, und darin ein Hauptgrund für die Vertrauenserosion in die europäischen Institutionen liegt. Sie erinnern sich: Der Kampf der Meinungen ist das Lebenselement der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung. Meines übrigens auch. Aber leider kommen wir in der Diskussion um die „Trusted Flagger“ überhaupt nicht so weit. Denn europäische Vorgaben sind das eine, und das andere ist, was man daraus macht. Die nachgeschobene Behauptung Müllers, es würden nur illegale Inhalte verfolgt, überzeugen mich jedenfalls nicht. Das liegt nicht nur an der oben geschilderten Konfusion um die Strafbarkeit von Hass in der Pressemitteilung, sondern auch am von der Bundesnetzagentur herausgegebenen „Leitfaden zur Zertifizierung als Trusted Flagger gemäß Artikel 22 Digital Services Act“. Der enthält als Anlage eine „Liste mit Bereichen unzulässiger Inhalte“. Diese Liste enthält Offensichtliches, wie beispielsweise Holocaustleugnung oder Kinderpornografie. Aber darf die Frage erlaubt sein, wieso sich darum nicht die Staatsanwaltschaft kümmert? Enthalten ist in der Liste auch „Hassrede“, und damit stehen wir wieder am Anfang der Diskussion. Auch „Tierleid“ findet sich dort. Ich bin gespannt, ob die Videos von Tierrechtsorganisationen, die auf Missstände hinweisen wollen, geflaggt werden, wenn sie entsprechende Videos veröffentlichen. Und noch gespannter bin ich auf die Rechtsgrundlage. Ebenso bei Aussagen mit „negativen Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen“. Und was sind „Inhalte, die Essstörungen fördern“? Nähme man das Ernst, müsste man eine Plattform wie Instagram einstampfen. Jedenfalls hört man öfter, dass das dort vertretene und beworbene Körperideal nicht gerade gesund ist. Besonders interessant wird es auch bei „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“. Ich erinnere mich noch gut, wie Lothar Wieler, damals Chef der wichtigsten deutschen Gesundheitsbehörde, mir vorwarf, ich würde „Fakten negieren“. Auch Karl Lauterbach hatte sich auf derselben Bundespressekonferenz ähnlich zu mir geäußert, nachdem er vom Journalisten Tilo Jung auf den „Unsinn“ angesprochen wurde, den ich verbreite. Die vermeintlich hochgefährliche Aussage, die die Herren mir vorwarfen, lautete übrigens so: „Impfungen dienen dem Selbstschutz und nicht dem Fremdschutz.“ Ich hatte sie im Rahmen der Debatte um die allgemeine Corona-Impfpflicht getätigt. Die Aussage war und ist schlicht wahr. Das bestreitet heute kein vernünftiger Mensch mehr. Damals war das anders. Wie aber hätte ich mich gegen eine Löschung einer solchen Aussage verteidigen sollen, wenn der Bundesgesundheitsminister, der Chef des RKI und ein Journalist sie – wahrheitswidrig – als Fake darstellen? All das macht deutlich, dass es hier mitnichten nur um die Ahndung von illegalen Inhalten geht, sondern um viel mehr. Und das ist selbstverständlich ein Problem. Ich liebe dieses Land. Das heißt nicht, dass ich alles, was die Regierung dieses Landes umsetzt, unkritisch sehen muss. Denn noch mehr liebe ich die Prinzipien, auf denen diese Republik fußt. Die freie Meinungsäußerung, dieses vornehmste Menschenrecht, gehört dazu. Die Umsetzung des DSA durch die Bundesnetzagentur ist ein direkter Angriff auf die freie Rede. Und das darf niemand schulterzuckend hinnehmen. Wenn Teile unserer Koalitionspartner sich auf der anderen Seite positionieren, ist das vielsagend und aus meiner Sicht sogar gefährlich. Aber es ändert nichts an der Notwendigkeit, dass die Bundesnetzagentur „an die Kette gelegt werden muss“, wie ich es in Bild formulierte. Zu oft haben wir in der deutschen Geschichte einmal erstrittene Grundrechte preisgegeben. Zuerst vor 175 Jahren, was einen unglaublichen Braindrain freiheitsliebender Menschen nach sich zog. Diese Leute schufen beachtlichen Wohlstand außerhalb Deutschlands, gründeten Firmen, betätigten sich in Wissenschaft und Forschung. Die Idee der Freiheit bedingt daher auch die wirtschaftliche Entwicklung in besonderem Maße. Vielleicht versteht der Bundeswirtschaftsminister wenigstens das, wenn er schon nicht aus Überzeugung für die Freiheit gegenüber dem Chef der Bundesnetzagentur eintritt.
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Wolfgang Kubicki
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Die Bundesnetzagentur vergreift sich mit ihrem Konstrukt der „Trusted Flagger“ am vornehmsten Menschenrecht der freien Rede. Zu dem gehört auch die Artikulation von Hass. So (selbst-)schädlich diese Emotion auch sein mag, sie ist nicht per se illegal.
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[
"Hasskommentare",
"Wolfgang Kubicki"
] |
innenpolitik
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2024-10-11T11:52:55+0200
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2024-10-11T11:52:55+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/trusted-flagger-bundesnetzagentur-kubicki
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Cicero im März - Schweigen ist Gold
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Olaf Scholz ist ein Meister darin, kritische Fragen einfach an sich abperlen zu lassen. Man könnte auch sagen: Bei ihm findet die ostentative Kommunikationsunwilligkeit seiner Amtsvorgängerin zur Vollendung. Tatsächlich hat Scholz es mit dieser Methode bis ins Kanzleramt geschafft – was ihn in der Einschätzung bestärkt haben dürfte, dass Reden allenfalls Silber, Schweigen aber allemal Gold ist. Insbesondere in jener heiklen Sache, die den Bundeskanzler seit seiner Zeit als Erster Bürgermeister in Hamburg verfolgt. Es geht um enorme Summen sowie um die Frage, ob der Warburg-Bank die Rückzahlung ergaunerter Cum-Ex-Millionen erlassen wurde. Und zwar mit ausdrücklicher Billigung, mutmaßlich sogar aktiver Unterstützung durch die Politik in Person des heutigen Bundeskanzlers. Olaf Scholz, so viel steht inzwischen fest, hat im Zuge dieser Affäre mehrfach wichtige Dinge verschwiegen und, davon sind Oliver Schröm und Ulrich Thiele als Autoren unserer Titelgeschichte überzeugt: auch gelogen. Ausgestanden ist die Sache für ihn noch längst nicht, im Gegenteil. Mit den Dokumenten, die Cicero exklusiv vorliegen und die hier erstmals öffentlich gemacht werden, dürften ihn etliche Halb- und Unwahrheiten, die er den Parlamenten in Hamburg und Berlin aufgetischt hat, noch einholen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Glaubwürdigkeit des deutschen Regierungschefs, der sich ausgerechnet als Sozialdemokrat offenbar schützend vor ein betrügerisches Geldinstitut gestellt hat – und zwar auf Kosten der Steuerzahler. Premiere bei Cicero: Mit Erscheinen dieser Ausgabe startet auf unserem Onlinekanal cicero.de der erste Podcast – und markiert damit den Start in ein journalistisches Format, bei dem Sie unmittelbar dabei sind, wenn meine Kollegen und ich mit Persönlichkeiten ins Gespräch kommen, die wirklich etwas zu sagen haben. Den Auftakt mache ich selbst mit einem Gespräch, das ich mit dem Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt geführt habe. Es geht um die Umstände seines Rauswurfs aus Deutschlands größter Boulevardzeitung und um Reichelts Blick auf die deutsche Medienlandschaft. Am Freitag folgen dann Salon-Ressortleiterin Ulrike Moser und Matthias Politycki; im Interview erzählt der Schriftsteller unter anderem, warum er Deutschland unlängst den Rücken gekehrt hat. In regelmäßigen Abständen folgen weitere Podcasts zu den Themen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind! Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können. Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen
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Alexander Marguier
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Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Diese Weisheit hat Olaf Scholz ins Kanzleramt gebracht. Wie exklusive Cicero-Recherchen in unserer März-Ausgabe zeigen, könnte er mit dieser Methode im Fall Cum-Ex jedoch noch scheitern.
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[
"Olaf Scholz",
"Cum-ex",
"Bundeskanzler",
"Warburg"
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2022-02-16T18:30:37+0100
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2022-02-16T18:30:37+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-im-marz-schweigen-ist-gold
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Zeitungssterben – „Internet bedeutet nicht gleich Häppchenjournalismus“
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Die Financial Times Deutschland ist am Ende, die
Frankfurter Rundschau ist pleite, der Berliner Verlag streicht
Stellen, der Spiegel baut ab. Die deutsche Presse erlebt nach
Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit derzeit die größte
Entlassungswelle seit Bestehen der Bundesrepublik. Ist das der viel
beschworene Anfang vom Ende der klassischen Zeitung? Des
klassischen Printjournalismus? Nein. Es ist ein Signal
dafür, dass die Veränderungen der Medienlandschaft tiefgreifender
sind, als viele das noch vor wenigen Monaten glauben wollten. Der digitale Wandel schreitet voran. Noch immer aber
gibt es kein Geschäftsmodell, mit dem ein professioneller
redaktioneller Journalismus im Internet finanziert werden
könnte. Stimmt. Für die klassischen Medienhäuser geht
es momentan darum, die abnehmenden Reichweiten und die sinkenden
Einnahmen sowohl im Bereich des Vertriebs als auch bei den
Werbeerlösen solange auszugleichen, bis noch klarer wird, wie sich
die Mediennutzung verändert. Es wird noch über einige Jahre im
Printgeschäft Geld verdient werden können, allerdings nicht mehr
mit den Renditen wie früher. Die Medienhäuser sollten die Zeit
nutzen, vieles auszuprobieren und mutiger als bisher zu sein. Ein
Geschäftsmodell, das sofort alle Probleme löst, kann ich allerdings
auch nicht anbieten. [gallery:20 Gründe, warum wir Tageszeitungen
brauchen] Die Debatte wird mitunter geführt, als ginge es um eine
Glaubensfrage. Die Diskussion um das Leistungsschutzrecht zeigt
dies exemplarisch. Aber wird da nicht eine falsche Front aufgebaut?
Die Bruchstelle verläuft doch nicht zwischen Online und Print,
sondern auf inhaltlicher Ebene: Zwischen Qualität und
Infotainment. In ihrer Behauptung steckt eine Polemik,
die eine Unterschätzung der Veränderungen der Mediennutzung zur
Ursache hat. Die von Ihnen behauptete Front zwischen Qualität und
Internethäppchen gibt es gar nicht. Natürlich bleibt
journalistische Qualität ganz wesentlich für den Erfolg, auf
welchen Trägermedien auch immer. Ich würde es für fatal halten,
Veränderungen im Leseverhalten ausschließlich negativ zu deuten.
Höchstwahrscheinlich ist es schon so, dass man zur gescheiten
Teilhabe am demokratischen Diskurs auch mal längere Texte lesen
muss. Aber von Vornherein zu sagen, Internet gleich
Häppchenjournalismus, wäre falsch. Schon jetzt hat der Journalismus mit Einzug des
Internets das Nachrichten-Monopol und die Deutungshoheit verloren.
Dabei ist doch hochwertiger Journalismus konstitutiv für die
Demokratie. Ja. Aber ist hochwertiger Journalismus nur
der, der ex cathedra verkündet, wie die Leser die Welt zu sehen
haben? Ich bin weit davon entfernt, naiver Befürworter eines wie
auch immer organisierten Bürgerjournalismus zu sein, aber eine
stärkere dialogische Orientierung von Journalisten und eine
stärkere Berücksichtigung von Nutzerreaktionen sollte es schon
geben. Journalisten sollten heute wissen, wen erreiche ich
überhaupt noch? In welchen Situationen erreiche ich ihn und auf
welchen Endgeräten? Kann man diese Fragen beantworten, ergeben sich
schnell neue Geschäftsmodelle. Gerade Tageszeitungen haben aus
meiner Sicht im Bereich der Vermarktung noch riesige
Potentiale. Sie sehen den digitalen Wandel sehr
positiv. Ich sehe ihn überhaupt nicht
kulturpessimistisch. Momentan erleben wir für Journalisten doch die
spannendste Zeit seit langem. Sorge macht mir allerdings ein
bisschen, dass die Grundlage für einen demokratischen Diskurs sehr
viel stärker zersplittert. Aber wenn das so ist, ist das so. Man
sollte das nicht moralisierend betrachten. Onlinemedien argumentieren ähnlich. Es heißt dann, wir
müssten damit leben, dass ganze Branchen und Berufe untergehen.
Müssen wir das tatsächlich? Was ist die Alternative?
Wenn man sich mal die Entwicklung von Verkaufs- und Abozahlen
anschaut, dann gibt es eine klare Tendenz. Diese Abwärtsentwicklung
begann bereits zehn Jahre vor dem Internet. 1980 haben Zeitungen
und Zeitschriften gemeinsam beinahe 70 Prozent aller
Marketinggelder auf sich gezogen. Heute liegen sie bei 18 Prozent.
Tendenz fallend. Wenn Zeitungen weniger werden, die heutigen Leitmedien
wegfallen, wenn die veröffentliche Meinung sich immer mehr
fragmentarisch zusammensetzt, letztlich gar nur aus Blogs und
Meinungsbeiträgen bestünde, fehlte dann nicht die Grundlage, auf
der eigentlich Meinungsbildung stattfinden sollte? Wie einen
öffentlichen Diskurs herstellen, wenn ein gemeinsames
Informationsfundament fehlt? Ich mache jetzt mal den
Advocatus Diaboli und würde Sie auffordern, die empirischen
Grundlage für das, was Sie öffentliche Meinungen oder
demokratischen Diskurs nennen, beizubringen. Dann sind Sie ganz
schnell bei der Frage, was heißt denn eigentlich öffentlicher
Diskurs und Meinungen. Handlungstheoretisch betrachtet, haben Sie
natürlich recht. Habermas würde sagen, ja, das muss irgendwie
ausverhandelt werden und dazu gehört natürlich eine freie Presse.
Luhmann und die Systemtheorie hingegen würden sagen, die Medien
diskutieren sowieso nur mit sich selbst. Was Sie mit dem Begriff
demokratischer Diskurs benennen, ist letztlich eine Fiktion, eine
Fata Morgana. Bei einer Diskussion mit so vielen Unbekannten wäre
die Frage, ob die Demokratie nicht mehr funktioniert, wenn wir
keine Tageszeitungen mehr haben, nur spekulativ zu
beantworten. Ich würde die Frage völlig abtrennen wollen von dem
Trägermedium. Ob es gedruckte Zeitungen gibt oder nicht, ist
unerheblich. Seite 2: Kaum eine Qualitätszeitung funktioniert nach normalen
marktwirtschaftlichen Maßstäben Bei aller Kritik und Selbstbezogenheit der Medien,
bieten sie aber doch eines: Orientierung. Was bedeutet es, wenn der
Journalismus seine Orientierungs- und Filterfunktion noch
mehr an Google und Algorithmen abgibt? Es kann sein,
dass wir die dann Orientierungs- und Filterungsfunktion, die die
Medien erfüllen, in der Gesellschaft verlieren und dass es dann zu
mehr Orientierungslosigkeit und auch Desinformation kommt. Aber ich
halte das nicht für zwingend notwendig, weil ich auch hier – in
einem sehr systemischen Sinne – hoffe, dass wir in einer halbwegs
funktionierenden Demokratie zu einer Selbstregulierung – im
Zusammenspiel alter und neuer Medienkanäle – kommen, die das
Schreckensbild mit der Fragmentierung und all ihren
Folgeerscheinungen nicht wirksam werden lässt. Klingt wie: Der Markt schrumpft sich gerade gesund und
bis ein Geschäftsmodell gefunden wurde, nehmen wir die
Selbstausbeutung in Kauf, die unter der Chiffre „online“ gerade
überall institutionalisiert wird. Wenn wir uns
insgesamt die sogenannten Qualitätszeitungen anschauen, dann
stellen wir fest, dass kaum eine dieser Zeitungen nach normalen
marktwirtschaftlichen Maßstäben funktioniert: Die FAZ wird von
einer Stiftung getragen, die Welt ist über die ganzen Jahre ihres
Bestehens im Verlag quersubventioniert worden – mit Summen,
gegen die die Verluste der FTD Peanuts sind. Die TAZ basiert auf
Selbstausbeutung. Die Frankfurter Rundschau wurde lange
durchgeschleppt und ist jetzt am Ende, ebenso die FTD.
Durchschleppen und Quersubventionieren sind verlegerische
Entscheidungen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen entstanden
sind; dies bedeutet aber, dass in all diesen Fällen kein
klassisches Geschäftsmodell mehr vorhanden war bzw. ist. Allein die
SZ und das Handelsblatt sind normal funktionierende
marktwirtschaftliche Betriebe. Das ist dann aber auch.[gallery:20
Gründe, warum wir Tageszeitungen brauchen] Sind Zeitungen und Verlage auch ein bisschen selber
schuld? Ja und nein. Medien sind eben keine rein am
Geschäftsmodell orientierten Betriebe, sondern immer auch von
verlegerischem Ethos geprägt gewesen. Es würde in Deutschland kein
Gedichtband ohne Querfinanzierung durch die Bestseller des Verlags
erscheinen. Und: Wenn Springer genug mit der Bild verdient, dann
kann er sich die Welt leisten. Ist nicht vielleicht auch mehr Selbstkritik der Medien
von Nöten? Sind die Medien der Macht in den letzten Jahrzehnten
vielleicht zu nahe gekommen? So dass sich beim Leser der Eindruck
festgesetzt hat, Journalisten seien bessere Pressesprecher denn
Erzeuger einer kritischen Öffentlichkeit? Die
Tatsache, dass viele einigermaßen leichten Herzens auf eine
Tageszeitung verzichten, hängt sicherlich auch damit zusammen. Die
Tageszeitungen selbst wurden teilweise zu Verlautbarungsorganen,
die Pressemitteilungen abdruckten und leicht umgeschrieben
Parteistatements publizierten. Die Orientierung an dpa-Meldungen im
Nachrichtenjournalismus hat entscheidend dazu beigetragen, dass
kaum Zeitungsleser nachwachsen. Für junge Leute ist diese Art
Journalismus schlicht irrelevant. Insofern auch eine Chance, sich jetzt wieder zu
entkoppeln und durch Qualität auf sich aufmerksam zu
machen? Richtig. Das muss aber schon während der
Ausbildung beginnen. Wir haben an der Leipzig School of Media
beispielsweise eine radikal andere Form der Volontärs-Fortbildung
entwickelt. Bezeichnend dafür, wie wenig aktiv die Medienhäuser
waren, ist die Tatsache, dass die Volontärs-Ausbildung heute noch
nach Vereinbarungen betrieben wird, die 20, 30 Jahre alt sind. Wagen Sie doch mal einen Ausblick: Wie informieren wir
und wie werden wir in 20 Jahren informiert? Ich
glaube, dass sich die Veränderungen der Kommunikation nicht so
dramatisch auf das Zusammenleben der Menschen auswirken werden, wie
man das vielleicht befürchten könnte. Bei der Einführung neuer
Medien hat es immer Katastrophenszenarien geben. Erinnern Sie sich
an die Zeit, als das Fernsehen aufkam? Für die Profession des
Journalismus wird es allerdings dramatische Veränderungen geben. In
fünf Jahren werden wir noch einen Gutteil der Tageszeitung haben,
jedoch mit erheblich geringeren Auflagen und Reichweiten. Und
deutlich teurer als bisher. In zehn bis fünfzehn Jahren wird es
dann ein kräftigeres Aussortieren geben, nur noch wenige gedruckte
Zeitungen, die dann nur zwei- bis dreimal die Woche erscheinen,
werden übrig bleiben. Viele Medienhäuser werden Geschäftsmodelle
finden, die es ihnen erlauben, weiterhin Journalismus zu betreiben
– mit kleineren Redaktionen und in vielen Fällen mit Abstrichen an
klassischer journalistischer Qualität. Also muss ich mir doch einen anderen Job
suchen? Nein. Überhaupt nicht. Ich empfinde diese Zeit
als extrem reizvoll und würde jedem neugierigen und aktiven jungen
Interessenten immer zum Journalismus raten. Zwei Dinge
vorausgesetzt: Erstens, er muss sich in einem gewissen Umfang für
Medientechnik und Informatik interessieren und zweitens, er muss
sich aus innerer Überzeugung von einem Sendungsbewusstsein
verabschieden. Wobei ich damit nicht meine, dass er nicht eine
feste ethische Position haben soll. Er muss sich aber vom
klassischen Bild des Journalisten als rasendem Reporter und auch
vom Rudolf-Augstein-Journalismus verabschieden. Herr Geffken, vielen Dank für das Gespräch. Michael Geffken ist Direktor und
Geschätsführer der Leipzig School of Media. Bis 2010 war er Leiter
der Journalistenfortbildung der VDZ Zeitschriften Akademie und
Chefredakteur 'Print & more' - das Magazin der deutschen
Zeitschriftenverleger. Zuvor Redakteur verschiedener Zeitungen und
Zeitschriften Das Interview führte Timo Stein
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Das Ende der "Financial Times Deutschland" ist nicht nur für Verleger ein Warnsignal. Der Journalismus steckt in einer Identitätskrise. Im Interview erklärt der Journalismusexperte Michael Geffken, warum für die Print die Luft immer dünner wird, die Demoktratie aber auch ohne das gedruckte Wort auskommt
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wirtschaft
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2012-12-10T12:05:46+0100
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2012-12-10T12:05:46+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/internet-ist-nicht-gleich-haeppchenjournalismus/52800
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Dokumentation Art War - Ohne Drehbuch, aber mit Gasmaske
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Eine Straße mitten in Kairo. Staubige Mauern, ein junger Mann läuft vorbei, von einem Baugerüst flattert eine Plane. Alles wirkt ganz normal. Bis der Zuschauer plötzlich erkennt, dass die Kamera geradewegs auf eine Straßensperre zurast: Auf die meterhoch aufgetürmten Betonblöcke ist der weitere Straßenverlauf nur aufgemalt. Originalgetreu und aus der Entfernung täuschend echt. Straßensperren wie diese sollen seit der Revolution immer wieder Demonstranten in Ägyptens Städten aufhalten. Straßensperren wie diese werden aber auch immer wieder zur Leinwand für Graffiti- und Straßenkünstler. [[{"fid":"58955","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":422,"width":750,"style":"width: 400px; height: 225px;","class":"media-element file-full"}}]] „Schon zu Beginn der Revolution gab es eine regelrechte Explosion von Kreativität“, sagt Hamed Abdel-Samad. Der Politikwissenschaftler, Autor und TV-Partner von Henryk M. Broder erlebte die Revolution in seinem Heimatland von Anfang an hautnah mit. Auch der Berliner Dokumentarfilmer Marco Wilms war im Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz, als der Aufbruch in ein neues Ägypten gefeiert wurde. Genau wie Abdel-Samad war Wilms fasziniert von der plötzlich freigesetzten Kreativität: „Mit ganz neuen Ausdrucksformen eroberten die Künstler Straßen und Plätze“. Vor allem Graffiti-Künstler sind auf dem Weg in die Zukunft wichtig, meint Wilms: „Sie suchen die Interaktion mit den Menschen auf der Straße und diskutieren mit Passanten, noch während ihre Wandmalereien und Graffitis entstehen. Ihr Beitrag zur politischen Bewusstseinsbildung ist enorm“. Denn es geht nicht nur darum, graue Fassaden zu verschönern, die Wände werden zu Medien: „Die Künstler dokumentieren die Geschichte der Revolution. Gleichzeitig beleben sie die pharaonische Tradition der Wandmalerei wieder und interpretieren diese neu“, erklärt Hamed Abdel-Samad. Die berühmten Märtyrer-Porträts etwa, die nach Ausschreitungen während eines Fußballspiels in Port Said im Februar 2012 nahe des Tahrir-Platzes entstanden, erinnerten an die Todesopfer in der Hafenstadt. Straßenschlachten, Frauenrechte, Staatsgewalt: Jedes Thema wird seit der Revolution künstlerisch dokumentiert. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung von Meinungsäußerung und kreativer Individualität bahnen sich junge Künstler ihren Weg durch die Straßen des Landes – farbenfroh und ehrlich, respektlos und laut. [[{"fid":"58956","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":578,"width":750,"style":"width: 400px; height: 308px;","class":"media-element file-full"}}]] Internationale Medien berichteten viel über die revolutionären Wandmalereien aus Ägypten. Doch Momentaufnahmen waren Marco Wilms nicht genug. Fast drei Jahre lang begleitete er fünf ägyptische Künstler bei ihrer Arbeit, dokumentierte ihre anfängliche Euphorie ebenso wie ihre Zweifel nach dem Wahlerfolg Mursis 2012 und ihre Entschlossenheit, Islamisten und autoritären Kräften nicht das Feld zu überlassen. Denn die Künstler sind politische Aktivisten: Sie demonstrieren und liefern sich wenn nötig Straßenschlachten. Wilms war immer dabei, ausgestattet mit Gasmaske, Kamera und viel Spontanität. Herausgekommen ist die einzigartige Dokumentation „Art War“, die hinter die Schlagzeilen über politische Machtkämpfe und Todesopfer blickt. Graffiti-Künstler stehen dabei im Mittelpunkt, aber auch Musiker kommen zu Wort. „Es ist die erste Dokumentation, die über einen so langen Zeitraum hinweg das Land und seine Künstlerszene begleitet“, sagt Hamed Abdel-Samad. Er ist überzeugt: „Marco Wilms war der richtige für diesen Film“. In „Art War“ gibt Abdel-Samad nicht nur Antworten, sondern wirft auch Fragen auf. „Ich habe ein Buch über die Revolution geschrieben, aber ich bin selbst noch immer dabei, zu begreifen, was in Ägypten geschieht“, sagt er lächelnd. Wilms und Abdel-Samad kannten sich schon vor der Revolution. Der Berliner war von der Biographie des Deutsch-Ägypters fasziniert, man traf sich 2010, die Idee einer Dokumentation über Abdel-Samad entstand. Das Drehbuch war fast fertig, die Finanzierung stand – dann brach die Revolution aus. Abdel-Samad war schon in Ägypten, als Wilms ihn anrief. „Ich wusste nicht, was mich erwartet“, erinnert er sich, „doch ich dachte: Dort findet gerade eine Weltrevolution statt, das muss ich miterleben“. Also packte Wilms seine Kamera ein und flog nach Kairo. Statt eines Drehplans folgte er seiner Intuition und knüpfte schnell Kontakte in die gerade erst entstehende Street Art-Szene. Den Künstler Ganzeer etwa lernte Wilms in einem Café kennen. Der damals noch unbekannte Ganzeer arbeitete gerade an einer Skizze, aus der später eine Wandmalerei in Kairo werden sollte. Von da an begleitete Wilms ihn. Über zwei Jahre später ist Ganzeer eine internationale Größe, seine Werke werden Galerien in Kanada gezeigt, die New York Times berichtete über ihn. Für Hamed Abdel-Samad änderte sich seit der Revolution ebenfalls viel: Er veröffentlichte sein drittes Buch, ist ein beliebter Talkshow-Gast und durch seine Kommentare und Einschätzungen einem wachsenden Publikum bekannt – auch in seiner Heimat. Sowohl in Deutschland als auch in Ägypten eckt er immer wieder an. Im Juni 2013 erhielt er dafür eine erschreckende Quittung: Weil er die Ideologie der Muslimbrüder mit dem Faschismus verglich, rief der Islamist Assem Abdel Meguid im Internet und im ägyptischen TV zu Abdel-Samads Tötung auf. An diese dunkle Episode erinnert auch Wilms in seinem Film. Einschüchtern lässt sich Abdel-Samad nicht. Er ist überzeugt: „Extreme Meinungen schaffen Freiräume für moderate Kräfte, denn sie erweitern Grenzen und beeinflussen so die Dynamik der Gesellschaft“. Die Konfrontation zwischen Vertretern konträrer Ansichten sei wichtig. Eine solche Konfrontation ist auch in „Art War“ zu sehen: Ein Jugendlicher unterbricht ein Interview nahe des Tahrir-Platzes. Er stört sich an dem Aufdruck von Abdel-Samads Kapuzenpulli. „God is busy“ prangt in großen Buchstaben auf der Brust des Autors. Zu viel für den selbst ernannten Tugendwächter im Teenageralter. Der verbale Disput mündet in purer Aggression, ein Mob versammelt sich. Mittendrin: Marco Wilms – mit Kamera. „Die Menge war so sehr mit der hitzigen Diskussion beschäftigt, dass keiner meine Kamera bemerkte“, erinnert sich Wilms. Szenen wie diese machen „Art War“ so besonders. Die Stärke des Films liegt aber auch darin, dass der Blick über die üblichen Motive hinausgeht. Abseits vom Lärm der Millionenstadt Kairo führt der Künstler Ammar Abou Bakr den Zuschauer und Wilms zur Quelle seiner Inspiration: Auf einem Sufi-Festival in Luxor zeigt sich das friedliche und tolerante Gesicht des Islam. Marco Wilms eröffnet mit seinem Film eine neue Perspektive auf eine Gesellschaft im Umbruch, die man aus den Medien zu kennen glaubt. Weltpremiere feiert „Art War“ am 29. Oktober auf dem Filmfestival DOK Leipzig, in den folgenden Wochen wird der Film in der Schaubühne Lichtenfels (30.10.), im Cinestar Leipzig (2.11.), im Studio Kino Hamburg (14.11.) sowie am Theater an der Ruhr (14.12.) gezeigt. Weitere Daten und Informationen zur TV-Ausstrahlung unter http://films2013.dok-leipzig.de/de/film.aspx?ID=4953 und https://www.facebook.com/pages/ART-WAR/224618117681436.
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Katharina Pfannkuch
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Eigentlich wollte der Filmemacher Marco Wilms eine Dokumentation über Hamed Abdel-Samad drehen. Dann brach die ägyptische Revolution aus. Wilms warf sein Drehbuch über den Haufen, folgte Abdel-Samad nach Kairo und tauchte ein in die Welt von Aktivisten und Künstlern
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außenpolitik
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2013-10-28T13:08:12+0100
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2013-10-28T13:08:12+0100
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https://www.cicero.de//ohne-drehbuch-aber-mit-gasmaske-die-dokumentation-art-war/56236
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Ralf Stegner über den Tatort – „Schimanski war revolutionär“
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Herr Stegner, Sie haben sie alle: 852 Filme, die Tatorte
von 1970 bis 2012. Warum das?
Das ist sicherlich eine Marotte. Ich habe den Tatort von Beginn an
erst bei meinen Eltern geguckt, später dann alleine und fand ihn
immer klasse. Er hat mir deutlich besser gefallen als amerikanische
oder andere Krimis. Dann habe ich angefangen alles aufzunehmen, mit
den Wiederholungen mehr und mehr mein Repertoire ergänzt,
irgendwann alles auf DVDs überspielt und einen Jägerehrgeiz
entwickelt, so dass ich auch noch die restlichen Sammlerstücke
besorgte. Lesen Sie mehr über das Phänomen "Tatort" in der
September-Ausgabe des Magazins Cicero. Ab sofort am Kiosk oder gleich bestellen
im Online-Shop! Cicero gibt es jetzt auch als
ePaper oder iPad-App. Welche waren am Schwersten zu bekommen?
Österreichische oder Schweizer Tatorte zum Beispiel. Die sind
schwieriger zu besorgen als die vom NDR. Ich habe viel
herumtelefoniert, meistens haben mir am Ende freundliche Damen
geholfen und manchmal auch Aufzeichnungen besorgt obwohl sie das
gar nicht durften. Da will ich jetzt lieber nicht jeden Weg
beschreiben... [gallery:Die 20 Cicero-Cover zum Tatort] Unter vielen Tatortfans gehört es dazu, sich nach jeder
Ausstrahlung darüber auszulassen, dass die Tatorte früher besser
waren. Sie müssten es wissen, oder?
Ich finde das nicht. Natürlich gibt es welche, die einem
besser gefallen als andere. Nicht jedes Drehbuch, jede Geschichte,
jedes Thema ist gleich gut oder reizt einen. Aber wenn man den
Tatort mit anderen Serien vergleicht, ist er immer noch deutlich
realistischer, vielfältiger und politischer. Ob Kindesmissbrauch,
Asylrecht, Kriegseinsatz in Afghanistan, der Umgang mit Neuen
Medien, die alternde Gesellschaft oder Fußball – was politisch
relevant ist, kommt auch vor. Und zwar nicht nur in den schicken
Münchener Gegenden, die man von Derrick kennt sondern in
Ludwigshafen am Rhein, in Münster, Kiel, Berlin oder München. Das
ist schon ziemlich konkurrenzlos. Welches Bundesland kommt im Tatort am
besten weg?
Schleswig-Holstein kommt natürlich sehr gut weg, mit seinen
wundervollen Bildern, mit Kiel, dem Meer. Der Kommissar (Axel
Milberg als Klaus Borowski, Anm. d. Red.) wird vielleicht noch ein
bisschen grummeliger dargestellt als es die Norddeutschen sind,
aber schlecht ist das auch nicht. Nordrheinwestfalen hat mit seinen
vielen verschiedenen Regionen auch einiges zu bieten von Köln, dem
Ruhrpott bis nach Münster. München oder Berlin werden auch anders
dargestellt als in vielen anderen Serien. Frankfurt mit seinen
guten Drehbüchern, mit Joachim Król und Ulrich Tukur ist natürlich
erste Liga. Ihr Lieblingskriminalist?
Ich fand den Finke (Kieler Kommissar aus den 70er Jahren, Anm. d.
Red.) hervorragend. Aber passend zu meinem damaligen Alter hat mir
natürlich auch Götz George als Schimanski sehr gut gefallen. Das
war revolutionär, ein Stück Jugendkultur ins Fernsehen zu bringen,
die man sonst nur aus Kinofilmen kannte. Die schlimmste Personalentscheidung in Sachen
Kommissarbesetzung? Til Schweiger hat ein ziemliches Raunen in der
Tatort-Szene ausgelöst...
Ich bin auch nicht sicher, dass das klappt mit dieser Methode, sich
einen Kinostar zu holen und zu glauben, dass er das mal so eben
kann. Und dann kommt der auch gleich mit Vorschlägen, was man so
alles anders machen muss – in der Regel geht so etwas daneben. Ein
guter Schauspieler schlägt eben nicht immer ein. Trotzdem guck ich
mir das an, mal schauen. Seite 2: Ist Stegner beim Tatort-Gucken eher der gesellige
Typ oder der ruhige? Vermissen Sie auch noch Maren Eggert alias Frieda Jung
an der Seite von Axel Milberg alias Borowski?
Die hat das richtig klasse gespielt, hat mir gut gefallen. Obwohl
ich die Neubesetzung mit Sibel Kekilli als Sarah Brandt auch nicht
schlecht finde. Vielleicht wollte man dem unterkühlten Part etwas
entgegensetzen – das ist dann künstlerische Freiheit der
Macher. So abgebrüht sind Sie da als Tatort-Fan?
Naja, nicht immer. Natürlich gucke ich mir auch an, wie Politik
dargestellt wird. Am Sonntag wird ein Tatort mit einem wohlhabenden
Staatssekretär gezeigt und der ist korrupt. Da ich selber einmal
Staatssekretär war, würde ich das nicht bestätigen wollen. Die
meisten Staatssekretäre, die ich kenne, sind eher ordentliche
Leute. Da ist das Milieu ein bisschen überzeichnet, gerade was das
Materielle angeht. Das ist aber nicht tatorttypisch sondern typisch
für die Darstellung von Politik in Fiktion. Das
bemängeln viele Berufsgruppen, etwa auch
Staatsanwälte, die bei den Tatorten nicht gut weg
kommen...
Andererseits werden grüne Polizisten heute nicht mehr als Deppen
dargestellt, so wie früher. Mein Schwiegervater, der Polizist war,
hat sich in den 70er Jahren darüber sehr aufgeregt. Ihre Eltern zeigten bereits in den
70ern in ihrer eigenen Gastwirtschaft sonntagabends den Tatort. Was
sind Sie für Typ: Haben Sie es gern gesellig zum Tatort oder muss
im Wohnzimmer heilige Ruhe herrschen und niemand
darf dazwischen quatschen?
Meistens guck ich schon zuhause und das auch am liebsten. Aber es
kommt schon mal vor, dass ich eingeladen werde, weil sich meine
Vorliebe herumspricht. Ich hab mir schon Premieren im Kino
angesehen und ein paar der Tatortkommissare kennen gelernt. Zum
Beispiel die Kölner, die Dresdener, Mario Kopper aus Ludwigshafen.
Mit denen ein Bier zu trinken und festzustellen, dass die sich
teilweise selbst spielen, ist schon witzig. Was sagt es über ein Land aus, das alle
gesellschaftlichen Fragen nur noch mithilfe eines Leichenfundes in
den Wohnzimmern erörtert?
Ich sehe das gar nicht so kritisch. Es ist doch die alte Geschichte
mit der gut gemachten Unterhaltung: Wenn es darum geht, wie sich
unsere Soldaten in Afghanistan fühlen und diese Diskussion so in
die Familien getragen wird, finde ich das richtig gut. Ich vermute,
manche Leute denken über bestimmte Dinge wie Rassismus oder
Zustände im Pflegeheimen sonst nicht nach. Und so bleibt vielleicht
etwas hängen. Das Interview führte Marie Amrhein
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Die Kieler Tatort-Ermittler sieht der schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende am liebsten: Ralf Stegner über seine große Tatort-Leidenschaft, darüber, ob die Folgen früher besser waren und was er von Til Schweiger als neuem Kommissar hält
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kultur
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2012-08-29T15:34:54+0200
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2012-08-29T15:34:54+0200
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https://www.cicero.de//kultur/schimanski-war-revolutionaer/51658
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BND und NSA - „Sie waren immer stolz auf ihre Zusammenarbeit“
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Wie bewerten Sie die Berichte, wonach der Bundesnachrichtendienst (BND) mit der NSA stärker zusammen gearbeitet hat als bisher bekannt?Dass die Dienste sehr eng zusammengearbeitet haben, das war bekannt. Der BND kooperiert nicht nur mit der NSA, sondern auch mit der CIA, und dabei werden immer wieder auch wichtige Nachrichten ausgetauscht. Das weiß man zum Beispiel von der Curveball-Affäre, bei der ein Informant in Deutschland mit dem Decknamen Curveball den BND über frei erfundene angebliche Pläne Saddam Husseins zur Produktion von Massenvernichtungswaffen informiert hat. Diesen Bericht hat der BND dann an die CIA weitergegeben – und das hat letztlich zum Irak-Krieg geführt. Also sind die Berichte keine Meldung wert?Es ist Quatsch, dass jetzt so getan wird, als ob BND und NSA vorher gar nichts miteinander zu tun gehabt hätten. Im Gegenteil, die Dienste waren immer stolz auf diese Zusammenarbeit. Neu dagegen ist, dass wir durch Snowden erfahren haben, dass die NSA quasi bevölkerungsdeckend sämtliche Kommunikation in Deutschland abgegriffen hat – in einer Größenordnung, die auch für mich nicht vorstellbar war. Die Nachrichtendienste sagen aber, dass sie gerade über diese Abhöraktion angeblich nichts erfahren hätten. Aufgabe des parlamentarischen Kontrollgremiums ist es, die Nachrichtendienste des Bundes zu kontrollieren. Informationen über die Arbeit von BND, Bundesamt für Verfassungsschutz und Militärischem Abschirmdienst erhält das Gremium unter anderem von der Bundesregierung. Fühlen Sie sich als Mitglied des Kontrollgremiums gut informiert?Ganz eindeutig: Nein. Meiner Erinnerung nach hat die Bundesregierung nie über die Sachverhalte informiert, die nachher zu großen Skandalen in der Öffentlichkeit wurden. Wir waren vielmehr auf Medienberichte angewiesen. Erst auf Nachfrage, auch in Untersuchungsausschüssen, kamen dann nach und nach Eingeständnisse von der Regierung. Hier kommt die Bundesregierung ihrer gesetzlichen Verpflichtung, über besondere Vorkommnisse von sich aus zu berichten, nicht nach. Haben Regierung und Nachrichtendienste auf der Sondersitzung des Gremiums in der vergangenen Woche Antworten geliefert?Nein, die zentralen Fragen wurden nicht beantwortet. Wir hätten uns diese Sitzung – die dritte zu diesem Thema innerhalb von drei Wochen - auch sparen können. Wir wussten danach auch nicht mehr, als die Bundesregierung in der Öffentlichkeit sagt: Sie werde sich bemühen, etwas herauszufinden. Fakten, was nun stimmt, hat sie nicht genannt. Das ist nach drei Wochen unverzeihlich und nährt den Verdacht, dass die Bundesregierung und die Nachrichtendienste schon vorher von der Überwachung wussten. Die zentrale Frage, nämlich welche Vorwürfe Snowdens richtig oder falsch sind, wurde weder durch die Bundeskanzlerin an den US-Präsidenten noch auf Fachebene gestellt. [[nid:54895]] Wie kann dann das Kontrollgremium überhaupt seine Aufgabe erfüllen?Die elf Abgeordneten können bei allem guten Willen nicht die drei bundesdeutschen Geheimdienste völlig kontrollieren und sagen, das, was die machen, ist korrekt. Das ist gar nicht möglich. Wenn die Bundesregierung ihrer Verpflichtung etwas mehr nachkommen würde, könnten wir uns zumindest diesem Ziel etwas annähern. Da das bisher nicht der Fall ist, müssen wir das Kontrollgremiumsgesetz so ändern, dass es in Zukunft ganz konkrete Kriterien gibt, nach denen die Bundesregierung über besondere Vorkommnisse zu berichten hat. Eine Aufgabe für die nächste Legislaturperiode?Ich fordere das schon lange. Wir haben dazu Vorschläge gemacht, doch im entscheidenden Punkt, der Präzisierung der Informationspflicht der Bundesregierung, hat sich nichts geändert. Der nächste Bundestag wird und muss sich, gerade nach den Snowden-Berichten, intensiv mit einer Reform befassen. Das Interview führte Sascha Brandt
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Sascha Brandt
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Hans-Christian Ströbele ist das dienstälteste Mitglied im parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags. Der Ausschuss soll die Arbeit der bundeseigenen Nachrichtendienste überwachen. Im Gespräch mit Cicero Online erklärt der Grünen-Politiker, warum er über die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA nicht überrascht ist
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innenpolitik
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2013-07-09T10:43:20+0200
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2013-07-09T10:43:20+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/bnd-und-nsa-sie-waren-immer-stolz-auf-ihre-zusammenarbeit/55002
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Kollateralschaden der Griechenlandkrise - Naive Verklärung der Demokratie
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Was ein Affentheater! Erst führt Alexis Tsipras wochenlang Verhandlungen, die eigentlich gar keine Verhandlungen sind, sondern taktische Spielchen. Dann, als ein sehr weitreichendes Angebot der EU vorliegt, wird aus heiterem Himmel ein Referendum abgehalten, gegen den „Terrorismus“ (Y. Varoufakis) der Gläubiger. Und nachdem die Griechen mit Zweidrittelmehrheit den Einflüsterungen ihrer Links-rechts-Regierung gefolgt sind, legt Griechenland innerhalb weniger Tage ein Reformpaket vor, das in etwa dem entspricht, was im Referendum abgelehnt wurde: Mehrwertsteuererhöhung, Hochsetzung des Renteneintrittsalters, Wegfall von Sozialleistungen, Reform des öffentlichen Sektors. Wenn nicht alles täuscht, werden also wieder die Milliarden fließen, via Hilfspakten und Rettungsschirm, Griechenland wird in der Euro-Zone verbleiben, und in wenigen Monaten beginnt alles von Neuem. Also alles beim Alten? Bei weitem nicht. Denn der Kollateralschaden ist erheblich. Nicht nur, dass alle Beteiligten, die deutsche Kanzlerin eingeschlossen, als unglaubwürdige Papiertiger aus der Sache hervorgehen werden, nachhaltig beschädigt ist vor allem die Demokratie. Schuld daran sind zunächst die vollkommen überspannten Erwartungen, die die griechische Regierung fahrlässig mit dem Referendum geweckt hat, die naive Verklärung der Demokratie und des Volkswillens. Doch leider: Es gibt Dinge auf der Welt, über die kann man nicht demokratisch abstimmen. Über das Wetter etwa oder darüber, dass die Erde um die Sonne kreist. Und auch Verträge oder Kredite kann man nicht einfach demokratisch für null und nichtig erklären. Doch die insbesondere bei der politischen Linken (aber nicht nur dort) kultivierte Sakralisierung des sich demokratisch äußernden Volkswillens schürt insbesondere in politischen Krisensituationen die Erwartung, mittels demokratischer Prozesse ließen sich Berge versetzen. Schlimmer noch: Die quasireligiöse Verherrlichung der Demokratie im öffentlichen Diskurs und durch politische Funktionsträger erweckt die Illusion, „Demokratie“ oder „demokratische Werte“ stünden über allen anderen Normen. Das ist aber eindeutig nicht der Fall. Gerade die Demokratien leben von normativen Voraussetzungen, die sie selbst nicht begründen und über die sie nicht verfügen kann: etwa Rechtssicherheit, Vertragstreue und Eigentumsschutz. Wer daher meint, mittels demokratischer Abstimmungen geltendes Recht nach belieben verändern und Verträge verletzten zu können, schadet der Demokratie, da diese, wie keine andere Staatsform, auf die Anerkennung von Verträgen, von Recht und Gesetzt angewiesen ist. Nur Tyrannen können Verträge nach Gutdünken manipulieren oder für ungültig erklären. Eben weil Demokratie jedoch auf einer ganzen Palette von Werten und Normen beruht, über die sie nicht verfügen kann, setzt sie einen minimalen Grundkonsens innerhalb einer Gemeinschaft voraus. Dieser Grundkonsens kann sich zwischen demokratischen Gesellschaften erheblich unterscheiden. Innerhalb einer Demokratie jedoch ist ein Mindestmaß an kultureller und normativer Homogenität erforderlich. Hauptquelle dieses normativen Grundkonsenses in Gesellschaften sind deren Traditionen und kulturelle Mentalitäten, die auch Produkte ihrer wirtschaftlichen und sozialen Realitäten sind. Transnationale Organisationen wie die EU stellen jedoch höchst unterschiedliche soziale Realitäten und kulturelle Mentalitäten neben- und – wie wir in den letzten Wochen gelernt haben – im schlimmsten Fall auch gegeneinander. Um sich klar zu machen, was das bedeutet, braucht man sich nur vorzustellen, Deutschland hätte auf das griechische Referendum seinerseits mit einem Referendum reagiert (wie die AfD bezeichnenderweise fordert). Das Ergebnis wäre das Gegenteil dessen gewesen, was gebetsmühlenartig als Daseinszweck der EU apostrophiert wird, nämlich Unfriede oder sogar Feindseligkeit – nicht zwischen Repräsentanten, sondern dann sogar zwischen Völkern. Das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Wir sollten Alexis Tsipras daher dankbar sein. Sein Referendum hat uns daran erinnert, dass transnationale Organisationen wie die EU Vertragsbündnisse zwischen Demokratien sind. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass sie nicht selbst demokratisch sind, ist – anders als häufig beklagt – kein Fluch, sondern ein Segen. Wenn nicht alles täuscht, bleiben Demokratie und Nation auf absehbare Zeit untrennbar miteinander verbunden. Das mag für viele postnational gestimmte Deutsche befremdlich klingen. Doch für eine wahrhaft demokratische EU sind die sozialen und kulturellen Differenzen innerhalb Europas nach wie vor zu groß. Doch das ist gar nicht so schlimm. Denn der Charme Europas liegt gerade in diesen Differenzen. Sie zu nivellieren wäre ein trauriger Verlust. Und eine funktionierende Währungsunion und ein prosperierender Wirtschaftsraum sind ohnehin von Bedingungen abhängig, die sich jeder demokratischen Verfügbarkeit entziehen. Hier regieren die nüchternen Gesetze der Ökonomie.
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Alexander Grau
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Kolumne: Grauzone. Man müsste Alexis Tsipras dankbar sein. Denn das griechische Referendum zeigt, dass transnationale Demokratien Gefahr laufen, Bevölkerungen gegeneinander auszuspielen
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kultur
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2015-07-11T11:10:45+0200
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2015-07-11T11:10:45+0200
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https://www.cicero.de//kultur/anfang-vom-ende-des-demokratischen-zeitalters/59552
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Angriff auf Mark Zuckerberg - „Es ist an der Zeit, Facebook zu zerschlagen“
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Knallharter Haken gegen Facebook-Mogul Mark Zuckerberg, der im Moment ohnehin ein Glaskinn hat: Der Mitgründer des sozialen Netzwerkes, Chris Hughes, schreibt in der New York Times über die Verwandlung seines früheren Partners von einem normalen jungen Mann mit Prokrastinationserscheinungen zu einem nimmersatten und wachstumsgetriebenen Manischen, dessen monopolistische Plattform zu einer Gefahr für die freie Weltwirtschaft und letztlich auch für die Menschheit geworden ist. Zumal Zuckerberg persönlich über 60 Prozent der Anteile halte und damit letztlich die alleinige Hoheit über die Algorithmen und den Newsfeed des gigantischen digitalen Kanals habe. „Zerschlagt Facebook!“ fordert der ehemalige Wegbegleiter Zuckerbergs die amerikanische Regierung auf und verweist auf andere monopolisitsche Unternehmen aus der konventionellen Wirtschaft, bei denen sie das auch schon gemacht hat. Außerdem zieht Hughes in dem sehr persönlichen Beitrag Parallelen zum australischen Medienmogul Rupert Murdoch, der auch immer wieder mit seinem Zeitungsimperium Weltpolitik aktiv beeinflusst hat. Es ist der härteste Angriff auf Zuckerberg und Facebook, den es bisher gegeben hat.
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Christoph Schwennicke
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Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sieht sich neuen harten Angriffen ausgesetzt. Sein früherer Partner, Chris Hughes, erzählt von Zuckerbergs Wandlung von einem normalen jungen Mann zu einem nimmersatten Manischen – und fordert die Zerschlagung von Facebook
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[
"Facebook",
"Mark Zuckerberg",
"soziale Netzwerke",
"Digitalisierung"
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wirtschaft
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2019-05-10T13:36:22+0200
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2019-05-10T13:36:22+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/facebook-mark-zuckerberg-soziale-netzwerke-digitale-welt
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Tödlicher Autounfall in Berlin - Feindbild SUV
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Der spätsommerliche Wind verbreitet einen süßlichen Duft in Berlin-Mitte. Dort, wo die Ackerstraße die Invalidenstraße kreuzt, unweit des Nordbahnhofs. Blumen der Beklemmug liegen hier zwischen flackernden Kerzen und kleinen Teddybären. Briefe, Zettel und Kreidezeichnungen zeugen von der Trauer, die hier seit vergangenem Freitagabend herrscht. Der Fahrer eines Porsche-SUV raste aus noch unbekannter Ursache auf den Gehweg. Ein dreijähriges Kind, eine 64jährige Frau und zwei Männer im Alter von 28 und 29 Jahren kamen deshalb ums Leben. Der Fahrer erlitt Kopfverletzungen. Die ermittelnde Polizei hält eine medizinische Ursache für nicht unwahrscheinlich. Warum bewegt dieser schlimme Unfall so viele in ganz Deutschland? Das Meer aus Blumen und Kerzen ist inzwischen viele Meter lang. Es wird immer wieder unterbrochen von weißen Papieren, auf denen gedruckt zu lesen ist: „SUV verbieten (freiwillige Vernunft funktioniert hier nicht)“, „SUV töten Kinder, Mütter, Väter, das Klima“, „SUV Egoisten Ignoranten“. Jemand hat ein Schild an einem Pfahl befestigt, die Aufschrift lautet: „Autos sind Terror“. Ein Mann schüttelt den Kopf. Er könne das nicht verstehen. Warum jemand solche Aussagen hier aufhängt. Überall würden schließlich Menschen sterben, warum ausgerechnet ein Verkehrsunfall in Berlin-Mitte nun besonders schlimm sein soll. Tatsächlich waren die Reaktionen auf diesen Unfall bemerkenswert, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Denn es ging nicht nur um Entsetzen, Trauer, Wut und Hilflosigkeit, sondern auch um Konsequenzen und Feindbilder. Noch bevor die Unfallursache überhaupt geklärt ist, war für viele der Grund schon ausgemacht: Die SUVs ( „Sport Utility Vehicle“) sind Schuld. Und eines muss man den voreiligen Schlüssen zugute halten: Die immer beliebteren SUVs entfalten rein physikalisch eine ganz andere Kraft, als etwa ein Kleinwagen oder erst recht ein Roller oder Fahrrad. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Kraft, Masse und Geschwindigkeit. Die Wucht eines Kleinwagens aber kann auch Menschen töten, wie das Bundesamt für Statistik auf S.183 der Verkehrsunfälle 2018 zeigt. Am Ende läuft dieses Argument auf Folgendes hinaus: Wäre dort kein Auto lang gefahren, wäre auch niemand gestorben. Und das fordern nun auch manche: Autoverbot ab 2022 in der gesamten Berliner Innenstadt, steht auf anderen Schildern geschrieben. Als eine der ersten meldete sich nach Bekanntwerden des Unfalls ausgerechnet die Deutsche Umwelthilfe beim Kurznachrichtendienst Twitter zu Wort. Der Verein machte in der Vergangenheit vor allem von sich Reden, weil er Dieselfahrvebote in Deutschlands Städten fordert und sich anschickt, die Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) in Baden-Württemberg und Markus Söder (CSU) in Bayern gerichtlich in Beugehaft zu zwingen. SUVs haben in unseren Städten nichts zu suchen! 4 Tote, darunter ein Kleinkind, sind die Bilanz eines schrecklichen Raser-Unfalls mit einem Porsche-SUV in Berlin. Und wenn es nach den Autokonzernen geht, soll mehr als jeder zweite Neuwagen ein SUV werden. Wir kämpfen dagegen an! Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), folgte und kritisierte ebenfalls derartig schwere Pkw-Modelle. „Solche panzerähnlichen Autos gehören nicht in die Stadt.“ Es seien Klimakiller, auch ohne Unfall bedrohlich, jeder Fahrfehler werde zur Lebensgefahr für Unschuldige. „Wir brauchen eine Obergrenze für große SUV in den Innenstädten“, sagte indessen der stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Oliver Krischer, dem Tagesspiegel. Der Welt-Journalist Ulf Poschardt, selbst bekennender Porsche-Fahrer und SUV-Verachter, reagierte promt: die instrumentalisierung eines fürchterlichen verkehrsunfalls und seiner toten markiert einen neuen tiefpunkt der debatte um eine verkehrswende Daraufhin zerrten seine Gegner einen Tweet von Poschardt aus dem Jahr 2018 hervor, in dem er schrieb: „Und rasen richtig gemacht ist höchste Verantwortung und das schönste und wunderbarste und poetischste“. Tatsächlich ist die Wortwahl anlässlich dieses grauenvollen Unfalls, der vier Menschen das Leben kostete, unwürdig. Zwar stellte der „VCD, der ökologische Verkehrsclub“ sofort jene weißen, an Menschen erinnernden, Plastikfiguren auf, um an die Toten an Ort und Stelle zu erinnern. Der Verein aber bezeichnet Autos generell als „motorisierte Mordwerkzeuge“. Dass man mit Autos morden kann, musste Berlin am Breitscheidtplatz im Jahr 2016 tatsächlich traurig erfahren. Es war aber nicht der LKW, der tötete, Grund war der Vorsatz des Attentäters Anis Amri. Alle Autos als „motorisierte Mordwerkzeuge“ zu bezeichnen und damit alle Autofahrer als potenzielle Mörder, ist nicht nur geschmacklos, sondern unterstellend und schlicht unwahr. In der Resolution 1566 des UN-Sicherheitsrates wird Terrorismus definiert: Es sind „Straftaten, namentlich auch gegen Zivilpersonen, die mit der Absicht begangen werden, den Tod oder schwere Körperverletzungen zu verursachen, oder Geiselnahmen, die mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung, eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu versetzen, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen, welche Straftaten im Sinne und entsprechend den Begriffsbestimmungen der internationalen Übereinkommen und Protokolle betreffend den Terrorismus darstellen [...]“ So viel zur Verhältnismäßigkeit von Vergleichen. Die Menschen, mit ihren Schildern, Blumen und Kerzen, trauern. Vielleicht schießen einige in Wut auch übers Ziel hinaus. Das ist verständlich. Das ist menschlich. Das ist verzeihlich. Aber wenn Umweltvereine und Politiker gar nicht erst die Ursache abwarten und den Unfall für ihre eigentliche Klima-Agenda nutzen, ist das fahrlässig und unwürdig. Sachlich zu streiten über bessere Schutzsysteme wie Lkw-Abbiegeassistenen, über intelligente, automatische Bremssysteme, über Warnsignale für Fußgänger – all das wäre angebracht. Bloße Geschwindigkeitbegrenzungen hätten bei einem medizinischen Notfall des Fahrers wohl auch nichts verhindern können. Über die Klimaschädlichkeit von PS-starken und schweren Fahrzeugen zu streiten, ist ebenfalls legitim. Aber ist ein noch ungeklärter, wahrscheinlich tragischer Unfall wirklich der richtige Anlass? Es gibt viele Städte, in deren City-Bereichen Kreuze und Gedenksteine an getötete Verkehrsopfer erinnern. Viele von ihnen stammen aus Zeiten vor der SUV-Ära. Das ist furchtbar, und sicher wären viele Opfer auch vermeidbar gewesen, aus vielerlei Gründen. Unfälle aber wird es trotzdem immer geben, ob nun mit oder ohne SUVs. Selbst autonomes Fahres mit Hilfe Künstlicher Intelligenz wird menschliches Versagen nie ganz ausschließen können. Auch eine Tram kann entgleisen, ein Busfahrer kann einen Herzinfarkt bekommen, ein Rollerfahrer kann in eine Menschenmenge rasen. Politiker und Unternehmer sollten alles dafür tun, dass dies so wenig wie möglich geschieht. Ein einfaches Feindbild zu kreieren mit martialischen Bezeichnungen aber bringt keine Leben zurück und verhindert auch keine weiteren Unfälle. Trauer darf vieles. Politisch geäußerte Betroffenheit aber ist etwas anderes.
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Bastian Brauns
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Ein tödlicher Autounfall in Berlin führt zu neuen Diskussionen um die Gefährlichkeit von SUVs. Von „Auto-Terror“ und „motorisierten Mordwerkzeugen“ ist die Rede. Es geht um Trauer, Hilflosigkeit und Wut – und um eine unwürdige Debatte
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"SUV",
"Auto",
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"Berlin",
"Trauer",
"Umwelthilfe"
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innenpolitik
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2019-09-08T22:52:52+0200
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2019-09-08T22:52:52+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/suv-unfall-berlin-ackerstrasse-invalidenstrasse-auto
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Rechte Gewalt in Deutschland - Die Politik der stillen Duldung
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Es brennt wieder in Deutschland. Fast jede Nacht. Gestern in Nauen. Heute Nacht in einer Asylunterkunft in Leipzig. Nein, es gibt nichts mehr zu beschönigen: Deutschland erlebt einen rassistischen Flächenbrand wie in den 1990er Jahren. Als der Staat in Rostock-Lichtenhagen kurzzeitig das Gewaltmonopol preisgab und Migranten einem mordbereiten Mob überließ. Rostock-Lichtenhagen war seither Symbol für die schmutzigen Geburtswehen des vereinigten Deutschlands. Offene Nazigewalt, Pogromstimmung, Brandanschläge auf Asylheime - lange her, weit weg. Der fremdenfeindliche Straßenterror von Heidenau entlarvt diesen kollektiven deutschen Irrtum. Was lange undenkbar war, ist wieder real: In Heidenau wurde das staatliche Gewaltmonopol durchbrochen, weil anfangs viel zu wenig Polizisten vor Ort waren. Verletzte Polizisten, verängstigte Flüchtlinge – Heidenau ist Fanal und vorläufiger Tiefpunkt eines fatalen gesellschaftlichen Prozesses, dem Angela Merkel zu lange tatenlos zusah. Die Bundeskanzlerin hat quälend lange geschwiegen. Jetzt ist sie nach Heidenau gefahren. Endlich. Zu spät. Immerhin. Sie muss Haltung zeigen, Worte finden, handeln. Zuallererst geht es um wirksamen Schutz der Menschen, die zu uns kommen. Merkels Bundesregierung muss viel mehr als bislang tun, damit Länder und Kommunen Flüchtlinge menschenwürdig und sicher unterbringen können. Das ist das Eine. Aber es geht auch um das, was Antonio Gramsci kulturelle Hegemonie nannte. Denn regiert wird nicht nur mit Gesetzen, Geld und Repression, sondern auf der Grundlage allgemein akzeptierter Werte. Dieser gesellschaftliche Konsens wird zusehends aufgekündigt und radikal bekämpft. Merkel hat politische Schuld auf sich geladen – durch Unterlassen. Sie hätte eine große Rede halten können, ja müssen, um dem Volk zu sagen: Wir erleben die größte humanitäre Katastrophe seit Jahrzehnten. Viele werden zu uns kommen. Wir können und wir wollen diese Menschen menschlich aufnehmen. Und wir werden es unter keinen Umständen dulden, diese Menschen an den rassistischen Pranger zu stellen oder ihnen Gewalt anzutun. Merkel hätte eine doppelte Autorität für brutale Ehrlichkeit gehabt: Als beliebteste Politikerin des Landes. Und als Vorsitzende einer Partei, die das Bekenntnis zum Christentum im Namen trägt. Stattdessen hat sie geschwiegen. So wie der sächsische CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich über Jahre keine Wort dafür fand, dass in seinem Land NPD und rechtsextremistische Kameradschaften unablässig für nationalen Sozialismus, ethnische Homogenität und gegen Fremde agitiert haben. So konnte entstehen, was der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick eine „rechtsterroristische Mentalität“ nennt: Akzeptanz für Gewalt zur Durchsetzung des vermeintlichen „Volkswillens“, die neben organisierten Neonazis längst auch etliche Bürger teilen, deren Rassismus zu lange als „berechtigte Sorge“ verharmlost wurde. Dieses fatale Verständnis für menschenverachtende Intoleranz haben viele begünstigt. Bis zum peinlichen Besuch von SPD-Chef Sigmar Gabriel bei Pegida-Anhängern in Dresden. In ihrer Neujahrsansprache hatte Merkel ungewohnt deutlich vor Pegida gewarnt. Das war wichtig. Danach aber sind Hass und Gewalt im Land eskaliert. Und von Merkel kam: nichts! Wer immer noch abstreitet, klein redet, leugnet und relativiert, dem sei etwa die FAZ-Reportage über das sächsische Häslich empfohlen. Wo ein „besorgter Bürger“ andeutet, dass neuerliche Deportationen in Konzentrationslager die Lösung für das Flüchtlingsproblem sei. Konliktforscher Zick analysiert, derzeit würden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zusammen wachsen. Angela Merkel hat darauf, als sie endlich erste Worte zu Heidenau fand, über ihren Regierungssprecher selbst hingewiesen, als sie es „beschämend“ nannte, dass sich Familien mit Kindern Neonazis anschließen, um gemeinsam gegen Menschen auf die Straße zu gehen, die in größter Not zu uns kommen. In Sachsen hat es die CDU-geführte Landesregierung über Jahre unterlassen, sich mit dem Ideologiekern des Rechtsextremismus auseinanderzusetzen: mit völkischem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und dem Ziel einer homogenen Volksgemeinschaft. Stattdessen hat man das Problem gemäß der Extremismus-Theorie auf Neonazi-Habitus und NPD verengt. Rechtsextremistische Täter konnten derweil über Jahre Orte wie Mügeln, Limbach-Oberfrohna oder Geithain terrorisieren, ohne dass ritualisierte Angriffe auf Andersdenkende wirksam unterbunden wurden. Verfahren wie das gegen die Neonazi-Kameradschaft Sturm 34, die rund um Mittweida systematisch Jagd auf Opfer machte, wurden so lange verzögert, bis am Ende milde Bewährungsstrafen heraus kamen. Überall in Sachsen sind über Jahre rechtsextreme Strukturen gewachsen. In vielen Orten hat man sich an die NPD-Parolen und das rechtsextreme Personal gewöhnt. Das erklärt, warum es bisweilen keine Berührungsängste zwischen fremdenfeindlichen Bürgern und organisierten Neonazis gibt. Schweigen und Leugnen sind als Konzepte ebenso gescheitert wie Heimattümelei. Jetzt stehen Merkel, Tillich, Gabriel und Co. in der Verantwortung durchzusetzen, dass Recht auf Heimat nicht beinhaltet, andere zu diskriminieren oder gar anzugreifen. Dass kein Unterschied gemacht wird, ob ein deutscher Polizist oder ein syrischer Asylbewerber verletzt wird. Dass ethnische Uniformität weder möglich noch wünschenswert ist. Ja, die Anständigen müssen einen neuen Aufstand machen. Til Schweiger hat es vorgemacht. Bezeichnenderweise ein Schauspieler. Kein Politiker. Derweil müssen die Zuständigen handeln, Polizei und Staatsanwaltschaften etwa rechte Täter finden und anklagen. Im Netz und auf der Straße. Bombendrohung gegen die SPD? Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat davor gewarnt, das zu hoch zu hängen. Im Gegenteil dürfen wir uns an diese Zustände nicht gewöhnen! Das Land hat außergewöhnliche, gewaltige Belastungen zu schultern. Wir können das schaffen. Millionen Bürger sind bereit mitzuhelfen. Sie müssen lauter werden. Sagen, was sie tun. Welches Deutschland sie wollen. Bedrohlich für unser Gemeinwesen sind nicht die Flüchtlinge, sondern diejenigen, die unser Grundgesetz brechen. Es darf nicht bei Gabriels wohlfeilen Worten bleiben, rechten Tätern „keinen Millimeter Raum“ zu überlassen. Wie es derzeit in diesem Land zugeht, zeigt ein Vorfall, der sich am Samstag in Berlin abspielte, in der S-Bahnlinie 41. Zahlreiche Zeugen hatten beobachtet, wie zwei Männer eine Mutter mit ihren beiden Kindern als „Asylantenpack“ und „Juden“ beschimpft hatten. Dann habe einer der Männer, ein 32-Jähriger, auf die Kinder uriniert. Ein Land, in dem das nur noch eine Tat von vielen ist, kann nicht bleiben wie es ist.
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Michael Kraske
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Angela Merkel hat lange über Gewalt gegen Flüchtlinge geschwiegen. Zu lange. Jetzt besuchte sie die Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau. In Sachsen und andernorts wurden rechtsextreme Ideologien und Strukturen viel zu lange toleriert
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kultur
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2015-08-26T15:35:26+0200
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2015-08-26T15:35:26+0200
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https://www.cicero.de//kultur/rechte-gewalt-deutschland-deutschland-darf-nicht-bleiben-wie-es-ist/59749
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2G-plus in der Gastronomie - „Wir wissen nicht, was wir dürfen und was nicht“
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Im Freitag hatten sich die Ministerpräsidenten der Länder mit der Bundesregierung auf eine bundesweite 2G-plus-Regelung geeinigt. Das heißt, dass fortan auch zweifach Geimpfte und Genesene einen negativen Corona-Test vorweisen müssen, wenn sie Kneipen, Cafés oder Restaurants besuchen wollen. Lediglich „Geboosterte“ sind von der Testpflicht ausgenommen, also jene, die bereits die Drittimpfung bekommen haben. Nun will ausgerechnet Bayern, dessen Ministerpräsident Markus Söder bislang als Corona-Hardliner auftrat, aus dem Konzert der Bundesländer ausscheren und auf verschärfte Corona-Regeln für Gaststätten verzichten. Im Freistaat soll weiterhin 2G gelten und nicht 2G-plus, das heißt, dass ungeboosterte Geimpfte weiterhin auch ohne zusätzlichen Test in Restaurants gehen dürfen. Bayern weicht damit als bisher einziges Bundesland neben Sachsen-Anhalt von der Bund-Länder-Linie ab. Dafür bleiben – anders als in anderen Bundesländern – in Bayern Kneipen, Bars und Discos weiter ganz geschlossen. In den übrigen Bundesländern gilt also künftig 2G-plus, auch in Berlin und Brandenburg. Cicero hat zu diesem Thema mit dem Inhaber der Pizzeria „Piazza Toscana“ in Potsdam, Giorgio Cuccia, gesprochen. Herr Cuccia, sie betreiben eine gut gehende Pizzeria in Potsdam. Können Sie schon absehen, welche Konsequenzen die am Mittwoch in Kraft tretende 2G-plus-Regelung für Ihr Restaurant haben wird? Genau das ist das Problem: Wir wissen es nicht. Natürlich sind viele Gäste längst geboostert. Für die ist das alles kein Problem. Aber was ist mit den anderen? Ich weiß nicht, ob die Leute bereit sein werden, vor dem Restaurantbesuch zum Test zu gehen. Ich denke, wir werden durchaus Verluste hinnehmen müssen. Einige werden auf den Restaurantbesuch verzichten. Ich würde mal schätzen, dass wir zehn bis 15 Prozent unserer Kunden erst einmal nicht mehr wiedersehen werden. Wird das Ihren Restaurantbetrieb verändern? Wir müssen jetzt aufmerksam gucken, was passiert. Vermutlich werden wir eine kleinere Speisekarte anbieten, damit wir nicht so viel unnütze Ware einkaufen müssen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir jetzt auf die Situation reagieren können. Wir warten. Wie schon damals bei der Einführung von 2G. Das war am Anfang sehr schlimm. Aber dann haben sich die Leute darauf eingestellt. Für die Politik ist das natürlich ein Druckmittel: Wollt ihr etwas unternehmen, dann lasst euch impfen! Die Menschen sind dem in der Regel gefolgt. Aber das hat gedauert. Am Anfang gab es durchaus Zwischenfälle. Da gab es Kunden, die waren richtig sauer. Es gab Streit an der Tür. Später hat sich das gelegt. Vermutlich werden wir das jetzt wieder sehen. Und wenn dann alle die dritte Impfung haben, wird sich das wieder legen. Wie werden Sie 2G-plus handhaben? Sollen die Gäste den Test mitbringen, oder testen Sie vor der Tür? Soviel ich weiß, dürfen wir gar nicht vor der Tür testen. Aber genau das ist das Problem: Wir sind noch gar nicht aufgeklärt worden. Wir wissen nicht, was wir dürfen und was wir nicht dürfen. Wenn wir selber testen dürfen, dann werden wir das schon irgendwie organisieren. Aber soviel ich weiß, darf man das nicht. Ich muss mich also erst bei der DEHOGA erkundigen. Die werden mir erklären, wie wir das machen müssen. In der FAZ war jüngst zu lesen, dass das Gastgewerbe die Hospitalisierung als Kennzahl vermisse. Was ist Ihre Meinung dazu? Ich kann nicht verstehen, warum die Hospitalisierung so wichtig ist. Wenn wir uns auf die Hospitalisierung verlassen würden, dann könnte es in kritischen Momenten schon zu spät sein. Konzentrieren wir uns also lieber auf die Inzidenz, dann können wir auch früher gegensteuern. Wenn die Krankenhäuser aber schon voll sind, dann kann es zu spät sein, und dann müssten wir komplett schließen. Die Hospitalisierung vermisse ich also nicht. Das ist kein Wert, auf den wir achten sollten. Wie sehr hat Ihr Restaurant bis dato unter der 2G-Regel gelitten? Am Anfang schon sehr. Die großen Gruppen und die Weihnachtsfeiern sind ausgefallen. In der Regel habe ich hier Veranstaltungen von bis zu hundert Personen; die sind alle weggebrochen. Das hat man schon sehr gemerkt. Die klassischen Familienessen hingegen, die fanden auch weiterhin statt – auch das Abendessen mit den Freunden. Aber gerade im Dezember machen die großen Feiern den Kalender voll. Verstehen sie mich nicht falsch: Ich verstehe das durchaus, wenn etwa die Belegschaft eines Krankenhauses mit 30 oder 100 Angestellten das Weihnachtsessen absagt. Wenn man nicht will, dass die Patienten essen gehen, dann kann man das selbst natürlich auch nicht machen. Wir konnten uns dieses Verständnis erlauben. Aber für viele andere Restaurants war das sehr hart. Wir haben zum Glück ein Ganzjahresgeschäft. Welche Alternativen würden Sie zu 2G-plus sehen? Es wäre gut, wenn die Gäste mit 2G draußen sitzen könnten. Es gibt ja durchaus Leute, die auch in der kälteren Jahreszeit gerne draußen sitzen. So etwas sollte man durchaus erlauben. Aber was sollen wir schon machen? Dass wir jetzt nicht zumachen müssen, das ist doch schon viel für uns. Natürlich ist ein Restaurantbesuch ein Risiko, weil sich da eine Menge Leute aufhalten können. Ich habe viele Freunde in der Gastronomie, die haben wirklich Probleme. Wenn die nur 15 Tische haben und davon aktuell lediglich sieben Tische nicht benutzen können, dann ist das ein Problem. Bei uns ist das Gott sei Dank nicht so. Deswegen rede ich die Politik auch nicht schlecht. Ich kann mir das erlauben. Die Fragen stellte Birgit Freudenberg.
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Birgit Freudenberg
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Was bedeutet die künftige 2G-plus-Regelung, die die Ministerpräsidenten der Länder beschlossen haben, für die Gastronomie? Der Potsdamer Restaurantchef Giorgio Cuccia zeigt sich im Interview mit „Cicero“ ratlos, wie die Regeln konkret umgesetzt werden wollen, bleibt aber insgesamt zuversichtlich.
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"Corona",
"Covid-19",
"Gastronomie",
"2G",
"Ministerpräsidentenkonferenz"
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innenpolitik
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2022-01-11T14:35:21+0100
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2022-01-11T14:35:21+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/2g-plus-in-der-gastronomie-corona-covid-regeln
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Streiks bei Bahn und Luftfahrt - Gewerkschafter als Lobbyisten und Egoisten
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Sie gelten als Sachwalter hehrer Tugenden: Gewerkschaften sind Bündnisse der Solidarität, der Gerechtigkeit, der Menschenwürde. So sehen sie sich selbst, so hat es in den Anfangsjahren des Industriekapitalismus gestimmt. Auf ihre historischen Leistungen können die Gewerkschaften stolz sein, alle Arbeitnehmer stehen in ihrer Schuld. Heute haben sie ihre Mission weitgehend erfüllt und sind von Agenten der Gerechtigkeit zu Lobbyisten der Arbeitsplatzbesitzer, wenn nicht gar nur ihrer Mitglieder geworden. Insofern sind die dauerstreikende Lokführergewerkschaft GDL und die Pilotengewerkschaft Cockpit leider Avantgarde. Wenn „Arbeiterführer“ Claus Weselsky treuherzig versichert, seine GDL bestreike einen verstockten Arbeitgeber, und „wir haben durchaus Verständnis dafür, dass die Reisenden aufgebracht sind“ – so ist das nur ein Teil der Wahrheit und wohl nicht der größte. Tatsächlich bestreikt die GDL das Land in einem Ausmaß, wie sie es nur tun kann, wenn „die Reisenden“ ihr letztlich egal sind. Hunderttausende Arbeitnehmer, Pendler, Väter und Mütter, Kinder und Greise werden in Geiselhaft genommen, damit die Zugführerlobby sich künftig zur Zugpersonallobby weiten darf. Die „knallharte Lobbypolitik“, die Weselsky der Deutschen Bahn AG vorwirft, betreibt er selbst. Die GDL will ein größeres Stück vom Arbeitnehmervertreterkuchen, will mit der Bahn im Namen weiterer Berufsgruppen verhandeln, koste es, was es wolle. Der Verkehr liegt lahm, weil die GDL und die konkurrierende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG um Einfluss ringen. Bisher galt der Grundsatz: Arbeitnehmer sympathisieren mit Streikenden aller Branchen, weil deren Anliegen – höherer Lohn, bessere Arbeitsbedingungen – die Anliegen auch der Streikopfer sind. Nun kippt die Stimmung. Im Westen Deutschlands halten laut einer Emnid-Umfrage bereits 53 Prozent der Befragten die kleinen Gewerkschaften für zu mächtig. Die Spartengewerkschaften werden zunehmend als missratene Kinder der Ellenbogen-Gesellschaft angesehen. Sie streiten für sich und nur für sich, sind Egoisten im Blaumann. Das moralische Sofortvertrauen, das eine politisch sensibilisierte Öffentlichkeit bisher den streikenden Beschäftigten einräumte, wird von GDL und Cockpit abgeräumt. Weselsky und Kollegen verspielen mehr als nur den eigenen Ruf. Sie könnten als Totengräber der Tarifautonomie und der Mitbestimmung in die Geschichte eingehen. Wenn in Deutschland regelmäßig Flughäfen verwaisen und Termine kollabieren, weil die Piloten der Lufthansa eine kommodere Altersabsicherung wollen, wenn der Bahnhof zum Biwak mutiert, damit eine Kleingewerkschaft einer anderen Kleingewerkschaft und dem Management die Muskeln zeigen kann, dann triumphiert ein brutaler Gruppenegoismus über Solidarität und Gerechtigkeit. Sollte sich der Eindruck verfestigen, dass Gewerkschaften nicht prinzipiell Anwälte, sondern im Zweifel Gegner des Gemeinwohls sind, wird die Zeit über sie hinweggehen. Dann werden wir bald im Museum und nicht in lahmgelegten Flughäfen und Bahnhöfen auf „Arbeiterführer“ treffen, deren starker Arm sie selbst fällte.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Verkehrschaos in Deutschland. Die Spartengewerkschaften werden zunehmend zu Egoisten im Blaumann. Und könnten als Totengräber der Tarifautonomie und der Mitbestimmung in die Geschichte eingehen
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innenpolitik
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2014-10-21T11:59:39+0200
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2014-10-21T11:59:39+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/streiks-bei-bahn-und-luftfahrt-gewerkschaften-als-lobbyisten-und-egoisten/58376
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Europaweite Umfrage zu Ukrainekrieg - Griechen am ehesten auf der Seite Putins
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Die überwiegende Mehrheit der Europäer ist zwar bestürzt über die russische Invasion in der Ukraine, aber es gibt bemerkenswerte Unterschiede. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Befragung, die das Meinungsforschungsinstitut Insa für Cicero zusammen mit weiteren Meinungsforschungsinstituten des Euroskopia-Netzwerks in sechs europäischen Staaten durchgeführt hat. Griechen und Italiener haben demnach einiges Verständnis für Russland, die Franzosen hingegen fürchten einen Atomkrieg – und die Deutschen glauben zwar an Wirtschaftssanktionen, wollen sie aber auch schnell wieder abschaffen. Am meisten Angst vor einem Atomangriff haben die Franzosen, vermutlich weil das Land stark von Atomenergie abhängig ist und viele Franzosen in der Nähe eines Atomkraftwerks leben. In keinem der untersuchten Länder wird die russische Invasion hingegen mehr missbilligt als in den Niederlanden, wie die Umfrage unter 6000 Bürgern zwischen dem 9. und dem 11. März ergeben hat. Nur zehn Prozent der befragten Niederländer halten den Krieg für verständlich oder akzeptabel. Selbst in Deutschland und Spanien können die Russen kaum mit Verständnis rechnen. In Italien und Griechenland ist die Situation etwas anders. So hält beispielsweise ein Viertel der befragten Italiener die Invasion für verständlich oder akzeptabel. In Griechenland sind es sogar 39 Prozent. In Griechenland liegt dies unter anderem daran, dass beide Länder den orthodoxen Glauben teilen, was dazu führt, dass in konservativen Kreisen recht viel Sympathie für die Russen besteht. Außerdem war die Kommunistische Partei in Griechenland schon immer groß, was vor allem in linken Kreisen eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber „dem Westen“ hervorrief. Auch in griechischen Zeitungen gibt es regelmäßig Berichte über russische Trolle und Eindringlinge, deren Aufgabe es ist, die öffentliche Debatte über Russland zu beeinflussen, und die damit offensichtlich Erfolg haben. Italien steht Russland traditionell wohlwollender gegenüber als andere europäische Länder. Auch in Rom war die Kommunistische Partei lange Zeit ein ernstzunehmender politischer Faktor. Später war die Sympathie auch dank der rund 500 italienischen Unternehmen, die bis vor kurzem in Russland ansässig waren, besonders groß. Die politischen Beziehungen waren zeitweise eng verflochten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Geburtstagsgeschenk, das Ex-Premier Silvio Berlusconi dem russischen Präsidenten zu seinem 65. Geburtstag schickte: eine Bettdecke mit den Gesichtern von Berlusconi und Putin. Von allen befragten Ländern befürchten vor allem die Franzosen ernsthaft einen nuklearen Angriff; 81 Prozent der Befragten halten es für sehr oder eher wahrscheinlich, dass der Krieg zum Einsatz von Atomwaffen führen wird. In den Niederlanden ist dieser Anteil mit 51 Prozent noch recht hoch, während beispielsweise in Deutschland (32 Prozent) und Griechenland (30 Prozent) der Störung der bestehenden Weltordnung durch einen Atomkrieg deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dass sich die Franzosen mehr Sorgen machen, liegt vermutlich daran, dass das Land stark von der Atomenergie abhängig ist; 70 Prozent des französischen Stroms werden in Kernkraftwerken produziert. Nach der Ölkrise von 1973 investierte Paris massiv in die Kernenergie, mit der Folge, dass kein Land der Welt außer den USA mehr aktive Reaktoren hat als Frankreich, nämlich 56, verteilt auf insgesamt 19 verschiedene Standorte. Infolgedessen ist Kernenergie nicht nur ein ernstes Thema bei fast jeder Wahl, sondern führt auch dazu, dass ein erheblicher Teil der französischen Bevölkerung in der Nähe eines Kernkraftwerks lebt und sich daher überdurchschnittlich seiner potenziellen Gefahren bewusst ist. Nicht umsonst war Frankreich eines der ersten europäischen Länder, in denen die Apotheker in diesem Monat einen starken Anstieg der Nachfrage nach Jodtabletten bemerkten. Ein Thema, bei dem sich die Europäer offenbar ziemlich einig sind, ist der begrenzte Nutzen von Sanktionen gegen Russland. Mit Ausnahme von Deutschland, wo 55 Prozent der Bevölkerung glauben, dass Sanktionen dazu beitragen werden, den Krieg zu beenden oder künftig weitere russische Invasionen zu verhindern, gibt es in keinem der befragten Länder eine Mehrheit, die glaubt, dass der Kreml von den Sanktionen betroffen sein wird. Auffallend ist, dass der deutsche Glaube an Wirtschaftssanktionen zwar am größten ist, die Deutschen aber trotzdem dafür sind, die meisten Sanktionen wieder aufzuheben, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist. Während wirtschaftliche Maßnahmen gegen russische Unternehmen und mit Putin verbundene Investoren beibehalten werden sollten, sieht eine Mehrheit der Deutschen nach dem Krieg lieber alle anderen Sanktionen verschwinden, etwa die wirtschaftlichen Beschränkungen für russische Unternehmen, die nicht direkt mit Putin verbunden sind, sowie ein totales Flugverbot für russische Flugzeuge. Tatsächlich möchten vor allem die Befragten in Frankreich und Spanien den Druck auf die Russen aufrechterhalten, sollte der Krieg enden. In Spanien spricht sich eine große Mehrheit der Bevölkerung sogar dafür aus, russische Sportler und Vereine nach dem Krieg von europäischen Sportturnieren auszuschließen. 51 Prozent der befragten Spanier sprechen sich sogar für ein dauerhaftes Auftrittsverbot russischer Künstler auf europäischen Bühnen und Theatern aus. Euroskopia ist eine neue Zusammenarbeit europäischer Markt- und Meinungsforschungsinstitute. Sie wollen sich ein Bild von der europäischen öffentlichen Meinung machen, indem sie regelmäßig Umfragen durchführen, bei denen Bürgern in verschiedenen europäischen Ländern die gleichen Fragen gestellt werden.
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Cicero-Redaktion
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Eine repräsentative Umfrage in sechs europäischen Staaten zeigt sehr unterschiedliche Einstellungen der jeweiligen Bevölkerungen zum Ukrainekrieg. So hält beispielsweise ein Viertel der befragten Italiener die Invasion für verständlich oder akzeptabel, in Griechenland sind es sogar 39 Prozent. Am meisten Angst vor einem Atomangriff haben die Franzosen. Die Deutschen wiederum wollen Sanktionen möglichst schnell abschaffen.
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"Ukraine-Krieg",
"Griechenland",
"Wladimir Putin",
"Insa-Umfrage",
"Ukraine",
"Frankreich",
"Russland"
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außenpolitik
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2022-03-18T13:45:51+0100
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2022-03-18T13:45:51+0100
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/europaweite-umfrage-ukrainekrieg-russland-sanktionen-atomwaffen
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Zwischen Solar-Mafia und Öko-Gewissen – Ökostrom für alle!
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Subventionen sind eine tolle Sache – vor allem für denjenigen,
der sie bekommt. Und weil das so ist, und weil auch möglichst viele
möglichst glücklich sein sollen, hat Vater Staat für etliche seiner
Kinderchen stets ein paar hübsche finanzielle Süßigkeiten in der
Schublade liegen. [gallery:Von Photovoltaik bis Geothermie –
Erneuerbare Energiequellen im Überblick] Massentierhaltung zum Beispiel wird in Deutschland pro Jahr mit
mehr als einer Milliarde Euro gefördert, was schon deshalb völlig
in Ordnung ist, weil Massentierhalter in unserer Gesellschaft eher
kein hohes Prestige genießen und ihnen für diese Stigmatisierung
eine anständige Ausgleichszahlung durchaus zustehen sollte. Die
Erhöhung der Produktivität von deutschen Werften, ein absolut
hehres Ziel, kostet den Steuerzahler (ach ja, der steht blöderweise
am Ende der Nahrungskette) jedes Jahr sechs Millionen Euro. Wer
würde den heimischen Schiffsbauern denn auch zumuten wollen, den
Konkurrenzkampf aus ihren eigenen Bordmitteln zu bewerkstelligen?
Navigare nesesse est, wusste schon der Lateiner. Die Container-Industrie bekommt per annum so um die 150
Millionen Euro rübergeschoben, agrarische Treckerfahrer über das
entsprechende Dieselgesetz 300 Millionen, die Filmwirtschaft 60
Millionen, das wesensverwandte Zirkusgewerbe dagegen nur eine
einzige klägliche Million (offenbar sind Clowns keine guten
Lobbyisten). Die Zückerchen für alle diese braven, benachteiligten,
verheißungsvollen, gedemütigten oder einfach nur aus der Zeit
gefallenen Bittsteller summieren sich nach Berechnungen des Kieler
Instituts für Weltwirtschaft auf jährlich mehr als 160 Milliarden
Euro; das entsprach 2009 ungefähr 6,8 Prozent der deutschen
Wirtschaftsleistung. Nächste Seite: „Solar-Mafia“ oder herzerwärmend gute Sache
fürs ökologische Gewissen? Eines der besonders originellen Taschengelder in diesem
Umverteilungs-Wildwuchs ist die inzwischen dann doch vereinzelt in
die Kritik geratene Solarstrom-Subvention. Weil der Staat jedem
Betreiber einer Photovoltaik-Anlage für den Solarstrom über einen
Zeitraum von 20 Jahren weit über dem Marktwert liegende Preise
verspricht, kommen auf die Stromkunden in den nächsten zwei
Jahrzehnten dreistellige Milliarden-Euro-Beträge an Kosten zu.
[gallery:Von Photovoltaik bis Geothermie – Erneuerbare
Energiequellen im Überblick] Und dank des vielgepriesenen „Gesetzes für den Vorrang
Erneuerbarer Energien“ (EEG) wird die Solarbranche entgegen dem Rat
sämtlicher ernstzunehmender Ökonomen und trotz des Widerstands
durch den Wirtschaftsminister auch weiterhin mit Unsummen gepampert
werden. Hausbesitzer mit Solarzellen auf dem Dach können sich über
zünftige Nebeneinnahmen freuen, welche die Mieter ihnen auf dem
diskreten Umweg über die Stromrechnung spendieren. Weil Rot-Grün es
einst so wollte, und auch der amtierende Umweltminister von der CDU
dem Charme der mächtigen und bestens vernetzten Photovoltaik-Lobby
nicht widerstehen kann. Wäre Strom aus Sonnenlicht nicht eine so
herzerwärmend gute Sache fürs ökologische Gewissen, könnte man
glatt von der „Solar-Mafia“ sprechen. Was aber hat das soziale Gewissen der Nation, nämlich die
Linkspartei, zu dieser staatlich verordneten Bereicherung der
Photovoltaik-Profiteure zu Lasten auch jener Stromverbraucher zu
sagen, bei denen das Geld schon in der Mitte jeden Monats knapp
wird? Ruft sie womöglich zu einem Aufstand gegen bayerische
Landwirte auf, die die Dächer ihrer ohnehin fett subventionierten
Schweineställe auch noch mit Solarzellen zupflastern? Von
wegen! „Statt sein Amt ernst zu nehmen und gegen Klimakiller wie Kohle
und Öl vorzugehen, verhandelt der Bundesumweltminister mit der
Solarbranche darüber, wie weit diese ihr Engagement für die
Energiewende zurückfährt“, teilt nun aus gegebenem Anlass Dorothée
Menzner mit, ihres Zeichens energiepolitische Sprecherin der
Linke-Fraktion im Bundestag. Irgendwie hat die Dame ja auch recht: Sollen die armen Schlucker
im Winter doch einfach ihren Kühlschrank ausstellen – die Wohnung
ist dann ja eh schon kalt.
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Deutschland pampert die Solarbranche jedes Jahr mit Milliardenbeträgen, die Zeche dafür zahlt der Stromkunde – ob reich oder arm. Die Linkspartei findet das prima. Die Mittwochskolume von Alexander Marguier
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innenpolitik
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2012-01-25T10:05:21+0100
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2012-01-25T10:05:21+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/oekostrom-fuer-alle/48093
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Asylstreit zwischen CDU und CSU - Kurz vor dem GAU
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Man weiß in diesen Tagen nicht, ob CSU und CDU endgültig der politische Wahnsinn erfasst hat, oder ob es in beiden Parteien noch genug Restvernunft für eine gemeinsame politische Zukunft gibt. An diesem Dienstag, an dem sich am Abend der Koalitionsausschuss trifft, stehen die Zeichen wieder auf Annäherung. Aber ein Kompromiss zwischen den Kontrahenten Horst Seehofer und Angela Merkel im Asylstreit ist allenfalls in Konturen erkennbar. Dass auch die SPD einem solchen zustimmen müsste, erschwert eine für beide Seiten gesichtswahrende Kompromissformel. Gleichzeitig kann der Schwesternstreit in der Union jederzeit wieder eskalieren, das haben die vergangenen Tage gezeigt. Zwei LKW rasen da aufeinender zu, und vor allem in der CSU scheinen manche weiter auf dem Gaspedal zu stehen. Die CSU zeigt sich wild entschlossen, der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik ihren Willen aufzuzwingen und ist in letzter Konsequenz bereit, das Ende der Kanzlerschaft Merkel in Kauf zu nehmen. Vor allem der bayerische Ministerpräsident Markus Söder gibt den Takt in diesem Machtkampf vor. Während Innenminister Horst Seehofer immer Mal wieder versöhnliche Töne Richtung Merkel aussendet, heizen Söder und Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, den Konflikt weiter an. Und die CDU keilt zurück. Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble etwa erklärte am Wochenende in einem Interview mit dem Tagesspiegel, Merkel habe „keine andere Wahl“, als ihren Innenminister Horst Seehofer zu entlassen, sollte sich dieser gegen ihre Richtlinienkompetenz stellen, Bedenkzeit habe sie keine. Seehofer hingegen twitterte „Ich bin Vorsitzender der CSU, einer von drei Koalitionsparteien, und handele mit voller Rückendeckung meiner Partei“, will heißen: Wer Seehofer entlasse, entlasse die CSU. Doch egal, wie der Koalitionsgipfel heute Abend ausgeht, manches spricht dafür, dass noch mal ein Kompromiss gefunden wird, der Schaden ist längst da. Man könnte auch sagen, die Auswirkungen eines sich radikal verändernden Parteiensystems haben auch die Union endgültig erfasst. Erodierende Wählerbindungen, fragmentierte Gruppeninteressen, neue gesellschaftliche Konflikte sowie Populismus von links und rechts haben das Fundament der Volksparteien zerstört. Die SPD ist deshalb in der Wählergunst schon auf unter 20 Prozent abgestürzt. Jetzt macht auch die Union die Erfahrung, dass es fast unmöglich ist, wie in den Zeiten der Volksparteiendemokratie die Wähler von der Mitte bis Rechtsaußen in einer Partei zu integrieren. Einerseits sind viele Wähler nach links gerückt, und die CDU ist ihr gefolgt. Andererseits ist dadurch eine Vertretungslücke entstanden, die die CSU nicht mehr schließen kann. Sie kann den Spagat zwischen Renationalisierungstendenzen und den Herausforderungen der Globalisierung nicht mehr halten. Der Versuch, sowohl auf die Grünen zuzugehen als auch die AfD-Wähler zurückzugewinnen, zerreißt die Union – früher oder später. Und auch wenn Politiker beider Parteien jetzt noch einmal betonen, die Union sei immer dann stark gewesen, wenn CDU und CSU trotz unterschiedlicher politischer Akzente gemeinsam marschiert sind, ist der Riss nicht mehr zu kitten. Für die Erfolge der Vergangenheit kann sich die Union keine Zukunft kaufen. Zu unterschiedlich sind die Interessen, zu unterschiedlich die strategischen Herausforderungen in Berlin und München. Hinzu kommen persönliche Verwerfungen, die schon jetzt einen Rosenkrieg zwischen den Schwesterparteien befürchten lassen. Vor allem dann, wenn die CSU bei der Landtagswahl in Bayern im Oktober die absolute Mehrheit verliert und damit ihre Sonderstellung im bundesdeutschen Parteiensystem einbüßt. Anschließend hat die CSU eigentlich nur drei Möglichkeiten: Sie kann erstens der 16. Landesverband der CDU werden. Die Privilegien und Sonderrechte, die sich die CSU in Berlin in den vergangenen Jahrzehnten herausgenommen hat, wird ihr die Schwesterpartei nicht mehr einräumen, wenn die CSU die absolute Mehrheit in Bayern nicht mehr garantieren kann. Die CSU kann sich zweitens nach dem Vorbild der katalanischen oder schottischen Nationalisten als Regionalpartei selbstständig machen. Oder sie kann sich drittens als konservative Partei bundesweit ausdehnen und so versuchen, die AfD zurückzudrängen. Es scheint so, als habe mit dem Endspiel um die Kanzlerschaft von Angela Merkel auch der Niedergang des bundesdeutschen Parteiensystems begonnen. Es ist ein Parteiensystem, in dem es zwei große, jederzeit regierungsfähige und regierungsbereite Parteien gab und mehrere kleine Parteien, die mit Partikularinteressen als Mehrheitsbeschaffer bereitstanden. Schon die Regierungsbildung war schwierig. Sie dauerte fast ein halbes Jahr. Die FDP verweigerte sich der Rolle des Mehrheitsbeschaffers in einem Jamaika-Bündnis, weil sie befürchtete, sonst endgültig vom Wähler abgestraft zu werden. Das Interesse, die eigene Organisation zu erhalten, war größer als der Drang zur Macht. Es hätte zudem nicht viel gefehlt, und auch die SPD hätte sich aus ähnlichen Motiven der staatspolitischen Verantwortung verweigert und sich in die Fundamentalopposition geflüchtet. Die Wähler beobachteten das Schauspiel mit zunehmender Ungeduld und zunehmendem Unverständnis. Ein Scheitern der Großen Koalition nach wenigen Monaten käme deshalb einem politischen Gau gleich. Und wer glaubt, die CDU könne anschließend einfach mit der SPD und den Grünen weiterregieren, verkennt völlig die politische Lage und die gesellschaftliche Stimmung. Es wäre ein Irrsinn und politisches Harakiri, die Kanzlerschaft Merkels und die alte Herrlichkeit der ehemaligen Volkspartei so noch irgendwie verlängern zu wollen. Natürlich ist das Ende der Ära Merkel jetzt absehbar. Natürlich hat sich Merkel in den vergangenen dreizehn Jahren viele Feinde gemacht, die jetzt nur darauf warten, alte Rechnungen zu begleichen. Natürlich haben sich die Fehler ihrer Kanzlerschaft zu einem gewissen Überdruss summiert. Aber trotz alledem ist die Zahl ihrer Anhänger und Bewunderer in der Wählerschaft immer noch mindestens genauso groß wie die Zahl ihrer Kritiker. CDU und CSU würden sich also keinen Gefallen tun, Merkel jetzt in einem Anfall von Panik zu stürzen. Gelingt der Union stattdessen ein halbwegs geordneter Übergang von Merkel zu einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin, dann kann sie in dem sich fundamental verändernden Parteiensystem zumindest das Heft des Handelns in den Händen halten. Stürzt Merkel jedoch, weil sich CDU, CSU und SPD nicht auf einen Kompromiss in der Flüchtlingspolitik einigen können, fliegen sowohl die Große Koalition als auch die Union auseinander. Neuwahlen wären ohne Alternative. Aber deren Ausgang wäre völlig ungewiss und unkalkulierbar. Sicher wäre nur, dass der Wähler CDU und CSU gleichermaßen abstrafen würde. Und viele von denen, die jetzt „Merkel muss weg“ rufen, werden sich anschließend nach jener Zeit zurücksehnen, in der Regierungsbildungen in Deutschland relativ einfach waren und das Land stabil regiert wurde.
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Christoph Seils
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Egal wie der Koalitionsgipfel ausgeht, der Riss zwischen CDU und CSU sowie Angela Merkel und Horst Seehofer ist nach dem Asylstreit nicht mehr zu kitten. Damit wäre aber auch das deutsche Parteiensystem am Ende. Deswegen wäre ein schneller Sturz der Kanzlerin für alle Beteiligten fatal
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"Asylstreit",
"Koalitionsgipfel",
"CDU",
"CSU",
"Angela Merkel",
"Horst Seehofer",
"Volksparteien"
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innenpolitik
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2018-06-26T12:46:23+0200
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2018-06-26T12:46:23+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/Asylstreit-Koalitionsgipfel-CDU-CSU-Angela-Merkel-Horst-Seehofer-Volksparteien
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Christliche Werte und Tradition - Von der Qual der Patenwahl
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Die Zeit rast. Das lehren uns die Kinder Jahr um Jahr. Als die erste Tochter geboren wurde, pochte der Schwiegervater noch monatlich darauf, diese schnellstmöglich taufen zu lassen. Bei der zweiten nahmen die Apelle schon ab. Nach der Geburt der dritten, muss er sich nun wie der einsamste Rufer in der Wüste fühlen. Dabei habe ich nichts gegen die Taufe. Ich fühle mich wohl in der christlichen Glaubensszenerie. Weihnachten ohne Kirchgang kann ich mir nicht vorstellen, oft folge ich den sonntäglichen Gottesdiensten im Deutschlandfunk, schätze gerade die Predigten. Wenn sie gut sind, gleichen sie geistreichen Kolumnen. Ich empfinde großes Glück beim Singen in der Kirche, genieße das gemeinschaftliche Gemurmel des Vaterunser. Ich glaube, dass christliche Werte wie Toleranz und Nächstenliebe, würden sie nur wirklich gelebt, unsere Gesellschaft besser machen würden. Ich wünsche mir mehr von denen, die verinnerlicht haben, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Dass jeder eine zweite Chance verdient und die Sünden dessen zu Recht vergeben werden, der aufrichtig bereut. Aber glaube ich an Gott? Wenn ich ganz ehrlich bin: Nein. Was ich von der Welt weiß, lässt mich nicht nur daran zweifeln, dass es einen höheren Plan gibt. Es ist für mich Beweis genug, dass keine gute Macht dies alles gut heißen kann. Die Sintflut ist längst überfällig. Gleichzeitig bringt die Kirche viel Positives in mein Leben. Und das möchte ich an meine Kindern weitergeben. Mir scheint, dass der Aspekt der Gottgläubigkeit für viele Menschen in den Hintergrund tritt, wenn es heute um den sogenannten Glauben geht. Und ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Nicht für mich – und nicht für meine Kinder, die mit voller Inbrunst das im Kindergarten erlernte „Gottes Liebe ist so wunderbar“ mitgrölen. Das alles ist es nicht, was mich davon abhält, meine Kinder zu taufen. Mein Problem steckt in der Patenfrage. Ich sehe keinen Sinn darin, für jedes meiner Kinder einen Menschen auszuwählen, der sich ihm zuwenden soll. Umgekehrt habe ich ein ungutes Gefühl dabei, der Tochter eine Person zuzuteilen, der sie sich verbunden fühlen soll für den Rest ihres Lebens. Diese artifizielle Verkupplung zweier Lebewesen ist mir zu zwanghaft und nicht mehr zeitgemäß. Beziehungen sind etwas so Individuelles, dass es uns Eltern nicht zusteht, hier wegweisende Entscheidungen zu treffen, sind wir doch in der Kindererziehung längst soweit, dass es als hohes Gut gilt, autonome Entscheidungen der Kinder zu respektieren und zu fördern. Wieso sollte ich dann mit dem Schiedsspruch für einen Paten so tief in die Lebenswege der mir Anvertrauten eingreifen? Fragt man Erwachsene, so bedürfen wertvolle Beziehungen, die im Laufe des Lebens entstehen, keines Patenscheins. Es scheint eher Zufall zu sein, wenn hier besondere Bande entstehen. Dass drei Kinder, falls uns Eltern etwas zustoßen sollte, nicht getrennt ihren Paten zugesprochen würden, versteht sich von selbst. Wenn ich denn also Paten aussuchte – nach welchen Kriterien würde ich sie den Kindern zuordnen? Nach meiner eigenen Sympathie? Die der Kinder? Nach dem dicksten Geldbeutel, dem größten Herzen, dem aufsehenerregendsten Hobby, den besten Kontakten? Quatsch. Ich laboriere an einer anderen Idee: Einer Patengemeinschaft von Menschen, die sich für meine Kinder interessieren, seitdem sie auf der Welt sind. Und die ich gerne hab. Frei nach dem afrikanischen Sprichwort, dass es ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind zu erziehen. Oder, wie mein weises Tantchen immer sagt: „Ein Kind kann nie genug Menschen haben.“ Sie ist übrigens einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ganz ohne Patenschein. Nur weil wir beide es wollen. Das ist wohl die schönste Beziehung, die ein Mensch haben kann.
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Marie Amrhein
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Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Taufen oder nicht? Die Frage stellt sich auch nach der Geburt des dritten Kindes. Dabei geht es weniger um die Glaubensfrage als vielmehr um den Patenschein. Sollten Eltern ihre Kinder zwanghaft mit einer anderen Person verkuppeln?
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kultur
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2015-08-02T10:56:09+0200
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2015-08-02T10:56:09+0200
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https://www.cicero.de//kultur/christliche-werte-und-tradition-die-qual-der-patenwahl-ist-eine-grundsaetzliche/59646
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100 Jahre Friedensvertrag von Versailles - Warum misslang er?
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Liebe Leserinnen und Leser, in Zusammenhang mit diesem Text veranstalten wir ein kleines Gewinnspiel zu folgender Veranstaltung: Am Sonntag, den 7. Juli 2019 um 11 Uhr präsentiert Cicero in der Astor Film Lounge Berlin den Film „They Shall Not Grow Old”. Zum 100jährigen Jubiläum der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages nach Beendigung des Ersten Weltkriegs veröffentlicht Peter Jackson im Auftrag der BBC und des Imperial War Museum diesen Film, der aus restaurierten und modernisierten Aufnahmen aus der Zeit montiert wurde, um so die Realität des Krieges fassbar zu machen – radikal nah, zutiefst menschlich und gleichzeitig von hochgradig dokumentarischem Wert. Im Anschluss an diesen Film wird Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier gemeinsam mit dem Historiker und Bestsellerautor Robert Gerwarth diskutieren. Wir verlosen 3 x 2 Karten für die Veranstaltung. Die Gewinner geben wir kommenden Montag bekannt. Wer teilnehmen möchte, schreibt bitte eine Email mit dem Betreff „Kino-Verlosung” an [email protected] Wenn wir heute mit dem Abstand von 100 Jahren auf den Friedensschluss von Versailles blicken, so dominieren zwiespältige Gefühle. Datum und Ort der Unterzeichnung des Vertrages zwischen dem unterlegenen Deutschen Reich und den Siegermächten des Großen Krieges am 28. Juni 1919 in Versailles waren mit Bedacht gewählt worden. Genau fünf Jahre zuvor war mit dem Mord am österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo eine Art Initialzündung erfolgt, die einen guten Monat später den Ersten Weltkrieg auslösen sollte. Der Krieg, der sich spätestens mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten im Jahr 1917 zum echten Welt-Krieg entwickelt hatte, wurde als Krieg geführt, der auf immer „alle Kriege beenden sollte”, so der amerikanische Präsident Wilson, und der Friede, der an seine Stelle trat, war folgerichtig als großer Wurf gedacht: Er sollte, so ebenfalls Wilson, die Welt „sicher für die Demokratie” machen. Für Deutschland hatte Versailles eine enorme symbolische Bedeutung. Dort, in Ludwigs XIV. Spiegelsaal, war am 18. Januar 1871 das Deutsche Reich begründet worden, und Wilhelm I., der König von Preußen, hatte hier aus der Hand der deutschen Fürsten die Kaiserkrone entgegen genommen. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages war für die damit befassten deutschen Politiker zunächst eine immense Belastung. Die als hart und ungerecht empfundenen Bedingungen – signifikante territoriale Abtretungen, Verlust der Kolonien, Anschlussverbot mit Deutschösterreich, Obergrenzenvorgaben für die Reichswehr, Demilitarisierung des Rheinlandes, Verurteilung zu im einzelnen noch zu bestimmenden Reparationsleistungen, Festlegung der Alleinkriegsschuld in Artikel 231 – führten zur Demission des damaligen Aussenministers Brockdorff-Rantzau und zum Rücktritt der Regierung Scheidemann. Mit der Kabinettsentscheidung, der Vertrag sei unannehmbar, hatte die damalige Regierung selbst den Schlußstrich gezogen. In Versailles war 1919 nicht von gleich zu gleich verhandelt worden. Die Besiegten hatten ihre Einwände gegen die auferlegten Bedingungen lediglich schriftlich begründen und hinterlegen können. Versailles wurde für die damals gerade begründete Republik von Weimar psychologische Last und faktische Hypothek zugleich: ein übermächtiger Schatten, der häufig genug auch politisch instrumentalisiert wurde und am Ende die tatsächlichen Errungenschaften und die wirkliche Lage verdunkelte. Die politische Radikalisierung der Weimarer Republik, wo sich Links- und Rechtsradikale gegenseitig hochschaukelten, und der Aufstieg Hitlers wären ohne die Wirkungsmacht von Versailles und die permanente Apostrophierung des „Schandfriedens” nicht denkbar. Eine der bis heute nachwirkenden Lehren bleibt die Erkenntnis, dass Gewinner im Moment des Sieges auf Triumphgeschrei und unnötige Demütigungen des Unterlegenen verzichten und niemand in der internationalen Politik die Macht der Psychologie unterschätzen sollte. Diese Nachwirkung der negativen Lebendigkeit verbindet zudem Versailles mit den Friedensschlüssen der Alliierten mit den anderen Kriegsverlierern in Saint Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres, die ebenfalls als viel gescholtene Vertragswerke in die Geschichte eingegangen sind und oftmals für die Erklärung von Fehlentwicklungen, für Anklagen und zur Rechtfertigung von einseitigen Aktionen herhalten mussten. Der Kompromisscharakter des Friedenswerks ließ zudem genügend Raum für Interpretationen, die sich als schädlicher erweisen sollten als die tatsächlichen materiellen Gegebenheiten. Hier kündigte sich das Massenzeitalter mit seiner Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung an: Desinformation, Emotionalisierung und Initiierung von sogenannten Volksbewegungen. Wer die Staatenwelt von heute verstehen will, kommt an einer vertieften Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Außenpolitik und öffentlicher Meinung nicht vorbei. Wie kann man einen künftigen Krieg vermeiden? In Versailles war der – wie wir im Nachhinein wissen – untaugliche Versuch unternommen worden, auf eines der beiden zentralen Ordnungsprobleme von damals – die deutsche Frage (die andere war die russische Frage) eine Antwort zu finden. Warum aber misslang in Versailles, was hundert 100 Jahre zuvor in Wien noch gelungen war? Die Probleme, für die in Paris Lösungen gesucht wurden, entstammten zuvörderst der europäischen Staatenwelt des 19. Jahrhunderts. Die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Veränderungen indes betrafen nicht zuletzt die Wandlungen des Staates in politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bezügen. Sie manifestierten sich am sichtbarsten in neu aufkommenden politischen Bewegungen. Das für die Globalisierung so kennzeichnende Phänomen der Vernetzung der Bereiche ist damit keine grundsätzlich neue Erscheinung der letzten beiden Jahrzehnte. Der damalige Wandel der Staatengemeinschaft war zunächst Ausdruck der Krise Europas, aber er griff auch eine Tendenz auf, die bereits für das 19. Jahrhundert charakteristisch gewesen ist. Im 19. Jahrhundert hatte der Staat als Rechts-, Verfassungs-, Macht- und Nationalstaat seine größte Zeit. Nun wurde er mehr und mehr in eine organisierte Gesellschaft verwandelt. Versailles scheiterte nicht zuletzt auch an der Halbherzigkeit und Untauglichkeit seiner Ordnungsvorgaben, am Kompromisscharakter von Bestimmungen, die auch Formelkompromisse der Sieger waren, und der Inkonsequenz, eine dauerhafte Ordnung für eine bessere und gerechtere Welt auf den Weg zu bringen. Auch 2019 ist nirgendwo am Horizont eine dauerhaft stabile Ordnung in Sicht. Der Blick, der auf den Frieden von Versailles zurückstreift, sollte vor diesem Hintergrund insbesondere die Ordnungsprinzipien, auf denen das System der Pariser Teilfriedensschlüsse gründete, auf ihre Tauglichkeit für die Gestaltung der Gegenwart hinterfragen. Wie muss eine Völkerrechtsordnung für die sich ins Globale ausweitende Staatenwelt verfasst sein? Wie kann das Verhältnis der Staaten untereinander auf eine dauerhaft tragende Ordnung gestellt werden? Welche Mechanismen des Konfliktmanagements und der Krisenbewältigung brauchen wir heute? Wie können völkerrechtliche Standards eingehalten werden? Wie können die internationale Schiedsgerichtsbarkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit so gestärkt werden, dass sie nicht als wirkungslos beiseite gefegt werden? In dieser Perspektive bleibt die Beschäftigung mit Versailles auch Ansporn, Europa als Politische Union weiter konsequent nach vorne zu bringen und zugleich sensibler für die Risse im Gebälk und die Sorgen einzelner Partner in Europa zu werden.
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Ulrich Schlie
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Vor 100 Jahren unterzeichnete Deutschland den Versailler Vertrag. Die Radikalisierung der Weimarer Republik und Hitlers Aufstieg wären ohne dessen Wirkungsmacht und die permanente Apostrophierung des „Schandfriedens” nicht denkbar. Tatsächlich ist auch 2019 keine dauerhaft stabile Ordnung in Sicht
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"Versailles",
"Erster Weltkrieg",
"Krieg",
"weimarer republik"
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kultur
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2019-06-27T17:36:20+0200
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2019-06-27T17:36:20+0200
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https://www.cicero.de//kultur/versailles-erster-weltkrieg-krieg-weimarer-republik
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Debatte um Impfpflicht - Moralische Spaltung?
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In den aktuellen Diskussionen über 3G in Zügen, über 2G in Restaurants oder über berufliche Konsequenzen für Ungeimpfte wird fast immer vergessen, was die eigentliche Aufgabe des Verfassungsstaates ist: Dessen Aufgabe ist nicht, die nächste Stufe der Einschränkung zu zünden, sondern schnellstmöglich in einen grundrechtlichen Normalzustand zurückzukehren. Man kann es nicht oft genug betonen, dass die Verfassung auch und gerade in Zeiten einer Pandemie zu gelten hat. Insofern müssen die staatlichen Verantwortungsträger alles, was notwendig und geboten ist, dafür tun, den Ausnahmezustand so bald wie möglich zu beenden. Unser Grundgesetz will nicht nur idealerweise die größte Freiheit für alle, es ist auch auf die gesellschaftliche Integration möglichst aller Menschen im Land angelegt. Zum Beispiel soll die durch Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Meinungsfreiheit genau dies gewährleisten: Sie soll jedem Einzelnen, jeder Minderheit und jeder Interessensvertretung die Chance geben, sich in die Debatte einzubringen, um damit Teil des gemeinsamen Fortschrittsprozesses zu werden. Die Verfassungsmütter und -väter sahen hierin ein unerlässliches Element, um den gesellschaftlichen Frieden selbst bei größeren gesellschaftlichen Konflikten zu wahren. Was passiert aber, wenn Vertreter dieses Verfassungsstaates sich über diesen grundsätzlichen Integrationsgedanken hinwegsetzen und vielmehr selbst dafür sorgen, eine gesellschaftliche Desintegration von Menschen aktiv zu betreiben? Wer sorgt dann für den gesellschaftlichen Frieden, wenn der Staat Menschen in größerer Zahl den Rücken zudreht? Die Bundesregierung hat in der Corona-Krise mehrfach Gruppen ins moralische oder tatsächliche Abseits gestellt: Im Dezember waren es etwa Glühweintrinker oder Silvesterböllerer, die angeblich das Pandemiegeschehen antrieben. Im Frühjahr gerieten dann Mallorcareisende in den Fokus; diese suchten zwar eine Destination auf, die zu diesem Zeitpunkt kein Risikogebiet mehr war, aber das spielte für die politische Botschaft damals keine Rolle. Und jetzt sind es die Ungeimpften, die sich erdreisteten, das heilige Versprechen dieser Regierung – es werde keinen Zwang zur Impfung geben – ernst zu nehmen. Indem ein Ministerpräsident wie Tobias Hans aus dem Saarland erklärt: „Mit Impfen zeigt man Solidarität, mit Impfverweigerung zeigt man Egoismus“, offenbart sich ein Menschenbild, das unsere Verfassung jedenfalls nicht teilt. In einer solchen Gedankenwelt ist moralisch richtig, was der Denunzierung und der Ausgrenzung für einen angeblich höheren Zweck dient. Wer nun erklärt, die Einschränkungen, die die Exekutive aktuell für die Ungeimpften vorgibt, seien keine Impfpflicht durch die Hintertür, sollte sich besser informieren. Denn beispielsweise mit den 2G-Maßnahmen, wie sie in Hamburg eingesetzt wurden, spielt der Staat über Bande, wenn er Private für seine Zwecke einbindet. Die Gastronomen und Veranstalter werden so in die öffentliche Pflicht genommen, und sollen das umsetzen, was der Staat sich offen nicht umzusetzen traut. Er schafft damit faktisch die Impfpflicht. Abgesehen davon: War es nicht auch das große Versprechen dieser Bundesregierung, im Herbst sämtliche Freiheiten auch für Ungeimpfte wiederherzustellen, wenn jede und jeder die faire Möglichkeit hatte, sich über eine Impfung immunisieren zu lassen? Damit würde sich die gesamte Debatte über Ausgrenzung, Egoismus und Unsolidarität erübrigen. Dänemark ist diesen Weg sogar schon gegangen, nachdem jede und jeder über 50 sich impfen lassen konnte. Das „Impfbuch für alle“, das das Robert Koch-Institut im Juni dieses Jahres veröffentlicht hatte, sprach ebenfalls davon, dass ab Herbst dann alle Ungeimpften einzig das persönliche, selbst gewählte Risiko zu tragen hätten, an dem Virus zu erkranken und zu sterben. Dies kannte man vor Corona noch als das „allgemeine Lebensrisiko“. Warum gilt heute nicht mehr, was vor wenigen Wochen noch versprochen wurde? Und warum setzt die Bundesregierung stattdessen auf das Element der moralischen Spaltung? Der mentale Schaden, den die Bundesregierung anrichtet, ist jedenfalls enorm. Denn es werden nicht nur die Corona-Ziele immer wieder ins Unerreichbare geschoben und damit ein Dauer-Frustrationszustand geschaffen. Es wird auch mit einer Mischung aus Angstmache, Drohung und Ausgrenzung ein toxisches gesellschaftliches Klima befördert. Schuldige werden an den Pranger gestellt, vom saarländischen Ministerpräsidenten als Egoisten bezeichnet, und können so mit entsprechender moralischer Rückendeckung des Staates unfair behandelt werden. Dass dieses unfreie Klima die Pandemie übersteht, ist sehr wahrscheinlich. Wir werden noch lange an der Verhärtung der gesellschaftlichen Fronten zu tragen haben. Dabei wäre die Lösung recht einfach. Die Bundesregierung könnte sich offen dazu bekennen, die Impfpflicht einführen zu wollen. Darüber könnte man wenigstens streitig diskutieren. Das passiv-aggressive Vorgehen, das sie jetzt mit ihren Verbrämungsversuchen an den Tag legt, macht viel mehr kaputt als ein harter demokratischer Streit über eine falsche Maßnahme.
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Wolfgang Kubicki
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Beim Thema Impfen fördert die Bundesregierung mit einer Mischung aus Angstmache, Drohung und Ausgrenzung ein toxisches gesellschaftliches Klima. Dabei wäre die Lösung recht einfach. Die Regierung könnte sich offen dazu bekennen, die Impfpflicht einführen zu wollen. Darüber ließe sich wenigstens diskutieren und streiten, meint unser Gastautor.
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"Impfpflicht",
"Impfen",
"Impfgegner",
"Corona-Impfung",
"FDP",
"Wolfgang Kubicki",
"Bundesregierung"
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innenpolitik
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2021-08-31T13:12:25+0200
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2021-08-31T13:12:25+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/debatte-um-impfpflicht-moralische-spaltung-kubicki-fdp
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Umverteilung – Die sechs größten Irrtümer in der Steuerdebatte
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Eines lässt sich schon jetzt vorhersagen: Die
Gerechtigkeitsfrage wird neben der Euro-Krise zum bestimmenden
Thema im Wahljahr 2013. Die Umverteilungsparteien SPD, Grüne und
Die Linke laufen sich bereits warm: Ihre Vorschläge für höhere
Steuern und neue Abgaben liegen auf dem Tisch. Es ist ein
Wettbewerb nach dem Motto: Wer schröpft die Reichen stärker? Da die Piraten mehr oder weniger mit ihren internen Problemen
beschäftigt sind, haben sie noch immer kein Programm, das diesen
Namen verdient. Aber auch hier ist die Tendenz klar: Wer hat, dem
wird genommen – und zwar kräftig. Nun kann man mit guten Gründen für eine höhere steuerliche
Belastung der Besserverdienenden und der Vermögenden plädieren. Es
ist schließlich ein legitimes politisches Ziel, der Umverteilung
höchste Priorität einzuräumen – vor internationaler
Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung.
Gleichwohl fällt auf, dass die Befürworter eines höheren
Spitzensteuersatzes, höherer Erbschaftssteuern, von Vermögenssteuer
und Vermögensabgabe gern Totschlag-Argumente verbreiten, die einem
Realitätscheck nicht standhalten, bei den Bürgern aber auf
fruchtbaren Boden fallen. Steuer-Irrtum Nr. 1: „Die Steuern müssen steigen, weil
der Staat immer weniger Geld hat“ Die Bürger werden immer reicher, der Staat immer ärmer. So
lautet die altbekannte Steuererhöhungs-Litanei. Tatsächlich leben
wir in einem Land mit munter sprudelnden Steuerquellen. 1991, dem Jahr 1 nach der Wiedervereinigung, nahm der Fiskus 338
Milliarden Euro an Steuern ein – von der Umsatz- bis zur
Zündholzsteuer. 2012 werden es laut Steuerschätzung 597 Milliarden
sein. Das ist ein Plus von 259 Milliarden oder von 3,7 Prozent pro
Jahr. Da bleibt selbst nach Abzug der in den vergangenen 21 Jahren
niedrigen Inflationsraten ein beachtlicher Zuwachs. Der Staat hat also nicht immer weniger Geld. Er gibt nur
permanent mehr aus, als ein einnimmt. Deshalb würden
Steuererhöhungen nicht zu einer niedrigeren Verschuldung führen,
sondern zu höheren Ausgaben. Steuer-Irrtum Nr. 2: „Die Reichen zahlen keine
Steuern“ Das stimmt nur für eine kleine Gruppe der Reichen und
Superreichen, die ganz legal Deutschland verlassen und sich in
einem Land mit einer geringeren Steuerbelastung niederlassen. Schlimm ist, dass unsere Gesellschaft solche Steuerflüchtlinge
nicht ächtet. Es ist ein Skandal, dass der Steuer-Österreicher
Franz Beckenbauer noch immer von der Politik hofiert wird, obwohl
dieser Staat ihm keinen Steuer-Euro wert ist. Die meisten Reichen werden bei uns jedoch zur Kasse gebeten –
und das nicht zu knapp. Es gibt bei uns rund 383.000
Spitzenverdiener mit mehr als 172.000 Euro im Jahr – ein Prozent
aller Steuerpflichtigen. Die zahlen aber ein Viertel der gesamten
Einkommensteuer. Oder nehmen wir die oberen zehn Prozent mit Jahreseinkünften von
72.000 Euro und mehr. Die zahlen 53 Prozent der gesamten
Einkommensteuer. Nun kann man der Meinung sein, diese zehn Prozent müssten
eigentlich 60 oder 70 Prozent der gesamten Einkommensteuer zahlen.
Doch dass sie gar nichts zahlen, ist falsch. Steuer-Irrtum Nr. 3: „Mit Steuerschlupflöchern lässt
sich die Einkommensteuer auf Null senken“ In der Tat können Menschen mit viel Geld Immobilien kaufen oder
sich an Filmfonds beteiligen. Solche Investitionen führen in den
Anfangsjahren zu Verlusten und senken deshalb die
Einkommensteuer-Belastung. Doch hat der Gesetzgeber längst
ausgeschlossen, dass Verluste in beliebiger Höhe mit dem
Arbeitseinkommen verrechnet werden. Die Steuerersparnis gibt es aber nicht zum Null-Tarif. Werfen
solche Investitionen später Erträge ab, dann müssen sie versteuert
werden. Führen sie dagegen zu Verlusten, dann wird die anfängliche
Steuerersparnis mit dem Verlust des eingesetzten Kapitals bezahlt –
ein wirklich schlechtes Geschäft. Davon können Hunderttausende ein Lied singen, die nach der Wende
mit Ost-Immobilien Steuern sparten – und heute zum Beispiel stolze
Miteigentümer von leer stehenden, verlustbringenden Gebäuden
sind. Seite 2: Steuer-Irrtum Nr. 4: „Der kleine Mann wird
bei der Lohnsteuer stark belastet“ Steuer-Irrtum Nr. 4: „Der kleine Mann wird bei der
Lohnsteuer stark belastet“ Die Vorstellung, die Reichen zahlten Einkommensteuer, der kleine
Mann aber Lohnsteuer, ist schlicht Unsinn. Die Lohnsteuer ist nur
eine Erhebungsform der Einkommensteuer. Anders ausgedrückt:
Lohnsteuer ist nichts anderes als direkt vom Gehalt abgezogene
Einkommensteuer. Deshalb zahlen auch Topmanager Lohnsteuer. Dass linke Politiker dennoch immer wieder gern mit dem
angeblichen Gegensatz von Lohn- und Einkommensteuer operieren,
lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder sie wissen es nicht besser
oder sie wollen die Menschen für dumm verkaufen. Also: Zum Aufkommen der Einkommensteuer von rund 190 Milliarden
Euro tragen Groß- wie Kleinverdiener bei, nur in höchst
unterschiedlichem Maße. Denn die Hälfte der Haushalte zahlt dankt
hoher Freibeträge überhaupt keine Einkommensteuer. Und die unteren
50 Prozent der Einkommensteuerpflichtigen mit Jahreseinkünften bis
28.000 Euro zahlt zusammengenommen nur 6,9 Prozent. Steuer-Irrtum Nr. 5: „Aber bei der Mehrwertsteuer muss
der kleine Mann bluten“ Richtig ist: Der Staat nimmt mit rund 290 Milliarden Euro an
indirekten Steuern (Umsatzsteuer, Tabaksteuer, Stromsteuer usw.)
deutlich mehr ein als bei der Einkommensteuer (190 Milliarden).
Richtig ist auch, dass die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen
gar nichts oder nur wenig sparen können, weil sie ihr gesamtes
Einkommen für den Bedarf des täglichen Lebens ausgeben müssen. Da
wird dann bei fast jeder Ausgabe Mehrwertsteuer fällig. Die These, mit der Mehrwertsteuer und anderen Verbrauchssteuern
müssten die Armen mehr leisten als die Reichen, stimmt – aber nur
relativ. Ein Einkommensmillionär gibt die rund 540.000 Euro, die
ihm nach Abzug von Einkommensteuer und Soli noch bleiben, wohl
nicht völlig aus. Anders der Hartz IV-Empfänger, der seinen
Regelsatz zum Leben braucht. Nur: Der Großverdiener zahlt natürlich absolut viel höhere
Summen. Wer ein Auto für 50.000 Euro kauft, zahlt 8.000 Euro
Mehrwertsteuer. Damit finanziert er ein Jahr lang den Regelsatz für
zwei Hartz IV-Empfänger. Der Hartz IV-Empfänger zahlt aber im Jahr
etwa 400 bis 450 Euro an indirekten Steuern. Deshalb kann es auch nicht überraschen, dass die Bezieher
höherer Einkommen – absolut wie relativ – auch bei den indirekten
Steuern mehr zu schultern haben als die Kleinverdiener und
Transferempfänger. Die schon erwähnten oberen 10 Prozent tragen
eben nicht nur 53 Prozent der Einkommensteuer, sondern auch 19
Prozent der indirekten Steuern. Auch hier wird also umverteilt.
Deshalb entfällt auch die Hälfte der indirekten Steuern auf die
oberen 30 Prozent. Natürlich kann man auch hier für eine noch höhere Umverteilung
plädieren. Aber es ist und bleibt eine Mär, dass der kleine Mann
über die Verbrauchssteuern sozusagen den größten Teil der
Staatsausgaben stemmt. Steuer-Irrtum Nr. 6: „Selbst die kapitalistischen USA
nehmen ihre Reichen härter ran“ Noch so ein Märchen. Ja, die USA besteuern das Vermögen, in
erster Linie im Wege der Grundsteuer. Aber bei der Einkommensteuer
greift der amerikanische Fiskus viel sanfter zu als der deutsche.
Der Spitzensteuersatz ist mit 39 Prozent niedriger als der deutsche
mit 42 bzw. 45 Prozent (Reichensteuer). Zusammen mit den Zuschlägen
der Einzelstaaten steigt er auf 42 bis 45 Prozent. Damit bleiben
die USA immer noch unter der bei uns üblichen Belastung, weil
noch der Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent (auf die
Steuerschuld) dazu kommt. Was aber der entscheidende Unterschied ist: Bei uns greift der
Spitzensteuersatz schon bei 52.000 Euro, in den USA erst bei
umgerechnet etwa 250.000 Euro. Würden wir uns am amerikanischen
Beispiel orientieren, wäre das für die bösen Reichen eine
gigantische Steuerentlastung. Aus all dem folgt: Wer aus ideologischen
Gründen mehr Umverteilung für einen Wert an sich hält, der mag ja
dafür kämpfen. Aber dann soll er doch bitte auch offen sagen, worum
es ihm geht – und nicht mit halb wahren und ganz falschen
Behauptungen auf Dummenfang gehen.
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Die Gerechtigkeitsfrage wird neben der Euro-Krise zum zentralen Wahlkampfthema. Grüne, SPD und Linke überbieten sich bereits gegenseitig in ihren Steuererhöhungsphantasien. Reine Ideologie, meint Hugo Müller-Vogg und nennt die schlimmsten Irrtümer in der Debatte
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innenpolitik
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2012-09-03T13:37:40+0200
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2012-09-03T13:37:40+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/die-sechs-groessten-irrtuemer-der-steuerdebatte/51733
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Demokratie - Verteidigung der Elite
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Was die Intellektuellen schon immer mit am besten konnten, war die Selbstbezichtigung und -zerfleischung. Und so fühlte auch ich mich zunächst ertappt, als ich Alexander Graus Text „Der Kulturkampf von oben“ las. „Man hat ein Netflix-Abo, konsumiert mit Kennermiene den neuesten amerikanischen Serienhype im Original, bucht bei Airbnb und liest den New Yorker“ – mit diesen Worten hat Grau, nun ja, genau meine Lebenswelt beschrieben. Doch kurz danach, dachte ich, Moment mal: Warum muss ich mich dafür entschuldigen? Was wäre denn die Alternative? Soll ich weiterhin in anonymen Hotels übernachten, anstatt über Airbnb Städte viel lebensnaher zu erleben? Mir jetzt RTL 2-Bügelfernsehen reinziehen, anstatt die besten Fernsehserien, die es vielleicht je gab? Das Abo des großartigen Magazins kündigen und am Morgen die Bild-Zeitung kaufen? Und all das, damit ich von meiner abgehobenen Welt in die der „Zurückgebliebenen“, über die ich, laut Grau zumindest, die Nase rümpfe, zurückkehre? Tja, als Angehöriger einer Elite, oder als Möchtegern-Angehöriger, hat man es nicht leicht in diesen Tagen. Noch viel schlimmer, wenn man Teil der Medien, oder sagen wir lieber gleich: der Lügenpresse, ist. Denn, da sind sich merkwürdigerweise Linke und Rechte einig, die Funktionsträger der „Mainstream-Presse“ und der „Mainstream-Politik“ haben sich soweit weg von „den Menschen da draußen“ entfernt, dass sie das Volk verraten haben und dabei sind, das Land in den Ruin zu treiben. So oder so ähnlich wird argumentiert, in den USA, in Frankreich, in Großbritannien, in Polen, in Indien und so weiter. Mit Erfolg, das muss man lassen: Überall dort sind Vertreter einer anti-elitären Bewegung an die Macht gekommen oder stehen kurz davor. Auch wenn sie selbst zweifelsfrei Teil dieser Elite sind: „Die Leute haben die Schnauze voll von Experten“, sagte der britische Brexit-Befürworter Michael Gove, Privatschulabsolvent und ehemaliger Präsident der Studentenvereinigung der Oxford Universität. „Ich liebe die Ungebildeten“, sagte Donald Trump, Milliardär und Millionärssohn, bei einem Wahlkampfauftritt, zu dem er in seinem Privatjet geflogen kam. Wie die Leser des New Yorker wissen, ist dies nicht weniger als ein Aufstand gegen die Aufklärung, gegen die kosmopolitische Moderne: Das große Unternehmen des 18. Jahrhunderts, aus rationalem Eigeninteresse, freiem Handel, freier Kunst und Wissenschaft, eine universale Zivilisation herzustellen, geformt von hochelitären Denkern wie Voltaire, Montesquieu, Adam Smith oder Immanuel Kant. Freilich gab es die Gegenbewegung schon damals, in Person von Jean-Jacques Rousseau, der als geistiger Urvater der Goves, Trumps und Petrys von heute gelten kann. Rousseau schrieb, dass Freiheit nicht irgendeiner Form der Regierung inhärent sei, sondern nur „im Herzen des einfachen Menschen“, und dass Fortschritt nur zu neuen Formen der Versklavung führen würde. Zentral in seinen Thesen war der Patriotismus. „Ein Patriot ist abstoßend gegenüber Fremden. Für ihn sind sie nichts.“ Rousseaus ideale Gesellschaft war Sparta: klein, streng, autark, heftig patriotisch und trotzig unkosmopolitisch, eine idealisierte Vision einer antiken politischen Gemeinschaft. Schon damals war es eine verführerische Ideologie, die deutsche Provinzphilosophen wie Gottlieb Fichte und Johann Gottfried von Herder dazu brachte, einen ökonomischen und kulturellen Nationalismus zu entwickeln. Der erste Revolutionär, der sich davon inspirieren ließ war Maximilien Robespierre – viele Revolutionen und viel vergossenes Blut sollten folgen. Elitenverachtung und -bekämpfung waren zentrale Bausteine von Kommunismus und Faschismus. Die verheerendste Aneignung der rousseauschen Ideen war die Verbindung von Sozialismus und Nationalismus unter Adolf Hitler. Dennoch schienen die Siegeszüge des kapitalistischen Imperialismus im 19. Jahrhundert und der ökonomischen Globalisierung nach dem Kalten Krieg Rousseaus Gegenspieler Voltaire Recht zu geben. Erfüllten sie doch in großem Ausmaß den Aufklärungstraum einer weltweiten materialistischen Zivilisation, die durch rationales Eigeninteresse miteinander verknüpft war. Rousseau wirkte dagegen wie auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrannt. Doch das scheint sich gerade zu ändern. In der aufgeklärten westlichen Welt gibt es nun eine Gegenbewegung gegen das hyperrationalistische Expertentum, die wie Rousseau den Willen über den Verstand stellt und davon träumt, dass das Volk als Souverän die Kontrolle aus den Händen einer außer Kontrolle geratenen Elite reißt. Es ist ohne Frage ein welthistorisches Ereignis, da Ähnliches nach dem Zweiten Weltkrieg bisher nur in nichtwestlichen und unterentwickelten Gesellschaften geschah. Das beste Beispiel ist die Islamische Revolution im Iran 1979. Sie wurde gegen das von Technokraten und radikal disruptiv geführte Regime des Schahs geführt und endete mit der Machtergreifung eines Klerikers, der nahezu alle Errungenschaften der Moderne verteufelte und abschaffte. Malen wir uns einmal aus, was passieren würde, wäre dieser Kulturkampf von unten auch im Westen erfolgreich. Dabei helfen Fakten, auch wenn sie bei den Anführern dieser Rebellion so unbeliebt sind. Ein Viertel der US-Amerikaner glaubt, dass die Sonne sich um die Welt dreht und auch in der EU wissen nur zwei Drittel, dass es andersherum ist. Selbst an den Universitäten in Deutschland beschweren sich Professoren immer wieder darüber, dass ein Großteil der Studenten die Grundrechenarten und Grammatikregeln nur rudimentär beherrschen. Machen wir uns nichts vor: Würde dieser Teil der Bevölkerung an die Macht kommen, bräche unsere Gesellschaft bald zusammen. Es sind die Eliten, die dafür sorgen, dass die Infrastruktur trotz Unterfinanzierung nicht kollabiert und dass unsere Kinder an den Schulen überhaupt etwas lernen. Wenn wir krank sind, fragen wir nicht ein paar Leute auf der Straße, was die beste Heilung verspräche. Wir gehen in ein Krankenhaus, wo gut ausgebildete medizinische Spezialisten uns behandeln. Warum sollte es in der Politik anders sein? Oft wird Politikern vorgeworfen, sich „im wahren Leben“ nicht mehr auszukennen, nur für die Politik ausgebildet zu sein. Könnte es auch daran liegen, dass der öffentliche Dienst und der Gesetzgebungsprozess in der globalisierten Welt so kompliziert geworden sind, dass man sie nicht mehr mal so nebenbei erlernen kann? Natürlich machen auch Eliten Fehler. In der Nahost-Politik werden und wurden sie gemacht, in der Flüchtlingskrise auch. Diese Fehler müssen selbstverständlich benannt und aufgedeckt werden. Aber zu glauben, dass der IS-Terror schon ausgemerzt wäre oder die Flüchtlingskrise behoben, wenn sich nicht Menschen, die ihr ganzes Berufsleben darauf ausgerichtet haben, damit befassen würden, sondern eine Gruppe, die kein Expertenwissen hat und ausschließlich nach Instinkt agiert – ist schlicht absurd. Es ist immer einfacher, zu rufen, man würde es besser machen, wenn man es nicht selbst tun muss. Das ist beim Fußballgucken nicht anders als in der Politik. Was also ist zu tun? Keine Frage, die Nase zu rümpfen und sich weiter abzuschotten, wie es Alexander Grau der Elite vorwirft, kann nicht der Weg sein. Wer gut ausgebildet ist, ist nicht automatisch klüger und schon gar nicht ein moralisch besserer Mensch. Doch der einzige Weg, die Führungsqualitäten der Eliten beizubehalten, ohne den demokratischen Geist der Nation zu schaden, besteht darin, mehr Menschen in die Elite zu bringen. Umso mehr Menschen versuchen, die Welt zu erforschen und zu verstehen, umso besser für die Welt. Dass das nicht von oben herab geschehen muss, sondern mit einer Offenheit für die Ängste und Sorgen der Menschen „von unten“ gelingen kann, zeigen gerade die als Elitenfutter gescholtenen Serien wie The Wire und Breaking Bad oder die Reportagen des New Yorker- Journalisten George Packer. Sie haben aufgedeckt, wie die Mittelklasse in den USA zerbröselt, indem sie sich empathisch mit ihren Protagonisten auseinandergesetzt haben, ohne sie zu bevormunden. Die Erzeugnisse sind übrigens für relativ wenig Geld für jedermann verfügbar.
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Constantin Wißmann
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Die Beschimpfung von Experten, Politikern und Journalisten ist gerade angesagt. Anhänger von Donald Trump oder der AfD beteiligen sich daran genauso wie die Eliten selbst. Dabei wäre die Aufklärung ohne sie nicht möglich gewesen und ist jetzt in Gefahr. Eine Replik auf Alexander Grau
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"Kulturkampf",
"Donald Trump",
"Michael Gove Voltaire",
"Immanuel Kant"
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kultur
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2016-11-23T14:20:40+0100
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2016-11-23T14:20:40+0100
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https://www.cicero.de//kultur/demokratie-verteidigung-der-elite
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Domino-Effekt – Wie wirkt ein Schuldenschnitt auf die Banken?
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Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder am 23. Oktober in Brüssel treffen, wird eine der zu erwartenden Entscheidungen ganz besondere Aufmerksamkeit erregen: Ob die Steuerzahler in Europa nach der Lehmann-Pleite 2008 zum zweiten Mal ihre Banken aus der Krise herauspauken müssen. Wobei die Tatsache, dass es zu Staatshilfen für die Banken kommen muss, wenn etwa Griechenland an einem Schuldenschnitt nicht mehr vorbeikommt, eigentlich gar nicht mehr infrage steht. Spannend ist lediglich noch, wer die Zeche zahlen wird. Das Szenario eines Schuldenschnitts für pleitebedrohte Euro-Länder birgt vor allem ein Risiko für die Finanzindustrie. Weniger in den Büchern deutscher Banken, dafür aber milliardenfach in denen ihrer europäischen Nachbarhäuser, liegen Staatsanleihen von Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Bei einem Schuldenschnitt müssten die Banken diese Papiere neu bewerten, was zum Teil drastische Auswirkungen auf ihre Eigenkapitalbasis hätte. Vereinfacht gesagt: Die Geldhäuser können dann nicht mehr genug Eigenkapital aufweisen, um Kredite zu besichern. Im schlimmsten Fall wären sie pleite. Dieser Dominoeffekt könnte zu einem Zusammenbruch des europäischen Finanzsystems führen, ja sogar eine neue globale Rezession auslösen. Glaubt man jüngsten Debatten in der EU-Kommission, dann sollen sich Europas Geldhäuser für diesen Fall rüsten, zunächst einmal Geld von ihren Eigentümern einsammeln und mit deren Hilfe ihre Eigenkapitalquote aufstocken. Das könnte unter anderem mit einem Verbot erreicht werden, den Eigentümern Dividenden auszuzahlen. Und wenn das noch nicht ausreichen sollte, um die Kapitalquote zu erhöhen, könnten die Banker gezwungen werden, vom Staat Geld anzunehmen – unter Auflagen natürlich. Eine solche Zwangskapitalisierung wurde bereits 2008 diskutiert und wird auch in der gegenwärtigen Lage von Deutschlands Wirtschaftsforschungsinstituten für richtig erachtet. „Zunächst müssen die Eigentümer herangezogen werden“, sagten die Spitzenforscher am Donnerstag bei der Vorstellung ihres Herbstgutachtens, „notfalls auch mittels Ausschüttungsverbot“. Erst im zweiten Schritt sollten die Steuerzahler herangezogen werden. Und zwar genau in der Reihenfolge, wie sie auch die Bundesregierung bislang immer präferiert hat: Erst müssen die Nationalstaaten mit Bürgschaften oder Krediten aushelfen, dann europäische Institutionen, wie die Zentralbank oder der Rettungsfonds EFSF, indem sie den Banken die nicht mehr werthaltigen Staatsanleihen abnehmen. Für die deutschen Bankhäuser ist eine Zwangskapitalisierung nicht vorstellbar. „Nicht die Kapitalausstattung der Banken ist das Problem, sondern die Tatsache, dass Staatsanleihen ihren Status als risikofreie Aktiva verloren haben“, sagte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann am Donnerstag bei einem Kongress in Berlin und schob den Schwarzen Peter allein den Steuerzahlern zu. Weil sich die Staaten jahrelang von den Banken Geld geliehen haben, das sie nun (zumindest nicht vollständig) zurückzahlen können, müssten auch die Staaten die Lücke schließen, wenn ein Schuldenschnitt nötig erscheint. Dass die Banker an den Staatspapieren jahrzehntelang gut verdient haben, kam dabei jedoch nicht zur Sprache. Für den Deutschbanker Ackermann jedenfalls steht fest, dass sein Geldhaus auch durch diese Krise ohne staatliche Hilfe (und damit auch ohne staatliche Beteiligungen) kommen will. Unterstützung erhielt Ackermann am Donnerstag von der Europäischen Zentralbank (EZB), die ebenfalls davor warnte, die privaten Gläubiger der Staaten bei einem Schuldenschnitt über Gebühr zu belasten. In einem Brief an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble weist die deutsche Kreditwirtschaft nun sogar auf juristische Risiken staatlicher Eingriffe in die Eigentumsrechte hin. Daher sei es wichtig, dass die Banken ausreichend Zeit bekämen, ihre Kapitaldecke selbst zu stärken, heißt es in dem Schreiben des Dachverbands der deutschen Institutsgruppen. EU-Kreisen zufolge bekommen die Geldhäuser hierfür wohl drei bis sechs Monate eingeräumt. Wie teuer es voraussichtlich werden wird, Europas Banken zu retten, soll ein Blitz-Stresstest ermitteln. Darin unterstellt die Europäische Bankenaufsicht EU-Kreisen zufolge, dass alle Staatsanleihen der Euro-Krisenländer zu aktuellen Marktpreisen bewertet werden. Alle Institute, die unter diesen Bedingungen nicht mindestens eine harte Kernkapitalquote von neun Prozent erreichen, müssen sich den Plänen zufolge frisches Kapital besorgen. Für die Deutsche Bank ergäbe sich auf Basis dieser Berechnungen Finanzkreisen zufolge ein Bedarf von neun Milliarden Euro, bei der Commerzbank kommen Experten von Morgan Stanley auf ein ähnliches Niveau. Europaweit fehlen nach Schätzungen von Credit Suisse 220 Milliarden Euro und zwar bei gut zwei Dritteln der rund 90 wichtigsten Geldhäuser.
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Frage des Tages: Bei einem Schuldenschnitt für Griechenland würden vor allem die Banken viel Geld verlieren. Um nicht pleite zu gehen, brauchen sie mehr Eigenkapital. Wo soll das herkommen?
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wirtschaft
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2011-10-14T08:44:44+0200
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2011-10-14T08:44:44+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/griechenland-schuldenschnitt-zwangskapitalisierung-woher-sollen-banken-eigenkapital-nehmen/46156
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Horrorbilder aus der Ukraine - Kriegsgräuel in Butscha lösen Entsetzen aus
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Leichen auf den Straßen, ausgebrannte Autos, rußgeschwärzte Häuser ohne jeden Bewohner: Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist das Ausmaß der Gräueltaten an der Zivilbevölkerung deutlich geworden. In der Vorortgemeinde Butscha lagen nach mehr als fünf Wochen Krieg Dutzende Tote im Freien. Etwa 280 Todesopfer, die während der Kämpfe nicht beigesetzt werden konnten, wurden in einem Massengrab bestattet. Die Bilder aus Butscha lösten international Entsetzen aus. Das russische Verteidigungsministerium sprach von Fälschung. Die Bundesregierung reagierte am Sonntag erschüttert auf die Berichte. „Diese Verbrechen des russischen Militärs müssen wir schonungslos aufklären“, forderte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach sich dafür aus, russische Kriegsverbrechen in der Ukraine vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Die EU will jetzt schnell über noch härtere Sanktionen beraten. Wegen des russischen Angriffs hat der Westen bereits beispiellose Strafen gegen Russland verhängt, auch gegen Präsident Wladimir Putin persönlich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von Horrorszenen. Zugleich versicherte sie: „Kriegsverbrecher werden zur Verantwortung gezogen.“ US-Außenminister Antony Blinken verwies darauf, dass die USA schon länger davon ausgingen, dass es in der Ukraine zu schweren Kriegsverbrechen kommt. Dies sei eine „Realität, die sich jeden Tag abspielt, solange Russlands Brutalität gegen die Ukraine anhält. Deshalb muss es ein Ende haben.“ Eine Videoaufnahme des ukrainischen Verteidigungsministeriums zeigte die Leichen mehrerer Menschen am Straßenrand. Einige davon hatten die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die Echtheit konnte nicht unabhängig geprüft werden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtete unter Berufung von Augenzeugen über die öffentliche Erschießung eines Mannes in Butscha durch russische Soldaten schon in den ersten Tagen des Krieges. Das Verteidigungsministerium in Moskau nannte ausländische Berichte über Massaker wörtlich „Fake“. Der britische Sender BBC berichtete in einem Film aus Butscha, dass Bewohner von jungen russischen Wehrpflichtigen auf der Flucht um Hilfe angefleht worden seien. „Dies ist ein Friedhof der russischen Hoffnungen, Kiew einzunehmen“, sagte ein BBC-Reporter zu Aufnahmen verkohlter Panzer und anderer Militärfahrzeuge. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte der Bild-Zeitung: „Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen.“ Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte zum Abzug der russischen Truppen aus der Umgebung von Kiew, dies sei kein wirklicher Rückzug. Vielmehr sei zu sehen, wie Russland seine Truppen „neu positioniert“. Die Nato sei besorgt über mögliche verstärkte Angriffe, vor allem im Süden und im Osten. Zu beobachten war dies bereits am Wochenende – vermutlich mit dem Ziel, die dort besetzten Gebiete auszuweiten. Auch die Millionenstadt Odessa wurde angegriffen. Aus dem Verteidigungsministerium in Moskau hieß es, von Schiffen und Flugzeugen aus seien eine Ölraffinerie und drei Treibstofflager in der Nähe von Odessa beschossen worden. Nach ukrainischen Militärangaben gingen die Kämpfe auch im Osten weiter. Die Beschuss von Städten im Gebiet Luhansk dauere an. Es gebe Kämpfe bei Popasna und Rubischne. Nach russischen Angaben wurden in der Nacht zum Sonntag in der Ukraine insgesamt 51 Militäreinrichtungen getroffen, darunter vier Kommandoposten und zwei Raketenabwehrsysteme. Diese Angaben ließen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen. Das Rote Kreuz musste Versuche abbrechen, mit einem Buskonvoi Menschen aus der umkämpften Hafenstadt Mariupol herauszuholen. Trotzdem gelang Hunderten nach Angaben der Regierung die Flucht. 765 Zivilisten hätten mit eigenen Fahrzeugen die Stadt verlassen. Fast 500 Bewohner seien aus der Stadt Berdjansk geflohen, die ebenfalls am Schwarzen Meer liegt. Für Sonntag planten die russischen Streitkräfte einen Fluchtkorridor für ausländische Staatsbürger aus Mariupol und Berdjansk – zumeist Besatzungsmitglieder von blockierten Frachtschiffen. Der ukrainische Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit Moskau, David Arachamija, sprach im Staatsfernsehen von positiven Signalen. Auch ein baldiges Treffen der Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Putin in der Türkei sei möglich. Hingegen dämpfte Russland diese Erwartungen. Es gebe noch viel zu tun, sagte Verhandlungsführer Wladimir Medinski. Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch rechnet mit einem Ende des Kriegs in „zwei bis drei Wochen“. Es hänge nun alles vom Ausgang der Kämpfe im Südosten des Landes ab. Die russische Armee habe keine Reserve mehr, behauptete der Berater nach einem Bericht der Nachrichtenseite strana.news. Seit längerer Zeit gibt es Spekulationen, dass Putin den Krieg bis zu den Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs beenden könnte. In Russland ist dies am 9. Mai. dpa
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Cicero-Redaktion
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Russische Truppen haben die Vorstädte von Kiew verlassen. Zurück bleiben apokalyptische Szenen. Die Nato erwartet verstärkte Angriffe im Osten und Süden. Dort war die Hafenstadt Odessa Ziel eines Luftangriffs.
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"Ukraine-Krieg",
"Odessa",
"Russland",
"Putin",
"Ukraine"
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außenpolitik
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2022-04-03T14:47:06+0200
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2022-04-03T14:47:06+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/odessa-unter-beschuss-grausame-bilder-nach-russischem-ruckzug-ukraine-krieg
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Drohnen-Debatte - Ursula von der Leyen kopiert Merkels Machtstrategie
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Wer wissen möchte, wohin die Reise der Ursula von der Leyen geht, der sollte sich ihren momentanen Politikstil genau anschauen. Bisher hatte die Ministerin vor allem die Angewohnheit, sich aus den verfügbaren Themen ihrer Ämter öffentlichkeitswirksam Rosinen herauszupicken und gegen alle Widerstände durchzudrücken, mit Wucht und oft im Alleingang. Der Krippenausbau als Familienministerin, Rentenreform oder Frauenquote als Arbeitsministerin – das alles waren harte, laute Aufschläge, die ihr in den eigenen Reihen oft Groll, beim Wahlvolk aber Punkte eingebracht haben. Ähnlich agierte sie anfangs im Verteidigungsministerium. Ihr medienwirksamer Apell für den Umbau der Bundeswehr in ein „familienfreundliches Unternehmen“ war so ein Aufschlag, sympathisch nach außen, auch wenn man sich intern vor dem „Image von Weicheiern und Warmduschern“ (Harald Kujat) fürchtete. Doch das Verteidigungsressort ist für Politikerkarrieren auch deshalb ein gefährliches Gewässer, weil man unpopulären Themen nicht ausweichen kann. Rosinenpickerei ist hier nicht mehr möglich. Kaum ein Thema ist so unsympathisch und gefährlich wie die Drohne, bewaffnete zumal. Es kostete Thomas de Maizière den Ruf, und hätte auch Ursula von der Leyen früher oder später von selber eingeholt. Stattdessen hat sie sich nun positioniert. Sie sei, erklärte die Ministerin, grundsätzlich dafür, die Bundeswehr mit neuen, bewaffneten Drohnen auszurüsten. Abgesehen von ihrer Bereitschaft, aus der Deckung zu kommen, ist wenig an von der Leyens Erklärungen zum Thema entschlossen. Und das ist sehr ungewöhnlich für die Ministerin. Drohnen für die Bundeswehr sollen vorerst nur geleast werden, erklärte sie. Jedenfalls bis die europäische Rüstungsindustrie ihre eigene Kampfdrohne entwickelt habe – ein Projekt, mit dessen Abschluss nicht vor 2020 zu rechnen sein dürfte. Von der Leyen möchte außerdem, dass jeder Drohneneinsatz vom Parlament als Mandat genehmigt wird. Auch über die Bewaffnung der Flugkörper soll der Bundestag im Einzelfall entscheiden. Ein äußerst geschicktes Vorgehen der Ministerin. Sie hat so den Ball zurück ans Parlament gespielt, und ist gleichzeitig bis auf weiteres der heiklen Frage ausgewichen, ob die Bundeswehr sich eine eigene Kampfdrohne anschaffen soll. Sie hat das heiße Eisen scheinbar angepackt, ohne zu viel Ärger mit der SPD zu riskieren, die mehrheitlich gegen den Kauf einer deutschen Kampfdrohne ist. Und ohne ein Land zu überfordern, das in der Drohne vor allem einen fliegenden Killerdroiden sieht. Die vorsichtige Absicherung und taktierende Risikominimierung bei gleichzeitiger Simulation von größtem Handlungswillen – das war bisher nicht der Stil von Ursula von der Leyen. Offenbar hat sie ihn gelernt, mit dem Eifer der Einser-Schülerin, die sie immer war. Es ist der Stil der Kanzlerin, die hohe Schule Merkelscher Machtpolitik. Es ist die Taktik der Frau, deren Erbin Ursula von der Leyen werden möchte. Wie Ursula von der Leyen das Kanzleramt erobern will und warum Merkel lieber auf Annegret Kramp-Karrenbauer setzt, lesen Sie in der Juli-Ausgabe von Cicero. Die Titelgeschichte heißt: „Die Stunde null“. Sie erzählt von den Planspielen um Angela Merkels Abgang, von von der Leyens Stärken und Schwächen – und davon, welche Motivlage Merkel dazu bringen kann, als erste deutsche Kanzlerin ganz aus freien Stücken abzutreten.Das Magazin ist ab sofort am Kiosk und in unserem Online-Shop erhältlich. Erleben Sie Cicero auch in der iPad-App mit vielen Animationen, Videos und Leseproben.
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Constantin Magnis
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Wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sich für die Anschaffung von Drohnen durchgerungen hat, zeugt von einer neuen Machtpolitik: Erstmals geht die CDU-Politikerin bei einem Thema nicht mehr mit dem Kopf durch die Wand. Stattdessen setzte sie auf die erfolgreiche Merkel-Taktik. Sie will Kanzlerin werden. Ein Kommentar
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innenpolitik
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2014-07-02T17:55:23+0200
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2014-07-02T17:55:23+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/drohnen-anschaffung-ursula-von-der-leyen-setzt-auf-den-merkel-trick/57870
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Bundestagswahl - Terminplan für Sondierung
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Vier Tage nach der Bundestagswahl wird der Terminplan für die anstehenden Sondierungsgespräche zwischen den Parteien immer klarer. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt äußerte sich mit Blick auf eine Koalition unter Beteiligung von CDU und CSU skeptisch. CDU-Bundesvize Jens Spahn machte dagegen deutlich, dass er auf die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung für die Union setzt. Wie es am Donnerstag aus Unionskreisen hieß, will die Unionsspitze am Sonntagabend um 18.30 Uhr mit Vertretern der FDP über Chancen für eine mögliche gemeinsame Regierung mit den Grünen beraten. Gespräche mit den Grünen seien zu Beginn der kommenden Woche geplant. Eine Grünen-Sprecherin wollte das weder bestätigen noch dementieren. Parteichefin Annalena Baerbock hatte am Vortag gesagt, dass eine Einladung der Union vorliege und man im Kontakt sei. Freitagabend und Samstag waren CSU-seitig von vornherein als mögliche Termine ausgeschieden – das hatte Söder intern nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auch früh mitgeteilt. Am Freitagabend gibt es eine Feier für den früheren bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Edmund Stoiber zu dessen 80. Geburtstag, bei der neben Söder auch Laschet angekündigt ist. Am Samstag hat Söder mehrere CSU-Gremiensitzungen in den Bezirksverbänden im Terminkalender. Söder habe dafür aber diesen Donnerstag, tagsüber am Freitag oder den Sonntag für mögliche Gespräche angeboten. Ebenfalls am Sonntag will die SPD getrennt mit Grünen und FDP sondieren, wie die Chancen für eine Ampel-Koalition stehen. Das war bereits am Mittwoch bekanntgeworden. Die SPD trifft sich mit der FDP nach derzeitigem Informationsstand noch bevor diese am Abend mit der Union zusammenkommt. Danach reden die Sozialdemokraten mit den Grünen. Grüne und FDP hatten am Dienstag die Gespräche zur Regierungsbildung mit einem Vierer-Treffen und dem anschließenden vieldiskutierten Selfie bei Instagram eingeleitet. An diesem Freitag kommen zunächst diese beiden Parteien erneut in größerer Runde zusammen, bevor sie dann jeweils ab Sonntag getrennt mit SPD und Union reden. Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Ich sehe im Moment nicht, dass man die Union für sondierungsfähig halten könnte, geschweige denn für regierungsfähig.“ Man brauche eine zuverlässige Regierung. Zwar sei sie immer der Meinung, dass man unter den demokratischen Parteien keine Option ausschließen sollte. „Aber beim Blick auf den Zustand der CDU sehe ich aktuell nicht, wie eine Koalition mit CDU und CSU gehen soll.“ CDU-Bundesvize und Gesundheitsminister Jens Spahn sagte im Deutschlandfunk: „Opposition nur aus Frust, das kann ja jetzt nicht die Antwort sein. Wir haben auch eine Verantwortung für Deutschland.“ Eine Koalition aus Union, FDP und Grünen hätte die Chance, lange ungelöste Konflikte etwa bei Klimaschutz, Landwirtschaft und Migration aufzulösen. „Eine bürgerlich-ökologisch-liberale Regierung wäre für unser Land besser als eine Ampel.“ Auf die Frage, ob CDU-Chef Armin Laschet gehen müsse, sagte Spahn: „Die Frage stellt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht.“ Die Chefs von CDU und CSU sollten jetzt die Sondierungsgespräche führen. Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) sagte in der ARD-Sendung „Maischberger“, die Union müsse geschlossen in die Gespräche zur Regierungsbildung gehen. „Die Chance ist noch da“, sagte er zu einem möglichen Jamaika-Bündnis. Die CSU benannte nach dpa-Informationen derweil ihr Team für die Sondierungen: Neben CSU-Chef Markus Söder sollen CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, Generalsekretär Markus Blume, CSU-Vize Dorothee Bär und der parlamentarische Geschäftsführer der Landesgruppe, Stefan Müller, die Gespräche führen. Darüber berichtete auch die Welt. Die Grüne Jugend warnte mit Blick auf die FDP als möglichen Koalitionspartner vor zu viel Vertrauen in den Markt. „Bei dieser Wahl sind auch Menschen, die bisher konservativ gewählt haben, auf der Flucht vor der Zukunftsfeindlichkeit der CDU jetzt bei der FDP gelandet“, sagte der Bundessprecher der Grünen Jugend, Georg Kurz, der dpa. „Hinter dem frischen Image der FDP steckt aber leider bisher nur die alte Leier der wundersamen Kräfte des Marktes.“ dpa
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Cicero-Redaktion
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Nach der Bundestagswahl laufen die Drähte zwischen den Parteien heiß: Es geht um konkrete Termine für Sondierungsgespräche. Nach weiteren Beratungen zwischen Grünen und FDP am Freitag wird es am Sonntag ein besonders dichtes Gesprächsprogramm geben.
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"Bundestagswahl",
"Sondierungsgespräche",
"parteien"
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innenpolitik
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2021-09-30T16:13:24+0200
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2021-09-30T16:13:24+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/bundestagswahl-terminplan-fur-sondierung-spahn-linnemann-goering-eckardt
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Bittere Daimler-Jahresbilanz - Die Büchse des Ola Källenius
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Womöglich hätte sich der amtierende Daimler-Chef heute viel lieber auf einem Mond irgendwo in einem fiktiven Universum aufgehalten. Zumindest wirkte es so, als Ola Källenius, der Nachfolger des langjährigen Daimler-CEOs Dieter Zetsche seine erste Jahresbilanzpressekonferenz am Dienstag im Carl-Benz-Center in Stuttgart abhalten musste. Denn nur einmal, als es um einen Mond geht, gerät der kühle Schwede kurz ins Schwärmen. Källenius spricht vom „Mercedes-Benz Vision Avtr“. Es soll die „Vision of Tomorrow’s Next Big Thing“ sein. Es ist die Studie eines gänzlich emissionsfreien Fahrzeugs, das – inspiriert vom Film Avatar – auf dem Mond Pandora herumfährt. Schon Anfang Januar hatte er sie in Las Vegas bei der Consumer Electronics Show gemeinsam mit dem Hollywood-Regisseur James Cameron präsentiert. Man könnte auch sagen: Was Daimler da zeigt, ist Zukunftsmusik. Oder noch schlichter: ein Märchen, also eine erfundene Geschichte mit einer aber vielleicht tieferen Wahrheit. Nur tut die eben meistens weh. Und so ging es für Ola Källenius an diesem Tag eben kaum um bionisch-motorisierte Experimentalstudien auf dem fiktiven Mond Pandora. Vielmehr sah sich der Daimler-Chef gezwungen, eine sehr irdische Büchse der Pandora zu öffnen. Enthielt diese in der griechischen Mythologie alle der Menschheit bis dahin unbekannten Übel wie etwa Krankheit, Tod und Arbeit, so strömten aus der Büchse des Källenius an diesem Mittwoch nackte Zahlen, die übersetzt lauten: Entlassungen first, Elektrifizierung second. Vor versammelten Pressevertretern und Aktionären musste Källenius, der erst vor rund neun Monaten die Zetsche-Nachfolge angetreten hatte, das Ausmaß der Folgen der Transformation in der Automobilindustrie verkünden. Denn für Daimler – um im Bild zu bleiben – herrscht derzeit abnehmender Mond. Und ob er jemals wieder zunehmen wird, ist unklar. Die Zahlen stehen nun schwarz auf weiß und sie sind schlecht: Das Konzernergebnis 2019 brach im Vergleich zum Vorjahr um fast zwei Drittel auf 2,7 Milliarden Euro ein. „Das sind nicht Ergebnisse, die wir für die Zukunft sehen wollen. Das reicht nicht“, beteuerte Källenius. Das werde „diesem guten und stolzen Unternehmen“ nicht gerecht. Und damit werde er sich nicht zufrieden geben. Aber ist dieses „Horrorjahr“ ein „Wendepunkt“, wie er es ausdrückt? Viele Experten haben Zweifel. Nach wie vor belastet der Dieselskandal das Ergebnis mit mehreren Milliarden Euro. Die CO2-Ziele der Europäischen Union rücken immer näher und damit die erforderliche Reduktion der Flottenemissionen. In seiner Präsentation beschreibt Källenius diese Last als „Ambition 2039“. Aber die CO2-freie Mobilität sei „ganz ganz ganz wichtig“. Der Wandel weg vom Verbrennungsmotor zu Elektroantrieben hat gerade erst begonnen. Und es ist längst kein Geheimnis mehr: Der Elektroantrieb, die Revolution auf Rädern, frisst seine Ingenieure und Maschinenbauer. In der Sprache einer Jahresbilanzpressekonferenz klingt das freilich eleganter: „Wir wissen, dass wir in den nächsten drei Jahren jede Menge Arbeit haben mit Kosteneffizienz und Kostenstruktur“, sagt Ola Källenius. Wie das Handelsblatt zuvor berichtet hatte, will Daimler in der Folge noch deutlich mehr Personal einsparen als die rund 1,4 Milliarden Euro, die Källenius noch im November genannt hatte. Bis zu 15.000 Stellen sollen es nun weltweit sogar sein, die abgebaut werden, nicht nur 10.000, wie erst angekündigt. Die Maßnahmen sollen zunächst Abfindungen, vorzeitiger Ruhestand, mehr Teilzeit, weniger Arbeitsstunden pro Woche und weniger Zeitarbeit sein. Doch es könnte betriebsbedingt auch noch schlimmer kommen. Fast kleinlaut wirkte es darum, als Källenius sagte: „Es gibt auch Bereiche, in denen wir wachsen werden“. Man suche mehr Softwareingenieure und Softwareprogrammierer. Källenius beschreibt diesen Wandel als „spannende Dekade der Transformation in der Autoindustrie“. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Man habe „den Hebel mental umgelegt für Mercedes Benz auf dem Weg zu nachhaltiger Mobilität“. In seiner Präsentation stehen fabrikfertige Luxuskarosserien blitzblank in einer steinernen Wüstenlandschaft herum. Im Hintergrund Windräder, ganz ohne lästige Bürgerproteste, mit denen sich die Politiker kommunal herumschlagen müssen. Die Flotte soll ganz bald nur noch mit Strom auf die Straße. Doch wo bleiben die Modelle? Daimler werde schon in zehn Jahren nicht mehr das gleiche Unternehmen sein, sagt Källenius. Woher der Strom kommen soll? „Möglichst durch Erneuerbare“. Unterm Bilanzstrich kommt Daimler, wie die anderen deutschen Autobauer auch, an einem Problem nicht vorbei: Um in die notwendigen, neuen Technologien, ob in datengetriebene Digitalisierung, Industrie 4.0 oder neue Antriebe, Batterien oder Brennstoffzellen, investieren zu können, braucht der Autobauer Geld. Doch dieser notwendige Cashflow wird nun einmal in erster Linie vom Verbrenner erwirtschaftet. Und dessen Absätze drohen weiter einzubrechen, in China, und erst recht, wenn der Zollstreit der EU mit den USA weiter eskalieren sollte. Auf dem Weg zu seinem Sehnsuchtsmond Pandora muss Daimler-Chef Källenius beides tun: massiv investieren und zugleich massiv reduzieren. Und an den Werkstoren rütteln die Aktionäre, die nun mit einer Dividende von 90 Cent abgespeist wurden. Es rütteln die Gewerkschaften, die um die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder kämpfen. Und es rütteln die Politiker und Demonstranten mit ihren Vorgaben und Wünschen, die den Planeten retten sollen. Man wünschte Källenius am liebsten einen Job auf einem anderen Stern. Doch seiner dreht sich vorerst weiter zwischen Las Vegas und Untertürkheim.
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Bastian Brauns
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Die Jahresbilanz des Autobauers Daimler zeigt deutlich, wie tief der Konzern in der Krise steckt – und mit ihm eine ganze Industrie. CEO Ola Källenius versucht sich weiter an Visionen einer emissionsfreien Mobilität der Zukunft. Doch diese liegen derzeit anscheinend weit jenseits des irdisch Möglichen.
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"Daimler",
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wirtschaft
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2020-02-11T19:40:23+0100
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2020-02-11T19:40:23+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/daimler-jahresbilanz-sparprogramm-ola-kaellenius-transformation-arbeitsplatz-abbau
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Nach Boston-Terror - „Mehr Videotechnik macht Sinn“
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Herr Bosbach, die Fahndungserfolge der Polizei nach den Bombenanschlägen in Bostongehen auch auf die zahlreichen Aufzeichnungen von Überwachungskameras zurück. Brauchen wir mehr davon in Deutschland? Moderne Videotechnik kann einen wirksamen Beitrag zur Verhinderung oder Aufklärung von Straftaten leisten, auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird. Ihr Einsatz macht an bestimmten Gefahrenschwerpunkten Sinn, beispielsweise in Bahnhöfen, wo wir zumindest an den zentralen Knotenpunkten einheitliche, hohe Sicherheitsstandards benötigen. Es war schon peinlich, dass man bei dem gescheiterten Bombenanschlag auf dem Bonner Hauptbahnhof vor wenigen Monaten auf Bilder einer McDonalds-Filiale zurückgreifen musste, weil die Kameras der Bahn den Ablageort der Bombe nicht im Blickfeld hatten. Wer muss jetzt handeln? Die Gewährleistung der Sicherheit in Bahnhöfen ist gemeinsame Aufgabe von Bahn und Bundespolizei. In Boston haben Kameras auch die Straftat nicht verhindert, wohl aber eine Spur zu den Tätern geebnet. Reicht das aus? Niemand wird ernsthaft behaupten, dass der Einsatz von Videotechnik Straftaten unmöglich macht, aber sie erhöhen das Entdeckungsrisiko für jeden Täter und haben daher auch eine präventive Wirkung. Gerade deshalb befinden sich ja nicht nur in Banken, sondern auch in den meisten Tiefgaragen und vielen Warenhäusern solche Kameras. Entweder zur Beobachtung oder zur Aufzeichnung. Auch in Deutschland hatten wir schon dank Video rasche Fahndungserfolge, zum Beispiel bei der Suche nach den beiden Kofferbombenattentätern im Jahr 2006. Einen flächendeckenden Einsatz wie beispielsweise in London will niemand. Wichtig ist, dass die überwachten Bereiche für die Bürger sichtbar gekennzeichnet sind und dass die datenschutzrechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Wenn die aufgezeichneten Bilder zur Strafverfolgung nicht benötigt werden, müssen sie unverzüglich gelöscht werden. Seite 2: Im öffentlichen Raum sei Videoüberwachung hierzulande noch die Ausnahme, sagt Bosbach Ist die Videoüberwachung in Deutschland Ausnahme oder Regel? In Gebäuden und Anlagen mit großem Publikumsverkehr und den damit einhergehenden Gefahren trifft man sie immer häufiger an. Im öffentlichen Raum ist sie in Deutschland eine wirkliche Ausnahme. Über den Einsatz wird jeweils vor Ort und in enger Abstimmung mit der Polizei entschieden. Hier gibt es auch strenge datenschutzrechtliche Vorgaben, die beachtet werden müssen. Einen Trend zum Überwachungsstaat sehe ich wirklich nicht. Und das ist auch gut so. Nimmt der Einsatz von Videoüberwachung im privaten Bereich zu? Eindeutig ja, aber leider nicht ohne Grund. Warum? So gibt es heute kaum noch große Tankstellen ohne Videoüberwachung, und in den Fußballarenen wird modernste Technik eingesetzt, um aus der Masse der friedlichen Fans möglichst eindeutig Störer identifizieren und bei Straftaten überführen zu können. Welche Lehren können aus dem Fall in Boston gezogen werden? Meiner Kenntnis nach gibt es in Boston keine großräumige Videoüberwachung. Man hat die Täter sicherlich auch deshalb schnell identifizieren können, weil während des Tatgeschehens viele private Kameras im Einsatz waren. Das allerdings ist kein Wunder, denn am Ziel eines Marathonlaufes versuchen natürlich viele diesen Moment in Bildern oder Filmen festzuhalten. Das Interview führte Christian Tretbar.
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Christian Tretbar
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Welche Lehren lassen sich aus den Ereignissen in Boston für die deutsche Sicherheitspolitik ziehen? Ein Gespräch mit Wolfgang Bosbach (CDU), Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses, über Videoüberwachung und Fahndungserfolge deutscher Ermittler
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innenpolitik
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2013-04-20T09:14:36+0200
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2013-04-20T09:14:36+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/boston-terror-wolfgang-bosbach-videotechnik-hat-auch-praeventive-wirkung/54246
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Kramp-Karrenbauer, Kemmerich, Klinsmann & Co. - Gegangen, um zu bleiben
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Von Thüringen aus macht derzeit ein Phänomen Mode, das auch die Berliner Politik bereits fest im Griff zu haben scheint: Der angekündigte, aber nicht vollzogene Rücktritt. Immer öfter scheint es Menschen schwerzufallen, sich endgültig zu verabschieden. Thomas Kemmerich hat es vorgemacht. Erst hatte er nicht die „mentale Stärke“ eines Wolfgang Kubicki, die Wahl zum Ministerpräsidenten des Freistaats durch Stimmen der FDP, CDU und AfD nicht anzunehmen, also gewissermaßen noch vor dem Antritt zurückzutreten. Dann musste erst Christian Lindner (der noch nicht zurückgetreten ist) nach Erfurt einreiten, um ihn zum Rücktritt zu bewegen. Den Kemmerich sodann auch ankündigte, um aber wegen angeblicher juristischer Bedenken doch noch im Amt zu bleiben. Erst ein Machtwort der Kanzlerin ließ ihn dann doch den sofortigen Rücktritt vollziehen. Ein Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt. Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Apropos Kanzlerin: Angela Merkel ist sozusagen die Mutter des angekündigten, aber nicht vollzogenen Rücktritts. Zumindest wurde in ihrer mittlerweile knapp 15-jährigen Regentschaft immer wieder ihr Rücktritt vorhergesagt, er trat jedoch nicht ein. Ihren geordneten Rückzug bereitete sie aber bereits vor über einem Jahr vor und gab schon mal das Amt der CDU-Parteichefin an Annegret Kramp-Karrenbauer ab. Vergeblich, denn jetzt hat sie sogar ihre Nachfolgerin politisch überlebt. Annegret Kramp-Karrenbauer hat nämlich ebenfalls ihren Rücktritt angekündigt. Allerdings will auch sie sich mit dem Vollzug Zeit lassen, bis ein Nachfolger und Kanzlerkandidat gefunden ist. Und das kann AKKs Meinung nach dauern: Im Sommer soll einer gefunden worden sein, im Winter auf dem Bundesparteitag gekürt werden. AKK wäre nach ihrer Rücktrittsankündigung also noch fast ein Jahr im Amt, immerhin darin wäre sie ihrem Vorbild Merkel fast ebenbürtig. Ein Rücktrittsverzögerer ist in dem ganzen Trubel fast schon wieder in Vergessenheit geraten: Mike Mohring, der thüringische Fraktionschef, wurde erst in einer langen Nachtsitzung von seinen Abgeordneten dazu genötigt, am folgenden Tag seinen Rücktritt anzukündigen. Das schien Mohring aber am nächsten Morgen schon wieder verdrängt zu haben, so dass seine Untergebenen mit einer Vertrauensabstimmung gegen ihn drohten. Woraufhin er doch bekannt gab, nicht wieder für den Fraktionsvorsitz kandidieren zu wollen. Bis zum Mai könnte sich sein endgültiger Rücktritt noch hinziehen. Mohring soll derweil erst einmal in den Skiurlaub gefahren sein. Seine letzte „Abfahrt“ hatten sich Manche gewiss anders vorgestellt. Wieso schaffen es die großen Herren und Damen der Politik nicht, konsequent zurückzutreten? Klar, ein Abschied fällt oft schwer, zumal, wenn man endlich da angekommen ist, wo man immer hin wollte: an den Hebeln der Macht. Doch zu gehen, um zu bleiben, macht die Sache ziemlich kompliziert. Denn als lame duck fällt es umso schwerer, sich durchzusetzen. AKK beispielsweise behauptete in ihrer Rücktrittsankündigung zwar, sie könne nun "befreiter den Prozess der Kandidatenkür mitgestalten", doch sie wird selbst wissen, dass das bestenfalls eine Wunschvorstellung ist. Die Untergebenen schielen schon nach der Gunst ihres möglichen Nachfolgers oder halten sich selbst für ihn. Wen AKK zum Kanzlerkandidaten küren möchte, wird niemanden mehr interessieren. Je länger sich der Prozess der Rücktrittsankündigung hinzieht, desto gefährlicher wird er. Sowohl für den Ankündiger selbst als auch für sein Aufgabengebiet. So ein angekündigter Rücktritt lähmt Parteien, Regierungen und letztlich ein ganzes Land. Das retardierende Moment mündet in der klassischen griechischen Tragödie nicht ohne Grund in der Katastrophe. Wollen wir hoffen, dass es in Thüringen und in Berlin nicht so weit kommt. Einer in der Hauptstadt macht jedenfalls vor, wie man auch konsequent und schneller als gedacht zurücktreten treten kann: Jürgen Klinsmann kündigte seinen Rücktritt als Trainer von Hertha BSC auf Facebook an, bevor er seinen Verein davon in Kenntnis setzte. Ob das die Katastrophe des Abstieg des Berliner Clubs noch verhindert, weiß allerdings nur Gott. Wo wir gerade über Gott sprechen: Vielleicht beruhigt der Gedanke, dass im Grunde das ganze Leben eine einzige Rücktrittsankündigung ist. Irgendwann sind wir alle Geschichte. Das weiß wohl auch Kardinal Reinhard Marx, der mit frommer Gelassenheit ankündigte, nicht erneut als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz anzutreten. Er hat im Unterschied zu den meisten anderen derzeit auch einen unspektakulären, vielleicht sogar den besten Grund für sein Ausscheiden: sein Alter. Mit 66 Jahren hat man sich den Ruhestand verdient. Vielleicht ist das ja auch ein Grund, warum sich andere, jüngere von ihren Ämtern nicht trennen können. Denn was kommt nach dem wirklichen, endgültigen Rücktritt? Die grauenhafte Leere der Bedeutungslosigkeit, das Nichts der tagtäglichen Frage: Was fange ich heute nur mit mir an? Ob das quälend lange Hinauszögern des Abschied allerdings erträglicher ist, müssen AKK, Mohring & Co. für sich entscheiden.
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Marko Northe
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Den Rücktritt zu vollziehen, scheint kein einfaches Unterfangen zu sein. Vor allem Politiker scheitern derzeit immer öfter an dieser Aufgabe. Vielleicht könnten ein Fußballtrainer und ein Geistlicher als leuchtende Vorbilder dienen, wenn es darum geht, konsequent zu sein.
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"Thomas Kemmerich",
"Mike Mohring",
"CDU",
"Jürgen Klinsmann",
"Reinhard Marx",
"Kramp-Karrenbauer"
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innenpolitik
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2020-02-11T13:17:26+0100
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2020-02-11T13:17:26+0100
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https://www.cicero.de/innenpolitik/annegret-kramp-karrenbauer-thomas-kemmerich-juergen-klinsmann-ruecktritt-reinhard-marx
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SPD und CDU - Das große Illusionstheater
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Politiker müssen bis zu einem gewissen Grad auch Schauspieler sein, denn Politik ist immer auch Theater. So auch jetzt nach den Landtagswahlen im Osten. Da wurde von allen Parteien ein beeindruckendes Illusionstheater geboten. Das ist jene besondere Form des Theaters, die beim Zuschauer den Eindruck erwecken soll, er nehme an einem realen Geschehen teil. Vor allem CDU und SPD überboten sich dabei, Illusionen zu wecken, denen jeder reale Bezug fehlte. Aber auch die Grünen, die Linke und die AfD mischten dabei kräftig mit. Hier das Arsenal schwarz-rot-grün-blauer Illusionen. CDU und SPD gerieren sich, als hätten sie glänzende Ergebnisse erzielt. Das tun sie, indem sie ihre schlechten Ergebnisse mit noch schlechteren Umfragewerten vergleichen. Dabei sind beide Regierungsparteien schwer gerupft worden. Die 32,1 Prozent der sächsischen CDU entsprechen einem Verlust von 19 (!) Prozent gegenüber dem Wahlergebnis von 2014, die 26,2 Prozent der SPD in Brandenburg einem Rückgang von 18 (!) Prozent. Den Illusionskünstlern hilft, dass die Veränderungen am Wahlabend im Fernsehen gegenüber dem letzten Wahlergebnis in Prozentpunkten angegeben werden. Aber das täuscht: Der Rückgang von „nur“ 5,7 Prozent bei der SPD Brandenburg ist, bezogen auf die 31,9 Prozent von 2014, kaum weniger als das Minus der CDU Sachsen von 7,3 Punkten gegenüber der Ausgangslage von 39,4 Prozent. Dabei haben sie 19 und 18 Prozent verloren. CDU und SPD feiern sich in Sachsen und Brandenburg für ihren grandiosen Wahlkampf. Richtig ist, dass die Ministerpräsidenten Kretschmer und Woidke gekämpft haben wie wohl noch kein anderer Regierungschef. Aber sie konnten halt nur die Verluste verkleinern. Bezeichnend für das Illusionstheater ist das überschwängliche Lob aus SPD-Kreisen für ihren sächsischen Spitzenkandidaten Dulig. Der stürzte trotz seiner hoch gerühmten Kampagne von 12,4 auf 7,7 Prozent ab – ein Verlust von 38 (!) Prozent. Man stelle sich vor, ein Anbieter von Waschpulver oder Handys behauptete, er habe ein Spitzenprodukt und werbe dafür auf geradezu grandiose Weise. Was hilft ihm das, wenn ihm kaum jemand sein Produkt abkauft? Die Grünen hatten schon von einer eigenen Ministerpräsidentin in Brandenburg und einem deutlich zweistelligen Ergebnis in Sachsen geträumt. Doch es war ein ernüchterndes Erwachen. Grünen-Chef Habeck versuchte dennoch, die enttäuschenden eigenen Gewinne als großartigen Grünen-Beitrag im Kampf gegen die AfD zu verkaufen. Seine krude Begründung: Um die Rechtsaußenpartei vom ersten Platz fernzuhalten, hätten Grünen-Wähler in Brandenburg für die SPD und in Sachsen für die CDU gestimmt. So kann man das eigene enttäuschende Ergebnis schönreden. Aber ernst nehmen muss man dieses Illusionstheater nicht. In den Parteizentralen von CDU und SPD wird so getan, als hätte man in Sachsen beziehungsweise Brandenburg den Status als Volkspartei verteidigt. Dabei hat sich die Kernschmelze der beiden einstigen „Großen“ fortgesetzt. Wenn die CDU in Brandenburg gerade mal auf 15,6 Prozent kommt (minus 23 Prozent) oder die SPD in Sachsen nur noch auf 7,7 Prozent, dann haben sie den Status einer Kleinpartei und sind von einem sehr großen Prozentsatz des Wählervolkes weit entfernt. Die AfD feiert sich mit 27,5 (Sachsen) und 23,5 Prozent (Brandenburg) als neue Volkspartei. Was ebenfalls der Versuch einer doppelten Täuschung ist – einer Selbst-Täuschung wie einer Wähler-Täuschung. Eine Volkspartei will nicht nur der gesamten Bevölkerung ein Angebot machen. Sie hat auch Konzepte für die gesamte Bandbreite politischer Aufgaben. Die AfD bietet dagegen keine konkreten Lösungen an, sondern sammelt die Wutbürger, Protestwähler und Ewig-Gestrigen ein, stachelt sie mit teilweise rechtsradikalen und rassistischen Sprüchen noch an. So agiert eine Anti-Partei, aber keine Volkspartei. Die Fixierung von CDU, SPD und Grünen auf die AfD läßt völlig vergessen, dass es auch noch eine Linkspartei gibt. Die hat zwar ihren Status als Ost- und Kümmerer-Partei ebenso eingebüßt wie als Auffangbecken für Protestwähler. Dementsprechend hat sie deutlich an Stimmen verloren. Aber so wie die AfD die Nazi-Verbrechen verharmlost, so hat es die Linke bis heute nicht geschafft, die von ihr einst beherrschte DDR als das zu bezeichnen, was sie war – ein Unrechtsstaat. Auch das gehört zu den Realitäten von Brandenburg und Sachsen. Dort haben 34 beziehungsweise 38 Prozent für zwei Parteien gestimmt, die vergessen machen wollen, was in zwei Diktaturen auf deutschem Boden an Unrecht geschehen ist. Die Wahlen in Sachsen und Brandenburg haben wieder einmal bewiesen: Die Parteien sind Illusionskünstler. Ihre Hymne stammt aus „Cabaret“: „Theater, Theater, das ist wie ein Rausch, und nur der Augenblick zählt.“ Doch allen Beschönigungen schlechter Ergebnisse zum Trotz: Nach der Wahl fällt kein Vorhang; der nächste Akt dauert fünf Jahre.
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Hugo Müller-Vogg
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SPD und CDU machten nach den Ergebnissen der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg wieder mal Theater. Illusionstheater. Denn was sie an Wahrheitsverzerrung an den Tag legten, war beachtlich. Grund genug, ihre Vorstellung zu entzaubern
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"SPD",
"CDU",
"Linke",
"AfD",
"Sachsen",
"Brandenburg",
"Landtagswahlen"
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innenpolitik
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2019-09-02T14:58:59+0200
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2019-09-02T14:58:59+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/spd-cdu-landtagswahl-sachsen-brandenburg-theater
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Breitscheidplatz-Anschlag - Wollte die Regierung vertuschen?
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Wie der Focus schreibt, haben deutsche Sicherheitsbehörden offenbar Bilel Ben Ammar abschieben lassen, einen engen Vertrauten von Anis Amri, dem Attentäter vom Breitscheidplatz. Als Grund vermutet das Magazin: Die Regierung wollte dessen Verwicklung in den Anschlag vom Dezember 2016 vertuschen. Das gehe aus geheimen Ermittlungsdokumenten hervor, die dem Magazin vorliegen. Demnach habe der nordafrikanische Nachrichtendienst DGST das Bundeskriminalamt (BKA) und den Bundesnachrichtendienst (BND) mehrfach über die Radikalisierung von Anis Amri informiert und vor dessen Anschlagsplänen gewarnt. Eine am Breitscheidplatz montierte Kamera filmte laut Focus, wie Amri nach der Todesfahrt aus dem Lkw ausstieg, um dann zu fliehen. Zu sehen sein soll außerdem eben jener Bilel Ben Ammar, wie er einer Person mit einem Kantholz gegen den Kopf schlug, um die Flucht von Amri zu ermöglichen. Die Person liegt seitdem im Koma. Ammar soll anschließend den Tatort fotografiert haben und die Bilder verschickt haben. Neun Tage nach dem Anschlag soll dann laut Focus auf politischer Ebene die Entscheidung gefallen sein, dass Amris mutmaßlicher Helfer abgeschoben werden solle. Das Magazin zitiert aus einer Email an die Bundespolizei: „Seitens der Sicherheitsbehörden und des Bundesinnenministeriums besteht ein erhebliches Interesse daran, dass die Abschiebung erfolgreich verlaufen soll.“ Ben Ammar wurden nach Tunesien ausgeflogen. Die Grünen und die Linkspartei verlangen nun die Vernehmung von Ben Ammar im Bundestags-Untersuchungsausschuss zu Anis Amri. Dass man Ben Ammar „so Hals über Kopf abschiebt, bevor der schwerste salafistische Anschlag in Deutschland sauber ausermittelt war, ist maximal irritierend“, sagt der Vize-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Konstantin von Notz dem Focus. Medienberichten zufolge hat sich nun auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Angelegenheit eingeschaltet. Er will die Abschiebung des Bekannten von Anis Amri untersuchen lassen. Eine Sprecherin verwies allerdings darauf, dass es um einen Vorgang aus dem Jahr 2017 gehe – also noch vor dem Amtsantritt Seehofers im Frühjahr 2018. „Fest steht, dass die Strafverfolgungsbehörden der Abschiebung damals auch vorab zugestimmt haben." Den ganzen Bericht der Kollegen finden Sie hier.
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Cicero-Redaktion
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Die Regierung hat laut einem Medienbericht einen Vertrauten des Attentäters Anis Amri kurz nach dessen Anschlag abgeschoben, obwohl die Ermittlungen gerade auf Hochtouren liefen. Dieses Vorgehen sei maximal irritierend, sagen Grüne und Linke und fordern Aufklärung
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"Breitscheidplatz",
"Anis Amri",
"Terrorismus",
"Islamistischer Terror",
"Berlin"
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innenpolitik
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2019-02-22T16:34:55+0100
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2019-02-22T16:34:55+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/breitscheidplatz-anschlag-anis-amri-bilel-ben-ammar
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Unternehmer 4.0 - Strahlen überm Sonnenberg
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Diese Lampen! Sie sind das erste, was einem ins Auge springt, wenn man die Chemnitzer Kneipe Lokomov betritt. Die Leuchten mit den großen Kugeln und den markanten Verbindungsrohren sind beeindruckend – und sie bilden einen Kontrast nicht nur zu dem Altbau, in dem sich das Lokomov befindet, sondern zum gesamten Stadtteil Sonnenberg. „Sonnenberg? Was wollen Sie denn da?“, antwortet eine Frau auf die Frage nach dem Weg. „Ich sag mal so: Es gibt schönere Ecken.“ Sonnenberg, einst als Brennpunkt verschrien, mag nach wie vor keinen klingenden Namen haben. Doch in dem Viertel hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Und zu einem guten Teil liegt das eben an Lars Fassmann. Das Lokomov hat noch nicht geöffnet, aber Fassmann ist schon da. Dem 43-Jährigen gehört das Lokal, das gesamte Haus und das Gebäude gegenüber. Darin: Ateliers, Wohnungen, Pizzeria, Club, Bandproberäume, Fotostudio und Werkstatt für Fahrrad-Oldtimer „nach bester Chemnitzer Industrietradition“, wie Fassmann sagt. Und mit der kennt sich der 1978 in Garnsdorf geborene Geschäftsmann bestens aus. Mit Mitte 20 gründete er das IT-Unternehmen Chemmedia AG, bis heute führender Anbieter in Sachen Lernsoftware. Er ist Gründungsmitglied des Landesverbands der Kultur- und Kreativwirtschaft Sachsen, Vizepräsident des Industrieverbands und Gesellschafter eines Unternehmens namens Kabinettstückchen. Kurz: Fassmann ist engagierter Unternehmer im besten Sinne; immer mit einem Gespür für den richtigen Zeitpunkt, um Dinge anzugehen. Und er weiß stets, was zusammenpasst. „Die sind aus Erichs Lampenladen“, sagt er und schaut zur Decke. Die Originallampen aus dem Berliner Palast der Republik hängen über weniger eleganten Sesseln. Auf den Tischen stehen gelbe Tulpen. „Den hat der Chaos-Chemnitz-Hackerspace aufgestellt“, sagt er und zeigt auf einen „Raspi“, einen Mikrocomputer, der einen Röhrenmonitor ansteuert. Über den alten Bildschirm rattern Anzeigen. „Der gesamte Fahrplan“, sagt Fassmann und schmunzelt. Ein paar Jahre saß er für die Liste Piraten/Wählervereinigung Volkssolidarität im Stadtrat. Ob und wann die Verkehrsbetriebe ihre Daten für die Allgemeinheit als Open Data freigeben, sei dort damals lange Thema gewesen. Im Erdgeschoss ist ein Teil der Fassade angesprayt. Im oberen Teil fehlen vereinzelt Fenster. Das Dachgeschoss wird als Lager für Material und Ausstellungsstücke genutzt. Die Miete für die Ateliers beträgt maximal einen Euro Kaltmiete. Fassmann ist eben kein gewöhnlicher Investor. Für ihn zählt, wie er sagt, die „gesellschaftliche Rendite“. Als Gewerbetreibender will er etwas tun für seine Stadt. Davon wiederum profitiert auch er selbst – denn Chemnitz wird so zu einem Ort, wie er ihn sich immer gewünscht hat: offen, lebendig, vielseitig. Fassmann missbilligt die Extreme, er spricht und schreibt an gegen Rassismus, Rechte und Fußball-Hooligans – er kritisiert aber auch ein, wie er sagt, verzerrtes Bild seiner Stadt als Hort von Neonazis. Fassmann nimmt eine verengte Sicht mancher Chemnitzer aufs Korn, Menschen, die zufrieden seien mit Haus, Garten, Auto und für die Themen, die ihm wichtig sind, keine Rolle spielen: sauberes Trinkwasser in Kenia oder die Ausbildung von Bankern, die Mikrokredite vergeben. Auf kompetente Weise, oft gespickt mit Sarkasmus, kann er sich auch zur Wirtschaftspolitik in seiner Stadt äußern. „Der Eindruck, dass wir eine reine Industriestadt sind, hält bis heute an. Dabei haben wir eine ganz gemischte Wirtschaft und viele Kulturschaffende.“ Für die müsse etwas getan und so die Abwanderung gestoppt werden. Den Anstoß für diese Haltung gab für ihn vor Jahren der drohende Abriss von 180 Gründerzeithäusern: Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin fasste er damals einen Plan: „Ich kaufte ein paar Immobilien und gab die Flächen frei für kulturelle Projekte.“ Den Anfang machte eine 1907 erbaute Villa. 2004 erwarb sie der junge Unternehmer und begann mit ihrer Sanierung. Heute hat in dem Haus sein eigenes Unternehmen, die Chemmedia AG, seinen Sitz. Fassmann hatte die Firma gegründet, da war er gerade mit dem Studium fertig. Anders als seine Kommilitonen wollte er Chemnitz damals nicht verlassen. Er erinnert sich noch heute an einen Brief, den er im letzten Semester vom damaligen Oberbürgermeister erhalten hatte: „,Wenn Sie in die Welt hinausgehen, berichten Sie positiv über Chemnitz‘, stand da geschrieben. Und ich dachte: Ich will doch gar nicht in die Welt hinaus. Ich will in Chemnitz bleiben!“ Eine tolle Stadt. Sie müsste sich halt nur ein bisschen verändern. Und dafür, so Fassmann in guter Unternehmertradition, dafür müsse man letztlich selber sorgen.
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Mensch & Maschine“ von Cicero und Monopol
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Christine Zeiner
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Lars Fassmann ist Unternehmer neuen Typs: alternativ, engagiert und heimatverbunden. Besuch bei einem spannenden Exoten
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"Sachsen",
"Unternehmer",
"Heimat",
"Rechtsextremismus",
"Industriekultur"
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kultur
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2020-07-06T15:32:15+0200
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2020-07-06T15:32:15+0200
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https://www.cicero.de//kultur/unternehmer-chemnitz-industriekultur-sachsen-rechtsextremismus-kreativszene
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Beate Zschäpe bricht ihr Schweigen - „Ich fühle mich moralisch schuldig“
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Es ist eine andere Beate Zschäpe, die an diesem Mittwochvormittag den Gerichtssaal A 01 im Münchner Justizzentrum an der Nymphenburger Straße betritt. Am 249. Verhandlungstag des NSU-Prozesses tritt sie mit Schwung an den Tisch der Anklagebank heran, packt lächelnd ihre Sachen aus und zeigt ihr Gesicht unverstellt den Kameras. Kein Abwenden mehr wie in den zweieinhalb Jahren zuvor, kein Verstecken hinter den Rücken ihrer Anwälte. Es soll ein Signal sein: Seht her, ich habe die Last des Schweigens hinter mir gelassen und werde nun, nach vier Jahren, endlich sprechen. 90 Minuten später hat Verteidiger Matthias Grasel die letzte der 53 Seiten verlesen, auf denen sich seine Mandantin zu den Anklagevorwürfen der Bundesanwaltschaft äußert. Zschäpes Gesicht ist wieder ernst und verschlossen. Sie scheint zu ahnen, dass das, was ihr Anwalt gerade vorgelesen hat, nicht reichen wird, um sie vor einer lebenslangen Haftstrafe mit Sicherungsverwahrung zu bewahren. Vielleicht spürt sie aber auch die Enttäuschung und Wut unter den Hinterbliebenen der NSU-Opfer, die sich heute extra wegen ihrer Aussage ins Gericht begeben haben. Sie vor allem hatten sich endlich eine Erklärung dafür erhofft, warum ausgerechnet ihre Angehörigen sterben mussten. Beate Zschäpe aber hat ihnen diese Erklärung nicht geben wollen. Sie hat sich stattdessen selbst als Opfer einer emotionalen Abhängigkeit stilisiert, das sich gezwungen fühlte, über die von ihren Lebenspartnern begangenen Morde zu schweigen. Um 9.50 Uhr beginnt Verteidiger Grasel damit, die Aussage seiner Mandantin zu verlesen. Zunächst geht es um ihre Kindheit und Jugend in Jena. Zschäpe erzählt von ihrer Mutter, die kurz nach der Wende arbeitslos und alkoholkrank wird. Es kommt zu Streitigkeiten, das Mädchen, gerade 16 Jahre alt, klaut, weil die Mutter ihr kein Geld gibt. Sie rutscht in die rechte Szene ab, verliebt sich in Uwe Mundlos. An ihrem 19. Geburtstag lernt sie dann Uwe Böhnhardt kennen, sie werden ein Paar, als Mundlos kurz darauf zur Armee muss. In der rechten Szene in Thüringen sei Tino Brandt der Anführer und Organisator gewesen, liest Grasel aus der Erklärung seiner Mandantin vor. Mit seinem – teilweise vom Verfassungsschutz stammenden – Geld habe er Aktionen und Treffen auf die Beine gestellt. Sie, Zschäpe, habe vor allem aus Liebe zu Böhnhardt mitgemacht. Sie habe Drohbriefe an Zeitungen geschickt, eine Garage angemietet, in der angeblich nur Propagandamaterial gelagert werden sollte. Man habe einen „politischen Gegenpol“ zu den Linken setzen wollen, stellt sie es dar. Bei einer Durchsuchung der Garage in Jena seien dann aber Sprengstoff und Rohrbomben gefunden worden, wovon sie keine Ahnung gehabt haben will. Die Drei tauchen ab, weil sie eine mehrjährige Haftstrafe fürchten. „Ich dachte nicht, dass das viele Jahre dauern würde“, heißt es in Zschäpes Erklärung. Nach einem Jahr im Untergrund kommt es zum ersten Raubüberfall. Zschäpe weiß davon, beteiligt sich aber nicht. Aber ihr ist klar, dass nun der Weg zurück in die „Bürgerlichkeit“ versperrt ist. „Mundlos und Böhnhardt hatten damit abgeschlossen, in ein bürgerliches Leben zurückzukehren", liest Grasel aus Zschäpes Erklärung vor. Wir haben es verkackt, hätten die beiden gesagt. Nach dem dritten Überfall wollen die Uwes nach Südafrika fliehen, aber dazu kommt es nicht. Stattdessen erschießen Mundlos und Böhnhardt laut Zschäpe im September 2000 den türkischen Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg. Sie will erst drei Monate später davon erfahren haben. „Ich bin regelrecht ausgeflippt“, heißt es in ihrer Erklärung. Eine „unfassbare Tat“ sei das gewesen, bis heute kenne sie die wahren Motive der beiden nicht. Von politischen Aktionen sei jedenfalls nicht die Rede gewesen. Die Stimmung unter den Dreien sei danach eisig gewesen. Die beiden Uwes hätten ihr nicht vollständig vertraut, aber auch damit gedroht, sich umzubringen, sollte sie zur Polizei gehen. Sie selbst habe zudem Angst gehabt, für den Mord mit zur Verantwortung gezogen zu werden. Auch vom Anschlag in der Kölner Probsteigasse habe sie erst später erfahren. Böhnhardt habe damals laut Zschäpe einen mit einer Bombe präparierten Präsentkorb in den Laden gebracht und ihn dort abgestellt, während Mundlos Schmiere stand. Wochen später wurde bei der Detonation des Sprengsatzes die 19-jährige Tochter der iranischen Ladenbesitzer schwer verletzt. Das Motiv für den Anschlag? Die Uwes sagten, sie hätten „Bock darauf gehabt“, gibt Zschäpe an. Sie selbst nennt die Tat „eine brutale und willkürliche Aktion“. In den folgenden Jahren, so stellt es Zschäpe in ihrer Erklärung dar, will sie immer erst nachträglich von den Freunden über deren Morde informiert worden sein. Auch von dem Mordanschlag auf die Polizisten in Heilbronn hätten ihr die Jungs erzählt. Dabei sei es den beiden angeblich nur um die Polizeiwaffen gegangen, weil ihre Pistolen öfter Ladehemmung hatten. Von den letzten vier Taten der Ceska-Mordserie will sie auf einen Schlag erfahren haben. „Ich war entsetzt, dass sie erneut gemordet haben“, liest Grasel vor. An dieser Stelle gibt es das erste Mal eine Reaktion im Gerichtssaal. Einige Anwälte und Zuhörer auf der Pressetribüne lachen bitter auf, andere schütteln empört mit dem Kopf. Grasel aber lässt sich nicht beirren und liest weiter Zschäpes Darstellung vor: „Ich fühlte mich wie betäubt. Mir war bewusst, dass ich mit zwei Menschen zusammenlebe, denen ein Menschenleben nichts wert ist.“ Sie habe stundenlang auf die Uwes eingeredet, aber nie nach Details gefragt. Ihr war klar, dass sie mit zwei Menschen zusammenlebe, die „zuvorkommend, tierlieb, hilfsbereit, liebevoll“ gewesen seien und zugleich Menschen getötet hätten. Sie habe sich aber nicht von ihnen lösen können, weil die beiden „meine Familie“ gewesen seien. Sie sei emotional abhängig gewesen, deshalb „habe ich mich meinem Schicksal ergeben. Denn die beiden brauchten mich nicht, ich aber brauchte sie.“ Außerdem habe sie Angst vor einer Haftstrafe gehabt. Ihr hätte doch niemand geglaubt, dass sie mit den Morden nichts zu tun habe. Sie habe in jener Zeit viel Alkohol getrunken, „drei bis vier Flaschen Sekt am Tag“, und die Katzen vernachlässigt. Bei den Gesprächen mit den Freunden hätten die ihr das Versprechen abgenommen, im Fall ihrer Festnahme die Bekenner-DVDs zu verschicken und die Beweise in der Wohnung zu vernichten. Zschäpe will allerdings nicht gewusst haben, was sich auf diesen DVDs befand. Sie sei davon ausgegangen, dass sich die beiden darauf zu den Raubüberfällen bekennen würden. Auch habe sie die Musik aus den „Paulchen-Panther“-Filmen aus dem Nachbarzimmer gehört, wenn Mundlos an dem Film arbeitete. Die DVD habe sie das erste Mal im Gerichtssaal gesehen, lässt sie ihren Anwalt vorlesen. Die Existenz einer Organisation NSU bestreitet Zschäpe in ihrer Erklärung. Den Begriff habe sich zwar Mundlos ausgedacht, es habe aber keine rechtsextreme Gruppe gegeben, der sie angehört habe, trägt Grasel vor. Sie habe auch nicht, wie es die Bundesanwaltschaft behaupte, an einem „Vernichtungskampf gegen den Staat“ teilgenommen. Zwar habe sie mehrmals für eine „Abtarnung“ der Uwes vor den Nachbarn gesorgt, aber nur, weil sie Angst vor einem Auffliegen hatte und nicht, weil sie sich mit den Morden identifiziert hätte. Wegen ihrer Gefühle für Böhnhardt sei sie nicht ausgestiegen. Über den 4. November 2011, den Tag der Selbstenttarnung des NSU, berichtet Zschäpe nur in groben Zügen. Nach ihrer Darstellung will sie im Radio von einem brennenden Wohnmobil und zwei Toten erfahren haben. Ihr sei augenblicklich klar gewesen, dass es sich dabei um ihre beiden Freunde handele. Deshalb habe sie Benzin in der Wohnung verschüttet und Feuer gelegt. Zuvor will sie im Hausflur gehorcht haben, ob die Bauarbeiter noch im Dachgeschoss gewesen sind. Auch habe sie bei der betagten Nachbarin geklingelt, aber aus deren Wohnung auch nichts gehört, weshalb sie davon ausgegangen sei, es ist niemand zu Hause. Auf ihre anschließende Flucht, bei der ihr zumindest anfänglich der neben ihr auf der Anklagebank sitzende André E. geholfen hat, geht sie mit keinem Wort ein. Auf der 53. und letzten Seite ihrer Erklärung steht eine kurze Entschuldigung Zschäpes bei den Hinterbliebenen der Opfer. „Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen Opfern und allen Angehörigen der Opfer der von Mundlos und Böhnhardt begangenen Straftaten. Ich fühle mich moralisch schuldig, dass ich zehn Morde und zwei Bombenanschläge nicht verhindern konnte“, liest Anwalt Grasel vor. Es ist ein kühl kalkuliertes und genau abgegrenztes Geständnis, das Zschäpe vor Gericht vortragen ließ. Überraschend ist, wie deutlich und emotional beherrscht sie sich von Mundlos und Böhnhardt abwendet und ihnen die alleinige Schuld an allen NSU-Taten zuschreibt. Die Bundesanwaltschaft darf sich dadurch bestätigt fühlen: Obgleich ihr bislang überzeugende Beweise für die alleinige Täterschaft der beiden Uwes fehlten und im Gegenteil eine ganze Reihe von Indizien auf einen größeren Täterkreis hindeuteten, hatten die Ankläger darauf beharrt, dass das NSU-Kerntrio stets allein gehandelt habe. Abgesehen von ihrer eigenen Rolle im NSU hat Zschäpe damit den Bundesanwälten sicher nicht ohne Eigeninteresse zum Munde geredet. Es bleibt abzuwarten, ob die sich bei ihrer Strafmaßforderung für die Angeklagte im späteren Plädoyer erkenntlich zeigen werden. Bis dahin aber liegt noch ein hartes Stück Arbeit vor Zschäpe, die in der nun zu erwartenden Befragung durch das Gericht und die Verteidiger der Mitangeklagten die Glaubwürdigkeit ihrer Einlassung erst noch unter Beweis stellen muss. Anwälte und Nebenkläger sprachen bereits kurz nach der Verhandlung von einer „sinnlosen Erklärung“ der Angeklagten. Der Nebenkläger-Vertreter Mehmet Daimagüler etwa nannte die Aussage ein „Lügenkonstrukt“. Zschäpe könne nicht nach 249 Verhandlungstagen kommen „und dann erwarten, dass wir dumm genug sind, das zu glauben“. Auch der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer sagte, die Erklärung halte einer gründlichen Überprüfung nicht stand. „Zschäpe als Ahnungslose, den beiden Mittätern unterlegene Frau, die von den Taten jeweils vorher nichts wusste - das glaubt ihr niemand, der die Verhandlung von Anfang an besucht hat. Die Aussage ist konstruiert, ohne Belege und in sich widersprüchlich“, so Scharmer. So werde sich die Angeklagte nicht vor einer Verurteilung retten können. Gamze Kubasik, die Tochter des 2006 ermordeten Mehmet Kubasik, sagte, Zschäpe habe einfach versucht, ihre Rolle herunter zu spielen. „Für mich ist das reine Taktik und wirkt total konstruiert. Die angebliche Entschuldigung für die Taten von Mundlos und Böhnhardt nehme ich nicht an“, sagte sie. Tatsächlich hatte Zschäpe in ihrer Einlassung ganz entscheidende Fragen völlig ausgespart. So etwa die nach der Unterstützung des Trios durch die rechte Szene und danach, wo sich die beiden Uwes während der oft wochenlangen Abwesenheit aus der gemeinsamen Wohnung aufgehalten haben. Diese Zusammenhänge aber sind von entscheidender Bedeutung für eine abschließende Bewertung darüber, ob das NSU-Kerntrio wirklich keine Mittäter und Helfer bei seinen Mordtaten hatte. Auch Zschäpes Darstellung, das Motiv für die Mordanschläge sei eine Art Frustration gewesen und habe keinen politischen Hintergrund gehabt, ist schlicht unglaubhaft. Über ihre eigene politische Einstellung hat sie ebenfalls bislang nichts ausgesagt. Soll sie wirklich mit ihren beiden Freunden nie darüber diskutiert haben, was sie angetrieben hat? Es bleibt abzuwarten, ob Beate Zschäpe an den kommenden Verhandlungstagen wirklich die Kraft und den Willen hat, reinen Tisch zu machen. Bislang ist sie diesen Nachweis schuldig geblieben.
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Andreas Förster
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Es ist ein genau kalkuliertes Geständnis, das Beate Zschäpe vor Gericht vortragen lässt. Zwar bricht sie mit ihrer Aussage ein vier Jahre währendes Schweigen, die entscheidenden Fragen spart Zschäpe jedoch aus – ihre Rolle als Ahnungslose wirkt unglaubhaft
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innenpolitik
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2015-12-09T16:21:55+0100
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2015-12-09T16:21:55+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nsu-prozess-ich-fuehle-mich-moralisch-schuldig/60226
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Nach nächtlicher Sitzung - Ampel-Koalition einigt sich bei Kindergrundsicherung
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Kurz vor ihrer Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg hat sich die Ampel-Regierung beim Streitthema Kindergrundsicherung geeinigt. Details sollen dem Vernehmen nach an diesem Montag vorgestellt werden. Aus Grünen-Kreisen hieß es: „Heute Nacht ist die Einigung bei der Kindergrundsicherung erfolgt. Bundesministerin Lisa Paus kann das als Erfolg für sich verbuchen, dass es ihr gelungen ist, die Weichen für das Projekt zu stellen.“ Der Einigung gingen monatelange und verbissene Grundsatzdiskussionen vor allem zwischen den Grünen und der FDP in der Ampel von Kanzler Olaf Scholz (SPD) voraus. Am Sonntagabend waren Scholz, Paus und Finanzminister Christian Lindner (FDP) zu Gesprächen im Kanzleramt zusammengekommen. Gegen Mitternacht wurde bekannt, dass man sich bei der Kindergrundsicherung zusammengerauft hat. Lindner hatte zuvor im ZDF-„Sommerinterview“ gesagt, dass er mit einer schnellen Einigung auf Eckpunkte rechne. Danach würden Verbände und Länder beteiligt, und erst dann werde es einen fertigen Gesetzentwurf geben, der an den Bundestag gehe. In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Bisherige Leistungen wie das Kindergeld, Leistungen aus dem Bürgergeld für Kinder oder der Kinderzuschlag sollen darin gebündelt werden. Durch mehr Übersichtlichkeit und mithilfe einer zentralen Plattform sollen auch viele Familien erreicht werden, die bisher wegen Unkenntnis oder bürokratischer Hürden ihnen zustehende Gelder nicht abrufen. „Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen und setzen dabei insbesondere auch auf Digitalisierung“, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Zwischen Grünen und FDP hatte sich allerdings ein Dauerstreit darüber entwickelt, wie viel Geld der Staat nun für die Kindergrundsicherung ausgeben soll und ob Leistungen erhöht werden sollen oder nicht. Die zuständige Familienministerin Paus hatte zuerst 12 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt, sie sprach später von bis zu 7 Milliarden Euro. Finanzminister Lindner nannte als „Merkposten“ eine Summe von zunächst nur 2 Milliarden Euro. Auf welche Summe sich die Koalition in den Gesprächen nun geeinigt hat, war zunächst unklar. Auch vor der Sommerpause hatten sich die Koalitionäre immer wieder gestritten, besonders heftig etwa über das sogenannte Heizungsgesetz. An diesem Dienstag kommen Scholz und die Minister auf Schloss Meseberg bei Berlin zu ihrer fünften Kabinettsklausur zusammen. Der Kanzler bemühte sich am Wochenende um mehr Geschlossenheit in der Ampel-Regierung. Auf die Frage, ob gegenseitige Gesetzesblockaden weitergehen würden, sagte er der Mediengruppe Bayern: „Davor kann ich nur warnen.“ Zudem sagte er: „Wir sollten uns mehr darauf konzentrieren, die Erfolge der Regierungstätigkeit herauszustellen und die nötigen Diskussionen über unsere Vorhaben intern führen.“ Mehr zum Thema: Zunächst tagt an diesem Montag und Dienstag in Wiesbaden die SPD-Fraktion – die Fraktion der Grünen kommt parallel in Berlin zusammen. Bei der SPD-Fraktion geht es vor allem um einen staatlich subventionierten Industriestrompreis. Die Abgeordneten der Fraktion, zu denen auch Scholz gehört, wollen dazu ein konkretes Konzept beschließen. Die Fraktionsspitze schlägt einen auf mindestens fünf Jahre befristeten Preis von fünf Cent pro Kilowattstunde für besonders stark von hohen Energiekosten betroffene Unternehmen vor. Scholz hat sich bisher skeptisch zu der Staatshilfe geäußert. Bei der Klausur muss er nun Farbe bekennen. Das Thema birgt neues Konfliktpotenzial für die Ampel. Die FDP lehnt die Subvention ab, die Grünen sind dafür. Eine weitere Beschlussvorlage für die SPD-Klausur befasst sich mit dem Thema Wohnen. Darin ist die Rede von einem „bundesweiten Mietenstopp“. Konkret wird gefordert, dass Mieten in angespannten Wohngegenden in drei Jahren um maximal sechs Prozent und zudem nicht über die ortsübliche Vergleichsmiete steigen dürfen. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge fordert angesichts steigender Mieten Tempo bei Reformen, die im Koalitionsvertrag mit SPD und FDP angekündigt sind. „Die Verlängerung der Mietpreisbremse, die deutliche Absenkung der Kappungsgrenze und zusätzlich die klare Regulierung von Indexmieten sind dringend notwendig“, sagte Dröge den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Mieten stiegen enorm und brächten Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen zunehmend an die Belastungsgrenze. „Trotzdem warten wir nun schon seit 1,5 Jahren auf die Umsetzung des Koalitionsvertrags in Sachen bezahlbare Mieten.“ Im Koalitionsvertrag hatten die Ampel-Parteien vereinbart, die Mietpreisbremse bis 2029 zu verlängern und die Kappungsgrenze für Mieterhöhungen auf elf Prozent in drei Jahren abzusenken. Aktuell gilt eine Grenze für Mieterhöhungen von 20 Prozent in drei Jahren. In Gegenden mit angespanntem Wohnungsmarkt liegt sie bei 15 Prozent. Pläne zu einer Begrenzung von Indexmieten werden im Koalitionsvertrag nicht genannt. Indexmietverträge ermöglichen es Vermietern, die Mieten jährlich zu erhöhen, wenn die Verbraucherpreise steigen. Der für das Thema zuständige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich bisher gegen eine Beschränkung bei Indexmieten ausgesprochen. Zustimmung findet das Thema aber auch bei der SPD. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Eine Runde im Kanzleramt bringt die Einigung beim Streitthema Kindergrundsicherung. Darauf dürfte vor allem auch Kanzler Scholz gedrungen haben, der mehr Geschlossenheit in der Koalition will.
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innenpolitik
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2023-08-28T08:28:02+0200
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2023-08-28T08:28:02+0200
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Kristina Schröder zum Betreuungsgeld – „Ich will den Eltern Wahlfreiheit lassen“
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Dieses Interview ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des CICERO mit dem Schwerpunkt Familie. Jetzt am Kiosk - oder hier zum Bestellen im Shop. Vor fünf Jahren proklamierte Ihre Amtsvorgängerin Ursula von der Leyen einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Ab 2013 sollten Eltern, sofern sie das wollen, für jedes Kind ab dem ersten Jahr einen Kitaplatz bekommen. Dieses Ziel erweist sich nun als illusorisch.
Bund, Länder und Kommunen haben sich 2007 beim „Krippengipfel“ darauf verständigt, dass es jeweils vier Milliarden, also insgesamt zwölf Milliarden Euro dafür gibt. Mein Haus hat den Anteil des Bundes in einem Sondervermögen geparkt, kein Cent davon wurde im Rahmen der Sparbemühungen angetastet, 900 Millionen sind noch da und warten auf ihren Abruf. Es hat sich leider herausgestellt, dass die Länder nicht zu ihren finanziellen Zusagen stehen, weswegen die Kommunen teilweise allein gelassen werden. Und was gedenken Sie zu tun? Muss der Rechtsanspruch jetzt aus dem Gesetz getilgt werden?
Nein. Wir werden nur dann ausreichend Tempo beim Ausbau der Kinderbetreuung erleben, wenn der Druck im Kessel bleibt. Deshalb wird am Rechtsanspruch nicht gerüttelt. Wir haben die absurde Situation, dass aus allen Ecken nach mehr Geld für Kitaplätze gerufen wird und gleichzeitig die Gelder, die da sind, nicht abgerufen werden. Nicht der Bund oder die schwarz-gelbe Koalition haben hier geschlampt, sondern eindeutig die Länder, wobei Nordrhein-Westfalen das Schlusslicht bildet. Nach langem Hin und Her hat sich die schwarz-gelbe Koalition vor allem auf Druck der CSU nun doch auf die Einführung eines „Betreuungsgeldes“ für diejenigen Eltern geeinigt, die ihre Kinder nicht in eine Kita schicken, sondern zu Hause betreuen wollen. Sie wollten als Familienministerin eigentlich etwas anderes und scheinen über dieses Weihnachtsgeschenk nicht sonderlich glücklich zu sein. Warum?
Wie kommen Sie darauf? Ich finde es richtig, Eltern eine finanzielle Unterstützung zu geben, die sich zu Hause um ihre kleinen Kinder kümmern und dafür ihre eigene Berufstätigkeit oder Karriere zurückstellen oder die Betreuung selbst organisieren. Kritiker sprechen von einer „Herdprämie“.
Es gibt auch Leute auf der Linken, die das Betreuungsgeld als „Bildungsfernhalteprämie“ diffamieren und damit Eltern, die ihre Kinder selbst zu Hause betreuen wollen, praktisch unterstellen, sie würden ihren Kindern etwas Schlechtes antun. Ich finde, das ist eine Unverschämtheit gegenüber solchen Familien. Aber es stimmt doch, dass Sie bisher gegen das Betreuungsgeld waren.
Das ist so nicht richtig. Ich war gegen eine falsche Ausgestaltung. Mir war wichtig, dass wir berufstätige Eltern nicht gegen Eltern ausspielen, die zu Hause bleiben. Damit habe ich mich durchgesetzt. Ich will den Eltern Wahlfreiheit lassen. Sie sollen selbst entscheiden können, ob sie ihr Kind in eine Kita geben oder nicht. Ab der Einführung des Betreuungsgeldes können sie zwischen verschiedenen Formen der Unterstützung wählen – einer direkten Leistung an die Familie oder einer Sachleistung in Form eines staatlich geförderten Betreuungsplatzes. Damit wird keiner in eine bestimmte Richtung gelockt oder gedrängt. Haben Sie eine Tagesmutter zu Hause, die auf Ihr Kind aufpasst, oder wie machen Sie das?
Nein, wir machen das mit Unterstützung unserer Familien alleine. Also entweder Ihre Eltern oder Ihre Schwiegereltern sind da.
Wir bekommen das gemeinsam hin. Sie reden ungern über Ihre eigene Situation als berufstätige Mutter. Sie wollten Ihr Familienleben nicht ins Schaufenster stellen, sagen Sie immer. Liegt es daran, dass Sie fürchten, Sie könnten als eine besonders privilegierte Mutter von denen beneidet oder verspottet werden, denen es finanziell nicht so gut geht wie Ihnen?
Die familienpolitische Debatte in Deutschland wird teilweise sehr aggressiv geführt. Deshalb geht es mir erstens ganz grundsätzlich um den Schutz unserer Familie. Mein Mann ist Politiker wie ich, und als wir uns vor acht Jahren kennenlernten, haben wir uns gleich vorgenommen, dass wir Politik und Privates, soweit es irgendwie geht, trennen wollen, weil uns das Private eben sehr wichtig ist. Und man schützt es dadurch am besten, dass man es von der Öffentlichkeit fernhält. Lesen Sie auf der nächsten Seite unter anderem, warum Schröders Familienmodell kein Vorbild sein soll. Aber Sie könnten doch gerade berufstätigen Müttern ein Vorbild sein, wie man beides schafft: Beruf und Familie.
Für meine Zurückhaltung gibt es zweitens auch einen familienpolitischen Grund: Gerade in meiner Partei, der CDU, hat sich doch in den vergangenen Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir aufhören müssen, den Familien ein bestimmtes Rollenmodell vorzuschreiben. Früher hieß es immer: Die Frau soll zu Hause bleiben, zumindest in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder. Und jetzt haben wir uns dahingehend gewandelt, dass wir sagen, das müssen die Familien selbst entscheiden. Auch deswegen will ich nichts vorleben, denn dann würde es wieder heißen: So also ist das bei Familienministers! Das heißt, meine Lebensweise würde wieder als Leitbild interpretiert werden. Und ich finde jedes staatliche Leitbild über die Rollenverteilung in einer Familie anmaßend. Ich glaube, da unterscheide ich mich wirklich auch von anderen. Vor allem von Ihrer Vorgängerin, Ursula von der Leyen, die ja als berufstätige Mutter von sieben Kindern von vornherein als besonders kompetent galt.
Ich sehe es eben nicht als politische Leistung an, ein Kind zu bekommen. Wissen Sie, von Wahlfreiheit reden ja viele, aber ich nehme Wahlfreiheit wirklich ernst. Vielleicht war es sogar ein Vorteil, dass ich selbst noch keine Familie hatte, als ich Ministerin wurde. Denn ich beanspruche Wahlfreiheit ja auch privat für mich. Lassen wir also dahingestellt, ob man das Private und das Politische wirklich trennen kann...
Sie fragen den Gesundheitsminister ja auch nicht, wann er seine letzte Vorsorgeuntersuchung hatte. Einverstanden. Reden wir also übers Politische. Als Sie vor einem Jahr Ministerin wurden, hatten wir den Eindruck, Sie glaubten noch an die Wirkungsmacht von Gesetzen.
Ach ja, den Eindruck hatten Sie? Durchaus. Damals sagten Sie in einem Streitgespräch mit Martin Kannegießer, dem Präsidenten der Metall-Arbeitgeber: „Gesetze bewirken Verhaltensänderungen.“
Ja, es ging um das Pflegezeitgesetz für Familienangehörige. Genau. Und Kannegießer plädierte entschieden gegen einen im Gesetz festgeschriebenen Rechtsanspruch, Sie aber waren dafür. Und ein Jahr später sind Sie das nicht mehr. Sie sind im Zweifel – Beispiel Frauenquote, Beispiel Pflegezeitgesetz – eher für freiwillige als gesetzliche Regelungen. Was hat denn nun diesen Sinneswandel bewirkt?
Das stimmt ja nicht. Das Familienpflegezeitgesetz haben wir kürzlich im Deutschen Bundestag verabschiedet. Aber ohne jeden Rechtsanspruch.
Ja, so wie das Altersteilzeitgesetz, das auch keinen Rechtsanspruch hatte – das trotzdem oder vielleicht sogar deswegen ein Erfolg wurde. Gut, aber Sie wollten ursprünglich einen Rechtsanspruch reinschreiben, und Kannegießer war dagegen. Und bei der Frauenquote ist es ähnlich: Auch da wollen Sie lieber eine freiwillige als eine gesetzliche Verpflichtung.
Nein, das ist so nicht richtig: Ich will ein Gesetz, das eine Pflicht zur Selbstverpflichtung vorschreibt, das heißt, ich will, dass jedes Unternehmen gesetzlich verpflichtet ist, sich selbst eine Quote zu geben, diese Quote dann öffentlich zu machen und anschließend auch einzuhalten. Wieso nennen Sie das eigentlich „Flexiquote“? In dem Moment, wo sie formuliert und ausgesprochen wird, ist die Quote doch nicht mehr flexibel, sondern für das Unternehmen verbindlich.
Da haben Sie recht. Die Unternehmen sind frei, wie hoch sie die Quote setzen, aber hinterher müssen sie ihre Quote auch einhalten, die ist dann in der Tat nicht mehr flexibel, sondern fixiert. Aber genau das ist der von mir gewünschte Mix aus Freiheit und Verantwortung. Außerdem müssen sich die Unternehmen auch der Kritik stellen, wenn sie sich eben nur eine 10-Prozent-Quote geben. Und schließlich gibt es hinterher sehr wohl gesetzlich verankerte Sanktionen, wenn die Ankündigungen nicht umgesetzt und die Quoten verfehlt werden – bis hin zu Geldstrafen oder Unwirksamkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen. Sie sind also frei genug, um verantwortlich zu handeln. Beliebig werden sie aber gerade nicht handeln können. Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Schröder zur Frauenquote und ihrer Freiwilligkeit sagt. Warum haben Sie darauf verzichtet, die 30 größten deutschen Dax-Unternehmen darauf zu verpflichten, eine Frauenquote für ihre Vorstände und Aufsichtsräte festzulegen?
Darauf habe ich nicht verzichtet, das ist doch gerade Sinn der Flexiquote. Vielleicht noch einmal zur Klarstellung: Was die Dax-30-Unternehmen jetzt gemacht haben, war wirklich rein freiwillig. Die haben nämlich gesagt: Das, was die Frau Schröder will, das setzen wir schon mal grob um – nicht ausdrücklich für Vorstände und Aufsichtsräte, sondern generell für alle Führungsebenen zusammen. Das finde ich gut und anerkennenswert, aber das ändert nichts daran, dass ich ein Gesetz will und dieses Gesetz explizit für die Vorstände und Aufsichtsräte gilt. Das verstehen wir nicht: Wenn Sie eine Verpflichtung explizit auch für Dax-Aufsichtsräte und Dax-Vorstände wollen, warum setzen Sie es dann nicht durch?
Das eine schließt das andere nicht aus. Für viele Unternehmen ist es sogar anspruchsvoller, eine größere Zahl von Frauen in führenden Positionen auf allen Ebenen hinzubekommen als einen bestimmten Prozentsatz in Aufsichtsräten und Vorständen. In den Vorständen sitzen sechs, acht Leute, da können sie unter Umständen dadurch, dass sie eine einzige Frau holen, den Frauenanteil um 15 Prozent erhöhen. Wenn sie aber 300 Führungspositionen haben und hier den Anteil der Frauen um 15 Prozent erhöhen, müssen sie wesentlich mehr, nämlich bereits 45 Frauen nach oben befördern. Ich glaube, dass das der nachhaltigere Weg ist. Aber eine feste Frauenquote fordern fast alle Frauen in Ihrer Partei, vorneweg auch Ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen. Und die Frauen werfen Ihnen vor, Sie hätten die Seite gewechselt.
Ich habe niemals eine starre Quote gefordert. Ich habe mich gefragt, wie kriege ich es hin, ein Instrument zu finden, das zum einen über das rein Freiwillige hinausgeht – denn die reine Absichtserklärung ist ja nun wirklich krachend gescheitert –, das zum anderen aber auch nicht blind ist für die Unterschiede zwischen den Branchen. Und da behaupte ich, dass mein Weg der psychologisch viel geschicktere ist. Muss Politik immer aus einfachen Formeln bestehen? Frau von der Leyen sieht das offensichtlich anders und hat das, was Sie als Ihren Erfolg verkünden wollten, öffentlich als unzureichend kritisiert. Wie fanden Sie das?
Jeder pflegt eben seinen eigenen Stil, auch in einer Regierung. Aber ich habe erstens die Federführung bei dieser Gesetzgebung, und zweitens möchte ich nicht dazu beitragen, dass wieder über eine Uneinigkeit in der Bundesregierung geschrieben wird. Deshalb liefere ich dazu keinen Stoff. Und drittens finde ich: Nachdem ich meinen Vorschlag gemacht habe, schauen wir doch mal, was am Ende rauskommt. Und wissen Sie – viertens – die Kanzlerin auf Ihrer Seite?
Die Bundeskanzlerin hat vor kurzem noch auf dem Bundesdelegiertentag der Frauen-Union deutlich gemacht, dass sie meinen Weg, flexible, aber für die Unternehmen dann verbindliche Lösungen anzustreben, für den richtigen hält. Sie weiß ja als überzeugte Marktwirtschaftlerin, dass mein Vorschlag auch eine wettbewerbsfördernde Komponente hat: Kein Unternehmen kann es sich leisten, mit niedrigen Frauenquoten gegenüber dem Konkurrenten aus der eigenen Branche abzufallen. Wie geht das denn nun weiter? Sie fordern die Unternehmen auf, Ihnen Quoten zu nennen, und dann gibt es irgendwann ein Quotenregister, und jeder kann sehen, wer sich an seine Ankündigungen gehalten hat und wer nicht?
Also erst einmal werden wir hoffentlich bald auf der Basis meines Vorschlags das Gesetz formulieren und abstimmen, wobei es ja kein Geheimnis ist, dass die FDP gegenüber gesetzlichen Vorschriften generell kritisch oder zurückhaltend ist. Dann werden wir in dem Gesetz einen Stichtag benennen, bis zu dem die Quotenvorgaben veröffentlicht werden müssen, zum Beispiel zum Tag X im Jahr 2013. Und dann wird man drei oder fünf Jahre später sehen, wer sie eingehalten hat. Das klingt aber sehr nach Sankt Nimmerleinstag.
Nein, das ist realistisch. Wir können da keine Regelungen machen, ohne den Turnus von Aufsichtsrats- und Vorstandsbesetzungen zu beachten. Ich glaube, schon an dem Tag, an dem die Quoten veröffentlicht werden, werden wir eine gleichstellungspolitische Debatte in Deutschland erleben, wie wir sie bisher noch nie hatten. Denn dann wird sich zeigen, welches die 100 Unternehmen in Deutschland sind, die da Ambitionen haben, und welche es sind, die keine Ambitionen haben. Und da werden die großen Unternehmen schon darauf achten, dass sie gut dastehen. Dies alles wird den Frauen mehr bringen als alle bisherigen theoretischen Debatten und Diskussionen über Quoten und Gleichstellung. Da bin ich mir ganz sicher. Das Gespräch führten Marie Amrhein und Hartmut Palmer
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Kristina Schröder im Gespräch mit CICERO. Die Bundesfamilienministerin hält am einklagbaren Rechtsanspruch auf Kitaplätze fest und will mit ihrer „Flexiquote“ den Frauen mehr Einfluss verschaffen
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innenpolitik
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2011-11-24T10:49:43+0100
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2011-11-24T10:49:43+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ich-will-den-eltern-wahlfreiheit-lassen/46605
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Jahrestag des 7. Oktober - Israels aufgezwungener Sieben-Fronten-Krieg
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Am 7. Oktober jährt sich erstmalig der „schwarze Samstag“, der düsterste Tag in der jüngeren Geschichte des Staates Israel. Palästinensische Hamas-Terroristen griffen Israel an diesem Tag, einem Schabbat und hohen jüdischen Feiertag, völlig unerwartet und brutal an. Sie töteten feiernde junge Festivalbesucher im Süden Israels, überfielen mehrere Kibbuze an der Grenze zum Gazastreifen, vergewaltigten, folterten und entführten unschuldige Zivilisten. Mehr als 1200 Menschen wurden an diesem Tag brutal ermordet und mehr als 250 Menschen in die Tunnel unter dem Gazastreifen verschleppt. Von einem Moment auf den anderen hat sich das Sicherheitsgefühl in Israel und vermutlich die gesamte Sicherheitsarchitektur der Levante fundamental verändert. Israel befindet sich seither in einem anhaltenden Trauma. Der 7. Oktober 2023 stellt eine Zäsur dar, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Israelis eingebrannt hat. Niemals seit der Schoa, den dunkelsten Tagen der Menschheitsgeschichte, wurden so viele Juden ermordet wie an diesem 7. Oktober. All dies geschah zudem innerhalb der Grenzen des Staates Israel, dem Land also, das die Sicherheit für das jüdische Volk als Gründungsversprechen und Wesensmerkmal verkörpert(e). Während die innenpolitische Aufarbeitung des Komplettversagens der israelischen Sicherheitskräfte und der Netanjahu-Regierung an diesem Tag nach Kriegsende gewiss erfolgen wird, müssen die regionalen Entwicklungen und die israelische Kriegsführung in diesem Kontext verstanden werden. Israel geht es nun vor allem um die Wiederherstellung seiner regionalen Abschreckungsmechanismen. Jedem Staat und jedem Akteur, der Israel angreift, müsse nach israelischer Überzeugung klar werden, dass dies verheerende Folgen habe. Das ist eine Lebensversicherung für den von Feinden umgebenen jüdischen Staat im Nahen Osten. Schließlich befindet sich Israel seit dem 7. Oktober 2023 in einem aufgezwungenen Krieg und führt seither einen legitimen Selbstverteidigungskampf an mehreren Fronten. Dabei geht es um nichts Geringeres als den Fortbestand des jüdischen und demokratischen Staates Israel, dessen Existenzrecht von nicht-staatlichen Terrororganisation und dem Iran offen in Frage gestellt wird. Die Islamische Republik Iran nimmt dabei eine zentrale Rolle ein, da das Mullah-Regime seit Jahrzehnten die Auslöschung des Staates Israel fordert und dafür auch ein breites Netz terroristischer Gruppierungen von der Hisbollah im Libanon über die Huthis im Jemen bis zu schiitischen Milizen in Syrien und im Irak finanziert. Doch auch die arabische Welt befindet sich in einem tiefen Trauma und steht vor unausweichlichen Transformationsprozessen. Der durch den Hamas-Angriff ausgelöste Krieg im Gazastreifen führte dort zu mehr als 40.000 Toten, darunter viele Zivilisten, zu Zerstörung, Vertreibung und einer humanitären Katastrophe. Viele Palästinenser fühlen sich verlassen und vergessen, übrigens nicht nur vom Westen, sondern auch vermehrt von der arabischen Welt. Auch im Libanon mehren sich die zivilen Todeszahlen, und die täglich steigenden Zahlen von Binnenflüchtlingen lassen perspektivisch auch für Europa einen erneut zunehmenden Migrationsdruck erwarten. Wie sich die arabische Welt nach Kriegsende verändern wird, ist heute noch nicht abschließend absehbar. Während die internationale Öffentlichkeit und zu oft auch die Vereinten Nationen für das Leid im Gazastreifen vor allem Israel verantwortlich machen, ist die Situation deutlich komplexer. Israel sieht sich mit Hamas und Hisbollah mörderischen Terrororganisationen gegenüber, die die Auslöschung Israels anstreben. Es war seit Kriegsbeginn Teil der perfiden Strategie der Hamas, hohe palästinensische Opferzahlen gezielt in Kauf zu nehmen, damit in der internationalen Öffentlichkeit Israel – das angegriffene Land – als Aggressor wahrgenommen wird. Dabei waren es Hamas-Kämpfer, die sich seit Beginn hinter Zivilisten verschanzten und Israel aus zivilen Einrichtungen wie Kindergärten und Krankenhäusern beschossen. Auch die Hisbollah stand im Verdacht, einen Angriff ähnlich dem 7. Oktober auf den Norden Israels vorzubereiten. Ein Jahr nach Kriegsbeginn sind noch immer über 100 israelische Geiseln in der Hand der Hamas. Deren Anführer im Gazastreifen, Yahia Sinwar, scheint sich noch in dem Küstenstreifen zu befinden – vermutlich umgeben von den letzten noch lebenden Geiseln. Während die Rückkehr der Geiseln weiterhin oberste Priorität haben muss, scheint die militärische Schwächung der Hamas nach der Operation in der ägyptischen Grenzstadt Rafah und der Kontrolle über den Philadelphi-Korridor weitgehend gelungen zu sein. Zentrale Zukunftsaufgaben bleiben die ideologische Deradikalisierung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza, die Etablierung einer realistischen politischen Zukunftsvision für den Gazastreifen und der Wiederaufbau nach Kriegsende. All dies dürfte mindestens ein Jahrzehnt dauern und wird auch die grundsätzliche Frage nach der Realisierbarkeit einer Zweistaatenlösung revitalisieren. Die Fronten sind auf beiden Seiten verhärtet. Doch vorerst bleibt Israels Überlebenskampf. Seit dem 8. Oktober 2023 sieht sich Israel täglichem Raketenbeschuss ausgesetzt. Schiitische Milizen aus Syrien und Irak feuern ebenso auf Israel wie die Huthi-Milizen aus dem Jemen, die zuletzt verstärkt Raketen über tausende Kilometer entfernt auch auf die Metropole Tel Aviv abfeuerten. Die größten Gefährder der regionalen Stabilität und der Sicherheit Israels stellen jedoch der Iran und die von ihm ausgestattete und finanzierte Hisbollah im Libanon dar. Hisbollah und syrische Milizen haben im letzten Jahr allein auf den Norden Israels knapp 10.000 Raketen abgefeuert, im Norden Israels sind über 60.000 Menschen evakuiert und leben seit einem Jahr landesweit verteilt in Hotels oder Notunterkünften. Während sich die israelische Armee (Israeli Defense Forces, IDF) in den ersten Monaten vor allem auf die Militäroperation gegen die Hamas konzentrierte, scheiterten alle Versuche einer diplomatischen Konfliktvermeidung mit der Hisbollah. Die wesentliche Forderung Israels, der Rückzug der Hisbollah-Kämpfer über den Litani-Fluss 30 Kilometer von der Grenze Israels entfernt, blieb ebenso unerfüllt wie die Einstellung der täglichen Raketenangriffe. Der US-Gesandte Amos Hochstein konnte über ein Dreivierteljahr nicht zu einer Deeskalation beitragen; die Vereinten Nationen bewirkten ebenso nicht die Einhaltung ihrer Resolution 1701. Während die Hisbollah um ihren Anführer Hassan Nasrallah ein Ende ihres Beschusses an einen Waffenstillstand in Gaza knüpften, eskalierte die Lage seit Ende Juli weiter, nachdem bei einem Hisbollah-Beschuss im Norden Israels zwölf drusische Kinder getötet wurden. Je mehr sich die militärischen Erfolge gegen die Hamas einstellten, umso mehr widmete sich die IDF fortan der nördlichen Front. Im September wurde die Rückkehr der israelischen Bevölkerung in den Norden als weiteres Kriegsziel durch das israelische Kabinett beschlossen. Seither werden Bataillone in den Norden verlagert, Ende September begann eine israelische Bodenoffensive im Libanon. Israels Strategie der Kriegsführung wurde spätestens seit Mitte des Jahres deutlich: maximale Abschreckung und Schwächung der Gegner durch strategisch gezielte Ausschaltung der terroristischen Führungseliten. Zuerst erfolgte Ende Juli die Eliminierung von Fouad Shukur, einem der zentralen Hisbollah-Militärchefs, in einem Vorort von Beirut. Die spektakuläre Ausschaltung des Hamas-Politbürochefs Ismail Hanija bei der Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten in Teheran Anfang August sowie zuletzt die gezielte Tötung des Hisbollah-Anführers Nasrallah mitten in der libanesischen Hauptstadt Beirut zeigen zweierlei: Israel verfügt über exzellente Geheimdienstinformationen, die die legendären Kapazitäten des Auslandsgeheimdienstes Mossad wiederherstellen. Außerdem wird die gezielte Botschaft an alle Terrorgruppen der Region und den Iran gerichtet, dass alle Feinde Israels früher oder später gefunden und ausgeschaltet werden können. Dies wurde am wirksamsten Mitte September deutlich, als im Libanon landesweit gleichzeitig tausende Pager und am Folgetag weitere Funkgeräte explodierten und dabei dutzende Hisbollah-Anhänger getötet und Tausende verletzt wurden. Seither herrscht nicht nur Panik und Verunsicherung innerhalb der Hisbollah, sondern auch in Teheran wird das Regime nervöser – dadurch aber auch unkalkulierbarer. Der Iran bleibt Israels zentrale Bedrohung. Bereits am 14. April wagte der Iran einen historischen Dammbruch, als es erstmals seit der islamischen Revolution 1979 direkt Israel militärisch anzugreifen wagte. Es wurden 65 Tonnen Sprengstoff mit über 300 Geschossen auf Israel gerichtet. Obschon 99 Prozent der Raketen und Drohnen damals abgewehrt werden konnten, vor allem da der Angriff angekündigt war, wusste die iranische Führung seither, wie ein solcher Angriff verlaufen kann. Die seit der Tötung Hanijas angekündigte Vergeltung erfolgte schließlich nach der Tötung Nasrallahs durch den zweiten iranischen Angriff am 1. Oktober. Diesmal wurden knapp 200 ballistische Raketen auf Israel gezielt, vor allem auf die Metropole Tel Aviv. Nahezu 10 Millionen Israelis wurden in Schutzräume und Bunker gezwungen, erneut kurz vor einem hohen jüdischen Feiertag. Einziges Opfer dieses Angriffs ist ein Palästinenser aus dem Gazastreifen, der in Jericho im Westjordanland durch ein herunterfallendes Raketenteil getötet wurde. Ein Jahr nach Kriegsbeginn scheint eine offene militärische Konfrontation zwischen Israel und dem Iran nicht mehr unmöglich. Israel kündigte bereits einen Gegenschlag im Iran an, diskutiert wird ein Angriff auf die kritische Infrastruktur des Iran – womöglich Ölanlagen. Die Schwächung iranischer Angriffskapazitäten liegt im Sicherheitsinteresse Israels und der westlichen Welt, insbesondere da eine atomare Bewaffnung Irans unter allen Umständen verhindert werden sollte. Der Iran zeigte durch die Angriffe im April und Oktober, dass er willens und in der Lage ist, Israel direkt anzugreifen. Nur aufgrund einer breiten Allianz der USA, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und regionaler Verbündeter wie Jordanien und Saudi-Arabien konnten die iranischen Angriffe abgewehrt werden. Die Bildung einer internationalen Anti-Iran-Koalition sollte daher weiter vorangetrieben und noch stärkere Sanktionen gegen den Iran angestrebt werden. Ohne die Unterstützung der USA wird eine weitere militärische Eskalation mit dem Iran jedoch nicht möglich sein. Die weitere Isolierung und Schwächung des iranischen Regimes ist nicht nur im existentiellen Interesse Israels, sondern auch im Kontext der globalen Systemrivalität ein europäisches und deutsches Interesse. Russland und China blicken als destabilisierende Akteure auch auf die Kriege in Nahost und machen kein Geheimnis aus ihrer proiranische Grundhaltung. Die seit 2020 bestehenden Abraham-Abkommen sind ein wichtiger Eckpfeiler für die möglichen Veränderungen in der Region. Marokko, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben ihre Beziehungen zu Israel normalisiert. Saudi-Arabien stand vor dem 7. Oktober 2023 kurz davor. Nach den US-Präsidentschaftswahlen im November sollte daher nicht nur eine stärkere Anti-Iran-Achse gebildet, sondern auch die arabischen Normalisierungsbestrebungen mit Israel vorangetrieben werden. Da innerhalb der EU zu viele israelkritische Stimmen zu vernehmen sind, sollte gerade Deutschland seiner Staatsräson gerecht werden und sich diesen Ansätzen anschließen. Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland als enger Freund und Verbündeter an der Seite Israels steht und sich entschieden gegen jede Kraft stellt, die die Existenz Israels gefährdet.
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Thomas Volk
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Seit dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 führt Israel einen legitimen Selbstverteidigungskampf. Da in der EU zu viele israelkritische Stimmen zu vernehmen sind, sollte gerade Deutschland seiner Staatsräson gerecht werden und sich gegen jede Kraft stellen, die die Existenz Israels gefährdet.
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"Israel",
"Hamas",
"Gazastreifen",
"Libanon",
"Antisemitismus"
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außenpolitik
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2024-10-07T11:33:29+0200
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2024-10-07T11:33:29+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/jahrestag-des-7-oktober-israels-aufgezwungener-sieben-fronten-krieg
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EuGH-Urteil zur Flüchtlingspolitik - Solidarität vs. Souveränität
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Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Dieses berühmt-berüchtigte Diktum von Carl Schmitt hat nun auch die EU-Politik erreicht. Denn in Brüssel wurde, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, im Herbst 2015 der Ausnahmezustand erklärt. Mit den Folgen schlägt sich die Europäische Union bis heute herum, wie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Flüchtlingspolitik und die vehemente Reaktion in Budapest, Brüssel und Berlin zeigt. Worum geht es? Auf den ersten Blick dreht sich der Streit um die Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander. Indem der EuGH eine Klage Ungarns und der Slowakei abwies, hätten die höchsten EU-Richter eine „Pflicht zur Solidarität“ postuliert, heißt es in Brüssel. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, erklärte Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos aus Griechenland. Nun müsse auch Ungarn an der 2015 beschlossenen Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien teilnehmen. Allerdings haben die EU-Richter das Wort Solidarität gar nicht in den Mund genommen. In ihrem Urteil geht es vor allem um die Frage, ob die Entscheidung der EU-Innenminister vom 22. September 2015 rechtmäßig war, mit einer qualifizierten Mehrheit die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen zu beschließen. Ungarn und die Slowakei hatten die Auffassung vertreten, dies sei nicht in Ordnung, sie hätten nicht überstimmt werden dürfen. Diese Auffassung wies der EuGH in vollem Umfang ab. Bemerkenswert ist nun, wie er diese Entscheidung begründet. Denn hier kommt der Ausnahmezustand ins Spiel – und indirekt auch die staatliche Souveränität. Bei der umstrittenen Entscheidung der Innenminister im Flüchtlingsherbst 2015 sei es um eine akute Notlage gegangen, entschieden die Richter. Der Ministerrat habe sich daher zurecht auf Artikel 78,3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU berufen, in dem es um Notfälle in der gemeinsamen Asylpolitik geht. Dieser Artikel sieht Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit vor, ein Veto ist nicht möglich. Genau auf dieses Vetorecht hatten jedoch Ungarn und die Slowakei gesetzt. Sie glaubten, über die damals akute Flüchtlingskrise werde von den Staats- und Regierungschefs auf einem EU-Gipfel entschieden – und nicht bei einem Treffen der Innenminister. Der EU-Ratsvorsitz, den damals Luxemburg innehatte, ließ jedoch die Innenminister abstimmen. So konnte er die Verweigerer austricksen. Rechtlich war das okay, urteilen die Richter – zumindest solange, wie es um vorübergehende Notmaßnahmen ging. Politisch ist es jedoch ein Riesenproblem. Denn die Zuweisung von Flüchtlingen greift in die Souveränität der Mitgliedsstaaten ein. Und die Ausrufung des Ausnahmezustands ist eine politische Entscheidung, die sicher besser bei den Staats- und Regierungschefs aufgehoben wäre als bei den Innenministern. Alles andere schafft böses Blut, wie wir nun sehen. Bei dem Urteil aus Luxemburg geht es also nicht nur um Solidarität, sondern auch um Souveränität und um den Ausnahmezustand. Im Schmittschen Sinne ist die EU am 22. September 2015 souverän geworden, da sie eine Notlage ausgerufen und außergewöhnliche Maßnahmen beschlossen hat, die sogar die nationalen Parlamente übergehen. Die Regierung von Viktor Orban beruft sich denn auch vor allem auf Argumente der staatlichen Souveränität und der inneren Sicherheit, um das EuGH-Urteil auszuhebeln. Damit stellt sie aber wiederum das Rechtsstaats-Prinzip der EU infrage. Es zeugt schon von einem abstrusen Rechtsverständnis, das oberste EU-Gericht anzurufen – und dann das Urteil nicht anzuerkennen und die Richter zu verhöhnen. Allerdings gehen auch viele Interpretationen aus Berlin und Brüssel zu weit. Der EuGH hat den Innenministern nämlich keinen Blankoscheck ausgestellt, Solidarität per Mehrheitsbeschluss zu erzwingen. Das Urteil war vielmehr an die akute Notlage im Herbst 2015 gebunden. Und es betrifft nur Maßnahmen, die „hinsichtlich ihres sachlichen und zeitlichen Geltungsbereichs begrenzt sind“, wie es in der Urteilsbegründung heißt. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Umverteilung der Flüchtlinge soll eigentlich am 26. September 2017 abgeschlossen sein. Orban hat auf Zeit gespielt und wohl gehofft, dass sich der Streit nach diesem Datum von selbst erledigen würde. Wie geht es nun weiter? Muß Ungarn tatsächlich noch Solidarität üben und Flüchtlinge aufnehmen – auch wenn die Umverteilung Ende September ausläuft? Oder kann es sich wie andere Staaten verhalten, die sich auch ungestraft über EU-Regeln und -Beschlüsse hinwegsetzen, etwa in der Budgetpolitik? Droht gar eine jahrelange Hängepartie mit neuen Klagen vor dem EuGH, die diesmal von der EU gegen Ungarn angestrengt würden? Das kann selbst in Brüssel niemand sagen. Die EU-Kommission spielt den Streit um die Souveränität herunter und versucht, die Karte der Solidarität zu spielen. Es gehe jetzt nicht darum, wie viele Flüchtlinge Ungarn aufnimmt, sondern darum, dass es überhaupt mitmacht, sagte Avramopoulos. Doch das lehnt die nationalistische Regierung in Budapest weiter ab. „Das EuGH-Urteil zwingt uns zu nichts“, stellt Sozialminister Zoltan Balog fest. In der Tat lässt die höchstrichterliche, rechtskräftige Entscheidung Aussagen zum weiteren Vorgehen vermissen. Die EU-Richter beziehen sich nur auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart oder auf die Zukunft. Auch die EU-Kommission möchte keine Vorgaben zum weiteren Vorgehen machen. Man werde nun erst einmal einige Wochen abwarten, so Avramopoulos. Danach könnte das – laufende – Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn verschärft werden. Am Ende könnte eine Klage vor dem EuGH stehen – und hohe Geldstrafen, mit denen das säumige Land zur Umsetzung gezwungen werden soll. Auch über Sanktionen wird nachgedacht. „Die Kommission wird nach dem Rechten sehen. Sie wird eine Klage einbringen“, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Das EU-Gericht werde dann festhalten, dass bestimmte Länder nicht ihren Pflichten nachkämen, „und dann kommt die zweite Stufe: Es werden Sanktionen eingeführt“. Diese Strafen (die es im EU-Recht bisher nicht gibt) müssten dann allerdings mehrere Länder treffen – und nicht nur Ungarn. Denn nur ein einziges EU-Mitglied, Malta, hat die Brüsseler Vorgabe bei der Umverteilung von Flüchtlingen erfüllt. Alle anderen hinken dem Plansoll hinterher. Und je länger der Ausnahmezustand von 2015 zurückliegt, desto geringer wird die Bereitschaft, die geforderte Solidarität zu üben. Souveränität und Sicherheit gewinnen wieder an Bedeutung, auch in Deutschland.
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Eric Bonse
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Der Europäische Gerichtshof hat eine Klage Ungarns und der Slowakei gegen die Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU zurückgewiesen. Ob sich die Entscheidung jedoch durchsetzen lässt, ist fraglich. Denn auf grundlegende Fragen gibt das Urteil keine Antwort
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"EU",
"EuGH",
"Flüchtlingsquote",
"Flüchtlinge",
"Ungarn"
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außenpolitik
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2017-09-07T11:51:01+0200
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2017-09-07T11:51:01+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/eugh-urteil-zur-fluechtlingspolitik-solidaritaet-vs-souveraenitaet
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Hessens Ministerpräsident Rhein: - „Politik der grenzlosen Offenheit muss beendet werden“
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Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) hat wenige Tage vor der Landtagswahl in Hessen seine Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung bekräftigt. „Wir sind wirklich an der Belastungsgrenze. Die Politik der grenzlosen Offenheit muss beendet werden“, sagte er am Mittwoch im ZDF-Morgenmagazin. „Mir tut es auch in der Seele weh“, sagte Rhein. Er sei immer ein Befürworter eines ganz freizügigen Europas gewesen. „Aber wenn wir die Außengrenzen Europas nicht mehr schützen können, und das geschieht derzeit, dass sie nicht geschützt werden, dann müssen wir leider die Binnengrenzen schützen.“ Es brauche lageangepasste Grenzkontrollen an den Binnengrenzen, insbesondere zu Polen und Tschechien. Anders als sein bayerischer Amts- und Unions-Kollege Markus Söder (CSU) wollte sich Rhein nicht auf eine klare Obergrenze für Flüchtlinge festlegen. Söder hatte eine Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten von etwa 200 000 Menschen gefordert. „Ich glaube, eine klare Zahl kann man gar nicht geben“, sagte Rhein. Söder habe damit deutlich machen wollen, dass es eine Grenze gebe, dessen was möglich sei. „Das merken wir insbesondere vor Ort bei den Kommunen.“ Die Aufnahme von Flüchtlingen habe auch mit der Akzeptanz durch die Bevölkerung zu tun. „Die ist gefährdet, je mehr kommen und je weniger das bewältigt wird.“ Rhein dringt zudem auf mehr Rückführungen. „Wir brauchen dringend die angekündigte Rückführungsoffensive der Bundesregierung“, sagte er. Die Länder seien zwar zuständig für die Rückführung von abgelehnten Antragstellern, allerdings müsse die Bundesregierung in deren Herkunftsländern dafür sorgen, dass sie von ihnen auch zurückgenommen würden. „Und da passiert gar nichts.“ Hessen sei im Ländervergleich die Nummer eins bei den Rückführungen, aber auf einem immer noch viel zu niedrigen Niveau. „Die Bundesregierung ist die einzige, die den Schlüssel hat für die Steuerung und die Begrenzung der Zuwanderung. Sie betätigt ihn nur bedauerlicherweise nicht“, kritisierte er. In Hessen wird am kommenden Sonntag, 8. Oktober, ein neuer Landtag gewählt. dpa
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Cicero-Redaktion
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Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein sieht Deutschland an der Belastungsgrenze der Migration. Die Bundesregierung müsse dringend die angekündigte Rückführungsoffensive umsetzen.
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"Hessen",
"Migration",
"Immigration"
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innenpolitik
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2023-10-04T11:21:01+0200
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2023-10-04T11:21:01+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/hessen-rhein-belastungsgrenze-migration
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Phänomen Wutbürger - Warum so zornig?
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Unter einem Wutbürger dürften sich die meisten jemanden vorstellen, der dauernd oder ungewöhnlich häufig wütend ist. Die Frage ist, ob oder wann ein Wutbürger gut oder schlimm ist. Man wird sagen müssen: Es kommt darauf an. Denn Wut verwirrt zwar den Verstand, die Rede und das Verhalten und behindert so vernünftiges Vorgehen. Aber menschliche Trägheit erfordert nicht selten Emotionen und sogar Wut, um etwas zu bewegen, Hindernisse zu überwinden. Der Kampf gegen das Böse oder um Fortschritt kann durch Wut wirksamer, manchmal überhaupt erst in die Wege geleitet werden. Und wie fad ist der Mensch ohne Temperament! Noch größere Aussicht etwas zu bewegen, hat kollektive Wut. Paradebeispiel ist die Auslösung der Französischen Revolution durch den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789. Oft wird kollektive Wut angefacht durch Agitation organisierter politischer Kräfte. Man denke an die russischen Revolutionen von 1917 oder an die chinesische „Kulturrevolution“ von 1966. Diktatoren bedienen sich der Wut der Bevölkerung, um ihre Macht zu etablieren oder zu erhalten. Auch der Nationalsozialismus entfaltete sich ab 1930 in einer Art kollektiver Wut eines erheblichen Teils der Bevölkerung. Als Wutbürger werden Menschen bezeichnet, weil sie sich mehr oder weniger laut gegen oder für etwas aussprechen. So zum Beispiel die „Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Weltweit gibt es Wut gegen „den Westen“ oder „die Amerikaner“, überall gibt es sie zwischen Staaten, Völkern und allen möglichen Gruppierungen. Wo sich dagegen Wut gegen Staat und Gesellschaft selbst richten darf, ist sie Anzeichen eines freiheitlich verfassten Gemeinwesens. Wut hat in der Regel einen Anlass, geht auf die Ablehnung eines Zustandes oder auf unerfüllte Ansprüche zurück. Wut ohne Gegenstand außerhalb des Wütenden oder als Selbstzweck ist selten und meist lächerlich. Zustände und Verhaltensweisen lassen sich besser sachlich und vernünftig kritisieren und ändern. Wenn aber nichts davon gelingt oder sich schon der Zustand nicht begreifen lässt, macht sich Hilflosigkeit breit. Wut als Emotion ist wertfrei. Sie kann gute wie schlechte Gedanken, Äußerungen oder Verhaltensweisen emotional überhöhen. Gesellschaftlich relevant ist Anlass oder Ziel der Wut und das aus ihr erwachsende Verhalten. Was nun anfangen mit der ganzen Wut? Gewiss trägt zwar Wut auf den ersten Blick nicht nachhaltig zur Befriedung oder Problemlösung bei. Aber ist nun Ruhe oder Unruhe die erste Bürgerpflicht? Ist nicht Unruhe, die zur Berichtigung eines Übels führt, ein Weg zum Frieden? Wut ist oft ein nützliches Signal. Sie erinnert daran, dass etwas bewältigt werden muss. So beruhigend und zweckmäßig emotionslose Auseinandersetzungen, so unästhetisch Wutausbrüche sein mögen, so sinnlos wäre es, Wut schlechthin abzulehnen. Bewältigt sollte Wut aber wohl werden. Bewältigung ist denkbar durch Beseitigung ihrer Ursachen, durch Verwirklichung des Ziels, schließlich durch Besänftigung. Die meist mit Wut verbundenen Andeutungen lassen Anlässe oder Ziele oft nur umrisshaft erkennen, entweder weil sie der Wütende selbst nicht genau kennt oder formulieren kann, oder weil sie ihm nicht erklärt worden sind. Geboten ist daher vor allem eine gründliche Erforschung. Wer auf Wut stößt und nicht gleich nach der Polizei oder dem Psychiater ruft, fragt: Warum? Meist zeigt sich bald, dass Wut differenzierte Gegenstände und nicht selten einen berechtigten Kern hat. Das gilt besonders für kollektive Wut. Ist der Grund geklärt, muss er bewertet werden. Verdient er Ablehnung, Bestätigung, Durchsetzung? Hier liegt die Schwierigkeit, die der Anti-Wutbürger geflissentlich umgehen will, indem er sich auf die Ruhe als erste Bürgerpflicht beruft. Denn selbst wenn mit Bezug auf den Gegenstand der Wut nichts zu veranlassen ist, haben doch die Wutbürger ernstzunehmende Probleme. Deshalb ist jedenfalls eines zu veranlassen: Um die notwendige Homogenität einer Gesellschaft zu erhalten, muss Wut durch Überzeugungsarbeit möglichst weitgehend aufgelöst werden. Die Interessen aller Beteiligten und der Gesellschaft müssen offengelegt und es muss gezeigt werden, welchen Beitrag, welche Toleranz ein jeder schuldet, mit welchen Kompromissen alle leben müssen. Und das ist nur möglich durch vernünftige Diskussion und Vorbildhaftigkeit. Allerdings haben auch Wutwillige und ihre Mitläufer eine Aufgabe: sich über Wirkung und Rechtfertigung ihrer Wut Gedanken zu machen. Auch sie sind die Auseinandersetzung schuldig. Zu diesem Artikel gibt es eine Umfrage
Cicero arbeitet mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Civey erstellt repräsentative Umfragen im Netz und basiert auf einer neu entwickelte statistischen Methode. Wie das genau funktioniert, kann man hier nachlesen. Sie können abstimmen, ohne sich vorher anzumelden.
Wenn Sie allerdings direkt die repräsentativen Ergebnisse – inklusive Zeitverlauf und statistische Qualität – einsehen möchten, ist eine Anmeldung notwendig. Dabei werden Daten wie Geburtsjahr, Geschlecht, Nationalität, E-Mailadresse und Postleitzahl abgefragt. Diese Daten werden vertraulich behandelt, sie sind lediglich notwendig, um Repräsentativität zu gewährleisten. Civey arbeitet mit der Hochschule Rhein-Waal zusammen.
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Christian Heinze
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Die Erfolge der AfD zeigen es: Aus Enttäuschung kann eine politische Macht erwachsen. Doch wie mit den verärgerten Bürgern nun umzugehen ist, dafür scheinen den etablierten Parteien die Rezepte zu fehlen. Christian Heinze plädiert dafür, die Ursachen zu erforschen
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kultur
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2016-09-13T11:36:59+0200
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2016-09-13T11:36:59+0200
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https://www.cicero.de//kultur/phaenomen-wutbuerger-warum-so-zornig
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Debatte um Kevin Kühnert - "Sozialismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen"
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Bis weit in die links-liberale Mitte der Gesellschaft hat sich der Irrglaube verfestigt, Sozialismus sei in der Theorie eine gute Sache, nur in der Praxis falsch umgesetzt. Daher können Populisten von Linksaußen auch unbeschwert den „demokratischen“ Sozialismus propagieren. Es ist kaum vorstellbar, was in diesem Land los wäre, wenn Rechtsradikale versuchen würden den „demokratischen“ Faschismus in die politische Diskussion einzubringen. Dabei stinkt der Sozialismus schon vom theoretischen Konzept her. Das Fundament der quasi-religiösen Glaubensgrundsätze ist eine eigenwillige Interpretation der Geschichte als eine Geschichte der Klassenkämpfe. Daraus leitet Karl Marx, warum und wie auch immer, den zwangsläufigen Ablauf der Geschichte ab. Die Verelendung des Arbeiters im Kapitalismus würde unausweichlich in eine kommunistischen Revolution und zur Diktatur des Proletariats führen. Nach einer sozialistischen Übergangsphase würde diese in eine klassenlose Gesellschaft, ins Paradies auf Erden, münden. Diese Zwangsläufigkeit lässt keine alternativen Betrachtungen des sicherlich wesentlich komplexeren Geschichtsablaufs und Wesens des Menschen zu. Sie verkommt zu einer gefährlichen Ideologie. Nicht nur vor dem Hintergrund der praktischen Umsetzungen des Sozialismus im 20. Jahrhundert, sondern auch vor dessen Theorie muss sich jeder Demokrat die Frage stellen, was an einer Diktatur gut sein soll. Hier kommt aber ein immer wieder auftretender Irrglaube und Widerspruch der Linken ins Spiel: Der Glaube an das Gute im unterdrückten Subjekt. Als existentielle Rechtfertigung ihrer emanzipatorischen Rolle benötigen Linke gesellschaftliche Machtverhältnisse, die Unterdrücker und Unterdrückte hervorbringen. In ihrer Naivität gehen Linke davon aus, dass die Unterdrückten – seien es Arbeiter, Frauen, Homosexuelle oder Migranten – durch die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, per se bessere Menschen sind. Somit kann eine Diktatur des Proletariats auch nicht zu Machtmissbrauch und Verwerfungen wie Unterdrückung, Verfolgung oder Umerziehung führen, sondern nur die Vollendung des Menschen nach sich ziehen. Da die vorsätzliche Intuition der Sozialisten, nämlich die Emanzipation des Arbeiters, darüber hinaus als etwas Positives betrachtet wird, wird über diesen theoretischen Defekt gerne hinweggesehen. Und das, obwohl es in der Praxis verheerende Konsequenzen für Millionen von Menschen hatte. Kann der Zweck diese Mittel heilen? Wollen wir tatsächlich wieder Experimente aufnehmen, die ganze Gesellschaften eingesperrt, Andersdenkende verfolgt und die Wirtschaft ruiniert haben? Kevin Kühnert scheint Kritik an seinen Thesen vorhergesehen zu haben. Daher versieht er in einem Interview mit der Zeit seine Sozialismusphantasie mit dem Feigenblatt „demokratisch“ und betont im Nachhinein, nicht von Verstaatlichung oder Enteignung gesprochen zu haben. Dabei führt er in dem ursprünglichen Interview in Bezug zu BMW aus, dass „die Verteilung der Profite (...) demokratisch kontrolliert werden (muss). Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer an diesem Betrieb gibt. Ohne eine Form der Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus überhaupt nicht denkbar.“ Abgesehen von der Frage, ob eine Kapitalgesellschaft nicht auch eine Art von Kollektiv ist, stellt sich die viel dringendere Frage, wie das sich im Besitz der Aktionäre befindliche Unternehmen ohne (staatliche) Enteignung in ein für Kevin Kühnert wünschenswertes Kollektiv überführt werden soll. Immerhin dürfte es nach seiner These keine kapitalistischen Eigentümer mehr geben. Braucht es für diese Überführung nicht eine gesetzliche Grundlage und eine Exekutivmacht? Oder soll das Kollektiv der Beschäftigten die Produktionsmittel einfach an sich reißen – und also doch eine Revolution durchführen? Kühnerts Anhänger verweisen gerne auf das Grundgesetz, dass Enteignungen von Privateigentum zum Wohle der Allgemeinheit gegen eine angemessene Kompensation vorsieht. Aber glauben diese Menschen tatsächlich, der Staat oder das „Kollektiv“ könnten sämtliche Aktionäre zum marktgerechten Preis für die Enteignung kompensieren? Es stellt sich zudem die Frage, wen das Kollektiv überhaupt alles einbindet. Nur die Beschäftigten eines Konzerns oder auch dessen Konsumenten, Zulieferer, Anwohner und alle anderen, die direkt oder indirekt von dem Unternehmen abhängig sind? Also letztendlich die ganze Gesellschaft? Dass die Enteignung oder Kollektivierung der Aktiengesellschaften nicht im Sinne des Allgemeinwohls oder der Beschäftigten ist, muss nicht einmal theoretisch begründet werden. Es genügt bereits ein Blick auf die Erfahrungen der Demokratisierung von Betrieben im Rahmen des „Dritten Wegs“ in Jugoslawien. Merkwürdigerweise entschieden sich die Arbeiter in Zeiten guter Konjunktur gegen die Einstellung neuer Mitarbeiter und strategische Investitionen, sondern für Lohnerhöhungen. Eine Unternehmenspolitik, die zu Massenarbeitslosigkeit, Stagnation und damit letztendlich zu Auswanderung geführt hat. Kann es sein, dass Arbeiter auch nur von Anreizen und Interessen getriebene Menschen sind und keine höheren Wesen, die frei von Egoismus Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls treffen? Davon abgesehen: Wie sollen in einem solchen Konstrukt effiziente Strukturen und Entscheidungen möglich sein? Wer soll am Ende für unternehmerischen Misserfolg haften? Woher kommt der naive Glaube an die Unkorrumpierbarkeit von Kollektiven? Wollen/können Beschäftigte überhaupt komplexe betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen? Oder sollte stattdessen lieber eine „Vertretung“ von Kühnert und seinen Genossen diese Tätigkeit übernehmen? Sollen auch GmbH's und Personengesellschaften kollektiviert werden? Wer würde überhaupt noch das Risiko einer Gründung aufnehmen, wenn strategische Entscheidungen kollektiviert werden? Das Kollektiv selbst? Kühnert kann es rhetorisch verpacken, wie er es will, seine Thesen laufen auf eine staatlich gelenkte Planwirtschaft hinaus. Man könnte dies alles als realitätsferner-Besserwisser-Juso-Unsinn abtun, wie es SPD-Chef Olaf Scholz getan hat. Hinter diesem „Unsinn“ verbirgt sich aber eine gefährliche Schieflage in unserer Gesellschaft. Nämlich die schon angesprochene Verharmlosung linker Verbrechen – aufgrund der vermeintlich „richtigen“ Idee. Diese lässt sich auch bei Ralf Stegner wiederfinden, dem eine links von der SPD stehende Jugendorganisation lieber ist als eine rechts von der CDU stehende. Diese Aussage ist nur einen Zungenschlag von „linke Gewalt ist besser als rechte Gewalt“ entfernt. Eine Einstellung, die in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet ist. Wie ist es sonst zu erklären, dass der gesellschaftliche Aufschrei ausbleibt, wenn eine Gastsätte in Köln mit dem Namen „Hotel Lux“ Sowjetnostalgie bedient und eine lebensgroße Puppe vom für Massenmorde verantwortlichen Lenin ausstellt? Es scheint, dass Populisten wie Kühnert froh sind, wenn Schwierigkeiten im Zusammenspiel des Staates mit der Wirtschaft auftreten. Über die komplexen Ursachen können sie hinweggehen, das Unheil stattdessen simplifizierend auf „den“ Kapitalismus schieben und ihre törichten einfachen Lösungen verbreiten. Damit verkennen sie die Tatsache, dass die Sozialdemokratie erfolgreich die Verwerfungen des Kapitalismus durch die Einführung und Ausweitung des Sozialstaats gebändigt hat. Nur so war es möglich, ökonomische Stärke und soziale Absicherung nicht mehr als Gegensätze wahrzunehmen, sondern als Symbiose zu verwirklichen. Die SPD konnte mit ihrer endgültigen Abkehr vom Sozialismus nach dem Godesberger Programm zur Volkspartei aufsteigen. Sie hat in der Folge Millionen von Arbeitern den sozialen Aufstieg ermöglicht. Trotz der anhaltenden innergesellschaftlichen Ungleichheit kann niemand ernsthaft behaupten, dass lohnabhängig Beschäftigte jemals in einem sozialistischen System besser gestellt waren als in der BRD. Es muss nicht darüber gestritten werden, dass innerhalb der sozialen Marktwirtschaft trotzdem Verbesserungsbedarf existiert. Dank Kühnerts Agenda-Setting und der Unfähigkeit der Parteiführung, ihm eindeutig zu widersprechen, gehen lebensnahe soziale Probleme derzeit leider genauso unter wie europapolitische Themen. Aufmerksamkeit ist halt ein begrenztes Gut. Ich bin es leid, dass die mediale Deutungshoheit beim linken Flügel der SPD liegt – nicht nur bei der Frage nach der Wiederaufnahme der Großen Koalition, sondern auch in der Sozialismus-Debatte. Und das, obwohl die Mehrheit der SPD-Mitglieder Kühnerts Vorschläge genauso ablehnt wie die Mehrheit der Bevölkerung. Neben den kleinen Korrekturmaßnahmen in der großen Koalition müssen wir Sozialdemokraten endlich ein neues Zukunftskonzept entwickeln. Wir müssen uns wieder Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft die Wirtschaft stärken und zugleich den Sozialstaat ausbauen und die Europäische Währungsunion komplettieren können. Wir müssen gleichzeitig aufhören, die gesellschaftlichen Verhältnisse schlechtzureden, die wir in den vergangenen 20 Jahren nicht unwesentlich mitgestaltet haben. Diese Miesmacherei macht schlechte Laune. Stattdessen sollten wir voller Zuversicht und Optimismus neue Ideen entwickeln, wie wir unsere Gesellschaft verbessern können. Reaktionäre Sozialismusansätze mögen dem Bevormundungsbedürfnis selbst ernannter „richtiger“ Sozialdemokraten genügen, sie widersprechen jedoch dem Ideal einer offenen Gesellschaft. In diesem Sinne: Pragmatiker der SPD - vereinigt Euch!
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Stefan Hasenclever
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Mit seiner Forderung nach einer Vergesellschaftung von Betrieben hat Juso-Chef Kevin Kühnert eine Debatte darüber entfacht, wieviel Sozialismus die Wirtschaft verträgt. Dabei ist dieses Modell in der Praxis längst gescheitert, kontert das junge SPD-Mitglied Stefan Hasenclever
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"Kevin Kühnert",
"Sozialisten",
"Marxismus",
"SPD"
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innenpolitik
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2019-05-09T19:08:45+0200
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2019-05-09T19:08:45+0200
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https://www.cicero.de/innenpolitik/kevin-kuehnert-sozialismus-verstaatlichung-spd-godesberger-programm
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Der Fall NSU – Lernt der Verfassungsschutz aus seinen Fehlern?
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Der Brötchen-Kellner hat in der Nacht zu Freitag den Dienst längst quittiert, als der Bundestags-Untersuchungsausschuss zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) immer noch weiter arbeitet. Die Abgeordneten hatten vom scheidenden Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, ernüchternde Auskünfte über den Zustand des Dienstes erhalten. Der nächste Zeuge zeichnet kein schöneres Bild. Was der ehemalige Leiter der Abteilung Rechtsextremismus, Wolfgang Cremer, nächtens berichtet, lässt einmal mehr die Einsicht aufkommen, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Die Frage ist nur: wie dann? Welche Aufgaben hat der Verfassungsschutz? Das Verfassungsschutzgesetz fasst es knapp zusammen: „Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder.“ Bund und Länder haben dafür eigene Ämter, die unabhängig voneinander arbeiten. Der Verfassungsschutz darf geheimdienstliche Methoden anwenden, muss dabei allerdings auch Grenzen beobachten. Abhör- und Auskunftsmaßnahmen etwa muss der Innenminister genehmigen, die Parlamentarischen Kontrollgremien der Parlamente haben eine – in der Praxis aber recht beschränkte – Kontrollfunktion. Einmal im Jahr erstellt das Bundesamt den Verfassungsschutzbericht, in dem es Trends und Entwicklungen zusammenfasst. Welche Fehler wurden gemacht? Der Zeuge Wolfgang Cremer, der zu Zeiten der NSU-Verbrechen die Abteilung Rechtsextremismus geleitet hat, fasst vor dem Ausschuss den zentralen Fehler in seinem Haus so zusammen: „Wir waren nicht hartnäckig genug.“ Gemeint war das Auftreten der Bundesbehörde gegenüber den Landesämtern für Verfassungsschutz. Es habe im Bundesamt durchaus eine Sensibilität für die Gefahr eines rechten Terrors gegeben. Nur hat man sich nicht in Angelegenheiten der Länder einmischen wollen, und die hätten sich das auch verbeten. „Einige Landesämter sind doch sehr selbstbewusst aufgetreten“, sagt Cremer. Tatsächlich kann er belegen, dass die Kölner wenigstens eine Ahnung von der Gefahr hatten. In der internen Zeitschrift „BfV spezial“ warnte das Bundesamt im Jahr 2004 vor einer „sehr gefährlichen“ Gruppe um die Neonazis Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Ihre Affinität zu Sprengstoffanschlägen wurde thematisiert und auch die Tatsache, dass die Gruppe seit Jahren untergetaucht ist. Einen Monat vor dem Erscheinen des Artikels hatte genau dieses Trio einen Sprengstoffanschlag mit 30 Verletzten auf eine türkische Einrichtung in Köln verübt. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes hatte sogar bereits wenige Stunden nach der Tat direkt bei der Polizei angerufen. Ein absolut ungewöhnlicher Vorgang. „Es war wohl ein Mitarbeiter von uns, der sehr betroffen war, weil das in seiner Heimatstadt passiert ist“, sagt Cremer. Nur brachte auch der Bundesverfassungsschutz Theorie und Praxis nie zusammen. Es wurde keine Verbindung hergestellt zu den Anschlägen und auch nicht zu den Morden. Wo liegen die strukturellen Probleme? Auch die theoretische Aufmerksamkeit hatte Grenzen. Aus dem Bundesinnenministerium gab es 2003 eine Anfrage, ob es eine Art „Braune Armee Fraktion“ gebe. Das Thüringer Trio kannten die Verfassungsschützer, doch sie verneinten. Die Begründung: Das Merkmal der linksextremen Roten Armee Fraktion sei die Illegalität gewesen. Der Verfassungsschutz sei aber, hat Fromm erläutert, bei den drei Thüringern nicht mal sicher gewesen, ob sie überhaupt noch lebten. Auch habe es Hinweise auf eine Flucht nach Südafrika gegeben. Das Bundesamt ging nicht vom Untertauchen aus und stellte die Fahndung nach dem Trio 2001 ein. Eins ist jetzt schon absehbar: Der Fall NSU stellt vor allem die Zusammenarbeit der Behörden in ein denkbar schlechtes Licht. Dass Verfassungsschutz und Polizei organisatorisch strikt getrennt sind, ist nach den historischen Erfahrungen mit der Willkür der Gestapo nur zu verständlich. Aber in dem Grenzbereich, in dem der Verfassungsschutz nicht nur warnen und beobachten, sondern auch vor konkreten Gefahren schützen soll, schafft die Barriere Probleme. „Es gibt vor allem ein großes Defizit in der Kooperation zwischen Verfassungsschutz und Polizei“, so Cremer. Auch Fromm hat das in seiner stundenlangen Vernehmung immer wieder betont. Eigentlich ist der Austausch von Informationen nicht verboten. Aber das Selbstverständnis beider Behörden wirkt offenbar noch stärker auf Abschottung hin, als das Gesetz es befiehlt. Dazu kommt die föderale Struktur der Sicherheitsbehörden. Ein Bundesamt, das keine Weisungen erteilen darf, dazu 16 Landesämter, die weder den Bund noch den Nachbarn bei sich reinschauen lassen – bei Fällen, die die Landesgrenzen überschreiten, muss das geradezu zu Informationspannen führen. Mitteilung über operative Aktionen muss zwar das Bundesamt dem zuständigen Landesamt machen, den umgekehrten Dienstweg gibt es aber nicht. Nimmt man dann noch den Militärischen Abschirmdienst (MAD), eine Art Verfassungsschutz der Bundeswehr, hinzu, außerdem das Bundeskriminalamt mit seinen 16 Landesämtern, ist man rasch bei drei Dutzend höheren Sicherheitsbehörden, von denen meist die eine nicht weiß, was die andere tut. Wie könnten die Strukturen reformiert werden? Erste Schritte wurden bereits gemacht – oder besser: beim Thema Rechtsextremismus nachgeholt. Denn im Bereich islamistischer Terror ist man deutlich weiter, schneller und auch sensibler gewesen. Erst jetzt ist eine Verbunddatei Rechtsextremismus auf den Weg gebracht worden, die sich am Vorbild der Anti-Terror-Datei orientiert. Dort verknüpfen Polizeien und Verfassungsschutzämter Erkenntnisse über mutmaßlich gefährliche Islamisten. Erst jetzt werden zentral Informationen auch über gewaltbereite Rechtsextremisten und deren Kontaktpersonen gesammelt und abgeglichen. Dem gleichen Zweck dient das kurz nach Bekanntwerden des NSU im November 2011 eröffnete „Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus“. Dort treffen sich Vertreter nahezu jedes sicherheitsrelevanten Amts zum Informationsaustausch: die Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei, Europol, die Bundesanwaltschaft, die Landesbehörden für Verfassungsschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst und, bei Auslandsbezügen, auch der Bundesnachrichtendienst. Doch so wichtig dieser eigentlich selbstverständlich wirkende Austausch ist, kann er höchstens einen gewissen Beitrag leisten, um das Hauptproblem anzugehen. Der scheidende Verfassungsschutzchef Fromm hat es in die Formulierung gekleidet, die Schützer der Verfassung seien „zu borniert“ gewesen. Gefangen in ihren Kategorien und Gewohnheiten, allzu selbstsicher und routiniert, hat man sich einen braunen Terror schlicht nicht vorgestellt. Derlei Betriebsblindheit gibt es überall. Nur hat diese hier Menschen das Leben gekostet. Über die Konsequenzen herrscht keine Einigkeit. Mit rein organisatorischen Eingriffen ist es nicht getan. Zwar gibt es im Bundesamt seit langem Verfechter der Theorie, dass man mit mehr Zentralisierung weiter käme. Aber politisch ist das nicht durchsetzbar, und Großorganisationen sind oft noch weniger innovativ. Auch die radikale Lösung in die Gegenrichtung wirkt wenig überzeugend – wenn man den Verfassungsschutz auflöst, gibt es keine Verfassungsschutzpannen, aber auch niemand mehr, der die Feinde der Verfassung im Blick hat. Wenn Fromm mit der bitteren Eigendiagnose „borniert“ recht hat, liegt die Aufgabe eher im Inneren: Die Ämter müssen Wege finden, die Köpfe von Routinedenken zu befreien.
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Die Pannen bei der Fahndung nach dem rechten Terror-Trio haben das Ansehen des Geheimdienstes nachhaltig beschädigt. Die Frage bleibt: Kann er aus seinen Fehlern lernen?
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innenpolitik
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2012-07-07T09:29:13+0200
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2012-07-07T09:29:13+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nsu-untersuchungsausschuss-lernt-das-bundesamt-fuer-verfassungsschutz-aus-seinen-fehlern/51161
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Sterbehilfe - Mein Wille geschehe
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Für Bundestagspräsident Norbert Lammert ist es „eines der anspruchvollsten und schwierigsten Gesetzesvorhaben in dieser Wahlperiode“: die Neuregelung der Strebehilfe, über die der Bundestag erstmals am vergangenen Donnerstag debattierte. Im November diesen Jahres werden die Abgeordneten über vier fraktionsübergreifende Anträge abzustimmen haben: Diese reichen von einem pauschalen Verbot jeglicher Sterbehilfe (eingereicht durch die CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg und Thomas Dörflinger) bis zu deren Zulassung, sofern sie nicht kommerziell betrieben wird (Renate Künast, Die Grünen, und Petra Sitte, Die Linke). Die größte Unterstützung genießt der als moderat geltende Gruppenantrag von Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD). Er gestattet die Verabreichung lebensverkürzender Medikamente durch Ärzte, sofern der Tod des Patienten nicht intendiert ist, untersagt aber organisierte Sterbehilfe. Wenn nichts alles trügt, wird es also darauf hinauslaufen, dass Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen untersagt und unter Strafe gestellt werden – selbst wenn dies der wiederholte und ausdrückliche Wunsch des Betroffenen ist. Damit läuft der Bundestag Gefahr, in brachialer Weise das fundamentalste aller Grundrechte zu beschneiden: autonom über das eigene Leben bestimmen zu können – und über den eigenen Tod. Dass es für diesen bizarren Eingriff in die Freiheitsrechte keine rationalen, allgemeingültigen Argumente gibt, sondern hier persönliche Wertehaltungen und religiöse (oder quasireligiöse) Überzeugungen der Allgemeinheit aufgenötigt werden, macht die Sache nur noch schlimmer. Denn irrationale und gefühlige Vorannahmen haben in dieser Debatte nichts zu suchen. Was die Tötung auf Verlangen auf den ersten Blick problematisch macht, ist die Verbindung von Suizid und Tötung durch Dritte. Beginnen wir bei der Selbsttötung: Dass der Selbsttötung überhaupt etwas Verwerfliches anhaftet (Selbst„mord“), verdanken wir dem Christentum. Viele nicht christliche Kulturen haben zum Suizid eine komplett andere Einstellung. In ihnen kann es sogar geboten sein, sich das Leben zu nehmen, etwa aus Gründen der Ehre. Allerdings: Ein Suizidzwang ist genauso verwerflich wie ein Suizidverbot. Es verletzt die Autonomierechte des Individuums. Einen sozialen oder rechtlichen Zwang in Fragen von Leben und Tod darf es nicht geben. Besonders gewitzte Philosophen haben immer wieder versucht, nachzuweisen, dass sich Gegner eines Suizidverbotes in einer Art Selbstwiderspruch verstricken. Nach dem Motto: Mit dem Suizid wird das Subjekt moralischen Handelns zerstört und damit das Menschsein selbst negiert. Kant etwa argumentiert so. Doch hier wird in einer logisch unzulässigen Weise verallgemeinert: Ein individueller Selbstmord ist weder eine Absage an das Leben schlechthin noch an die Idee des moralisch handelnden Subjekts – im Gegenteil. Wenn jedoch der Selbstmord weder verwerflich noch verboten ist, dann kann es auch die Beihilfe dazu nicht sein. Juristen nennen diesen Zusammenhang akzessorisch: das eine folgt aus dem anderen. Das müsste dementsprechend auch für die Tötung auf Verlangen gelten. Tut es aber nicht (vgl. § 216 StGB). Der einzig zulässig Grund dafür ist möglicher Missbrauch: wer soll im Zweifelsfall eine behauptete Tötung auf Verlangen von einem Mord unterscheiden? Hier ist die Rechtssicherheit in Gefahr, und die ist ein hohes Gut. Allerdings ist dieses Argument kein Einwand gegen die Tötung auf Verlangen in Hospizen, durch Ärzte, Vereine oder Organisationen, die an ein festes, überprüftes Regelwerk mit Beratungsgesprächen, Fristen, Zweitgutachtern etc. gebunden sind. Dementsprechend lassen sich Gegner der Tötung auf Verlangen auf solche pragmatischen Fragen gar nicht ein. Ihnen geht es ums Prinzip. Daher ziehen sie den Kern der liberalen Argumentation in Zweifel: die Autonomie der Entscheidung. Der Wunsch nach dem baldigen Tod, so wird dann argumentiert, sei eigentlich keiner, sondern beruhe entweder auf Schmerzen, sozialer Vernachlässigung oder dem Wunsch, niemandem zur Last fallen zu wollen. Keine Frage: Natürlich sind alle sozialen und palliativmedizinischen Maßnahmen zu ergreifen, um Sterbenskranken in den letzten Wochen ihres Lebens die größtmögliche Lebensqualität zu garantieren und neuen Lebensmut zu schenken. Allerdings darf dieses Argument nicht dazu missbraucht werden, den Wunsch nach Selbsttötung durch die Hintertür zu pathologisieren und wegzudiskutieren. Denn es gibt ihn: den wohlüberlegten und autonomen Wunsch nach Selbsttötung. Und den gilt es zu respektieren. Menschen mit Selbsttötungsabsicht pauschal als vernachlässigte Opfer hinzustellen – und sie so ihrer Autonomie zu berauben – ist auch eine Form, ihnen die Würde zu nehmen. Solange Missbrauch ausgeschlossen wird, gibt es kein stringentes Argument gegen die Tötung auf Verlangen. Wenn dem aber so ist, dann leuchtet es nicht ein, weshalb man kommerziellen Anbietern verbieten sollte, entsprechende Einrichtungen zu betreiben. Allein der seltsame Beigeschmack, den die Verbindung von „Tötung“ und „Kommerz“ vielleicht für manche hat, ist kein stichhaltiges Argument, sondern beruht auf Sentiment. Wer sich aus freien Stücken töten möchte, darf dies tun – und er sollte dafür die Hilfe kommerzieller Anbieter in Anspruch nehmen können. Warum denn nicht?
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Alexander Grau
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Kolumne Grauzone: Die Debatte über die Sterbehilfe in Deutschland wird vor allem von religiösen Überzeugungen und persönlichen Befindlichkeiten bestimmt. Dabei sollte doch die autonome Entscheidung über das eigene Leben im Vordergrund stehen. Die Verteidigung eines Grundrechts
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innenpolitik
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2015-07-04T11:10:38+0200
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2015-07-04T11:10:38+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/sterbehilfe-mein-wille-geschehe/59510
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Piraten – Offline-Parteitag gibt sich Wirtschaftsprogrämmchen
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„Willst du mal gedrückt werden?“ Die junge Frau am Eingang der RuhrCongress-Halle lächelt. In ihren Händen hält sie ein Pappschild: „Eine kostenlose Umarmung“. Drinnen sitzen rund 1.800 Piraten, mittendrin: drei Mitglieder mit Stricknadeln zwischen Laptops und Kabeln, in der Mitte türmen sich Wollknäuel. Sie stellen Schals her, um den Bundesparteitag zu verschönern. Die Botschaft: Die Piraten wollen auf ihrem Programmparteitag in Bochum nett sein – und endlich produktiv. Keine Personalquerelen mehr, wie sie zuletzt um den politischen Geschäftsführer Johannes Ponader entbrannt waren. Stattdessen Inhalte: Es sei an der Zeit, „dass wir gemeinsam Politik machen wollen, ohne uns zu beschimpfen, missachten oder ignorieren“, ruft Bernd Schlömer den Teilnehmern zu Beginn des Parteitags zu. Der Parteichef räumt auch eigene Fehler ein – und entschuldigt sich dafür. Die Piraten wolle er als „sozialliberale Kraft der Informationsgesellschaft“ verankert sehen. Große Worte für einen Parteitag, der ein Jahr vor der Bundestagswahl unter dem enormen Druck steht, endlich zu liefern. Wie es überhaupt eine Kluft zwischen Gesagtem und Erreichtem auf diesem Parteitag gibt. [gallery:20 Gründe, Pirat zu werden] Bevor es an die Inhalte geht, stimmen die Piraten nämlich erst in zähen Diskussionen über Strukturfragen ab: die Gliederung des Wahlprogramms etwa. Ein Pirat bittet, eine Frühstückspause zu machen. Ein anderer, eine neue Wahlleitung zu wählen. Der Saal hebt die lilafarbenen Nein-Zettel in die Höhe, Anträge abgelehnt. Immer wieder bricht das Internet zusammen, ehe der WLAN-Zugang steht, vergehen Stunden. Auch die Stromzufuhr stockt. Ein Pressesprecher der Netzpartei verteilt Marzipankartoffeln an die Journalisten. Ein Ruhrpirat twittert, der Parteitag sei „echt zum Abgewöhnen“. Dann die Tagesordnung: Die Piraten entscheiden, in welcher Reihenfolge die Anträge diskutiert werden sollen. Johannes Ponader frohlockt: „Nach nicht einmal zehn Minuten haben wir eine Tagesordnung beschlossen.“ Tatsächlich dauert es bis Nachmittag, ehe es überhaupt um Inhalte geht. Der erste von rund 800 Programmanträgen wird gegen 15 Uhr diskutiert: die Wirtschaft. Ein zermürbender Prozess. Antrag Nummer eins hatte auf Liquid Feedback, der Abstimmungsplattform der Piraten, viel Zustimmung erhalten. Doch die Versammlung lehnt ihn ab. Eine Watsche auch für das Onlinetool: Viele Piraten halten es für ungeeignet. Schon beim Beschluss über die Tagesordnung war Liquid Feedback durchgefallen. Bei der Wirtschaft geht es indessen nur im Schneckentempo voran. Antrag Nummer zwei: Die Berliner Unternehmerin Laura Dornheim bekennt sich darin unter anderem zur Sozialen Marktwirtschaft. Der Saal lehnt den Gesamtantrag ab; stattdessen wird er in Module zerschnitten. Angenommen werden: die Präambel, ein Bekenntnis zu Ökologie und Verbraucherschutz und Globalisierung. Die Piraten unterstützen zudem eine Arbeitsmarktpolitik, die sich vom Streben nach absoluter Vollbeschäftigung „als weder zeitgemäß noch sozial wünschenswert“ verabschiedet. Stattdessen fordern sie einen Mindestlohn, mehr betriebliche Mitbestimmung und die Prüfung des bedingungslosen Grundeinkommens. Nichts dagegen zur Steuerpolitik. Ein dauerhaftes Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft: Fehlanzeige. Eine Position zur Regulierung, zur Subventionspolitik, zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft? Keine Einigung. Ein weiterer Antrag, der von drei Arbeitsgemeinschaften ausgearbeitet worden war, scheitert ebenfalls. Lediglich eine Kurzfassung wird gebilligt. 85 Worte ohne die Präambel. Im Wesentlichen drei Adjektive: Die Piraten werben für eine freiheitliche, gerechte und nachhaltige Ordnung. Es ist der erste kohärente Beschluss des Tages, um kurz nach 16.30 Uhr. Die Piraten haben sich ein Wirtschaftsprogramm gestrickt, das mehr Löcher enthält als die Schals der Truppe mit den Wollknäueln. Seite 2: „Weichgespültes, massenkompatibles Programm“ Die Brandenburger Bundestagskandidatin Anke Domscheit-Berg, die gerade ein grünes Fädchen verarbeitet, ist enttäuscht. Sie hatte sich massiv für die Wirtschaftsanträge eingesetzt. „Ich frage mich, ob die Zwei-Drittel-Mehrheit noch sinnvoll ist.“ Bei den Grünen seien für Parteitagsbeschlüsse beispielsweise nur einfache Mehrheiten nötig, sagte sie. „Darüber sollten wir auch einmal nachdenken.“ Domscheit-Berg ist im Sommer von den Grünen zur Piratenpartei übergetreten. Vizechef Sebastian Nerz dagegen zeigt sich mit den Ergebnissen zufrieden. „Es ist normal, dass eine Partei lange über ihre Grundsätze debattiert.“ Bei FDP und Grünen sei das Wirtschaftsprogramm auch jahrelang diskutiert und immer wieder revidiert worden. Nerz, der früher einmal in der CDU war, fühlt sich eigentlich eher dem freiheitlicheren Wirtschaftsflügel verbunden. Die Beschlüsse gehen aber eher in eine linksliberale Richtung. Nerz sagt, Flügel gebe es in jeder Partei. „Aber dass wir liberal sind, ist Konsens.“ Auch Parteichef Bernd Schlömer, Beamter im Bundesverteidigungsministerium, gilt als Ordoliberaler. Nichts davon findet sich im jetzigen Flicken-Programm wieder. Schlömer und Nerz haben allerdings auch keine eigenen Anträge eingereicht. Die Basis erwartet, dass sich Vorstände aus den Inhalten raushalten. Auch das ist piratig. Der schleswig-holsteinische Abgeordnete Wolfgang Dudda ist da weniger diplomatisch. „So ein weichgespültes, massenkompatibles Programm funktioniert im Wahlkampf nicht.“ Er glaube auch nicht, dass die Piraten ihre Wirtschaftsleitlinien noch weiter ausarbeiten werden. „Ich kenne meine Partei, die doktert nicht mehr herum.“ Dudda hinterfragt auch die Legitimität des Parteitags: „Mich stört, dass hier eine soziale Elite anwesend ist und dass andere nicht teilnehmen dürfen.“ Denn die Kosten für die Anreise nach Bochum muss jedes Parteimitglied selbst tragen. Dudda sagt, die Piraten seien mit diesem Parteitag an ihre Grenzen gestoßen. Weil jeder reden darf, spontane Anträgen zur Geschäftsordnung stellen darf, torpediert das die Beschlussfähigkeit. Und doch haben die Piraten erkannt: Effizienz muss sein. Wie das geht, zeigt Parteichef Schlömer. Am späten Nachmittag tritt er ans Rednerpult. „Sollen wir im Mai 2013 in Neumarkt einen Programmparteitag durchführen oder den Bundesvorstand neu wählen?“ Der Saal sagt: Inhalte. Der Versammlungsleiter schimpft: Der Parteichef hätte seine Frage beantragen müssen. „Das ist Politik“, antwortet Schlömer keck – und verschwindet unter Applaus. Wenn Schlömer ein Gewinner der Effizienz ist, heißt der Verlierer Christopher Lauer. Der Berliner Abgeordnete steht vorm Mikrofon in der Saalmitte, da beantragt ein Pirat, die Debatte zu beenden. Nach 15 Rednern soll Schluss sein. Lauer protestiert. Vergebens: Der Parteitag schneidet ihm das Wort ab. Entscheidungen können manchmal so einfach sein. Hinweis: Eine missverständlich zitierte Aussage von Anke Domscheit-Berg wurde nachträglich korrigiert.
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Kein WLAN, dafür Wirtschaft: Die Piraten wollten auf ihrem Bundesparteitag in Bochum die Löcher in ihrem Programm stopfen. Doch so richtig ist daraus nichts geworden. Zu den wesentlichen Fragen konnten sie sich nicht einigen
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innenpolitik
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2012-11-24T18:22:16+0100
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2012-11-24T18:22:16+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/piraten-bochum-offline-parteitag-gibt-sich-wirtschaftsprograemmchen/52663
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Bundesparteitag - Liebe FDP, so wird das nix
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Eigentlich hätte es so gut aussehen können für die FDP. Nach dem Pannen-Jahr schien es, als könne die Partei in den Umfragen wieder zulegen. Parteichef Philipp Rösler erhielt Rückenwind nach der erfolgreichen Landtagswahl in Niedersachsen – und verhinderte einen Putsch in den eigenen Reihen. Er wirkte souverän, als er dem Rassismus-Vorwurf gegen die FDP einfach den Stöpsel zog. Auch inhaltlich konnten die Liberalen punkten. Auf kuriose Weise bescherte ihnen die Sexismus-Debatte um Rainer Brüderle einen Mitleidsbonus. Schließlich kam ihnen das Thema Homosexualität zupass: Die FDP steht neben der prüden Union als Treiber des Fortschritts da. Die leise Programmarbeit hat Wirkung gezeigt: Von mickrigen zwei Prozent zum Jahreswechsel kletterte die FDP in Umfragen zwischenzeitlich über die Fünf-Prozent-Hürde. Die Vorstandswahlen beim Bundesparteitag am Wochenende in Berlin sollten Rösler nun weiteren Schwung verleihen. Mut machen für das Wahljahr. Daraus wird wohl nichts. Bundeswirtschaftsminister Rösler hat mit seinem Eingriff in den Armutsbericht ein Klischee heraufbeschworen, das an der Partei klebt wie ein Kaugummi an den Schuhen: Es ist jenes von der Partei der Besserverdienenden. Der Partei des herzlosen Neoliberalismus, der sozialen Kälte. Rösler mag sich gedacht haben, seine Arbeit besser verkaufen zu können, wenn er den Hinweis auf die ungleiche Verteilung der Privatvermögen aus dem Bericht streicht. Vielleicht dachte er auch, neoliberales Kernklientel zu überzeugen. Dabei hatte die Partei gerade erst Beweglichkeit bewiesen, als sie sich beim Thema Mindestlohn wenigstens auf die Idee von Lohnuntergrenzen einließ. Sogar Röslers Vorgänger, Außenminister Guido Westerwelle, spricht sich für mehr Solidarität aus: „Drei Euro Stundenlohn hat mit Leistungsgerechtigkeit nichts mehr zu tun“, sagte er. Zudem hatte das FDP-Präsidium am Montag in einem Grundsatzbeschluss ihre Vorstellung der „Sozialen Marktwirtschaft“ skizziert. Das Wort sozial ist darin groß geschrieben. Dieses programmatische Hick-Hack wird aber weder die Gegner noch die Befürworter des Mindestlohns überzeugen. Da es beim Bundesparteitag aber nicht um Inhalte geht, wird das Thema so schnell nicht vom Tisch sein. Stattdessen geht es ums Spitzenpersonal. Seite 2: Rösler könnte gleich zwei Kritiker an seine Seite bekommen Da hat Philipp Rösler ein zweites Problem: Christian Lindner. Der Ex-Generalsekretär wird wohl in den Bundesvorstand zum Stellvertreter Röslers gewählt und damit als Sieger aus dem Parteitag herausgehen. Der Machtkampf zwischen den beiden früheren Weggefährten, der mit dem Rücktritt Lindners vor anderthalb Jahren vorerst beendet war, könnte dann wieder aufflackern. Rösler landet in Beliebtheitsumfragen stets ganz hinten – wie zuletzt im ZDF-Politbarometer. Außerdem wird es am Wochenende zu einem Gerangel um weitere Präsidiumssitze kommen, weil Gesundheitsminister Daniel Bahr seine Kandidatur angekündigt hatte. Um die drei Posten als Beisitzer bewerben sich noch Wolfgang Kubicki und Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel. Der vierte Kandidat könnte derjenige werden, der bei den Wahlen um die drei Stellvertreterposten unterliegt – und dann auf den Beisitzerposten drängt. Doch weder Bahr noch Niebel können gute Beliebtheitswerte aufweisen. Beobachter geben Niebel kaum noch Chancen. Würde Kubicki gewählt, der vor allem mit seinen Attacken gegen die Bundespartei auffällt, hätte Rösler einen weiteren Kritiker an seiner Seite. Wir erinnern uns: Als Stefan Raab in seinem Pro-Sieben-Polittalk sagte, er hoffe, Rösler würden beim Zugucken „nicht die Stäbchen aus der Hand“ fallen, kicherte Kubicki. Ob die FDP nach dem Wochenende ihr Personalproblem gelöst haben wird, ist offen. Die Piraten sollten den Liberalen eine Warnung sein. Die anhaltende Kritik gegen deren Geschäftsführer Johannes Ponader, der auf dem nächsten Parteitag zurücktreten will, stürzte die Piraten in ein Umfragetief: zwei Prozent. Wenn die FDP im Wahlkampf ernst genommen werden will, muss sie geschlossen auftreten. Nicht nur beim Personal, auch beim Programm.
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Petra Sorge
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Auf dem Bundesparteitag will die FDP ihr Personal für einen Aufbruch im Wahljahr wählen. Doch anhaltende Querelen zwischen den Spitzenkandidaten und um die liberale Programmatik könnten den Plan gefährden
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innenpolitik
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2013-03-08T12:38:21+0100
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2013-03-08T12:38:21+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/bundesparteitag-roesler-liebe-fdp-so-wird-das-nix/53780
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Die Schuldenbremse ist nutzlos – Verschuldet euch!
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Im Jahre 1714 veröffentlichte der britische Arzt Bernard de
Mandeville seinen Essay „Fable of the Bees or Private Vices, Public
Benefits“. Darin lobt er die Verschwendungssucht der Könige und
hohen Herrn. Denn deren lasterhaftes Leben habe Arbeit für die
Handwerker und armen Leute geschaffen. Es habe sich somit zugunsten
der allgemeinen Wohlfahrt ausgewirkt – eine Beobachtung, die später
von Adam Smith als das Prinzip der „unsichtbaren Hand“
ausformuliert wurde: Auch der Kaufmann, der nichts anderes
verfolgt, als einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen, maximiert
das gemeine Wohl. Wie viel ärmer wäre Dresden heute, hätte es nicht August den
Starken und seine Mätressen gegeben! Wie viel geringer wären die
Touristenströme Bayerns, hätte nicht Ludwig der Zweite ohne
Rücksicht auf die Staatskasse seine Schlösser gebaut! Und was wäre
aus den Bachs, den Mozarts, aus Haydn oder Beethoven geworden, wenn
nicht die Fürsten, Bischöfe und Reichen der Zeit sich den Luxus
ganzer Orchester und Chöre geleistet hätten – und dies selbst dann,
wenn sie dafür massiv Kredite aufnehmen mussten. [video:Meyers Monolog: „Wowereit ist ein Machtpolitiker“] In den vergangenen sechs Jahren haben die einbehaltenen Gewinne
der deutschen Unternehmen ausgereicht, die eigenen Investitionen
und das deutsche Staatsdefizit zu finanzieren. Vermittelt über die
Banken sind in dieser Zeit die Ersparnisse der privaten Haushalte
Deutschlands vollständig ins Ausland abgeflossen. Denn sie haben
ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die hohen Importe der
mediterranen Länder auf dem Kreditwege finanziert werden konnten.
Diese haben über ihre Verhältnisse gelebt: Denn sie haben
wesentlich mehr Waren und Dienstleistungen verbraucht als
produziert. Umgekehrt lebte Deutschland „unter seinen
Verhältnissen“, weil es wesentlich mehr produziert als verbraucht
und investiert hat. Im Weltmaßstab gibt es einen ähnlichen Kontrast zwischen den USA
und China. Die USA lebten über ihre Verhältnisse, weil sie sehr
viel mehr importiert als exportiert haben, China hingegen aus
umgekehrtem Grund – ähnlich wie Deutschland – unter seinen
Verhältnissen. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum beide Wege positive
und negative Folgen haben können. Sparsam und fleißig zu sein, ist gewiss eine Tugend für den
Einzelnen, über seine Verhältnisse zu leben und hohe Schulden zu
machen, gewiss ein Laster. Aber es ist gefährlich, diese
Tugendlehre auf ganze Staaten zu übertragen. Weil die USA „über ihre Verhältnisse lebten“, waren sie mit
ihren hohen Importüberschüssen eine der kräftigsten „Jobmaschinen“
für die Dritte Welt, insbesondere für Lateinamerika, aber auch für
Asien. Wenn China sich etwas mehr heimischen Konsum, etwas mehr
Luxus gönnte, könnte es ebenfalls eine Jobmaschine werden. Chinas
Exportüberschüsse sind aber genau der Reflex der chinesischen
Tugenden von Fleiß und Sparsamkeit. Weltweit bemühen sich die Regierungen und Notenbanken darum, die
eigene Währung nicht zu stark werden zu lassen. Sie sind angesichts
des Mangels an Arbeitsplätzen daran interessiert, die Exporte zu
erleichtern und die Importe zu erschweren. Die USA versuchen den
Dollar dadurch unter Druck zu setzen, dass ihre Notenbank ihre
Banken zu einem Nullzins mit Liquidität versorgt und lang laufende
Staatsanleihen kauft. Die deutsche Industrie ist froh, dass wegen der
Staatsschuldenkrise der Euro schwächelt. Das verbessert ihre
Exportmöglichkeiten. China verhindert eine Aufwertung des Renminbi
durch enorm hohe Ankäufe von amerikanischen Staatsanleihen. Japan
gibt sich große Mühe, eine weitere Aufwertung des Yen zu
verhindern, um die heimische Konjunktur nicht abzuwürgen. Die
Schweiz mit ihren gesunden Staatsfinanzen und der hohen
Spartätigkeit der eigenen Bevölkerung leidet unter dem Höhenflug
des Schweizer Franken, den sie deshalb an den Euro angekoppelt
hat. Wegen massiver Überschuldung privater und einiger staatlicher
Haushalte ist das internationale Finanzsystem in die Krise geraten.
Das Platzen der „Kreditblase“ in den Jahren 2007 und 2008
offenbarte nur das Dilemma: Kredite waren vielfach nicht mehr voll
werthaltig, weil die Schuldner die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit
überschritten hatten. Die Politik reagierte mit der Devise: „Mehr
Sparen! Zurück zu den altväterlichen Tugenden der Zukunftsvorsorge
durch Fleiß und einfaches Leben.“ Deutschland fordert alle Staaten
des Euroraums auf, es ihm nachzumachen und eine Schuldenbremse in
die Verfassung aufzunehmen. Die Republikaner und die Tea Party
verhindern in den USA, dass der Staat mehr Schulden macht, um die
Konjunktur anzukurbeln und die hohe Arbeitslosigkeit zu vermindern.
In Großbritannien werden die staatlichen Leistungen massiv gekürzt,
um so die Staatsverschuldung zu reduzieren. Lesen Sie auf der nächsten Seite, worauf Schuldenreduzierung
und Währungsschwächung abzielen. Das Zurückfahren der Staatsschulden reduziert die
Gesamtnachfrage, während die Schwächung der eigenen Währung die
Gesamtnachfrage stärkt. Was man will, ist die Sanierung der eigenen
Staatsfinanzen auf Kosten anderer. Im Weltmaßstab sind die Exporte
des einen Landes die Importe eines anderen. Die weltweite Summe der
Leistungsbilanzsalden ist immer null. Die Abwertung der einen
Währung ist die Aufwertung der anderen Währungen. Im weltweiten
Maßstab kann der durch verminderte Staatsschulden verursachte
Nachfrageausfall nicht durch vermehrte Leistungsbilanzüberschüsse
kompensiert werden. Also setzt man auf steigende private
Investitionen, die die geringere Staatsnachfrage kompensieren
sollen. Das allerdings setzt vermehrten privaten Konsum voraus. Den
eigenen Bürgern raten die Politiker aber das Gegenteil: Sie sollen
nicht konsumieren, sondern für das Alter sparen. Die Chinesen
sollen einspringen: Ihnen rät man, eine gesetzliche
Altersrentenversicherung nach dem Vorbild der westlichen Länder ins
Werk zu setzen. Dann, so das Kalkül, wird die Sparquote der
privaten Haushalte Chinas von ihrem gegenwärtigen hohen Wert von 45
Prozent herunterkommen und der Konsum (europäischer Waren?)
steigen. Die Chinesen, darauf läuft das Rezept hinaus, sollen sich
also massiv verschulden, damit wir unsere Schulden drücken
können. Es gab in Deutschland einmal einen Philosophen namens Immanuel
Kant. Auf ihn geht das ethische Prinzip zurück, das wir als
kategorischen Imperativ kennen: „Handle so, dass die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.“ Dem widerspricht die gegenwärtige
Politik. Private Investitionen können auch dadurch stimuliert werden,
dass die Marktzinsen sinken. Das gilt insbesondere für den
Wohnungsbau. Die Immobilienblase in den USA und in den mediterranen
Ländern war Folge der niedrigen Dollar- und Euro-Zinsen. Heute nun
können weder die Euro-, noch die Dollar-, noch die Yen- und auch
nicht die Franken-Zinsen weiter sinken. Denn sie liegen praktisch
schon bei null. Die Zeit, in der Staatsverschuldung zinstreibend
war und damit ein „Crowding-out“ privater Investitionen bewirkte,
ist vorbei. Es sei denn, man schürte die Inflationsangst der Bürger! Diese
ist heute schon erheblich. Dem wackligen Euro entspricht das hohe
Misstrauen in seine Wertbeständigkeit. Viele private
Immobilieninvestitionen sind in Deutschland und überhaupt im
Euroraum durch diese Inflationsangst motiviert. Flucht in die
Sachwerte! Glaubte die Bevölkerung dem Dauerregen politischer
Verlautbarungen über den stabilen Euro, so wären die
Bauinvestitionen im Euroraum erheblich geringer als sie es
tatsächlich sind. Während der Chef der Deutschen Bank verkündet, dass die Banken
genügend kapitalisiert sind (was nur gilt, wenn es keine massive
Eurokrise gibt), überredet der Kreditsachbearbeiter der Bank den
Kunden, die Immobilie mit Kredit zu kaufen, weil diese doch ein
Inflationsschutz sei. Die Konjunktur und damit die Staatsfinanzen
profitieren gegenwärtig von dem Misstrauen in die Stabilität der
Währungen. Aber was für Investitionen sind das? Es sind
Angstinvestitionen, deren volkswirtschaftliche Produktivität gering
ist. Denn sie „lohnen“ sich nur, weil der Investor die Hoffnung auf
eine gute Realrendite aufgegeben hat. Lesen Sie auf der nächsten Seite vom Gedankenfehler der
gegenwärtigen Politik. Die gegenwärtige Politik ist beherrscht von einem
Gedankenfehler: je weniger Staatsverschuldung, desto besser. Das
ist falsch, weil vergessen wird, dass Staatsschulden sich nur
verändern können, wenn sich auch andere Größen ändern. Hat der
Staat weniger Schulden, so haben seine Gläubiger auch weniger
Forderungen an den Staat. Der Schuldenstand des deutschen Fiskus
beläuft sich auf ungefähr das Vier- bis Fünffache des jährlichen
Bruttosozialprodukts. Die expliziten Staatsschulden sind nur die Spitze des Eisbergs.
Viel größer sind die impliziten Staatsschulden in der Form von
Rentenzusagen im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung, in der
Form von anderen künftigen sozialstaatlichen Ansprüchen der Bürger
an den Staat, in der Form von staatlichen Bürgschaften etwa im
Rahmen der Eurorettungsaktionen. Was wäre, wenn all diesen staatlichen Verpflichtungen
staatliches Finanzvermögen in gleicher Höhe gegenüberstünde, wenn
also insofern der Staat nicht verschuldet wäre? Wer wären dann die
Schuldner dieses riesigen hypothetischen Finanzvermögens? Die
private Wirtschaft im Inland? Sicher nicht. Denn bei einem seit
längerer Zeit niedrigen Zinsniveau hat sie ihren
Verschuldungsbedarf voll decken können. Das Ausland? Welches
Ausland? Wenn wir im Sinne des kategorischen Imperativs das
Gedankenexperiment verallgemeinern und auf alle reichen Länder
sowie China ausdehnen, dann sucht auch deren Fiskus jeweils
verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten für das hypothetische
staatliche Finanzvermögen, das bei Schuldenstand von null den
Gegenposten für die staatlichen Verpflichtungen in Höhe eines
Mehrfachen des jährlichen Sozialprodukts ausmacht. Die Schuldner
dieses gigantischen hypothetischen staatlichen Finanzvermögens
müssten also in der Dritten Welt (ohne China und andere
Schwellenländer) beheimatet sein. Somit also Schuldenabbau in der
reichen durch Schuldenaufbau in der Dritten Welt? Die historische Erfahrung lehrt, dass es nicht Kapitalmangel
ist, der das Wohlstandswachstum von armen Ländern behindert. Es ist
die Unfähigkeit, weltmarktreife Industrieprodukte konkurrenzfähig
herzustellen. Dort, wo man sich diese Fähigkeit erwirbt, wie vor
Jahrzehnten zum Beispiel in Südkorea, in Malaysia, partiell auch in
Brasilien oder Mexiko, wie danach in China, ist Kapital schnell zur
Stelle, um das Potenzial zu nutzen. Chinas wirtschaftliches
Wachstum basiert auf seinem Erfolg auf dem Weltmarkt. Die
chinesische Industrie hat gelernt, dass es beim Verkauf von Waren
nicht so sehr auf gute Beziehungen und Bestechung von Einkäufern,
sondern auf gute Qualität, pünktliche Lieferung, günstige Preise
ankommt. Das Erlernen dieser Tugenden hat wesentlich dazu
beigetragen, dass nun auch auf den Inlandsmärkten verstärkt das
Leistungsprinzip gilt, welches die Volkswirtschaft voranbringt. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Erhöhung der
Verschuldung der dritten Welt ihr diese Möglichkeiten nehmen
würde. Der Weltmarkt funktioniert auch als Lehrmeister der
Modernisierung. Aber seine Lektionen wären für die Dritte Welt
wertlos, wenn diese aufgrund der massiven Erhöhung ihrer
Verschuldung gegenüber den reichen Ländern nur geringe Chancen
hätte, die Märkte der reichen Länder mit Waren und Dienstleistungen
zu erschließen. Wer sich aber die Märkte der reichen Länder
erschließt und damit einen dynamischen Wachstumsprozess in Gang
setzt, der fängt an, in großem Stil zu sparen, um für Alter und
Krankheit vorzusorgen. Sobald man sich im erfolgreichen
Aufholprozess befindet, wird man der Tendenz nach zum
Kapitalexporteur, nicht zum Kapitalimporteur. Somit besteht in der Dritten Welt kein Verschuldungsbedarf, der
auch nur entfernt an die hypothetischen staatlichen
Vermögensbestände der reichen Länder heranreichen würde. Mehr noch:
Eine massive Verschuldung der Dritten Welt wäre die eigentliche
Katastrophe und würde sie auf Dauer an die Armut fesseln. Es geht somit nicht ohne hohe Staatsverschuldung in den reichen
Ländern. Die private Wirtschaft dieser Länder kann nicht so viel
Realkapital gebrauchen, dass dem Vorsorgewunsch und dem
Vererbungswunsch der Menschen durch Verschuldung der privaten
Wirtschaft voll entsprochen werden könnte. Der moderne Sozialstaat
und die private Vorsorge für das Alter und die Kinder generieren
derart hohe individuelle Ansprüche an zukünftige Auszahlungen, dass
diese nicht allein von der produzierenden Privatwirtschaft
versprochen werden können. Der Staat muss durch seine Verschuldung
die Lücke zwischen den gewünschten künftigen Zahlungsansprüchen der
Bürger und der Kapitalbindung in der privaten Wirtschaft schließen.
Tut er das nicht, dann ist Vorsorge für die Bürger und durch die
Bürger im gewünschten Ausmaß nicht mehr möglich. Die mediterranen Euroländer können das Vertrauen der
Kapitalmärkte nur zurückgewinnen, wenn sie ihre
Leistungsbilanzdefizite abbauen, am besten in Exportüberschüsse
verwandeln. Dies wäre das Signal, dass sie nicht über ihre
Verhältnisse leben. Dann muss aber jemand anderes seine
Leistungsbilanzüberschüsse abbauen. Da auch die USA ihr
Leistungsbilanzdefizit vermindern wollen, da China zur Stimulierung
der chinesischen Beschäftigung seine Leistungsbilanz bis auf
Weiteres stark positiv halten will, wird es dem Euroraum als Ganzem
schwerfallen, seine Leistungsbilanz zu verbessern. Also können die
Südländer des Euroraums ihre Leistungsbilanz nur verbessern, wenn
die Nordländer des Euroraums ihre Leistungsbilanzüberschüsse
gleichzeitig vermindern. Aber ein Land wie Deutschland ist bei der gegenwärtigen Politik
des Abbaus der Staatsverschuldung auf den hohen
Leistungsbilanzüberschuss angewiesen, wenn es seinen gegenwärtig
hohen Beschäftigungsstand aufrechterhalten will. Die heimischen
privaten Investitionen können die hohe Spartätigkeit der Deutschen
nicht absorbieren, selbst dann nicht, wenn es die beobachtete
Flucht in die Sachwerte gibt. Es gibt damit nur drei Wege. Erstens: Entweder die Eurorettung
scheitert, weil die Südländer ihre Leistungsbilanzdefizite nicht
abbauen. Oder zweitens: Die Leistungsbilanz Deutschlands reduziert
sich drastisch, indem man in eine Absatz- und damit
Beschäftigungskrise hineinrutscht, da die Südländer sehr viel
weniger deutsche Waren importieren. Wir können dies das Szenario
der aus den Südländern „importierten Depression“ nennen. Oder drittens: Deutschland stimuliert die heimische Nachfrage
durch Senkung der Steuern und Erhöhung der Staatsausgaben und baut
damit den Exportüberschuss durch Wachstumsstimulation ab, die dann
den Südstaaten des Euroraums erlaubt, ihre Importüberschüsse
abzubauen, ohne ganz Europa in eine Depression zu führen. Dies wäre
das Szenario der „exportierten Prosperität“. Das „Laster“ der
deutschen Staatsverschuldung erlaubte dann den schwächeren
Euroländern, dem „Tugendpfad“ der fiskalischen Konsolidierung zu
folgen. Carl Christian von Weizsäcker gehört zu Deutschlands
führenden Wettbewerbstheoretikern. Er lebt und arbeitet in
Bonn
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Nur Sparen ist Unsinn. Höhere Staatsdefizite würden nicht nur Deutschland nützen, sondern auch den ärmeren Euroländern im Mittelmeerraum – ein Plädoyer
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wirtschaft
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2011-10-19T12:43:09+0200
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2011-10-19T12:43:09+0200
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https://www.cicero.de//wirtschaft/verschuldet-euch/46204
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Politische Esskultur - „Den Weg des Beherbergungsverbots gehe ich nicht mit“ | Cicero Online
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Christoph Minhoff diskutiert mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, und dem Leiter der Arbovirologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, Jonas Schmidt-Chanasit
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video
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https://www.cicero.de//kultur/kuechenkabniett-michael-mueller-jonas-schmidt-chanasit-sponsored-video
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Israel - Oberstes Gericht berät über Justizumbau
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Israels Oberstes Gericht hat mit Spannung erwartete Beratungen über einen höchst umstrittenen Justizumbau der rechts-religiösen Regierung begonnen. Am Dienstag kamen erstmals in der Geschichte des Landes alle 15 Richter zusammen, um über acht Petitionen gegen eine jüngst verabschiedete Grundgesetzänderung zu beraten. Wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist, ist noch unklar. Es wird erwartet, dass die Beratungen mehrere Wochen oder Monate dauern könnten. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte Ende Juli die Änderung verabschiedet, die dem Obersten Gericht die Möglichkeit nimmt, gegen „unangemessene“ Entscheidungen der Regierung, des Ministerpräsidenten oder einzelner Minister vorzugehen. Sie ist Teil eines umfassenden Gesetzesvorhabens zur Justizreform. Seit Jahresbeginn spalten die Pläne weite Teile der israelischen Gesellschaft. Am Montagabend gingen erneut Zehntausende Menschen gegen das Vorhaben auf die Straßen. Kritiker stufen es als Gefahr für die Gewaltenteilung und damit Israels Demokratie ein. Netanjahus Regierung argumentiert, das Gericht sei in Israel zu mächtig und mische sich zu stark in politische Fragen ein. Mehr zum Thema Israel: In Israels Geschichte wurde bisher noch nie ein Grundgesetz oder eine Änderung eines Grundgesetzes aufgehoben. Sollte dies nun geschehen und die Regierung die Entscheidung nicht akzeptieren, droht dem Land eine Staatskrise. Eine solche Entscheidung des Gerichts wäre auch nicht unumstritten. Befürworter des Gesetzesvorhabens argumentieren, den Richtern fehle die Befugnis, über Änderungen von Grundgesetzen zu entscheiden, da sie – anders als Abgeordnete oder Minister – nicht direkt vom Volk gewählt werden. Justizminister Jariv Levin sagte vor der Anhörung, schon die Diskussion über die Möglichkeit der Aufhebung eines Grundgesetzes füge der Demokratie einen „fatalen Schaden“ zu. Quelle: dpa
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Cicero-Redaktion
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Israel stehen entscheidende Wochen bevor: Kippt das Oberste Gericht ein jüngst von der Regierung verabschiedetes Gesetz, das die Macht eben dieses Gerichts beschränken soll? Sorgen vor einer Staatskrise wachsen.
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[
"Israel",
"Benjamin Netanjahu"
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außenpolitik
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2023-09-12T12:00:31+0200
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2023-09-12T12:00:31+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/israel-oberstes-gericht-berat-uber-justizumbau
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AfD - Eine antidemokratische Partei
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„Wir werden sie jagen!“ – Wer sich für das Verhältnis der AfD zur Demokratie interessiert, muss nicht viel weiter schauen, als auf die Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland nach der Bundestagswahl 2017, um die Verachtung für das demokratische Miteinander zu erkennen. Solche Aussagen sind in der AfD keine Seltenheit, sondern gehören zum ewigen Spiel aus Tabubruch und Relativierung. Doch obwohl die Partei immer offener demokratiefeindlich auftritt und der faschistoide Flügel rund um Bjorn Höcke sich in parteiinternen Machtfragen durchsetzt, wird ihnen in der öffentlichen Debatte immer weiter eine Bühne geboten mit der Begründung, dass sie schließlich demokratisch gewählt ist. Doch ist sie dadurch automatisch eine demokratische Partei? Wer den Wahlerfolg zum Gradmesser für die demokratische Ausrichtung einer Partei macht, ignoriert nicht nur die Lehren der deutschen Geschichte. Denn diese zeigt deutlich, dass es den Feinden der Demokratie möglich ist, sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Er reduziert die Demokratie auch auf ein formales Prinzip, ein Verfahren zur kollektiven Entscheidungsfindung. Doch Demokratie, im pluralistischen Sinne, bedeutet mehr als geheime, freie und gleiche Wahlen. Sie umfasst die universellen Menschenrechte, die Werte der Freiheit und Gleichheit, den Schutz des Individuums durch die Bürgerrechte. Also all das, was die Rechtsextremen verachten und bekämpfen. Dieser grundsätzliche Widerspruch der AfD zu einem demokratischen Miteinander wird dadurch überdeckt, dass sie selbst den Begriff der Demokratie immer wieder zum Mittelpunkt ihrer Agitation macht, sich sogar zu ihrer letzten Verteidigerin erklärt. Doch im Zentrum ihrer Vorstellung von Demokratie stehen dabei nicht politische Subjekte, sondern die Kategorie „Volk“ im kollektivistischen und essentialistischen Sinne. Statt mündigen Bürgern mit unterschiedlichen Meinungen und Widersprüchen, die in einer lebendigen Demokratie unumgänglich sind, wird ein homogenes Volk imaginiert, das aufgrund einer tatsächlich oder vermeintlich geteilten Abstammung oder Kultur ein identisches Interesse habe. Unabhängig von tatsächlichen Wahlergebnissen sind rechte Akteure ihrer eigenen Wahrnehmung nach in der Lage, diesen kollektiven Willen zum Ausdruck zu bringen. Exemplarisch dafür steht der bei Pegida oft skandierte Spruch „Wir sind das Volk!“, der mehr über das Selbstbild der Rechten als die realen Mehrheitsverhältnisse aussagt. Dort, wo sich das angeblich einheitliche Interesse des Volkes nicht an den Wahlurnen widerspiegelt, müssen Verschwörungstheorien und fremde Mächte, die Lügenpresse oder antisemitische Feindbilder wie George Soros herhalten, die das Volk hinters Licht führen und vom richtigen Weg abbringen. Dieses völkische Demokratieverständnis funktioniert nur durch Abgrenzung – nach außen gegenüber dem Fremden und nach innen gegenüber den Saboteuren. Wer dabei zum Verräter oder zum Fremden gemacht wird, ist keine Frage der Vernunft, sondern der irrationalen Fantasie. Wer heute noch dazu gehört, kann morgen auf der anderen Seite stehen. Doch in beiden Fällen handelt es sich nicht um Mitbewerber oder auch Gegner im demokratischen Sinne, sondern um Feinde, die unschädlich gemacht werden müssen. Damit ordnet das Demokratieverständnis der AfD das Individuum dem völkischen Kollektiv unter, richtet sich gegen Universalismus, Aufklärung und Vernunft und somit gegen den Kern einer pluralistischen Demokratie. Also auch gegen das Demokratieprinzip, das im Grundgesetz festgeschrieben ist. Denn dort steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und nicht nur die des Deutschen, auch wenn das nicht nur die AfD immer wieder zu vergessen scheint. Wer diese Demokratie verteidigen will, muss damit anfangen, die AfD als das zu benennen, was sie ist: nicht einfach nur eine undemokratische Partei, denn das Problem liegt nicht in ihrer inneren Organisationsstruktur. Sondern eine antidemokratische Partei, die mit den Worten des Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn das Ziel der „Abschaffung der Fundamente, die es den Menschen ermöglichen, in Sicherheit miteinander im pluralistischen Sinne uneins sein zu dürfen“ verfolgt. Was zunächst wie eine reine Begriffsdebatte wirken mag, geht tiefer: Es geht um die Frage, wie wir mit der AfD umgehen. Die Erkenntnis, dass die AfD eine antidemokratische Partei ist, muss die Grundlage dafür sein, dass wir verhindern, dass sie zu einer normalen Teilnehmerin am demokratischen Diskurs wird. Denn genau auf die Enttabuisierung ihrer menschenfeindlichen Positionen zielt sie ab. Sie bezieht sich dabei auf die Strategien der „Neuen Rechten“, die sich nach dem Scheitern des Einzugs der NPD in den Bundestag in Abgrenzung zu gewaltbereiten Nazigruppen auf das Erlangen der kulturellen Hegemonie fokussierten, sich also dem „Kampf um die Köpfe“ widmeten. Wenn ein Vertreter der AfD mal wieder in einer Talkshow sitzt und von der Islamisierung des Abendlandes oder der linken Meinungsdiktatur fabuliert, gelingt es ihm jedes Mal ein bisschen weiter die Deutung darüber zu gewinnen, was in einer Demokratie zur Diskussion gestellt werden kann. So verschieben sich die Grenzen des Sagbaren. Und damit auch die des Machbaren. Der dankbarste Partner der AfD ist dabei ein falsches Verständnis von Meinungsfreiheit und Neutralität. Die Rechten haben die Meinungsfreiheit zu einem Freibrief für antidemokratische Positionen umgedeutet, der es einem erlauben soll, anderen Menschen ohne Widerspruch ihre grundlegendsten Rechte abzusprechen. Unterstützt wird diese Sinnentleerung demokratischer Freiheiten, wenn auch meistens unwillentlich, durch die verbreitete Haltung, dass man auf die Angriffe auf die Demokratie aufgrund der demokratischen Wahl der AfD möglichst „neutral und fair“ reagieren müsse. Eines der letzten Beispiele dafür war eine Sendung von „hart aber fair“ zum Mord an Walter Lübcke mit dem AfD-Politiker Uwe Junge. Während der Sendung wirkte es immer wieder so, als wolle man von Seiten der Redaktion und des Moderators unbedingt den Eindruck verhindern, dass Junge für die Positionen der AfD angeklagt wird. Dabei wäre das eigentlich der einzige sinnvolle Grund, einen Politiker der Partei, die seit Jahren die ideologische Rechtfertigung für rechtsextreme Gewalt bietet, in so eine Runde einzuladen. Ausschlaggebend ist die Angst, die AfD könne sich als Opfer darstellen. Das Problem: das tut sie so oder so. Der Opfermythos ist zentraler Bestandteil rechter Ideologie und nicht Reaktion auf tatsächliche Erfahrungen. Der Versuch, die AfD möglichst fair zu behandeln, führt nicht dazu, dass sie die Opferrolle verlässt, doch er ermöglicht Rechtsextremen ihre Position immer wieder als Teil des demokratischen Spektrums darzustellen. Neutralität wird dabei zum moralischen Relativismus, der nicht mehr in der Lage ist, den Unterschied zwischen demokratischen und antidemokratischen Positionen aufzuzeigen. Der Hass auf Geflüchtete, Muslimas oder Homosexuelle wird zu einer Meinung unter vielen. Doch bei Grundfragen des demokratischen Miteinanders, beim Angriff auf das Prinzip der Freiheit und Gleichheit selbst, kann es keine Neutralität geben. Es liegt an uns allen, klare Haltung zu beziehen. Denn so sehr es die Aufgabe von Politikern und Journalisten ist, der Enttabuisierung der Rechtsextremen entgegen zu wirken, ist am Ende die gesamte Gesellschaft gefragt, die Demokratie zu verteidigen. Dieser Text ist damit vor allem ein Appell an alle, denen das demokratische Zusammenleben am Herzen liegt. Beim Elternabend, in der Umkleidekabine, bei der Podiumsdiskussion, im Betrieb oder im Klassenzimmer – dort wo rechte Hetze unwidersprochen bleibt, setzt sie sich fest. Um das zu verhindern, müssen wir antidemokratische Positionen als solche benennen, den Hetzern der AfD ihre Bühnen entziehen und Mehrheiten für eine universalistische Politik mobilisieren. Damit Menschenfeindlichkeit niemals zur Normalität wird. Vergangene Woche trendete auf Twitter der Hashtag #AfDgehoertnichtzuDeutschland. Das haben wir bei Cicero Online zum Anlass genommen mal nachzufragen, ob das wirklich so ist: Sollte man demokratisch gewählte Parteien als undemokratisch bezeichnen? Auf diesen Contra-Artikel hat Phillip Amthor (CDU), Abgeordneter des Bundestages, geantwortet.
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Ricarda Lang
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Die Rhetorik der AfD ist ein ewiges Spiel aus Tabubruch und Relativierung. Der Umstand, dass die AfD durch Wahlen legitimiert ist, mache sie noch lange nicht demokratisch, schreibt Ricarda Lang, Vorsitzende der Grünen Jugend
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"AfD",
"Björn Höcke",
"Alexander Gauland",
"Demokratie"
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innenpolitik
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2019-07-12T15:23:32+0200
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2019-07-12T15:23:32+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/afd-bjoern-hoecke-alexander-gauland-demokratie
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Ali Ertan Toprak im Gespräch mit Alexander Marguier - Cicero Podcast Politik: „Wir verlieren unsere Jugend an die Islamisten“
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Die Empörung ist groß, Politiker aller Couleur mahnen jetzt wieder „harte Konsequenzen“ an: Seit den islamistischen Kundgebungen in Hamburg – zuletzt am vorigen Wochenende – wird einmal mehr deutlich, dass Deutschland ein Problem mit dem radikalen Islam hat. Doch wenn etwa in der Hansestadt öffentlich und ohne Scheu ein „Kalifat“ gefordert wird, dann kommt diese Entwicklung keineswegs überraschend. Denn schon seit Jahren machen muslimische Scharfmacher eine Front auf gegenüber dem liberalen Rechtsstaat – und die Kultur des Wegschauens in vielen Medien und bei weiten Teilen der Politik dürfte sie in ihrem Machtanspruch bestärkt haben. Verschärft wird die daraus erwachsende Gefahr durch die Tatsache, dass Islamisten inzwischen auf popkulturelle Aufhübschungen ihrer Inhalte setzen, die bei vielen Jugendlichen gut ankommen. Zudem nutzen sie – so auch der Hauptorganisator der Hamburger Kundgebungen – konsequent Verbreitungskanäle wie TikTok, um das Interesse und die Sympathien insbesondere bei Heranwachsenden zu gewinnen. Im Podcast mit Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier erklärt Ali Ertan Toprak die Hintergründe der aktuellen Islamisten-Aufmärsche und beschreibt die Blindheit des Staates gegenüber religiösen Radikalen. Toprak ist seit vielen Jahren Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland und Ehrenpräsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland. Der frühere Grüne ist ein aufmerksamer und kundiger Beobachter der islamistischen Szene in Deutschland; im Gespräch berichtet er davon, wie er schon seit Jahren vor einer Ausbreitung des Islamismus in der Bundesrepublik warnt, ohne damit auf großes Interesse in der Politik gestoßen zu sein. Die derzeitigen politischen Reaktionen auf die von einer Gruppierung namens „Muslim Interaktiv“ organisierten Kundgebungen hält Toprak denn auch für blanke Heuchelei. Das Gespräch wurde am 30. April 2024 aufgezeichnet. Sie können den Podcast jetzt hier – klicken Sie dazu „Inhalte aktivieren“ – hören, oder auch auf allen Podcast-Portalen. Sie sind interessiert an weiteren Themen und noch kein Abonnent von Cicero Plus? Testen Sie uns, gratis für 30 Tage. Mehr Podcast-Episoden:
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Alexander Marguier
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Die jüngsten Aufmärsche radikaler Muslime in Hamburg machen deutlich: Deutschland hat ein Islamismus-Problem. Im Podcast mit Alexander Marguier spricht Ali Ertan Toprak über die Pläne der Kalifats-Propagandisten.
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[
"Podcast",
"Islamismus",
"Islam",
"Scharia",
"Kalifat"
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2024-05-02T09:41:07+0200
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2024-05-02T09:41:07+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/ali-ertan-toprak-cicero-podcast-islamismus-kalifat-hamburg
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NSU-Prozess - Öffentlichkeit als Farce
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Schlimmer hätte es eigentlich nicht mehr kommen können. Fast zwei Monate drehte sich die NSU-Berichterstattung um sich selbst. Teure Sendeminuten widmeten sich der Platzvergabe im Münchner Oberlandesgericht – und nicht etwa den Mordopfern, den Untersuchungsausschüssen, dem strukturellen Rechtsextremismus. Doch viel ekelhafter als die Nichtbeachtung dieser Informationen sind andere Effekte, die sich jetzt, da das Los entschieden hat, einstellen könnten: unselige Allianzbildungen und Marktmechanismen. Das unselige Akkreditierungsverfahren beim Münchner Gericht hat dazu geführt, dass ein Platz im Saal ein knappes Gut ist. Das steht im Widerspruch zu allen sonstigen journalistischen Prinzipien: Informationen sind frei, bei Großereignissen gibt es so etwas wie einen Ausschluss von Presse nicht – notfalls hilft den Zeitungsreportern die Live-Übertragung im Fernsehen.[[nid:54309]] Und, wie es in der Marktwirtschaft so üblich ist: Wenn Güter knapp werden, steigt ihr Preis. Der Medien-Hype um Akkreditierung hat diesen Preis noch weiter nach oben getrieben. Schließlich wurde auch bei solchen Publikationsorganen die Nachfrage geweckt, die sich in der ersten Runde – dem Windhundverfahren – vielleicht noch gar nicht für einen Platz interessiert hatten. Was dann passierte, war ein geradezu peinliches Geschachere, wie auf einem Basar. Zunächst warfen die Verlage und Fernsehsender alles ins Rennen, was sich separat akkreditieren ließ: die ARD-Anstalten schickten jeden Regionalsender, der Süddeutsche Verlag trennte fein säuberlich nach Print-, Online- und Magazin-Abteilung und siegte schließlich mit dem SZ Magazin. Gruner + Jahr schickte nicht nur sein politisches Flaggschiff „Stern“ ins Rennen, sondern auch die glückliche Brigitte. So muss man übrigens auch die erfolgreiche Teilnahme von Hallo München an diesem Platzwettbewerb werten: Das schmale Anzeigenblatt gehört zur Mediengruppe Münchner Merkur/tz und damit zum mächtigen Verlagskonglomerat des Zeitungsverlegers Dirk Ippen. Hallo München wird kaum allumfassend berichten – wohl aber jemand, der alle anderen Organe des Verlags versorgt. Wurde in der ersten Runde noch Solidarität mit den türkischen Medien vorgetäuscht, wurde in der zweiten Runde getrickst und geschoben. Da wurden Ellenbogen ausgefahren, da wurde geheuchelt. Es gewann der, der sich am besten in möglichst viele Einzelpublikationen zergliederte. So etwa Al Jazeera: Der arabische Nachrichtensender hat sein Büro in Istanbul für die Untergruppe „Auf Türkisch publizierende Medien“ angemeldet – und wurde gezogen. So wie Großkonzerne eine Briefkastenfirma auf den Virgin Islands gründen, um Steuern zu sparen, hätte theoretisch auch die FAZ ihre Chancen erhöhen können, indem sie ihren Istanbuler Korrespondent in den türkischen Topf schmuggelt. Nächste Seite: Das ist zutiefst ungerecht Das ist zutiefst ungerecht und möglicherweise sogar eine Marktverzerrung. Die Dummen waren die Ehrlichen. Mitarbeiter der Nürnberger Nachrichten lästerten bei Facebook, der Olympia Verlag, in dem die Zeitung erscheint, hätte ja dann auch all seine anderen Publikationen ins Rennen schicken können: das Fußball-Blatt Kicker, die Taucher-Zeitschrift Unterwasser oder das Anzeigenblatt Sonntagsblitz. Warum nicht auch alle Lokal- und Außenausgaben der Hauptpublikation? Oder die Mitarbeiterzeitung? Absurd. Für Nürnberg, wo die NSU-Mordserie mit der Erschießung von Enver Şimşek begann, wird nun niemand aus dem Gerichtssaal berichten. Es könnte sogar passieren, dass Nischenmedien, denen das Los hold war, ihren Platz meistbietend verticken, wenn sich das erste Interesse gelegt hat. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wird sicher alles tun, um in diesen Gerichtssaal zu kommen. Scheckbuchjournalismus? Drinnen schildern Zeugen ihre Qualen, draußen werden Stühle versteigert? Unappetitlich, aber nicht undenkbar.[[nid:54309]] Die Dummen sind schließlich auch diejenigen, die weder mit zig Sonderpublikationen antreten konnten, noch Geld für derartige Spielchen haben. Die echten Experten in dem Themenfeld zum Beispiel – beim Tagesspiegel ist das etwa Frank Jansen, preisgekrönter Langzeitrechercheur im rechten Milieu – oder die linksalternative Berliner Tageszeitung, die nicht nur durch ihre andere Berichterstattung auffällt, sondern im ersten Durchgang den ersten Platz belegte und nun übergangen wurde. Sie alle werden sich mit Von-der-Stange-Meldungen der Nachrichtenagentur dpa begnügen müssen. Die taz will das nicht hinnehmen, hat Chefin Ines Pohl klar angekündigt. Die Zeitung prüft gemeinsam mit der FAZ und der Welt eine Klage vorm Bundesverfassungsgericht. Auch beim Tagesspiegel wird darüber nachgedacht. Eine Klage wäre richtig. Auch, wenn damit weitere Wochen mit unsäglichen Berichten – wie auch dieser hier einer ist – über den Medienrummel verstreichen. Die mediale Deformation, die Gerichtspräsident Karl Huber bei der Verlosung in München am Montag noch beklagt hatte, hat er allerdings selbst zu verantworten. Denn es gäbe eine so einfache Lösung, die Farce zu beenden: den Prozess endlich für eine Videoübertragung zu öffnen.
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Petra Sorge
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Hallo München und Brigitte drin, Süddeutsche und FAZ draußen. Besonders ekelhaft ist das peinliche Geschachere um die Plätze, sind unselige Allianzbildungen und Marktmechanismen im Vorfeld des NSU-Prozesses
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innenpolitik
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2013-04-30T14:02:40+0200
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2013-04-30T14:02:40+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/nsu-losverfahren-oeffentlichkeit-als-farce/54332
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Bundespräsident – Wie geht es weiter in der Causa Wulff?
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Um den Kredit geht es längst nicht mehr – auch wenn noch immer
nicht klar ist, ob Christian Wulff als damaliger niedersächsischer
Regierungschef gegen das Ministergesetz verstoßen hat. Auch gegen
seinen ehemaligen Sprecher Olaf Glaeseker wurde inzwischen wegen
Urlaubsaufenthalten bei einem befreundeten Unternehmer Anzeige
erstattet. Die Staatsanwaltschaft überprüft, ob ein Anfangsverdacht
der Vorteilsnahme besteht. Für Wulff noch gefährlicher ist aktuell
der Vorwurf, er habe in die Pressefreiheit eingegriffen. Nachdem
am Montag bekannt geworden war, dass Wulff versucht hatte,
die „Bild“-Zeitung an der Veröffentlichung eines Artikels zu
hindern, melden sich jetzt weitere Journalisten mit dem Vorwurf,
Wulff habe auch sie bei kritischen Artikeln bedrängt. Wie schwer wiegt der Versuch des Staatsoberhaupts, ihm
unangenehme Berichterstattung zu verhindern? Die Pressefreiheit gehört zu den zentralen Werten der Demokratie
und ist im Grundgesetz verankert. Aufgabe des Bundespräsidenten ist
es, diesen Wert nicht nur in Sonntagsreden zu propagieren, sondern
auch in seinem eigenen Handeln zu respektieren. Schon die
Intervention gegen Recherchen der „Bild“-Zeitung wegen seines
Hauskredits wirft ein schlechtes Licht auf den Amtsinhaber. Doch
Wulff hat nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten auch in weiteren
Fällen versucht, Berichte zu verhindern. Damit ist ihm die
erklärende Ausrede verbaut, er habe in einem Einzelfall im Eifer
des Gefechts die Nerven verloren. Das einhellig vernichtende Urteil
der Kommentatoren über den Versuch der Einflussnahme hängt sicher
auch damit zusammen, dass die Presse die Voraussetzungen ihrer
Arbeit grundsätzlich verteidigt und solch einen Regelverstoß nicht
tolerieren kann. Von wem hängt es ab, wie lange Christian Wulff noch im
Amt bleibt? Juristisch gesehen kann er allein darüber entscheiden, ob er
weitermacht. Auch sein Vorgänger Horst Köhler war ja aus eigenem
Antrieb zurückgetreten. Das Grundgesetz (Artikel 61) sieht nur die
Möglichkeit vor, dass das Bundesverfassungsgericht den
Bundespräsidenten absetzt. Allerdings müsste eine
Zweidrittelmehrheit von Bundestag oder Bundesrat das Karlsruher
Gericht zu einem Verfahren auffordern, wenn der Präsident in
gravierender Weise gegen Bundesgesetze oder das Grundgesetz
verstoßen hätte, was keine ernst zu nehmende politische Kraft
behauptet. Allerdings dürfte es für Wulff politisch sehr eng
werden, wenn die Koalition und vor allem die Bundeskanzlerin von
ihm abrücken. Das auffällige Schweigen wichtiger
Koalitionspolitiker zu den jüngsten Vorwürfen ist kein gutes
Zeichen für das Staatsoberhaupt. Wer hat gegenwärtig Interesse an einem Rücktritt des
Bundespräsidenten? Für Angela Merkel würde es eine Niederlage bedeuten, wenn
innerhalb eines Jahres der zweite von ihr erkorene Bundespräsident
scheitern würde. Zudem ist die Mehrheit von Schwarz-Gelb in der
Bundesversammlung nur noch sehr knapp. Schon Wulff war erst im
dritten Wahlgang erfolgreich, das Risiko wäre hoch, mit einem neuen
Kandidaten des bürgerlichen Blocks zu scheitern. Auf der anderen
Seite kann die CDU-Chefin kein Interesse daran haben, dass die
Kritik an Wulff die Chancen der Union in den Landtagswahlen von
Schleswig-Holstein im Mai und in Niedersachsen im Januar 2013
schmälert. Auch die Möglichkeit der Kanzlerin, nach einem Wulff-Rücktritt
einen überparteilichen Kandidaten vorzuschlagen. ist nicht ohne
Tücken: Da jede Präsidentenwahl immer auch als politisches Signal
gedeutet wird, müsste die FDP dies als faktische Aufkündigung der
Koalition auffassen. Dazu kommt: Joachim Gauck, der als rot-grüner
Kandidat bei der letzten Wahl auch im bürgerlichen Lager Anhänger
fand, dürfte es diesmal schwer haben. Seine damaligen Unterstützer
nehmen ihm übel, dass er die Kritiker des Finanzkapitalismus als
romantische Spinner abtat. Ein natürlicher neuer Kandidat von SPD und Grünen ist noch nicht
in Sicht. Beide Parteien haben ohnehin ein Interesse daran, dass
sich die Affäre um Wulff länger hinzieht. Sie rechnen damit, dass
sie nach dem erwarteten Wahlsieg in Schleswig-Holstein eine sichere
Mehrheit in der Bundesversammlung haben und nicht auf Stimmen etwa
der Freien Wähler oder der Linkspartei angewiesen wären. Wie sind gegenwärtig die Mehrheitsverhältnisse in der
Bundesversammlung? Nach einem Rücktritt Wulffs müsste die Bundesversammlung
zusammentreten, spätestens nach 30 Tagen, einberufen von
Bundestagspräsident Norbert Lammert. Die Bundesversammlung setzt
sich zur Hälfte aus allen Bundestagsabgeordneten zusammen und zur
anderen Hälfte aus Landtagsabgesandten – darunter können auch
Personen sein, die nicht einem Landesparlament angehören, aber dort
gewählt wurden. Die Mehrheitsverhältnisse sind knapp: Mindestens
621 der 1240 Stimmen braucht ein Kandidat in den ersten beiden
Wahlgängen, die schwarz-gelbe Koalition hat nach unterschiedlichen
Berechnungen derzeit 622 bis 624 Stimmen. Das hängt damit zusammen,
dass vor der Wahl der Abgesandten der Landtage nicht klar ist, auf
welche Partei am Ende der jeweils letzte zu vergebende Sitz des
Landtagskontingents fällt. So haben in NRW sowohl CDU als auch SPD
rechnerisch Anspruch auf diesen Sitz, in Baden-Württemberg CDU und
Grüne. Der Onlinedienst „election.de“ rechnet mit 485 bis 487
Unions-Vertretern und 137 FDP-Mitgliedern, die Fachleute von
„wahlrecht.de“ teilen der Union 486 bis 488, den Liberalen 136
Mitglieder der Bundesversammlung zu. Das ist möglicherweise zu
knapp für einen schwarz-gelben Kandidaten, denn es ist immer mit
Abweichlern oder erkrankten Mitgliedern zu rechnen. Die SPD käme
derzeit auf 329 oder 330 Mitglieder, die Grünen würden 146 oder
147, die Linke 125 Vertreter stellen. Dazu kommen zehn Freie Wähler
aus Bayern, drei NPD-Vertreter, zwei Berliner Piraten und ein
Mitglied vom Südschleswigschen Wählerverband. Verletzte die Veröffentlichung von Wulffs Nachricht an
„Bild“-Chef Diekmann das Persönlichkeitsrecht des
Bundespräsidenten? Menschen verkehren in einer vertraulichen Sphäre, auch als
Bundespräsident und Chefredakteur. Wer nichtöffentlich Gesagtes
heimlich aufzeichnet oder solche Aufnahmen anderen zugänglich
macht, kann bestraft werden. Allerdings muss unterschieden werden.
Wer auf eine Mailbox spricht, weiß, dass er auf Band spricht – und
er weiß auch, dass andere es hören könnten. Der Schutz des
Strafrechts entfällt damit. Was bleibt, sind die
Persönlichkeitsrechte. Danach soll Vertrauliches vertraulich
bleiben können. Theoretisch wäre also denkbar, dass Wulff
juristisch gegen die Weitergabe seiner Mailbox-Ansage vorgeht.
Richter würden allerdings die Pressefreiheit dagegenhalten. Medien
dürfen berichten, wenn sich ein Staatsoberhaupt kritikwürdig
verhält – und sie müssen ihre Vorwürfe belegen dürfen. Klagen von
Wulff wären deshalb aussichtslos.
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Frage des Tages: Die Forderungen nach einer neuen Erklärung nehmen zu, die Zahl der Unterstützer nimmt ab. Was bedeutet das für den Bundespräsidenten?
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innenpolitik
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2012-01-04T08:53:12+0100
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2012-01-04T08:53:12+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/wie-geht-es-weiter-der-causa-wulff/47863
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SPD - Mehr Schröder, weniger Nahles
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Mindestlohn, Rente mit 63, Doppelpass – in den ersten acht Monaten hat die SPD die Schlagzeilen der Großen Koalition bestimmt. Als Reformmotor der Großen Koalition verstehen sich die Sozialdemokraten, nur die Wähler verstehen das bislang überhaupt nicht. In der Wählergunst kommt die SPD seit der Bundestagswahl nicht vom Fleck. In allen Umfragen klebt die Partei an der 25-Prozent-Marke und liegt damit weiterhin mehr als 10 Punkte hinter der Union. Auch der kleine Stimmenzugewinn bei der Europawahl im Mai war lediglich der niedrigen Wahlbeteiligung geschuldet. Mehrheitsfähig wird die SPD nicht, solange sie im 20-Prozent-Keller gefesselt ist. Mitten im Sommer werden führende Sozialdemokraten deshalb nun nicht müde, von ihrer Partei mehr Wirtschaftskompetenz zu fordern. Die SPD müsse sich auch um die wirtschaftliche Zukunft des Landes kümmert, sagt der Parteivorsitzende, Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Wachstumsfreundlicher müsse die sozialdemokratische Politik werden, sekundiert Fraktionschef Thomas Oppermann. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil klagt in einem Gastbeitrag für die aktuelle Ausgabe des Magazins Cicero: „Viele Menschen halten die SPD für einen guten Betriebsrat der Gesellschaft, trauen ihr aber das Management nicht zu.“ Auch ein Thema haben die Sozialdemokraten schon entdeckt, um sich als Partei der Wirtschaft zu profilieren: den Abbau der kalten Progression. Nachdem die SPD im Bundestagswahlkampf noch Steuererhöhungen gefordert hatte, will sie nun den Mittelstand entlasten. Mit derlei sommerlichen Kompetenzbeschwörungen allerdings ist es kaum getan. Zumal die theoretische Erkenntnis alles andere als neu ist. In kaum einer sozialdemokratischen Sonntagsrede fehlt seit den legendären Tagen des Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller vor vier Jahrzehnten der Hinweis, eine erfolgreiche SPD brauche neben der sozialen Kompetenz auch einer starke Wirtschaftskompetenz. Die SPD sei immer dann stark, wenn sie nicht nur Sozialleistungen verteile, sondern auch Arbeitsplätze schaffe. Doch in der Praxis hat sich die Profilierung der SPD in den letzten zehn Jahren massiv Richtung Gerechtigkeit und Umverteilung verschoben. Gleichzeitig fehlen in der SPD nicht nur gute Ideen, wie sich wirtschaftspolitische Kompetenz in praktisches politisches Handeln umsetzen ließe. Es fehlen den Sozialdemokraten vor allem auch die Köpfe, denen der Wähler wirtschaftspolitische Kompetenz zuschreibt. Es fehlen der SPD die Manager, die die Betriebsräte bremsen. Einen wirtschaftspolitischen Flügel jedoch gibt es in der SPD faktisch nicht mehr und keinen einzigen profilierten Wirtschaftspolitiker. Die letzten drei Sozialdemokraten, die für sozialdemokratische Wirtschaftskompetenz standen und mit Wirtschaftskompetenz Wahlen gewonnen haben, sind in der Partei nicht mehr wohlgelitten. Wolfgang Clement, der ehemalige Superminister für Wirtschaft und Arbeit, wurde aus der Partei gejagt. Dem Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder nehmen seine Genossen bis heute die Agenda 2010 übel, der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück durfte als Kanzlerkandidat 2013 nicht die wirtschaftspolitische Karte spielen und hatte auch deshalb gegen Angela Merkel keine Chance. Jeder in der SPD, der derzeit mehr Schröder fordern oder sich positiv auf dessen Reform-Agenda berufen würde, stünde sofort nicht nur unter Neoliberalismusverdacht. Er würde auch das neue Wir-Gefühl der Sozialdemokraten stören, mit der die faktische Spaltung der Partei in den Agenda-Jahren überwunden und das gestörte Verhältnis zu den Gewerkschaften gekittet wurde. Stolz ist Arbeitsministerin Andrea Nahles deshalb vor allem auf die Rente mit 63, mit der zulasten zukünftiger Generationen eine der zentralen Reformen der alten SPD korrigiert wurde. Seit der Bundestagswahl präsentiert sich die SPD deshalb als wahre Kuscheltruppe. Endlich einmal setzen die Sozialdemokraten nach einer Wahl in der Regierung das um, was sie vor der Wahl versprochen hat. Endlich haben in der SPD nicht mehr abgehobene Spitzenfunktionäre das letzte Wort, sondern die Parteibasis. Das Wir entscheidet in der SPD und nicht länger der Genosse der Bosse. Das Problem ist nur, profilieren kann sich die SPD so nur bei jenem Viertel der Wähler in Deutschland, die sie eh wählen. Attraktiv für neue Wählergruppen wird sie so nicht. Natürlich will sich in der Großen Koalition vor allem Sigmar Gabriel als sozialdemokratischer Mann der Wirtschaft profilieren und so die Basis für die Kanzlerkandidatur 2017 legen. Doch der Wirtschaftsminister ist auch zugleich SPD-Vorsitzender und als solcher der Anführer der neuen sozialdemokratischen Kuscheltruppe. Und Gabriel muss auch dem linken Parteiflügel, der seit der Bundestagswahl in der SPD unübersehbar Oberwasser hat, Futter geben. Dessen Sprecher Ralf Stegner warnt seine Partei bereits vor einer Strategiediskussion und vor einem Kurswechsel. Die Soziale Gerechtigkeit bleibe „der Markenkern“ der SPD, so Stegner, „wenn wir die Prioritäten unserer Politik zulasten der Gerechtigkeitsfragen verschieben, verlieren wir mehr als wir gewinnen.“ Ob sich darüber hinaus ausgerechnet das Thema Abbau der kalten Progression dazu eignet, den Kompetenzvorsprung der Union in Sachen Wirtschaft, Arbeit und Finanzen zu verkürzen, daran lässt sich zweifeln. Einerseits ist das ein klassisches CDU-Thema. In der letzten Legislaturperiode hat die SPD den Abbau der kalten Progression via Bundesrat noch verhindert. Anderseits müsste die SPD angesichts einer Steuersenkung in Milliardenhöhe zugleich erklären, warum der Bundesregierung zugleich das Geld für Investitionen fehlt, an denen sich die Wirtschaftskompetenz der Bundesregierung tatsächlich beweisen könnte, für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, in Bildung sowie in klassische Industrie- und Standortpolitik. Mehr Schröder, weniger Nahles müsste das Motto der Sozialdemokraten also heißen, Agenda 2020 statt Rente mit 63, mehr Manager weniger Betriebsräte. Doch bis sich die SPD das traut, wird sie wohl noch ein paar Jahre im 25-Prozent-Keller verharren müssen.
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Christoph Seils
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Kolumne: Wahlen, Wähler und Intrigen: Die SPD will sich wieder mit wirtschaftspolitischen Themen profilieren. Doch mehr Wirtschaftskompetenz hieße auch, mehr Schröder statt Nahles und vor allem eine Agenda 2020. Doch soviel Mut haben die Genossen nicht
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innenpolitik
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2014-08-04T13:40:49+0200
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2014-08-04T13:40:49+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-mehr-schroeder-weniger-nahles/58019
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Peer Steinbrück – Polternder Tolpatsch oder sozialer Erneuerer?
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Aus dem nominierten Spitzenkandidaten wird am Sonntag der
gewählte Spitzenkandidat: Der Sonderparteitag der SPD in Hannover
wird die Krönungsmesse für Peer Steinbrück als Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der
Bundestagswahl 2013. Bekannt ist er dem breiten Publikum bereits:
Die Debatten über seine erklecklichen Honorare für Vorträge
bescherten Steinbrück in den vergangenen Wochen freilich eine
andere als die von ihm erhoffte Publizität. Welchen Rückhalt hat Steinbrück in der
Partei? Mehr als 90 Prozent – dieses Ergebnis hat diese Woche
SPD-Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann dem Kandidaten
vorausgesagt. Es spricht viel dafür, dass sich seine Prophezeiung
erfüllt. Denn trotz seines holprigen Starts scheinen die
Sozialdemokraten entschlossen zu sein, sich hinter ihrem
Spitzenmann zu sammeln und ihn mit einem sehr guten Ergebnis ins
Rennen gegen Merkel zu schicken. Sogar während der Debatten über
seine Honorare kamen Solidaritätserklärungen von allen
Parteiflügeln. Geschlossenheit im anlaufenden Wahlkampf ist eine
traditionelle sozialdemokratische Tugend. Wenn es wirklich um etwas
geht, schließt die SPD die Reihen. Aus dem „notorischen
Zankapparat“ SPD, so urteilte ein kluger Beobachter, sei nach der
Vorentscheidung für Steinbrück „eine Solidaritätsmaschine“
geworden. Das heißt aber nicht, dass die Vorbehalte in Teilen der
Partei sowohl gegen Steinbrücks manchmal polterndes Temperament
oder gegen seine politischen Ziele ausgeräumt wären, die auf die
traditionell linken Instinkte der SPD nicht immer Rücksicht
nehmen. [video:Peer Steinbrück: „Ich würde Ludwig Erhard für die SPD
okkupieren“] Hat die Parteilinke ihren Frieden mit ihm
gemacht? Mit drei Dingen hat Steinbrück den linken Parteiflügel, der
jahrelang in Fehde mit ihm lag, überzeugt: mit seinem Papier zur
Bankenregulierung, mit seinem Siegeswillen und mit dem Versprechen,
die Unterschiede zur Politik Angela Merkels klar herauszuarbeiten.
Über die rhetorischen Mittel dazu verfügt der Kandidat bekanntlich.
In der Debatte um die Honorare verteidigte auch der Sprecher der
Parteilinken im SPD-Bundesvorstand, Ralf Stegner, den Kandidaten.
Er lobte auch, der Ex-Finanzminister habe aus früheren Fehlern bei
der Deregulierung der Finanzmärkte gelernt. Stegner, SPD-Landeschef
in Schleswig-Holstein, machte kurz vor dem Parteitag allerdings
deutlich, dass er einen Preis für die Unterstützung einfordert: In
der Führungsmannschaft Steinbrücks müsse die SPD-Linke ausreichend
vertreten sein, verlangte er. Vertreter anderer Parteiflügel
dagegen warnen: Zu viele, zu deutliche Zugeständnisse des
Kandidaten an die Parteilinke, die Jusos oder die
Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen in der SPD könnten
sein Profil als selbstständig urteilender, Klartext redender
Kandidat abschleifen. Wie stark belastet Steinbrück die einträgliche
Vortragstätigkeit noch? Nach der jüngsten Umfrage von Infratest Dimap hat Steinbrück bei
der Direktwahlfrage im Vergleich zu November zugelegt. Andere
Demoskopen wie die Forschungsgruppe Wahlen sehen hingegen Belege
dafür, dass der Kandidat wegen der Honorar-Debatte an
Glaubwürdigkeit und Vertrauen eingebüßt hat. Gerade das Milieu der
„kleinen Leute“ mit geringem Einkommen, traditionell wichtig für
die SPD, reagiert offenbar mit Vorbehalten: In ihren Augen ist das
soziale Schutzversprechen entwertet, wenn es von einem Politiker
mit hohen Nebeneinkünften abgegeben wird. Bei vielen Auftritten
Steinbrücks bei Veranstaltungen der SPD in den vergangenen Wochen
dagegen war das Thema Honorare entweder gar kein Thema oder ein
schnell abgehandeltes Nebenthema. Fazit: Die Erinnerung an die
Honorare dürfte den Kandidaten weiter belasten, so lange es ihm
nicht gelingt, starke andere Themen zu setzen. Vertreter der
schwarz-gelben Koalition nutzen jede Gelegenheit, um in dieser Wunde Steinbrücks zu bohren. Seite 2: Welche Angebote macht Steinbrück den Wählern - und
was halten die davon? Ist Steinbrück tatsächlich chancenlos gegen
Merkel? Nein. Zwar liegt die CDU-Chefin in allen Umfragen im direkten
Duell mit Steinbrück weit voraus. Doch neun Monate sind in der
Politik eine sehr lange Zeit, der Wahlkampf hat noch nicht einmal
begonnen. Der Kandidat setzt zudem darauf, dass er den Wählern
bewusst machen kann, dass Merkels schwarz-gelbe Koalition wegen der
Schwäche der FDP keine Zukunft haben kann. Eine wichtige Etappe für
ihn ist die Landtagswahl in Niedersachsen Ende Januar, für die
mehrere Umfragen eine rot-grüne Mehrheit voraussagen. Eine
rot-grüne Landesregierung in Hannover, so Steinbrücks Voraussage,
könne die „politische Mechanik“ in der ganzen Republik verändern.
Der Kandidat will sich deshalb im Niedersachsen-Wahlkampf stark
engagieren. Tatsächlich würde ein Scheitern der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde in
Niedersachsen und ein Regierungswechsel die schwarz-gelbe
Koalition in Berlin erschüttern. Umgekehrt gilt aber auch: Verfehlt
die SPD ihr Ziel, kann das auch zur Belastung von Steinbrück
werden. [gallery:Merkel gegen Steinbrück – das Duell um das
Kanzleramt] Welche Angebote will Steinbrück den Wählern
machen? Der Kandidat warnt seit zehn Jahren vor einem Auseinanderdriften
der Gesellschaft, das politisches Vertrauen zerstört und auf lange
Sicht auch Wohlstand kostet. Sein Angebot lautet, er wolle nicht
nur eine bessere, sondern eine andere Politik machen als Merkel,
nämlich die „Fliehkräfte der Gesellschaft“ bändigen. Diesem Ziel
dienen sowohl sein Vorschlag zur Regulierung der Finanzmärkte, der
weit über die schwarz-gelben Vorstellungen hinausgeht, als auch die
Versprechen zu anderen Politikfeldern, die der Kandidat in den
vergangenen Wochen abgegeben hat. Steinbrück will eine gerechtere
Verteilung der Steuerlast durch eine Vermögensteuer, er will
Mindestlöhne einführen und prekäre Beschäftigung zurückdrängen,
gleiche Bezahlung für Frauen und Männer für gleiche Tätigkeiten
durchsetzen, das Ehegattensplitting im Sinne einer modernen
Familienpolitik reformieren, die Bildungspolitik gerechter machen,
eine steuerfinanzierte Mindestrente von 850 Euro einführen, die
Ostrenten an Westniveau anpassen und den sozialen Wohnungsbau in
Deutschland wieder forcieren, um zu verhindern, dass Gering- und
Normalverdiener durch horrende Mieten aus Metropolen verdrängt
werden. [gallery:Peer Steinbrücks politische Karriere] Wie sehen die Wähler diese Versprechen? Laut Umfragen stimmt eine Mehrheit der Deutschen den meisten
dieser Forderungen zu. Im Vergleich mit der Union, so fand
Infratest Dimap im Auftrag der ARD-Tagesthemen heraus, kann die SPD
bei wichtigen Themen punkten. Danach glaubt eine Mehrheit, die SPD
sei eher dazu in der Lage, die Renten langfristig zu sichern, für
eine gute Familienpolitik und Kinderbetreuung zu sorgen, die
Chancen der Frauen zu verbessern und das Steuersystem gerechter zu
machen. Die Menschen trauen der SPD auch eher zu, erschwingliche
Mieten zu erreichen und soziale Gerechtigkeit zu garantieren. Das Fazit aus diesen Befunden: Der Schulterschluss mit der
eigenen Partei ist wichtig für Steinbrück. Im Kampf gegen die Euro-
und Schuldenkrise kann er Merkel dagegen nur schwer Paroli bieten.
Die Bürger sprechen ihr eine hohe Kompetenz zu. Die leise Hoffnung
der SPD ist, dass sich die Krise bis zum Herbst 2013 beruhigt. Doch
alle Äußerungen Steinbrücks gehen in eine andere Richtung: Das
dicke Ende kommt noch, und es wird teuer für den deutschen
Steuerzahler.
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Frage des Tages: Peer Steinbrück wird am Sonntag zum SPD-Herausforderer von Angela Merkel gewählt. Mit welchen Chancen geht er ins Rennen?
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innenpolitik
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2012-12-08T09:26:32+0100
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2012-12-08T09:26:32+0100
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https://www.cicero.de//innenpolitik/poltender-tolpatsch-oder-sozialer-erneuerer/52818
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Mythos Atelier – Der arme Poet – von Spitzweg bis Picasso
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»Mythos Atelier« ist mit einer Ausstellungsfläche von ca. 2.500 qm eine der größten Sonderschauen in der Geschichte der Staatsgalerie Stuttgart. Das Thema »Atelier« beschäftigt Künstler bis in die jüngste Gegenwart
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»Mythos Atelier« ist mit einer Ausstellungsfläche von ca.
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kultur
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2012-12-17T09:59:26+0100
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https://www.cicero.de//kultur/der-arme-poet-von-spitzweg-bis-picasso/52896
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Flüchtlingspolitik von Merkel - Kardinal Marx lobt den Gesetzesbruch
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Bisher galt das nibelungentreue Bündnis von Staat und Kirche als protestantische Kerndisziplin. Kein Wunder bei einer Konfession, derer sich die Fürsten einst noch vor dem Volk bemächtigten. In einem Land aber, in dem der Staat generell jene Steuer einbezieht, die den Kirchen zukommt, ist auch der römische Katholizismus vor Staatsgehorsam nicht gefeit. Wenn die Vorzeichen nicht trügen, entwickelt sich der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, nebenbei Vorsitzender der Bischofskonferenz, gerade zu einem eifrigen Paladin der staatlichen Exekutive. Oder hat er nur für sich den gesinnungsethischen Luther-Moment entdeckt, die Stunde, da Not kein Gebot kennen darf, um dem Humanismus eine Gasse zu bahnen? Beide Deutungen erlaubt ein Gedanke, mit dem Kardinal Marx in die Öffentlichkeit trat. Es ist ein Gedanke, der seine historischen wie theologischen Abgründe hat. Angesprochen auf die Entscheidung der Bundeskanzlerin vom 4. September, Flüchtlinge und Asylbewerber aus Ungarn über Österreich ungehindert einreisen zu lassen, lobte Marx gegenüber dem Münchner „Merkur“ Angela Merkel hierfür ausdrücklich. Die Kanzlerin habe „sich sogar über das Gesetz hinweggesetzt. Das gehört auch zur politischen Führung!“ Und setzte hinzu: „Es gibt Situationen, wo man handeln muss, um nicht langfristig die Identität Europas zu beschädigen.“ Natürlich gibt es Situationen, in denen entschiedenes Handeln gefragt ist, und gewiss hat die Kanzlerin in jener Nacht das Gesetz des Handelns in beide Hände genommen – mit Folgen, die uns noch lange beschäftigen werden, gilt doch der damals erklärte Sonderfall weiterhin. Die Ausnahme wurde Regel. Darf aber eine Kanzlerin tun, was der Kardinal ihr nachrühmt, sich über das Gesetz hinwegsetzen, das Gesetz also brechen? Durfte Angela Merkel, darf die „politische Führung“ sich jenseits von Recht und Verfassung stellen, wenn die „Identität Europas“ auf dem Spiel steht? Reinhard Marx hat damit kein Problem. Er fühlt sich in gravierenden Zweifelsfällen offenbar nicht an die Legalität gebunden, die hinter einer idealistisch verstandenen Legitimität zurückzustehen hat. Mindestens drei Fragen stellen sich damit, die drei gewaltige Probleme aufwerfen: Steht es einem Kirchenmann zu, über die Gesetzestreue der Staatsleitung zu befinden? Gibt es zweitens einen außergesetzlichen Notstand, der die Exekutive von ihrer Bindung an den Rechtsstaat befreit, sodass sie selbst Recht schafft? Und ist drittens die solchermaßen ins Werk gesetzte Allianz von Kirche und Staat, der weltanschauliche Geleitschutz für außerordentliche Rechtsverstöße, ein Fortschritt im Humanen oder eine Niederlage für die Aufklärung und deren vornehmste Frucht, den Rechtsstaat? Auf den 12. September datiert das Interview aus dem „Merkur“. Dass es bisher keine überregionale Debatte ausgelöst hat, verwundert. Hier relativiert ein einflussreicher Kirchenmann, der zudem auf der Gehaltsliste des Freistaats steht, Besoldungsgruppe B 10, die Gesetzestreue der Kanzlerin zugunsten einer besonderen Staatstreue der Kirche. In Notlagen, heißt das, kümmert es die Kirche nicht, wenn die Regierung einen von ihr, der Kirche, festgestellten Rechtsbruch vollzieht. Zwischen Anmaßung und Anpassung schwankt diese steile Aussage, an deren Authentizität es doch keinen Zweifel gibt. Die Kirche bietet sich dem Staat als Bündnispartner für gegenwärtige und künftige Rechtsbrüche an. Praktische Konsequenzen solcher politischen Führung hält die Chronik des 20. Jahrhunderts in ausreichender Zahl bereit. Aber vermutlich war alles ganz anders gemeint.
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Alexander Kissler
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Kisslers Konter: Kardinal Marx findet es gut, dass Merkel sich in der Flüchtlingspolitik über das Gesetz hinweggesetzt hat. Aber darf die Kirche das überhaupt: einen festgestellten Rechtsbruch zu loben?
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innenpolitik
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2015-10-13T17:01:51+0200
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2015-10-13T17:01:51+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/staat-und-kirche-kardinal-marx-lobt-einen-rechtsbruch/59977
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PR-Lehre - Journalistenakademie auf Abwegen
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Wenn eine der hochrangigsten deutschen Journalistenschmieden ein Videotraining anpreist, dann bitteschön mit Hollywood. Da wird von Marlene Dietrichs weltbekanntem Schlager geborgt, um eine Kursbeschreibung aufzuhübschen: „Von Kopf bis Fuß auf Fragen eingestellt“ – so lautet der Titel eines Interviewseminars an der Akademie der Bayerischen Presse (ABP). Und das verheißt taffes Programm: Es geht um Rhetorik, Gesprächs- und Lenkungstechniken; es wird vor der Kamera geübt. Die Münchner Schule, ein gemeinnütziger Verein, ist ein illustrer Ort der journalistischen Weiterbildung. Hier lehren Dozenten der Süddeutschen Zeitung, des Münchner Merkurs, von Burda, Zeit, Focus, Spiegel, Netzwerk Recherche sowie Cicero-Autoren. Ein Who is Who der Medien Süddeutschlands. In Bayern ist das Institut von den Journalisten- und Verlegerverbänden als Betrieb der Volontärsausbildung anerkannt – hier wird der Nachwuchs von Presse, Rundfunk und Fernsehen herangezogen. Dafür erhält die ABP eine institutionelle Förderung vom Freistaat. 2013 waren es nach offiziellen Angaben 420.750 Euro – für die „Finanzierung der satzungsgemäßen Aufgaben der Einrichtung“. Für 2014 sind unter Vorbehalt sogar 467.500 Euro eingepreist. Doch der Akademie geht es nicht immer nur darum, aus schüchternen Schreiberlingen bissige Berichterstatter zu machen. Manchmal geht es auch darum, letztere geschickt einzuwickeln. Denn das Training Ende März – Kursnummer 14-061 – richtet sich nicht an Journalisten, sondern an Public-Relations-Mitarbeiter. Angekündigt wird ein Szenario: „Journalisten umschwirren Sie wie Motten das Licht. Sie müssen sich tausend Fragen anhören und sollen alle gleichzeitig beantworten.“ Drei Tage lang üben die Teilnehmer, in einer solchen Krisensituation richtig zu reagieren. Von den 185 Kursen, die die ABP derzeit ausgeschrieben hat, fallen 45 unter den lukrativen Bereich „PR, Unternehmenskommunikation und Corporate Publishing“. Das ist ein bisschen so, als würden Steuerfahnder ihre Lehrgänge auch für Wirtschaftsanwälte öffnen, die Millionären helfen, ihr Geld im Ausland zu verstecken. [gallery:20 Gründe, warum wir Tageszeitungen brauchen] Akademiedirektor Martin Kunz betont, dass es bereits seit der Gründung 1986 solche PR-Kurse gebe. Die Kartellrechtlerin Heike Schweitzer von der Universität Mannheim hinterfragt diese jahrzehntelange Praxis dennoch – und wirft rechtliche Fragen auf. Denn hier könnte einem Marktteilnehmer mit staatlichen Mitteln ein Wettbewerbsvorteil verschafft werden. Das bayerische Wirtschaftsministerium, das die Förderanträge für die ABP bearbeitet, sieht darin allerdings kein Problem. Auf die Frage, ob es dem Förderziel entspreche, wenn an der ABP etwa BWLer oder Marketing-Experten ausgebildet würden, hieß es: Das Berufsfeld Journalismus sei auch für Quereinsteiger offen. „Hinzukommen zum Beispiel Juristen und Betriebswirte, die journalistische Fähigkeiten benötigen, weil sie in der Unternehmenskommunikation arbeiten“, erklärte ein Sprecher. Obwohl der Bereich PR mittlerweile knapp ein Drittel der Lehre an der Journalistenakademie einnimmt, ist davon in der Vereinssatzung nichts zu lesen. Dort heißt es noch immer: „Der Zweck des Vereins ist die Förderung der Aus- und Fortbildung von Journalisten aller Medien.“ Die ABP halte sich „sehr streng an die Vorgaben“, teilt Direktor Martin Kunz mit. In den Kursen werde „ausschließlich journalistisches Know-how vermittelt“. Zudem betrage der Journalisten-Anteil an den Kursen 100 Prozent, „da grundsätzlich nur Journalisten zugelassen werden.“ Die journalistische Tätigkeit werde vor der Anmeldung mit einem Fragebogen überprüft. Kunz fügt an, dass seine Akademie sogar ein Qualitätssiegel erhalten habe. In der Beschreibung zu „Interview – PR und UK“ wird indes nirgends erwähnt, dass der Kurs auch für Journalisten konzipiert sei. Als Teilnehmer sind vielmehr „Mitarbeiter/innen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und der Unternehmenskommunikation“ angesprochen. Für Christian Arns ist das auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. „Der PR wird von Seiten des Journalismus immer häufiger die Übergriffigkeit vorgeworfen. Hier aber macht der Journalismus nichts anderes.“ Arns leitet die Deutsche Presseakademie in Berlin, die Aus- und Weiterbildung ausschließlich in der PR anbietet – unter anderem auch in München. Die Wettbewerber im Bereich PR kritisieren vor allem die günstigen Marktpreise der ABP. Die Deutsche Presseakademie ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Für ein eintägiges Seminar „Interviewtraining intensiv“ mit fünf Teilnehmern sind dort etwa 890 Euro zuzüglich Steuern zu berappen. Das Interviewseminar bei der ABP – drei Tage, neun Personen – kostet dagegen nur 450 Euro. Arns sagt, solche Preise seien bei ihm „völlig ausgeschlossen“. Thomas Lüdeke von der Deutschen Akademie für Public Relations, ein weiterer Konkurrent, betont: „In Wettbewerbssituationen, die nicht besonders fair sind, muss man als privater Anbieter versuchen, dieser Herausforderung durch einen guten Ruf zu begegnen.“ Das gelinge seinem Institut mit Sitz in Düsseldorf und Vertretung in München zwar. Allerdings seien Kursangebote zu ABP-Konditionen „nicht finanzierbar“, sagt Lüdeke. „Ich wüsste nicht, wie.“ Die Räume, gute Dozenten – all das koste Geld. ABP-Direktor Martin Kunz betont, seine Akademie zahle ihren Dozenten „Honorare in der marktüblichen Höhe“. „Wir müssen sehr hart kalkulieren, da wir für unsere Kurse die besten Journalistik-Dozenten verpflichten.“ Da sich jeder Kurs refinanzieren müsse, seien marktübliche Seminargebühren zwingend. Dass die Preise „marktüblich“ sind, bezweifeln allerdings sogar gemeinnützige Bildungseinrichtungen. Die Bayerische Akademie für Werbung und Marketing (BAW) – ein Verein, der ähnlich wie die ABP keine Gewinne erwirtschaften darf – könnte keine Kurse zu diesen Konditionen anbieten. BAW-Studien-Direktor Matthias Holz sagt: „Das sind subventionierte Preise.“ Die Dumping-Angebote der Münchner Journalistenschmiede haben sich offenbar herumgesprochen. Behörden, Verbände und Unternehmen greifen beherzt zu. Die Versicherungskammer Bayern etwa schätzt „die Kompetenz der Referenten sowie die inhaltliche Tiefe und den Praxisbezug sehr“ – und schickte 2013 zwei Teilnehmerinnen zu insgesamt vier Seminaren. Die bayerische Staatskanzlei entsandte 2009 einen Vertreter aus der Öffentlichkeitsarbeit. Auch Siemens, Telekom, Allianz, die Energieversorger E.on und Vattenfall, der Glühbirnenproduzent Osram, die Unternehmensberatung Boston Consulting Group, die Landesbank Baden-Württemberg, der Arzneimittelhersteller betapharm oder die PR-Agentur Fischer Appelt nutzten schon die Dienste der ABP. Die genannten Unternehmen bestritten entsprechende Anfragen von Cicero Online nicht. Die Akademie hilft regelmäßig auch der Ergo: Das Image dieser Versicherungsgruppe ist ramponiert, seitdem Rechercheure des Handelsblatts 2011 eine wilde Sex-Party in Budapest aufdeckten. Im vergangenen Jahr waren fünf Mitarbeiter der Ergo-Direkt-Unternehmenskommunikation in der Münchner Akademie. Die Mannheimer Kartellrechtlerin Heike Schweitzer fragt sich, ob diese Form der Weiterbildung eine nicht genehmigte Beihilfe darstellt. In diesem Fall könnte die staatliche Unterstützung der Akademie den Wettbewerb verfälschen und gegen EU-Recht verstoßen. Das Bayerische Wirtschaftsministerium bestreitet auch das. Die Tätigkeit der Einrichtung sei nicht-wirtschaftlich und unterliege somit nicht dem Beihilferecht, erklärt ein Sprecher. Hochschulprofessorin Schweitzer ist da skeptisch. Zwar betrachte die Kommission öffentliche Schulen, Universitäten und Fachhochschulen nicht als Unternehmen im Sinne des Beihilfenrechts. Das marktgängige Angebot beispielsweise von Fremdsprachen- oder Musikschulen sei aber eindeutig eine unternehmerische Tätigkeit. „Denkbar ist auch, dass Teile der Akademie den Charakter einer Ausbildung durch eine öffentliche Hochschule haben, andere Teile aber eindeutig marktnah organisiert sind und mit privaten Anbietern konkurrieren“, sagt Schweitzer. Auch dann könne vieles dafür sprechen, jedenfalls die letztgenannten Angebote als unternehmerisch zu qualifizieren. Die Autorin hat 2009 als Volontärin selbst zwei Seminare der Akademie der Bayerischen Presse besucht.
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Petra Sorge
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Die Münchner „Akademie der Bayerischen Presse“ erhält öffentliche Fördermittel für die Ausbildung von Journalisten. Rund ein Drittel des Lehrangebots ist aber auf die finanzstärkere PR-Industrie zugeschnitten. Konkurrenten und Kartellrechtler halten das für eine Wettbewerbsverzerrung
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wirtschaft
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2014-02-28T12:35:23+0100
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2014-02-28T12:35:23+0100
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https://www.cicero.de//wirtschaft/abp-staatsgeld-fuer-pr-ausbildungjournalistenakademie-auf-abwegen/57125
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Verteidigung – Das Freiwilligen-Dilemma der Bundeswehr
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Die Bundeswehr hat den Beginn ihrer neuen Epoche, den Start der
Berufsarmee, mit großem Aufwand inszeniert: Verteidigungsminister
Thomas de Maizère begrüßte in der Berliner Julius-Leber-Kaserne
mehr als 100 der neuen Freiwilligen Wehrdienstleistenden persönlich
per Handschlag. Er lobte ihren Einsatz für das Vaterland, ihre
Bereitschaft, Deutschland zu dienen. Und beim öffentlichen Gelöbnis
vor dem Reichstag sprach der Bundespräsident zu den Rekruten.
"Unser Land hat Ihren Einsatz verdient, unser Land ist Ihren
Einsatz wert", gab Christian Wulff den 450 angetretenen
Freiwilligen mit auf dem Weg. Doch dieser Einsatz begeisterte längst nicht alle Freiwilligen:
Die Grundausbildung, mit Wecken um fünf Uhr, Morgenappell im rauem
Kasernenton, Marschieren üben, sonstiger Drill, Waffen und Stuben
reinigen führten zu einer Kündigungswelle unter den neuen. Nach
wenigen Tagen in der Truppe quittierten Hunderte schon wieder den
Dienst: An manchem Standort habe bereits jeder fünfte Freiwillige
die Ausstiegsklausel der Probezeit genutzt, um wieder Zivilist zu
werden, berichtete der NDR. „Natürlich gab es Freiwillige, die das
gemacht haben“, sagt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.
„Zahlen können wir nicht nennen. Die Probezeit geht bis Ende
Dezember, erst dann wissen wir endgültig, wie viele Freiwillige
bleiben.“ Genug kamen von Anfang an nicht. Schon jetzt lässt sich das
Fazit ziehen, dass die Truppe vor einem Freiwilligen Dilemma steht.
Freiwilligenarmee nennt sich die Bundeswehr seit dem Ende der
Wehrpflicht. Das klingt besser als Berufsarmee, meint aber nichts
anderes. Dem neuen Namen macht die Truppe bisher keine Ehre, denn
gerade die Rekrutierung der Freiwilligen stellt die Bundeswehr, die
bislang daran gewöhnt war, dass in jedem Quartal automatisch junge
Männer in die Kasernen einzogen, vor große Probleme. „Die Gewinnung
von Freiwilligen für den Dienst in den Streitkräften ist ein
wichtiger Aspekt zur Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit der
Bundeswehr“, heißt es beim Verteidigungsministerium. „Insbesondere
seit dem Aussetzen der Wehrpflicht kommt der Gewinnung von
Freiwilligen ein besonderer Stellenwert zu.“ Mit dem Slogan „Pflicht wird zur Chance“ warben die Wehrberater
um Freiwillige, in der Bild-Zeitung wurden vom
Verteidigungsministerium Anzeigen geschaltet, Werbung im Fernsehen
gebucht, zehntausende Abiturienten wurden angeschrieben – mit
mäßigem Erfolg. 3375 junge Männer und 44 Frauen traten am 4. Juli
ihren Dienst als freiwillige Wehrdienstleistende an. 5.000 Freiwillige hätte es werden sollen. Der ehemalige
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hatte am Anfang
seiner Reformpläne gar noch von 15.000 Freiwilligen gesprochen.
Zwar meldete die Bundeswehr stolz, dass es Anfang Juli 14.000
Freiwillige ihren Dienst leisteten. Doch mehr als 10.000 davon
waren bereits Soldaten: Sie gehörten zu den letzten
Wehrpflichtigen, die im Januar 2011 oder davor eingezogen worden
waren und ihren Dienst um einige Monate oder ein Jahr
verlängerten. Die Freiwilligen – wie zuvor die Wehrpflichtigen – werden vor
allem für Hilfs- und Unterstützungsaufgaben gebraucht. Viele werden
Fahrer oder Logistiker – aber auch die Kampftruppe, etwa Jäger und
Grenadiere greifen auf Freiwillige zurück. Wer sich länger als ein
Jahr verpflichtet kann auch in den Auslandseinsatz geschickt
werden. Wichtig sind die Freiwilligen für die Truppe aber vor
allem, weil unter ihnen Zeitsoldaten rekrutiert werden sollen. Mehr
als ein Drittel der Zeitsoldaten wurden bisher unter den
Wehrpflichtigen gewonnen. „Besorgnis erregend sei die
Personalentwicklung nicht“, versichert ein Sprecher des
Verteidigungsministeriums. „Die Probezeit ist schließlich ein Teil
der Attraktivität, die den Freiwilligendienst ausmacht.“ Für die Freiwilligen macht die Probezeit Sinn. Die Soldaten, die
heute in den Kreiswehrersatzämtern rekrutiert werden, kennen den
Alltag des Militärs nur von Erzählungen von Freunden und Verwandten
- oder aus dem Fernsehen. Doch Hollywood und Hammelburg haben wenig
miteinander gemein. Zwar bietet die Bundeswehr ein
Schnupperpraktikum in der Truppe an, von der Offerte machen viele
künftige Soldaten aber kein Gebrauch. Auch die Freiwilligen des Wachbataillons, die de Maizière
persönlich begrüßte, hatten sich mit der Bundeswehr wenig
beschäftigt. „Warum haben Sie sich für uns entschieden?“, fragte
sie der Minister. Nicht Vaterlandsliebe, die Sehnsucht nach
Kameradschaft oder Disziplin, nannten die meisten als
Entscheidungsgrund. Stattdessen sagte mancher Rekrut, er habe keine
Lehrstelle bekommen, andere wussten nicht, was sie nach dem Abitur
machen wollten. Ein Jugendlicher, der sitzen geblieben war hätte
sonst sowieso zum „Bund“ gemusst und war einfach dabei geblieben.
Die Antworten dürften de Maizière nachdenklich stimmen. Die
Konjunktur ist gut wie lange nicht mehr, manche Branche hat
Probleme, Lehrstellen zu besetzen, die Arbeitslosigkeit schrumpft.
Die Bundeswehr muss um „die besten Köpfe kämpfen“, wie de Maizière
immer wieder betont. Hohe Offiziere und Politiker aus allen Parteien beäugen
skeptisch die Personalentwicklung bei der Bundeswehr, die Sorge vor
einer „Prekariatsarmee“ macht die Runde. Den Begriff prägte Michael
Wolffsohn, Historiker an der Bundeswehruniversität in München. Er
warnt davor, dass die Armee im Einsatz die Gutausgebildeten
abschrecke, die in der freien Wirtschaft Stellen finden könnten,
und die jungen Leute ohne Abschluss anzöge. Wolffsohn verweist
darauf, dass in der Bundeswehr junge Soldaten aus strukturschwachen
Gegenden Ostdeutschlands überrepräsentiert seien. Last Exit
Bundeswehr, sozusagen. Vor kurzem griff Verteidigungsminister de Maizière den Professor
scharf an und bestritt dessen Thesen. Doch ein Blick ins Ausland
zeigt, dass andere Streitkräfte nach dem Wechsel von der
Wehrpflichtigen- zur Berufsarmee große Rekrutierungsprobleme
bekamen. Amerikanische und britische Rekrutierungsoffiziere
streifen durch Einkaufszentren, stehen vor Fastfood-Restaurants und
sollen gelegentlich durch die Gefängnisse ziehen, um künftige
Infanteristen zu finden. Die Antwort des Ministers auf die Rekrutierungsprobleme sind
drei Wörter: „Wir. Dienen. Deutschland“. Stolz stellte de Maizière
vor wenigen Tagen die Kampagne seines Hauses vor. Der Slogan sei
ohne die Hilfe einer professionellen Agentur entwickelt
worden. Auf den Fotos der Broschüren lächeln junge Soldaten
in Flecktarn begeistert. Doch ob die Lust am Dienen reicht, um den
Kampf um die besten Köpfe zu gewinnen bezweifelt sogar mancher
Verteidigungspolitiker der Union.
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Erst kamen weniger als gewollt, dann gingen bereits zahlreiche Freiwillige wieder. Das Personalproblem der Bundeswehr spitzt sich zu.
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innenpolitik
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2011-07-28T14:24:09+0200
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2011-07-28T14:24:09+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/das-freiwilligen-dilemma-der-bundeswehr/42480
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Europa – Vom deutschen Wahn, die Wahrheit gepachtet zu haben
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Zuerst war da der Satz von Volker Kauder: „Europa spricht
deutsch.“ Dem CDU-Fraktionschef im Bundestag, aufgewachsen in
Singen am Hohentwiel, ist auch bei bösem Willen kein
Großmachtgehabe zu unterstellen. Badener sind ja bekanntlich fast
schon Schweizer. Doch nach den Wahlen in Frankreich und Griechenland klingt
Kauders Satz härter, kaum noch durch den süddeutschen Dialekt
gemildert, gar nicht mehr irgendwie schweizerisch. Vor allem in den
Ohren von François Hollande knarrt der Spruch wohl sehr, sehr
deutsch – wie ein gebelltes Kommando! Kommandierend wirkten auch viele Zeitungskommentare zur Wahl des
neuen französischen Staatspräsidenten. „Merkel weist Hollande in
die Schranken“, titelte die Welt und zitierte voller Genugtuung
gleich Angela Merkel selbst: Wenn es nicht beim deutschen Sparkurs
bleibe, „können wir in Europa nicht mehr arbeiten“. Auch die
Süddeutsche Zeitung kolportierte die Kanzlerin kurz und knapp:
„Fiskalpakt steht nicht zur Disposition.“
Somit war schon mal klar, wer Europa regiert: „Wir Merkel“, „wir
Deutschen“. Auf keinen Fall und nicht einmal ansatzweise der
französische Wähler. [gallery:Eine kleine Geschichte des Euro] Den harschen Ton ergänzt das maliziöse Wort von der „Grande
Nation“, womit das Nachbarland herablassend an seine verflossene
Größe erinnert werden soll – mit einem Begriff übrigens, den
kein Franzose, auch kein französischer Politiker, je im Munde
führen würde. Den sozialistischen Staatschef nannte die Welt in
einer Titelzeile abfällig „Monsieur Hollande“. Deutschland müsse die Genossen an der Seine „auf den Boden der
Tatsachen zurückholen“. Das ist seither der Tenor.
In Europa spricht man nicht nur deutsch, nein, die Tatsachen sind
deutsch, die Wahrheit ist deutsch! Könnte es nun aber möglicherweise und natürlich nur rein
theoretisch sein, dass die deutsche Wahrheit in Tat und Wahrheit
nicht einmal für Deutschland die ganze Wahrheit ist? Könnte es
sein, dass die seit mehr als einem Jahrzehnt praktizierte
Lohnzurückhaltung und damit die systematische Senkung der
Lohnstückkosten den Deutschen eine Abwertung des „deutschen Euro“
beschert hat? Könnte es sein, dass diese „nationale Abwertung“ ein
wesentlicher Grund ist für die Exportweltmeisterei
Deutschlands? Könnte es sein, dass der Exportüberschuss von jährlich
140 Milliarden Euro unter anderem auf Kosten von Nationen
erzielt worden ist, die ihren Arbeitnehmern steigende Löhne
gönnten? Dass also die kaufkräftigen Konsumenten anderer
EU‑Mitglieder wesentlich zum Erfolg der Deutschen beitrugen, indem
sie mit ihren gestiegenen Löhnen emsig deutsche Produkte kauften?
Könnte es ferner sein, dass der deutsche Exportüberschuss die
Importnationen Millionen Arbeitsplätze kostete, weil deren
heimische Produzenten mit den lohnverbilligten Produkten aus
Deutschland nicht mehr zu konkurrieren vermochten? Lesen Sie weiter, warum Deutschland zurück auf
den Boden der Tatsachen finden sollte... Könnte es sein, dass dieser Exportfetischismus Ursache ist für
die Stagnation der deutschen Masseneinkommen, die in den
vergangenen zehn Jahren real um 6 Prozent gefallen sind, somit
heute unter dem Niveau von 1991 liegen?
Und könnte es schließlich sein, dass das ganze
Exportwirtschaftswunder in absehbarer Zeit, vielleicht bereits im
nächsten Jahr schon nicht mehr funktioniert, weil den willigen
Käufern von Lissabon bis Rom das Geld ausgeht – und damit die
Freude am Kauf eines Audi oder BMW? Denkbar immerhin, dass all dies die andere Hälfte der Wahrheit
darstellt, wenn auch immer noch nicht die ganze. Denn Deutschland
hat Leistungen vorzuweisen, von denen zu lernen wäre: zum Beispiel
die soziale und politische Konsenskultur, die auf Konfliktrituale
verzichtet, was viel Zeit und Geld spart; zum Beispiel das weltweit
leuchtende Marketing, das deutsche Dienstleistung und Wertarbeit
unübersehbar macht; zum Beispiel die Spitzenqualität deutscher
Produkte sowie die stete Bereitschaft zu präzisem und raschem
Service, was den Konsumenten das selten gewordene Gefühl von
Sicherheit vermittelt. Ja, man kann, man darf schwärmen von Deutschlands protestantisch
grundiertem Geist, der dem rheinischen Kapitalismus zu
Modellcharakter verholfen hat. Doch weil die Deutschen darauf zu
Recht stolz sind, tappen sie derzeit gerade in die Falle des
Hochmuts. In der Zeit war zu lesen, nach der Wahl bleibe Frankreich
nur Schröder’sche Reformpolitik: „Ohne eine blau-weiß-rote Agenda
2015 wird Frankreich nicht gesunden.“ Der Befund vom kranken Mann
an der Seine stammt aus der Feder des Zeit-Herausgebers Josef
Joffe, eines geradezu prototypisch deutschen Journalisten, der
nicht nur alles weiß, sondern auch noch das, wovon er keine Ahnung
hat, besser weiß. [video:Frankreichs Angst vor Deutschland] François Hollande indes schart Leute um sich, die
sogar lesen und zählen können. Das ist für die deutschen
Rechthaber zwar kaum zu glauben, trifft aber zu. Und diese
intellektuell bestens ausgestatteten Köpfe blicken mit großer
Neugierde auf Berlin, wie beispielsweise der deutsch sprechende
Jean-Marc Ayrault, ein intimer politischer Gefährte des
Präsidenten. Diese Entourage fordert nun allerdings europäische Anleihen, „Eurobonds“, um endlich das
deutsche Gewinnspiel mit billigem EZB-Geld zugunsten der
Banken – und zuungunsten der Not leidenden Staaten – zu
beenden. Es handelt sich bei dieser Forderung um eine der
Wahrheiten, in deren Besitz nicht die Deutschen sind, sondern die
Franzosen – eine französische Wahrheit gewissermaßen. In Berlin wird gegen solch feindliches Gedankengut politisch und
publizistisch mobil gemacht. Springers Welt ruft ganzseitig dazu
auf, die Reihen fest zu schließen. Und wer dazu nicht bereit ist,
dem droht die Stigmatisierung. Dorothea Siems, Wirtschaftschefin
des Blattes, droht dem Willy-Brandt-Haus mit erhobenem Zeigefinger:
„Sollten sich die Sozialdemokraten vor den Karren der Reformgegner
spannen lassen, grenzte dies an Vaterlandsverrat.“ Wer so etwas
schreibt, wäre keiner weiteren Beachtung würdig, wenn diese
Denkweise dem Land nicht historisch bekannt vorkommen müsste: 1914
galten die deutschen Sozialdemokraten als „vaterlandslose
Gesellen“. Als sie dann den Krediten zur Finanzierung des Ersten
Weltkriegs zustimmten, jubelte der Kaiser: „Ich kenne keine
Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Die deutsch-französische Freundschaft sei weiterhin das
Fundament der europäischen Stabilität, versichern Berliner
Regierungspolitiker. Dabei hat die Kanzlerin dem französischen
Staatschef gerade erst bedeutet: Dich will ich nicht. Deutschland sollte
allmählich auf den Boden der Tatsachen zurückfinden, den es für
sich gepachtet zu haben glaubt. Lesen Sie auch, was andere Euroländer über Deutschland
denken
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Die Deutschen stecken in einer Falle des Hochmuts, wenn es heißt, Merkel weise Hollande in die Schranken. Warum Deutschland auf den Boden der Tatsachen zurückkehren sollte. Ein Kommentar
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außenpolitik
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2012-06-14T12:59:00+0200
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2012-06-14T12:59:00+0200
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/vom-deutschen-wahn-die-wahrheit-gepachtet-zu-haben/49695
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Großbritannien vor dem Brexit - Verbrannte Erde
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In dieser Woche kehrte das Parlament aus den Sommerferien zurück und stellte fest: Die Mitte der britischen Politarena ist verbrannte Erde. Der Versuch des ehemaligen Premierministers Tony Blair, eine zentristische Partei zu gründen, hat wenig Erfolgschancen. Dafür erfreuen sich einst exzentrische Hinterbänkler absurd hoher Beliebtheitsraten. Die beiden Hauptdarsteller in dieser britischen Tragikkomödie sind derzeit der umstrittene Labour-Chef Jeremy Corbyn und, neuerdings, Jacob Rees-Mogg. Jacob who? Rees-Mogg soll nach einer Umfrage der Tory-nahen Plattform „Conservative Home“ vom 5. September Premierministerin Theresa May beerben. 22 Prozent der befragten Konservativen wünschen sich den erklärten EU-Feind an der Spitze ihrer Partei. #Moggmentum ist noch absurder als es die Momentum-Bewegung für Jeremy Corbyn jemals war. Denn Rees-Mogg, ein 48-jähriger Tory aus Sommerset, gehört dem härtesten Brexit-Flügel der Partei an. Einst forderte er eine Koalition mit der europhoben Ukip-Partei. Über deren Ex-Chef Nigel Farage rümpfte sonst jeder in den konservativen Salons Englands nur die Nase. Der Katholik Rees-Mogg ist außerdem gegen die Homo-Ehe und gehörte zu den ersten Unterstützern von Donald Trump. Der hagere Mann mit Nickelbrille und tief hängendem Seitenscheitel wirkt zuweilen so boshaft und bubenhaft, als wäre er immer noch Schüler in Eton, dem Elite-Internat in Windsor, das er besucht hat. Rees-Mogg weist es zwar weit von sich, aber im derzeitigen politischen Chaos ist nicht mehr auszuschließen, dass der Rechtsaußen an die Regierung geschwemmt werden könnte. Dann kann er versuchen, was er schon bisher propagiert: die EU ohne Übergangsabkommen zu verlassen. Er fordert bloß ein Freihandelsabkommen. Ein Sprung von der Klippe, der für Großbritannien eine ökonomische und politische Katastrophe bedeuten würde. Rees-Moggs Höhenflug ist vielleicht nur eine sommerliche Episode. Doch die Wahrheit hinter dieser Schlagzeile ist für die Tories bedenklich. Unter David Cameron und seinem Schatzkanzler George Osborne waren die konservativen Tories eine pragmatische Partei, die in der EU ein notwendiges Übel sah. Seit Cameron für Partei und Land das von ihm leichtfertig angesetzte EU-Referendum verloren hat, sind die Tories in den antieuropäischen Wahnwitz abgerutscht. Die wenig erfolgreich regierende Premierministerin Theresa May konvertierte bei ihrem Amtsantritt in Downing Street 10 im Juli 2016 innerhalb von wenigen Stunden von einer säuerlichen Proeuropäerin zu einer harten Brexitierin. Seit der vorgezogenen Parlamentswahl am 8. Juni 2017, bei der sie die absolute Mehrheit der Tories verspielt hat, gilt sie als „Dead Woman Walking“. Ihre Ablöse ist nur eine Frage der Zeit, auch wenn sie selbst das gerade zurückgewiesen hat. Ihr stärkster Konkurrent war lange Zeit Außenminister Boris Johnson – der charismatische Brexitier und Hofnarr, der es mit der Wahrheit nicht genau nimmt. Doch Johnson zeigt zu wenig Rückgrat und Arbeitseifer. Nur noch sieben Prozent wollen ihn nach Downing Street holen. Gute Karten als potenzieller Nachfolger hatte bisher David Davis, der Brexit-Minister. Der joviale 68-Jährige wirkt ein bisschen wie ein Leihonkel, der noch einmal in die erste Reihe der Politik zurückgekehrt ist, weil sich die Jüngeren zu unverantwortlich benommen haben. Doch nun ziehen die Konservativen Jacob Rees-Mogg mit 22 zu 15 Prozent als Nachfolger vor. Dank der europafeindlichen Boulevardpresse herrscht im Vereinigten Königreich tatsächlich in breiten Teilen der Bevölkerung die Meinung, die EU sei eine regulationswütige ausländische Diktatur, gegen die jeder gute Brite mit dem Union Jack in der Hand auf die Barrikaden stürmen müsse. Ein britischer Premier Rees-Mogg würde keine feine Klinge führen, um in Brüssel einen eleganten Abgang auszufechten. Rees-Mogg ist eine tickende Bombe. Auch bei der Labour-Partei haben die politischen Erdbeben der vergangenen zwei Jahre keinen Stein auf dem anderen gelassen. Über den unfassbaren Aufstieg des 68-jährigen Friedensaktivisten Jeremy Corbyn, der bis zu seiner überraschenden Wahl zum Parteichef 2015 nur Palästina-Freunden und Fahrrad-Aktivisten ein Begriff war, ist schon viel geschrieben worden. Seit den siebziger Jahren hatte der Abgeordnete des Nordlondoner Bezirks Islington scheinbar weder Kleidung noch politische Überzeugungen gewechselt. So wurde in einer Zeit der politischen Unruhe ob steigender Ungleichheit in der Gesellschaft und Brexit-Verunsicherung der graubärtige Labour-Mann mit der sanften Stimme der Überraschungshit des Wahlkampfes 2017. Labour gewann 32 Sitze. Gerade weil Corbyn mit seinen altbackenen Ideen glaubwürdig erschien. Jetzt sitzt er fester im Sattel denn je. Als Labour-Linksaußen war er immer EU-Skeptiker. Schon deshalb konnte er 2016 nicht überzeugend für den Verbleib in der EU kämpfen. Viele Labour-Wähler fühlen sich von der EU bedroht. Sie erscheint ihnen als Vehikel für Migration und Globalisierung. Deshalb konnte man seit dem EU-Votum kaum einen Unterscheid zwischen Tories und Labour erkennen. Beide Parteien sind EU-feindlich geworden. Beide fordern, dass der Wille des Volkes zu akzeptieren sei und der Austritt aus der EU herbeigeführt werden müsse. Auch wenn sich der Volksentscheid 2016 als die größte Selbstbeschädigung einer europäischen Nation seit dem Zweiten Weltkrieg herausstellen sollte. Die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel schleppen sich dahin. Nach wir vor wird keine klare Linie vorgegeben, wohin die Reise der Brexitannia eigentlich führen soll. Will Corbyn als Oppositionschef vom Brexit-Schlamassel der konservativen Regierung profitieren, dann muss er das Steuer herumreißen und einen Anti-Brexit-Kurs fahren. Das dürfte er inzwischen verstanden haben. Sein Schattenminister für die Brexit-Verhandlungen, Keir Starmer, verkündete Ende August zwar keine Kehrtwende, aber eine Kurskorrektur: Labour fordert jetzt für eine Übergangsphase, dass Großbritannien im EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion bleiben darf. Dafür nimmt das Land in Kauf, dass die Personenfreizügigkeit genauso in Kraft bleiben wird, wie die Rechtsprüche des Europäischen Gerichtshofes im Vereinigten Königreich Gültigkeit behalten werden. Nach der Interimsperiode im Jahre 2022 könnten die EU und Großbritannien, so hoffen die britischen Pro-Europäer, die Karten noch einmal neu mischen. Außer natürlich, der EU-feindliche Monarchist Jacob Rees-Mogg hat dann das Zepter übernommen.
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Tessa Szyszkowitz
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Großbritannien kommt nicht zur Ruhe. Das Wirrwar um den Brexit fördert extreme Positionen zu Tage, auf der rechten wie der linken Seite. Der Premierministerin Theresa May droht nun die Ablösung durch einen erzkonservativen Widersacher
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[
"Brexit",
"England",
"Politik",
"Jeremy Corbyn",
"Theresa May",
"Jacob Rees-Mogg"
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außenpolitik
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2017-09-06T12:15:42+0200
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2017-09-06T12:15:42+0200
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https://www.cicero.de/aussenpolitik/grossbritannien-vor-dem-brexit-verbrannte-erde
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Machtwechsel in Nordkorea – Welche Gefahr birgt Kim Jong Ils Tod?
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Als diktatorisch geführtes Regime ist Nordkorea einer der letzten Staaten, die sich weitgehend von der Welt abschotten – was es so schwer macht, seine innenpolitischen Entwicklungen zu beurteilen und sein außenpolitisches Verhalten, insbesondere gegenüber Südkorea, zu kalkulieren. Unter diesen Vorzeichen bedeutet der Tod des „Geliebten Führers“ einen Einschnitt, dessen Auswirkungen weltweit aufmerksam beobachtet werden. Welche Auswirkungen hat der Tod Kim Jong Ils auf die innenpolitische Situation?Noch am gleichen Tag, an dem die Nachricht vom Tod Kim Jong Ils mitgeteilt wurde, präsentierten die staatlichen Medien mit dessen jüngstem Sohn Kim Jong Un auch schon den Nachfolger. Damit soll offenbar nach außen wie nach innen Kontinuität suggeriert werden – und Diadochenkämpfen zwischen Partei, Armee und Regierung vorgebaut werden. Kim Jong Un dürfte am Kurs der Indoktrinierung der Bevölkerung, der internationalen Abschottung und der Distanz zu Südkorea wohl festhalten. Dieser Kurs hat nicht nur seinem Vater, sondern einer in die Zehntausende gehenden Nomenklatura Macht und gewissen Wohlstand gesichert, während der Großteil der Bevölkerung unter Hunger, Mangel und Willkür leidet. Wegen der aggressiven Außenpolitik und des umstrittenen Atomprogramms ist Nordkorea international weitgehend isoliert. Bernhard Seeliger, der für die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung im südkoreanischen Seoul tätig ist, sieht für Pjöngjang auch Probleme dadurch, dass im April Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des Staatsgründers und „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung geplant waren. Diese Großveranstaltungen werden jetzt wohl ausfallen, vermutet er. Vor allem Pjöngjang sei voll von Baustellen, an denen unter anderen tausende Studenten Wohnhäuser und Geschäftsgebäude errichten, die als Beweis für den Eintritt Nordkoreas in einer Phase des „starken, mächtigen Landes“ gelten sollen. Ob es Kim Jong Un gelingen wird, die Propagandamaschinerie mit gleicher Wirkung am Laufen zu halten wie sein Vater, ist noch offen. Der Kampf um die tägliche Schale Reis ist vorrangig. Und Geldgeber seien wegen der politischen Umstände äußerst zurückhaltend, sagt der Programmmanager Nordkorea der Welthungerhilfe, Gerhard Uhrmacher. Die Organisation ist seit 1997 in Nordkorea vertreten. Nach ihren Angaben ist besonders in den Städten die Versorgungslage schlecht, die Preise sind dort höher, und Bauernmärkte wie auf dem Lande gibt es kaum. Nach wie vor versuchen jährlich tausende Nordkoreaner über die schwer bewachte Grenze nach China zu fliehen – und riskieren Arbeitslager oder Tod. Wie könnte sich der Übergang zu dem Nachfolger vollziehen?Nordkorea ist die einzige kommunistische Dynastie der Welt. Und das heißt: Wenn das Regime nicht zusammenbricht, was bisher wenig wahrscheinlich erscheint, muss also ein Familienmitglied nach der Trauerperiode bis Jahresende Nachfolger von Kim Jong Il werden. Das bedeutet aber nicht, dass Kim Jong Un schon bald den Posten des Chefs der Nationalen Verteidigungskommission von seinem verstorbenen Vater übernimmt. Auch ein Parteitag wird wohl kaum einberufen: Den letzten hat es 2010 gegeben, der vorletzte liegt 31 Jahre zurück. Schon in den vergangenen Monaten hat nach Berichten ausländischer Fachleute aber eine Säuberungswelle stattgefunden, in der Getreue von Kim Jong Un Schlüsselpositionen in Armee und Partei übernahmen. Sicher aber ist nichts, prophezeite Hanns Günther Hilpert, Asienexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, schon vor Wochen in einer Studie. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen jetzt hält er für „nicht besonders wahrscheinlich“, doch sei ein Machtwechsel für einen totalitären Staat stets ein „existenziell kritisches Ereignis“. Ideologisch ist Nordkorea schwer mit anderen Diktaturen zu vergleichen. Mit Marxismus hat das von einem Familien-Clan beherrschte System wenig zu tun. Die sogenannte Juche-Ideologie beruht auf quasi-religiösen Vorstellungen von der Reinheit des koreanischen Volkes. Ganz anders als früher die DDR setzt Pjöngjang offensiv auf eine Wiedervereinigung – nach eigenen Maßstäben. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie ernst das nordkoreanische Atomprogramm zu nehmen ist Wie ernst ist das nordkoreanische Atomprogramm zu nehmen?Seit vielen Jahren taugt es für Pjöngjang als Drohpotenzial – obwohl die Wirtschaft im Lande weitgehend zusammengebrochen ist und es meist nur noch stundenweise Strom gibt. Die Sechs-Parteien-Gespräche mit den USA, China, Südkorea, Russland und Japan hatte Nordkorea vor zwei Jahren abgebrochen – dass die meisten Beteiligten an den Verhandlungstisch zurückwollen, zeigt, dass sie die Aktivitäten des Regimes durchaus ernst nehmen. Erst am Wochenende stimmte Pjöngjang nach Berichten von Diplomaten in Seoul der Aussetzung seines umstrittenen Programms zur Urananreicherung zu. Im Gegenzug wollten die USA dem mit Versorgungsschwierigkeiten kämpfenden Land bis zu 240 000 Tonnen Lebensmittel liefern. Seit Jahren pumpt Pjöngjang einen Großteil des Staatsbudgets in die Armee. Nur wenige Stunden nach der Bekanntgabe des Todes von Kim Jong Il schoss Nordkorea offenbar eine Kurzstreckenrakete ab – zu Testzwecken, wie es hieß. Wie reagieren China und der Westen?China ist Nordkoreas wichtigster Verbündeter und hat bisher vermieden, es sich mit dem Regime in Pjöngjang zu verderben. Flüchtlinge aus Nordkorea werden in der Regel zurückgeschickt. Kim Jong Il reiste immer wieder mit seinem Sonderzug nach China. Norbert Eschborn, der für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Seoul arbeitet, berichtet: „Aber auch die Chinesen verzweifeln etwas. Für sie gleicht Nordkorea manchmal einem ungehorsamen, trotzigen Kind.“ Andere Fachleute vermuten, China werde das gewisse Machtvakuum nutzen und sich um engere Beziehungen bemühen. Deutsche Politiker äußerten sich zunächst nur vorsichtig. Der FDP-Asienexperte Bijan Djir-Sarai sprach von „Unwägbarkeit“ und „Angst, die nicht zu einer regionalen Destabilisierung führen darf“. Interessant ist, dass sich Konservative sehr früh als Türöffner betätigt haben. 1997, auf dem Höhepunkt der Hungerkatastrophe, reiste der heutige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) nach Nordkorea. Und er berichtete damals: „Das Straßenbild wird von gut ernährten, lebhaften Kindern geprägt.“
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Frage des Tages: Der "Geliebte Führer" Nordkoreas ist tot, sein jüngster Sohn bereits als Nachfolger präsentiert. Doch ein grundlegender Wandel ist in dem totalitären Staat nicht zu erwarten
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außenpolitik
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2011-12-20T08:44:11+0100
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2011-12-20T08:44:11+0100
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https://www.cicero.de//aussenpolitik/welche-gefahr-birgt-kim-jong-ils-tod/47727
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Wahlkampf im TV - Fünfkampf schlägt Duell
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Man hätte den „Fünfkampf“, den die ARD einen Tag nach dem „Duell“ zwischen Angela Merkel und Martin Schulz sendete, auch „Kampf um Platz drei“ nennen können. Und tatsächlich ist die Frage, welche Partei das drittstärkste Ergebnis bei der Bundestagswahl erzielen wird, eindeutig spannender als die um die Spitzenposition. Zu groß ist der Abstand in den Umfragen zwischen Union und SPD, und auch das lauwarme Aufeinandertreffen der Kanzlerin mit ihrem Herausforderer wird daran nicht viel geändert haben. Die sogenannten kleinen Parteien aber liegen ungefähr gleichauf. Außerdem präsentierten sich mit den Grünen und der FDP die einzigen realistischen Alternativen zu einer Großen Koalition. Umso merkwürdiger war deswegen die Teilnahme der CSU in Person ihres Spitzenkandidaten Joachim Herrmann, der den Abend erst zu einem „Fünfkampf“ machte. Eine Regionalpartei also, die mit der CDU im Bund eine Fraktion bildet und die in 15 von 16 Bundesländern nicht wählbar ist. Umso besser im Sinne der Fairness, dass Joachim Herrmann in der Diskussion dann weitgehend blass blieb und sich vom üblichen CSU-Sound nicht abhob. „Bayern, Bayern, Bayern“ und „Polizei, Polizei Polizei“ – so lassen sich die gesammelten Beiträge Herrmanns zusammenfassen. Also konnte man sich auf die anderen vier Parteien konzentrieren, die mit Sahra Wagenknecht (Die Linke), Alice Weidel (AfD), Cem Özdemir (Die Grünen) und Christian Lindner (FDP) ihre Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt hatten. Und das war deutlich erhellender und abwechslungsreicher als das Duell am Tag zuvor. Dass dies kein staatstragender Kuschelabend werden würde, lag natürlich schon in der Konstellation begründet. Die Linke beispielsweise kann naturgemäß mit der FDP viel weniger anfangen als die CDU mit der SPD. Außerdem müssen die kleineren Parteien allesamt schauen, dass sie auffallen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Aber es lag auch an dem Format. Die Moderatoren wirkten von Anfang an bemüht, dass es nicht wieder so viele Themen, die fehlen, geben würde. Hatten Merkel und Schulz vor allem über Flüchtlinge, Außenpolitik, Sicherheit und den Arbeitsmarkt gesprochen, ging es am Montag um einen breiten Strauß an Themen, darunter auch die Digitalisierung, Bildung und Elektromobilität. Das klappte nicht immer, auch weil die Moderatoren viele Debatten mit dem etwas albernen Blick auf die „Zeit pro Kandidaten“ im Keim erstickten und nicht jeder Politiker zu jedem Thema etwas sagen konnte. Aber insgesamt konnte der Zuschauer doch einen recht umfassenden Überblick über die jeweiligen Positionen gewinnen. Wirklich neu war dabei jedoch nicht viel. Dass Lindner den Staat besser und effizienter gegen den Terror aufstellen will, Wagenknecht für höhere Renten und niedrigere Mieten ist, Weidel die deutschen Außengrenzen sichern möchte, und Özdemir dafür eintritt, die deutschen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien zu stoppen, hatte man auch schon vorher hie und da mal gehört. Aber immerhin: Es wurde gestritten, es gab Schlagabtausche und die Kandidaten nickten sich nicht laufend gegenseitig ab. Den besten Eindruck machte dabei Cem Özdemir, dem selbst konservative Beobachter einen starken Auftritt attestierten. Özdemir zeigte sich zum richtigen Zeitpunkt scharf, als er etwa die Europakritik der Linken und der AfD gleichzeitig abkanzelte („Ich mag diesen anti-europäischen Populismus weder von rechts noch von links“) und humorvoll, als er in Richtung Herrmann sagte: „Wir beide mussten ja auch dafür sorgen, dass wir die hochdeutsche Sprache soweit erlernen, dass wir hier mitmachen können.“ Auch Christian Lindner konnte häufig punkten und sorgte mit seiner roten Krawatte dafür, dass die Zuschauer ihn auch ohne den Schwarzweiß-Filter seiner Werbespots erkennen werden. Aber insgesamt wirkte der FDP-Chef im Vergleich zu seinen rhetorisch oft brillanten Auftritten doch ein wenig brav. Von Sahra Wagenknecht wird an diesem Abend wenig in Erinnerung bleiben, aber ihre Klientel wird sie bedient haben. Das kann man von Alice Weidel nicht behaupten. Die AfD-Spitzenkandidatin wirkte neben der Spur, als ob sie sich nicht zwischen der Rolle der Provokateurin von Rechts und der Stimme der Vernunft entscheiden wollte. Bezeichnend war eine Äußerung, die wohl nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber deutlich vernehmbar war. Wagenknecht hatte gerade mit einem kruden Vergleich die Situation am Mietmarkt beschrieben, „eine Wohnung ist keine Kartoffel, die man sich mal eben bei dem einen oder anderen Gemüsehändler kauft“. Von Weidel war daraufhin ein „Oh Gott" zu hören, dann schaute sie in Richtung Lindner und sagte: „Wollen Sie?“ Linder ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen und konterte Wagenknecht scharf. Warum aber hatte Weidel dem Mitbewerber so das Feld überlassen? Man kann sich vorstellen, was ihre abgesägte Parteifreundin Frauke Petry aus dieser Situation und dem Abend gemacht hätte. Denn an diesem Abend ging es um viel. Und womöglich war das der Grund, warum der Fünfkampf so viel besser als das Duell war. Schon im Vorfeld war eigentlich klar gewesen, dass Martin Schulz höchstens ein paar Prozentpunkte auf Angela Merkel hätte gutmachen können. Ein paar Prozentpunkte können bei den kleinen Parteien aber den Unterschied machen zwischen dritter und letzter Kraft und sogar zwischen Opposition und Regierung. Wahlen, das hat der Abend gezeigt, können doch ganz schön spannend sein.
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Constantin Wißmann
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Nach dem Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz durften im Fernsehen auch die kleinen Parteien ran. Das war weniger staatstragend, aber deutlich informativer und kurzweiliger. Besonders ein Grüner konnte punkten, die AfD hätte wohl besser jemand anderen geschickt
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"TV-Duell",
"Christian Lindner",
"Cem Özdemir",
"Sahra Wagenknecht",
"Alice Weidel",
"Joachim Herrmann"
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innenpolitik
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2017-09-05T00:24:11+0200
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https://www.cicero.de//innenpolitik/wahlkampf-im-tv-fuenfkampf-schlaegt-duell
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