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stringdate 1949-09-12 00:00:00
2021-05-07 00:00:00
|
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
0 | 2 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 2. Sitzung des Bundestags. Nach unserer Tagesordnung haben wir nunmehr
zur
Eidesleistung des Herrn Bundespräsidenten
zu schreiten. Nach Artikel 56 des Grundgesetzes leistet der Herr Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats seinen Eid.
Ich stelle fest, daß auf Grund des Namensaufrufs die Mitglieder des Bundestags versammelt sind. Ich darf Sie, Herr Präsident des Bundesrats, fragen, ob im Sinne des Artikels 56 der Bundesrat versammelt ist.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01002.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-12
|
1 | 2 | 1 | null |
Arnold
| -1 |
Der Bundesrat ist versammelt, Herr Präsident.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01002.pdf
|
Guest
|
präsident des bundesrats
|
1949-09-12
|
2 | 2 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Ich danke für diese Erklärung. Ich stelle damit fest, daß die Mitglieder des Bundestags und des Bundesrats versammelt sind.
Ich darf Sie nunmehr bitten, Herr Bundespräsident, sich zu mir heraufzubegeben. -Ich lege das Original des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland auf diesen Tisch.
Herr Bundespräsident, ich darf Sie bitten, mir nun den Eid nachzusprechen, den ich mir erlauben werde Ihnen vorzusprechen:
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
({0})
Meine Damen und Herren, der Herr Bundespräsident hat den Eid geleistet.
Ich darf Sie fragen, Herr Bundespräsident, ob Sie den Wunsch haben, an die Versammlung eine Ansprache zu richten.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01002.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-12
|
3 | 2 | 1 | null |
Heuss
| -1 |
Ja, ich habe den Wunsch.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01002.pdf
|
Guest
|
bundespräsident
|
1949-09-12
|
4 | 2 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Ich erteile dem Herrn Bundespräsidenten das Wort.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01002.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-12
|
5 | 2 | 1 | null |
Heuss
| -1 |
Verehrte Mitglieder des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesversammlung! Niemand wird - so hoffe ich - mißdeuten, und mancher wird, denke ich, verstehen, wenn ich in dieser mich sehr bewegenden Stunde, die mein Leben verwandelt, zunächst sehr persönliche Dinge ausspreche und zweier Männer gedenke: meines früh verstorbenen Vaters, der in die Seelen seiner jungen Söhne die Legenden des Jahres 48 gegossen hat, die mit der Familiengeschichte verbunden sind, und der uns einen Begriff davon gab, daß die Worte Demokratie und Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebengestaltende Werte sind; und Friedrich Naumanns, des Mannes, der das wachsende Leben gestaltet hat, ohne den ich nicht das wäre, was ich bin, dem ich das Wissen zumal verdanke, das als Erbe in mir geblieben ist, daß die Nation nur leben kann, wenn sie von der Liebe der Massen des Volkes getragen wird, von dem ich gelernt habe, daß die soziale Sicherung mit die Voraussetzung der politischen Sicherung ist. Er hat uns das Wort in die Seele geschrieben: „Das Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse sind für uns nur die zwei Seiten einer und derselben Sache."
Ich darf an dieser Stelle mit aller Gelassenheit aussprechen: dieses Amt wurde von mir nicht in einem unruhigen Ehrgeiz erstrebt. Es ist für mich mit persönlicher Resignation verbunden; denn manche Pläne wissenschaftlicher und literarischer Natur entfliehen mit ihm. Aber ich darf sagen, daß ich noch nie einer Aufgabe ausgewichen bin, wenn die Pflicht es verlangte. Ich möchte in der Berufung in dieses Amt die Deutung so sehen dürfen, daß sie eine Anerkennung darstellt für die Mittleraufgabe, die mir im Verlaufe des letzten Winters und Frühjahrs in Bonn zugewachsen war, als wir das Grundgesetz zu bilden hatten.
Noch ein persönliches Wort! In den Zeitungen habe ich in diesen letzten Tagen allerhand seltsame Dinge von mir lesen können - nette Sachen -, aber daß mir die „Ellbogenkraft" fehle, die zum Politiker gehöre. Ich selber habe das Gefühl: von der Ellbogenpolitik haben wir reichlich genug gehabt. Ich betrachte es persönlich als einen Gewinn meines Lebens im öffentlichen Sein, daß ich, um die Worte von ehedem zu gebrauchen, auf der Rechten wie auf der Linken persönliche Freundschaften und Vertrauensverhältnisse besaß und heute besitze; das wird so bleiben. Es mag einer auch darin einen Mangel sehen; aber mir scheint, daß dieses Amt, in das ich gestellt bin, keine Ellbogenveranstaltung ist, sondern daß es den Sinn hat, über den Kämpfen, die kommen, die nötig sind, die ein Stück des politischen Lebens darstellen, nun als ausgleichende Kraft vorhanden zu sein.
Was ist denn das Amt des Präsidenten der Deutschen Bundesrepublik? Es ist bis jetzt ein Paragraphengespinst gewesen. Es ist von dieser Stunde an ein Amt, das mit einem Menschentum gefüllt ist. Und die Frage ist nun, wie wir, wir alle zu({0})
asammen, aus diesem Amt etwas wie eine Tradition, etwas wie eine Kraft schaffen, die Maß und Gewicht besitzen und im politischen Kräftespiel sich selber darstellen will.
Es ist nicht meine Aufgabe und kann nicht meine Vermessenheit sein, in dieser Stunde so etwas wie ein Regierungsprogramm Ihnen vorzutragen. Das ist nicht meines Amts. Aber Sie haben einen Anspruch darauf, Auffassungen von mir kennenzulernen.
Wir sind eine Bundesrepublik. Und nun die Frage: Sind wir zusammengefügt aus Staaten, oder sind wir auseinandergegliedert in Staaten? Wenn man sich das plastisch vorstellt, so spürt man gleich, daß hier zwei Geschichtsauffassungen, die gleichzeitig politisch aktuellen Charakter haben, nebeneinandertreten. Wir stehen in der dauernden Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. In dem Bundestag kommt dies zum Ausdruck, daß das deutsche Volk in diesen letzten acht Jahrzehnten eine historische Rechtspersönlichkeit eigenen Ranges geworden ist und nicht bloß eine Addition von Landsmannschaften darstellt.
({1})
Aber indem wir das sagen, bejahen wir doch die Landsmannschaft. Die Schwierigkeiten, die in dieser Frage stecken, sind jedem, der im öffentlichen Leben gewirkt hat, offenkundig genug. Nach dem ungeheuren Vorgang, in dem wir heute drinstehen, dieser furchtbaren Binnenwanderung von Millionen Heimatloser, die eine neue Heimat finden sollen, finden müssen, ist der Begriff der Landsmannschaft in mancher Wandlung mitbegriffen.
Aber die Länder als Staatsfiguren sind Elemente unseres staatlichen Lebens, und hier die große Schwierigkeit: sie stehen in den Paragraphen gleichen Rechts und gleicher Art nebeneinander, aber sie haben eine verschiedene Geschichtsträchtigkeit, und an dieser Frage werden sich sehr große Schwierigkeiten entwickeln. Wir sind uns dieser Reibungen bewußt. Wir wissen dies: in Deutschland wird in den einzelnen Ländern nicht nur sprachlich, sondern auch politisch ein verschiedener Dialekt gesprochen. Das schadet nichts. Es ist nur zu wünschen, daß die, die diese verschiedenen Dialekte sprechen, der gemeinsamen Grundsprache sich je und je bewußt bleiben.
Wir hatten in den Verhandlungen über das Grundgesetz - und wir werden das hier wieder bekommen - die Problematik des Verhältnisses der einzelnen Länder zu dem Bund. Dazu ein persönliches Wort: wir wollen keinen Zentralismus in Deutschland haben. Wir haben die Lehre der Nationalsozialisten hinter uns, die uns gezeigt haben, wohin es führt, wenn der deutsche Mensch genormt werden soll. Wir wollen nicht den genormten Deutschen! Wir wollen dies so aussprechen: die Länder sollen ihr Eigenleben führen, aber nicht ihr Sonderleben, sondern im Verband des Gemeinen. Man möge das nicht falsch verstehen, wenn ich sie begreifen will als die hohen Entfaltungen - gleichviel wie die psychologischhistorischen Voraussetzungen sind - der Selbstverwaltung.
Man hat von den Deutschen oft geredet, daß sie ein „unpolitisches Volk" seien. Das will ich jetzt nicht vertiefen, es geht ja durch unsere eigene Kritik hindurch. Aber dies möchte ich sagen dürfen: die Legende von dem unpolitischen Volk der Deutschen ist falsch, wenn wir etwas davon wissen, was die Selbstverwaltung in Deutschland, seitdem sie der Freiherr vom Stein geschaffen hat, aus diesem deutschen Volk in den konkreten Aufgaben gemacht hat. Und so begreife ich - wenn wir das Zentralistische, Befehlsmäßige ablehnen - die Gliederung, in der wir leben, als die großen Schulungsmöglichkeiten und als die Voraussetzungen zu dem, was ich eine lebendige Demokratie nennen möchte. Eine lebendige Demokratie!
Es ist - davon ist neuerlich nicht viel zu sagen - das geschichtliche Leid der Deutschen, daß die Demokratie von ihnen nicht erkämpft wurde, sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Legitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der Staat in Katastrophen und Kriegen zusammengebrochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn nach 1918, in der der Beginn heute mit uns steht, das Fertigwerden mit den Vergangenheiten. Diese Aufgabe war 1918 da. Damals dynastische Empfindungen, die weitergingen, von denen nicht gering zu sprechen ist; heute das Problem, vom Ausland stärker gesehen und groß gemacht, wieweit die nahe Vergangenheit, die hinter uns liegt, noch seelisch zwischen uns vorhanden.
Es ist eine Gnade des Schicksals beim Einzelmenschen, daß er vergessen kann. Wie könnten wir als einzelne leben, wenn all das, was uns an Leid, Enttäuschungen und Trauer im Leben begegnet ist, uns immer gegenwärtig sein würde. Und auch für die Völker ist es eine Gnade, vergessen zu können. Aber meine Sorge ist, daß manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade Mißbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind. Das soll kein Wort der Rachegefühle, des Hasses sein. Ich hoffe, daß wir dazu kommen werden, nun aus dieser Verwirrung der Seelen im Volk eine Einheit zu schaffen. Aber wir dürfen es uns nicht so leicht machen, nun das vergessen zu haben, was die Hitlerzeit uns gebracht hat.
Die Bundesrepublik Deutschland umfaßt nur einen Teil unseres Volkes. Ich darf von den Deutschen im Osten sprechen. Ich muß von Berlin sprechen. Mehr als die Hälfte meines Lebens - verzeihen Sie das persönliche Wort - habe ich in dieser Stadt gelebt. Ich habe jahrelang als Bezirks- und Stadtverordneter mit in ihr gewaltet. Es ist mir eine Herzenssache und nicht bloß rationale Überlegung, dies auszusprechen: Berlin ist heute an das Schicksal Westdeutschlands gebunden; aber das Schicksal von Gesamtdeutschland bleibt an Berlin gebunden. Dessen müssen wir uns bewußt bleiben.
Und dann das andere. Ich habe selber, als wir das Grundgesetz berieten, den Antrag gestellt, daß wir uns als „stellvertretend" empfinden für die deutschen Brüder, die an dieser Aufgabe nicht mitwirken konnten. Wir wissen gut genug, daß das Herausarbeiten aus unserer Quasi-Souveränität, in der wir stecken, nicht bloß von uns geleistet wird, daß hier eine Weltproblematik vorliegt, daß wir in dem Mächteschicksal der anderen mit gebunden sind. Aber wir sprechen dies aus: Es ist mir in den politischen Erörterungen der vergangenen Jahre manchmal begegnet, daß man von dem Ackerboden, von den Kartoffelfeldern, von dem Kalorienvorrat sprach. Es ist ganz gut, wenn wir den anderen etwas davon erzählen, was es für die Ernährung Deutschlands bedeutet, daß diese Basis entrückt ist. Aber der deutsche Osten ist nicht bloß Getreideacker und Kartoffelfeld; er ist die
({2})
Heimat deutscher Menschen. Dessen sollen wir uns in diesen Auseinandersetzungen im Innern wie nach außen hin immer bewußt bleiben. Seit die großen 'Wanderungen des späten Mittelalters zu Ende kamen und sich festigten, ist dort deutsches Land, das wir nicht vergessen können, weil es in unserem Geschichtsgefühl und in dem Wissen um das Schicksal von Millionen deutscher Menschen bleibt. Dessen sollen auch die anderen innewerden und innebleiben.
Der Bundesrat und der Bundestag werden vor schier unzählige Aufgaben gestellt sein: die Vereinheitlichung des Rechts, das in den Ländern und in den Zonen auseinandergelaufen ist, die Fragen des Lastenausgleichs, Finanzprobleme, die Fragen des Wohnungsbaus, der Kriegsbeschädigten, der Kriegshinterbliebenen, die Sorge für die Vertriebenen, die Eingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft, ohne die wir nicht leben können. Die Frage aber ist die erste im Sinne des Rangs, nicht im Sinne des Morgen-damit-fertig-Werdens. Wann wird es möglich sein, die vornehmste Aufgabe hier mit zu lösen, daß wir die staatliche Selbständigkeit für unser Volk und unseren werdenden Staat zurückgewinnen?
Wir wissen, daß eine Gesamtwende der Fragestellungen gegenüber den historischen Vorstellungen und Gegebenheiten von nationalstaatlicher Bindung im Werden ist und daß die europäische Gesamtstaatlichkeit nun nicht mehr bloß Traum- oder Wunschbild von Idealisten oder Geschichtskonstrukteuren ist, sondern daß sie als realistische Aufgabe vor uns steht.
Deutschland braucht Europa, aber Europa braucht auch Deutschland. Wir wissen es im Geistigen: wir sind in der Hitlerzeit ärmer geworden, als uns die Macht des Staates von dem Leben der Völker absperrte. Aber wir wissen auch dies: die anderen würden ärmer werden ohne das, was Deutschland bedeutet. Wir stehen vor der großen Aufgabe, ein neues Nationalgefühl zu bilden. Eine sehr schwere erzieherische und erlebnismäßige Aufgabe, daß wir nicht versinken und steckenbleiben in dem Ressentiment, in das das Unglück des Staates viele gestürzt hat, und daß wir nicht ausweichen in hochfahrende Hybris, wie es ja nun bei den Deutschen oft genug der Fall war. Seltsames deutsches Volk, voll der größten Spannungen, wo das Subalterne neben dem genial spekulativ Schweifenden, das Spießerhafte neben der großen Romantik steht. Wir haben die Aufgabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde neu zu bilden, die wir im Innern der Seele nie verloren.
Darf ich den Zufall der Zeit und des Ortes als Symbol nehmen, daß wir in diesem Jahre 1949 den 200. Geburtstag von Goethe begangen haben und daß wir hier in der Geburtsstadt von Beethoven weilen. Es steht uns nicht an, aus diesen beiden Namen, aus diesen beiden großen Erscheinungen etwas zu machen wie Reklameartikel und Propagandageschäfte. Es steht uns auch nicht an, wohlwollend auf ihre Schultern zu klopfen. Aber wir spüren dies: daß in diesen beiden Männern aus dem deutschen Mutterboden Weltwerte geworden sind, vor denen wir selber stolz und bescheiden stehen. Sie mögen uns in der Zerschlagenheit der Zeit Festigung und Trost bedeuten.
Verehrte Mitglieder des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesversammlung! Im Bewußtsein meiner Verantwortung vor Gott trete ich dieses Amt an. Indem ich es übernehme, stelle ich dieses Amt und unsere gemeinsame Arbeit unter das Wort des Psalmisten: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk."
({3})
Präsident Dr. Köhler ({4}): Möge Ihre Wahl dem deutschen Volke zum Segen und zum Wohle gereichen!
Wir werden nunmehr den Herrn Bundespräsidenten hinausgeleiten.
Ich schließe die Sitzung.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01002.pdf
|
Guest
|
bundespräsident
|
1949-09-12
|
6 | 3 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 3. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Wir treten in die Tagesordnung ein. Punkt 1:
Mitteilungen.
Es fehlen heute wegen Erkrankung oder sonst entschuldigt folgende Mitglieder des Hauses: Dr. Suhr, Brandt, Eichler, Frau Kipp-Kaule, Kuhlemann, Walter Vesper, Dr. Wellhausen.
Ich habe Ihnen ferner ein Schreiben des Herrn Bundespräsidenten folgenden Wortlauts zur Kenntnis zu bringen:
Da gemäß Artikel 55 des Grundgesetzes der Bundespräsident weder der Regierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes angehören darf, teile ich Ihnen hierdurch mit, daß ich auf meinen Sitz als Abgeordneter im Bundestag verzichte.
Der Name der Nachfolgerin im Mandat ist mir amtlich bereits mitgeteilt worden: es ist Frau Abgeordnete Margarete Hütter, die ich hiermit begrüße.
Ich habe ferner von folgendem Schreiben Kenntnis zu geben:
Die Abgeordneten Dr. Franz Richter, Dr. Herwart Mießner, Adolf von Thadden, Landwirt Frommhold der Deutschen Rechtspartei, Abgeordneter Dr. Fritz Dorls und Abgeordneter
Dr. Heinrich Leuchtgens der Nationaldemokratischen Partei haben sich zu der Gruppe „Nationale Rechte" im Bundestag zusammengeschlossen.
({0})
Meine Damen und Herren! Wir kommen nunmehr zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Wahl des Bundeskanzlers.
Ehe wir zur Wahl schreiten, darf ich auf die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes hinweisen. Nach Artikel 63 Absatz 1 wird der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.
Der Herr Bundespräsident hat mir folgendes Schreiben übermittelt:
Ich schlage den Abgeordneten Dr. Konrad
Adenauer zum Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland vor
Nachdem Sie den Vorschlag des Herrn Bundespräsidenten gehört haben, schreiten wir zur Wahl. Ich bitte die Mitglieder des Bundestags, ihr Wahlrecht durch Abgabe der im Umschlag befindlichen Stimmzettel auszuüben dergestalt, daß auf den Stimmzettel entweder das Wort „Ja" oder das Wort „Nein" geschrieben wird bzw. bei Stimmenthaltung der Stimmzettel keine Bezeichnung erhält. Ich bitte, die Stimmzettel ungefaltet in die Umschläge zu stecken und darauf zu achten, daß nicht etwa versehentlich ein zweiter, leerer Stimmzettel sich im Umschlag befindet.
Was die technische Form der Abstimmung anlangt, so wollen wir die gleiche Methode anwenden wie bei der Wahl des Herrn Bundespräsidenten. Es sind drei Urnen vorhanden, eine hier in der Mitte, eine links und eine rechts. - Ich bitte - wie bei der Wahl des Herrn Bundespräsidenten - die Abgeordneten Frau Albertz, Karpf und Dr. Zawadil, sich an die Urnen zu begeben, um die Umschläge mit den Stimmzetteln in Empfang zu nehmen. Ferner bitte ich die Schriftführer, nachzusehen, ob die Urnen ohne Inhalt sind. - Ist das geschehen? - Ich stelle das fest.
Ist das Haus damit einverstanden, daß zur Vereinfachung der Abstimmung die Namen aufgerufen werden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Nunmehr bitte ich, mit der Stimmabgabe zu beginnen.
({1})
Meine Damen und Herren! Ich frage, ob alle anwesenden Mitglieder des Bundestags aufgerufen worden sind und ihr Stimmrecht ausgeübt haben.
({2})
- Bitte, geben Sie Ihre Stimme ab! Weitere Einsprüche werden nicht angemeldet. Dann erkläre ich die Wahlhandlung für geschlossen.
Ich bitte die Damen und Herren, die die Wahlurnen betreut haben, die Wahlurnen neben mir auf dem Regierungstisch zu entleeren und mit der Auszählung zu beginnen.
({3})
Ich berufe zur weiteren Hilfe den Schriftführer Abgeordneten Pannebecker.
({4})
Ich darf noch eine geschäftliche Mitteilung machen. Es ist mir inzwischen gemeldet worden, daß die Abgeordneten Götzendorff und Schuster noch nicht anwesend sind.
({5})
Meine Damen und Herren, ich möchte das Ergebnis der Stimmabgabe bekanntgeben. Bevor ich es tue, möchte ich eine formelle Frage klären. Ich habe vorhin zum Ausdruck gebracht, daß entweder „Ja" oder „Nein" bzw. bei Enthaltungen nichts auf die Stimmzettel geschrieben werden soll. Es hat sich nunmehr herausgestellt, daß auf drei Stimmzetteln der Name „Adenauer" steht. Ich bitte das Haus um eine Meinungsäußerung, ob diese Stimmzettel als gültig anzusehen sind.
({6})
- Ich höre keinen Widerspruch. Dann darf ich die Einmütigkeit des Hauses feststellen, daß die drei mit dem Namen „Adenauer" beschriebenen Zettel als solche im Sinne des angegebenen Abstimmungsverfahrens gelten.
Meine Damen und Herren, ich stelle nun folgendes fest. Mit Ja haben 202, mit Nein 142 gestimmt, 44 Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten, und eine Stimme ist ungültig. Nach den Vorschriften des Grundgesetzes über die Wahl des Bundeskanzlers, Artikel 63 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 121, beträgt die absolute Mehrheit der 402 Mitglieder des Bundestags 202. Diese Mehrheit im Sinne der eben genannten Vorschriften ist auf den Abgeordneten Dr. Adenauer entfallen.
({7})
Meine Damen und Herren! Ich habe den Herrn Abgeordneten Dr. Adenauer zu fragen, ob er bereit ist, die auf ihn gefallene Wahl zum Bundeskanzler anzunehmen.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01003.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
7 | 3 | 1 | null |
adenauer
| 11,000,009 |
Ja.
| 4 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01003.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-15
|
8 | 3 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Der Herr Abgeordnete Dr. Adenauer hat erklärt, er nehme die Wahl als Bundeskanzler an. Ich stelle fest, daß damit der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt ist. Ich werde nach der Vorschrift des Artikels 63 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes dem Herrn Bundespräsidenten die entsprechende Mitteilung zur weiteren Veranlassung machen.
Wir sind am Ende der Tagesordnung der dritten Bundestagssitzung angekommen. Ich berufe die nächste, die vierte Bundestagssitzung auf 12 Uhr 30.
Die Sitzung ist geschlossen.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01003.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
9 | 4 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 4. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Sie umfaßt lediglich zwei Anträge in Zusammenhang mit Artikel 46 Absatz 4 des Grundgesetzes:
1. Antrag des Abgeordneten Loritz, betreffend Aussetzung des Strafverfahrens gegen ihn bis zur Beschlußfassung des Bundestags über die Aufhebung der Immunität gemäß Artikel 46 Absatz 4 des Grundgesetzes ({0}); Berichterstatter: Abg. Zinn;
2. Antrag des Abgeordneten Onnen, betreffend Aussetzung des Strafverfahrens gegen ihn bis zur Beschlußfassung des Bundestags über die Aufhebung der Immunität gemäß Artikel 46 Absatz 4 des Grundgesetzes ({1}); Berichterstatter: Abg. Zinn.
Gemäß einer gestrigen Abmachung im Ältestenrat hat es der Abgeordnete Zinn freundlicherweise übernommen, die Funktion des Berichterstatters auszuüben. Ich bitte Herrn Abgeordneten Zinn, als Berichterstatter das Wort zu nehmen und der Vereinfachung der Geschäftsführung halber gleichzeitig über beide Anträge zu sprechen.
Zinn ({2}), Berichterstatter: Meine Damen und Herren! Gegen zwei Mitglieder des Hauses, gegen den Herrn Abgeordneten Alfred Loritz und gegen den Herrn Abgeordneten Alfred Onnen, sind Strafverfahren anhängig, die bereits in dem Augenblick anhängig waren, in dem beide Herren die Abgeordneteneigenschaft erworben haben, also im Augenblick der Annahme der Wahl.
Im Falle des Herrn Abgeordneten Loritz handelt es sich um ein Verfahren, das zur Zeit vor dem Landgericht III in München wegen Beleidigung anhängig ist.
({3})
Die Hauptverhandlung ist anberaumt, sie ist zur Zeit unterbrochen und soll morgen fortgesetzt werden.
Im anderen Falle handelt es sich um ein auf Artikel 2 Ziffer 1 c des Kontrollratsgesetzes. Nr. 10 gestütztes Verfahren. Die Hauptverhandlung ist in diesem Falle noch nicht anberaumt.
Es bestehen nun Zweifel über die Auslegung des Artikels 46 Absatz 2 des Grundgesetzes, der sich mit der Immunität befaßt. Das bayerische Gericht steht auf dem Standpunkt. daß anhängige Verfahren fortgeführt werden können. Es stützt sich dabei auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts, und zwar auf ein Urteil aus dem Jahre 1875, das sich wiederum auf die Motive der Immunitätsvorschriften der alten preußischen Verfassung von 1851 stützt. Die Herren, die seinerzeit bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitgewirkt haben, sind der Ansicht, daß diese überlieferte und von der Rechtslehre unbesehen übernommene Rechtsauffassung nicht mehr mit der jetzigen Fassung des Grundgesetzes zu vereinbaren ist.
Es gilt nunmehr, Zeit zu finden, um festzustellen, welche von diesen beiden Rechtsauffassungen zweifelsfrei richtig ist.
Die beiden Herren haben beantragt, die anhängigen Verfahren auf Grund des Artikels 46 Absatz 4 des Grundgesetzes auszusetzen. Das Haus hat es nach dieser Vorschrift in der Hand, jedes Verfahren, ein zulässigerweise von einem Gericht eingeleitetes Verfahren, aber auch ein unzulässigerweise von einem Gericht eingeleitetes Verfahren auszusetzen. Der Ältestenrat stand gestern auf dem Standpunkt, daß es mit Rücksicht auf die Zweifelhaftigkeit der Rechtslage, insbesondere die Auffassung, die hier im Hause vertreten worden ist, zweckmäßig ist, das Verfahren in den beiden Fällen vorläufig auszusetzen. Damit ist keine Entscheidung in der Sache selbst gefällt, insbesondere nichts darüber gesagt, ob nach Art und Umständen der den beiden Herren zur Last gelegten strafbaren Handlungen sie für die Dauer ihrer Abgeordneteneigenschaft Immunität genießen sollen. Es wird Sache der Staatsanwaltschaft bzw. des zuständigen Gerichts oder der betreffenden Herren selbst sein, die Aufhebung der Immunität oder aber eine endgültige Entscheidung über eine Aussetzung auf Grund des Artikels 46 Absatz 4 zu beantragen.
Ich empfehle deshalb auf Grund der gestrigen Aussprache zu beschließen, daß das gegen den Abgeordneten Loritz vor dem Landgericht München III anhängige Strafverfahren auf Grund des Artikels 46 Absatz 4 vorläufig ausgesetzt wird, eine Entscheidung des Bundestags über die endgültige Aussetzung oder aber über die Aufhebung der Immunität erfolgt ist. Ich empfehle gleich. zeitig zu beschließen, daß das gegen den Abgeord.
({4})
neten Alfred Onnen vor dem Landgericht in Oldenburg eingeleitete Verfahren auf Grund des Artikels 46 Absatz 4 des Grundgesetzes vorläufig ausgesetzt wird, bis ebenfalls eine Entscheidung des Bundestags über die endgültige Aussetzung oder über die Aufhebung der Immunität erfolgt ist. Damit hat der Bundestag selbst zur Sache noch keine Stellung genommen, sondern nur ermöglicht, daß in einem etwa noch zu bildenden Ausschuß die Frage im einzelnen erörtert werden kann, ob es angebracht ist, die Immunität aufzuheben, welche der vorliegenden Rechtsauffassungen zutreffend ist oder ob eine endgültige Aussetzung angebracht erscheint.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
10 | 4 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Ich danke dem Herrn Berichterstatter für seine Ausführungen und eröffne die Aussprache. Ich nehme das Einverständnis des Hauses damit an, daß, ebenso wie der Herr Berichterstatter gemeinsam über beide Anträge berichtet hat, so auch die Aussprache über beide Anträge gleichzeitig erfolgt. - Das Haus ist damit einverstanden. Ich bitte um Wortmeldungen. - Ich stelle fest, daß keine Wortmeldungen erfolgen. Dann erkläre ich die Beratung für geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer für den unter Punkt 1 der Tagesordnung gestellten Antrag des Abgeordneten Loritz in der vorliegenden Fassung ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Es war eindeutig die Mehrheit.
Wir kommen zur Abstimmung über den unter Punkt 2 der Tagesordnung gestellten Antrag des Abgeordneten Onnen. Wer dafür ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Es ist mit eindeutiger Mehrheit beschlossen.
Damit ist die Tagesordnung der 4. Sitzung des Deutschen Bundestags erschöpft.
Meine Damen und Herren, ich habe nunmehr folgende geschäftliche Mitteilungen über den weiteren Verlauf der Plenarsitzungen in der nächsten Woche zu machen. Im Ältestenrat, dem Vertreter aller Parteien und politischen Gruppen des Hohen Hauses angehören, ist gestern folgende Verständigung zustande gekommen. Am Montag, dem 19., nachmittags 2 Uhr, soll eine Plenarsitzung stattfinden, deren Tagesordnung folgende sein wird:
1. Beschlußfassung über die vorläufige Geschäftsordnung
- die Erledigung dieser Frage ist deshalb notwendig, weil von ihr naturgemäß eine ordnungsgemäße Führung der in den nächsten Tagen stattfindenden Aussprache über die Regierungserklärung abhängt -,
2. amtliche Bekanntgabe über die Bildung der Bundesregierung,
3. Vereidigung des Bundeskanzlers und der Bundesminister,
4. Entgegennahme der Regierungserklärung.
Es besteht Übereinstimmung darüber, daß die Sitzung nach Entgegennahme der Regierungserklärung am Montag nachmittag wieder geschlossen wird, um den Fraktionen des Hauses Gelegenheit zu geben, zu der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers Stellung zu nehmen. Es ist dann beabsichtigt, am Dienstag vormittag zu einem im Laufe des Montags zwischen den einzelnen Fraktionen noch zu vereinbarenden Zeitpunkt die Aussprache über die Regierungserklärung zu beginnen, etwa zwischen 9 und 10 Uhr; der genaue Termin wird noch bekanntgegeben.
Nach Abschluß der Aussprache über die Regierungserklärung wird eine weitere Plenarsitzung des Bundestags stattfinden, in der alle Anträge, die bisher, beginnend mit dem Tage der konstituierenden Sitzung des Bundestags, eingereicht worden sind, behandelt werden sollen. Ich werde in Gemeinschaft mit dem Ältestenrat die Tagesordnung, die sich aus den vorliegenden Anträgen ergibt, noch festsetzen und werde dann auch zur gegebenen Zeit den genauen Termin der an die Aussprache über die Regierungserklärung sich anschließenden weiteren Plenarsitzung bekanntgeben.
Herr Abgeordneter Blücher hat das Wort zur Geschäftsordnung.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
11 | 4 | 1 | null |
blücher
| 11,000,202 |
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist mir unangenehm, daß sich der erste Antrag, den ich stelle, auf eine Vertagung bezieht. Aber wir haben, als gestern unsere Vertreter in den Ältestenrat gingen, nicht gewußt, daß schon soweit im vorhinein disponiert werden würde. Infolgedessen stehen wir vor der Tatsache, daß ein Teil unserer Kollegen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, durch andere wesentliche Abhaltungen verhindert ist:
Zum zweiten aber - und das ist das Entscheidende - sind doch die Dinge, die in der nächsten und in den nachfolgenden Sitzungen zu behandeln sind, von solchem politischen Gewicht, daß sie durchaus einer reiflichen Überlegung bedürfen, und wir sehen in der Tat nicht die ausreichende noch freie Zeit, um bis zum Montag zu einer solchen Überlegung zu kommen.
({0})
- Ich freue mich, meine Herren, daß Sie besser unterrichtet sind, als meine Freunde und ich es sind. Wir haben jedenfalls diese Ansicht, und wir bitten, gerade weil es sich um Entscheidungen handelt, die letzten Endes die nächsten Jahre beeinflussen, uns auch die notwendige Zeit dazu zu geben. Es ist bisher immer der Fall gewesen, daß man eine derartige Prüfung und Prüfungsmöglichkeit zuläßt, wenn von einer Partei ein dahingehender Antrag gestellt. wird, der ganz offensichtlich nur darauf abzielt, die Dinge um insgesamt 24 Stunden zu verschieben. Um diese 24 Stunden sind wir dringend verlegen, und ich bitte daher das Hohe Haus, unserm Antrag zuzustimmen.
| 13 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-15
|
12 | 4 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Der Antrag würde also lauten, daß die nächste Plenarsitzung statt am Montag, dem 19., am Dienstag, dem 20., 14 Uhr, stattfindet.
({0})
Sie haben den Antrag des Herrn Abgeordneten Blücher gehört. Ich eröffne die Aussprache darüber.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmid.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
13 | 4 | 1 | null |
schmid
| 11,001,993 |
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß das Ergebnis der Abstimmung, die wir eben vorgenommen haben, nicht ganz ohne Einfluß auf die Antragsfreudigkeit des Kollegen Blücher gewesen ist.
({0})
Im allgemeinen geben wir Sozialdemokraten Appellen an unsere Courtoisie gerne Gehör; aber in diesem Falle muß ich das Hohe Haus bitten, diesen Antrag abzulehnen. Die Damen und Herren,
({1})
die sich um die Vertagung bemühen, hatten, glaube ich, 30 mal 24 Stunden Zeit, sich zu überlegen, auf welche Prinzipien hin sie ihre Regierung bilden wollten.
({2})
Wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, hat man diese Zeit vom 14. August ab fleißig genutzt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein weiterer Verzug von 24 Stunden sehr viel mehr Weisheit in die Entschlüsse der verantwortlichen Männer bringen könnte.
({3})
Ich glaube daher, daß das Hohe Haus darauf bestehen sollte, die Regierungserklärung am Montag verlesen zu bekommen, und zwar gibt es dafür einen sehr triftigen Grund: wir werden für die Debatte über die Regierungserklärung eine ganze Reihe von Tagen brauchen. Ich glaube sogar, daß wir darüber eine Woche debattieren werden. Ich nehme nicht an, daß die Argumente, die der Herr Bundeskanzler uns geben wird, so sein werden, daß schon die Debatte eines Tages sie erledigen könnte.
({4})
Ich könnte mir vorstellen, daß die Regierungserklärung so füllig ist, so angefüllt mit Vorschlägen, so tiefgründig,
({5})
daß man der Opposition, die keine 30 mal 24 Stunden zur Verfügung haben wird, doch die Zeit geben sollte, sich mit allem zu befassen, was uns diese Regierungserklärung kund und zu wissen tun wird. Da ich unsern verehrten Bundeskanzler schon recht lange kenne und daher weiß, wie reich seine politische Phantasie ist, bin ich überzeugt, daß er uns Stoff für eine Debatte geben wird, die sicher eine Woche dauern wird.
Wenn wir also die Regierungserklärung statt am Montag erst am Dienstag verlesen bekommen, verlieren wir einen Tag Zeit.
({6})
Die Erfahrung zeigt, meine Herren, daß von Freitag ab sehr wenige Abgeordnete mehr Lust haben werden, hier in Bonn zu bleiben.
({7})
- Das war Ihr Pech!
({8})
Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, den Antrag abzulehnen.
| 23 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-15
|
14 | 4 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Wird das Wort weiter gewünscht? - Bitte, Herr Abgeordneter Renner!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
15 | 4 | 1 | null |
renner
| 11,001,823 |
Meine Damen und Herren! In der gestrigen Sitzung des Ältestenrats waren die Herren Vertreter der FDP mit der Regelung einverstanden, die heute hier im Namen des Ältestenrats durch den Herrn Präsidenten bekanntgegeben worden ist. Wenn jetzt hier ein anderer Vorschlag gemacht worden ist, dann ist tatsächlich die Frage berechtigt, ob Herr Blücher im Namen und gemäß den Intentionen seiner Partei oder ob er als der kommende Herr Minister für den Herrn Bundeskanzler gesprochen hat.
({0})
Im Gegensatz zu dem Herrn Kollegen Carlo Schmid bin ich der Auffassung, daß die Verlesung der Regierungserklärung keinerlei Schwierigkeiten
machen wird, was die Vorbereitung derselben angeht. Es ist nicht nur so, daß der Herr Bundeskanzler seit Wochen konkret wegen der Zusammensetzung seiner recht schwachen Koalitionsregierung verhandelt hat. Wer den Herrn Bundeskanzler, den politischen Dr. Konrad Adenauer,
kennt, der kennt auch im voraus sein Programm.
Es dürfte wohl auch berechtigt sein festzustellen,
daß sowohl die Bildung, die Zusammensetzung der
kommenden Regierung als auch ihr Programm bereits den Herren Hohen Kommissaren bekanntgegeben und von denselben genehmigt worden ist.
({1})
Ich sehe also wirklich keine Notwendigkeit, - ({2})
| 20 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-15
|
16 | 4 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter Renner, ich möchte darauf hinweisen, daß sich im Grundgesetz keine Stütze dafür findet, daß das Programm eines Bundeskanzlers, gleichgültig von welcher politischen Gruppe er gestellt wird, vorher der Genehmigung der Hohen Kommissare bedarf.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
32 | 5 | 1 | null |
Schäffer
| 11,001,935 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für finanzen
|
1949-09-20
|
33 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Dr. Erhard!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
34 | 5 | 1 | null |
Erhard
| 11,000,486 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für wirtschaft
|
1949-09-20
|
35 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Nicklas!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
36 | 5 | 1 | null |
Nicklas
| 11,001,614 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für landwirtschaft und ernährung
|
1949-09-20
|
17 | 4 | 1 | null |
renner
| 11,001,823 |
Ich habe wohl das Recht, auf diese Ihre Meinung etwas zu sagen.
({0})
Das Grundgesetz ist insofern Grundgesetz, weil es von den Gouverneuren der Besatzungsmächte genehmigt worden ist.
({1})
Ich bin mir darüber klar, daß Herr Dr. Konrad Adenauer diese seine Verpflichtungen gegenüber den Besatzungsmächten genau kennt und einzuhalten bereit ist.
({2})
- Ich weiß nicht, was Moskau damit zu tun hat.
({3})
Hier bei uns herrscht Washington!
({4})
Ich will noch auf eine andere Seite der Geschichte eingehen. Gestern haben die Herren von der Sozialdemokratie im Ältestenrat gefordert, daß bereits heute nachmittag eine weitere Plenarsitzung durchgeführt wird, in der die von der SPD gestellten und in der ersten Sitzung bekanntgegebenen Anträge behandelt werden sollten. Es ist dann auf Grund eines sehr interessanten Intermezzos dazu gekommen, daß sich diese Herren Sozialdemokraten bereit erklärt haben, nachdem ihnen Herr Kaiser liebevoll zugeredet hat,
({5})
ihre getreue Oppositionshaltung erst am kommenden Dienstag bekanntzugeben. Das war ein Grund mehr dafür, daß diese Regelung gestern im Älte stenrat gegen die Stimme des Vertreters der kommunistischen Fraktion angenommen worden ist.
Ich bitte also, den Ältestenrat jetzt nicht zu desavouieren. Ich bitte den Herrn Bundeskanzler, sich dazu zu äußern, ob er tatsächlich noch weitere 24 Stunden benötigt, um sein bereits genehmigtes
({6})
Regierungsprogramm hier bekanntzugeben. Ich bitte also, den Antrag des Herrn Abgeordneten - oder soll ich sagen: des Herrn zukünftigen Ministers Blücher abzulehnen.
({7})
| 20 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-15
|
18 | 4 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Wird weiter das Wort gewünscht? - Ich frage nochmals: wird weiter das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des Abgeordneten Blücher, die nächste Plenarsitzung statt am Montag, dem 19., am Dienstag, dem 20., nachmittags 2 Uhr beginnen zu lassen.
Wer für diesen Antrag des Abgeordneten Blücher ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Ich glaube, meine Damen und Herren, das Haus wird meiner Feststellung zustimmen, ohne daß es einer förmlichen Auszählung bedarf, daß der Antrag des Abgeordneten Blücher mit Mehrheit angenommen worden ist. - Ich höre keinen Widerspruch. Demnach stelle ich fest, daß die nächste Plenarsitzung am Dienstag, dem 20., um 14 Uhr mit der bereits von mir gekennzeichneten Tagesordnung beginnt.
Ich schließe hiermit die 4. Sitzung des Deutschen Bundestags.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01004.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-15
|
19 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 5. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Ehe wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Ich bitte zunächst Herrn Schriftführer Abgeordneten Dr. Zawadil, die Namen der abwesenden Mitglieder des Hauses bekanntzugeben.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
20 | 5 | 1 | null |
Zawadil
| 11,002,583 |
Beurlaubt sind wegen Krankheit die Abgeordneten Zühlke, Kuhlemann, Klinge; entschuldigt die Abgeordneten Eugen Huth, Carl Schröter, Hugo Karpf, Hans Schütz, Frau Thiele, Herr Vesper, Herr Wartner, Herr Rademacher.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
schriftführer
|
1949-09-20
|
21 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Dann wird die Fehlmeldung zurückgenommen.
Ich habe weiter das Hohe Haus darauf hinzuweisen, daß die Beschlüsse des Bundestags Nr. 44
und Nr. 4/2 auf dem Stenographentisch wie üblich zur Einsichtnahme ausliegen. Ich darf ferner darauf hinweisen, daß sämtlichen Mitgliedern des Hauses auf ihre Plätze ein Sammelband der Gesetzblätter des Wirtschaftsrats 1947/49 gelegt worden ist.
Meine Damen und Herren, wir kommen damit zu Punkt 1 der Tagesordnung:
Beschlußfassung über die vorläufige Geschäftsordnung.
Ich darf das Wort „vorläufige" dabei unterstreichen.
Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Dr. von Brentano als Berichterstatter das Wort.
Dr. von Brentano ({0}), Berichterstatter: Meine Damen und Herren! Der vorläufige Geschäftsordnungsausschuß hat sich mit der Frage beschäftigt, dem Haus möglichst bald die Grundlage einer sachlichen Arbeit zu schaffen. Es bestand Einmütigkeit darüber, daß wir dem Hohen Haus vorschlagen, die Geschäftsordnung des früheren Deutschen Reichstags in der Fassung vom 31. Dezember 1922, die Ihnen ja wohl vorliegt, mit den Änderungen, die sich aus der Drucksache Nr. 18 ergeben, welche Ihnen ebenfalls vorliegen wird und die ich kurz mündlich erläutern möchte, anzunehmen. Ich stelle ausdrücklich fest, daß im Geschäftsordnungsausschuß Einmütigkeit darüber bestand, daß es sich nur um eine vorläufige Geschäftsordnung handelt, daß also alle Beschlüsse, die im Ausschuß gefaßt und von den Fraktionen im wesentlichen bestätigt wurden, ohne jede präjudizielle Bedeutung für die endgültige Beratung der Geschäftsordnung sind. Meine Damen und Herren, sachliche Änderungen sind nur vorgenommen worden, soweit das nötig war, um die Geschäftsordnung dem Grundgesetz anzupassen und soweit gewisse sachliche Änderungen im Ausschuß beschlossen wurden.
Hervorzuheben ist, daß zunächst einmütig beschlossen wurde, die Mitgliederzahl für die Fraktionsstärke von 15 auf 10 herabzusetzen.
({1})
- Pardon, es ist richtig; ich muß feststellen, daß von der Deutschen Rechtspartei gebeten wurde, die Mindeststärke auf 5 festzusetzen. Ich bitte, das zu entschuldigen.
({2})
- Der Antrag ist nicht gestellt worden.
Im § 4, den ich zu vergleichen bitte, mußte auf das Wahlprüfungsverfahren nach Artikel 41 des Grundgesetzes verwiesen werden, und außerdem mußte die im Wahlgesetz vom 15. Juni 1949 getroffene Regelung berücksichtigt werden.
In den §§ 26 und 30 haben wir den Ausdruck „ständige Ausschüsse" durch „ordentliche Ausschüsse" ersetzt, weil wir der Meinung waren, daß Artikel 45 des Grundgesetzes, der von einem ständigen Ausschuß spricht, damit diesen Begriff konsumiert hat. Im übrigen bestand Einmütigkeit im Ausschuß darüber, daß die Zahl der Ausschüsse und auch die Besetzung der Ausschüsse erst demnächst von Fall zu Fall beschlossen werden soll, daß also der zweite Absatz des § 26 in Wegfall kommt.
Im § 35 mußte Artikel 76 des Grundgesetzes, nämlich das unmittelbare Initiativrecht des Bundesrats, berücksichtigt werden. Im § 36 hat sich die Einfügung eines neuen Absatzes 2 als notwendig erwiesen. Dadurch wird nun klargestellt, daß je eine weitere Beratung, also praktisch eine vierte oder fünfte Lesung, erfolgen muß, wenn entweder der nach Artikel 77 des Grundgesetzes vorgesehene
({3})
gemeinsame Ausschuß des Bundestags und des Bundesrats einen Abänderungsvorschlag unterbreitet oder wenn der Bundesrat Einspruch einlegt. Wir wollten damit den Auseinandersetzungen vorbeugen, die sich in der Weimarer Zeit ergeben haben. Damals ist verschiedentlich die Frage strittig geworden, ob in einem solchen Falle etwa drei neue Lesungen erforderlich seien. Wir haben deshalb auch ausdrücklich festgestellt, daß § 52 der Geschäftsordnung in diesem Falle keine Anwendung findet.
§ 38 bringt insofern eine Änderung, als wir vorgeschlagen haben, in Anlehnung an die Praxis des Wirtschaftsrats die Möglichkeit vorzusehen, daß Anträge und Entwürfe gleichzeitig mehreren Ausschüssen zugewiesen werden, wobei allerdings jeweils festgelegt werden muß, welchem Ausschuß die Federführung obliegt.
Im § 58 war lediglich ein Druckfehler zu berichtigen. § 75 haben wir gestrichen, da die Regelung der Behandlung beschleunigter Anträge auch zurückgestellt werden soll.
Im § 86 haben wir insofern eine Änderung vorgenommen, als der Grundsatz aufgestellt worden ist, daß die Redner nicht vom Platz, sondern von der Rednertribüne aus zu sprechen haben.
Die Überschrift zu Abschnitt 15 mußte auch dem Grundgesetz angepaßt werden. Im übrigen mußte Artikel 43 des Grundgesetzes in § 96 berücksichtigt werden, nämlich das Recht des jederzeitigen Gehörs für Mitglieder und Beauftragte des Bundesrats und der Bundesregierung.
§ 98 ist lediglich auf die verschiedenen Formulierungen des Grundgesetzes abgestellt worden, das ja in verschiedenen Fällen von der gesetzlichen g) Mitgliederzahl ausgeht.
§ 113 sah vor, daß Gesetzesvorlagen nach der Beschlußfassung dem zuständigen, wie es damals hieß, Reichsminister überwiesen werden sollten. In Konsequenz der dem Bundeskanzler im Grundgesetz zugewiesenen besonderen Stellung haben wir vorgeschlagen, nunmehr die Übersendung an ihn und an den Ressortminister vorzuschreiben, gleichzeitig aber auch mit Rücksicht auf Artikel 77 des Grundgesetzes an den Bundesrat.
§ 115 regelt lediglich die Zustellung der Drucksachen. Wir haben es bei der möglichst einfachen Form der Einlegung in das Fach belassen. § 121 hat auch insofern eine Änderung erfahren, als Artikel 49 des Grundgesetzes von den Mitgliedern des Präsidiums spricht und insofern eben eine Änderung vorgenommen werden mußte.
Ich habe § 54 übersehen und darf Sie bitten, noch einmal zurückzublättern. § 54 mußte eine Änderung erfahren. Das Grundgesetz kennt ja nicht mehr den Begriff des Mißtrauensvotums, sondern das, was wir im Parlamentarischen Rat als konstruktives Mißtrauensvotum bezeichnet haben, ist rechtssystematisch eine Neuwahl des Kanzlers. Deshalb mußte § 54 entsprechend gestrichen werden.
Im übrigen weise ich noch darauf hin, daß sich der Ausschuß insbesondere mit einem Antrag des Herrn Kollegen Dr. Becker beschäftigt hat, der vorgeschlagen hat, in die Geschäftsordnung wieder eine Bestimmung aufzunehmen, wie sie durch Beschluß des Reichstags vom 9. Februar 1931 als § 48 a eingefügt worden ist, des Inhalts, daß ein Antrag, der eine Finanzvorlage darstellt und eine Ausgabenerhöhung oder Einnahmensenkung zum Gegenstand hat, nur zusammen mit den dazu gehörigen Titeln des Haushaltsplans und nur dann beraten werden durfte, wenn er mit einem Ausgleichsantrag zu ihrer Deckung verbunden war.
Es bestanden im Ausschuß Meinungsverschiedenheiten darüber, ob durch diesen § 48 a das im Grundgesetz garantierte Initiativrecht in einer unzulässigen Weise beschränkt oder beeinträchtigt werde. Deswegen war der Ausschuß auch in diesem Punkt einmütig der Auffassung, zu dieser-Frage erst in der endgültigen Vorlage Stellung zu nehmen und sie zu klären.
Im übrigen kann ich es mir wohl ersparen, die anderen Differenzpunkte, die im Ausschuß zutage getreten sind, zu behandeln. Es wird Aufgabe des endgültigen Geschäftsordnungsausschusses sein, sich mit den Anregungen und Anträgen, die im vorläufigen Geschäftsordnungsausschuß bereits diskutiert wurden, zu befassen.
Der Ausschuß schlägt Ihnen vor, entsprechend der Drucksache Nr. 18 zu beschließen, wobei ich, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, abschließend noch einmal darauf hinweise, daß die endgültige Fassung der Geschäftsordnung durch den heutigen Beschluß in keiner Weise präjudiziert werden soli.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
22 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Ich danke dem Herrn Berichterstatter für seine Ausführungen.
Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Ich stelle fest: das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlußfassung. Wer für die Ihnen im Druck vorliegende Geschäftsordnung des Reichstags in der Fassung vom 12. Dezember 1922 einschließlich der Drucksache Nr. 18 mit den Abänderungsanträgen ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. - Ich danke; das ist zweifelsfrei die Mehrheit, fast Einstimmigkeit.
Meine Damen und Herren, wir kommen damit zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Bekanntgabe der Bildung der Bundesregierung.
({0})
Meine Damen und Herren, ich glaube wohl einleitend sagen zu dürfen, daß es eine historische Stunde ist, in der die erste Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland bekanntgegeben wird.
Ich habe zunächst in Ausführung des Artikels 63 Absatz 2 ein Schreiben des Herrn Bundespräsidenten folgenden Inhalts vorzulesen:
Im Namen der Bundesrepublik Deutschland ernenne ich auf Grund des Artikels 63 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 8. Mai 1949 Herrn Dr. h. c. Konrad Adenauer zum Bundeskanzler.
Ich habe Ihnen ferner in Ausführung des Artikels 64 des Grundgesetzes über die Bildung der Bundesregierung folgendes Schreiben des Herrn Bundespräsidenten bekanntzugeben:
Ich beehre mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich auf Vorschlag des Bundeskanzlers am 20. September 1949 die folgenden Persönlichkeiten zu Bundesministern ernannt habe:
Herrn Franz Blücher zum Bundesminister für Angelegenheiten des Marshall-Plans,
Herrn Dr. Gustav Heinemann zum Bundesminister für Inneres,
({1})
Herrn Dr. Thomas Dehler zum Bundesminister für Justiz,
Herrn Staatsrat Fritz Schäffer zum Bundesminister für Finanzen,
Herrn Professor Dr. Ludwig Erhard zum Bundesminister für Wirtschaft,
Herrn Staatsrat Nicklas zum Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung,
Herrn Anton St o r c h zum Bundesminister für Arbeit,
Herrn Dr. Hans Christoph Seebohm zum Bundesminister für Verkehr,
Herrn Hans Schuberth zum Bundesminister für Post,
Herrn Eberhard Wildermuth zum Bundesminister für Wohnungsbau,
Herrn Dr. Hans Lukaschek zum Bundesminister für Angelegenheiten der Vertriebenen,
Herrn Jakob Kaiser zum Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen,
Herrn Heinrich Hellwege zum Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrats.
Meine Damen und Herren, ich stelle damit fest, daß im Sinne des Artikels 64 die Bildung der Bundesregierung bekanntgegeben worden ist.
Ich habe nunmehr nach Artikel 64 Absatz 2 die
Vereidigung des Bundeskanzlers und der
Bundesminister
vorzunehmen.
({2})
Ich werde sämtlichen Mitgliedern der Bundesregierung den Wortlaut des Eides, wie er in der Verfassung vorgeschrieben ist, vorlesen:
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.
Zur Bekräftigung dieses Eides bitte ich die Mitglieder der Bundesregierung, den Herrn Bundeskanzler an der Spitze, sich zu mir zu begeben und mir die Schwurformel nachzusprechen.
Herr
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
23 | 5 | 1 |
Adenauer Adenauer
|
Bundeskanzler
| -1 | null | -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Chancellor
| null |
1949-09-20
|
24 | 5 | 1 | null |
Adenauer
| 11,000,009 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Chancellor
| null |
1949-09-20
|
25 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Blücher!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
26 | 5 | 1 | null |
Blücher
| 11,000,202 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für angelegenheiten des marshall-plans
|
1949-09-20
|
27 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Dr. Heinemann!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
28 | 5 | 1 | null |
Heinemann
| 11,000,848 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für inneres
|
1949-09-20
|
29 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Dr. Dehler!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
30 | 5 | 1 | null |
Dehler
| 11,000,364 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für justiz
|
1949-09-20
|
31 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Schäffer!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
37 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Storch!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
38 | 5 | 1 | null |
Storch
| 11,002,264 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für arbeit
|
1949-09-20
|
39 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Dr. Seebohm!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
40 | 5 | 1 | null |
Seebohm
| 11,002,137 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für verkehr
|
1949-09-20
|
41 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Schuberth!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
42 | 5 | 1 | null |
Schuberth
| 11,002,089 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für post
|
1949-09-20
|
43 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Wildermuth! .
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
44 | 5 | 1 | null |
Wildermuth
| 11,002,510 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für wohnungsbau
|
1949-09-20
|
45 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Dr. Lukaschek!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
46 | 5 | 1 | null |
Lukaschek
| 11,004,970 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für angelegenheiten der vertriebenen
|
1949-09-20
|
47 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Kaiser!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
48 | 5 | 1 | null |
Kaiser
| 11,001,053 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für gesamtdeutsche fragen
|
1949-09-20
|
49 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Bundesminister Hellwege!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
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präsident
|
1949-09-20
|
50 | 5 | 1 | null |
Hellwege
| 11,000,859 |
Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Minister
|
bundesminister für angelegenheiten des bundesrats
|
1949-09-20
|
51 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich stelle damit fest, daß gemäß Artikel 64 Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundeskanzler und die Bundesminister vor ihrer Amtsübernahme vor dem Bundestag den vorgesehenen Eid geschworen haben.
Meine Damen und Herren, wir kommen damit zu Punkt 4 der Tagesordnung:
Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung.
Ich erteile dem Herrn Bundeskanzler das Wort.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-20
|
52 | 5 | 1 | null |
Adenauer
| 11,000,009 |
Meine Damen und meine Herren! Das Werden des neuen Deutschlands hat sich nach den langen Verhandlungen im Parlamentarischen Rat und den Wahlen zum Bundestag am 14. August mit großer Schnelligkeit vollzogen. Am 7. September haben sich der Bundestag und der Bundesrat konstituiert; am 12. September hat der Bundestag den Bundespräsidenten gewählt, am 15. September den Bundeskanzler. Der Bundespräsident hat mich daraufhin am gleichen Tage zum Bundeskanzler ernannt. Heute, am 20. September, hat er auf meinen Vorschlag die Bundesminister ernannt.
Mit der Konstituierung der Bundesregierung, die am heutigen Tage erfolgt ist, ist auch das Besatzungsstatut in Kraft getreten. Wenn auch die Zuständigkeit des Bundestags und der Bundesregierung durch das Besatzungsstatut beschrankt ist, so darf uns doch diese Entwicklung, dieses Werden des deutschen Kernstaates mit Freude erfüllen.
Der Fortschritt gegenüber den Verhältnissen, die seit 1945 bei uns bestanden, auch gegenüber den Zuständen des nationalsozialistischen Reichs, ist groß. Zwar müssen wir uns immer bewußt sein, daß Deutschland und das deutsche Volk noch nicht frei sind, daß es noch nicht gleichberechtigt neben den anderen Völkern steht, daß es - und das ist besonders schmerzlich - in zwei Teile zerrissen ist. Aber wir erfreuen uns doch einer wenigstens relativen staatlichen Freiheit. Unsere Wirtschaft ist im Aufstieg. Wir haben vor allem aber wieder den Schutz der Persönlichkeitsrechte. Niemand kann bei uns, wie das im nationalsozialistischen Reich der Fall war und wie es jetzt noch in weiten Teilen Deutschlands, in der Ostzone, zu unserem Bedauern der Fall ist, durch Geheime Staatspolizei oder ähnliche Einrichtungen der Freiheit und des Lebens beraubt werden. Diese Güter: Rechtsschutz, Schutz der persönlichen Freiheit, die wir lange Jahre nicht besaßen, sind so kostbar, daß wir trotz allem, was uns noch fehlt, uns darüber freuen müssen, daß wir diese Persönlichkeitsrechte wieder besitzen.
Meine Wahl zum Bundeskanzler, meine Damen und Herren, und die Regierungsbildung sind eine logische Konsequenz der politischen Verhältnisse, wie sie sich in der Bizone infolge der Politik des Frankfurter Wirtschaftsrats herausgebildet hatten. Die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrats, die Frage „Soziale Marktwirtschaft" oder „Planwirtschaft" hat so stark unsere ganzen Verhältnisse beherrscht, daß eine Abkehr von dem Programm der Mehrheit des Frankfurter Wirtschaftsrats unmöglich war. Die Frage: „Planwirtschaft" oder „Soziale Marktwirtschaft" hat im Wahlkampf eine überragende Rolle gespielt. Das deutsche Volk hat sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgesprochen.
({0})
Eine Koalition zwischen den Parteien, die die Planwirtschaft verworfen, und denjenigen, die sie bejaht haben, würde dem Willen der Mehrheit der Wähler geradezu entgegengerichtet gewesen sein.
({1})
Der Wähler hätte mit Recht im Falle einer Koalition zwischen diesen Parteien gefragt, ob denn dann Wahlen überhaupt nötig gewesen wären. Der demokratische Gedanke, die Überzeugung von der Notwendigkeit der parlamentarischen Demokratie, hätte in den weitesten Kreisen der Wähler, namentlich auch der Wähler der jüngeren Generation, schwersten Schaden gelitten, wenn eine
Regierungsbildung erfolgt wäre, die dem Sinn und dem Ergebnis dieser Wahl nicht entsprochen hätte. Es ist darum abwegig und undemokratisch, diejenigen Parteien, die sich hier im Hause zur Bildung einer Regierung und zu gemeinsamer Arbeit zusammengeschlossen haben, deshalb mit irgendwelchen tadelnden Worten zu belegen. Ebenso abwegig ist es, der Sozialdemokratischen Partei Vorwürfe zu machen, weil sie sich nicht bereit gefunden hat zu einer sogenannten großen Koalition.
({2})
Man konnte weder von der einen noch von der andern Seite verlangen, daß sie, nachdem sie fast zwei Jahre in Frankfurt ihre Prinzipien verfochten hatten, nachdem die Wähler, zum Schiedsrichter aufgerufen, ihr Urteil gesprochen hatten, nunmehr alles das mehr oder weniger verleugneten, was sie bisher dem Volk als richtig dargestellt hatten.
Ich halte daher aus allgemeinen staatspolitischen Erwägungen heraus diese Entwicklung für richtig. Ich bin nicht der Auffassung, daß es den Interessen der Gesamtbevölkerung, den Interessen Deutschlands besser gedient hätte, wenn man etwa eine Koalition zwischen CDU/CSU und der Sozialdemokratischen Partei eingegangen wäre. Ich bin der Auffassung, daß die Opposition eine Staatsnotwendigkeit ist, daß sie eine staatspolitische Aufgabe zu erfüllen hat, daß nur dadurch, daß Regierungsmehrheit und Opposition einander gegenüberstehen, ein wirklicher Fortschritt und eine Gewöhnung an demokratisches Denken zu erzielen ist. Ich bin weiter der Auffassung: bei den labilen Verhältnissen, wie sie in Deutschland herrschen, ist es viel richtiger, wenn die immer vorhandene Opposition sich klar im Parlament selbst zeigt, als wenn sie, da infolge einer großen Koalition im Parlament keine wesentliche Opposition hätte ausgeübt werden können, außerhalb des Parlaments in nicht kontrollierbarer Weise um sich greift.
({3})
Ich habe dem Herrn Bundespräsidenten die Ernennung von 13 Bundesministern vorgeschlagen. Ich bin mir bewußt, daß manchem diese Zahl auf den ersten Blick groß erscheinen wird.
({4})
Demgegenüber weise ich darauf hin, daß in unsern Zeiten Aufgaben, die der staatlichen Arbeit bedürfen, entweder ganz neu entstanden sind - ich weise hier auf die Frage der Vertriebenen hin - oder daß staatliche Aufgaben einen solchen Umfang angenommen haben, daß sie den Rahmen der üblichen Ministerien sprengen würden.
({5})
Ich nenne hier die Frage der Wohnungswirtschaft
und des Wohnungsbaus. So sind mehrere der
Bundesministerien zeitbedingt, das heißt: wenn
sie ihre Aufgabe erfüllt oder aber wenn ihre Aufgaben wieder einen normalen Umfang angenommen haben, werden sie wieder verschwinden,
während die sogenannten klassischen Ministerien,
wie das Ministerium des Innern, der Finanzen, der
Justiz, der Arbeit usw., ständig bleiben werden.
Wenn man die Zahl der Bundesministerien unter Würdigung dieser Gesichtspunkte betrachtet, wird man berechtigterweise nicht die Behauptung aufstellen können, daß ihre Zahl zu groß sei. Die Hauptsache ist, daß der ministerielle Apparat im ganzen möglichst klein gehalten wird, daß die Ministerien von all den Verwaltungsaufgaben befreit bleiben, die nicht in die ministerielle Instanz gehören. Dadurch werden die nötige Übersicht,
({6})
die Arbeitsfähigkeit der Ministerien gewährleistet, Verwaltungskosten gespart, und die Bundesminister werden vor allem Zeit haben, ihre wichtigsten
Aufgaben, die Koordinierung der verschiedenen von ihnen wahrzunehmenden Interessen und die Wahrung der großen politischen Linien zu erfüllen.
Unter den Bundesministerien befindet sich ein Ministerium, das die besondere Aufgabe hat, für die Wahrung der engen Verbindung mit dem Bundesrat Sorge zu tragen. Ich bitte, in der Errichtung dieses Ministeriums den ernsten Willen der Bundesregierung zu sehen, den föderativen Charakter des Grundgesetzes sicherzustellen, die Rechte der Länder zu wahren und die Arbeit des Bundesrats so mit der Tätigkeit des Bundestags und der Bundesregierung in Einklang zu bringen, daß ein harmonisches Zusammenarbeiten gewährleistet ist.
Unter den Bundesministerien fehlt ein Außenministerium. Ich habe auch nicht den an mich herangetragenen Wünschen stattgegeben, ein Ministerium für zwischenstaatliche Beziehungen einzurichten. Ich habe das deshalb nicht getan, weil nach dem Besatzungsstatut die auswärtigen Angelegenheiten unter Einschluß internationaler Abkommen, die von Deutschland oder im Namen Deutschlands abgeschlossen werden, Sache der Alliierten Hohen Kommission für die drei Zonen sind. Wenn wir demnach auch kein Ministerium des Auswärtigen haben, so bedeutet das keineswegs, daß wir damit auf jede Betätigung auf diesem Gebiete Verzicht leisten. Das Paradoxe unserer Lage ist ja, daß, obgleich die auswärtigen Angelegenheiten Deutschlands von der Hohen Allier-ten Kommission wahrgenommen werden, jede Tätigkeit der Bundesregierung oder des Bundesparlaments auch in inneren Angelegenheiten Deutschlands irgendwie eine ausländische Beziehung in sich schließt. Deutschland ist infolge Besatzung, Ruhrstatut, Marshall-Plan usw. enger mit dem Ausland verflochten als jemals zuvor.
({7})
Diese Angelegenheiten werden in einem im Bundeskanzleramt zu errichtenden Staatssekretariat zusammengefaßt werden. Davon abgesehen glaube ich, daß die Hohen Kommissare infolge der großen Verantwortung, die sie tragen, keine wichtige Entscheidung in deutschen ausländischen Angelegenheiten treffen werden, ohne mit der Bundesregierung vorher Fühlung genommen zu haben. Die Erfahrung, die ich in den wenigen Tagen meiner Amtstätigkeit gemacht habe, berechtigt mich durchaus zu dieser Annahme.
Auf die Bundesregierung und den Bundestag, meine Damen und Herren, wartet eine außerordentlich große und umfangreiche gesetzgeberische Arbeit. Auf dem Zuständigkeitsgebiet des Bundes müssen die in den elf Ländern ergangenen Gesetze daraufhin nachgeprüft werden, ob in ihnen gleiches Recht auf diesen Gebieten besteht. Weiter werden Gesetze und Verordnungen, die bisher nur in der Bizone galten, auf die bisherige französische Zone ausgedehnt werden müssen; es werden weiter die bisher von seiten der verschiedenen Militärregierungen ergangenen Gesetze und Verordnungen auf den Gebieten, die jetzt der Zuständigkeit des Bundes unterstehen, überprüft und eventuell mit Zustimmung der Hohen Kommission den heutigen staatlichen Zuständen, wie sie sich aus Grundgesetz und Besatzungsstatut ergeben, angepaßt werden. Es werden schließlich die Gesetze erlassen werden müssen, deren Erlaß das Grundgesetz vorsieht; es werden die Gesetze, die der Wirtschaftsrat nicht mehr völlig erledigt hat, verabschiedet werden müssen. Diese Arbeit, die namentlich auch deshalb schwierig und umfangreich ist, weil bisher bei Erlaß von Gesetzen infolge der Eilbedürftigkeit der Angelegenheiten oft nicht mit besonderer Genauigkeit gearbeitet worden ist, darf nicht übereilt werden, damit wir endlich wieder zu dem kommen, was uns sowohl in der nationalsozialistischen Zeit wie später verlorengegangen ist: zur Klarheit, zur Sicherheit und zur Einheit des Rechts.
Es wartet aber eine weitere sehr große Zahl von Aufgaben der Inangriffnahme durch den Bund. Eines darf ich hier mit allem Nachdruck an die Spitze meiner Ausführungen stellen: die Koalitionspartner sind sich völlig einig darin, daß sie sich bei ihrer ganzen Arbeit von dem Bestreben leiten lassen werden, so sozial im wahrsten und besten Sinne des Wortes zu handeln wie irgend möglich.
({8})
Das Streben nach Linderung der Not, nach sozialer Gerechtigkeit, wird der oberste Leitstern bei unserer gesamten Arbeit sein.
({9})
Aus der Fülle der Aufgaben, die des Bundes harren, lassen Sie mich einige besonders dringende und große hervorheben.
Die Vertriebenen werden gleichmäßiger als bisher auf die verschiedenen Länder verteilt werden müssen. Das liegt sowohl im Interesse der jetzt besonders stark belasteten Länder, vor allem aber auch im Interesse der Vertriebenen selbst.
Die Verhältnisse auf dem Wohnungsgebiet, die die soziale und ethische Gesundung und auch die politische Gesundung des deutschen Volkes unmöglich und die auch das Leben der Vertriebenen und Ausgebombten so unendlich schwer machen, werden von uns mit ganzer Kraft einer Besserung entgegengeführt werden.
({10})
Wir wollen mit allen Mitteln den Wohnungsbau energisch fördern,
({11})
nicht indem der Bund selbst baut, sondern indem er Mittel zur Verfügung stellt und darauf dringt, daß von den Ländern alle Möglichkeiten auf dem Gebiete des Wohnungsbaus erschöpft werden.
Wir werden weiterhin dazu übergehen, durch entsprechende, in vorsichtiger und nicht überstürzter Weise durchgeführte Lockerungsvorschriften der Raumbewirtschaftung und der Mietfestsetzung
({12})
das Privatkapital für den Bau von Wohnungen wieder zu interessieren.
({13})
Wenn es nicht gelingt, das Privatkapital für den Wohnungsbau zu interessieren, ist eine Lösung des Wohnungsproblems unmöglich.
({14})
Die Bedeutung, die wir gerade diesen Fragen beilegen, zeigt sich auch darin, daß wir ein besonderes
Ministerium für sie geschaffen haben, dessen enge
({15})
Koordinierung mit dem Wirtschaftsministerium gesichert ist. Wir werden durch diese energische Förderung der Bautätigkeit auch eine allgemeine Belebung des Arbeitsmarktes herbeiführen.
Auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik werden wir die in Frankfurt so erfolgreich eingeschlagene Richtung weiter verfolgen.
({16})
Ich darf in diesem Zusammenhang den leitenden Herren der bizonalen Wirtschaftsverwaltung wie allen Beamten und Angestellten, insbesondere aber auch den Direktoren der einzelnen Ämter den Dank der Bundesregierung für die geleistete Arbeit aussprechen.
({17})
Mein besonderer Dank gilt den leitenden Persönlichkeiten, die zur Zeit bei dem Aufbau der Bundesregierung nicht haben eingegliedert werden können.
({18})
Bei der Durchführung des Prinzips der sozialen Marktwirtschaft
({19})
wird man sich selbstverständlich wie auch bisher davor hüten müssen, einem starren Doktrinarismus zu verfallen. Man wird sich, auch wie bisher, den jeweils sich ändernden Verhältnissen anpassen müssen. Die Zwangswirtschaft werden wir überall dort, wo wir es irgendwie verantworten können, beseitigen.
({20})
Es ist in Aussicht genommen, vom 1. Januar 1950 an die Brennstoffbewirtschaftung aufzuheben
({21})
und die Zuteilung von Hausbrand für das vierte Vierteljahr 1949, die ersten Wintermonate, zu erhöhen.
Wir werden auf dem Gebiete der Wirtschaft durch die Mittel des Wettbewerbs und durch die immer stärkere Einordnung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft
({22})
systematisch die durch 15 Jahre Zwangswirtschaft und Kriegswirtschaft entstandenen Strukturfehler der deutschen Wirtschaft beseitigen.
({23}) Unser ganzes Bestreben wird sein, möglichst wenig Hände und Köpfe in der Verteilung und der Verwertung der wirtschaftlichen Produktion und möglichst viele Hände und Köpfe in der gütererzeugenden Sphäre zu beschäftigen.
({24})
Der Mangel an fachlicher Ausbildung, wie er durch die nationalsozialistische Zeit und die Kriegszeit verursacht worden ist, wird dadurch ausgeglichen werden müssen, daß Gelegenheit geboten wird, die fachliche Ausbildung zu verbessern. Die deutsche Wirtschaft ist in der Vergangenheit groß und stark geworden durch ihre Facharbeiter und nicht zuletzt durch angewandte Wissenschaft. Die Summen, die zur Zeit in Amerika und auch in England für wissenschaftliche Zwecke zum Nutzen der wirtschaftlichen Produktion und des
Wettbewerbes ausgegeben werden, sind ungeheuer groß.
({25})
Die Bundesregierung wird, soweit ihre finanziellen Kräfte es erlauben, dafür eintreten, daß die wissenschaftliche Forschung in Deutschland gefördert wird.
({26})
Sie wird auch die deutsche Wirtschaft dazu veranlassen, das gleiche zu tun. Nur wenn es uns gelingt, uns durch Leistungen auf dem Weltmarkt auszuzeichnen, wird es uns möglich sein, auf ihm zu bestehen. Denn ein schwaches Volk. ein politisch schwaches Volk läuft immer Gefahr, im wirtschaftlichen Wettbewerb mit andern Völkern hintangesetzt zu werden, wenn es nicht etwas Besonderes leistet.
({27})
Der Pflege und der Freiheit des Außenhandels gilt unsere besondere Aufmerksamkeit. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige Ausführungen über die Herabsetzung des Umrechnungskurses des englischen Pfundes und die Folgen machen, die dadurch für uns eintreten. Die Änderung des Pfundwertes wird voraussichtlich auch eine Änderung des Umrechnungskurses der D-Mark gegenüber dem Dollar mit sich bringen. Wir bedauern diese uns durch die internationalen Ereignise aufgezwungene Maßnahme um so mehr, als die innere Stabilität der D-Mark zu irgendwelchen Manipulationen dieser Art keinerlei Anlaß bieten konnte. Die Wirtschafts- und die Geldpolitik der letzten 15 Monate haben unsere Währung auch im Ansehen und in der Wertung des Auslands von Tag zu Tag mehr gefestigt, so daß die jetzt notwendig werdende Anpassung - genau wie das in anderen europäischen Ländern der Fall sein wird - lediglich eine Folgewirkung der englischen Maßnahme ist. Ohne eine derartig gleichgerichtete Maßnahme würde die deutsche Exportwirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten verlieren und damit unserem wirtschaftlichen und sozialen Leben die Grundlage entzogen werden. Die Bundesregierung ist entschlossen, mit den für das deutsche Geldwesen verantwortlichen Stellen bei den zu treffenden Maßnahmen die wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen zu einem gerechten organischen Ausgleich zu bringen.
Die allenthalben angestellten Mutmaßungen über die möglichen Auswirkungen der bevorstehenden geldpolitischer Maßnahmen gehen weit über das sachlich berechtigte Maß hinaus. Es besteht keinerlei Grund zur Beunruhigung, da die zu erwartenden Veränderungen auf dem Gebiete von Preisen und Löhnen im ganzen nur zu relativ geringfügigen Verschiebungen führen werden.
({28})
Gerade in dieser Beziehung aber wird es die Regierung als vornehmste Pflicht ansehen, soziale Ungerechtigkeiten und Spannungen zu verhüten und spekulativen Einflüssen keinen Raum zu geben.
Die Frage der Demontage unserer industriellen Anlagen bewegt das gesamte deutsche Volk. Es gibt wohl kaum jemanden in Deutschland, der sich gegen die Demontage wirklich kriegswichtiger Industrien irgendwie wendet. Aber die Vernichtung großer wirtschaftlicher Werte ist eine Angelegenheit, die man im Ausland nicht damit abtun sollte, daß es einmal so beschlossen ist.
({29})
({30})
Die letzte Änderung der Liste der zu demontierenden Werke war zwar, rein äußerlich betrachtet, ein großes Entgegenkommen gegenüber den deutschen Wünschen; sachlich, der Produktionskapazität und dem Werte nach gesehen, sind aber die deutschen Wünsche nur zu etwa 10% erfüllt worden.
({31})
Die Demontagefrage ist auch eine Frage von großer psychologischer Bedeutung. Man versteht in den weitesten Kreisen des deutschen Volkes nicht, daß man mit der einen Hand ihm wirtschaftliche Hilfe gibt und mit der anderen Hand wirtschaftliche Werte zerstört.
({32})
Man glaubt im deutschen Volke, daß damit die auch von ausländischen Staatsmännern wiederholt abgegebene Erklärung schwer zu vereinbaren ist, daß Deutschland zum Wiederaufbau Europas notwendig ist. Zur Zeit sind die maßgebenden Staatsmänner der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs in Washington versammelt. Das deutsche Volk würde sich herzlich freuen, wenn diese Zusammenkunft dazu benützt würde, um das deutsche Demontageproblem einer Nachprüfung im Sinne einer Berücksichtigung der deutschen Wünsche zu unterziehen. Ich glaube, wenn auch mit aller Vorsicht, sagen zu können, daß man die Hoffnung hegen darf, daß dies in Washington geschieht.
({33})
Die Bundesregierung wird es sich besonders am Herzen liegen lassen, den Mittelstand in allen seinen Erscheinungsformen zu festigen und ihm zu helfen.
({34})
Wir sind durchdrungen von der Überzeugung, daß dasjenige Volk das sicherste, ruhigste und beste Leben führen wird, das möglichst viele mittlere und kleinere unabhängige Existenzen in sich birgt.
({35})
Die Aufgaben des Ministeriums für Landwirtschaft und Ernährung werden in Zukunft einen andern Charakter tragen müssen als bisher. In stärkerem Maße, als es bisher möglich war, wird die landwirtschaftliche Produktion zu verbessern und zu veredeln sein. Wir führen noch immer 50% der benötigten Lebensmittel ein. Wenn die deutsche Wirtschaft bis zum Jahre 1952 eine ausgeglichene Handelsbilanz erreicht haben soll, ist es notwendig, die landwirtschaftliche Produktion sehr erheblich zu steigern, um den Verbrauch von Devisen für die Ernährung soweit als möglich einzuschränken. Voraussetzung für eine rasche und anhaltende Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung ist ein weiterer Abbau der staatlichen Zwangswirtschaft
({36})
und Schaffung gesicherter und ausgeglichener Produktions- und Absatzverhältnisse für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu Preisen, die die Produktionskosten gut arbeitender Durchschnittsbetriebe decken und gleichzeitig auch den Minderbemittelten den Kauf dieser Produkte gestatten. Eine Umstellung der Landwirtschaft zum Zwecke der Einsparung von Devisen wird. wie ich eben ausführte. eine absohite NotwendickPit für uns Sein. Um sie herbeizuführen. ist Aufklärung und Belehrung der landwirtschaftlichen Bevölkerung dringend erforderlich.
Die Forstwirtschaft, meine Damen und Herren, die eine der wichtigsten Rohstofflieferanten für die deutsche Wirtschaft ist, muß möglichst rasch wie- der zu normalen Wirtschaftsverhältnissen zurückgeführt werden. Es ist für schnellste Aufforstung der Kahlflächen und Förderung der Holzerzeugung in bäuerlichen Betrieben zu sorgen.
Die Finanzpolitik muß einen Teil der allgemeinen Staatspolitik, insbesondere der Wirtschaftspolitik bilden. Die Förderung der Kapitalbildung, und zwar sowohl der Bildung von Sparkapital wie von Betriebskapital, wird unser vordringlichstes Ziel sein. Nur wenn wir nach Kräften die innerdeutsche Kapitalbildung steigern, können wir erwarten, daß durch Freigabe von Gegenwertfonds und auf andere Weise das dringend benötigte ausländische Kapital zum Wiederaufbau unserer Wirtschaft zur Verfügung steht.
Der Wiederaufbau unserer Wirtschaft ist die vornehmste, ja einzige Grundlage für jede Sozialpolitik und für die Eingliederung der Vertriebenen. Nur eine blühende Wirtschaft kann die Belastungen aus dem Lastenausgleich auf die Dauer tragen. Nur sie kann auf die Dauer das Steueraufkommen bringen, das die Haushalte des Bundes, der Länder und der Gemeinden. die immer aus der Gesamtschau heraus betrachtet werden müssen, zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen.
Eine verstärkte Kapitalbildung hängt von der Erfüllung zweier Voraussetzungen ab: von einer Herabsetzung der Steuertarife und der Wiedergewinnung des Vertrauens der Sparer.
Eine Herabsetzung der Einkommensteuersätze wird nach unserer Überzeugung das Gesamtaufkommen nicht vermindern. Die jetzigen überhöhten Steuersätze führen in der Wirtschaft zu unwirtschaftlichem Verhalten;
({37})
sie hindern die Rationalisierung der Betriebe und damit die Preissenkung für die erzeugten Waren. Eine Senkung der Einkommensteuersätze ist nicht nur steuerpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch absolut notwendig, und zwar mindestens auf die im Juni 1948 vom Wirtschaftsrat fast einstimmig und vom Länderrat einstimmig angenommenen Steuersätze. Wir sind sicher, daß schon nach wenigen Übergangsmonaten das Steueraufkommen die frühere Höhe, ja sogar eine noch größere Höhe erreichen wird. Diese Maßnahmen sollten bereits zum 1. Januar 1950 in Kraft gesetzt werden. Im Laufe des Jahres 1950 muß dann eine umfassende Steuerreform in die Wege geleitet werden.
Wenn durch diese Steuersenkung die Möglichkeit einer größeren Kapitalbildung geschaffen wird. so muß ein Anreiz dafür gegeben werden, daß nicht der Konsum in unnötiger Weise gesteigert, sondern wirklich Kapital gebildet wird. Dazu ist notwendig, den Altsparern das Vertrauen zur staatlichen Gesetzgebung wiederzugeben.
({38})
Das scheint mir eine staatspolitische Forderung ersten Ranges zu sein. Die von den Alliierten erlassene Währungsreform enthält vermeidbare soziale Härten, insbesondere in der Behandlung der Altsparer aller Art. Die Frage, in welchem Umfange diese Mängel beseitigt werden können, bedarf einer beschleunigten Prüfung und Erledigung.
Um das Vertrauen auch des ausländischen Kapitals wiederzugewinnen, sollte die Blockierung des ausländischen Vermögens in Deutschland bald aufgehoben werden. Wir werden bereit sein, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um mit den seit
({39})
langer Zeit schwer geschädigten ausländischen Gläubigern ein beiderseitig tragbares Einvernehmen zu finden.
Wir hoffen, meine Damen und Herren, daß die zugesagte Herabsetzung der Besatzungskosten erheblich sein wird. Diese Herabsetzung würde vom gesamten deutschen Volk dankbar begrüßt werden. Sie wird die Grundlage geben, den Wohnungsbau und die Eingliederung der Vertriebenen tatkräftig vorwärtszutreiben, und so die politische, soziale und wirtschaftliche Konsolidierung Deutschlands sichern.
Wir werden bemüht sein, den endgültigen Lastenausgleich baldigst zu verabschieden, um die Ungewißheit zu beseitigen, die seit so langer Zeit sowohl auf den Geschädigten wie auf der zu belastenden Wirtschaft liegt. Die gesetzliche Regelung muß sich in die allgemeine Steuer- und Finanzreform sinnvoll einordnen. Die Kleinst- und Kleingeschädigten müssen dabei besonders pfleglich behandelt werden.
Es wird notwendig sein, sobald wie möglich auch die Frage der Pensionen der vertriebenen Beamten und der ehemaligen Militärpersonen durch Bundesgesetz zu regeln.
({40})
Diese Regelung kann zwar an den namentlich in der Kriegszeit ungewöhnlich rasch erfolgten Beförderungen der Militärpersonen nicht achtlos vorbeigehen, sie wird aber doch die Wehrmachtbeamten und Militärpersonen so behandeln müssen, wie es recht und billig ist.
({41})
- Wir sind doch nicht in der Ostzone!
({42})
- Ich sehe Sie ja schon in schöner Uniform. ({43})
- Dann stehen Sie stramm vor mir! ({44})
Nach den freundlichen Unterbrechungen fahre ich nun fort.
Die Gefahren einer Deflation sind ebensogroß wie die einer Inflation. Im jetzigen Stadium unserer Wirtschaftsentwicklung ist eine aktive Konjunkturpolitik nötig, die sich, ohne damit irgendwie die Währung zu gefährden, des Instrumentes der Vorfinanzierung solcher Aufgaben bedient, deren Finanzierung, sei es aus inländischen Quellen, sei es aus Gegenwert-Fonds in absehbarer Zeit gesichert ist.
Unsere besondere Fürsorge auf wirtschaftlichem Gebiet gilt der Stadt Berlin. Seit der Währungsreform sind bis zum 10. September 1949, also in rund 15 Monaten, aus dem Haushalt des Vereinigten Wirtschaftsgebiets 414 Millionen DM an den Magistrat der Stadt Berlin geflossen.
({45})
Dazu hat Berlin aus dem GARIOA-Fonds bis zum 13. September 1949 688 Millionen DM erhalten. Die im Haushalt der bizonalen Verwaltung 1949 für die Zeit bis zum 31. Dezember 1949 eingesetzten Mittel werden schon im Oktober erschöpft sein. Es ist unbedingt notwendig, da wir unter keinen Umständen Berlin im Stiche lassen dürfen, beschleunigt über den Fortgang und Umfang der
Hilfsmaßnahmen für Berlin, und zwar nicht ausschließlich durch Gewährung von finanziellen Zuschüssen, zu beraten und zu beschließen.
({46})
Ich habe schon vorher erwähnt, daß diejenigen Fraktionen, die sich hier zu gemeinsamer Regierungsbildung und Arbeit zusammengefunden haben, es als ihre vornehmste Pflicht betrachten, auf allen Gebieten sozial zu handeln. Auf dem engeren Gebiet der Sozialpolitik gilt das im besonderen Maße. Die Bundesregierung wird sich bemühen, ihre Sozialpolitik den jetzigen Zeitverhältnissen entsprechend umzugestalten und auszugestalten. Wenn auch, wie ich ausgeführt habe, die beste Sozialpolitik eine gesunde Wirtschaftspolitik ist, die möglichst vielen Arbeit und Brot gibt, so wird es doch nach diesem Kriege und dieser.. Not in Deutschland immer einen sehr großen Prozentsatz von Menschen geben, denen anders und besonders geholfen werden muß. Das gilt insbesondere auch von den Schwerkriegsbeschädigten. Das Gesetz über ihre Unterbringung ist den jetzigen Verhältnissen entsprechend abzuändern. Den erwerbsunfähigen Kriegsbeschädigten und den Kriegshinterbliebenen ist ein ausreichender Unterhalt zu gewähren. Die Schaffung einer einheitlichen Versorgungsgesetzgebung für das gesamte Bundesgebiet ist nötig.
Die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern müssen zeitgemäß neu geordnet werden. Die Selbstverwaltung der Sozialpartner muß an die Stelle der staatlichen Bevormundung treten.
({47})
Die Bundesregierung steht auf dem Boden der Koalitionsfreiheit. Sie wird es den Verbänden überlassen, alles das in freier Selbstverwaltung zu tun, was den wirtschaftlichen und sozialen Interessen förderlich ist und was einer weiteren Verständigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern dient. Ein verständiger Ausgleich sozialer Gegensätze ist eine unumgängliche Voraussetzung für den Aufstieg unseres Volks. Dieser Ausgleich muß durch die Sozialpartner selbst herbeigeführt werden. Die sozial- und gesellschaftspolitische Anerkennung der Arbeitnehmerschaft macht eine Neuordnung der Besitzverhältnisse in den Grundindustrien notwendig.
({48})
Es scheint mir aber auch eine der wesentlichsten Grundbedingungen einer verständigen Sozialpolitik zu sein, dem Fleißigen und Tüchtigen jede Aufstiegsmöglichkeit zu geben.
({49})
Auf die Betonung dieser Aufstiegsmöglichkeiten legen wir den größten Wert.
({50})
Der als Folge des Krieges und der Verschleppung von Männern eingetretene Frauenüberschuß ist ein Problem, das unsere besondere Beachtung verdient.
({51})
Es bedarf wohl keiner Versicherung, daß wir fest und entschieden gegenüber allen entgegengesetzten Tendenzen auf dem Boden des Artikels 6 des Grundgesetzes stehen, in dem es heißt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung."
({52})
({53})
Das Problem des Frauenüberschusses erschöpft sich aber nicht in der Frage der notgedrungenen Ehelosigkeit eines großen Teiles der Frauen; es ist umfassender und weitreichender. Wir müssen den Frauen neue Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten zu erschließen versuchen. Es wird - wenn es vielleicht zunächst auch nicht so wichtig aussieht - auch beim Wohnungsbau darauf geachtet werden müssen, daß den unverheiratet gebliebenen Frauen wenigstens in etwa ein Ersatz für die fehlende häusliche Behaglichkeit geboten wird.
({54})
Wir werden alle diese Fragen, deren Wichtigkeit ich unterstreichen möchte, durch ein einer Frau anzuvertrauendes Referat im Ministerium des Innern einer möglichst guten Lösung zuzuführen versuchen.
({55})
Den Jugendlichen, namentlich denjenigen, denen die Erziehung durch Familie und Schule während der Kriegszeit und der wirren Zeit nach dem Kriege und eine gute Ausbildung gefehlt hat, werden wir zu Hilfe kommen müssen. Wir werden überhaupt versuchen, unsere Pflicht gegenüber der jungen Generation anders zu betrachten, als das früher geschehen ist.
({56})
Die junge Generation, dessen wollen wir uns immer bewußt bleiben, trägt die Zukunft Deutschlands in ihren Händen.
Wir werden das Beamtenrecht neu ordnen müssen. Wir stehen grundsätzlich und entschlossen auf dem Boden des Berufsbeamtentums.
({57})
Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden.
({58})
Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden.
({59})
Aber im übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden:
({60})
die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien. Diese Unterscheidung muß baldigst verschwinden.
({61})
Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muß. Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden,
({62})
und es wird weiter die Frage geprüft werden, auch bei den Hohen Kommissaren dahin vorstellig zu werden, daß entsprechend für von alliierten Militärgerichten verhängte Strafen Amnestie gewährt wird.
({63})
Wenn die Bundesregierung so entschlossen ist, dort, wo es ihr vertretbar erscheint, Vergangenes vergangen sein zu lassen, in der Überzeugung, daß viele für subjektiv nicht schwerwiegende Schuld gebüßt haben, so ist sie andererseits doch unbedingt entschlossen, aus der Vergangenheit die
nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu
ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln,
({64})
mögen sie nun zum Rechtsradikalismus oder zum Linksradikalismus zu rechnen sein.
({65})
- Ach, Sie sind ja gar nicht so radikal.
({66})
Die Befürchtungen, meine Damen und Herren, die namentlich in der ausländischen Presse über rechtsradikale Umtriebe in Deutschland laut geworden sind, sind ganz bestimmt weit übertrieben.
({67})
Ich bedaure außerordentlich, daß durch Berichte deutscher und ausländischer Zeitungen Persönlichkeiten, indem man ihre ungezogenen Reden verbreitet hat, eine Bedeutung beigelegt worden ist, die sie in Deutschland niemals gehabt haben.
({68})
Aber, meine Damen und Herren, ich betone nochmals: wenn wir auch glauben, daß diese Berichte übertrieben sind, so sind wir uns völlig darüber einig, daß wir dem Auftreten rechts- und linksradikaler, den Staat gefährdender Bestrebungen unsere vollste Aufmerksamkeit widmen müssen; und ich wiederhole nochmals: wir werden nötigenfalls von den Rechten, die die Gesetze uns geben, entschlossen Gebrauch machen.
({69})
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu hier und da anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen sagen. Wir verurteilen diese Bestrebungen auf das schärfste. Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, daß nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind.
(Zuruf von der KPD.
Meine Damen und Herren! Ich komme zu einem besonders ernsten und wichtigen Kapitel. Deutschland wird nunmehr durch seine staatliche Neugestaltung in die Lage versetzt, sich der Frage der deutschen Kriegsgefangenen und Verschleppten mit größerer Stärke anzunehmen als bisher. In Rußland werden noch Millionen von Kriegsgefangenen zurückgehalten.
({70})
Wir wissen nicht, wohin die 1,5 bis 2 Millionen deutscher Kriegsgefangener gekommen sind,
({71})
die aus den russischen Heeresberichten über die jetzt von Rußland angegebene Zahl der Kriegsgefangenen hinaus errechnet werden konnten.
({72})
Das gleiche gilt in ähnlicher Weise für Jugoslawien.
({73})
Das Geschick dieser Millionen Deutscher, die jetzt schon seit Jahren das bittere Los der Gefangenschaft getragen haben, ist so schwer, das Leid ihrer Angehörigen in Deutschland so groß, daß alle Völker mithelfen müssen, diese Gefangenen
({74})
und Verschleppten endlich ihrer Heimat und ihrer Familie zurückzugeben.
({75})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
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Chancellor
| null |
1949-09-20
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53 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Wen meinen Sie damit, Herr Abgeordneter Renner?
({0})
- Ich rufe Sie zur Ordnung. Während dieser Erklärung des Herrn Bundeskanzlers derartige Bemerkungen zu machen, stört die Würde des Hauses.
Bitte, Herr Bundeskanzler, fahren Sie fort!
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| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-20
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54 | 5 | 1 | null |
Adenauer
| 11,000,009 |
Meine Damen und Herren! Es ist mir eine liebe Pflicht, für die weitreichende Hilfe, die unseren Kriegsgefangenen zuteil geworden ist, zu danken, in erster Linie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Genf,
({0})
das unseren deutschen Kriegsgefangenen unendlich viel Gutes getan hat. Wir danken auch dem Vatikan und dem gegenwärtigen Papst, der nach dem Kriege der erste war, der den Ruf nach baldiger Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen erhob
({1}) und der das Schicksal der deutschen Gefangenen durch großzügige Schenkungen und Gaben, zu denen er die Welt veranlaßte, zu mildern versuchte. Der Arbeit der Ökumene in Genf danken wir in gleicher Weise von ganzem Herzen.
({2})
Sie hat insbesondere in der angelsächsischen Welt die Kräfte der Liebe evangelischen Glaubens mobilisiert. Ich hebe auch die internationale Organisation der Christlichen Vereine junger Männer hervor, die durch ihren hervorragenden Gefangenendienst unsern Brüdern in allen Ländern große Hilfe gewährt haben.
({3})
Auch dem Evangelischen Hilfswerk unter der Führung von Dr. Gerstenmaier und der Caritas-Kriegsgefangenenhilfe unter der Leitung des verstorbenen Prälaten Kreutz danken wir herzlichst.
Die Arbeit der Bundesregierung wird weiter den etwa 200 000 Deutschen gelten müssen, die sich in dem ehemaligen Ostpreußen und Schlesien sowie in der Tschechoslowakei befinden, die als Facharbeiter oder als politisch mehr oder minder Belastete zurückgehalten werden. Darunter befinden sich viele Frauen, die in der ersten Schockwirkung der Niederlage und in der Hoffnung auf Rückkehr ihrer noch in Gefangenschaft befindlichen Männer für Polen optiert haben, deren Männer aber in der Zwischenzeit nach Westdeutschland entlassen worden sind. Das Internationale Rote Kreuz hat es übernommen, mit den Westalliierten einerseits und mit Warschau und Prag andererseits über die Umsiedlung dieser bedeutenden Restbevölkerung zu verhandeln. Die Verhandlungen sind später überraschend - soviel den deutschen Stellen bekanntgeworden ist, durch die britische Militärregierung - abgebrochen worden
({4})
mit der damals gegebenen Begründung, man müsse erst die Bundesregierung abwarten.
Die Bundesregierung wird sich auch um die 300 000 freien Arbeiter bemühen müssen, die, um aus der Kriegsgefangenschaft herauszukommen, in Frankreich, Belgien und England Verträge als freie Arbeiter geschlossen haben. Endlich werden wir die Forderung erheben müssen, daß gegen diejenigen Deutschen, die in den alliierten Ländern wegen behaupteter Kriegsverbrechen zurückgehalten werden, die Gerichtsverhandlungen unter Wahrung aller rechtlichen Formen schnell zu Ende geführt werden.
({5})
Das Los der Vertriebenen, meine Damen und Herren, ist besonders hart. Die Frage ihres zukünftigen Schicksals kann nicht von Deutschland allein gelöst werden.
({6})
Es handelt sich um eine Frage, die nur auf internationalem Wege ihrer Lösung nähergebracht werden kann. Man muß sie aber lösen, wenn man nicht Westdeutschland für lange Zeit hinaus zu einem Herd politischer und wirtschaftlicher Unruhe werden lassen will.
Lassen Sie mich nun zu Fragen übergehen, die uns in Deutschland außerordentlich am Herzen liegen und die für unser gesamtes Volk Lebensfragen sind. Es handelt sich um die Abkommen von Jalta und Potsdam und die Oder-Neiße-Linie. Im Potsdamer Abkommen heißt es ausdrücklich:
Die Chefs der drei Regierungen
- das sind die Vereinigten Staaten, England und Sowjetrußland haben ihre Ansicht bekräftigt, daß die endgültige Bestimmung der polnischen Westgrenze bis zur Friedenskonferenz vertagt werden muß.
({7})
Wir können uns daher unter keinen Umständen mit einer von Sowjetrußland und Polen später einseitig vorgenommenen Abtrennung dieser, Gebiete abfinden.
({8})
Diese Abtrennung widerspricht nicht nur dem Potsdamer Abkommen, sie widerspricht auch der Atlantik-Charta vom Jahre 1941, der sich die Sowjet-Union ausdrücklich angeschlossen hat.
({9})
Die Bestimmungen der Atlantik-Charta sind ganz eindeutig und klar. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat durch Beschluß vom 3. November 1948 die Großmächte aufgefordert, nach diesen Prinzipien baldmöglichst Friedensverträge abzuschließen. Wir werden nicht aufhören, in einem geordneten Rechtsgang unsere Ansprüche auf diese Gebiete weiter zu verfolgen.
({10})
Ich weise darauf hin, daß die Austreibung der Vertriebenen in vollem Gegensatz zu den Bestimmun({11})
gen des Potsdamer Abkommens vorgenommen worden ist.
({12})
In diesem Potsdamer Abkommen ist nur von einer Umsiedlung der in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn verbliebenen deutschen Bevölkerung die Rede, und es war vereinbart worden, daß jede stattfindende Umsiedlung auf organisierte und humane Weise vorgenommen werden sollte. Es fällt mir sehr schwer, meine Damen und Herren, wenn ich an das Schicksal der Vertriebenen denke, die zu Millionen umgekommen sind,
({13})
mit der notwendigen leidenschaftslosen Zurückhaltung zu sprechen. Ich darf aber darauf hinweisen, daß kein Geringerer als Winston Churchill bereits im August 1945 im britischen Unterhaus öffentlich und feierlich nicht nur gegen das Ausmaß der von Polen angestrebten Gebietserweiterung, sondern auch gegen die Praxis der Massenaustreibung Protest eingelegt hat.
({14})
Die Massenaustreibung nannte Churchill eine „Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes", und er deutete an, daß eine unerhört große Zahl von diesen Vertriebenen einfach verschwunden sei. Am 10. Oktober 1945 stellte der britische Außenminister Bevin fest, daß Großbritannien in keiner Weise verpflichtet sei, die Ansprüche Polens auf die Oder-Neiße-Linie zu unterstützen. Die gleiche Feststellung traf der frühere amerikanische Außenminister Byrnes am 6. September 1946 in seiner bekannten Rede in Stuttgart. Die Bundesregierung wird allen diesen Fragen die größte Aufmerksamkeit widmen und sich dafür einsetzen, daß auch das uns zustehende Recht geachtet wird.
({15})
Sie wird das ganze Rechts- und Tatsachenmaterial in einer Denkschrift, die veröffentlicht und den alliierten Regierungen überreicht werden wird, zusammenfassen.
Meine Damen und Herren! Wenn ich eingangs gesagt habe, daß unsere auswärtigen Beziehungen von den Hohen Kommissaren wahrgenommen werden, so habe ich doch gleichzeitig festgestellt, daß wir zu allen uns umgebenden Staaten in engen Zusammenhängen - seien es gute, seien es weniger gute - stehen. Ich würde daher eine Lücke in dieser Regierungserklärung lassen, wenn ich nicht auf unser Verhältnis zu diesen Ländern einginge.
({16})
- Lassen Sie mich zunächst SowjetRußland nicht vergessen!
({17})
- Und deswegen werde ich mit Sowjet-Rußland beginnen.
({18})
- Sie sind ein neidischer Mann, Herr Renner!
({19})
Meine Damen und Herren! Wir sind durchaus bereit, mit unsern östlichen Nachbarn, insbesondere mit SowjetRußland und mit Polen, in Frieden zu leben. Wir haben den dringendsten Wunsch, daß die gegenwärtig bestehenden Spannungen zwischen Sowjet-Rußland und den Westalliierten ihre Lösung im Laufe der Zeit auf friedlichem Wege finden. Aber wenn ich ausspreche, daß wir den Wunsch haben, in Frieden mit Sowjet-Rußland zu leben, so gehen wir davon aus, daß auch Sowjet-Rußland und Polen uns unser Recht lassen und unsere deutschen Landsleute auch in der Ostzone und in dem ihnen unterstehenden Teil von Berlin das Leben in Freiheit führen lassen, das deutschem Herkommen, deutscher Erziehung und deutscher Überzeugung entspricht.
({20})
Ich habe an einer anderen Stelle schon ausgeführt, daß das Besatzungsstatut zwar ein Fortschritt, sogar ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem bisherigen Zustand ist. Es wird aber ganz darauf ankommen, ob es in dem Geist gehandhabt wird, der aus dem Begleitschreiben der Außenminister von England, Frankreich und den Vereinigten Staaten vom April dieses Jahres an den Präsidenten des Parlamentarischen Rats sprach. „Die Außenminister betonen", so heißt es in der Note, „daß es das höchste Ziel der drei Alliierten Regierungen ist, den festen Einbau des deutschen Volkes in, einem demokratischen Bundesstaat in den Rahmen eines europäischen Zusammenschlusses zum beiderseitigen Besten zu ermutigen und zu fördern." Wir sind überzeugt davon, daß, wenn das Besatzungsstatut in diesem Sinne gehandhabt wird. es uns ein eigenes starkes Leben und weitere Fortschritte ermöglichen wird.
({21})
Ich bin überzeugt: wenn, wie es in dem Besatzungsstatut vorgesehen ist, nach 12 Monaten und auf jeden Fall innerhalb von 18 Monaten nach Inkrafttreten des Statuts die Besatzungsmächte seine Bestimmungen im Lichte der Erfahrungen prüfen.. die sie inzwischen gemacht haben, werden die Mächte sicher zu dem Ergebnis kommen, daß es möglich sein wird, die Zuständigkeit der deutschen Behörden auf den Gebieten der Legislative, der Exekutive und der Justiz weiter auszudehnen.
Und nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort über unsere Stellung zum Besatzungsstatut sagen! Das Besatzungsstatut ist alles andere als ein Ideal. Es ist ein Fortschritt gegenüber dem rechtlosen Zustand, in dem wir bis zum Inkrafttreten des Besatzungsstatuts gelebt haben. Es gibt aber keinen andern Weg für das deutsche Volk, wieder zur Freiheit und Gleichberechtigung zu kommen,
({22})
als indem es dafür sorgt, daß wir nach dem völligen Zusammenbruch, den uns der Nationalsozialismus beschert hat, mit den Alliierten zusammen wieder den Weg in die Höhe gehen. Der einzige Weg zur Freiheit ist der, daß wir im Einvernehmen mit der Hohen Alliierten Kommission unsere Freiheiten und unsere Zuständigkeiten Stück für Stück zu erweitern versuchen.
({23})
Es besteht für uns kein Zweifel, daß wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören. Wir wollen zu allen Ländern gute Beziehungen, auch solche persönlicher Art, unterhalten, insbesondere aber zu unsern Nachbarländern, den Benelux-Staaten, Frankreich, Italien, England und den nordischen
({24})
Staaten. Der deutsch-französische Gegensatz, der Hunderte von Jahren die europäische Politik beherrscht und zu so manchen Kriegen, zu Zerstörungen und Blutvergießen Anlaß gegeben hat, muß endgültig aus der Welt geschafft werden.
({25})
Ich hoffe, ja ich sage: ich glaube, daß das Saargebiet nicht zu einem Hindernis auf diesem Weg werden wird.
({26})
Am Saargebiet hat Frankreich - das ist ohne weiteres anzuerkennen - wirtschaftliche Interessen. Deutschland hat dort wirtschaftliche und nationale Interessen.
({27})
Schließlich aber haben die Saarbewohner selbst den begründeten Wunsch, daß ihre eigenen wirtschaftlichen und nationalen Interessen berücksichtigt werden.
({28})
Alle diese Interessen sollen in eine Ordnung und Übereinstimmung gebracht werden, die sich im Rahmen der Europäischen Union, deren Mitglied wir möglichst bald zu werden wünschen, finden lassen wird.
Mit aufrichtiger Genugtuung und Freude, meine Damen und Herren, denke ich daran, daß Außenminister Bevin mir in einer persönlichen Unterredung im Sommer dieses Jahres erklärt hat: der Krieg zwischen unseren- beiden Völkern ist zu Ende, unsere beiden Völker müssen Freunde sein.
Ich habe eben gesagt, wir wünschen möglichst bald in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Wir werden gerne und freudig an dem großen Ziel dieser Union mitarbeiten. Ich weise darauf hin, daß wir in unserer Bonner Verfassung im Artikel 24 für den Bund die Möglichkeit vorgesehen haben, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und sich zur Wahrung des Friedens im System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Es heißt dann in diesem Artikel weiter:
Der Bund wird hierbei in die Beschränkungen ' seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.
Ich glaube, daß unser Grundgesetz damit die fortschrittlichste aller Verfassungen ist.
({29})
Wir sind entschlossen, alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um den in diesem Artikel vorgezeichneten Weg zur Sicherung des Friedens in Europa. und in der Welt zu gehen.
Wenn ich vom Frieden in der Welt und in Europa spreche, dann, meine Damen und Herren, muß ich auf die Teilung Deutschlands zurückkommen. Die Teilung Deutschlands wird eines Tages - das ist unsere feste Überzeugung - wieder verschwinden.
({30})
Ich fürchte, daß, wenn sie nicht verschwindet, in Europa keine Ruhe eintreten wird.
({31})
Diese Teilung Deutschlands ist durch Spannungen
herbeigeführt worden, die zwischen den Siegermächten entstanden sind. Auch diese Spannungen
werden vorübergehen. Wir hoffen, daß dann der Wiedervereinigung mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ostzone und in Berlin nichts mehr im Wege steht.
({32})
Die Vertreter Groß-Berlins nehmen einstweilen nur mit beratender Stimme an den Arbeiten dieses Hauses und des Bundesrats teil. Ihre Stimmen haben aber deswegen nicht weniger Gewicht, weil sie kein Stimmrecht haben. Wenn auch der Eiserne Vorhang, der quer durch Deutschland geht, noch so dicht ist, - er kann nichts an der geistigen Verbundenheit zwischen den deutschen Menschen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs ändern.
({33})
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, in dieser Stunde mit besonderem Dank der Vereinigten Staaten von Nordamerika gedenken.
({34})
Ich glaube nicht, daß jemals in der Geschichte ein siegreiches Land es versucht hat, dem besiegten Land in der Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und seiner Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten gegenüber Deutschland getan haben und tun.
({35})
Wir glauben, meine Damen und Herren, daß eine spätere Geschichtsschreibung dieses Verhalten der Vereinigten Staaten als eine größere Tat bezeichnen wird als seine Anstrengungen im Kriege.
({36})
Ich weiß, daß unzählige Amerikaner aus echter, persönlicher Teilnahme und Nächstenliebe uns Deutschen in unserer schwersten Not, als hier Hunger und Mangel herrschten, in rührender Weise geholfen haben. Das deutsche Volk wird das dem amerikanischen Volk niemals vergessen dürfen, und es wird das auch nicht vergessen.
({37})
Meine Damen und Herren! Die kulturellen Angelegenheiten gehören nach dem Grundgesetz zu der Zuständigkeit der Länder. Aber im Namen der gesamten Bundesregierung kann ich folgendes sagen: unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur und von der Achtung vor dem Recht und vor der Würde des Menschen.
({38})
Wir hoffen - das ist unser Ziel -, daß es uns mit Gottes Hilfe gelingen wird, das deutsche Volk aufwärtszuführen und beizutragen zum Frieden in Europa und in der Welt.
({39})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
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Chancellor
| null |
1949-09-20
|
55 | 5 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Das Hohe Haus hat die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers entgegengenommen.
Damit sind wir am Ende der Tagesordnung angelangt. Gemäß interfraktioneller Vereinbarung gestern im Ältestenrat habe ich mitzuteilen, daß die nächste Sitzung hiermit auf Mittwoch, den 21. September, berufen wird. Beginn: 14 Uhr 15. Einziger Punkt der Tagesordnung: Aussprache über die Regierungserklärung.
Ich schließe hiermit die 5. Sitzung des Deutschen Bundestags.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01005.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-20
|
56 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 6. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Ich bitte zunächst den Herrn Schriftführer, die Namen der beurlaubten Mitglieder des Hauses bekanntzugeben.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
|
57 | 6 | 1 | null |
matthes
| 11,001,437 |
Beurlaubt sind wegen Krankheit die Abgeordneten Kuhlemann, Marx, Zühlke, Wönner; auf Grund von Entschuldigungen die Abgeordneten Eichler, Frühwald, Karpf, Frau Kipp-Kaule, Margulies, Schröter, Schütz, Frau Thiele, Vesper.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
|
schriftführer
|
1949-09-21
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58 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich habe ferner amtlich folgende Mitteilung zu machen. Der Herr Abgeordnete Dr. Eduard Edert gehört als Hospitant der CDU/CSU-Fraktion an.
Ich darf weiter darauf hinweisen, daß der Beschluß des Bundestags Nr. 5/1 auf dem Stenographentisch wie üblich zur Einsichtnahme ausliegt.
Meine Damen und Herren! Wir treten zum ersten Male seit Bestehen des Bundestags in eine große politische Aussprache ein. Die Geschäftsordnung haben wir erst gestern Mittag beschlossen; sie wird naturgemäß uns allen noch nicht geläufig sein. Um eine ordnungsgemäße Abwicklung dieser Aussprache nach Möglichkeit zu sichern, erlaube ich mir den Hinweis, daß die wichtigsten Bestimmungen für die Führung der Aussprache in den Abschnitten 12, 13 - Redeordnung -, 14 - Ordnungsbestimmungen, §§ 81 und folgende - enthalten sind. Ich darf Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken.
Was den Verlauf der heutigen Aussprache anlangt, so werden gemäß Beschluß des Ältestenrats die SPD-Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion sprechen. Mit Rücksicht darauf daß das Kabinett um 18 Uhr in einer dringenden politischen Angelegenheit eine Sitzung abhalten muß, werden wir voraussichtlich um diese Zeit, wie ich hoffe, unsere heutige Sitzung beenden können. Ich bitte also, das bei der Zeitbemessung gebührend berücksichtigen zu wollen.
Meine Damen und Herren, wir kommen dann zum einzigen Punkt der Tagesordnung:
Aussprache
über die Erklärung der Bundesregierung.
Als erstem erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Schumacher das Wort.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-21
|
59 | 6 | 1 | null |
schumacher
| 11,002,113 |
Meine Damen und Herren! Die Erklärung der Bundesregierung sollte nicht als etwas Isoliertes betrachtet werden. Sie gehört zusammen mit der Politik der Parteien, die heute die Bundesregierung bilden, mit den Parolen des Wahlkampfs, mit den Deklarationen nach dem Wahlergebnis, mit den Methoden der Kabinettsbildung und mit der Zusammensetzung des Kabinetts.
Wollte man den Kardinalsatz der Regierungserklärung, daß die Bundesregierung die soziale Gerechtigkeit zum obersten Prinzip ihrer Handlungsweise nehmen wolle, als das Programm der Regierung voll akzeptieren, dann müßte man sagen: mit diesem Programm hätte der Herr Bundeskanzler am 14. August einen rauschenden Wahlsieg über die Politik seines Wirtschaftsministers und seines Vizekanzlers davongetragen.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, Sozialpolitik kostet etwas, und der deutsche Besitz, der ja in seiner überwiegenden Mehrzahl hinter der neuen Bundesregierung steht, hat diese Regierung bestimmt nicht etabliert, um besonders große Aufwendungen für das Volk zu machen.
({1})
Die Bundesregierung ist jetzt mit einer Erklärung hervorgetreten, die eine Reihe sozialpolitischer, allerdings nicht genau akzentuierter Versprechungen enthält. Am deutlichsten ist sie eigentlich bei dem Versprechen der Steuersenkung geworden. Nun ist auch unsere Meinung, daß die Struktur des deutschen Steuerwesens stark umgebaut werden sollte, daß sie nach Ertrag und Rationalität nicht das ist, was unser Staatswesen nötig hat. Wenn wir aber die Steuersenkung als Hauptpunkt, als Grundlage der wirtschaftlichen Erholung betrachten wollten, dann käme die Steuersenkung in eine Konkurrenz mit den sozialen Leistungen auf der einen und den Besatzungskosten auf der andern Seite.
({2})
Die sozialen Leistungen und die Steuersenkung zusammen dürften sich kaum verwirklichen lassen. In Erkenntnis dieser Tatsache hat der Herr Bundeskanzler die sozialen Leistungen bereits von einer Reihe von Bedingungen abhängig gemacht, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie schon in nächster Zeit realisiert werden, nämlich von einer Wirtschaftsblüte, von entsprechenden Steuererträgnissen und ähnlichem mehr. So kommen wir wohl zu dem Schluß, daß die Steuersenkung als nahe Wahrscheinlichkeit vor uns steht, die sozialen Leistun({3})
gen aber auf den Weg der Vertröstung gleiten werden.
({4})
- Wieso? Haben Sie so viel Zeit?
({5})
Eine gewisse Überraschung hat vielleicht der idyllische Ton der gestrigen Regierungserklärung hervorgerufen.
({6})
Auf den Ton abgestimmt „es ist alles nicht so schlimm", können wir nur antworten: es sieht so aus, als ob alles sehr viel schlimmer wäre, als die Regierungserklärung angedeutet hat.
({7})
Schließlich ist doch der tatsächliche Kern, der Punkt, bei dem ein eindeutiges Bekenntnis der Bundesregierung vorliegt, die Erklärung, daß man am bisherigen Kurs der Frankfurter Wirtschaftspolitik festhalten wolle.
({8})
In Verbindung damit sind einige andere sehr reale Dinge angedeutet worden, als da sind: die Aufhebung der Zwangswirtschaft auch für die Güter, bei denen heute noch fixierte Preise vorliegen; und ähnliche Bemerkungen sind bei der Betrachtung über Wohnungswirtschaft und Mietpreisgestaltung gemacht worden.
Die Erklärung der Bundesregierung ist nicht nur interessant durch das, was in ihr enthalten ist, sondern fast noch interessanter durch das, was sie nicht genannt hat.
({9})
Wir können uns ein demokratisches Staatswesen nicht vorstellen, bei dem die Arbeiter eine so geringe Rolle spielen, daß die Regierungserklärung das Wort „Arbeiter" nicht einmal erwähnt hat,
({10})
und wir können uns einen funktionierenden sozialen Organismus auch nicht recht vorstellen, bei dem die Gewerkschaften unerwähnt bleiben.
({11})
Es scheint mir eine schwere Undankbarkeit gegenüber den Gewerkschaften und der Rolle dieser Organisationen zu sein, wenn man nicht anerkennt, daß ohne diese Gewerkschaften die Situation des deutschen Volkes nach innen und außen eine sehr viel schlechtere sein würde.
({12})
Und wir haben auch vermißt - bei aller Anerkennung der liebenswürdigen Ausflüge in das Gebiet der Nöte der unverheirateten Frauen - ein grundsätzliches Anerkenntnis der Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz, wie das Bonner Grundgesetz es gebracht hat.
({13})
Aus dieser These nämlich resultiert für die Regierung eine große Menge von Aufgaben, und wir hätten gerne gewußt, wie die Verwirklichung dieser Aufgaben sich in den Augen der Regierung darstellt.
Nun, wir sind die Opposition, und was Opposition ist, darüber hat sich eine unglaublich naive Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit erhoben. Die Wertung der Opposition und der Regierung, die vorbehaltlose Überbewertung der Regierungsfunktion und die ebenso vorbehaltlose Unterbewertung der Oppositionsfunktion stammt aus dem Obrigkeitsstaat,
({14}) und die Begriffe des Obrigkeitsstaates scheinen noch in vielen Köpfen auch in diesem Hause sehr lebendig zu sein.
({15}) Eine Opposition ist in ihren Qualitäten nicht dann staatserhaltend, wenn sie eine wohlwollende Beurteilung durch die Bundesregierung oder durch ihre Parteien findet. Wir haben eine in Sachen der Besitzverteidigung sehr unsentimentale Regierung, und es wird die Aufgabe der Opposition sein, bei der Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung ebenso unsentimental zu sein.
({16})
Der Egoismus liebt es, an das Gemeinschaftsgefühl zu appellieren.
({17})
Die Regierung und die Opposition werden ihre Qualität durch ihre Leistungen bestimmen. Aber, werte Abgeordnete, der Grundsatz gilt für die Opposition, daß die Bundesregierung sich die Mehrheiten für ihre Gesetze aus den Reihen der Regierungsparteien zu schaffen hat.
({18})
- Verzeihung, Sie haben die Bemerkung gemacht: „Grundsätzlich gegen alles". Ich glaube, darauf antworten zu müssen. Ich bin nicht in der Lage, in drei Sätzen allés zu sagen, was ich zu sagen habe.
({19})
- Nun, der Kanzler hat 82 Minuten gesprochen; das ist etwas länger.
({20})
Man kann also als Opposition nicht die Ersatzpartei für die Regierung sein und die Verantwortung für etwas übernehmen, wofür die Verantwortung zu übernehmen sich manche Regierungsparteien gegebenenfalls scheuen werden.
({21})
Die Opposition ist ein Bestandteil des Staatslebens und nicht eine zweitrangige Hilfestellung für die Regierung.
({22})
Die Opposition ist die Begrenzung der Regierungsmacht und die Verhütung ihrer Totalherrschaft. Ihre Eindeutigkeit zwingt alle Parteien, die der Opposition wie die der Regierung, ihr innerstes Wesen an ihren Taten zu offenbaren.
({23})
Es wäre nämlich ein Fehler, weiter den Zustand der Wesensunechtheit in der Propaganda der politischen Parteien zu belassen. Tatsachen müssen sprechen. Aber ebenso richtig ist, daß die Opposition sich nicht in der bloßen Verneinung der Regierungsvorschläge erschöpfen kann.
({24})
Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen.
({25})
Aus dem Wesen und der Zusammensetzung dieser Regierung heraus besteht die große Gefahr, daß dieser neue Staat ein autoritärer Besitzverteidigungsstaat werden kann.
({26})
Man hat doch in der Zusammensetzung der Regierung und den gestern vorgetragenen Tendenzen ge({27})
sehen, daß die erste Periode von Weimar - wenn Vergleiche erlaubt sind - glatt übersprungen worden ist und wir bereits in einer zweiten Periode der absoluten Restauration mit stark vorweimarischen Zügen sind.
({28})
Das bringt die Gefahr der Entfremdung der arbeitenden Menschen vom Staat. Das ist eine Gefahr, die wir als Opposition bekämpfen wollen. Wir können den heutigen politischen Machtzustand sich nicht stabilisieren lassen. Es ist die Aufgabe der Opposition, die Dinge im Fluß im Sinne einer Entwicklungsmöglichkeit zum Demokratischen und Sozialen zu halten.
Manches, was gestern gesprochen worden ist, war eine Schau nach rückwärts. Ich möchte eindeutig sagen, daß auch der wohlwollendste Ton der Ermahnung und die allmählich etwas abgestandene Bemerkung, daß die Jugend .die Zukunft bedeute, der Jugend sehr wenig sagt. Die Jugend wünscht realen Boden, wünscht positive Lebensaussichten durch eine soziale Politik,
({29})
und die Jugend wünscht, gleichberechtigt behandelt zu werden.
({30})
Auf alles kann die Jugend verzichten, sogar auf Moralpredigten und Ermahnungen. Nicht verzichten kann sie auf das Gefühl, als gleichwertiger Faktor im Staats- und Volksleben geachtet zu werden.
({31})
Die Regierungsbildung ist eine notwendige Abrundung der Regierungserklärung; sie steht unter dem Zeichen des 14. August. Allerdings hat sie länger gedauert, als man damals annahm. Ihre Methoden waren nicht so eindeutig wie nach den Versicherungen der Regierungsparteien das Wahlergebnis des 14. August sein soll. Die Regierung steht eben unter dem Eindruck der Tatsache, daß der Rechtsruck im deutschen Volk bedeutsamer ist, als die Mandatszahlen des 14. August ausdrücken. Dieser Druck von rechts kann bis tief in die Mitte hinein lähmende und ändernde Wirkungen haben. Darum ist es schon verständlich, wenn man den Gefahren von allen Seiten dadurch entgegentreten will, daß man sich sehr stark in sozialen Versicherungen gefällt. Unverständlich bleibt dann, warum man in der Frankfurter Wirtschaftspolitik alles das verhindert hat, was man jetzt als Zukunftsversprechungen an die arbeitenden Massen in Deutschland gibt. Die Dauer, die Methoden der Regierungsbildung und die Art, mit der die Macht im Staat auf allen Gebieten verteilt worden ist, haben keinen sehr berückenden und beglückenden Eindruck auf das deutsche Volk gemacht.
({32})
- Verzeihen Sie, Sie sind wohl mit Verspätung als Kreuzfahrer aus Bayern hier in Bonn eingetroffen!
({33})
Die Sache war zu geschäftig und geschäftlich betrieben und hat zuviel politische Wahlarithmetik enthalten, als daß sie einen überzeugenden eindeutigen Eindruck auf die Bevölkerung machen könnte. Ich meine: wenn man all die Herren, denen man einen Ministerposten versprochen hat und die ihn dann nicht bekommen haben, heute hier zu einer Fraktion zusammenfassen würde. dann wäre das nicht die kleinste Fraktion des Bundestags.
({34})
Wir haben bei der Organisation der Regierung eindeutig zu erklären, daß wir mehr Ministerien erhalten haben, als vorher - gerade nach den Erklärungen maßgebender Männer der Regierung - notwendig zu sein schien. Wir haben drei Ministerien zuviel! Wir haben außerdem Sorgen um die innere Organisation der Ministerien. Der Herr Bundeskanzler hat sich gestern zum Prinzip des Berufsbeamtentums bekannt. Dieses Prinzip des Berufsbeamtentums aber, das im Sinne der Leistung und im Sinne der Überwindung des Kastenwesens änderungs- und entwicklungsbedürftig ist, hat dann einen großen politischen Sinn, wenn die Beamtung ein vertrauenswürdiges Instrument für jede demokratische verfassungsmäßige Regierung ist.
({35})
Wir betonen an dieser Stelle bei der Neuorganisation der Behörden die Gleichberechtigung aller verfassungstreuen politischen Richtungen in der Besetzung der Beamtenpositionen.
({36})
- Die Herren, die mir widersprechen, scheinen die Tatsache ihrer Regierungsbeteiligung mit der anderen Tatsache zu verwechseln, daß es große Stellenvermittlungs-Organisationen gibt.
({37})
Wir haben bei der Organisation der Regierung ohne Zweifel der Position des Bundesfinanzministers ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Wir betonen, daß ein Bundesfinanzminister mit gleicher Gerechtigkeit gegenüber allen Ländern Deutschlands die gleichen Prinzipien und den gleichen Willen zu zeigen hat.
({38})
Wir dürfen nicht erleben, daß ein Bundesfinanzminister etwa der Verlockung einer praktisch betätigten überstarken Heimatliebe unterliegt.
({39})
- Was wissen Sie denn vom Sozialismus; buchstabieren Sie einmal das Wort!
({40})
Ohne eine gleichmäßige gerechte Anwendung der Finanzhoheit ist keine Hilfe für die schwachen Länder, aber auch keine Möglichkeit der Bewältigung der entscheidenden großen sozialen Fragen, keine Hilfe in der kardinalen Frage der Flüchtlinge gegeben. Die Wahlen in den steuerschwachen Ländern haben ja gezeigt, daß dort, wo die Armee der Flüchtlinge massiert und deshalb die Arbeitslosigkeit überstark ist, die Chance für den Radikalismus - das ist in der heutigen Situation der Rechtsradikalismus - vorhanden ist.
({41})
- Nun hören Sie mal! Sie werden doch von einem
demokratischen Deutschen keine Sympathie für den
Rechtsradikalismus verlangen. Was wir dem Rechtsradikalismus und dem Hypernationalismus in erster
Linie vorwerfen, das ist der Umstand, daß er in
seinen Auswirkungen schlecht für Deutschland ist.
({42})
Gerade darum muß die Hilfe den steuerschwachen Ländern zuteil werden, weil da die sozialen Probleme sich am stärksten auswirken.
({43})
Interessant und etwas schmerzlich war uns, daß in der gestrigen Regierungserklärung kein Wort von dem Finanzausgleich zu hören war
({44})
und auch nichts von den Gemeinden, ihrer Selbstverwaltung, ihren großen Aufgaben, ihrer sozialen Belastung und dem ganzen Komplex, der doch praktisch jeden Tag an jeden deutschen Staatsbürger herantritt.
Wir kündigen stärkste Gegnerschaft an für den Fall, daß das Bonner Grundgesetz nach Sinn und Buchstaben zugunsten betont überföderalistischer Regelungen seiner einheitstrebenden Tendenzen entkleidet wird.
({45})
Wir wollen keine Revision des Bonner Grundgesetzes durch Verwaltungsorganisationen, durch Personenauswahl, durch Schaffung von Vorgängen!
Gefreut haben wir uns im ersten Augenblick, als wir das Wort von der Rechtsgleichheit in den elf deutschen Ländern hörten, bis dann der Gedanke kam, daß die Rechtsgleichheit ja nach verschiedenen Prinzipien geschaffen werden kann: nach dem Prinzip des am meisten fortgeschrittenen Landes und nach dem Prinzip des am meisten zurückgebliebenen Landes.
({46})
Wir dürfen da wohl die Hoffnung aussprechen, daß wir von Regierungsseite zu diesem Punkt noch einige Erklärungen bekommen werden.
Wenn wir die Organisation der Ministerien und Behörden betrachten, so müssen wir sie als das Ergebnis opportunistischer Tagespolitik empfinden, als das Resultat von Bemühungen, die eine Regierung zusammenbringen sollten und es nicht anders konnten als mit diesen Methoden. Dadurch kann die Entwicklung auf diesem Gebiete in falsche Bahnen gelenkt werden, zum Wildwuchs und Mißwuchs der Behörden und der Ministerien.
Ich sagte: Wir haben drei Ministerien zuviel.
({47})
- Wir brauchen keinen besonderen ERP-Minister! Warum denn? Entweder hat er nichts zu tun, oder er hat deswegen zuviel zu tun, weil er der Überminister der Ökonomie ist, von dem alle anderen ökonomischen, finanziellen und sozialen Sparten abhängen. Nach der bisher nicht erfreulichen Verwendung der Marshallplangelder auf allen Gebieten
({48})
fordern wir die Vorlage eines Planes und eines detaillierten, vom Parlament kontrollierten Nachweises ihrer Verwendung.
({49})
Aber wir wollen keinen besonderen Minister. Wir wünschen am allerwenigsten, die etwas fadenscheinige Begründung diplomatischer Natur von der Notwendigkeit der Vertretung deutscher Interessen in Paris durch Männer in Kabinettsrang zu hören. Das ist etwas antiquiert.
Wir brauchen auch keinen besonderen Minister für den Verkehr mit dem Bundesrat.
({50})
Was soll denn ein Sonderminister mit dem Bundesrat verkehren? Die Linie der Politik wird vom Bundeskanzler bestimmt; er hat zu ihrer Durchführung seine Beamten. Das ist doch eine Konstruktion zur Anbindung einer Partei als Regierungspartei.
({51})
Und, meine Damen und Herren: wir brauchen kein besonderes Ostministerium. Wir brauchten auch nicht ein Staatssekretariat beim Bundeskanzler. Wir brauchen eine Abteilung beim Innenministerium,
({52})
die die konkreten Fragen im Verkehr zwischen der Bundesrepublik und zur Ostzone und außerdem eine Menge von sozialen und verwaltungsmäßigen Problemen auf diesem Gebiet zu behandeln hat. Wir sollten durch eine Abteilung beim Innenministerium manifestieren, daß das Verhältnis der deutschen Bundesrepublik zur sowjetischen Besatzungszone unter deutschem Blickwinkel ein innerdeutsches Problem ist.
({53})
Es entstehen bestimmt nichtgewollte Gefahren dadurch, daß die Möglichkeit gegeben wird, durch die Errichtung eines besonderen Ministeriums diese Dinge auf der völkerrechtlichen Ebene zu diskutieren. Die Sozialdemokratie hat schon 1945 ihre Stimme für die deutsche Einheit erhoben. Sie war auch die erste deutsche Partei, die - am 31. Mai 1947 - den Versuch bejahte, auf der Grundlage der ökonomischen und administrativen Festigung der Westzonen eine anziehende Kraft auf die Ostzone auszuüben. Aber die Grundlinien dieser Politik können nicht in einem Ostministerium bestimmt werden, sie sind eine gesamtdeutsche Angelegenheit, unter voller Verantwortung des Chefs der Regierung und unter verantwortlicher Mitarbeit aller Parteien dieses Hauses.
({54})
Um Mißverständnissen, gewollten Mißverständnissen entgegenzutreten, möchte ich sagen: die deutsche Einheit ist nur möglich auf der Grundlage der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichheit und der gleichen Wertung und Würdigung der Menschenrechte in allen Besatzungszonen.
({55})
Aber die deutsche Einheit ist nicht möglich in der Form einer russischen Provinz oder eines sowjetischen Satellitenstaates.
({56})
Wir haben im Verkehr der Parteien miteinander hier schwere Hypotheken in allen Lagern, am stärksten aus der Tatsache heraus, daß die Oberschicht der heute formal noch bestehenden Christlich-Demokratischen Union
({57})
und der Liberaldemokraten in der Ostzone Regierungspartei ist.
({58})
Als Regierungsparteien sind sie voll verantwortlich für alles, was in der Ostzone geschieht.
({59}) Weil wir diese Verzerrung und Verquickung nicht wollen, - ({60})
- Nun, wir haben Grotewohl hinausgeschmissen,
({61})
aber ihr seid noch immer dieselben Nuschkoten! ({62})
Wir müssen bei dieser Politik auch abrücken von einem Rückfall in die missionarische Illusion der Brückentheorie. Das sind Illusionen, die 1933 aus
({63})
der Hoffnung entstanden, mit einem totalitären Gegner, der das Ganze will, zu einem Kompromiß zu kommen, das einem die eigene politische Existenz und Selbständigkeit läßt. Wir dürfen nicht in eine Anerkennung der Blockpolitik hineinrutschen, die in Wirklichkeit die Herrschaft der stärksten Regierungspartei und der hinter ihr stehenden Besatzungsmacht ist. Wir sollten bei aller Anerkennung der Tatsache, daß man sich nicht immer distanzieren kann von allem und jedem in Dingen des täglichen Lebens, derartige Dinge wie die beiden Godesberger Gespräche unterlassen.
({64})
Ich verstehe, daß in den eisigen Stürmen des kalten Krieges sich manche Leute in Deutschland den Charakter erkältet haben. Einige dieser Herren sind heute Mitglieder der Bundesregierung.
({65})
Da sie aber bei der zweiten Godesberger Tagung nicht dabeigewesen sind, dürfen wir die frohe Erwartung aussprechen, daß sie mit einem leichten politischen Schnupfen davongekommen sind.
({66})
Die neue Linie der Kommunisten aber, für die jeder Anreger solcher Tagungen nur ein Instrument der sowjetischen Staatspolitik ist, ist nicht deswegen interessant, weil sie von den deutschen Kommunisten kommt, sondern deswegen, weil sie nur möglich ist als die Auftragserfüllung sowjetrussischer Auftraggeber. Nun, werte Abgeordnete, haben wir einer solchen Versuchung nicht mit primitiven Anti-Deklamationen entgegenzutreten, sondern mit einer positiven Zeichnung des deutschen Staats- und Soziallebens. Nach der Ansicht der ganzen Sozialdemokratischen Partei ist der Boden, auf dem ein erfolgreiches Bestehen dieser Angriffe am ehesten möglich ist, der Boden des demokratischen Sozialismus.
({67})
Die Kommunisten versuchen es mit allen möglichen Mitteln. Wir haben dieses Liebeswerben schon mehr als ein Dutzendmal seit Bestehen der ersten deutschen Republik gehört. Auch jetzt macht es wenig Eindruck auf uns, die Pferde der trojanischen Kavallerie galoppieren zu hören. Aber, meine Damen und Herren, seien Sie sich darüber im klaren, daß der Versuch, eine nationale Front zu errichten, auf der Grundlage der geistigen und politischen Verwüstung von fast eineinhalb Jahrzehnten eine gefährlichere Bedrohung ist. Nicht die sozialrevolutionäre, sondern die nationalrevolutionäre Parole des Ostens kann heute eine Gefahr für die deutsche Einheit und für die werdende Bundesrepublik bilden.
({68})
Wir sind in einer Situation, in der das deutsche Volk bereits wieder soweit ist, auch große soziale Versager als Heizstoff für einen neuen Nationalismus und für einen Neofaschismus zu verwerten.
({69}) Dieser Gefahr muß entgegengetreten werden.
Wenn übrigens die Herren von der Kommunistischen Partei die Freundlichkeit hatten, kürzlich bei der Wahl des Bundespräsidenten ihre Stimme für mich abzugeben, so möchte ich sie auf einen peinlichen Gegensatz aufmerksam machen. Im Osten wird noch strikte die Parole befolgt, und ihre Nichtbefolgung füllt auch heute noch die Konzentrationslager: „Die Schumacherlinge müssen nicht nur moralisch, sondern auch physisch vernichtet werden!"
({70})
Ich würde die Herren von der Kommunistischen Partei bitten, den arbeitenden Massen in Deutschland einmal diesen Zwiespalt der kommunistischen Natur zu erklären.
({71})
- Herr Reimann, die politische Erfahrung lehrt: es gibt nicht nur Wölfe im Schafspelz, es gibt auch, Schafe im Wolfspelz!
({72})
| 23 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-21
|
60 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter, darf ich einen Moment unterbrechen. Ich nehme an, daß Sie mit Ihrer Bemerkung „Schafe im Wolfspelz" kein Mitglied des Hauses gemeint haben.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-21
|
61 | 6 | 1 | null |
schumacher
| 11,002,113 |
Ich würde, Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis Herrn Reimann die Entscheidung darüber überlassen.
({0})
Wenn wir die Frage der deutschen Einheit diskutieren, dann können wir an der Frage Berlin nicht vorübergehen.
({1})
Berlin wünscht keine Wohltaten und keine Wohltäter-Allüren.
({2})
Die besondere Finanzhilfe für Berlin ist nicht eine Angelegenheit freiwilliger Zuwendungen, sondern muß zu einem festen Bestandteil im Etat der deutschen Bundesrepublik gemacht werden.
({3})
Man sollte auch nicht nur dieser Zuwendung von Mitteln der Allgemeinheit zustimmen. Man muß in der Wirtschaftspolitik Berlin durch Vergebung von Krediten und von Aufträgen mehr Hilfe leisten als bisher. Auf diesem Gebiet, wo egoistische Interessen westlicher Produzenten mit Berliner Produktionsinteressen konkurrieren können, haben wir als deutscher Westen für Berlin noch lange nicht das geleistet, was zu leisten unsere Aufgabe ist.
({4})
Man darf doch nicht vergessen, daß man den Kampf der Berliner nicht für die deutsche Bundesrepublik zu Buche schreiben und dann, wenn eigene kleinere Interessen auf dem Spiel stehen, Berlins Lebensnotwendigkeiten irgend etwas verweigern kann. Berlin hat den Willen, Produktionsstätte und Steuerzahler zu werden. Aber um diesen Willen zu realisieren, brauchen wir eine andere Linie der Wirtschaftspolitik, zum Teil auch die Einlösung von Versprechungen, die in diesem Frühsommer von einem Herrn der Bundesregierung in Berlin gemacht worden sind.
({5})
Mögen nun viele Leute diesen Zustand der Spaltung Deutschlands für relativ und vorübergehend zufriedenstellend erachten, wir Sozialdemokraten können das nicht. Die Frage der deutschen Einheit kommt hinein in jede andere politische Frage, die Deutschland berührt. Diese Frage kommt nicht mehr von der Tagesordnung. Wir können niemanden als einen Freund des deutschen Volkes emp({6})
finden, dessen praktische Politik die deutsche Einheit auf der demokratischen Grundlage verweigert und behindert.
({7})
Wir können uns auch nicht damit einverstanden
erklären, daß die deutsche Einheit zum Agitationsobjekt oder zum Agitationsinstrument einer politischen Richtung gemacht wird. Wir wünschen, daß
bei aller Verschiedenheit der Auffassungen sozialer, politischer und kultureller Natur die Angelegenheit der deutschen Einheit überall in Deutschland die Angelegenheit der gleichen Herzenswärme
und der gleichen politischen Entschiedenheit wird.
({8})
Wenn der Herr Bundeskanzler gestern mit Recht der dankenswerten Arbeit ausländischer und inländischer Organisationen seine Achtung zollte, dann begrüßen wir das. Wir hätten aber gewünscht, daß der Herr Bundeskanzler bei diesem Dank nicht nur so in den Vorstellungen seiner eigenen Welt steckengeblieben wäre.
({9})
Ich habe dabei an die Arbeiterwohlfahrt und ihre Leistungen denken müssen, .
({10})
ich habe an das grandiose Hilfswerk ausländischer Arbeiterorganisationen denken müssen,
({11})
und ich habe auch an die Quäker, die Mennoniten und Juden und ihre Hilfsorganisationen denken müssen.
({12})
Es mag dem Wesen der Politik entsprechen, gegnerische Leistungen relativ gering einzuschätzen, und man kann es nicht übelnehmen, wenn sich die Gegner nicht zu gegenseitigen Propagandisten ihrer Leistungen machen; aber daß man beispielsweise über den Kampf der deutschen Sozialdemokratie um die deutschen Kriegsgefangenen so einfach hinweggegangen ist,
({13})
das ist auch nationalpolitisch von uns als nicht erfreulich empfunden worden.
({14})
Wir Sozialdemokraten danken von ganzem Herzen für die ungeheure Leistung des amerikanischen Volkes und des im amerikanischen Staatswesen organisierten amerikanischen Steuerzahlers n das deutsche Volk. Aber sogar für amerikanische Ohren wäre gestern der Dank eindringlicher gewesen, wenn nicht die Tatsache einfach ignoriert worden wäre, daß auch der britische Steuerzahler und das englische Volk ohne Unterschied der Parteien und unter eigenen Opfern und Entbehrungen Großes für das hilfsbedürftige deutsche Volk geleistet hat.
({15})
Ich bin zu meinem Bedauern gezwungen festzustellen, daß sehr viele Menschen im Ausland sehr viel mehr Verständnis für die sozialen Nöte der Deutschen gezeigt haben als mancher Deutsche.
({16})
Es ist schmerzlich, aber es muß gesagt werden, daß die deutsche Sozialdemokratie nun einmal nicht in der Lage ist, einen Dank an die deutschen Hortungsgewinnler auszusprechen.
({17})
Begrüßenswert war ohne Zweifel das Denken an die Kriegsbeschädigten, aber etwas mehr Konkretisierung wäre wohl nötig gewesen.
({18})
1945 ist das als soziale Leistung beachtliche Reichsversorgungsgesetz durch einen Federstrich der Alliierten, die damit wohl praktischen Antimilitarismus zu betreiben vermeinten, außer Kraft gesetzt worden. Es wäre eine gute Sache, wenn die Bundesregierung sich entschließen könnte, ein neues, den geänderten Verhältnissen angepaßtes Reichsversorgungsgesetz für die Schwerbeschädigten des Krieges und für die Kriegerhinterbliebenen anzukündigen.
({19})
Denn das Problem bei diesen so schmerzlich Geschlagenen ist doch, diese jungen Menschen heranzuholen an das Leben und heranzuholen an den Staat.
({20})
Dazu gehört freilich eine Gesinnung warmer Kameradschaft, die über die finanz- und gesetzestechnischen Manipulationen hinausgehen muß.
({21})
Dagegen kann eine Unterlassung nicht unwidersprochen bleiben: die deutschen Kräfte des Widerstandes und die deutschen Opfer des Faschismus gehören doch zu den wenigen außenpolitischen Aktiven des deutschen Volkes und der deutschen Außenpolitik.
({22})
Von diesen Menschen ist gestern gar kein Wort gesagt worden. Man kann nicht gegen den Nazismus sein, ohne der Opfer des Nazismus zu gedenken.
({23})
Man kann sich nicht für die Hilfeleistung für einzelne Kategorien erwärmen - sie mögen noch so nötig sein -, wenn man die Opfer des Nazismus in einer selbstgewählten Rangordnung hinter die Rechte anderer zurückstellt.
({24})
Zu matt und zu schwach ist gewesen, was gestern die Regierungserklärung über die Juden und über die furchtbare Tragödie der Juden im Dritten Reich gesagt hat. Resignierte Feststellungen und der Ton des Bedauerns helfen hier nichts. Es ist nicht nur die Pflicht der internationalen Sozialisten, sondern es ist die Pflicht jedes deutschen Patrioten, das Geschick der deutschen und der europäischen Juden in den Vordergrund zu stellen und die Hilfe zu bieten, die dort notwendig ist.
({25})
Die Hitlerbarbarei hat das deutsche Volk durch Ausrottung von sechs Millionen jüdischer Menschen entehrt. An den Folgen dieser Entehrung werden wir unabsehbare Zeiten zu tragen haben. Von 600 000 deutschen Juden leben heute im Gebiet aller vier Zonen nur 30 000, meist ältere und kranke Personen. Auch sie erleben immer wieder beschämende und entwürdigende Vorfälle. In Deutschland sollte keine politische Richtung vergessen, daß jeder Nationalismus antisemitisch wirkt und jeder Antisemitismus nationalistisch wirkt. Das bedeutet nämlich die freiwillige Selbstisolierung Deutschlands in der Welt.
({26})
({27})
Antisemitismus ist das Nichtwissen von den großen Beiträgen der deutschen Juden zur deutschen Wirtschaft, zum deutschen Geistesleben und zur deutschen Kultur und bei der Erkämpfung der deutschen Freiheit und der deutschen Demokratie. Das deutsche Volk stände heute besser da, wenn es diese Kräfte des jüdischen Geistes und der jüdischen Wirtschaftspotenz bei dem Aufbau eines neuen Deutschlands in seinen Reihen haben würde.
({28})
Nun ist durch den Vorgang der internationalen Abwertung eine neue Erschwerung eingetreten. Man hat den Eindruck, als ob man in Deutschland und vielleicht auch sonst mancherorts nicht ganz begreift, daß sich hier ein Schicksal zu vollenden beginnt, das seit Jahrzehnten vorbereitet ist, hervorgerufen durch eine andere Verteilung der industriellen Produktion, durch die Tatsache, daß die anderen Kontinente, die früher Rohstoffe und Lebensmittel lieferten, heute selbst industrialisiert sind und damit das Ganze in Europa in eine besondere, geschwächte handelspolitische Situation gebracht haben. Diese überholte politische und ökonomische Struktur Europas ist der Grund der Wehrlosigkeit, bei der die endgültige Heilung auch durch große Dollartransfusionen nicht gebracht werden kann, so notwendig sie sind, um das Leben für die nächste Zeit zu erhalten.
Wir sind, nachdem wir jetzt mehrere Jahre im toten Winkel lagen, auch in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft hineingezogen worden, und der erste Ausdruck war das Hineingezogenwerden - ({29})
Nein, Sie haben meine drei letzten Sätze nicht verstanden. Lernen Sie sie bitte bis morgen auswendig.
({30})
Dieses Hineingezogenwerden hat sich jetzt zum erstenmal bei der Abwertung geltend gemacht. Nun werden wohl Parallelen notwendig sein, Parallelen über Gebiete, die eben auch der Zwischenruf angedeutet hat und wo Sachkenntnis durchaus heilend wirken könnte.
({31})
Man braucht bloß die besondere Situation Großbritanniens und seine Möglichkeit, den inneren lohnpolitischen und preispolitischen Konsequenzen der Abwertung zu begegnen, mit der besonderen Situation Deutschlands zu vergleichen. Über den Rahmen der Anteilnahme am Verlust des Krieges hinaus sind breite Massen des deutschen Volkes heute gegenüber diesem Ereignis wehrloser als die arbeitenden Menschen irgendeines anderen europäischen Volkes. Und weswegen sind sie wehrloser? Weil ihre soziale Polsterung durch die Geringfügigkeit der Reallöhne und durch die Einseitigkeit bei der Währungsreform und den hintertriebenen Lastenausgleich sehr viel schlechter ist als bei irgendeinem Volk in Europa. Wenn der Bundeskanzler erklärt, nur eine blühende Wirtschaft könne die Belastung aus dem Lastenausgleich tragen, dann werden wir daraus folgern müssen, daß man in den entsprechenden Kreisen der Regierung den radikalen endgültigen Lastenausgleich nicht gerade mit heißem Herzen will. Das bedeutet die Verschiebung des Lastenausgleichs. Der Lastenausgleich, der notwendig ist,
ist doch ein Lastenausgleich, der weitgehend zu einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse und vor allem zu einer Veränderung der Einkommensverhältnisse beiträgt. Ich glaube nicht, daß man mit der heutigen sozialen Graduierung der Bevölkerung einen neuen lebensfähigen demokratischen Staat aufbauen kann. Wir haben jetzt gesehen, daß wir heute schon Reallöhne haben, die unter den anderen Reallöhnen Europas liegen, was man bei den Realgewinnen der meisten Sachwertbesitzer nicht sagen kann. Wir haben eine weitere Bedrohung der Reallöhne im kommenden Winter durch die Ankündigung der Aufhebung der restlichen Bewirtschaftung, die sich vor allem bei der Bildung der Lebensmittelpreise und der Mieten geltend machen würde. In diese Situation der geschwächten sozialen Position der arbeitenden Menschen in Deutschland tritt nun die Abwertung. Wir sollten soviel Respekt vor den Tatsachen und der Ehrlichkeit haben, um zu sagen, daß eine Reihe von Trostpillen der letzten Tage nicht aus guten Chemikalien gemacht worden ist. Die radikale Trennung des äußeren valutarischen Wertes der D-Mark von dem inneren Kaufkraftwert ist nicht vollständig, sondern nur recht beschränkt möglich; und selbst das auch nur dann, wenn besondere Regierungsmaßnahmen eingeleitet werden.
({32})
Das gilt vor allen Dingen für die Preispolitik. Man kann nicht das Volk auffordern zu sparen bei steigenden Preisen. Spartätigkeit ist nur bei festen oder möglichst sogar rückläufigen Preisen möglich. Man kann nicht diese Wirtschaftspolitik betreiben und dann mit der anerkennenswert offenen, aber noch nicht die ganze Schwere aufzeigenden Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers weitergehen, die von „geringfügigen Veränderungen im Lohn- und Preisgebäude" spricht. Geringfügig werden die Veränderungen nicht sein, wenn nicht staatliche Hilfe kommt. Aber die Möglichkeiten der staatlichen Hilfe, besonders in der Form einer positiven Preispolitik, sind ja durch die letzten 15 Monate deutscher Wirtschaftspolitik zerschlagen worden.
({33})
- Die bessere Position Großbritanniens besteht jetzt eben darin, daß es ein funktionierendes System der Planwirtschaft
({34})
mit Investitionslenkung hat.
({35})
- Meine Herren, Sie haben anscheinend von Planwirtschaft und Investitionslenkung nur in den Formen wahlpropagandistischer Formulierungen gelesen.
({36})
- Verzeihung, S i e waren doch zum großen Teil Nazis, und nicht Großbritannien, wenn ich mich recht erinnere.
({37})
| 23 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-21
|
62 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter Dr. Schumacher, ich möchte Sie fragen: habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie eben zu einem Teil des
({0})
Hauses gesagt haben: Sie waren Nazis, und doch nicht Großbritannien!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
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63 | 6 | 1 | null |
schumacher
| 11,002,113 |
Ein großer Teil, habe ich gesagt.
({0})
| 23 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-21
|
64 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter Schumacher, ich glaube, es dient dem ruhigen Ablauf - ({0})
- Lassen Sie mich doch bitte ausreden. Herr Abgeordneter Dr. Schumacher, ich möchte Sie darauf hinweisen - ({1})
- Meine Damen und Herren, ich spreche jetzt und bitte, mich nicht zu unterbrechen und diese Zwischenrufe beizulegen.
({2})
Herr Abgeordneter Dr. Schumacher, Sie haben einem Teil des Hauses den Vorwurf gemacht, es seien Nazis.
({3})
Ich mache darauf aufmerksam, daß diese Frage durch die Entnazifizierungsgesetze ({4})
in juristischer Beziehung als erledigt gelten muß. Es wird die Aussprache hier erschweren, wenn derartige Kennzeichnungen erfolgen. Ich darf daher, Herr Dr. Schumacher, an Sie appellieren, diese Ausdrücke nicht zu wiederholen.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
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65 | 6 | 1 | null |
schumacher
| 11,002,113 |
Ich akzeptiere selbstverständlich die Richtlinien des Herrn Präsidenten. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, daß in diesem nicht sehr sinnvollen Zusammenhang die Einführung des Begriffs Nazis durch Zwischenrufe von jener Seite des Hauses ({0}) geschehen ist. Vielleicht können wir uns besser einigen, wenn sich die Herren einmal dahin konzentrieren würden zu erkennen: erstens, daß wir vor Ihnen keine Angst haben,
({1})
und zweitens, daß zu einer demokratischen Auseinandersetzung auch eine gewisse Selbstzucht der Zuhörer gehört.
({2})
| 23 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-21
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66 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Herr Dr. Schumacher, ich muß Sie noch einmal unterbrechen. Es geht nicht an, hier festzustellen, daß unter den Parteien des Hauses etwa irgendeine Angst der einen oder der anderen wegen der Auseinandersetzung besteht. Hier haben alle Fraktionen dasselbe Recht. Ich muß deshalb diese Feststellung energisch zurückweisen und bitte Sie, mir nicht noch einmal Gelegenheit zu geben, zu anderen Formen der Zurechtweisung zu schreiten.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
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67 | 6 | 1 | null |
schumacher
| 11,002,113 |
Dann möchte ich feststellen, daß der Verlauf - ({0})
- Ich möchte feststellen, daß der Verlauf der Sitzung
({1})
ein reichlich unregulierter gewesen ist und daß es die Herren von der anderen Seite des Hauses für angemessen gehalten haben, permanent durch Randalieren und ungezügelte Zwischenrufe einen geordneten Ablauf der Debatte zu verhindern.
Nun kommen wir aber wieder zur Sache! Ich möchte den Herren nicht die Gelegenheit nehmen, auch etwas zu lernen.
({2})
Gerade der geringe Reallohn hat die deutsche Wirtschaft und die arbeitenden Menschen in Deutschland gegen eine neuerliche Bedrohung besonders empfindlich gemacht. Es wäre gut, wenn sich alle Kreise des Volkes dazu verstehen könnten, die Quote der Abwertung geringer zu nehmen, als etwa vom Gesichtspunkt interessierter Kreise von Importeuren und Exporteuren wünschenswert erscheint. Großbritannien hat jetzt die Chance, die Lohn-Preis-Spirale weitgehend zu vermeiden. Die deutsche Chance ist gerade auf Grund der Frankfurter Wirtschaftspolitik eine sehr viel geringere.
Wir haben weiter in der Regierungserklärung die Feststellung vermißt, daß in Deutschland nicht nur binnenwirtschaftlich bestimmte Preise vorhanden sind, sondern auch Preise, welche von Lebensmitteln und Textilrohstoffen herrühren, die von außen eingeführt werden und darum in jedem Fall auf die Lebenshaltung der Konsumenten einwirken. Wir hätten gern gehört, was zur Abwehr der schlimmen Konsequenzen dieser einfuhrabhängigen Preise getan wird. Wir hätten gern vernommen, wie die Dinge bei der Versorgung der minderbemittelten Schichten mit Brot und den sonstigen wichtigsten Lebensmitteln aussehen sollen. Wir hätten gern etwas über ein Subventionsprogramm gerade auf diesen Gebieten gehört.
({3})
Denn Sie können doch nicht glauben, daß das Schicksal der armen Leute immer tiefer herabgedrückt werden kann und nicht nur der Reallohn, sondern auch die Realrente im Uferlosen verschwindet.
({4})
Nun, werte Abgeordnete, haben wir ja gewisse Reserven; wir haben gewisse Möglichkeiten, hier einzugreifen. Das ist die aktive Preispolitik. Das ist der Kampf um die Minderung der Besatzungskosten. Das ist ein mehr wirtschaftlicher Einkauf von ausländischen Lebensmitteln.
({5})
Dann gibt es die Chance einer zusätzlichen Auslandshilfe auf dem Gebiet der Hilfe für die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, nämlich die Wiederaufnahme der eigenen Handelsschiffahrt. Sie dient zur Gewinnung von Devisen und zur Entlastung der Zahlungsbilanz. Wir haben heute 25% der Marshallplangelder für Seetransporte der deutschen Importe aufzuwenden.
({6})
({7})
Ich möchte die Aufmerksamkeit der Bundesregierung darauf lenken, daß jetzt die Gelegenheit ist, die Serien von Fischerei- und Frachtschiffen freizubekommen, deren Größenklassen in London beschlossen worden sind.
Nun, werte Abgeordnete, wir haben heute einen Staat, den wir Sozialdemokraten als einen Staat der überwiegenden sozialen Restauration ansehen. Wir haben einen Staat, von dem wir befürchten, daß seine Führung, unter Ausnutzung gewisser Vorschriften des Grundgesetzes, gar zu leicht in Versuchung kommt, die Volksmassen als Objekte zu behandeln. Demgegenüber haben wir unseren positiven sozialdemokratischen Gestaltungswillen auf allen Gebieten der Politik zu setzen. Zu dem gehören der Lastenausgleich und die Sozialisierung, die auch durch das Wahlergebnis nicht von der Tagesordnung verschwunden ist. Wir hätten gern gewußt, wie dieser einsame, in der Regierungserklärung so fremd dastehende Satz von der Änderung der Besitzverhältnisse in den Schwerindustrien zu verstehen ist.
({8})
Deutlicher wäre es schon gewesen, wenn der Herr Bundeskanzler von Eigentumsverhältnissen gesprochen hätte,
({9})
und am allerdeutlichsten, wenn er sich erklärt hätte. wie er das nun eigentlich mit der Änderung der Besitzverhältnisse meint. Vielleicht eine Restauration der Besitzverhältnisse der alten Eigentümer? Oder eine irgendwie abgeblaßte Form einer Ersatzsozialisierung? Oder bestimmte Formen der fremden Kapitalbeteiligung? Ich habe hier eine katholische Tageszeitung der Schweiz, die „Neuen Zürcher Nachrichten". Da spricht der Herr Bundeskanzler über die Ruhrindustrie und über die Notwendigkeit. sie mit Kredithilfe zu modernisieren. Er meint dazu: „Hier eröffnet sich die Möglichkeit einer ausländischen und damit französischen Kapitalbeteiligung,"
({10})
„die nicht nur wirtschaftlichen Nutzen, sondern wichtige Voraussetzungen für erhöhte Sicherheit mit sich bringen wird."
({11})
Darüber hätten wir gern Genaueres vernommen.
Wir hätten auch gern gehört, wie das mit der großen Politik der Wirtschaft ist, nämlich mit der Arbeitsbeschaffung. Die Politik der Vollbeschäftigung ist unlöslich mit jeder positiven Politik für Flüchtlinge und für den Wohnungsbau verbunden.
({12})
Es ist nicht möglich, diese Dinge aus dem großen ökonomischen Komplex herauszunehmen. Eins ist vom anderen abhängig. Und auch die wichtigsten Probleme sind nur Teiläußerungen des kardinalen Problems der Vollbeschäftigung.
({13})
Auch da vergleichen Sie bitte einmal Großbritannien und das Deutschland der Frankfurter Wirtschaftspolitik.
({14})
Man kann nicht bauen und man kann den Flüchtlingen und den Armen nicht helfen ohne Planung und Kontrolle.
Wir hätten gern gehört, wie der Ausnützung einer rein privatwirtschaftlich aufgefaßten Konjunktur entgegengetreten werden soll. Nach Kriegs-, Inflations-, Hortungs- und Demontagegewinnlern droht uns doch jetzt die Gefahr der Wiederaufbaugewinnler.
({15})
Vielleicht können wir im Verlauf der Aussprache erfahren, welche Maßnahmen die Bundesregierung dagegen anzuwenden bereit ist. Die Sozialisierung ist ja nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein politisches Problem. Geld kann in einer funktionierenden Demokratie, und gerade nach den Erfahrungen Deutschlands, auf dem Boden unseres Landes nicht die entscheidende politische Macht sein. Unser Volk erträgt das nicht, und die Idee und die Praxis europäischer Friedenspolitik ertragen das auch nicht.
({16})
Man wird also auch mit den geheiligten Prinzipien des Eigentums in Auseinandersetzungen kommen, in einem Ausmaß, das bisher nicht gekannt worden ist. Das wirtschaftspolitische Bild gerade des letzten Dreivierteljahres war durch eine Fülle von falschen Prognosen und Prophezeiungen beherrscht. Man kommt aber in keinem Falle, man möge von einer Auffassung ausgehen wie immer, an der Tatsache vorbei, daß es die Einkommensentwicklung ist, die den Markt bestimmt, und zwar die Einkommensentwicklung der breiten Massen. Bei schrumpfendem Sozialprodukt und zurückgehendem Reallohn bei steigender Arbeitslosigkeit ist die notwendige Konjunkturwende nicht möglich.
Wir haben in den letzten Monaten eine große Diskussion über zusätzliche Kredit- und Geldschöpfung gehört. Ich möchte bei dieser Gelegenheit sagen, daß die orthodoxe Geldpolitik der Bank deutscher Länder uns ein Hemmnis für unsere wirtschaftliche Entwicklung zu sein scheint.
({17})
Nicht nur die personelle Besetzung in der Leitung, sondern auch die Organisation der Bank deutscher Länder erscheint uns nicht geeignet, die deutsche Volkswirtschaft zu fördern.
Man sollte sich auch hüten, in Berechnungen für die Zukunft große Beträge freiwilliger Auslandshilfen einzusetzen. Wir haben, glaube ich, gewisse Gründe zu der Befürchtung, daß die ausländischen Beiträge kaum größer sein werden als das eigene deutsche Aufkommen.
({18})
Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist die Erhöhung des Produktionsvolumens, grob geschätzt um zusätzlich ein Drittel der vorhandenen Produktion in Landwirtschaft, Industrie und Handwerk. Aber man kann ein solches Produktionsvolumen erfolgreich nur erhöhen, wenn die Senkung der Preise parallel geht. Das ist nur durch Konzentration der wirtschaftlichen Kräfte und der Rationalisierungspotenzen auf Massengüter möglich. Wenn nicht die Preise gleichzeitig zurückgehen, würde die Erhöhung des Produktionsvolumens nur zu einer übergroßen Lagerbildung mangels Kaufkraft führen.
Zur Landwirtschaft gewandt möchte ich sagen: auch hier fehlt manches. Ich bin nicht ungerecht genug, um die Fülle der Probleme in einer einzigen, knapp anderthalbstündigen Regierungsdeklaration
({19})
wiedergegeben zu sehen. Aber gewisse Linien sollten aufgezeigt werden - und nicht nur die negativen Linien der Aufhebung der Bewirtschaftung auch bei den Gütern, bei denen jetzt bei der Abwertung die Preise festgehalten werden müssen, wenn nicht das ganze Lohngebäude zusammenstürzen soll. Die Landwirtschaft hat noch andere Probleme. Wir haben immer noch nicht eine einheitliche Bodenreform. Die Flurbereinigung ist noch nicht verwirklicht. Wir haben wenig vom Ansiedeln ostvertriebener Bauern auf ausgelaufenen Höfen gesehen.
({20})
Wir haben auch noch das Problem der Importkasse positiv zu gestalten.
Das Problem der Erholung unserer Volkswirtschaft ist die Hebung der Massenkaufkraft durch Preisverbilligung, Lohnerhöhung und völlige Abkehr von der Produktion von Luxusgütern. Aber dazu ist Planung in der Reihenfolge der Wichtigkeit der Güter nötig. Davon soll die Reihenfolge der Kredite abhängen, die zur Verfügung gestellt werden. Die Sicherung der Kreditverwendung erfordert jedoch ihrerseits wieder eine Kontrolle; sonst kommen wir nach den Erfahrungen der letzten 15 Monate nur zur Schaffung zusätzlicher Anlagekapazitäten, die keinen volkswirtschaftlichen Nutzen bringen.
({21})
Ich kann wegen der vorgeschrittenen Zeit ein solches Kreditprogramm und eine solche Skala der Reihenfolge im einzelnen nicht entwickeln. Zur Preispolitik muß gesagt werden, daß schlimmer als jedes Preisdiktat irgendeiner noch so verabscheuungswürdig geschilderten Bürokratie sich die Preisdiktatur auf der Grundlage der Verabredung der großen Warenbesitzer und Produzenten ausgewirkt hat. Die heutige Wirtschaftspolitik - so fürchte ich - zielt aber nach unseren Erfahrungen auf Erhaltung der monopolwirtschaftlichen Elemente ab, und ich sehe die Gefahr der Entstehung neuer Monopole und Kartelle.
({22})
- Das muß ja dann meine Sache sein!
Die Belebung des Baumarktes darf auch nicht in erster Linie auf eine Politik des Anreizes des privaten Kapitals umgedrängt werden, wenn die Ergebnisse der Bautätigkeit für die Mieter erträglich sein sollen.
({23})
Der Wohnungsbau, der in erster Linie zu fördern ist, ist der soziale Wohnungsbau.
({24})
Auch der Bau gewerblicher Einrichtungen hat in den meisten Fällen hinter diesen sozialen Wohnungsbau zurückzutreten. Der gewerbliche Wohnungsbau ist durch die bisherige Steuerpolitik und durch die Möglichkeit der Kompensation in der inflatorischen Periode unserer jüngsten Vergangenheit schon genügend gefördert worden. Nun haben wir die Ankündigung einer solchen Wohnungsbaupolitik, wie sie der Herr Bundeskanzler gestern ausgesprochen hat. Aber er hat, bevor er Regierungschef wurde, noch ein anderes Wort ausgesprochen; er hat nämlich gesagt, daß die Bundesregierung jedem Deutschen ein Heim schaffen werde. Nun, die Frankfurter Wirtschaftspolitik hat ja auch auf diesem Gebiet einen andern Weg eingeschlagen; aber an dieses Wort des jetzigen Herrn Bundeskanzlers soll die Regierung erinnert werden von der Wiege bis zum Grabe.
({25})
Die Sozialdemokratische Partei hat der deutschen Öffentlichkeit ihren Plan A: Bau von einer Million Wohnungen in vier Jahren, vorgelegt. Und ich möchte bei dieser Gelegenheit noch auf eine Reihe anderer Projekte insbesondere kommunaler Vereinigungen, die durchaus beachtenswert sind, hinweisen.
Man kann die Wohnungsfrage nicht von der Frage der Vertriebenen trennen. Das Schicksal der Vertriebenen ist von der Existenz einer Bundesfinanzhoheit abhängig. Die Länder werden dieses Problem nicht lösen können. Ich warne vor einer Politik, bei der von den Gemeinden her die Länder Probleme aufnehmen, sie an den Bund weiterschieben und der Bund sie dann der internationalen Hilfe empfiehlt. Internationale Hilfe ist not; aber es gibt auch eine deutsche Gesamthaftung gegenüber den Vertriebenen.
({26})
Kein Mensch wird uns einreden können, daß für die Vertriebenen das getan worden ist, was hätte getan werden können. Ich warne auch davor, dieser großen Aufgabe der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einsiedlung der Vertriebenen in unser Volksleben mit dem Hinweis auf die Oder-NeißeLinie auszuweichen. Man kann gegen die OderNeiße-Linie nur angehen, wenn man vorher in unserem Land seine soziale und menschliche Pflicht gegenüber den Vertriebenen getan hat.
({27})
Ein kritisches Wort ist zur Kreditversorgung der Flüchtlingsbetriebe zu sagen. Dem Ausland ist zu sagen, daß die jetzige Behandlung der Demontagefrage die Lösung des Flüchtlingsproblems außerordentlich erschwert.
({28})
Die Vertriebenen selbst werden freilich nicht als isolierter Faktor ihre Wünsche durchsetzen können. Sie werden Bestandteile der deutschen Parteien und des deutschen politischen Lebens sein müssen. Eine Hinwendung der Vertriebenen zum Rechtsradikalismus würde eine Abwendung von der sozialen Realität zur nationalistischen Illusion bedeuten. Freizügigkeit, Finanzausgleich zwischen den Ländern in der Flüchtlingsfrage und Konzentration aller Kräfte auf ein Problem, das wirklich ein deutsches Nationalproblem ist, das tut in dieser Frage not.
Sicher haben Sie von der sozialdemokratischen Entschließung in Dürkheim gehört. Sie haben die 16 Punkte kritisch würdigen können. Sie mögen ihnen im einzelnen zustimmen oder sie ablehnen - sie sind ein immanenter Bestandteil der Tätigkeit der Sozialdemokratie als einer Oppositionspartei im neuen deutschen Staatswesen. Aber nicht geringer ist die wirtschaftspolitische und soziale Bedeutung des gewerkschaftlichen Programms.
({29})
Das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter erschöpft sich für uns nicht in der Mitbestimmung im Betrieb, sondern involviert die Mitbestimmung im deutschen Wirtschaftsleben.
({30})
Ich glaube, wenn wir einen Beitrag für die deutsche
Einheit leisten wollen, dann sollten wir in der Linie
({31})
der sozialen Geltung und der ökonomischen Mitbestimmung der arbeitenden Massen operieren. Ich kann hier im einzelnen nicht das große sozialpolitische Programm der Gewerkschaften aufzählen, das wohl in allen Punkten von der Sozialdemokratie vertreten wird; aber ich muß Ihnen sagen: wenn Sie für die deutsche Einheit sind, dann machen Sie den deutschen Westen auch sozial und hinsichtlich der Geltung des arbeitenden Menschen zum Magneten!
({32})
Die soziale Gestaltungskraft schafft die nationale Einheit und das deutsche Staatsvolk, das Vertrauen zu sich und seiner Zukunft in der Zusammenarbeit mit der Welt hat.
Der Herr Bundeskanzler hat einen Teil seiner gestrigen Ausführungen dem Verhältnis Deutschlands zu den anderen Mächten gewidmet. Er hat allerdings keine Planung und keine Konzeption einer vorwärtsschreitenden deutschen Außenpolitik entwickelt.
Ich möchte gegenüber dem Besatzungsstatut sagen, daß mir sein größter Vorteil der zu sein
scheint, daß seine baldige Revision in Aussicht steht.
({33})
Ich würdige, daß der Ton dieses Dokumentes freundlicher ist als frühere. Ich erkenne durchaus an, daß man mit diesem Besatzungsstatut operieren kann. Schmerzlich empfinden wir aber den Mangel an konkreten Rechtsvorschriften in Rechten und Pflichten sowie die Arbeit mit noch sehr allgemeinen Generalformeln.
Wir haben gestern auch nichts über die Ruhrbehörde gehört. Die Sozialdemokratische Partei hat vom ersten Tag an erklärt, daß sie auf eine Umwandlung der Ruhrbehörde tendiert, auf eine Umwandlung, die keine Hindernisse in Sachen der Sozialisierung schafft, und die einen entscheidenden Fehler aus der Welt schafft, nämlich den, daß in diesem Ruhrstatut alle möglichen materiellen Dinge geregelt sind, aber von den Menschen, die die Werte schaffen, nicht die Rede ist.
({34})
Wir empfinden es als einen schmerzlichen Mangel, daß im Ruhrstatut nicht die Geltung und das Aktionsrecht der Gewerkschaften - sowohl der deutschen wie der internationalen Gewerkschaften - eingebaut ist.
({35})
Meine Damen und Herren, wir haben auch wenig und nur abschließend ein oder zwei Sätze über die Entwicklung der Kulturpolitik gehört. Wir haben mehr eine Generalformel vernommen. Nichts haben wir von dem erfahren, was nach den Kämpfen in Bonn und nach diesen Formen des Wahlkampfes zu vernehmen wohl durchaus notwendig ist. Es ist nicht möglich, sehr reale und veränderliche Machtansprüche auf der Ebene zeitloser, ewig gültiger Sitten- und Glaubensgesetze durchzufechten. Wir müssen wissen, daß hier reale Wünsche im Geiste gegenseitigen Entgegenkommens ausdiskutiert werden sollen. Aber uns macht besorgt, daß man in letzter Zeit Formulierungen vernimmt, daß the christliche Sozialpolitik nur zur christlichen Kulturpolitik gehöre, also ihr nachsteht. Nein, das soziale Element ist nicht irgendeinem anderen Element des menschlichen Zusammenlebens untergeordnet.
({36})
Das soziale Element ist das ethische und das humane Element. Auch im Naturrecht ist das Recht
auf das nackte Dasein das erste aller Rechte und steht weit vor dem gestern sorgfältig verschwiegenen Elternrecht. Ich glaube, ich kann eine Persönlichkeit zitieren, deren sittliche und religiöse Bedeutung auch vom Streit verschiedener Anschauungen nicht ergriffen werden kann. Ich meine Mahatma Gandhi, der sagte: „Den Armen erscheint Gott in der Gestalt von Brot."
({37})
Wir. akzeptieren keine Regelung, die die Konjunktur der Spaltung des deutschen Staatswesens ausnützt. Wir nehmen nur Regelungen an, die so getroffen sind, als ob sie für das ganze Deutschland getroffen sind,
({38})
und die die kulturellen und sozialen Wünsche und Überzeugungen des gesamten deutschen Volkes in allen vier Zonen ausdrücken.
({39})
Wir haben bei der Prüfung des Verhältnisses zu anderen Ländern auch einiges über die Grenzen gehört. Es ist an der Zeit, festzustellen, daß die Sozialdemokratische Partei 1945 längere Zeit die einzige gewesen ist, die sich in Deutschland und vor der Weltöffentlichkeit gegen die Oder-NeißeLinie gewandt hat.
({40})
Aber, werte Versammlung, man kann nicht die Grenzprobleme einer Seite einseitig diskutieren. Sogar die scheinbar kleineren Dinge der Grenzkorrekturen im Westen haben ihren bedeutsamen Wert über das Materielle hinaus, auch noch psychologisch-politisch. Ich meine, daß in keinem einzigen Fall durch solche Korrekturen ein so großer Nutzen für einen anderen erzeugt werden kann, daß er den Schaden aufwiegen könnte, der dem deutschen Volke in seinem Vertrauen gegenüber der internationalen Solidarität der Demokratie entsteht. Wir haben das Gefühl: es ist in der Beziehung der europäischen Völker untereinander zuviel von einem alten Anti-Europageist und zu wenig von dem Geist des wirklichen Neubaues „Europa", der allein uns die großen kontinentalökonomischen und politischen Probleme bewältigen lassen kann.
Im Vordergrund der Aussprache steht jetzt das Saargebiet. Trotz der Verfassung von 1947, über die zu diskutieren wohl deutsches Interesse ist, über die wir aber jetzt nicht diskutieren wollen, weil wir den Weg zur Verständigung nicht versperren möchten, ist in dieser Saarfrage doch klar: Der Wille des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit geht auf den politischen Verbleib des Saargebiets in Deutschland.
({41})
- Haben Sie dabei die Auseinandersetzung in München mit anderen Mächten im Auge?
({42})
- Verzeihen Sie, diese SPS ist eine selbständige Partei, die nicht zur deutschen Sozialdemokratie gehört. Sie haben ganz vergessen, daß die Saarregierung in erster Linie von einer Partei gebildet wird, die Ihnen näher steht als mir.
({43})
Nun, werte Abgeordnete, ich halte es nicht für angebracht, mit dieser Methodik und auf dieser Ebene eine nationale Frage zu erörtern,
({44})
({45})
bei der ich zwar nicht genau weiß, ob wir uns in vollem Umfang einig werden, aber bei der doch eine Einigung im Bereich des Möglichen und Erstrebbaren liegt. Die Schaffung eines selbständigen Saarstaates und seine Vertretung im Europarat scheint mir ein bedrohliches Hemmnis für die Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit zu sein. Wenn wir nämlich ein selbständiges Saargebiet im Europarat tolerieren und - wie ich dies aus den Worten des Herrn Bundeskanzlers herauszuhören vermeine - erst in Straßburg den Ausgleich dieser Frage diskutieren, haben wir ja bereits eine vollendete Tatsache akzeptiert,
({46})
lie sehr schwer aus der Welt zu schaffen ist.
Grundsätzlich sollte die deutsche Außenpolitik in allen diesen Fragen von der These ausgehen, daß man wegen der Eiligkeit eines Termins niemals materielle Dinge preisgeben sollte. Diese Eiligkeit ist ja wahrscheinlich auch eine fiktive. Die Sozialdemokratie ist wegen ihrer Internationalität seit mehr als 80 Jahren angegriffen und meist sehr zu Unrecht angegriffen worden. Die Sozialdemokratie hat in einer Zeit, als keine andere Partei in Deutschland das tat, nämlich in ihrem Heidelberger Programm von 1925, die Vereinigten Staaten von Europa zu einem entscheidenden Bestandteil ihrer Außenpolitik gemacht.
({47})
Sie werden wohl von uns annehmen, daß wir Europa wollen. Sie werden auch gerade aus meinem Ökonomischen Exposé dasselbe entnommen haben. Aber, werte Abgeordnete, eine deutschfranzösische Verständigung, die so lebensnotwendig ist, kann doch nicht durch pathetische Schwüre geschaffen werden, sondern nur durch sachlichen demokratischen Austrag in der Diskussion der Probleme. Blankowechsel sollten wir auch hier nicht geben. Das würde nur hegemoniale Tendenzen in Europa fördern und den guten Willen der breiten Massen des deutschen Volkes zu internationaler Kooperation schwächen. Europa heißt Gleichberechtigung, meine Damen und Herren!
({48})
Man sollte nichts akzeptieren, was die Vorwegnahme von Bestimmungen des Friedensvertrags bedeutet. Wir schwächen damit nicht nur unverantwortlich unsere Position im Westen; wir schwächen auch unsere Position im Osten. Jemand, der hier auf dem Gebiet der Kompromisse in die Loslösung des Saargebietes aus dem politischen Gebiet Deutschlands hereinrutscht, verliert den festen Boden des politischen Kampfes gegen die Oder-NeißeLinie.
({49})
Dabei sollten wir auch die Diskussion über die Demontage wohl entschieden führen, sollten aber eine gewisse Bereinigung der Argumente auf allen Seiten vornehmen. Man sagt uns, die Welt sei nach den Erfahrungen vieler Jahrzehnte deutscher Geschichte um ihre Sicherheit besorgt. Das mag sein. Damit ist aber noch nicht der ganze Komplex illustriert. Wenn man um die Sicherheit besorgt ist, dann soll man auch offen sagen: um die Sicherheit vor wem! Wir wollen im deutschen Volk politisch und psychologisch Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der nächsten Anrainer erwecken. Umgekehrt müßte man aber einsehen, daß gewisse Methoden der Auseinandersetzung mit uns auch nicht die richtigen sind. Wenn wir einen entscheidend wichtigen Teil unserer wirtschaftlichen Substanz mehr als vier Jahre nach Einstellung der
Kriegshandlungen verteidigen, dann sind wir deswegen doch nicht Nationalisten.
({50})
Man sollte es auch nicht auf die Ebene zu schieben versuchen, als ob die Deutschen bei dieser Verteidigung den Versuch einer Kraftprobe mit den Alliierten machen würden. Das ist eine Vergiftung der Situation. Man sollte realistisch betrachten, um welche Kapazitäten die Deutschen kämpfen. Es sind doch nicht die Kapazitäten Hitler-Deutschlands, um die gerungen wird. Genau die 14 1/2 Millionen Produktionskapazität in der Stahlindustrie, um die wir uns heute wehren, hatte Westdeutschland - also die drei westlichen Zonen - in der Periode des sozialdemokratischen Kabinetts Hermann Müller. Diese Diskussionsgrundlagen sollte man anerkennen. Man sollte auch akzeptieren, daß wir zu der damaligen Bevölkerung 7 1/2 Millionen Flüchtlinge zusätzlich haben. Man sollte einsehen, daß die Größe des Wiederaufbaus, vor allem im Wohnungsbau, auch einen außerordentlich starken Stahlbedarf bedeutet. Schließlich sollte man uns im europäischen Rahmen die Möglichkeit des Exports von Stahl und Stahlwaren geben; denn wir müssen schon aus der Bedrängnis unserer Lebensmittellage heraus exportieren. Mit der Politik, wie sie hier Teile des Auslands uns gegenüber einschlagen, kombiniert mit der Frankfurter Wirtschaftspolitik, werden wir bei Ablauf des Jahres 1952 ohne amerikanische Hilfe nicht in der Lage sein, die deutsche Wirtschaft erfolgreich zu gestalten.
({51})
Wir haben schon 1945 offen über diese unsere Haltung gesprochen. Wir haben dieselbe Offenheit jetzt gezeigt, und die Welt konnte darum nicht überrascht werden. Wir hoffen auf die Erreichung eines möglichen Kompromisses in allen diesen Fragen, der allen Beteiligten Genüge tut. Wir müssen aber offen sagen: wir können und wir wollen aus ökonomischen und politischen Gründen nicht auf Unverzichtbares verzichten.
Nun, verehrte Abgeordnete: Das ist in kurzen Zügen gegenüber dem Programm der Regierung das Programm der Opposition. Nicht überall ist die glatte Antithetik gegeben; sehr oft haben wir Forderungen, die scheinbar im bisherigen Programm der Regierung noch keine Rolle spielen. Wir sind nicht die bloße Negationserscheinung dieser Regierung. Wir sind etwas Selbständiges. So wollen wir unsere Opposition führen, mit dem Ziel, für die Politik der sozialistischen Demokratie einmal in diesem Hause die parlamentarische Mehrheit zu finden.
({52})
| 23 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-21
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68 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. von Brentano.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
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69 | 6 | 1 | null |
brentano
| 11,000,263 |
Meine Damen und Herren! Ich glaube, niemand in diesem Hause wird sich dem Eindruck versagen können, den die letzten Tage und Wochen auf jeden von uns gemacht haben. In diesen letzten Tagen und Wochen, nachdem das Grundgesetz in Kraft getreten war, ist das erste neugewählte deutsche Parlament zusammengetreten, um das Grundgesetz zu verwirklichen, um diesen Staat neu zu gestalten, um der Bundesrepublik Deutschland den ersten Ausdruck zu verleihen und um damit erstmalig wieder nach langen Jahren der erzwungenen politischen Abstinenz aktiv und handelnd in das deutsche Geschehen einzugreifen.
({0})
Ich glaube, es ist gut, wenn wir in einem solchen Augenblick auch die Vergangenheit einmal vor unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen; denn es mag eine Eigenart der Deutschen sein, daß sie wohl ein starkes Gefühl für ihre kulturelle Tradition haben, daß sie aber eine erstaunliche Scheu haben, sich auch zu einer politischen Tradition zu bekennen, vielleicht aus dem uneingestandenen Gefühl heraus, daß das deutsche Volk schon so häufig vor seiner eigenen Schicksalsentscheidung versagt hat. Aber es ist gut und richtig, wenn wir uns der Vergangenheit erinnern; denn ein Blick auf die Vergangenheit wird auch am ehesten mithelfen, uns vor Fehlern zu schützen, die in der Vergangenheit begangen wurden und die Deutschland nicht nur einmal, sondern wiederholt auf einen schlechten Weg geführt haben.
Wir sollten uns auch in diesem Zusammenhang erinnern, daß es hundert Jahre her sind, als Deutsche in dem ernsten Bestreben, ein neues deutsches, ein demokratisches Vaterland zu schaffen, zusammenkamen, und wir sollten uns auch des redlichen Bemühens erinnern, das die Deutschen im
Jahre 1919 zusammengeführt hat, um nach einem
schweren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch wieder eine eigene Ordnung zu schaffen.
Ich möchte hier gleich auf die Ausführungen meines Herrn Vorredners eingehen und ihm versichern: Die Bundesregierung, die gestern ihre Erklärung vor Ihnen abgegeben hat, hat nicht die Absicht zu restaurieren, und ich glaube, Sie sollten nach dieser Erklärung dieser Regierung eine solche Absicht auch nicht erst unterstellen.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist ein Wort gefallen: man müsse befürchten, diese Regierung sehe ihre Aufgabe darin, zu restaurieren und einen autoritären Besitzverteilungsstaat
({2})
oder Besitzverteidigungsstaat wiederherzustellen. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn wir am Anfang der politischen Auseinandersetzung bereits mit solchen Unterstellungen beginnen;
({3})
denn wer die Regierungserklärung aufmerksam verfolgt und nicht an der Ehrlichkeit gezweifelt hat - und dazu liegt wohl kein Anlaß vor -, wird daraus nicht entnommen haben, daß die Regierung unseres Bundeskanzlers Dr. Adenauer die Absicht habe, einen Besitzverteidigungsstaat zu schaffen.
({4})
- Ich werde auf den Frankfurter Kurs auch noch zu sprechen kommen.
({5})
Im Gegenteil: wenn ich mich an die Regierungserklärung von gestern erinnere, die nach den Feststellungen meines Vorredners 82 Minuten in Anspruch nahm, und mich seiner heutigen Ausführungen auch wieder erinnere, die über 90 Minuten dauerten, dann muß ich sagen: gestern glaube ich ein Programm gehört zu haben,
({6})
heute habe ich eine Kritik gehört, die am Schluß als Programm bezeichnet wurde.
({7})
Wenn Ihnen der Vorredner sagte, die Regierungserklärung habe manches ausgelassen und habe insbesondere nicht die Wege gezeigt, die die Regierung gehen wolle, dann kann ich nur feststellen: auch mein Vorredner hat manches ausgelassen, und auch ihm will ich den Zeitmangel zugutehalten. Aber die Wege, die er gehen will, hat auch er nicht gezeigt!
({8})
Meine Damen und Herren, ich sagte: es ist gut, einen Rückblick auf die jüngste Vergangenheit zu werfen, und auch ein Rückblick auf die Weimarer Republik scheint mir doppelt notwendig zu sein, weil wir damals in den entscheidenden Jahren erlebt haben, daß diejenigen, die die Aufgabe hatten, die deutsche Demokratie zu schützen und zu verteidigen, sich gegenseitig bekämpft und darüber hinaus geduldet haben, daß die Feinde der Demokratie sie besiegt haben. Das, meine Damen und Herren, darf und soll sich nicht wiederholen!
Mit Recht hat mein Vorredner erklärt, daß wir vor der besonderen Gefahr stehen, die auch ich für wesentlich halte, daß eine nationalrevolutionäre Bewegung, die in der existentiellen Not weiter Kreise unseres Volkes im Osten ihre Nahrung finden konnte, aber uns kommt. Wir werden sie nicht bannen können - auch das ist gestern schon gesagt worden - mit den Methoden einer Denazifizierung.
({9})
Dieses Unternehmen, Fragebogen auszuwerten, ist restlos mißlungen, und manchem einsichtigen Deutschen war das schon vorher klar. Es kommt mir so vor, als wollte man einer künftigen Gefahr begegnen, indem man das Pentagramm auf die Türschwelle zeichnet, vertrauend auf den guten Brauch der Teufel, daß sie immer die gleiche Tür benutzen. Wenn ich auch hoffen möchte, daß dieser Brauch inzwischen nicht geändert wurde, so glaube ich, daß man von der falschen Voraussetzung ausgeht, daß es der gleiche Ungeist wäre, der das Haus des Staates betreten könnte. Er mag in seiner Scheußlichkeit dem Vorhergehenden ähneln wie tin Ei dem andern, es ist aber nicht der gleiche. Deswegen sollten wir uns nicht in dieser Form der Polemik gegen die jüngste Vergangenheit ergehen - ich sage, in dieser Form der mißlungenen Denazifizierung -, sondern sollten dafür sorgen, daß die Voraussetzungen für einen neuen Einbruch in die Demokratie nicht mehr gegeben sind.
Da, meine Damen und Herren, habe ich auch etwas zu den Ausführungen meines Vorredners zu sagen, der, als er auf die Rolle der Opposition zu sprechen kam, erklärte, es habe sich über die Rolle der Opposition im Parlament eine reichlich naive Diskussion in der Presse angebahnt. Ich nehme an, daß der Vorredner damit die Darstellungen von den Aufgaben der Opposition meinte, wie sie allerdings in wiederholten, meiner Meinung nach durchaus nicht naiven Aufsätzen behandelt worden sind. Ich möchte sogar annehmen, daß mein Vorredner die Naivität dieser Auffassung nicht betont hätte, wenn er auf der Regierungsbank säße, sondern daß es ihm dann erwünscht wäre, wenn die Opposition diesen, wie er sagte, naiven Gedankengängen in etwa folgen wollte.
Ich persönlich bin der Meinung, daß die Opposition eine staatlich ebenso notwendige Aufgabe zu erfüllen hat wie die Regierung selbst und die Regierungsparteien. Aber ich bin auch der Überzeugung, daß eine Opposition, die nur in der Negation bestünde, diese Aufgabe nicht erfüllen würde und daß diejenigen, die die Opposition etwa um der Opposition oder, sagen wir besser, um der Propaganda willen betrieben, sich am Geiste der De({10})
mokratie und am Leben des deutschen Volkes versündigen würden.
({11})
Selbstverständlich verstehe ich, wenn der Herr Vorredner meinte, daß Wert und Unwert der Opposition nicht etwa von der Begutachtung durch Regierung oder Regierungsparteien abhängig sein sollen. Ich glaube auch nicht, daß jemand auf den kühnen Gedanken käme, eine solche Forderung aufzustellen.
Wie notwendig es ist, meine Damen und Herren
- um darüber noch einige Worte zu sagen -, daß wir in Deutschland die Aufgaben, die uns allen durch die Wahlen gestellt sind, erkennen und im Rahmen des Möglichen gemeinsam zu lösen versuchen, geht ja auch aus den Ausführungen des Herrn Dr. Schumacher hervor, der mit Recht - und hier unterstreiche ich jedes Wort - gesagt hat, daß insbesondere die außenpolitischen Aufgaben, die vor uns liegen, die Aufgabe, unser Verhältnis zum Ausland neu zu gestalten, nur von uns allen gemeinsam gelöst werden dürfen. Hier gibt es vielleicht Unterschiede über Weg, Methode, Zeitpunkt und Art des Handelns, es gibt aber sicherlich - auch nach den Ausführungen meines Vorredners - hier keine grundsätzlichen Unterschiede über das gemeinsame Ziel.
Auch eine weitere Frage läßt sich - auch darin stimme ich meinem Vorredner zu - nur lösen, wenn wirklich alle, denen die deutsche Einheit mehr ist als ein Begriff, zusammenarbeiten. Ich verstehe allerdings nicht - das muß ich sagen -, daß der Herr Vorredner für sich in Anspruch nimmt, die SPD allein sei es gewesen, die zuerst den Ruf nach der deutschen Einheit erhoben habe. Vielleicht mag es daran liegen, daß die Sozialdemokratische Partei die erste und vielleicht bisher die einzige war, die die beste und straffste Organisation hatte und deswegen am ersten für die gesamte deutsche Sozialdemokratie sprechen konnte. Ich nehme aber nicht an, meine Damen und Herren, daß den Herren von der Opposition die Rufe und Wünsche der anderen politischen Parteien nach der deutschen Einheit etwa entgangen sein sollten.
({12})
Dann haben sie - das muß ich wirklich sagen - vielleicht die falsche Presse gelesen.
({13})
Ich halte es auch für abwegig, meine Damen und Herren, wenn man jetzt den Versuch unternimmt, wenn wir die Frage der deutschen Einheit im Blick auf den Osten besprechen, hier politische Meinungsverschiedenheiten herausstellen. Ich glaube doch, daß die Äußerung des Herrn Dr. Schumacher von den „Nuschkoten" eine wenig gute Entgleisung war.
({14})
- Auch eine Antwort kann eine Entgleisung sein.
({15})
- Ich weiß nicht, wer sie provoziert hat.
({16})
Denn, meine Damen und Herren, wir wissen um die Problematik der Politik im Osten, aber Sie wissen auch, daß Herr Nuschke nicht der Vertreter der CDU ist.
({17})
- Er wurde nicht von Herrn Adenauer empfangen, sondern er hat sich zu Herrn Adenauer gesetzt.
({18})
- Sie können sich vielleicht mit Herrn Adenauer darüber unterhalten. - Sie wissen, daß Herr Nuschke nicht der Vertreter der CDU der Ostzone ist, sondern daß der Vertreter der CDU in der Ostzone Herr Jakob Kaiser ist, der hier sitzt,
({19})
der auch aus diesem Grunde das Ostministerium übernommen hat. Meine Damen und Herren, ich bedauere eine solche Bemerkung um so mehr, als sie mich doch zu der Feststellung zwingt, daß nicht die CDU der Ostzone unter Jakob Kaiser die deutsche Einheit gefährdet hat, wohl aber das schmerzliche Versagen der Sozialdemokratischen Partei der Ostzone.
({20})
- Lassen Sie mich ausreden.
({21})
- Damit mache ich nicht denen, die wir alle kennen, einen Vorwurf, nichts den zahllosen aufrechten Sozialdemokraten, die die Freiheit verteidigt haben,
({22})
aber Ihre Führerschicht hat elend versagt.
({23})
Lassen Sie, nachdem diese Äußerungen von mir nötig waren, nach der Bemerkung, die leider gefallen war, mich zu der Sache zurückkommen.
Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß es gut sei, sich der Vergangenheit zu erinnern, und ich wiederhole es jetzt, wenn wir vom deutschen Osten sprechen. Denn nur wenn wir uns dieser Vergangenheit Deutschlands erinnern, haben wir auch die innere Berechtigung, die deutsche Einheit zu verlangen. Zu jeder Zeit haben wir die Kontinuität des deutschen Staates betont. Wir sind hier, um einen neuen Staat zu organisieren, aber nicht um einen neuen Staat zu schaffen. Deswegen haben wir auch das Recht, indem wir uns auf das Grundgesetz berufen, in dessen Präambel wir es uns zur Aufgabe gestellt haben, die nationale Einheit Deutschlands zu wahren, von der Wiederherstellung dieser Einheit zu sprechen, wobei es kaum der Unterstreichung bedarf, daß auch wir uns eine deutsche Einheit nur vorstellen können, wenn in diesem Gesamtdeutschland die selbstverständlichen Voraussetzungen der Freiheit und der Gleichheit und die Respektierung der Würde des Menschen verbürgt sind. Deswegen haben wir auch, wie es gestern schon geschehen ist, heute und immer wieder Anlaß und Recht, über die Zonengrenzen hinaus an den Osten Deutschlands zu denken, dem heute unser Gedenken und unser Gruß gelten und dem morgen auch unsere Arbeit gelten soll.
({24})
Weil wir der Meinung waren, daß hier eine ganz besondere Aufgabe zu lösen ist, haben wir ja auch ein Ostministerium geschaffen, um mich auch mit diesem Einwand auseinanderzusetzen. Dieses Ostministerium ist nicht dazu da, um etwa völkerrechtliche Beziehungen zum Osten aufzunehmen, wie vorhin angedeutet wurde; es soll vielmehr auch im Bewußtsein der Deutschen in der Ostzone die Tatsache erscheinen, daß wir auch von der Regierung aus, von den Regierungsparteien aus und vom ganzen Haus aus die Einheit Deutschlands nicht nur wünschen, sondern auch im Rahmen des Möglichen
({25})
vorzubereiten entschlossen sind, daß wir bereit sind, nach der Ostzone hinzuhören, zu verfolgen, was dort geschieht, und auch alle diese, ich möchte sagen, psychologischen und tatsächlichen Vorbereitungen zu treffen, die getroffen sein müssen, wenn sich dieser Wunsch nach der Einheit verwirklicht. Denn wir können ja nicht etwa blind daran vorbeigehen, daß sich drüben in der Ostzone unter der Herrschaft der Sowjetunion soziologische, strukturelle, wirtschaftliche Veränderungen vollzogen haben, die im Falle der Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht etwa von heute auf morgen beseitigt oder revidiert werden können. So glaube ich doch, daß dieses Ostministerium eine echte deutsche, eine echte politische Aufgabe hat und daß wir unter keinen Umständen darauf verzichten durften, ein solches Ostministerium zu errichten, von dem ich glaube sagen zu können, daß es in der Person meines Freundes Jakob Kaiser den richtigen Leiter gefunden hat.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt, daß die Kritik in der Rede meines Vorredners, die er selbst als ein Programm bezeichnet hat, allzusehr von dem Mangel an Vertrauen bestimmt
({26})
Ich glaube, es ist ein Fehler der deutschen Politik schlechthin, aber ein besonderer Fehler der deutschen Nachkriegspolitik, daß wir uns daran gewöhnt haben, zunächst einmal mit Mißtrauen an den anderen heranzugehen und den anderen mindestens für nicht so ehrlich zu halten, als man selbst zu sein glaubt.
({27})
- Haben Sie von sich gesprochen?
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- Ich hoffe und wünsche für unsere politische Arbeit überhaupt, daß diese Schranken des parteipolitischen Mißtrauens, die letzten Endes im allgemeinen auf einem verrannten Doktrinarismus beruhen, einmal beseitigt werden.
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- Ich spreche zu dem gesamten Haus. - Meine Damen und Herren, haben Sie nicht alle den Eindruck, daß wir, selbst wenn wir es wollten, uns derartige Formen der politischen Auseinandersetzung gar nicht leisten können?
Vorhin ist von der Jugend gesprochen worden. Es ist gesagt worden, die Jugend verlange nur eines: die Anerkennung ihres gleichen Wertes. Gewiß, wir sind die letzten, die ihr das verweigern; im Gegenteil, ich hoffe, daß die Jugend viel anspruchsvoller ist, und die Jugend, die ich kenne, ist auch anspruchsvoller. Ich glaube sagen zu können: die Jugend verlangt mehr als das. Sie verlangt insbesondere eine Sauberkeit im politischen Leben. Sie rückt ab von den Methoden einer gehässigen politischen Auseinandersetzung.
({30})
In der Jugend steckt ein gesunder Wunsch und, wie ich betone, ein gesunder Kern. Ein Wunsch nach der Wiederherstellung einer echten Gemeinschaft; nicht im Sinne dieses mißbrauchten Begriffes der Volksgemeinschaft. Ich glaube, wir können die Jugend auch nur ansprechen und zur Mitarbeit gewinnen, wenn wir alles tun, um ihr den Weg in das politische Leben nicht durch solche Dinge zu versperren.
Meine Damen und Herren! Der Herr Vorredner hat sich im übrigen mit den Grundsätzen der Regierungserklärung auseinandergesetzt. Er hat, wie nicht anders zu erwarten war, zunächst einmal alles, was gesagt worden ist, als schlecht bezeichnet.
({31})
- Oder doch nahezu alles. - Ich glaube, daß diese Form der Auseinandersetzung nicht die richtige war. Wenn ich davon ausgehe, daß gesagt wurde, die Regierungserklärung sei in einem idyllischen Ton gehalten, dann kann ich nur sagen: ich glaube, daß viele einen anderen Eindruck hatten, daß viele sich dem Ernst der Regierungserklärung in keiner Weise verschlossen haben. Es ist nicht notwendig, daß eine Regierungserklärung etwa mit einem besonderen Pathos vorgetragen wird, um eindringlich zu wirken. Wer aber aus den Worten unseres Kanzlers nicht die ehrliche Sorge um die Zukunft Deutschlands herausgehört und nur den idyllischen Klang vernommen hat, der, glaube ich, hat schlecht gehört.
({32})
- Mein Organ? - Ich glaube, das gehört zur überparteilichen Presse, Herr Zinn.
Es war nicht anders zu erwarten, als daß der Hauptangriff der Opposition der Wirtschaftspolitik gelten würde. Ud es ist mit unmißverständlicher Deutlichkeit schon in der Regierungserklärung zum Ausdruck gekommen, daß wir entschlossen sind, den Kurs der Frankfurter Wirtschaftspolitik aufrechtzuerhalten. Ich glaube, daß sich die Opposition zunächst einmal mit dieser Tatsache abfinden sollte.
({33})
Zunächst einmal: wir sind nicht der Meinung, daß die Argumente, die Herr Dr. Schumacher vorgetragen hat, geeignet sind, uns von diesem Kurs zu entfernen.
({34})
Wir sind nicht der Meinung, daß die geplante Wirtschaft, von der Sie sprachen, besser geeignet sei, uns aus der wirtschaftlichen Notlage, in der wir sind, zu befreien. Wenn Sie in diesem Zusammenhang davon sprachen, daß die Volksmasse nicht als Objekt behandelt werden dürfe, dann antworte ich: gerade weil wir das Volk und den einzelnen aus der unwürdigen Position, ein Objekt der Behandlung zu sein, herausnehmen und zum Subjekt des Handelns machen wollen, vertreten wir den Grundsatz der Freiheit des Menschen auch in der Wirtschaft.
({35})
Wir glauben auch, daß wir unserm deutschen Volk besser dienen, wenn wir diesen Grundsatz der Freiheit der Wirtschaft
({36})
- es kommt alles noch -, wenn wir diesen Grundsatz aufrechterhalten, weil wir auch glauben, daß in der freien Wirtschaft gerade auch der einzelne, von dem Sie sprachen, besser bedient wird, als wenn er dem diskretionären Ermessen irgendeiner Behörde unterworfen ist.
({37})
Meine Damen und Herren! Es ist in diesem Zusammenhang dann kritisiert worden, daß in der Regierungserklärung besonders betont worden sei, daß eine Steuersenkung erfolgen müsse, und daß man nicht betont habe, daß eine Produktionserhöhung Voraussetzung einer Kostensenkung und da({38})
mit einer allgemeinen Bedarfsdeckung sei. Ich glaube, beides ist mißverstanden. Es ist betont worden, daß wir eine Steuerreform und eine Steuersenkung brauchen, um wieder zur Bildung von Sparkapital und von Investitionskapital zu kommen. Das ist ja auch von dem Herrn Vorredner grundsätzlich anerkannt worden. Es ist aber nicht so, daß wir etwa glauben, eine Steuersenkung durchführen zu können, die die Einnahmen verringert, so daß wir den sozialen Aufgaben nicht mehr gewachsen wären. Glauben Sie doch, meine Damen und Herren, daß die Regierungspolitik bestimmt nicht so kurzsichtig sein wird, und glauben Sie, daß die Regierung und die Regierungsparteien es gerade mit den sozialpolitischen Aufgaben bitter ernst meinen.
({39})
- Ich glaube, daß in Frankfurt, soweit ich unterrichtet bin, außer dem Sozialanpassungsgesetz, das ja wohl keine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Versicherten gebracht hat, irgendwelche Maßnahmen zum Nachteil der Sozialversicherten nicht beschlossen worden sind; ich lasse mich aber gern belehren.
Mein Herr Vorredner meinte, daß es in der Regierungserklärung in diesem Zusammenhang unterlassen worden sei, den arbeitenden Menschen, den Arbeitnehmer, anzusprechen. Ich stelle fest, daß diese Unterlassung nicht vorliegt, sondern daß die Regierungserklärung ausdrücklich davon spricht, daß die sozialen und wirtschaftlichen Interessen in freier Selbstverwaltung den Verbänden überlassen sind und eine weitere Verständigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstrebt werden muß.
({40})
- Verzeihung! Es ist weiter gesagt worden, daß im Zusammenhang mit der Sozialisierung die sozial- und gesellschaftspolitische Anerkennung der Arbeitnehmerschaft eine Neuordnung der Besitzverhältnisse in den Grundindustrien notwendig mache. Aus dieser Erklärung glaubte Herr Dr. Schumacher schließen zu können, daß die Regierung etwa bestrebt sei, Besitzverhältnisse früherer Besitzer wiederherzustellen.
({41})
- Ich glaube, daß, wer das liest, es gar nicht mißverstehen kann, wenn er es nicht mißverstehen will.
({42})
Meine Damen und Herren! Wer unsere Wünsche und Auffassungen kennenzulernen wünscht, die ja, wie gesagt, in einer 82minutigen Regierungserklärung nicht erschöpfend enthalten sein können, der soll das Ahlener Programm und die Düsseldorfer Leitsätze nachlesen.
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- Ich glaube nicht, daß Sie dadurch, meine Damen und Herren, daß Sie jede Äußerung, die Ihnen nicht paßt, in ihrem Wahrheitsgehalt in Zweifel ziehen, der Auseinandersetzung dienen und die Auseinandersetzung fördern. Nehmen Sie denn ernstlich für sich das Monopol in Anspruch, sozial zu denken?
({44})
Nehmen Sie ernstlich für sich das Monopol in Anspruch, die soziale Ordnung Deutschlands allein richtig herstellen zu können?
({45})
Glauben Sie nicht, daß wir uns mindestens ebenso sozial verpflichtet fühlen? Und nicht etwa, wie gesagt wurde, indem wir darüber sprechen, sondern indem wir dazu handeln werden!
({46})
- Einen Unterschied gibt es gottlob, sonst wären Sie nicht in der Opposition.
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Member of Parliament
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1949-09-21
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70 | 6 | 1 | null |
köhler
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Das Wort haben nicht die Mitglieder des Hauses, das Wort hat der Herr Abgeordnete von Brentano!
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
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brentano
| 11,000,263 |
Es wurde auch vermißt, daß die Regierungserklärung die Gewerkschaften angesprochen habe. Ja, meine Damen und Herren, müssen wir noch die Gewerkschaften ansprechen, wenn zwei Gewerkschaftsvertreter in der Regierung sitzen?
({0})
Haben Sie nicht daraus allein die Überzeugung gewonnen, daß wir den Wunsch haben, nicht gegen, sondern mit den Gewerkschaften zu arbeiten?
({1})
Und glauben Sie, den Gewerkschaften einen besonders guten Dienst zu erweisen, indem Sie sich immer zum Sprecher der Gewerkschaften machen, die ja nicht nur aus Mitgliedern Ihrer Partei bestehen?
({2})
Sie entwerten den Wert der Gewerkschaften
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und Sie setzen sie im Bewußtsein der Öffentlichkeit herab, wenn Sie glauben, die Gewerkschaften zum verlängerten Arm Ihrer Parteipolitik machen zu können.
({4})
Ich glaube Ihnen auch sagen zu können: wenn Sie das weiterhin versuchen, die Gewerkschaften werden Ihnen nicht folgen.
({5})
- Jawohl, das werde ich den Gewerkschaften überlassen.
Meine Damen und Herren! Es ist in diesem Zusammenhang von dem Herrn Vorredner mit Recht und mit Nachdruck darauf hingewiesen worden, daß die wirtschaftliche Gestaltung der neuen Bundesrepublik und damit die Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben durch die jüngsten Ereignisse und nicht zuletzt durch die Währungsumwertung, durch die Abwertung des englischen Pfundes erheblich gefährdet werde. Auch darin glaube ich mit dem Herrn Vorredner absolut übereinstimmen zu können, daß eine Veränderung, eine Umwertung der
({6})
Parität der D-Mark, die einen internationalen valutarischen Kurs noch nicht besitzt, Auswirkungen auf das gesamte Preisgefüge haben wird und muß. Ich glaube Ihnen versichern zu können, daß auch die Bundesregierung diese Erkenntnis gewonnen und sich mit diesem Problem bereits beschäftigt hat.
Es ist dann hier gesagt worden - und dem glaube ich zunächst auch zustimmen zu können -, daß sicherlich diese Verwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Währungspolitik nicht zuletzt auf die ökonomischen und strukturellen Veränderungen zurückzuführen sind, denen Europa in den letzten 15 oder 20 Jahren unterzogen war, den Jahren, die allgemein einer Aufrüstung für den Krieg dienten und zum Teil dienen mußten und die dazu geführt haben, daß nicht nur europäische, sondern auch außereuropäische Länder sich zu einer zunehmenden Autarkie entwickelten und damit Absatzmärkte verlorengingen. Um so notwendiger ist es - auch darin stimme ich dem Vorredner bei -, daß wir den europäischen Gedanken, so wie im Grundgesetz bereits zum Ausdruck gebracht, mit allen Mitteln zu fördern versuchen. Dabei unterstreiche ich auch hier das Wort des Vorredners, daß das Endziel heißen muß: Europa ist Gleichberechtigung.
Ich glaube aber, wenn wir über die Wirtschaftspolitik, die wir zu betreiben gesonnen sind, und über die Abwertung sprechen, sollten wir doch gerade nicht ganz an der Tatsache vorübergehen - und Herr Dr. Schumacher selber hat Respekt vor den Tatsachen verlangt -, daß diese Abwertung des englischen Pfundes sicherlich auch durch die wirtschaftlichen Experimente der dortigen Regierung veranlaßt ist.
({7})
- Auch dadurch, Herr Kollege Heiland. Unzweifelhaft hat England auch unter den Folgen eines verlorenen Krieges zu leiden.
({8})
- Man kann schon beinahe sagen: eines verlorenen Krieges. Aber wir wollen uns, der Tatsache wirklich nicht verschließen, daß die Wirtschaftspolitik Englands ein gerüttelt Maß von Schuld an den heutigen schwierigen wirtschaftlichen Zuständen trägt.
({9})
Deswegen sind wir ja auch nicht gewillt, gleiche Experimente in Deutschland mit gleichem Enderfolg durchzuführen.
({10})
Es ist im übrigen - auch darauf möchte ich eingehen - in Zusammenhang mit der Frage der Sparsamkeit und der Notwendigkeit, soziale Aufgaben zu bewältigen, auch die Frage angeschnitten worden, ob das Kabinett nicht zu stark besetzt sei. In diesem Zusammenhang fiel auch die Bemerkung,
({11})
daß man sogar unter Umständen aus denjenigen, die nicht Minister geworden seien, eine Fraktion zusammenstellen könne. Ich weiß nicht, ob Herr Dr. Schumacher dabei an seine Fraktionskollegen gedacht hat,
({12})
die am 14. August bestimmt noch die Absicht hatten, hier oben zu sitzen.
({13})
Zur Notwendigkeit des Ostministeriums habe ich mich schon geäußert. Das ERP-Ministerium, dessen Notwendigkeit von uns und von der Regierung anerkannt wird,
({14})
hat besondere Aufgaben, die eben nicht im Wirtschaftsministerium zu lösen sind und auch nicht dort gelöst werden sollen. Und wenn wir ein Ministerium eingerichtet haben, das die enge Verbindung zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat herstellen soll, so soll damit, wie es auch gestern in der Regierungserklärung hieß, der ernste Wille zum Ausdruck kommen, daß die Bundesregierung alles tun will und tun wird, um den föderativen Gedanken des Grundgesetzes zu verwirklichen.
({15})
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß diese Notwendigkeit heute größer ist denn je. Denn der Tatsache können wir uns ja nicht entziehen, daß das westliche Deutschland sich in den letzten Jahren in elf Ländern entwickelt hat, die je nach der Art der Besatzung und je nach der Art der politischen Strukturierung eine sehr verschiedenartige Entwicklung gehabt haben. Es wird des Schweißes vieler Edler bedürfen, um diese Mannigfaltigkeit wieder zu einer Gemeinsamkeit zu gestalten. Es wird auch des guten Willens sowohl des Bundes wie der Länder bedürfen. Es ist nicht so, daß daran etwa übertriebene und überföderalistische Erwägungen schuld sind, die Sie, Herr Dr. Schumacher, glaube ich, zu Unrecht befürchten.
({16})
- Damit würden Sie Sinn und Buchstaben des Grundgesetzes allerdings verletzen. - Ich glaube nicht, daß Sie derartige hyperföderative Gedankengänge zu fürchten haben. Denn das Grundgesetz, das ja auch mit den Stimmen Ihrer Partei Annahme gefunden hat, hat hier klare Abgrenzungen gegeben, die wir allerdings auch einzuhalten beabsichtigen, weil wir das Grundgesetz zu verwirklichen gedenken. Es bedarf auch nicht Ihrer Sorge, daß etwa im Wege der Personalpolitik Sinn und Buchstaben des Grundgesetzes verletzt werden könnten.
({17})
Die Regierungserklärung hat sich gestern zu dem Grundsatz des Berufsbeamtentums bekannt. Wir bekennen uns auch in den Regierungsparteien zu diesem Grundsatz. Selbstverständlich wissen wir, daß das Berufsbeamtentum nicht etwa in der Form wiedererstehen muß, in der es bestand. Das Berufsbeamtentum soll nicht etwa das werden, was es vielleicht einmal gewesen sein mag, der Auswuchs oder der Ausfluß eines Berechtigungswesens.
({18})
Wir wollen schon neue Grundlagen schaffen. Aber wir brauchen, gerade wenn wir die Personalpolitik der letzten Jahre verfolgen, heute nötiger denn je die Wiederherstellung eines echten, verantwortungsbewußten Berufsbeamtentums, von dem ich
({19})
allerdings auch ein klares Bekenntnis zum Staat verlange.
({20}) - Ein klares.
({21})
Und machen Sie sich keine Sorgen, daß etwa hier Stellenvermittlungsbüros aufgezogen würden. Es läge nahe zu antworten, daß ich nach eigenen Erfahrungen kaum ein besseres Stellenvermittlungsbüro kenne als die Sozialdemokratische Partei.
({22})
Es ist noch dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen worden - ich muß der Reihenfolge nach vorgehen, damit nicht nachher etwa der Eindruck entsteht, ich hätte absichtlich einen Punkt übergangen -, er habe sich nicht mit dem nötigen Nachdruck auch der Kriegsopfer angenommen. Ich glaube, Sie haben den Passus übersehen, in dem es heißt: „Die Schaffung einer einheitlichen Versorgungsgesetzgebung für das gesamte Bundesgebiet ist nötig." Das entspricht genau dem von Ihnen vorgetragenen Wunsch, und ich bin glücklich, mich in diesem Punkt mit Ihnen einig zu wissen.
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- Materiell in einer Regierungserklärung etwas zu sagen, würde ja bedeuten, daß der Herr Kanzler bereits sämtliche Gesetzentwürfe der nächsten Jahre auf den Tisch des Hauses hätte legen müssen, und Sie werden ihm nicht zumuten können, daß er innerhalb weniger Stunden nach Kabinettsbildung bereits so weit vorgeschritten ist. Stellen Sie keine Ansprüche und Forderungen, von denen. Sie selbst wissen, daß sie nicht verwirklicht werden konnten!
Es ist weiter gesagt worden, die Regierungserklärung, die sich über andere wesentliche Punkte noch ausschweige, habe sich auch zu wenig mit der Tragik der im Dritten Reich Verfolgten und Geschädigten und mit der tragischen Lage der deutschen und der deportierten Juden beschäftigt. Meine Damen und Herren, gerade zu dem Problem des Antisemitismus hat der Bundeskanzler ernste Worte gefunden, und daß er zu dem Problem der politisch Verfolgten nicht noch ausdrücklich sprechen mußte, das dürfte daraus hervorgehen, daß solche politisch Verfolgte in seinem Kabinett sitzen.
({24})
- Sie haben es ja gehört! - Daraus dürfen Sie wohl entnehmen, daß der Bundesregierung das tragische Schicksal der politisch Verfolgten hinreichend bekannt ist.
Es ist weiter gesagt worden, der Herr Bundeskanzler habe nicht über seine Kulturpolitik gesprochen. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß er das sehr bewußt unterlassen hat, weil er sich vorher mit dem Inhalt des Grundgesetzes eingehend beschäftigt hat.
({25})
Danach ist nämlich die Kulturpolitik Sache der Länder.
({26})
- Wir haben im Wahlkampf das gleiche gesagt,
Herr Dr. Schumacher! - Es war nicht Aufgabe der
Bundesregierung, sich mit Aufgaben zu beschäftigen, die in der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder liegen.
({27})
ich betone: in der ausschließlichen Zuständigkeit, um jede falsche Vorstellung zu verwischen.
({28})
Im übrigen hat sich der Herr Vorredner mit der Frage der Außenpolitik beschäftigt. Ich habe darauf schon einiges erwidert und habe festgestellt, daß wir in diesen Fragen nach meiner Auffassung eine vollkommene Übereinstimmung unserer Grundhaltung feststellen und wohl auch zu einer völligen Übereinstimmung der Wege kommen können, die wir zu gehen entschlossen sind. Ich würde nichts mehr bedauern, als wenn auch die Frage der Außenpolitik durch die parteipolitische Auseinandersetzung getrübt und ihre klare, sachliche Behandlung erschwert werden würde. Es gibt Fragen - das steht außer Zweifel -, bei deren Beantwortung alle Teile des deutschen Volkes mitwirken müssen. Wir können die Frage der Außenpolitik ebensowenig wie die der deutschen Einheit und das Problem der Vertriebenen und Heimatlosen nicht gegeneinander, sondern nur miteinander lösen.
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ich glaube, daß wir hier die Pflicht haben, alles Trennende beiseite zu stellen und nicht dadurch, daß wir uns bekämpfen, mögliche Lösungen, die im Interesse des gesamtdeutschen Volkes liegen, zu verhindern.
Meine Damen und Herren! Ich habe eingangs gesagt: Es war nicht Aufgabe und konnte nicht Aufgabe der Regierungserklärung sein, sich in inem Abriß mit allen Problemen zu beschäftigen, lie überhaupt dem deutschen Volk gestellt sind. Dazu hätten Tage nicht gereicht; denn wir wissen alle so unzählige Probleme, wie wir sie zu lösen laben werden, sind noch kaum einer Generation gestellt worden.
({30})
Das ist die unvermeidbare Folge dieses verhängnisvollen Regimes, das hinter uns liegt und das dazu geführt hat, daß Deutschland ja nicht nur einen militärischen Zusammenbruch erlebt hat, sondern daß im Jahre 1945 die materiellen, die politischen, die wirtschaftlichen und die ethischen Werte Deutschlands zerschlagen und zerstört wurden und daß es lange Zeit dauern wird, bis wir diese Werte wieder schaffen können. Und es wird großer Sorgfalt bedürfen, um auch gegenüber dem Ausland wieder das Vertrauen zu erwecken und dem Ausland zu beweisen, daß die Grimasse, die das deutsche Volk in den Jahren von 1933 bis 1945 zeigte, nicht das wahre Gesicht des deutschen Volkes war, daß die echten, die sittlichen, die starken Kräfte des deutschen Volkes nicht versiegt, sondern nur verschüttet waren. Die letzten vier Jahre dürften allerdings auch schon manchen Zweifler überzeugt haben. Denn das, was das deutsche Volk - an der Spitze der Arbeitnehmer, an der spitze die Massen der Arbeiter im Ruhrgebiet und sonstwo - in diesen Jahren getan hat, um sich wieder langsam in die Höhe zu schaffen, das ist, meine Damen und Herren, wie ich glaube sagen
können, beispiellos, und diese Haltung verdient Anerkennung, die nicht nur vom Ausland, sondern
({31})
auch von jedem von uns aus vollem Herzen gezollt werden muß.
({32})
Ich glaube nicht, daß alle Arbeitnehmer so primitiv denken, wie dieser Zwischenruf zum Ausdruck bringt.
({33})
Die Feststellung, die ich eben traf, wird Ihnen zeigen - ich wiederhole es -, daß uns die Lösung der sozialen Frage im Wege der Zusammenarbeit wirklich am Herzen liegt, daß sie auch für uns das ist, was der Bundeskanzler sagte: der Leitstern unserer Arbeit. - Auch wenn wir in der Methode verschiedener Meinung sind! Wir sind nun einmal der Auffassung, daß der dialektische Marxismus staatsbiologisch gesehen -, ich möchte sagen: eine Sturm- und Drangperiode in der evolutionären Entwicklung unseres Volkes war. Wir sind der Meinung, daß der Klassenkampf, den man künstlich zu beleben versucht,
({34})
nicht das Mittel ist, um soziale Gegensätze zu bereinigen.
({35})
Es liegt im Wesen des Kampfes, daß er destruktiv ist. daß er niemals zu einer konstruktiven Lösung führen kann.
({36})
Wir wollen andere Wege gehen. Wir wollen den Weg gehen von dem ich sprach indem wir in Achtung des Grundgesetzes die Freiheit und die Würde des Menschen herstellen, indem wir den Menschen zum Mittelpunkt des staatlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens machen.
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Meine Damen und Herren wenn wir die Auffassung vertreten daß die Substenz christlichen Denkens uns auf diesem Wege unterstützen wird. haben wir wie ich glaube nicht unrecht. Ich möchte sogar annehmen, daß mein Vorredner das Wort eines so ernsten und sittlich lauteren Mannes wie erstanden
hat. Wenn Mehatma Gandhi sagte: ,,Dem Armen erscheint Gott im Brot", dann hat er es nicht in dem Sinn gemeint den ich Ihren Ausführungen entnehmen zu müssen glaube,
({38})
im Sinn einer doch etwas primitiven Materialisierung und Vereinfachung.
({39})
Meine Damen und Herren. ich habe versucht, die Regierungserklärung noch vom Standpunkt meiner Partei aus zu erläutern, und ich habe versucht, mich mit den Auffassungen der größten Oppositionspartei auseinanderzusetzen.
({40})
Ich habe Ihnen gesagt: es ist unser ernster Wille, diese Regierungserklärung nicht dem Wortlaut. sondern auch dem Sinn nach zu erfüllen, und niemand von uns glaubt, daß wir, nachdem wir die
Verantwortung übernommen haben, deswegen herrschen könnten, sondern wir sind alle davon durchdrungen, daß diejenigen, die die Verantwortung tragen, erst recht dem gesamten Volk zum Dienen verpflichtet sind. Wir glauben, daß wir mit dem Weg, den die Regierungserklärung zeigt, den einzigen Weg gehen, der unser deutsches Volk wieder in eine bessere Zukunft führen kann. Glauben Sie nicht, meine Damen und Herren, wenn wir von der Freiheit der Wirtschaft sprechen, daß wir die Freiheit schlechthin meinen. Freiheit schlechthin ist Anarchie.
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Auch wir wissen, daß die Freiheit nur dann Anerkennung verdient, wenn sie im Substrat verwirklicht wird, wenn derjenige, der sich auf die Freiheit beruft, sich der Grenzen der Freiheit bewußt ist,
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die in der Bindung gegenüber der Gemeinschaft liegen.
({43})
Und auch das, meine Damen und Herren, gehört zu dem Wirtschafts- und Sozialprogramm, und ich glaube, darüber hat der Wirtschaftsminister schon einiges gesagt und wird Ihnen noch einiges sagen. Wir wissen alle, daß die Wirtschaftsepoche, die hinter uns liegt, nicht nur etwa den Konsumenten geschädigt, sondern auch den Produzenten verdorben hat, und daß es unendlich viele Produzenten gibt, die sich sogar unter dem staatlich gelenkten Protektionismus, der Zwangswirtschaft, den garantierten Kontingenten und allem, was dazu gehörte, viel wohler fühlten.
({44})
Aber auch diesen, meine Damen und Herren, haben wir den Weg in eine wirtschaftliche Freiheit
gezeigt, auch wenn sie ihn ungern gehen wollen.
({45})
- Glauben Sie es nicht! Es gibt viele, die sich heute zu diesen Möglichkeiten zurücksehnen, wo die eigene Verantwortung so gering und die Fürsorge des nicht immer ganz unbestechlichen Apparats so groß war.
({46})
Wir gehen diesen Weg, meine Damen und Herren, im Sinne der von uns geschaffenen, von uns anerkannten und von der Bundesregierung beschworenen Verfassung im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen.
({47})
| 4 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-21
|
72 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schäfer.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-21
|
73 | 6 | 1 | null |
schäfer
| 11,001,933 |
Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat gestern seine Darlegungen mit dem Hinweis auf die historische Bedeutung des Augenblicks, auf die Tragweite dieser Tage begonnen, in denen ein neuer deutscher Staat zu leben beginnt. Das bedeutet ein besonderes Maß an Verantwortung und Verpflichtung. Das bedeutet aber auch, daß man dabei von vornherein sich der Bedingungen und Bedingtheiten bewußt ist, unter denen dieses staatliche Leben nun zu wirken vermag. Das ist nicht zu ermessen unter vereinfachenden Begriffen. Das, was hier werden soll, ist nicht mit Restauration oder Revolution oder ähnlichen Worten zu kennzeichnen, sondern wir
({0})
müssen unter ganz bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen aus dem, was im Grundgesetz an staatlicher Form vorgezeichnet ist, nun staatlichen Inhalt schaffen.
Wir sollen eine Demokratie machen. Demokratie besteht nicht aus formalen Bestimmungen allein, besteht auch nicht aus Instrumenten äußerer Gewalt, sondern ihre innere Festigkeit und ihre innere Kraft bekommt sie in erster Linie durch die Konvention, durch Brauchtum, durch Anerkennung wechselseitig verbindlicher Regeln für den politischen Verkehr und die politische Auseinandersetzung. Das bedeutet allerdings auch, daß man den positiven Gehalt der politischen Auseinandersetzungen, auch des Meinungsstreits, erkennt. Hier gilt für die Politik, was auch für das persönliche Leben gilt. In der Zwiesprache, in dem Wechselspiel von Äußerung und Gegenäußerung wächst die menschliche Erkenntnis. Da steigern sich die Möglichkeiten, die eigenen Einsichten immer wieder zu prüfen, zu vertiefen und zu verfeinern. Das ist auch die Aufgabe der politischen Auseinandersetzungen, die wir hier zu führen haben. Wir haben mit ihnen dazu beizutragen, daß dieser werdende Staat festes Gefüge gewinnt, indem er erlebnismäßig im Volksbewußtsein verwurzelt wird.
Dieses Sichtbarmachen einer Staatswirklichkeit, meine Damen und Herren, erfordert allerdings, daß wir uns die Auseinandersetzung nicht zu bequem machen. Es ist hier von den beiden Vorrednern sehr viel von den Funktionen der Opposition gesprochen worden. Ich will diese Funktionen nicht geringschätzen. Ich habe ja eben schon ihren Wert angedeutet, als ich vom Sinn der Zwiesprache und l ihrer Fähigkeit, Einsichten zu steigern und zu vertiefen, gesprochen habe. Darüber hinaus aber möchte ich doch einen Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Opposition machen, nämlich zwischen der einen, die getragen ist von dem Willen, den Staat an sich und das Wechselspiel der Demokratie zu bejahen und funktionsfähig zu erhalten, und der anderen grundsätzlich staatsverneinenden Opposition. Diese hat nichts gemein mit einer Opposition, die bemüht ist, an der Entwicklung des staatlichen Lebens konstruktiv Anteil zu nehmen.
({1})
Der Herr Kollege Dr. Schumacher hat als die Aufgabe der Opposition und seiner Fraktion den Versuch bezeichnet, der Regierung und den Koalitionsparteien durch ständige Beobachtung, auch durch kritische Mitwirkung allmählich ihren Willen aufzuzwingen. Dieser Versuch nun, meine Damen und Herren, kann gemacht werden und sollte gemacht werden. Niemand von uns wird gegen diesen Versuch etwas einzuwenden haben. Ich weiß nur nicht oh die Ausführungen die wir vorhin gehört haben. gerade dazu beigetragen haben, die Überzeugung in uns zu stärken, daß wir bei diesem Versuch schon auf dem richtigen Weg sind.
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Denn, was ich in diesen Ausführungen gehört habe, blieben mehr oder weniger negative Anmerkungen, aber nicht die Versuche, nun wirklich zu überzeugen, wirklich denen, die glauben, jetzt die Regierung tragen zu müssen, klarzumachen, daß sie andere Wege einschlagen müssen oder daß echte Gründe gegeben sind, von den Absichten, die gestern durch den Herrn Bundeskanzler ausgesprochen worden sind, abzuweichen.
Meine Damen und Herren! Wir müssen von einer Tatsache ausgehen: diese neue deutsche Demokratie steht insofern unter einem ungünstigen Vorzeichen, als sie nicht das Ergebnis einer Staatsumwälzung ist, die aus den inneren Kräften des Volkes durchgebrochen ist. Dieser neue Staat kommt zustande im Gefolge einer militärischen Auseinandersetzung und eines militärischen Zusammenbruchs, der die Grundlagen und die Grundordnung des gesamten staatlichen Lebens der Vergangenheit zerstört und zerrüttet hat. So steht - anders als in Weimar - die Regierung jetzt vor der Tatsache, daß sie von Grund auf überhaupt den ganzen politischen Apparat, das gesamte Gebiet der Administration völlig neu aufzubauen hat. Gewiß sind einige Ansätze und Vorstufen vorhanden. Zuerst wurden die Gemeinden notdürftig rekonstruiert, dann wuchsen darüber die Länder, und nun entsteht über ihnen diese Bundesrepublik. Aber noch ist dieser ganze Staat nicht voll funktionsfähig.
Meine Damen und Herren, das erste, was man eigentlich daraus folgern sollte, wäre wohl, daß man dieser Regierung einige Wochen Zeit lassen sollte, damit sie nun praktisch anfangen kann, an die politische Arbeit heranzugehen und zunächst einmal sich das organisatorische Instrument zu schaffen, mit dem man überhaupt in Deutschland Politik machen kann. Ich glaube, daß diese Arbeit und diese Tätigkeit dem deutschen Volk viel mehr wert ist als soviele theoretische Bemühungen, ob diese oder jene Entschlüsse so oder so mißdeutet werden können. Dabei wird diese Regierung, eben wegen der ungewöhnlichen Bedingtheiten der politischen Verhältnisse, unter denen der Staat entsteht, wesentliche Auseinandersetzungen zu führen haben. Sie hat alle die Realitäten, die sich um das Besatzungs- und das Ruhrstatut gruppieren, in ihre Betrachtungen hineinzunehmen.
Meine Damen und Herren, nur einen Hinweis möchte ich in diesem Zusammenhange machen. Entscheidend ist der Geist der Handhabung dieser sogenannten Statuten. Daher liegt mir sehr daran, noch einmal mit besonderem Nachdruck auf das Begleitschreiben zu verweisen, das seinerzeit der Parlamentarische Rat erhalten hat, als ihm der Entwurf des Besatzungsstatuts zur Kenntnis gebracht wurde. Damals sind Richtlinien für die Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten und der werdenden Bundesrepublik ausgesprochen worden, deren Verwirklichung allein überhaupt die Möglichkeit geben kann, daß unsere Bemühungen um einen neuen, um einen echten, lebendigen, im Volksbewußtsein verwurzelten Staat Erfolg haben.
Dabei werden wir bei allen unseren ökonomischen und sozialpolitischen Erwägungen immer wieder auch von der Tatsache auszugehen haben, daß wir dies politische Gebilde, das wir hier innerhalb der drei westlichen Besatzungszonen als Staatswesen beginnen, dieses Teilstück eines Gesamtdeutschlands nur lebensfähig erhalten und seine Entwicklungsmöglichkeiten nur dann sicherstellen können, wenn diese in den größeren Zusammenhang einer europäischen Föderation einmünden. Hier werden besondere Aufgaben einer Politik des Kabinetts vorliegen; sie sind wesentlicher als irgendwelche innerpolitischen Auseinandersetzungen. Ich glaube, hier darf es einen Zwie({3})
spalt zwischen einer staatsbejahenden Opposition und den Regierungsparteien überhaupt nicht geben.
Wir haben nämlich mehr zu erreichen. Wir stehen doch vor einer ungeheuer tragischen Lage unserer Geschichte. Das größte Unheil der Erbschaft, die uns die fürchterlichen Jahre der Despotie hinterlassen haben, liegt darin: Es ist verkannt worden, was schon in den Dreißiger Jahren in seinen Entwicklungsansätzen durchaus sichtbar war, daß sich im Westen und im Osten zwei große neue Gravitationszentren von epochebestimmender Kraft und Gewalt gebildet haben. Wir sind gegenwärtig, meine Damen und Herren - und das ist das Schlimmste, was die rasenden Machtstreber hinterlassen haben -, das Land, durch dessen Volksgebiet der Graben zwischen zwei Welten gezogen ist. Den Folgen einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken und die deutsche Einheit zurückzugewinnen, setzt ein hohes Maß politischer Konzentration, setzt eine Anstrengung voraus, diesen Staat, den wir hier beginnen, zu einem echten Kristallisationskern neuer deutscher Einheit zu machen. Sie läßt nach meiner Meinung die Dinge, die heute überwiegend zur Sprache gekommen sind, als Geringfügigkeit und Nebensächlichkeit erscheinen.
({4})
In diesem Zusammenhang möchte ich in Erwägung dessen, was dazu seitens des Herrn Bundeskanzlers erklärt worden ist, noch besonders zum Ausdruck bringen, daß für uns die Notwendigkeit besteht, zu einer baldigen Friedensordnung zu gelangen, daß auf der anderen Seite aber auch die Herstellung einer Friedensordnung für dieses zentraleuropäische Gebiet die Voraussetzung bildet, um überhaupt den Weltfrieden herstellen, sichern und erhalten zu können.
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Man wird sich dazu entschließen müssen, für die Beziehungen der Menschen und Völker wieder die Vorstellung lebendig zu machen, daß diese Erde eigentlich Raum für alle hat und daß nur dann ein Frieden Wirklichkeit wird, wenn die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den Völkern eine echte gesellschaftliche Grundlage haben. Das geschieht aber nur dann, wenn zwischen den Menschen jenseits und diesseits der Grenzen, hüben und drüben, echte, geistige, wirtschaftliche und auch persönliche Zusammenhänge wirksam werden. So kann ich gar nicht anders, als in diesem Augenblick, da wir diesen Staat beginnen und uns zu den besonderen Notwendigkeiten dieses Staates bekennen, wieder sagen, daß für uns, für diesen Staat, aber auch für das Gedeihen und für die Herstellung des Friedens in aller Welt die entscheidende Voraussetzung ist, daß wir wieder zu einer weitgehenden, ja vollständigen Freizügigkeit und freien Beweglichkeit für Menschen, für Güter und für Gedanken gelangen.
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Ich habe schon vorhin gesagt, daß das Kabinett bei der staatlichen Neuordnung vor schwierigeren Aufgaben stehen wird als etwa die Regierung nach der Verabschiedung der Verfassung in Weimar. Wir müssen dem Kabinett eine gewisse Anlaufzeit lassen. Wir können nicht ungeduldig nur Forderungen stellen und Anträge einreichen. Es ist wichtiger, zunächst einmal die Staatseinrichtungen zu ordnen.
Dabei müssen einige Überlegungen in den Vordergrund gerückt werden. Meine Damen und Herren, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat in allen Ländern zu einer Hypertrophie der Staatsfunktionen geführt. Der Staat hat ein solches Maß von Aufgaben zugeschanzt bekommen, hat so viele Dinge an sich gerissen oder dafür die entsprechenden Einrichtungen und Apparaturen schaffen müssen, daß die Gefahr besteht, daß durch das Übermaß der Staatsfunktionen die Demokratie in Wirklichkeit unwirksam gemacht wird.
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Wenn ein Staat zuviel tut, wird er undurchsichtig und unübersehbar. Die Wirksamkeit eines Parlaments hängt bis zu einem gewissen Grade davon ab, daß die Staatsfunktionen auf das wirklich Notwendige und Wesentliche begrenzt werden.
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Wird der Staatsapparat durch sein Übermaß undurchsichtig, so daß nicht einmal ein Parlament ihn überwachen und durchschauen kann, dann mag formal eine Demokratie vorhanden sein, in Wirklichkeit regiert dann mit absoluter Gewalt eine Administration.
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- Ich widerlege mich nicht! Ich habe von dem Umfang der Staatsfunktionen gesprochen. Wo ich die einzelnen Staatsfunktionen hinlege, in das Zentrum oder zu irgendwelchen Zwischengliedern, das ist eine Zweckmäßigkeitsfrage. Ich wüßte nicht, welche anderen Gründe ich haben könnte, bei der Beurteilung von Form und Konstruktion staatlichen Lebens andere als Zweckmäßigkeitsgründe sprechen zu lassen.
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- Ich muß allerdings sagen, daß ich auf Grund des Grundgesetzes die Ihnen vielleicht merkwürdig erscheinende Auffassung habe: Bund und Bundesrepublik und Staatswesen sind irgendwie doch identisch.
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Notwendig ist also, daß das Kabinett beim Aufbau der organisatorischen Einrichtungen des Staates, der Verwaltungen, von vornherein entschlossen ist, äußerste Sparsamkeit walten zu lassen, einmal aus finanziellen Gründen, weil es angesichts der Fülle drängender Nöte gar nicht verantwortet werden kann, in den Verwaltungsfunktionen und Verwaltungseinrichtungen irgendein Übermaß eintreten zu lassen. dann aber auch, um die Durchsichtigkeit und Übersichtlichkeit des Staates für die kontrollierende Volksvertretung nicht zu erschweren oder zu vernebeln. Hier gilt die Konzentration auf das Wesentliche. Es wäre an sich notwendig, hier Überlegungen zu wiederholen, die ich aber wegen der Kürze der Zeit im einzelnen nicht ausführen will, Gedanken, die im Laufe der jahrzehntelangen Erörterungen über Verwaltungsreform und verwandte Dinge ausgesprochen worden sind.
In diesem Zusammenhang wird natürlich auch die Personalpolitik eine Rolle spielen, und da
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kann ich nur wiederholen und das unterstreichen, was der Herr Bundeskanzler hinsichtlich der Notwendigkeit ausgeführt hat: die Bejahung eines intakten und sorgfältig vorgebildeten Berufsbeamtentums. Wir haben nicht die Absicht, wir denken nicht daran, irgendeine Auslese parteipolitischer Art bei der Besetzung von fachlichen Beamtenstellen zu begünstigen oder zu betreiben.
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Wir denken vor allen Dingen nicht daran, meine Damen und Herren, etwa - das Berufsbeamtentum zurückzudrängen zugunsten von Zwölfendern der Partei- und Berufsformationen.
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In diesem Zusammenhang wird - da eben der Einwand gekommen ist, daß ich bei der Erörterung des Verwaltungsaufbaus die Länder nicht genügend erwähnt habe - darauf hinzuweisen sein, daß durch den Aufbau des Bundes eine ganze Reihe von Funktionen, die bisher bei den Ländern lagen, von dem Bund übernommen werden und infolgedessen auch sehr erhebliche Vereinfachungen in der Zusammensetzung der Länderkabinette durchaus möglich sind.
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Ich kann in diesem Zusammenhang nur auf das Beispiel von Württemberg-Baden verweisen und die Bitte und die Anregung aussprechen, diese Weisheit in bezug auf Sparsamkeit und Vereinfachung möge, ohne daß lange Erörterungen notwendig sind, nun auch in anderen Ländern Schule machen.
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Das Entscheidende aber, meine Damen und Herren. für den Aufbau des Staates und für seine Reputation. möchte ich sagen, wird sein. daß wir nach anderthalb Jahrzehnten der Rechtlosigkeit nun mehr und mehr diesen Staat wirklich wieder als Rechtsstaat aufziehen und daß wieder die Verpflichtung, nach Gesetz und Recht 7u handeln und zu verfahren, nicht nur für die Beziehungen der einzelnen Staatsfunktionäre zueinander maßgebend wird, sondern auch entscheidend wird für das Verhältnis von Regierung zu Verwaltung, von Bürger zu Staat und von Bürger 711 Bürger. Auch hierbei ist entscheidend - das deckt sich wieder mit dem. was ich vorhin über die Notwendigkeit einer Konzentration auf die entscheidenden Aufgaben des Staates ausgeführt habe - ein Verständnis für Sinn und Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Wenn wir zuviel Gesetze machen meine Damen und Herren. und so entsetzlich viel Vorschriften haben. daß kein Mensch mehr weiß und übersehen kann was denn eigentlich gestattet und verboten ist dann erleben wir den Zustand. in den wir hineingekommen waren vor allen Dingen in den, Zeiten der wuchernden Zwangswirtscht.
daß nämlich die Gesetzesübertretung zur allgemeinen Volksbelustigung wird.
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Hier möchte ich noch einmal das Wort hervorheben. unter denn unser Bundepräsident hier in diesem Hause sein Amt angetreten hat: daß Gerechtigkeit ein Volk erhöht. Das gilt, meine Damen und Herren, auch für die Beseitigung aller Bestimmungen. die im Zurre der stufenweisen Umstellung des staatlichen Lebens von der Desnotie zu dieser allmählich in demokratische Formen
übergleitenden Entwicklung eingeschaltet gewesen sind, all diese Gesetze und Bestimmungen, die im letzten aber auch bewirkt haben, daß Staatsbürger zweiter Klasse, Menschen verschiedenen Rechts entstanden. Daß wir Verbrecher nicht schützen, darüber dürfte wohl kein Zweifel bestehen. Aber daß man Menschen bloß deshalb, weil sie als Opfer erlogener Darstellungen sich geirrt haben,
({18})
weil sie darum geglaubt haben, eine bestimmte Entwicklung, die über uns gekommen ist, äußerlich mitmachen zu müssen, nun ständig als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt, das ist mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit nicht vereinbar.
Das, meine Damen und Herren, ist gerade unter dem Gesichtspunkt, den der Herr Kollege Dr. Schumacher erwähnt hat, sehr wichtig. Er hat - nach meiner Meinung übertreibend - von einer nationalrevolutionären Gefahr gesprochen. Ich sehe, offen gestanden. diese Gefahr nicht, und ich halte es auch nicht für geschickt und klug, sie dadurch interessant zu machen. daß man sie größer darstellt, als sie in Wirklichkeit ist.
({19}) Aber, meine Damen und Herren, wenn man ihr schon entgegentreten will, dann ist es zumindest eine falsche Psychologie, nun noch an diesen Gesetzen, Bestimmungen, Fragebogen und Einrichtungen festzuhalten, die nichts weiter bewirken, als Menschen, die innerlich sich keiner Schuld bewußt sind, zu Staatsbürgern zweiter Klasse zu stempeln, damit zu deklassieren und hineinzutreiben in eine Bereitschaft, nun eben die eigene Chance nur noch in einer revolutionären Haltung und Einstellung zu suchen.
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Das schließt aber auf der anderen Seite wiederum nicht aus, daß wir uns auch ebenso zur Wehr setzen
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Perlen einen Mißbrauch der staatsbürgerlichen Freiheit. Wir denken nicht daran, den Fehler zu wiederholen. den die Weimarer Republik begangen hat. Wer die Freiheit verneint, stellt sich außerhalb der Freiheitsrechte.
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Hier. meire Damen und Herren. wird es notwendig sein. ein wachsames Auge zu halten auf Bestrebungen und Tendenzen, die darauf hinausgehen könnten. durch einen neuen Freiheitsmißbrauch die Festigung eines freiheitlichen Staatsweses zu stören. zu hemmen oder zu gefährden.
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- Natürlich! Ich habe nicht die Freiheit der kleinen Parteien bestritten: aber die Freiheit der kleinen Parteien kann ia nun nicht dahin führen, daß sie Privilegien erhalten.
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Meine Damen und Herren! Das, was uns als die entscheidendste Aufgabe gilt, hat der Herr Bundeskanzler gestern zum Ausdruck gebracht, als er von der Notwendigkeit sprach, mit beherzter Entschlossenheit an die sozialen Aufgaben unserer Zeit heranzugehen. Auch da haben wir wieder mit dem traurigen Erbe der Vergangenheit zu schaffen. D i e soziale Frage unserer Zeit, wenig({25})
stens das Kernstück aller sozialen Fragen unserer Zeit ist das ungeheuerliche Schicksal, das die Millionen der Menschen betroffen hat, die man aus ihrer Heimat, aus ihrer Existenz vertrieben hat. Hier - das ist schon von den Vorrednern ausgesprochen worden, und ich freue mich dieser weitgehenden Übereinstimmung - besteht die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, daß die Lasten dieses Krieges nicht nur von den unmittelbar Betroffenen getragen werden, sondern daß hier das große ethische Prinzip gilt, daß der eine des anderen Last zu tragen hat. Dabei sind wir aber nicht der Meinung - das ganze Problem des Lastenausgleichs in diesem Zusammenhang zu erörtern, würde zu weit führen -, daß es damit getan ist, etwa mit schematischen Rentenansprüchen eine Lösung dieser überaus schwierigen und verwickelten Frage zu suchen. Der individuelle Lastenausgleich, der der Größe des Schadens nicht immer in vollem, aber in einem angemessenen und möglichen Umfange entspricht, scheint uns nach wie vor die bessere und erstrebenswertere Lösung zu sein.
Damit ist es notwendig, sich nicht darauf zu beschränken, daß man das Recht dieser vertriebenen deutschen Menschen auf ihre angestammten Heimatgebiete ausspricht. Wir dürfen uns auch nicht etwa damit aus der Affäre ziehen, daß wir nun sagen, in diesen Dinge müsse sehr weitgehende ausländische Hilfe kommen, sondern das erste, was in dieser Angelegenheit zu geschehen hat, ist, daß das Äußerste an Anstrengungen gemacht wird, um zunächst aus eigenen Kräften und mit den eigenen Möglichkeiten diese schwierigste, diese entscheidende, diese eigentliche soziale Frage unserer Zeit zu einer Lösung zu bringen.
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In diesem Zusammenhang werden dann auch die übrigen Opfer des Krieges, die Kriegsbeschädigten, eine besondere Wertung und Berücksichtigung finden müssen. Im einzelnen wird über diese Dinge zu sprechen sein, wenn die einschlägigen Gesetzentwürfe eingebracht werden und wenn die Absicht verwirklicht werden kann, ähnlich der früheren Reichsversorgung eine feste und einheitliche Rechtsgrundlage für die Versorgung aller Opfer dieses Krieges zu schaffen.
Das Arbeitsrecht wird weiterzuentwickeln sein, denn, meine Damen und Herren, die sozialen Lebensformen, auch auf dem Gebiete des Arbeitsvertragsrechts, des Individualvertrages wie des Kollektivvertrages, sind verwickelter und komplizierter geworden. Ich beschränke mich dazu heute auf diese Bemerkung: seinerzeit konnte die Weimarer Republik für sich in Anspruch nehmen, daß sie das fortschrittlichste Arbeitsrecht der Welt entwickelt hatte. Der Wille, daran wieder anzuknüpfen, scheint mir zunächst einmal als allgemeiner Ausdruck einer Absicht und eines Willens ausreichend zu sein.
Hinzu tritt eine sehr wesentliche Aufgabe: die Herstellung der sozialen Sicherheit mit den Mitteln der Sozialversicherung und der sozialen Fürsorge. Eins scheint uns dabei entscheidend: daß diese soziale Versicherung und daß dieses System der Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens nicht dazu führt, die unterschiedlichen Lebensformen der Menschen zu schablonisieren. Wir sind vielmehr der Überzeugung, daß wir, weil für unseren ökonomischen Fortschritt eine wachsende Verschiedenheit der Menschen, ihrer Fähigkeiten und Gaben notwendig ist, eine Normung, eine Schematisierung der menschlichen Lebensformen unter allen Umständen weitgehend vermeiden müssen.
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So vertreten wir die Ansicht gegenüber der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, daß wir die deutsche Sozialversicherung wieder aus der Gefahr lösen müssen, in die sie hineingeraten war und ist, nämlich so etwas wie ein Geheimratsgewerbe zu sein. Wir sind vielmehr der Meinung, daß wir Sozialversicherungsträger entwickeln müssen, die den Versicherten selbst gehören,
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und daß auf diese Weise eine echte Selbstverwaltung - unter Anpassung an die verschiedenen und wechselnden Bedürfnisse der Vorsorge - ein lebendiges Verhältnis zwischen Versicherungsträger und Versicherten herbeiführen kann. Daß dabei notwendig ist, für ihre verlorenen Vermögen einen Ausgleich herbeizuführen, dürfte unbestritten sein. Es besteht nur die Frage, ob man ihn etwa in der Form von alljährlichen Dotationen herbeiführt oder ob man nicht von vornherein zum Ausgleich der eingetretenen Verluste den Versicherungsträgern wenigstens teilweise Ausgleichsforderungen zur Verfügung stellt, um eine stetige und auch zur Sicherung der Anwartschaftsdeckung tragfähige Vermögensgrundlage zu geben.
Es ist heute hier soviel von der Jugend gesprochen worden. Meine Damen und Herren, entscheidend ist doch wohl, daß wir die nachgewachsene Generation in das Arbeits- und Berufsleben unseres Staates und unserer Gesellschaft hineinbringen. Dafür, meine Damen und Herren, ist notwendig, daß man dazu die Wege erleichtert. Dazu gehört die Schaffung von geeigneten Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten, dazu gehört auch eine Form der Arbeitsvermittlung, die von wirklich betriebswirtschaftlich erfahrenen Persönlichkeiten durchgeführt wird,
({29})
die die Eignung des einzelnen und seine Verwendbarkeit beurteilen können.
Das Wichtigste bei aller Sozialpolitik aber ist, meine Damen und Herren, daß wir uns nicht nur über die Frage der Verteilung unterhalten, sondern daß wir die Frage in den Vordergrund rükken: wie kommen wir denn zu einer Mehrung der Güter und Werte? Denn man kann ja nur verteilen, was vorher geschaffen ist. So gesehen ist eine leistungerhöhende, Werte und Güter mehrende Wirtschaftspolitik eine im besten Sinne dynamische Sozialpolitik.
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Wer ehrlich und ernsthaft soziale Forderungen erfüllen will, wie ich sie ausgesprochen habe, auf dem Gebiete des Lastenausgleichs, in der Verbesserung der Daseinsbedingungen der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen, Körperbehinderten usw., wer die ganze Aufgabe der Wiederherstellung und der Wiedergesundung der deutschen Sozialversicherungseinrichtungen verwirklichen will, wer das Fürsorgewesen verbessern will, wer auf dem Gebiete der Gesundheitspolitik und der sozialen Hygiene fortschrittliche Entwicklungen anstrebt, der kann das nur mit einer Wirtschaftspolitik verwirklichen, die dazu überhaupt die materiellen Voraussetzungen schafft. Da sind wir allerdings der Überzeugung, daß mit einer Befehlswirtschaft, mit der Errich({31})
tung von Kommandozentralen diese Möglichkeit nicht gegeben ist.
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Wir stehen heute genau so wieder in einer Situation, wie Völker etwa in dem Pionierzeitalter gestanden haben, wo sie auch von vorne anzufangen hatten. Wir stehen in einer Situation, wie wir sie in Europa nach den Freiheitskriegen hatten, damals, als auch so ein Tyrann über die Lande gezogen war, als er auch gestürzt war: da waren auch die Städte verwüstet und der Verkehr lahmgelegt und alles heruntergewirtschaftet.
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- Richtig! Aber damals, Herr Kollege Dr. Schmid, hat man eins nicht gemacht: man hat an den Anfang der Entwicklung des großen technischen Zeitalters nicht Planungszentralen und Lenkungsbürokratie gestellt, sondern man hat den Merkantilismus der absoluten Fürsten beseitigt, die Zünfte, all die Privilegien beseitigt, die die Berufstätigkeit der Menschen, den Eigentumserwerb der Menschen einschränkten. Man hat die Menschen freigemacht, sich nach dem höchsten Maße ihrer Leistungsfähigkeit zu entfalten.
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- Die Kehrseite der Medaille kenne ich auch.
({35})
- Es ist wirklich nicht ganz einfach!
Aber entscheidend ist jetzt die Frage: wie entfessele ich die Antriebskräfte zu einer Wirtschaft, die aufsteigt? - und nicht: wie bremse ich sie, wie hemme ich sie, oder wie korrumpiere ich sie?
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- Ich muß sagen: das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die so leicht Schlechtes von jemand sagen, einfach weil sie von einer vorgefaßten Meinung ausgehen.
({37})
- Nach meinen Beobachtungen haben sehr viele gezahlt. Ich kenne keinen Stand und keine Schicht, die sich nicht an diesen Dingen entweder passiv oder aktiv beteiligt hätte.
({38})
Meine Damen und Herren, es wäre sehr reizvoll, nun diese ganzen Erörterungen fortzuspinnen. Die Redezeit ist aber beschränkt, und ich kann mich immer nur auf die grundsätzlichen Feststellungen beschränken. Entscheidend für unsere Überlegungen - um daran wieder anzuküpfen - ist, daß es darauf ankommt, die Auftriebkräfte der wirtschaftlichen Entwicklung freizumachen, zu entfesseln, und daß es darauf ankommt, das Erfolgstreben lebendig zu machen, damit mehr geschaffen wird. Denken Sie an unsere weltwirtschaftliche Abhängigkeit. Stellen Sie sich nur die Möglichkeit einer zentralen Planung vor. Was bedeutet denn zentrale Planung? Sie bedeutet, daß ich zunächst einmal den Planungsraum gegen weltwirtschaftliche Austauschbeziehungen abkapsele. Denn sonst ist die Planung gar nicht richtig möglich.
({39})
Das ist das eine. Wenn wir mit so primitiven Begriffen arbeiten, die noch aus der Zeit etwa des Vulgär-Marxismus des 19. Jahrhunderts stammen, kommen wir ja nicht weiter.
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Wie stellen Sie sich das bloß vor? Die entscheidende Frage für uns ist, durch weltwirtschaftliche Verflechtung Einfuhren hereinzubekommen, weil einfach die Möglichkeit, im eigenen Lande aus eigenen Erzeugnissen Ernährung, Bekleidung, Textilien und Rohstoffe herbeizuschaffen, nicht gegeben ist.
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- Sie dürften wissen, daß der Marshallplan eine zeitweilige Angelegenheit ist, die in einigen Jahren ihre Erledigung findet. Dann entsteht für uns die entscheidende Frage, die Einfuhren, die wir dringend benötigen, selbst zu bezahlen. Einfuhren kann man aber nur bezahlen, wenn ihnen Ausfuhren gegenüberstehen. Das ist eine sehr einfache Regel, die durch noch so viele Zwischenrufe nicht aus der Welt zu schaffen ist.
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| 13 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-21
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74 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren, der Herr Abgeordnete Dr. Schäfer hat das Wort. Jeder hat die Freiheit zu reden. - Bitte, Herr Abgeordneter, fahren Sie fort!
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-21
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75 | 6 | 1 | null |
schäfer
| 11,001,933 |
Wenn wir diese Ausweitung unseres Außenhandels haben wollen, dann brauchen wir doch ein ungeheures Maß an vielseitiger Initiative, und wir brauchen vor allen Dingen Wagnis-Bereitschaft und Wagnis-Gesinnung. Nun, meine Damen und Herren, wie Sie Wagemut schaffen wollen, wenn Sie den Leuten sagen: „Schön, du kannst etwas wagen; wenn es schief geht, dann hast du einen Verlust, aber wenn du Erfolg hast, dann wird dir alles weggenommen!"-, wie Sie unter solchen Bedingungen Wagemut schaffen wollen, weiß ich nicht. Meine psychologische Einsicht reicht dazu nicht aus.
Aus diesen Erwägungen aber wird es notwendig sein, daß die Bundesregierung sich sehr bald bemüht, ein System der auswärtigen Handelsvertretungen für uns zu erreichen. Sie muß dabei gleichzeitig anstreben, auch unsere Devisenlage dadurch zu verbessern und zu erleichtern, daß mit Hilfe eines deutschen Schiffbaues auch die Möglichkeit gegeben ist, wieder eine eigene deutsche Handelsflotte zu betreiben.
Im übrigen, meine Damen und Herren, besteht wohl kein Zweifel darüber, daß das, was wir auszuführen haben, in erster Linie arbeitsintensiv hergestellte Qualitätserzeugnisse sein müssen. Qualität aber ist gleichbedeutend mit dem Maß an geistiger Energie, die hineingeformt wird in den Stoff. Weil dem so ist, wird sich die Bundesregierung auch sehr bald dafür interessieren müssen, daß wissenschaftliche Einrichtungen zur Vervollkommnung unserer technischen Methoden - namentlich nach dem Verlust der gesamten gewerblichen Schutzrechte unseres Landes - geschaffen werden. Sie muß bemüht sein, gerade den wissenschaftlichen Instituten, die der technischen Entwicklung
({0})
förderlich sein könnten, einen besonderen Vorrang in ihrer Zielsetzung einzuräumen.
Eines, meine Damen und Herren, möchte ich dabei von vornherein erklären: wir werden uns nie damit befreunden können, daß man auf irgendeinem Gebiet neue staatliche Monopole oder Monopolverwaltungen errichtet. Genau so, wie wir private Monopole ablehnen und gewillt sind, uns für die baldige Verabschiedung eines Anti-Monopolgesetzes einzusetzen, genau so wehren wir uns aber auch gegen die Versuche, etwa durch die Errichtung neuer staatlicher Monopole wirtschaftliche Verfügungsmacht und administrative Gewalt in einer Hand zu vereinigen
({1})
und damit Machtzentralen in unserem staatlichen Leben aufzurichten, von denen aus die Demokratie ausgehöhlt werden könnte.
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Mit dem Ausbau der Außenhandelsbeziehungen hat aber auch eine Steigerung aller Möglichkeiten der Bedarfsdeckung aus dem eigenen Lande Hand in Hand zu gehen. Hier sind wir uns darüber klar, daß wichtiger und dringlicher als alle doktrinäre Wertung über landwirtschaftliche Betriebs- und Besitzgrößen die Durchführung entschiedener Maßnahmen zur Produktionssteigerung ist. Dazu wird die Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für eine schnelle Durchführung der Flurbereinigung gehören. Dazu werden Meliorationen gehören, Erschließung namentlich von gewissen Produktionsreserven, die noch in Nordwestdeutschland gegeben sind. Es wird dazu ferner eine Schädlingsbekämpfung gehören, die aber auch tatsächlich wirksam wird und nicht nur an Symptomen herumkuriert; und es wird weiterhin notwendig sein, den Hackfruchtbau zu begünstigen.
Das Kernstück aber der ganzen wirtschaftspolitischen Arbeit sehen wir in der Durchführung des Wohnungsbaus. Deswegen begrüßen wir es, daß ein besonderes Ministerium die Notwendigkeit des Wohnungsbau eigens hervorhebt, ja auch die Gewähr gibt, daß diese Aufgabe nicht als Nebenangelegenheit irgendeines Ressorts begonnen, sondern als Gegenstand einer besonderen Verantwortung in diesem Kabinett angesehen wird. Angebracht wird dabei auch hier eine gewisse Wagnisbereitschaft sein. Ich rede natürlich nicht etwa bedenklichen und gefährlichen inflationistischen Experimenten das Wort. Aber notwendig wird es sein, doch den Mut zu haben zu einem gewissen, bedachtsamen Maß der Kreditausweitung, mindestens um die dringenden Forderungen der Vorfinanzierung befriedigen zu können.
Dabei erkennen wir zugleich etwas, was ich dem Kabinett allerdings dringend als einen besonderen Wunsch meiner Freunde empfehlen möchte: die strenge Koordinierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik. Denn es darf unter keinen Umständen hier eine Zweigleisigkeit entstehen, und es darf vor allen Dingen nicht geschehen, daß etwa durch Ressortpartikularismus die Einheit der gesamten wirtschafts- und finanzpolitischen Aufgaben, ihre Zusammenhänge und ihre Verbundenheit gelockert und gelöst werden und sich dadurch Reibungen und Hemmungen ergeben, die den wirtschaftspolitischen Leistungseffekt der Regierung beeinträchtigen. Dabei haben wir außerdem den Wunsch: alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen seien immer von dem Gedanken getragen, daß das Gebiet der Bundesrepublik eine Wirtschaftseinheit ist. Alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Entscheidungen müssen in erster Linie von dem Gesichtspunkt ausgehen, daß wir die sozialen Verpflichtungen, die in ihrer Zahllosigkeit, in ihrer ungeheuren Größe und Vielgestaltigkeit auf uns lasten, nur dann erfüllen können, wenn die gesamte Wirtschaftskraft der Bundesrepublik einheitlich zusammengefaßt und angesetzt wird.
Dazu gehört, wie ich schon gesagt habe, auch eine Art der Steuerpolitik und überhaupt eine Bemessung der öffentlichen Abgaben, die verhindert, daß der deutsche Mensch dahin gebracht wird, überhaupt nicht mehr an eine selbstverantwortliche Sicherstellung seines eigenen Daseins zu denken. Hier gilt es auch, eine Umkehr zu bewirken. Das Ziel muß sein, wieder solche Existenzbedingungen für alle, für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in gleicher Weise, zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen, am Ende ihres Arbeitslebens nicht von der Fürsorge abhängig zu sein. Es ist ein Unfug, den Menschen vorher soviel wegzunehmen, daß sie nachher unter allen Umständen auf öffentliche Fürsorge angewiesen sind.
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Dabei ist dann noch eine wichtige Überlegung der Übgabenpolitik fur uns entscheidend: Kapitalbildung muß die Möglichkeit geben, nun für die Zwecke der Finanzierung in erster Linie auf echte Rücklagen zurückgreifen zu können. Dazu gehört allerdings, daß eine Währungspolitik betrieben wird, die das Vertrauen der Sparer in die Spareinlage oder des Versicherten in seine Versicherungsrücklage nicht immer wieder in Frage stellt. Hier entsteht eine große und sehr schwierige und, ich glaube, sehr viel Takt erfordernde Aufgabe der wirtschaftspolitischen Führung des Kabinetts.
Meine Damen und Herren! Meine politischen Freunde im Parlamentarischen Rat haben sich nur sehr schwer die Bestimmungen des Grundgesetzes zu eigen gemacht, die sich mit der Aufteilung der Steuern und der Ordnung der Finanzverwaltung beschäftigen. Diese Bestimmungen sind nicht aus der Initiative dieser verfassunggebenden Versammlung, sondern sehr weitgehend unter fremden Einflüssen zustande gekommen. Wir möchten ausdrücklich hervorheben, daß mit den hierher gehörenden Bestimmungen des Grundgesetzes und mit den Gedankengängen, die für diejenigen malgebend gewesen sind, die diese Bestimmungen in die Verfassung aufgenommen haben, das Äußerste an Zugeständnissen hinsichtlich der Zersplitterung des deutschen Finanzwesens gemacht worden ist. Wir möchten ausdrücklich hervorheben, daß wir uns jedem Versuch, etwa im Sinne einer weiteren Streuung, einer weiteren Aufgliederung oder faktischen Schwächung der Finanzhoheit des Bundes. die finanzpolitischen Bestimmungen des Grundgesetzes extensiv zu interpretieren, mit äußerster Entschiedenheit widersetzen werden.
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In diesem Zusammenhang möchte ich die Bundesregierung noch auf die dringende Notwendigkeit aufmerksam machen, sich mit größter Beschleunigung der Frage der Besatzungskosten zuzuwenden. So wie die Dinge bisher gelaufen sind, kann es nicht bleiben. Dieses Anliegen muß bald aus dem Stadium der theoretischen Betrachtungen herausgebracht werden. Denn alle Möglichkeiten, Etats aufzustellen, Haushaltsvoranschläge zu machen, überhaupt über irgendwelche Anlagen und Einnahmen zu disponieren, sind ausgeschlossen, solange nicht wirklich eine verläßliche Begrenzung der Forderungen der Besatzungsmächte erfolgt.
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Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist eine Koalitionsregierung. Das bedeutet, daß politische Parteien mit verschiedenen Auffassungen, mit Persönlichkeiten verschiedener politischer Herkunft sich zusammengetan haben, um eine Regierung zu bilden. Für mich und meine Freunde ist bei dem Entschluß, diesen Weg zu gehen, die Überlegung entscheidend gewesen, daß unter diesen den Staatsbeginn bestimmenden und bedingenden Umständen und unter diesen Zeitverhältnissen, sowie nach dem ganzen Ergebnis und dem Verlauf des Wahlkampfes eine andere als diese Koalition gar nicht vorstellbar ist, um den Start der Bundesrepublik durchzuführen.
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Es ist auch bisher angesichts der innenpolitischen Kräfteverhältnisse in diesem Hause mit ernsten Begründungen nicht der Versuch gemacht worden, eine andere Koalitionsmöglichkeit aufzuzeigen. Es hat unter diesen Umständen auch gar keinen Sinn, diese Koalition an sich zu bestreiten oder anzuzweifeln. Koalitionen sind ihrem Wesen nach eben aus verschiedenen politischen Richtungen zusammengesetzt. Das bedeutet aber nicht, daß eine Koalitionsregierung deswegen brüchig sein muß. Vielmehr ist durch die gegenwärtige Lage eine solche Fülle von dringenden und unbestreitbaren Staatsnotwendigkeiten gegeben, daß über den Willen zur Verwirklichung dieser praktischen Ziele zwischen den Koalitionspartnern überhaupt gar keine Meinungsverschiedenheiten bestehen können. Sie mögen von Fall zu Fall in Zweckmäßigkeitsfragen bestehen, sie mögen in Nebenfragen bestehen. Bei den Aufgaben, auf die es in der nächsten Zeit, in der unmittelbaren Gegenwart und in der nächsten Zukunft ankommt, befürchte ich bei allseitigem Willen zur loyalen Zusammenarbeit keine Bestandsgefährdung. Das möchte ich hier
gegenüber den Versuchen zum Ausdruck bringen, etwa die Wirksamkeit und die Tragfähigkeit dieser Regierung dadurch fragwürdig zu machen, daß man allzu stark auf die Tatsache hinweist, daß immerhin drei Parteien an dieser Regierungsbildung beteiligt sind.
({7})
- Doch, das ist geschehen.
Ich möchte noch etwas Weiteres sagen. Es gibt soviele Leute, die es ruhmvoll finden, die Kompromißlosigkeit zu preisen. In Wahrheit ist schöpferische Wirklichkeit in der Politik eigentlich immer ein Kompromiß gewesen.
({8})
Die schöpferische Politik, die gestaltende Politik besteht eigentlich nie aus dem Wirksamwerden chemisch reiner Ideen, sondern immer aus der Verbindung von verschiedenen Denkelementen. Und dieser Wille zur Synthese in der praktischen politischen Arbeit wird bei Wahrung der eigenen Ausgangsstellung und Grundhaltung in der nächsten Zeit unser Weg gegenüber dieser Regierung und in diesem Hause sein.
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| 13 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-21
|
76 | 6 | 1 | null |
köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Gemäß der Abmachung im Altestenrat ist die heutige Rednerliste als beendet anzusehen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Donnerstag, den 22. September 1949, 10 Uhr, ein und schließe die sechste Sitzung des Deutschen Bundestags.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01006.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-21
|
77 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 7. Sitzung des Deutschen Bundestags.
Die Tagesordnung hat einen einzigen Punkt:
Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung
der Bundesregierung.
Ehe wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Ich bitte zunächst den Schriftführer, Herrn Abgeordneten Dr. Mießner, die Namen der abwesenden Mitglieder des Hauses zu verlesen.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-22
|
78 | 7 | 1 | null |
Mießner
| 11,001,506 |
B e u r la u b t sind wegen Krankheit die Abgeordneten Kuhlemann, Marx, Wönner, Zühlke.
Auf Grund von Entschuldigungen fehlen die Abgeordneten Frau Albertz, Arndgen, Eichler, Frühwald, Dr. Gülich, Dr. Horlacher, Kalbitzer, Karpf, Frau Kipp-Kaule, Margulies, Mißmahl, Dr. Nöll von der Nahmer, Dr. Koch, Schütz, Dr. Suhr, Rademacher, Frau Thiele, Vesper, Zinn, Dr. Hilpert, Dr. Frey und Freitag.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
schriftführer
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1949-09-22
|
79 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren! Für den Verlauf der heutigen Aussprache ist gemäß Vereinbarung im Ältestenrat vorgesehen, daß nach der Fraktionsstärke gesprochen wird, und zwar in folgender Reihenfolge: Deutsche Partei, Bayernpartei, Kommunistische Partei, Wiederaufbauvereinigung, Zentrum, Nationale Rechte.
Was den zeitlichen Verlauf anlangt, so nehme ich das Einverständnis des Hauses an, daß wir, wie es üblich ist, um 1 Uhr Mittagspause machen und um 3 Uhr wieder fortfahren.
Als erster Redner hat der Herr Abgeordnete Ewers das Wort.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-22
|
80 | 7 | 1 | null |
Ewers
| 11,000,505 |
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stunden, die wir seit der Mitte des September bis Ende des Monats hier in Bonn erleben, sind die Geburtsstunden eines neuen deutschen Staatswesens. Diese Stunden fallen in eine Zeit, die wir Älteren zeitweilig schwerlich mehr zu erleben gehofft haben. Wenn ich an die letzten Jahrzehnte zurückdenke, so fällt mir ganz persönlich die Tatsache ein und auf, daß just in diesen Tagen vor zwanzig Jahren der vielleicht einzige deutsche Staatsmann europäischen Formats gestorben ist, den Deutschland in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat: Gustav Stresemann. Mit seinem Tode sank damals Schritt für Schritt die deutsche Republik, die deutsche Demokratie, ins Grab über die Zeit der Notverordnungen bis zu jenem Dritten Reich, das von sich behauptete, es würde mindestens ein Jahrtausend bestehen. Wir haben das Dritte Reich überlebt und stehen nun erneut an der Wiege unseres Volkes und Staates, geprüft und gefeit durch Erfahrungen, die andere Völker tatsächlich vielleicht erst in einem ganzen Jahrtausend machen können.
Heute und jetzt haben wir Stellung zu nehmen zu der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, und mir als einem nicht in Hannover gewählten Mitglied der Deutschen Partei hat die Fraktion das ehrenvolle Amt übertragen, in ihrem Namen zu dieser Erklärung Stellung zu nehmen.
Die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers findet - mit einer kleinen Einschränkung, auf die ich im Laufe meiner Rede zu sprechen komme - den vollsten und ungeteilten Beifall meiner Fraktion.
({0})
Diese Erklärung billigen und unterschreiben wir nicht nur in ihrer Haltung, sondern auch in ihrer Formulierung im einzelnen Satz für Satz. Wir hoffen und wünschen, daß die Regierung alles wahrmachen kann, was dem deutschen Volk und den deutschen Menschen in dieser Erklärung verheißen ist.
Ich habe zur Erklärung des Herrn Bundeskanzlers namens meiner Fraktion in einzelnen Beziehungen einige erläuternde und bestätigende Anmerkungen zu machen. Wir legen ganz entscheidenden Wert darauf, daß sich jedermann, der für die Bundesrepublik Deutschland spricht und handelt, bei jedem Wort und bei jeder Tat bewußt bleibt, daß wir vorläufig nur ein Torso sind, daß wir nur ein Teilstaat, ein Rudiment, ich möchte sagen ein Embryo eines zukünftigen Deutschlands sind, das, von keiner auswärtigen Macht bevormundet, sich wieder, und zwar in den Grenzen des Jahres 1937, in die europäischen Nationen einzureihen haben wird. Wir empfinden es als Schönheitsfehler, daß die Bezeichnung, die sich unser westdeutscher Staat gegeben hat, „Bundesrepublik Deutschland",
({1})
zu Mißdeutungen Veranlassung geben könnte, wenn man nicht immer die Worte der Präambel des Grundgesetzes dazunimmt und sich vergegenwärtigt, daß das allerdings noch nicht alles ist. Es wäre wohl richtiger gewesen, wenn schon in der Bezeichnung dieser vorläufige und zunächst den ersten Schritt bedeutende Charakter unseres neuen Staates zum Ausdruck gekommen wäre.
Wir sind des weiteren der Auffassung, daß nach dem Ergebnis der Wahlen des 14. August die jetzt gebildete Regierung eine durch den Willen der deutschen Wählerschaft bekundete Notwendigkeit ist. Das hätte nicht so sein müssen. Wenn etwa zwischen den beiden großen Parteien dieses Hauses, die zwei Drittel aller Abgeordneten stellen, in dem Wahlkampf außenpolitische Meinungsverschiedenheiten hervorgetreten wären, so hätte ich es von meinem Standpunkt aus für unbedingt erforderlich gehalten, diese zunächst einmal untereinander abzustimmen, ehe man in die von Sorgen und Not belasteten zukünftigen Monate und Jahre eintritt. Denn seien wir uns darüber klar: die Politik, die wahrhafte Kunst der Politik beginnt erst bei der Außenpolitik. Das Innere, die Ordnung im eigenen Hause ist naturnotwendig erst zweitrangig, und weil wir als Deutsche wohl von je und je das Innere vorangestellt haben, haben wir im Auswärtigen dann ja auch zweimal innerhalb von 25 Jahren so über alle Maßen kläglich Schiffbruch erlitten. Da aber nach dem Wahlkampf in der Außenpolitik zwischen den beiden großen Fraktionen und wohl auch, wenn ich von der äußersten Linken absehen darf, sonst überhaupt nirgendwo Meinungsverschiedenheiten auftraten, darf ich insoweit hoffen, daß die Regierung auch bei der Opposition dieses Hauses jede Unterstützung finden wird, wenn sie bei den Besatzungsmächten oder, sagen wir, bei den Herren Kommissaren - denn Macht ist es ja nicht mehr, es soll ja „Zivil" sein, was über uns entscheidet - oder bei sonstigen auswärtigen Stellen etwas für uns Deutsche erreichen will.
So verschiebt sich in der Tat die Frage des Werdens des deutschen Volkes auf das Innerpolitische, auf das Wirtschaftsgebiet, um das sich ja nach meiner Beobachtung der gesamte Wahlkampf in all seiner Hitze sozusagen ausschließlich gedreht hat. Auf diesem Gebiet standen wir von der Deutschen Partei im Wahlkampf durchaus in derselben Linie wie die CDU, wie die FDP.
({2})
- Nein, das auch nicht, sondern einschließlich schwarz-weiß-rot, Herr Professor; einschließlich - das darf ich auf alle Fälle feststellen -, denn man hat sich uns allseitig angenähert.
({3})
- Ja, das hat man!
({4})
- Das wird sich finden!
({5})
- Das wollen wir auch bald wieder tun. ({6})
Dazu sind wir auch fest entschlossen.
({7})
Darf ich fortfahren?
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Ich sage: auf allen Seiten der Koalitionsparteien bestand kein Unterschied in der Auffassung der Wirtschaftspolitik; und nun waren wir als im Aufbau und in der ersten Entfaltung begriffene Partei vor die schwere Frage gestellt, ob wir dem Wunsch nach Beteiligung an der Regierungsbildung nach diesen Anfangserfolgen, die wir in einem relativ kleinen Gebiet der westdeutschen Bundesrepublik errungen hatten, folgen sollten oder nicht. Der Entschluß war nicht leicht. Wir haben aber davon abgesehen, allein der Propaganda Rechnung zu tragen. Wir hatten unseren Wählern gewisse Zusicherungen gemacht und haben stets erklärt, daß wir uns vor keiner Verantwortung scheuen. In Einlösung dieser Zusicherungen mußten wir es für unsere staatspolitische Pflicht halten, uns dem Wunsch der größeren Parteien nicht zu versagen.
Nach der Regierungserklärung bereuen wir diesen Entschluß keinen Augenblick.
({9})
Daß solche Koalitionsverhandlungen mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sind, das weiß die SPD besser als jede andere Partei.
({10})
- Woher ich das weiß? Aus meinen langjährigen Erfahrungen im parlamentarischen Leben.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, so war die Regierungsbildung im staatspolitischen Sinne notwendig. Denn eins hat die Weimarer Republik unter anderem erschüttert und schließlich zum Erliegen gebracht:
({12}) '
die beklagenswerte Tatsache, daß in jener Zeit, vor dem Jahre 1930, Wahlen eigentlich keinen Zweck hatten. Es änderte sich nämlich nach den Wahlen sozusagen gar nichts.
({13})
- Nein, das brauche ich ganz und gar nicht, meine Erinnerung ist durchaus plastisch. Es ist eine Tatsache, daß die ganze Wählerei keinen Sinn mehr hatte. Das war allgemeine Meinung des Mannes auf der Straße. Vielleicht haben die Herren Professoren darüber anders gedacht:
({14})
Der normale Deutsche sah in den Wahlen keinen Sinn mehr. Das lag damals daran, daß die SPD wenn nicht die Gewinnerin, so doch die Nutznießerin der sogenannten 1918er Revolution war und sich alle Parteien bis ganz nach rechts herüber, ja bis einschließlich der NSDAP nach ihr umsahen, wenn es sich um soziale Dinge handelte. Die SPD war damals zwar nicht so doktrinär wie Herr Dr. Schumacher; aber sie wurde immerhin sozusagen als Schulmeisterin in sozialpolitischen Dingen angesehen. Daher konnte sich keine Partei erlauben, irgend etwas zu tun, was die SPD ihr im nächsten Wahlkampf auf das gefährlichste ankreiden konnte.
({15})
Ich begrüße es, daß wir jetzt aus\ dieser Schulmeisterei heraus sind.
({16})
({17})
Ich begrüße es, daß wir nunmehr dazu kommen, eine Sozialpolitik und eine Wirtschaftspolitik nichtsozialdemokratischen Gepräges auf die Beine zu stellen.
({18})
Ich warne vor jeder klassenkämpferischen Ideologie. Ich warne vor der Gegenüberstellung Arbeiter und Bürger. Wenn es gute Bürger gibt, sind es die Arbeiter.
({19})
Ich warne des weiteren davor, das, was gegen die Sozialdemokratie steht, mit einem „Anti" zu bezeichnen. Am „Antimarxismus" ist das sogenannte Bürgertum vor 1933 gescheitert. Meine sehr geehrten Herren von der Koalition und auch die Kollegen rechts von uns, sehen wir uns rechtzeitig nach einem „Pro" um. Wir haben jetzt das Wort „soziale Marktwirtschaft". Schön, machen wir daraus etwas!
({20})
- Sehr richtig! Machen wir daraus etwas, was auch dem Mann auf der Straße einleuchtet! Mit Schlagworten allein ist es nicht getan. In diesem Sinne ist die Koalition naturnotwendig und ein klares Ergebnis, eine klare Schlußfolgerung aus einer demokratischen Wahl.
Was nun die Einzelheiten der Regierungserklärung anlangt, so möchte ich namens meiner Fraktion und auch von meinem persönlichen Standpunkt aus nur einige Punkte herausgreifen; sonst käme man mit einer normalen Redezeit selbstverständlich nicht aus.
({21})
- Ich werde auf die Dinge eingehen, die uns am Herzen liegen, und nicht auf Dinge, wie sie die Kommunisten wünschen. Herr Reimann mag dann den Standpunkt der Kommunisten hier ebenso vertreten.
Meine Fraktion möchte zunächst einmal die Worte des Herrn Bundeskanzlers unterstreichen, daß der Gesetzgebung eine ungeheure Arbeit harrt. Darf ich als Jurist der Tendenz der Gesetzgebung einige Segensworte mitgeben. Wir stehen heute vor dem Trümmerhaufen der Gesetzgebung nicht nur wegen der Aushöhlung des einheitlichen deutschen Rechts, nein, vielmehr deshalb, weil alle diese Zwangsbewirtschaftungsgesetze bis zum heutigen Tage dem tatsächlichen Zustand in einer geradezu beklagenswerten Weise nachhinken. Es geht einfach nicht an, daß Dinge überall geschehen, als erlaubt hingenommen und auch von jedem in diesem Hause mitgemacht werden, die gesetzlich unter Strafe stehen.
({22})
Es geht einfach nicht an, daß in der Presse offen von einem Schwarzen und Grauen Markt gesprochen wird.
({23})
Das ist ein Unding, das ist eine Unterhöhlung der Achtung vor dem Gesetz, die zu Korruption, zu Egoismus schlimmsten Grades, ja eben zum Recht des Dschungels führt, wie wir es in den zurückliegenden Jahren in allen Klassen und Kreisen aufs traurigste erlebt haben und in gewissen Nachwehen auch heute noch erleben.
Dem hat die Bundesregierung nur zu steuern. Die Gesetze dürfen nicht gegen die Naturrechte des
Menschen, gegen das Recht auf Existenz verstoßen.
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Sie müssen so gehalten sein, daß jeder Anständige sie als selbstverständlich achtet und daß derjenige, der sie nicht achtet, nicht nur von dem unglückseligen Richter, der gestern noch selbst dagegen verstoßen hat, der Strafe zugeführt wird, sondern die allgemeine Verachtung als Gesetzesbrecher erfährt.
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Nur so ist eine Gesetzgebung moralisch zu rechtfertigen.
Ich komme nun zu einem Problem, das uns Schleswig-Holsteinern - ich darf das sagen, da ich Lübecker bin und aus dem Land stamme, mir also als Muß-Schleswig-Holsteiner ({26})
besonders am Herzen liegt, und hier glaube ich zugleich für die Schleswig-Holsteiner aller Parteien im Hause sprechen zu dürfen: zum Vertriebenenproblem.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dürfen wir unsere Erfahrungen unseres kleinen, einem Machtspruch Englands seine Existenz verdankenden Ländchens Ihnen hier kurz unterbreiten? Das Vertriebenenproblem ist nämlich nicht nur ein Problem, das das Schicksal dieser unglücklichsten deutschen Mitmenschen berührt, sondern auch ein Problem der Einheimischen, wie ich Ihnen zeigen darf. Schleswig-Holstein, früher eine preußische Provinz, jetzt ein selbständiges deutsches Land, weist folgende Zahlen auf, die dem Statistischen Landesamt Schleswig-Holsteins entstammen. Bei einem Flächeninhalt von 6,4 Prozent des Bundesgebiets, bei einer Einwohnerzahl von 5,9 Prozent des Bundesgebiets ist der Anteil dieses Landes an Verkehrs- und Besitzsteuern nur 3,8 Prozent, an den Krediten für Privatwirtschaft nur 3,7 Prozent und an Spareinlagen je Kopf der Bevölkerung nur 3,8 Prozent der entsprechenden Zahlen des gesamten Bundesgebiets. Was die Spareinlagen anlangt, so hat Schleswig-Holstein je Kopf der Bevölkerung nach dem Stichtag vom 1. Oktober 1948 32 DM bei einem Bundesdurchschnitt von 48 DM, also genau zwei Drittel an Spareinlagen des gesamten Bundes. Das nächstniedrige Land ist Bayern, das immerhin 42 DM pro Kopf der Bevölkerung Spareinlagen hat, also für jeden Menschen in Bayern 10 DM mehr als Schleswig-Holstein. Woher kommt diese erschütternde Armut in dem Lande, das bisher niemals als Elends- oder Notstandsgebiet gegolten hat, das vielmehr auf seine Art friedlich und schön in einer herrlichen Landschaft mit Nord- und Ostseeküste leben und gedeihen konnte? Woher kommt sie? Eine einzige Zahl zeigt es Ihnen: bei einem Bevölkerungsanteil von 5,9 Prozent nach der letzten Volkszählung von 1946 wohnen in Schleswig-Holstein 38,2 Prozent aller Vertriebenen des Bundesgebiets,
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das heißt: knapp ein Sechzehntel der Gesamtbevölkerung ist von fast genau zwei Fünfteln aller Flüchtlinge, muß ich sagen, heimgesucht. Diese unglücklichen, ich muß schon sagen, an unsere Küsten gespülten Menschen hausen dort unter Umständen, die für sie selbst unerträglich sind und die das Zusammenleben mit den Einheimischen auf das äußerste erschweren.
Lassen Sie mich in diesem Hause, wie ich hoffe, unter Zustimmung unseres dänischen Vertreters Herrn Clausen, sagen: das ganze von Dänemark gesehen Süd-, von uns aus gesehen Nord-Schleswig({28})
Problem ist nichts anderes als ein Vertriebenenproblem. Denn das Zusammenwohnen in den ländlichen Bezirken ist auf die Dauer für beide Teile unerträglich, das muß schnurstracks auf lange Sicht zum Nihilismus führen. Es bleibt den Menschen, den Einheimischen fast ebensosehr wie den Vertriebenen, die keine Heimat finden können, gar nichts anderes, als im Nichts ihr Heil zu suchen. Diese Not ist so groß, daß die Bundesregierung von uns gebeten werden muß, von der Ermächtigung, durch Verordnung den Austausch zu regeln, sofort, ich möchte sagen, noch heute Gebrauch zu machen. Danach verlangt uns, weil wir andernfalls einem irgendwie gearteten Zusammenbruch in die Augen sehen müssen, der von uns aus natürlich gleich auf Niedersachsen übergreifen wird, wo die Verhältnisse zwar nicht ganz so liegen, aber schlimm genug sind, ebenso natürlich auf Bayern, das ebenso von südostdeutschen Heimatvertriebenen heimgesucht ist. Dieser Ausgleich ist vorderstes und erstes Gebot, das meine Fraktion von der Regierung verlangen muß.
Dann möchte ich ein Wort aus der Rede, oder sage ich besser aus dem Kolleg des Herrn Dr. Schumacher, nämlich über volkswirtschaftliche Lehrmeinungen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, das er vor diesem Hause gehalten hat, herausgreifen, ein Wort, dessen Unlogik bei einem professoralen Kolleg auffallend in die Augen springt.
({29})
| 7 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-22
|
81 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter Ewers, darf ich Sie darauf aufmerksam machen: sämtliche Mitglieder des Hauses halten grundsätzlich nur Reden.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-22
|
82 | 7 | 1 | null |
Ewers
| 11,000,505 |
Ich bitte um Verzeihung! - Die Rede oder besser die Ansprache - darf ich das sagen? - des Herrn Dr. Schumacher enthielt folgenden Satz frappanter Unlogik. Er behauptete, daß die Frage der Oder-Neiße-Linie außenpolitisch überhaupt erst dann angeschnitten werden könne, nachdem wir Deutschen die Vertriebenen artgemessen untergebracht hätten. Die Unlogik liegt darin: in demselben Moment, wo uns das gelungen sein sollte, wo diese Quadratur des Zirkels zu Ende geführt sein sollte, wäre ja rein wohnpolitisch ein Grund dafür, uns die Oder-Neiße-Linie zurückzugeben, kaum mehr gegeben. Zwar betrachten wir diese Frage nicht nur wohnpolitisch, sondern wir sehen dieses Gebiet als deutsche Heimat, als ein Gebiet an, mit dem unsere Seele verbunden ist. Aber die Tatsache, daß wir die armen Ostdeutschen, soweit sie noch keine neue Heimat gefunden haben, angemessen und auf die Dauer befriedigend in dem Restdeutschland, das uns zur Zeit noch verblieben ist, gar nicht so unterbringen können, daß sie eine neue Heimat finden, sollte jedem klar sein, und die Regelung dieses Problems kann überhaupt gar nicht geschehen, ohne daß die Ostgrenze klar und deutlich zur Debatte gestellt wird. Diese Tatsache möchte ich als Abgeordneter eines der Länder, die ganz besonders von dem Flüchtlingsproblem betroffen sind, hier ganz klar herausstellen.
Neben dem Vertriebenenproblem ist dann noch für uns als weitere Bemerkung zur Rede des Herrn Bundeskanzlers ein Punkt zu berühren, den die Herren Vorredner auch schon angeschnitten haben und den ich deswegen auch nur ganz kurz erläutern möchte: das ist die Kategorisierung deutscher Menschen, die von den Besatzungsmächten vorgeschrieben und von einzelnen Deutschen mit, ach wie großer Begeisterung durchgeführt worden ist. Diese
Kategorisierung ist mit wahrhaft demokratischen Einrichtungen vollständig unvereinbar.
({0})
Die Bestrafung von Schuld und von Vergehen ist Sache des Strafrichters. Da mögen politische Abteilungen im Gericht eingerichtet werden, die über diese Herrschaften, von denen wir alle wissen, daß sie sich zum Teil vergangen haben, zu Gericht sitzen und nach Recht und Gesetz bestrafen.
({1})
- Es ist schön, daß Sie Dr. Schacht nennen. Der Name Dr. Schacht scheint einer der Bonbons zu sein , die Sie nicht herunterschlucken können. Dazu ein Wort. Dr. Schacht ist ein ganz typischer Fall. Er hat als hochintelligenter, kluger Wirtschaftsmann den Irrtum begangen, zu glauben, daß man durch den Beitritt zu einer totalitären Bewegung an dem Werdelauf irgend etwas zu ändern vermöge.
({2})
Dieser Irrtum war leider Gottes weit verbreitet. Er hat aber im Gegensatz - ({3})
- Bitte, es ist mir nicht möglich, f gegen viele Schreier aufzukommen; gegen einen kann ich es vielleicht. - Sein Irrtum ist aber insofern von allen anderen Irrtümern, die Hunderttausende auch kluge Menschen begangen haben, deshalb scharf zu unterscheiden, weil er im Gegensatz zu den sonstigen Mit- oder Vorläufern den Absprung rechtzeitig getan hat,
({4})
und zwar in einem Moment getan hat, bevor die vernichtenden Eingriffe in unsere deutsche Wirtschaft und insbesondere die Ausrottung der Juden 1 im November 1938 begannen. Er hat sich bis dahin schützend vor die Wirtschaft gestellt. Und er ist nicht nur abgesprungen. Es sollte auch den Kommunisten nicht verborgen geblieben sein, daß Herr Dr. Schacht in der Widerstandsbewegung nach 1938 eine Hauptrolle spielte; und wenn er nicht noch rasch vor dem 8. Mai 1945 abgemurkst worden ist, so ist das einem reinen Zufall zu verdanken. Er ist der typische Widerständler.
({5})
- Wenn man Tatsachen komisch findet, ist daran nichts zu ändern. Witze habe ich nicht gemacht; ich bin aber unter Umständen auch zu Witzen aufgelegt.
Ich habe die historischen Tatsachen kurz gekennzeichnet, und die Frage ist die, ob man ihm sein Verhalten vor 1938 oder nach 1938 in erster Linie ankreiden will. Im übrigen hat er keine Verbrechen begangen, und er gehört für mich als politisch Schuldiger außerhalb jeder Kategorisierung.
Dazu ein Wort. Ich wohne an der Ostgrenze vor dem Eisernen Vorhang. Von meiner Wohnung habe ich fünf Minuten Omnibusfahrt bis zum Eisernen Vorhang. Ich habe in meiner Person alles darangesetzt, um die Deutsche Partei in Schleswig-Holstein Fuß fassen zu lassen. Das mögen Sie als Schuld ansehen. Ich selbst sage: es ist ein hohes Verdienst, und ich werde auch nicht ablassen, wenn später einmal ein Gericht feststellen würde: es war Schuld. Was ich bedauere, ist, daß auch soviele frühere Nazis diese politische „Schuld" nicht bedingungslos anerkennen, daß sie ausweichen und daß selbst Hanns Johst es sich gefallen läßt,
({6})
als „Mitläufer" eingereiht zu werden. Das ist unmöglich. Nein, Mitläufer wäre ich ganz und gar nicht. Ich wäre schuldig an der DP in SchleswigHolstein, und diese Schuld würde ich vor jedem Forum verantworten und tragen.
({7})
- Es handelt sich um die Denazifizierung. Davon spreche ich nämlich jetzt.
({8})
- Nein, ich bin gar nicht so interessant, um Gottes willen!
Wir sind gegen die Kategorisierung und verlangen, daß man nur politisch „Schuldige" nicht mehr bestraft. Man bestrafe Vergehen gegen die Gesetze oder gegen die allgemeine Moral, aber keinen politischen Irrtum.
Dann noch ein anderes Wort, das hoffentlich nicht so viel Unruhe und Gelächter auslösen wird. Bei den Nachbarstaaten, mit denen wir uns abzufinden haben, hat der Herr Bundeskanzler das Land Österreich unerwähnt gelassen. Das ist vielleicht richtig, weil unsere Beziehungen zum Lande Österreich ja keineswegs rein außenpolitischer Art sind. Das Land Österreich ist ein Land, das nicht nur der Zunge, sondern auch der Kultur nach zu uns als Brudervolk gehört. Meister wie Mozart, Bruckner, Grillparzer, Schubert oder Hofmannsthal
({9})
sind deutsche Genien österreichischer Herkunft, genau so wie es deutsche Genien von allen möglichen Herkünften gibt. An dieser Tatsache sollen staatliche Grenzen niemals etwas ändern.
Nun zum Schluß der Regierungserklärung! Unsere Mitarbeit an der Regierung hängt davon ab, daß die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers über den sozialen Charakter seines Kabinetts nicht nur Worte bleiben, sondern erfüllt werden. Wir sind uns klar darüber, daß weite Kreise der Arbeiterschaft uns gewählt haben. Ich brauche die Herren aus Schleswig-Holstein an die einzelnen Zahlen der Wahlkreise nicht zu erinnern. Sie haben dort eine Art Schockwirkung ausgelöst. Dennoch lehnen wir es mit aller Entschiedenheit ab, uns etwa „Arbeiterpartei" nach dem Vorbild der NSDAP zu nennen. Denn wir sind im schärfsten Gegensatz zur SPD der Meinung, daß es gänzlich unmöglich ist, für einen einzelnen Stand auf Kosten anderer Stände irgendwelche Erfolge zu erzielen. Wir sind nicht nur für die Arbeiter, sondern mit der gleichen Entschiedenheit für die Landwirte, für die Gewerbetreibenden, für die Kaufleute, für die Gelehrten, für die freien Berufe. Die Abwägung, wie man diese Stände zum Zuge kommen läßt, das ist die Kunst der Politik des Innern. Darüber mag später das Nötige gesagt werden. Wir sind uns aber vollkommen darüber klar: ein Kabinett, das etwa gegen die Interessen des volkreichsten Standes, des Arbeiterstandes, regieren wollte, würde sich selbst sein Grab schaufeln.
({10})
- Es wird es nicht. Prophezeien ist sehr gefährlich, Herr Professor! Hitler hat auch sehr viel prophezeit. Man kann sich dabei in die Nesseln setzen.
Nun dazu das eine Wort des Vorbehalts. Der Herr Bundeskanzler sprach von den Besitzverhältnissen an der Schlüsselindustrie im Ruhrgebiet. Wenn damit etwa gemeint sein sollte, die Besitzverhältnisse sollten sich in dem Sinne ändern, daß sie zum Teil wenigstens einem Kollektiv der Belegschaft zugeführt werden, so glauben wir, damit würde der Arbeiterschaft ein sehr schlechter
Dienst erwiesen werden, wohl aber vielleicht den Funktionären der Arbeiterschaft.
({11})
Wir möchten daher vor einer solchen Manipulation ebenso wie vor einer Kommunalisierung dieser Betriebe nachdrücklich warnen.
({12})
- Nein, ich bin keiner.
({13})
- Ja, wir passen ausgezeichnet hinein. ({14})
Meine Damen und Herren! Nun noch ein allgemeines Wort im Anschluß an die Erklärung der Bundesregierung zu dem, was nach unseren Eingangsworten unser Wollen und Wesen ist und wieso wir, um mit Herrn Renner zu sprechen, vorzüglich in die Koalition passen. Über unsere Deutsche Partei sind in der Presse - in einer gewissen gegnerischen Presse, insbesondere aber auch in der ausländischen lizenzierten Presse - soviele unsinnige Torheiten verbreitet worden, daß man glauben müßte, unsere Partei setze sich außerhalb Hannovers aus nackten und klaren Idioten zusammen.
({15})
Es ist immer gefährlich, den politischen Gegner zu unterschätzen. Man tut eher gut daran, ihn zunächst für klüger zu halten, als er ist.
({16}) Wir sind keine Idioten.
({17})
Es ist kein Geheimnis, daß die Deutsche Partei ihre Wiege in Niedersachsen hat. Es sollte aber allen Menschen mit einiger Verstandesklarheit mittlerweile ruchbar geworden sein, daß sie eine Partei ist, die sich über die Landesgrenzen hinaus verbreitet und dabei ihr Wesen irgendwie wandeln muß; denn daß wir in Schleswig-Holstein für hannoversche Belange eintreten sollten, das wäre ja eine Zumutung, die geradezu grotesk ist.
({18})
Das liegt uns in der Tat gänzlich fern. Uns hat daher schon sehr früh bei der NLP ihr deutsches Programm angezogen, und wir haben in dieser Partei etwas gesehen, was dem deutschen Wähler, der sich bis dahin politisch heimatlos fühlte, fehlte. So haben wir uns dieser Partei angeschlossen, die jetzt in der Regierung ist, zur Pflege nicht der Masse, sondern des deutschen . Menschen als vornehmsten Trägers unserer Staatspolitik, des deutschen Menschen, der naturrechtlich, darf ich sagen, kraft göttlichen Gebots an seine Heimat gebunden ist, in der Familie aufwächst, dem Stamme angehört und der im Stamm zum deutschen Volk zusammenwächst.
({19})
Dieser Naturverbundenheit stehen aber Pflichten gegenüber, und zwar dem Freiheitsrecht die Duldungspflicht. Freiheit - das bitte ich jedermann sich hinter die Ohren zu schreiben - darf nur begehren, wer sie gewähren will. Und die Duldung ist das erste Gebot der Freiheit. Die Haltung, die wir so einnehmen, mag man als ethischen Konservatismus bezeichnen. Diesen Namen in der Firma zu führen, lehnen wir entschieden ab; denn eine Verwechslung mit ostelbischem Reaktionärtum ist uns meilenfern. Wir sind gegenwartsnahe und zukunftsgläubig und haben mit der Vergangenheit nichts anderes zu tun, als daß wir bewahren möchten, was echten und guten deutschen Wesens ist.
({20})
Wir bekennen uns insbesondere zu der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers über die entschiedene Abkehr von allen antidemokratischen Richtungen. Wir sind eine Partei der deutschen Demokratie oder des demokratischen Deutschlands, und zwar ist die Betonung auf beiden Wörtern, auf Beiwort und Hauptwort, gleich stark. Wir lehnen die Nachäffung ausländischer demokratischer Formen, seien sie von England, von Amerika oder von Frankreich angepriesen, durchaus ab. Wir wollen eine Demokratie deutschen Wesens und deutschen Gepräges bilden.
({21})
- Daran soll keineswegs die Welt genesen, sondern unser Volk soll endlich einmal zur Ruhe und Genesung kommen. Diese Demokratie muß, mit dem akademischen Ausdruck des Herrn Dr. Schumacher gesprochen, in der Tat „Angelegenheit deutscher Herzenswärme" werden, wenn sie je gedeihen soll. Verordnet durch Paragraphen oder vorgeschrieben durch Besatzungsmächte kann sie nicht allein werden, sondern diese deutsche Herzenswärme gilt es hervorzurufen. Wir, die wir auf der rechten Seite des Hauses stehen, sehen unsere Hauptaufgabe darin, den deutschen Menschen, insbesondere den jungen deutschen Menschen, an demokratische Staatsformen zu gewöhnen, ihn um Gottes willen nicht zu schulen, denn geschult sind wir langsam genug, sondern ihn dahin zu führen, daß er darin nichts Verächtliches sieht. Die Schulung, die wir die letzten vier Jahre unter dem Segen der Besatzungsmächte und unter dem Treiben demokratischer Stümper durchgemacht haben, war nicht gerade sehr verheißungsvoll.
Wenn hier von einer nationalrevolutionären Bewegung gesprochen worden ist, so ist das selbstverständlich übertrieben. Es beruht darauf, daß, wenn irgendein späterhin vor Gericht als nicht verantwortlich erkannter Zwischenrufer oder Redner einer Versammlung etwas ausgemacht Törichtes und Dummes gesagt hatte, die Weltpresse davon widerhallt. Von meinen Reden, die ich in Versammlungen gehalten habe, ist fast nie - ({22})
Das wäre eine Reklame gewesen. Das dagegen war Verächtlichmachung des politischen Gegners. Herr Wunnerow ist eine bekannte Persönlichkeit geworden, aber er fiel unter § 51 und konnte nicht bestraft werden. Derartige Methoden der politischen Propaganda lehnen wir weit ab.
Was aber in diesem Zusammenhang die Jugend anlangt, so steht die Jugend weder links noch rechts, sondern sie steht politisch vielleicht überall. Sie verweilt in Massen auf den Fußballplätzen. Und das ist vielleicht ganz gut so. Wenn Sie aber wissen wollen, was wohl die Jugend von ganz links bis ganz rechts nicht mehr will, so will ich Ihnen das sagen: sie will nicht mehr Schlagworte.
({23})
Sie hat die Ohren noch voll; noch heute dröhnen ihr die vielen Spruchbänder und Lautsprecheranlagen des Dritten Reiches in den Ohren. Danach ist der große Trümmerhaufen gekommen. Mit Schlagwörtern ist gar nichts gedient, wohl aber mit Haltung und mit Vorbild.
({24})
- Lachen Sie nur, Herr Renner! Wenn Sie darüber
lachen, wird die Jugend Ihnen nicht folgen. Bewahren Sie lieber Haltung! Das ist viel gesünder für
Ihre Richtung. Diese Haltung und dieses Vorbild ist
die Erfahrung aus sechs Kriegsjahren, die die Jugend gemacht hat. Denn sie weiß ganz genau, ob
derjenige, der vor ihr steht, nur ein Achselstückträger oder ein Kerl ist. Diese Unterscheidung: Kerl oder Vorgesetzter, ist ihr im Blute; und danach folgt sie. Seien Sie versichert, wenn Sie der Jugend Aufblick und Achtung und Ehrfurcht einpauken können, nicht durch Lehrgänge,
({25})
sondern durch Haltung, dann haben Sie sie zu einem großen Teil gewonnen. So unsere Erfahrung, die ich auf Kosten der eigenen Partei zum besten gebe.
({26})
Und was die Demokratie anlangt, so muß für sie genau das gleiche gelten.
({27})
- Herr Dr. Schmid, bitte, hören Sie jetzt einmal ganz genau zu, ohne Zwischenrufe!
({28})
Die Demokratie der Weimarer Zeit ist an ihrer Haltungslosigkeit, ich möchte sagen, an ihren ungebügelten Hosen zugrunde gegangen.
({29})
Wir deutschen Menschen und gerade die unpolitische Masse will einen Aufblick haben, sie will verehren, sie will sagen: Hier wird repräsentiert.
({30})
Sie achtet auf die Haltung, die man ihr von der demokratischen Führung entgegenbringt.
Leider Gottes begann unsere Geburtsstunde als eigener Staatskörper mit einer ganz tief bedauerlichen Haltungslosigkeit. Als der Herr Bundespräsident Heuss gewählt war, hat es die Linke für möglich gehalten, in ihm nur den Mann und nicht den Träger unserer Staatsgewalt zu sehen. Als er durch Erheben von den Plätzen geehrt wurde, blieb sie geschlossen sitzen. Das ist eine Haltungslosigkeit, die in unseren Reihen tiefste Empörung ausgelöst hat.
({31})
Davor warne ich nachhaltig. Wir hätten umgekehrt, wenn einer Ihrer Herren gewählt worden wäre, nicht die Person, sondern den Staatsmann gegrüßt, der unser Staatsoberhaupt ist. Eine solche Haltung müssen wir in einer wahrhaften deutschen Demokratie unter allen Umständen verlangen. Nur wenn das gewahrt wird, kann ich sagen, daß die Möglichkeit gegeben ist, daß demokratisches Wesen eine „Angelegenheit der warmen Herzen" wird, wie Herr Dr. Schumacher es bei der Einheit Deutschlands gewünscht hat. Das ist die Voraussetzung für unser Leben, nicht das, was Gesetze vorschreiben, sondern, wie Herr Dr. Schäfer gesagt hat, was Brauch und Sitte und Anstandsgefühl für richtig halten.
({32})
Das ist das, was die Menschen formt und was die Dinge gestaltet. Nicht das, was eine Partei durch Gesetzesparagraphen oder Druckpapier zum besten gibt, wirkt, sondern das, was die Menschen erleben und was ihnen in Fleisch und Blut übergeht.
So sehen wir die Möglichkeit einer deutschen Demokratie durchaus gegeben, wenn alle wahrhaft demokratischen Parteien - die Kommunisten schließe ich ausdrücklich aus - sich nur in der Haltung einig sind, daß wir, ganz anders als in der Weimarer Zeit, die Demokratie nicht als eine, sagen wir einmal, rein genossenschaftliche Gesamtwirtschaft ansehen, sondern als ein Staatswesen, das etwas auf sich hält.
({33})
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz persönlich, nicht für meine Fraktion, eine Frage an die Herren dieses Hauses richten: Soll eigentlich, solange der Bundestag überhaupt tagt, die Flaggengala da draußen wehen? Mir ist das zu festlich. So etwas, was am Anfang zu Recht geschehen ist, sollte für den Feiertag aufgespart werden. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß die Bundesflagge hier auf dem Hause weht, wenn wir tagen. Das Haus ist dann eben besetzt. Ich bitte aber zu prüfen - ich sage das ganz offen -, ob die Flaggengala da vorn dem Ansehen unseres Bundestags und unserer Republik auf die Dauer nützlich ist, ob es zweckmäßig ist, wenn hier dauernd festlich geschmückt ist. Man kann darin auch zuviel tun.
Nun noch eins, und damit komme ich auf den Punkt, den wir schon durch Zwischenrufe berührt haben. Auch die Demokratie braucht Symbole. Was die Farben Schwarz-Rot-Gold, die im Fahnentuch leider nur schwarz-rot-gelb sein können, anlangt,
({34})
so ist gegen diese Farben historisch wenig einzuwenden.
({35})
| 7 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-22
|
95 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Ich möchte Sie nochmals fragen: Sie meinten damit die Ministerien, die seitens des Herrn Bundeskanzlers als vorübergehend genannt wurden?
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-22
|
83 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter, Sie haben - ({0})
- Jetzt lassen Sie mich bitte sprechen, sonst kann ich die Angelegenheit nicht regeln. - Herr Abgeordneter, Sie haben von den Farben Schwarz-RotGelb gesprochen. Haben Sie damit die Farben der Bundesrepublik Deutschland gemeint?
({1})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
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1949-09-22
|
84 | 7 | 1 | null |
Ewers
| 11,000,505 |
Ich habe gesagt: Die Farben SchwarzRot-Gold lassen sich im Fahnentuch leider nur als schwarz-rot-gelb darstellen.
| 7 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-22
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85 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Ich bitte, Ihre Worte zu wiederholen.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-22
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86 | 7 | 1 | null |
Ewers
| 11,000,505 |
Ich habe gesagt: Die Farben SchwarzRot-Gold, die im Fahnentuch leider nur in schwarzrot-gelb darzustellen sind.
({0})
| 7 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-22
|
87 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter Ewers, Ihre Ausführungen sind derart gestaltet, daß sie den Eindruck erwecken müssen, als wollten Sie eine Kritik an den verfassungsmäßig festgelegten Farben der Bundesrepublik Deutschland üben. Die verfassungsmäßigen Farben der Bundesrepublik Deutschland sind Schwarz-Rot-Gold. Ich bin nicht geneigt, eine andere Bezeichnung dieser Farben hier zuzulassen.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
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1949-09-22
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88 | 7 | 1 | null |
Ewers
| 11,000,505 |
Mir hat es völlig ferngelegen - das wäre eine Haltungslosigkeit -, gegen die im Grundgesetz festgelegten Farben unseres Staates irgend etwas sagen zu wollen. Ich habe nur erklären wollen, daß in weiten Schichten unserer Wähler diese
Farben leider - wiederum mit den Worten Dr. Schumachers - nicht Angelegenheit deutscher Herzenswärme sind, ohne daß - das möchte ich betonen - gegen diese historisch völlig einwandfreien Farben irgend etwas zu sagen wire.
({0})
Daß wir kein Bundeslied haben, ist tief bedauerlich, und ich weiß nicht, was die Linke hindert, das von ihrem Reichspräsidenten Ebert uns geschenkte Nationallied wieder einzuführen. Ich halte es für einen Ausdruck unseres deutschen Wesens auch in einem friedfertigen und durchaus in Europa sich einzureihen bestrebten deutschen Vaterland.
({1})
Ich komme nunmehr zum Schluß. Meine Damen und Herren! Es lag mir ob, für meine Fraktion zu erklären, in welchem Geiste wir an der Regierung teilzuhaben entschlossen sind, damit Sie genau wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Seien Sie versichert: reaktionär sind wir in keiner Weise.
({2})
Die Vergangenheit ist vergangen, und nichts in uns ist bereit, Vergangenes wiederherzustellen.. Wir schauen in das neue Land der Zukunft, und wir hoffen und vertrauen, daß mit der nunmehr gebildeten Bundesregierung die ersten Schritte in diese noch wolkenverhangene Zukunft für das gesamte deutsche Volk nicht ohne Segen sein werden. Darf ich meine Ausführungen mit dem kurzen Ausruf Goethes schließen: Wir heißen euch hoffen!
({3})
| 7 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-22
|
89 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Seelos.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
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1949-09-22
|
90 | 7 | 1 | null |
Seelos
| 11,002,141 |
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zur Regierungserklärung selbst Stellung nehme, möchte ich grundsätzlich über den Rahmen sprechen, in dem eine Arbeit der Bayernpartei im Bunde möglich erscheint. Die Bayernpartei begrüßt die Gelegenheit, um hier vor dem Forum Deutschlands und der Welt eine Frage anzuschneiden, die durch die Ablehnung der Bonner Verfassung durch Bayern entstanden ist: die bayerische Frage. Die bayerische Frage wird so lange nicht mehr aus der Politik ausscheiden, als nicht die Beziehungen zwischen dem Bund und Bayern neu geregelt sind. Wir erklären mit Nachdruck, daß auch wir Bayern Deutschland wollen. Wir haben nur eine andere Auffassung von seiner verfassungsrechtlichen Gestaltung, die sich aus den harten Lehren der deutschen Geschichte ergibt. Die immer größere Machtanballung unter preußisch-deutscher Führung hat uns nacheinander zwei Weltkriege gebracht. In einer föderalistischen Gestaltung des neuen Bundes sehen wir gerade auch für Deutschland, an dem wir von ganzem Herzen hängen und zu dem wir uns in Freud und Leid bekennen, die beste Friedenssicherung. In einem solchen wahrhaft föderalistischen Deutschland wird sich der bayerische Staat und das bayerische Volk wohlfühlen, weil er uns der Notwendigkeit enthebt, immer nur auf der Wacht und in der Sorge um unsere staatliche Existenz zu sein und uns damit in eine Abwehrstellung zu drängen, die wir gar nicht wollen. Bayern ist in wenig veränderten Grenzen seit 1400 Jahren ein selbständiger Staat gewesen,
({0})
bis ihn Hitler 1933 zu einer Provinz degradierte. Die Hüterin des bayerischen Staatsgefühls ist die Bayernpartei geworden,
({1})
({2})
die bei den Bundeswahlen einen eindrucksvollen Vertrauensbeweis des bayerischen Volkes für ihre föderalistische Ideologie bekommen hat.
({3})
- Herr Carlo Schmid, hören Sie auf, der Sie sich da unten in einem von den Alliierten geschaffenen Kleinstaat die Allongeperücke des Duodezfürsten als Staatspräsident aufsetzen wollten!
({4})
Obwohl die Stärke der Bayernpartei bereits vor Beginn der Bonner Verhandlungen durch Wahlen erwiesen war, ist sie gegen jede demokratische Art von den Bonner Verfassungsberatungen völlig ausgeschlossen geblieben. Wir sind daher nicht für diese Verfassung verantwortlich, die die Staatlichkeit Bayerns weitgehend aushöhlt und einem übermäßigem Zentralismus Tür und Tor öffnet.
({5})
Wir Bayern sehen aber in einem zentralistischen Kommandostaat preußischer Prägung,
({6})
auf den die Tendenzen der Bonner Verfassung hinweisen, - ({7})
| 2 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-22
|
91 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Dr. Seelos spricht in seiner Eigenschaft als Abgeordneter der Bayernpartei. Ich darf das noch einmal feststellen.
({0})
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Presidium of Parliament
|
präsident
|
1949-09-22
|
92 | 7 | 1 | null |
Seelos
| 11,002,141 |
- auf den die Tendenzen der Bonner Verfassung hinweisen, eine politische Gefahr, da er das Aufgehen Deutschlands in Europa und den Zusammenschluß zu einer europäischen Gemeinschaft hemmt oder gar verhindert, weil er insbesondere eine ehrliche Versöhnung und dauernde Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich erschwert, ohne die wir nie zu einer wahrhaft europäischen Gemeinschaft und einer aufrichtigen Friedensatmosphäre in der Welt kommen.
({0})
Man soll sich nicht mit den Lippen zum europäischen Gedanken bekennen, wenn man gleichzeitig durch Förderung eines zentralistischen Staates das Mißtrauen der Welt erregt.
({1})
Nur ein föderalistisches Deutschland, für das wir leidenschaftlich kämpfen, bietet die Garantie für ein friedliches Deutschland.
({2})
Nur ein friedliches Deutschland kann Mitglied der europäischen Völkerfamilie sein.
({3})
Deutschland wird deshalb föderalistisch sein, oder es wird nicht sein!
({4})
Das Bonner Grundgesetz, das in vielem eine Fortsetzung der Weimarer Verfassung darstellt, schließt durch seine zentralistische Gestaltung andere deutsche Länder wie Österreich auf immer aus der deutschen Gemeinschaft aus. Gerade wir Bayern aber können deutsche Dinge nie betrachten, ohne
auf Grund unserer engen stammesmäßigen Beziehungen zwischen Bayern und Österreich
({5})
an die Auswirkung und den Eindruck in Österreich zu denken.
({6})
Die gleichen preußisch-deutschen Kreise, die schon 1866 Österreich aus dem Deutschen Bund getrieben haben, waren in Bonn wieder am Werk.
({7})
Wir haben volles Verständnis, wenn die Preußen
ihre Hauptstadt Berlin immer wieder in den Vordergrund ihrer Betrachtungen und Sorgen stellen,
({8})
lassen Sie uns aber das Recht, daß unser Herz warm schlägt für unser Brudervolk Österreich!
({9})
- Na, von der Gegenbewegung wollen wir auch reden!
({10})
Wir Bayern sehen nur in einem baldigen Aufgehen in Europa einen endgültigen Schutz vor den gefährlichen Tendenzen eines neuen preußisch-deutschen Machtstaates. Weil wir in diesem Bekenntnis zum föderalistischen Deutschland eine Existenzfrage des deutschen und des bayrischen Volkes sehen, bekämpfen wir die zentralistische Bonner Verfassung.
({11})
Sie ist uns durch die Bestimmungen der Londoner Dokumente vom 1. Juli 1948 aufgezwungen worden, wonach zwei Drittel der Länder die anderen zwingen, die Verfassung anzunehmen. Ein Staat kann aber nicht durch Mehrheitsbeschlüsse zur Einbuße oder Aufgabe seiner Staatlichkeit gezwungen werden.
({12})
Die Bayern-Partei wird deshalb eine Neuregelung der Bundesverfassung im föderalistischen Geist bei erstgegebener Gelegenheit aufgreifen.
({13})
Wir werden dann in freiwilliger Vereinbarung, und nicht gezwungen wie jetzt, dem Bund alle notwendigen Rechte zugestehen.
({14})
Wenn die Bayern-Partei trotz dieser ablehnenden Haltung zur Verfassung durch Abgeordnete im Bundestag vertreten ist, so deshalb, um die wenigen föderalistischen Möglichkeiten der Bonner Verfassung auszuschöpfen, um die zentralistischen Tendenzen, die in diesem Hause so stark vertreten sind, möglichst zurückzudrängen und die selbstverständlich gewordene Benachteiligung Bayerns in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht zum Ende zu bringen.
({15})
Ich will nun zum Kabinett des Herrn Bundeskanzlers selbst sprechen. Wir haben dem Kabinett Dr. Adenauer in völliger Unvoreingenommenheit entgegengesehen, da wir es als die logische Konsequenz der letzten Jahre betrachten. Wir haben den verschiedenen Anregungen, in das Kabinett einzutreten, nicht nachgegeben,
({16})
({17})
um die Bewegungsfreiheit für die Durchsetzung unserer föderalistischen Ziele und Forderungen innerhalb dieser Regierung nicht zu verlieren.
({18})
Die Zusammensetzung des Kabinetts und auch die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers haben unsere Bedenken voll bestätigt. Das Bundeskabinett wird allein durch die Zahl der Ministerien
({19})
mit ihren neuen Aufgabengebieten zu einer immer stärkeren Machtzusammenballung im zentralistischen Sinn führen.
({20})
Die Regierungsbank kann die Fülle der Minister nicht mehr fassen. Kein Mensch konnte diese Inflation voraussehen.
({21})
Die Empfehlungen des Organisationsausschusses, in dem wochenlang die besten Sachverständigen sich über die Zweckmäßigkeit und Zahl der Ministerien unterhalten und diese auf neun bzw. zehn festgesetzt haben, sind einfach beiseite geschoben
worden.
({22})
Es handelt sich hier aber nicht bloß um die Personen der Minister, sondern jeder von ihnen hat im Gefolge eine Schar von neuen Bürokraten.
({23})
Wie man bei der Not unseres Volkes eine solche Aufblähung des Regierungsapparats verantworten kann, ist uns unverständlich.
({24})
Wenn uns von seiten des Herrn Bundeskanzlers versichert wird, daß es sich bei einigen Ministerien nur um vorübergehende Erscheinungen handelt, so möchten wir darauf hinweisen, daß Baracken bekanntlich am längsten stehen.
({25})
| 2 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
|
Member of Parliament
| null |
1949-09-22
|
93 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Was meinen Sie mit Baracken?
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-22
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94 | 7 | 1 | null |
Seelos
| 11,002,141 |
Baracken sind etwas Vorübergehendes; sie halten aber immer länger, als eigentlich geplant.
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-22
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96 | 7 | 1 | null |
Seelos
| 11,002,141 |
Das war nur die Einrichtungsdauer.
| 2 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-22
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97 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Herr Abgeordneter, ich bitte, mit solchen Vergleichen doch in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein.
| -1 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-22
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98 | 7 | 1 | null |
Seelos
| 11,002,141 |
Mit Erstaunen haben wir festgestellt, daß innerhalb des Kabinetts dem Reichsministerium des Innern der erste Platz unter den Ministerien zugewiesen wurde.
({0})
Da bereits die wichtigsten Sachgebiete - das
Flüchtlingswesen, die gesamtdeutsche Frage, die
Angelegenheiten des Bundesrats - in eigenen Ministerien organisiert sind, können wir nicht einsehen, wozu man dem Innenministerium ein solches Gewicht gibt, nachdem doch die Fragen der inneren Verwaltung und der Polizei zur Zuständigkeit der Länder gehören. Wir müssen fast vermuten, daß man auf dem Gebiet der inneren Verwaltung und der Polizei einen Einbruch in die wenigen verbliebenen Hoheitsrechte der Länder vorhat. Wir werden deshalb die Arbeit des Bundesinnenministeriums mit größter Sorgfalt verfolgen.
({1})
Das Kabinett enthält nicht weniger als fünf Über-Ministerien, nämlich für die Angelegenheiten des Marshallplans, für den Wohnungsbau, für die Vertriebenen, für die gesamtdeutsche Frage und für die Angelegenheiten des Bundesrats. Wenn wir angesichts der entscheidenden Bedeutung der Flüchtlingsfrage einem Flüchtlings-Ministerium zustimmen, so sehen wir in der Schaffung von vier weiteren Über-Ministerien nur eine sehr große Erschwernis der Regierungsarbeit, die sich weitgehend in Kompetenzstreitigkeiten und Zuständigkeitsschwierigkeiten erschöpfen kann. Selbstverständlich handelt es sich hier um lebenswichtige Aufgaben, aber sie können sich nach erprobter Regierungspraxis viel besser im Rahmen von Staatssekretariaten oder durch Ministerialdirektoren behandeln und zu einem sachgemäßen Ende bringen lassen. Wir fürchten, daß in dem allzu großen Zuständigkeitskampf der Bundesministerien dann wiederum die Rechte der Länder zu kurz kommen, wenn sie sich dann anmelden, um auch in den Zuständigkeitsfragen hinsichtlich der Länder gehört zu werden.
({2})
Es ist bedauerlich, daß die Schaffung dieser neuen Super-Ministerien nicht aus ernsthaften staatspolitischen Notwendigkeiten, sondern aus dem durchsichtigen Geltungsbedürfnis von politischen Gruppen geschehen ist. Die Errichtung eines Bundesministeriums für Angelegenheiten des Bundesrats ist für uns noch keine Garantie für die Lösung der föderalistischen Frage, die wir nur in der materiellen Berücksichtigung der Länderansprüche sehen.
Zu der personellen Zusammensetzung des Bundeskabinetts müssen wir darauf hinweisen, daß uns der föderalistische Charakter der Regierung gefährdet erscheint, wenn so ausgesprochene Zentralisten wie Herr Storch und Herr Kaiser daran teilnehmen.
({3})
Herr Storch hat in Frankfurt die Interessen der Länder in keiner Weise berücksichtigt und ihnen, ohne für eine Deckung zu sorgen, schwerste Lasten aufgebürdet. Bei dem Ministerium für gesamtdeutsche Fragen werden wir sehr darauf achten, daß es nicht zu einem Ministerium zur Liquidation der deutschen Länder wird.
({4})
Wenn wir schon Meldungen lesen, daß dieses Ministerium ganz oder zum Teil nach Berlin kommen soll,
({5})
dann stimmt uns das doppelt zur Vorsicht. Will man hier eine Zweiteilung des Kabinetts auf kaltem Wege machen, teilweise mit Sitz in Bonn, teilweise mit Sitz in Berlin, und dann noch die anderen Behörden sogar in Frankfurt, oder will man einen Teil der Regierung der Kontrolle des Bundestags und des Bundesrats entziehen? Wir mel({6})
den dann jetzt schon unsere schärfste Opposition an.
({7})
Das Kabinett Adenauer trägt mit den Antipoden Storch und Kaiser auf der einen Seite, Hellwege und Schäffer auf der anderen Seite ein föderalistisch-zentralistisches Janusgesicht.
({8})
Wir können nur hoffen, daß das milde Gesicht des Föderalismus uns öfter zulächelt.
(Abg. Strauß : Sie meinen damit wohl
Ihren eigenen Kopf?
Fast kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß ein Föderalist innerhalb des Kabinetts, in dem er auch zentralistische Regierungserklärungen und Maßnahmen mitmachen und billigen muß, ungefährlicher ist und besser an die Leine genommen werden kann als nur innerhalb der Fraktion.
({9})
Meine Damen und Herren! Wenn ich nun zu dem materiellen Inhalt der Regierungserklärung Stellung nehme, so möchte ich folgendes sagen: Der ganze Tenor der Regierungserklärung, die ja sicherlich aus einem Guß war und fast alle Probleme gestreift hat,
({10})
ist mir vorgekommen, als ob er doch etwas der inneren Herzenswärme entbehren würde. Sie war eiskalt.
({11})
Auch die anderen Erklärungen der größten Parteien, sowohl der Oppositionspartei, der SPD, und dann der Regierungspartei, der CDU, haben nicht die innere Leidenschaft in sich getragen,
({12})
die das Volk nach 17 Jahren Elend und nach 10 Jahren von Blut und Tränen hätte erwarten können. Man hätte glauben mögen, das ganze Leben des einzelnen würde nur aus materiellen Dingen bestehen.
({13})
Fast nie hat man die Gesamtproblematik ansprechen hören, die uns in dieses grauenvolle Unglück gebracht hat.
({14})
Fraglos handelt es sich bei den Problemen eben nicht bloß um materielle, sondern um geistige Dinge, die wir verarbeiten müssen. Es ist in der Regierungserklärung und bei den großen Parteien fast nur die Spannung sozialer Art, auch materieller Art angesprochen worden, ebenso die Spannungen zwischen Opposition und Regierungsparteien, aber nie die Spannungsverhältnisse zwischen dem Bund und den Ländern.
({15})
Warum sind wir denn in dieses Unglück gekommen? Nicht weil es vielen unter den Nazis vielleicht materiell schlecht ging, sondern weil es zu dieser zentralen Machtanballung gekommen ist, nachdem die Stimmen der einzelnen Länder vernichtet worden sind, die sich vielleicht diesem nationalistischen, imperialistischen Machtstreben der Nazis hätten entgegenwerfen können.
({16})
- Ja, und in Berlin waren die größten Nazis! ({17})
| 2 |
https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Member of Parliament
| null |
1949-09-22
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99 | 7 | 1 | null |
Köhler
| 11,001,150 |
Meine Damen und Herren, nachdem die Zwischenphase der Zwischengespräche beendet ist, fährt der Herr Abordnete Dr. Seelos fort.
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https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01007.pdf
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Presidium of Parliament
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präsident
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1949-09-22
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